Populäre Serialität: Narration - Evolution - Distinktion: Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert [1. Aufl.] 9783839421413

Wie lässt sich die starke Verbreitung von seriellen Erzählungen seit dem 19. Jahrhundert erklären? Welche neuen Erzählfo

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Populäre Serialität: Narration - Evolution - Distinktion: Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert [1. Aufl.]
 9783839421413

Table of contents :
Inhalt
EINLEITUNG
Populäre Serialität. Eine Einführung
NARRATION
Eugène Sues Die Geheimnisse von Paris wiedergelesen. Zur Formgeschichte seriellen Erzählens im 19. und 20. Jahrhundert
Der Schamane in Las Vegas. Elvis als Serienheld (1969-1977)
Narrative Komplexität im amerikanischen Gegenwartsfernsehen
DSDS als Reality-Serie. Kumulatives Storytelling »on the go«
Formen und Verfahren der Serialität in der ARD-Reihe Tatort. Ein Untersuchungsdesign zur Integration von Empirie und Hermeneutik
Im Diesseits der Narration. Zur Ästhetik der Fernsehserie
EVOLUTION
Grenzgänger. Serielle Figuren im Medienwechsel
Die Dynamik serieller Überbietung. Amerikanische Fernsehserien und das Konzept des Quality-TV
Diskurs und Spiel. Überlegungen zu einer medienwissenschaftlichen Theorie serieller Komplexität
Folgen und Ursachen. Über Serialität und Kausalität
Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens. Zur Gattungsentwicklung von Superheldencomics
DISTINKTION
Lesen, Sehen, Hängenbleiben. Zur Integration serieller Narrative im Alltag ihrer Nutzerinnen und Nutzer
Das Sammeln populärer Heftserien zwischen Kanon, Archiv und Fanszene
Zwischen Trash-TV und Quality-TV. Wer tediskurse zu serieller Unterhaltung
Populäre Fernsehserien zwischen nationaler und globaler Identitätsstiftung
Continuity, Fandom und Serialität in anglo-amerikanischen Comic Books
AUSBLICK
Joy in Repetition. Acht Thesen zum Konzept der Serialität und zum Prinzip der Serie
Autorinnen und Autoren

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Frank Kelleter (Hg.) Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion

Frank Kelleter (Hg.)

Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld, nach einem Entwurf von Christian Jabkowski (www.christianjabkowski.com) Korrektorat: Adele Gerdes, Bielefeld Satz: Katharina Lang, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2141-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt E INLEITUNG Populäre Serialität Eine Einführung Frank Kelleter | 11

N ARRATION Eugène Sues Die Geheimnisse von Paris wiedergelesen Zur Formgeschichte seriellen Erzählens im 19. und 20. Jahrhundert Hans-Otto Hügel | 49

Der Schamane in Las Vegas Elvis als Serienheld (1969-1977) Heinrich Detering | 75

Narrative Komplexität im amerikanischen Gegenwartsfernsehen Jason Mittell | 97

DSDS als Reality-Serie Kumulatives Storytelling »on the go« Ursula Ganz-Blättler | 123

Formen und Verfahren der Serialität in der ARD-Reihe Tatort Ein Untersuchungsdesign zur Integration von Empirie und Hermeneutik Christian Hißnauer, Stefan Scherer und Claudia Stockinger | 143

Im Diesseits der Narration Zur Ästhetik der Fernsehserie Oliver Fahle | 169

E VOLUTION Grenzgänger Serielle Figuren im Medienwechsel Shane Denson und Ruth Mayer | 185

Die Dynamik serieller Überbietung Amerikanische Fernsehserien und das Konzept des Quality-TV Andreas Jahn-Sudmann und Frank Kelleter | 205

Diskurs und Spiel Überlegungen zu einer medienwissenschaftlichen Theorie serieller Komplexität Thomas Klein | 225

Folgen und Ursachen Über Serialität und Kausalität Lorenz Engell | 241

Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens Zur Gattungsentwicklung von Superheldencomics Frank Kelleter und Daniel Stein | 259

D ISTINK TION Lesen, Sehen, Hängenbleiben Zur Integration serieller Narrative im Alltag ihrer Nutzerinnen und Nutzer Regina Bendix, Christine Hämmerling, Kaspar Maase und Mirjam Nast | 293

Das Sammeln populärer Heftserien zwischen Kanon, Archiv und Fanszene Kaspar Maase und Sophie Müller | 321

Zwischen Trash-T V und Quality-T V Wertediskurse zu serieller Unterhaltung Brigitte Frizzoni | 339

Populäre Fernsehserien zwischen nationaler und globaler Identitätsstiftung Knut Hickethier | 353

Continuity, Fandom und Serialität in anglo-amerikanischen Comic Books Stephanie Hoppeler und Gabriele Rippl | 367

A USBLICK Joy in Repetition Acht Thesen zum Konzept der Serialität und zum Prinzip der Serie Sabine Sielke | 383

Autorinnen und Autoren | 399

Einleitung

Populäre Serialität Eine Einführung Frank Kelleter

Fortsetzen, abwandeln, weitermachen: die Existenz von Erzählungen, von Kultur überhaupt, wäre ohne variierende Wiederholung kaum denkbar. Dabei ist Reproduktion kein selbstverständliches Thema der Kulturwissenschaft. Zumindest die Erzählforschung und diverse Bildwissenschaften scheinen sich mit seriellen Dynamiken nicht zwingend beschäftigen zu müssen. Fast intuitiv rücken sie Figuren der Unterscheidbarkeit, des Gefüges und der Funktionalität in den Vordergrund: Werk, Text, Struktur. Selbst wenn die untersuchten Bilder, Geschichten und Gegenstände sich längst von der Aura der Abgeschlossenheit verabschiedet haben – selbst wenn sie von den Segnungen oder Tücken endloser Wiederholung handeln oder eigenhändig »serielle Verfahren« zur Anwendung bringen, so wie es modernistische Avantgarden von Gertrude Stein bis Andy Warhol immer wieder getan haben, sozusagen in gegenseitiger Überbietung bis in die postmoderne Selbstbeschreibung hinein –, bleiben sie beharrlich als Werke, Texte und Strukturen ansprechbar. Die keineswegs nur den Kunstmarkt interessierende Frage, wann ein Bild eigentlich als authentischer Andy Warhol zu gelten habe, ruft eindrücklich die Fortsetzungsgrenzen einer Ästhetik des Seriellen vor Augen. Noch das offenste Kunstwerk muss anscheinend irgendwann einmal zu einem Ende kommen und irgendwo einen – vielleicht misstrauten, aber doch identifizierbaren – Platz für sich finden: zwischen zwei Buchdeckeln, in einem Catalogue raisonné oder als einheitlicher Titel, der zusammen mit einem oder mehreren Autornamen in Literaturgeschichten genannt werden kann.1 Für den Willen zur formalen Geschlossenheit gibt es, wie für Kunst selbst, gute Gründe, lebensweltliche Notwendigkeiten sogar. Was John Dewey 1934 als »ästhetische Erfahrung« beschrieb, ist sicher nicht auf Erzählungen mit Happy End angewiesen, wohl aber birgt jeder Abschluss ein Versprechen glücklicher 1 | Zur Kontroverse um Warhols »Red Self Portrait« und das Andy Warhol Art Authentication Board vgl. Dorment 2009. Zum »offenen Kunstwerk« siehe Eco 1962.

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Fügung. Das Aufhören macht den Text zum Text, auch wenn die erzählte Geschichte keine Lösungen mehr anbietet. Die Literaturwissenschaften wissen seit langem von der sinnlichen, psychologischen, sogar epistemologischen Befriedigung, die mit der Figur der Schließung einhergeht. The sense of an ending: Ganze Gesellschaftsmodelle wie die Systemtheorie profitieren hiervon.2 Das ist aber nur ein Teil dessen, was Erzählungen leisten.3 Der andere Teil, scheinbar entgegengesetzt, hat mit der Ungewissheit über die Möglichkeit einer finalen Lösung zu tun, mit dem Aufschub eines endgültigen Endes, dem Versprechen ständiger Erneuerung. Seitdem Menschen sich Geschichten erzählen, tun sie das in Fortsetzungen. Auch abgeschlossene Erzählungen drängen darauf, sich weiterzuführen und zu vermehren. Diese sogar besonders: Popularität und Wiederholung gehören offenbar eng zusammen, von der Gutenachtgeschichte zu standardisierten Unterhaltungsgenres wie der Krankenhaus-Fernsehserie oder dem Kriminalroman. In der Regel zeichnen sich derartige Formate zwar durch runde Schlüsse und definitive Ergebnisse aus, aber welches Paradox besteht eigentlich darin, dass sie solches immer wieder liefern, ohne erlösenden Gesamtabschluss? Am Ende eines Kriminalromans mag das Verbrechen somit aufgeklärt und Gerechtigkeit wieder hergestellt sein, doch immer lauert schon eine weitere Untat im Hintergrund der scheinbar beendeten Erzählung. Sherlock Holmes, der vielleicht erste Serienheld der modernen Medienwelt, wurde nicht deshalb mit fast übernatürlichem Scharfsinn ausgestattet, um nur einen einzigen Fall zu lösen und dann anderen Beschäftigungen nachzugehen. Was wäre ein Kommissar Brunetti, was ein J.R. Ewing, wenn sie bloß einmal im Leben einen Mörder überführen oder nur eine einzige Intrige in Gang setzen würden? Sie wären nicht dieselben. Wir genießen diese Figuren ausdrücklich als Serienfiguren, die uns immer wieder aufs Neue mit den gleichen, schrittweise nur mutierenden Eigenschaften begegnen. Das mag erklären, weshalb frühe Detektivgeschichten und aktuelle Superheldencomics den Gegenspieler des Helden gern als dessen Doppelgänger präsentieren. In solchen Figurenkonstellationen zeigt sich etwas vom Wissen serieller Formen um ihre eigenen Regeln und Bedingungen: So wie jedes Rätsel eine Lösung fordert, so fordert jede Lösung ein weiteres Rätsel. Der Held verlangt nach einem passenden Bösewicht wie eine Serienfolge nach der nächsten. Es nimmt kein Ende: Auf die Sintflut folgt eine weitere unvollkommene Welt, auf den Erlöser ein neuer Prophet, auf einen Liebesroman der nächste. 2 | Zum Begriff ästhetischer Erfahrung siehe auch Bubner 1989, Maase 2008. Zu »sense of an ending« vgl. die klassische Studie von Kermode 1967. Versuche, die Plausibilität des Werkes Luhmanns aus seiner ästhetischen Dimension heraus zu erklären, sind mir nicht bekannt. 3 | Die folgenden Überlegungen lehnen sich an die Ausführungen in Kelleter 2011 an.

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Klassischerweise werden die beiden Grundimpulse des Erzählens – die Befriedigung eines Abschlusses und der Reiz der Erneuerung – durch Spannung ausbalanciert: Erregung wird aufgebaut, um wieder abgebaut zu werden. Wer diesen Sachverhalt nur mit Blick auf abgeschlossene Einzelgeschichten betrachtet, so wie es uns die traditionelle Literaturwissenschaft mit ihrer Konzentration auf Werke lehrt, verliert aus den Augen, dass die Spannungskurve nach dem Ende einer Erzählung wieder ansteigt: Was mag wohl im nächsten Buch stehen? Was in einem anderen Vampirfilm anders ablaufen? Die Wirksamkeit dieser Fragen zu verstehen, heißt Kultur und ihre Geschichte(n) zu verstehen. Dabei geht es nicht um sozialpathologische Epiphänomene, auch nicht um die Erleichterung alltäglicher Selbsterkenntnis. Es geht um die kulturelle Arbeit wiederholt variierenden Erzählens selbst. Im Folgenden werden drei zentrale Dimensionen dieser Dynamik vorgestellt: Narration, Evolution, Distinktion. Zunächst aber bedarf es einer Klärung der Grundbegriffe selbst: Populärkultur und Serialität.

P OPUL ÄRKULTUR Populärkultur besitzt kein Monopol auf serielle Ästhetik. Variierende Wiederholung ist ein Grundelement fast jeder Art von Kreativität; man denke an alltägliche Betätigungen wie das Kochen oder das Sich-Kleiden. Auch im Kontext bildungskulturell ambitionierter Produkte und Rezeptionen finden sich serielle Strukturen; sie wirken in Werkzyklen, Bach-Kantaten oder Konzertabonnements. Nicht einmal die für serielle Ästhetik oft konstatierte Vielfalt lebensweltlicher Nutzungsmöglichkeiten ist auf populärkulturelle Aktivitäten beschränkt. Prinzipiell lässt sich jedes Objekt, Ereignis oder Zeichen beliebig umdeuten, zweckentfremden oder modifizieren, ohne dass es dadurch zwingend populär würde oder anerkannte Distinktionen im Raum der Lebensstile und Weltanschauungen erzeugte. Dennoch lässt sich eine Unterscheidung zwischen populärer Serialität und seriellen Strukturen in anderen Kontexten treffen. Das gilt vor allem für die sich seit dem 19. Jahrhundert herausbildenden Selbstverständnisse unterschiedlicher Felder kulturellen Handelns; systemtheoretische Ansätze weisen in diesem Zusammenhang auf die differenzierende Leistung operationaler Selbstbeschreibungen hin.4 Tatsächlich lernt sich die Populärkultur im Lauf ihrer Geschichte zunehmend als Populärkultur in Abgrenzung zu anderen ästhetischen Praxen kennen; sie nutzt Verweise auf konkurrierende Handlungs4 | Vgl. Luhmann 1997, spezifisch für Populärkultur: Stäheli 2005, Huck/Zorn 2007. Zur Systematisierung kultureller Handlungsfelder siehe das Schema von Naremore/ Brantlinger 1991 im Abschnitt »Distinktion« unten.

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felder immer auch zur Selbstkonstituierung.5 Populäre Ästhetik unterscheidet sich demnach von privat-alltäglicher oder bildungskultureller Ästhetik weder in ihrem materiellen Repertoire noch in der sozialen Zurechenbarkeit einzelner Texte oder Betätigungen (Alltagskleidung kann populärkulturelle Funktionen übernehmen; kommerzielle Produkte und Produzenten können bildungskulturell rezipiert und kanonisiert werden), sondern im unterschiedlichen Grad der Explizitheit, mit der sie die eigenen ästhetischen Operationen als solche markiert und zum Zweck der Selbstbeschreibung positioniert, d.h. mit bestimmten Wertungen, Emotionen und Handlungsroutinen versieht, die ihrerseits die Möglichkeiten formaler Gestaltung leiten. Von privaten Akten wiederholender Variation beispielsweise unterscheidet sich populäre Serialität durch ihren öffentlichen, oft rituellen Charakter. Dies auch, wenn eine Fernseh- oder Comic-Serie in Abwesenheit anderer Nutzer konsumiert wird, denn gerade dann steht die Rezeption in einem mitunter recht eindrücklichen Rahmen »imaginärer Gemeinschaftlichkeit«.6 Entsprechend gilt: Je stärker private Wiederholungshandlungen wie das Kochen oder SichKleiden mit einem Bewusstsein imaginärer Gemeinschaftlichkeit einhergehen, je stärker sie auf Kommunikationsmittel wie Gruppensitzungen, Zeitschriften, Ernährungsratgeber, Fernsehsendungen, Internet-Blogs usw. angewiesen sind, desto expliziter werden sie kulturell formalisiert, der Autoreferenz geöffnet und als populärkulturelle Phänomene erkennbar, nicht zuletzt für sich selbst. Bildungskulturelle Serienformate wie das Konzertabonnement können in ähnlicher Weise ritualisiert sein; ihre Inszenierung als serielles Ereignis ist dennoch unterschieden. In der öffentlichen Wahrnehmung besucht ein Konzertgänger in der Regel auch dann ein singuläres Konzert, wenn dieses Konzert im Rahmen eines ökonomisch serialisierten Angebotes konsumiert wird. Man hört nicht einfach Symphonien oder Kantaten, sondern Beethovens Neunte oder Bach-Kantaten, d.h. man hört autorisierte Werke explizit als autorisierte Werke, auch wenn sie seriell organisiert sind. Besonders deutlich zeigt sich dieser Unterschied im Selbstverständnis jener Avantgarde-Strömungen des 20. Jahrhunderts, die Serialität als ästhetisches Programmverfahren nutzen, etwa Gertrude Steins grammatische Permutationen, der Nouveau Roman nach Robbe-Grillet, die dodekaphonische Reihe der Zwölftonmusik oder zeitgenössische Minimal Music. Das Verständnis von Serialität als Methode, das diese Kunstströmungen miteinander teilen, stabilisiert werk- und autorenorientierte Formbegriffe, die sich meist ausdrücklich vom industriellen Reproduktions5 | Vgl. unter Nutzung von Bourdieus Feldtheorie und mit Bezug auf Erzählgenres: Gelder 2004. 6 | Zum Begriff der »imagined community« siehe Anderson 1983. Zu Andersons Serialitätsbegriff vgl. auch den Beitrag von Denson/Mayer im vorliegenden Band sowie Kelleter 2012c.

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prinzip einer kommerziellen Massenkultur abgrenzen.7 Auch Ecos Konzept der Opera aperta arbeitet sich am Serialismus der modernen Kunst ab. Demgegenüber werden im Handlungsfeld der Populärkultur nicht »Guy Hamiltons The Spy Who Loved Me« oder »Hans Blumenbergs ›Der Sommer des Samurai‹ aus der Reihe Tatort« produziert und rezipiert, sondern »der neue Bond« oder »der Saarbrücker Tatort«. Arbeitsteilige Ökonomie gehört eigentlich zu jeder Art von Kultur, hier tritt sie aber einigermaßen unverschämt in den Vordergrund: Man nimmt eine kommerzielle Serie primär als kommerzielle Serie wahr und geht entsprechend mit ihr um; feldübergreifende Angleichungen und Interaktionen – im vorliegenden Band u.a. anhand des Begriffes Quality-TV diskutiert – behaupten ihren Wert genau vor dem Hintergrund solcher Distinktionen.8 Die ostentative Kommerzialität und reduzierte Werkhaftigkeit populärer Ästhetik hilft erklären, weshalb die meisten Fernseh- oder Heftserien selbst bei genauer Kenntnis der Genrekonventionen überhaupt nur als Serien angemessen rezipierbar sind. Sich Einzeltexte anzuschauen, ergibt oft keinen Sinn; sie bleiben in ihren elementaren Praxen unverständlich, wenn sie als Werke gelesen werden, eben weil sie sich nicht wie Werke verhalten. Der vorliegende Band zieht aus diesen Überlegungen die Konsequenz, populäre Autoren als Akteure eines größeren, selbstreproduktiven Handlungsfeldes zu betrachten und nach populären Textstrukturen hinsichtlich ihrer kulturellen Arbeit zu fragen. Diese Begrifflichkeiten verleihen der doppelten Hypothese Ausdruck, (1) dass die Populärkultur eigene Handlungsrollen entwickelt, inklusive eigener Urheberrollen und Urheberfunktionen sowie eigener Nutzerrollen und Nutzerfunktionen; (2) dass populäre Artefakte aktiv zu solchen Unterscheidungen beitragen, d.h. weit mehr als bloße Handlungsressourcen sind, nämlich kulturschaffende Handlungsträger.9 Folgt man diesen Überlegungen, so bietet sich eine kulturhistorische Bestimmung des Begriffes Populärkultur an. Populärkultur bezeichnet demnach 7 | Vgl. Sykora 1983, Eco 1985, Rougé 1994, Hilmes/Mathy 1998, Felix et al. 2001, Blättler 2003, Fink 2005, Blättler 2010 (dort vor allem der Beitrag von Haselstein zu Gertrude Stein) sowie den Beitrag von Sielke im vorliegenden Band. Einen interessanten Grenzfall stellt Andy Warhols PopArt dar, vgl. Kelleter 2009b. Zur frühen Ausdifferenzierung unterschiedlicher Begriffe ästhetischer Serialisierung im viktorianischen Roman siehe Hughes/Lund 1991. 8 | Zum scheinbar gegenläufigen Phänomen populärer Kanonisierung vgl. Helms/ Phleps 2008, Kelleter 2010. Zu Quality-TV siehe die Beiträge von Frizzoni und JahnSudmann/Kelleter im vorliegenden Band. 9 | Diese Hypothesen umschreiben die Ausgangsüberlegungen der DFG-Forschergruppe 1091 »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«, der ein Großteil der hier versammelten Beiträge entstammt: Bendix/Hämmerling/Maase; Denson/Mayer; Hißnauer/ Scherer/Stockinger; Jahn-Sudmann/Kelleter; Kelleter/Stein; Maase/Möller.

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ein herausragendes Praxisfeld der Moderne, das (mit historischen Vorläufern) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung tritt, im Folgenden zunehmend an Bedeutung gewinnt und seit dem späten 20. Jahrhundert signifikante Verschiebungen im Verhältnis kultureller Sphären bewirkt. Die anhaltende Brisanz dieses Prozesses, der vielleicht am treffendsten immer noch im Begriff der Modernisierung beschrieben ist, zeigt sich u.a. daran, dass die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften auch in postmodernen Zeiten kaum nachkommen, immer neue Formeln und Erklärungsmuster für das zu produzieren, was früher einmal, als es noch keine ständige Erfahrung war, kultureller Wandel hieß. (In Deutschland besonders erfolgreich: Diagnosen zum »Niedergang des Hochkulturschemas« oder zur angeblichen Vermischung von Populärkultur und so genannter »Hochkultur«.)10 Ohne an dieser Stelle bereits eine Außenperspektive auf solche Beschreibungen anzubieten, sei festgehalten, dass die jeweiligen Befunde am Selbstverständnis der beobachteten Gegenstände durchaus beteiligt sind. Auch die Populärkultur, verstanden als epochales Feld kulturellen Wandels, entwickelt im Austausch mit ihren öffentlichen und wissenschaftlichen Thematisierungen ein hohes Maß an autoreferentieller Aufmerksamkeit, also: Selbstbewusstsein. In substanzieller Hinsicht bezieht sich dieses Selbstbewusstsein auf Praktiken der Produktion, Rezeption und Wahrnehmung von ästhetischen Artefakten, die massenadressiert, dominant kommerziell ausgerichtet, arbeitsteilig hergestellt und von technologischen Kommunikationsmedien abhängig sind. Eine solche Arbeitsdefinition hält auf zweifache Weise Abstand zu etablierten Modellen der Populärkultur und vermittelt zugleich zwischen ihnen. (1) Populäre Serialität wird in der hier vorgeschlagenen Perspektive nicht als formale Komplexitätsminderung oder als direkter Ausdruck ideologischer Verblendungszusammenhänge gefasst.11 Der kommerziellen Wettbewerbsorientierung industriell hergestellter Serienerzählungen wird gleichwohl Rechnung getragen, indem populäre Serialität als ein Komplex materieller Standardisierungen und narrativer Schematisierungen erscheint, der gerade aufgrund seiner außerordentlichen Reproduktionsmöglichkeiten, seiner Massenadressiertheit und seiner enormen Vernetzungsoffenheit konstant neue Möglichkeiten formaler Variation und lebensweltlicher Anschlüsse schafft. (2) Die vielfältigen Möglichkeiten, alltägliche Bedeutungen an populärkulturelle Massenwaren anzuschließen und ihnen damit lebensweltliche Relevanz zu verleihen, werden vor allem vom gegenwärtig dominanten Modell der Populärkulturforschung betont: dem Nutzer-Modell der Cultural Studies und diver-

10 | Vgl. Schulze 2005. 11 | Klassisch hierzu die Frankfurter Schule und das »Kulturindustrie«-Kapitel aus Horkheimer/Adorno 1947.

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ser rezeptionsorientierter Ansätze.12 Entsprechende Theorien der Populärkultur haben viel dazu beigetragen, die letztlich irreführende Frage nach der besonderen formalen Beschaffenheit populärkultureller Produkte zu ersetzen durch die Frage nach den effektiven Praktiken, die so etwas wie Populärkultur überhaupt hervorbringen und selbstverständlich werden lassen. Je ernster man diesen Perspektivenwechsel nimmt, desto deutlicher zeigt sich jedoch, dass alltägliche Nutzungen sehr viel enger mit der ästhetischen Praxis populärer Produkte zusammenhängen als oft angenommen. Cultural-Studies-Analysen haben hierfür noch kein sehr scharfes Sensorium entwickelt, möglicherweise weil ihre oft populistisch, nicht selten marxistisch vorgeprägten Wertungsroutinen nahezu reflexhaft bildungsbürgerlichen Elitismus vermuten, wenn nach formalen Leistungen gefragt wird. (Eine Vermutung, die ungewollt das bildungsbürgerliche Verständnis von Ästhetik als einer besonderen Objektform – statt einer historischen Praxis – stabilisiert.) Folglich lagern Cultural-Studies-Diskurse die Legitimität populärer Kultur auf die clevere Umdeutungsleistung souveräner Rezipienten aus. Entsprechend scharf reagieren sie auf Versuche, Populärkultur von anderen Kulturformen zu unterscheiden: Definitionen von Populärkultur, die nicht die eigenen sind, werden als (negative) Wertungen empfunden. Der vorliegende Band möchte eine Positionierung außerhalb solcher Kampflinien anbieten. Popularität soll in den hier versammelten Beiträgen weder als formale Produkteigenschaft noch als emanzipatorische Nutzungskonsequenz, sondern als ein dynamisch sich entfaltender Zusammenhang zwischen professionellen und alltäglichen, materiellen und weltanschaulichen Handlungsmöglichkeiten untersucht werden. Der Forschungsgegenstand Populärkultur bedarf aus solcher Perspektive keiner kämpferischen Legitimation mehr. Vielmehr zeigt die Forschungsgeschichte, dass gerade die legitimierende Parteinahme für Populärkultur den Blick auf die Besonderheiten populärkultureller Praxis (im Unterschied zu anderen, z.B. bildungskulturellen Handlungsfeldern) oft behindert.

S ERIALITÄT Ähnlich wie der Begriff Populärkultur weist der Begriff Serialität eine beängstigende Anschlussfähigkeit an unterschiedliche fachwissenschaftliche Theorien und Erkenntnisinteressen auf. Man kann nach Serialität soziologisch fragen, als Frage nach der gemeinschaftsbildenden Funktion wiederholter oder ritualisierter Mitteilungen und Formen.13 Man kann diese Frage psychologisch oder 12 | Klassisch hierzu die Birmingham Schule: Hall 1980, 1981, Fiske 1987, 1989. 13 | Mit Blick auf Individualitätskonstruktion: Müller 2007; spezifisch zu populären Medien: Bruns 1996, Liebes 1998, Schanze 2003, Fahlenbrach et al. 2008.

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sozialpsychologisch, sogar neurophysiologisch wenden, indem man die mentalen, kognitiven oder emotiven Voraussetzungen und Folgen serieller Mitteilungen und Handlungen untersucht.14 Daneben, oder in Konkurrenz hierzu, kann man sich dem Problem der Serialität aus philosophischer Perspektive nähern, etwa im Rahmen einer Theorie der Wiederholung und Differenz.15 Man kann historisch fragen und sich auf die Suche nach den ersten dokumentierten seriellen Erzählformen machen und diese dann vielleicht bei der Illias finden.16 Früher oder später wird man auf diesem Weg bei medien- und kommunikationswissenschaftlichen Modellen landen, etwa zur Bedeutung oraler Schematisierungen für schriftgebundene und elektronische Kommunikationen.17 Serielle Artefakte werfen auch juristische Probleme zu Urheberschaft und kulturellem Eigentum auf, die ihrerseits für literaturwissenschaftliche Theorien multipler Autorschaft von Interesse sind.18 Schließlich stellt sich die Frage narrativer Wirklichkeitskonstitution: Welchen Wandel erfahren Wahrnehmungen und Erwartungen von Realität, wenn ihre narrativen Adressierungen und Verarbeitungen zunehmend seriell organisiert sind?19 Viele dieser Fragen spielen in den folgenden Beiträgen eine Rolle; es wäre oft schwer, sie nicht zu stellen. Das zentrale Interesse des vorliegenden Bandes ist jedoch begrenzter und damit konkreter. Unter dem Titel »Populäre Serialität« geht es um einen Erzähltypus, dessen Frühformen sich zwar historisch weit zurückverfolgen lassen, der aber erst seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem auffälligen, in bestimmten Zusammenhängen sogar vorherrschenden Merkmal kultureller Praxis wird. Es geht um Fortsetzungsgeschichten mit Figurenkonstanz, die produktionsökonomisch standardisiert, d.h. in der Regel arbeitsteilig und mit industriellen Mitteln, sowie narrativ hochgradig schematisiert für ein Massenpublikum hergestellt werden.20 Die vorherrschen14 | Vgl. Horton/Wohl 1956, Schramm/Wirth 2006, Schramm et al. 2006; erste Ansätze zu populären Serien: Schneider 1992, Faulstich 1994, Vorderer 1996, Johnson 2005, Trinks 2006. 15 | Klassisch hierzu Deleuze 1968. 16 | Vgl. Hickethier 2003. 17 | Siehe die Toronto School: McLuhan 1962, 1964, Ong 1982 sowie die Pionierarbeiten von Parry (1930, 1932). Aus kulturanthropologischer Sicht: Goody 1987. 18 | Zur juristischen Dimension vgl. Gaines 1990, Litten 1997. Allgemein zu Cultural Property siehe die DFG-Forschergruppe 772 unter der Leitung von Regina Bendix. Zu multipler Autorschaft vgl. Stillinger 1991, Wharton et al. 1994, Woodmansee/Jaszi 1994, Inge 2001. 19 | Erste Ansätze, noch nicht mit Blick auf Serialität, bei Urban/Engelhardt 2000. 20 | Die Beschränkung auf Figurenkonstanz versteht sich als pragmatische Setzung, nicht als Bestimmungsmerkmal serieller Narrative. Tatsächlich muss eine Minimaldefinition populärer Serien niedriger und ungenauer, etwa bei mindestens zweiteiliger Wie-

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de Funktion dieser Serienerzählungen ist auch laut Selbstbeschreibung explizit kommerziell, d.h. die Möglichkeit fortgesetzten Erzählens hängt entscheidend vom Markt- oder Publikumserfolg ab.21 Von der Medienwissenschaft wurde diese Erzählform bislang vor allem mit Blick auf Fernsehserien untersucht; in den Literaturwissenschaften steht sie vielfach noch unter Ideologie- oder Trivialitätsverdacht.22 Strukturalistische und semiotische Ansätze fassen Serialität bevorzugt als ein Schema, das formale Redundanzen produziert und verfestigt.23 Die Cultural Studies wiederum bemühen sich, den Forschungsgegenstand Populärkultur gegenüber den Vorannahmen werkästhetischer und bildungskultureller Modelle qualitativ aufzuwerten. Mit Blick auf Serien verschiebt sich das Erkenntnisinteresse damit von der Faktur serieller Artefakte auf deren Konsum und die sich dort ergebenden Freiräume von Aneignung und Umdeutung. In vielen Fällen rücken diese Aneignungs- und Umdeutungsakte so stark in den Vordergrund, dass Konsum (mit Certeau gesprochen) als eine »production secondaire« erkennbar wird. Ob solche Rezeptionsprozesse vornehmlich als produktions- und machtsubversive Widerstandsakte ablaufen, darf jedoch bezweifelt werden. Ethnographische Zugriffe lassen für das Spektrum möglicher Genuss- und Nutzungsformen deutlich differenziertere Ergebnisse erwarten.24 Wie wenig die einseitige Betonung populärer Rezeption – und hierbei die Reduktion populärer Rezeption auf widerständige oder anti-elitäre Haltungen – der kulturhistorischen Aktivität populärer Serien gerecht wird, zeigt sich an zwei Klassikern der Forschungsliteratur aus den 1980er Jahren: Janice Radways Reading the Romance: Women, Patriarchy, and Popular Literature (1984) und Ien Angs Watching ›Dallas‹: Soap Opera and the Melodramatic Imagination (1985). Beide Studien betonen in überzeugender Weise die kulturelle Produktivität von Unterhaltungsangeboten, die aufgrund ihrer Serialität bislang als Paradebeispiele einer ideologisch korrumpierenden Kulturindustrie galten. Gleichzeitig bleiben Radway und Ang relativ unempfindlich für die formalen Leistungen ihrer Untersuchungsgegenstände. Die Umwertung, ja Sublimierung serieller Industrieerzeugnisse zu komplexen Bedeutungsträgern bleibt auf das Postulat derholung eines gemeinsamen Themas oder Konzeptes ansetzen, vgl. Weber/Junklewitz 2008. Gegenbeispiele bleiben möglich. 21 | Vgl. Hagedorn 1995. 22 | Für die Fernsehforschung vgl. Hickethier 1991 als deutsches Standardwerk; für literaturwissenschaftliche Wertungen vgl. Zitko 1998, Krah 2003. 23 | Vgl. Barthes 1957, Eco 1962, 1965, Cawelti 1976. 24 | Zu »production secondaire« siehe Certeau 1980. Zum Widerstands-Paradigma vgl. Hebdige 1979, Fiske 1987, 1989, Winter 2001. Zur selbstkritischen Auseinandersetzung der Cultural Studies mit dieser Tendenz vgl. Grossberg 1992, Kellner 1995. Für die Ethnographie vgl. Maase 2003 zur Jugendkulturforschung; siehe auch Maase 2007.

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einer souveränen Leser- und Zuschauerschaft angewiesen, die im Aneignungsakt leistet, was das Produkt angeblich unterlässt: die Herstellung psychologischer oder kultureller Signifikanz.25 Unberücksichtigt bleibt die Frage, ob und wie die ästhetische Praxis einer Serienerzählung ihre sozial akzeptablen und verallgemeinerbaren Nutzungsmöglichkeiten leitet und begrenzt. Die formalen Entscheidungen und materialen Selbstinszenierungen einer Serie können Rezeptionsformen ins Leben rufen, die ihrer Ästhetik durchaus entsprechen und sie in den Alltag hinein verlängern (wollen). Ungefragt bleibt auch, ob und wie sich serielle Gestaltungsformen aus den kulturellen Selbstverständnissen autorisierter und konsumierender Akteure ergeben. Blickt man auf das Zusammenspiel von produzierenden und rezipierenden Praxen – statt ein Moment konzeptionell gegen das andere auszuspielen –, stellt sich heraus, dass populäre Serien keine frei verfügbaren Rohmaterialien sind, sondern das Selbstverständnis ihrer Akteure wirksam formen. Mehr noch: Wie einzelne der folgenden Beiträge zeigen, können Serien selbst als historische Akteure entworfen werden. Sie denken aktiv über die eigenen Fortsetzungsmöglichkeiten nach, experimentieren mit unterschiedlichen Formidentitäten und nutzen die Intentionen ihrer aktuellen menschlichen Akteure (die mitunter sehr viel jünger sind als sie selbst) zur Selbsterneuerung.26 Als Triebkraft historischen Wandels untersteht populäre Serialität offensichtlich keiner personalen oder korporativen Zentralagentur, keiner in der Hauptsache zuständigen intentionalen Leitungsmacht. Die zuletzt häufig getroffene Feststellung, dass populäre Serien »immer komplexer« werden, hat hier ihren Platz: Sie betrifft ästhetische Handlungen, die im Lauf ihrer Entwicklung verstärkt zur Selbstbeobachtung neigen und auf diese Weise immer neue Abwandlungen, Verzweigungen und Vermischungen – auch auf Ebene serieller Formgenese – provozieren.27 Allein aufgrund ihrer Wettbewerbsorientierung tendieren populäre Serien dahin, die eigene Entwicklungsgeschichte in ihre formale Gestaltung aufzunehmen und dort fortlaufend zu reflektieren. Insofern ihr grundlegendes Strukturproblem darin besteht, gleichzeitig Verlässlichkeit und Attraktion, Wiederholung und Erneuerung zu schaffen, sind sie darauf an-

25 | Siehe ähnlich Kelleter/Mayer 2007. 26 | Zur Grundierung dieser serialitätstheoretischen Gedanken in der Akteur-NetzwerkTheorie vgl. Kelleter 2012a. Zur Unterscheidung von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren vgl. Latour 2005. 27 | Ein populärwissenschaftliches Plädoyer für die zunehmende Komplexität des Seriellen formuliert Johnson 2005. Zur Differenzierungslogik serieller Formen vgl. Calabrese 1987, Engell 2004, 2006, Ndalianis 2005; zu televisionärer Komplexität vgl. Mittell 2006 (deutsche Fassung im vorliegenden Band). Viele dieser Befunde schließen an Eco 1985 an.

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gewiesen, Selbsthistorisierung als ein Mittel ästhetischer Differenzierung zu betreiben.28 Die Rekursivität seriellen Erzählens verdeutlicht, weshalb kritische Begriffe wie Standardisierung, Trivialisierung oder Ökonomisierung zu kurz greifen, wenn es darum geht, die Ästhetik der Populärkultur zu beschreiben.29 Tatsächlich entspricht der formalen Komplexitätsminderung, die für die Frühphase populärer Medien und Genres oft kennzeichnend ist, eine Komplexitätssteigerung und Flexibilisierung auf Seiten ihrer lebensweltlichen Interaktionen und sodann auf Seiten ihrer formalen Evolution. Die gegenseitige Abhängigkeit von Schematisierung und Differenzierung, Komplexitätsreduktion und Komplexitätssteigerung, Somatisierung und Reflexivität ist für kommerzielle Serienerzählungen wesensbestimmend. Postmoderne Beschreibungen dieses Umstandes privilegieren wenig überraschend den Aspekt fließender Ordnungssubversion; Serien erscheinen aus dieser Sicht als herausragende Ausdrucksformen einer bisweilen ins Utopische reichenden Vorstellung vitalistischer Grenzüberschreitung.30 Der gegenwärtig aufsteigenden These, Serialität stelle das evolutionäre Lebensprinzip aller kulturellen Entwicklung oder gar eine Grundform a-linearer Intensität (mit kaum noch verdeckten religiösen Assoziationen) dar, darf dennoch misstraut werden. Theoriegeschichtlich ist dieses Argument von Interesse, weil es den modernistischen Avantgarde-Begriff von Serialität auf kommerzielle Industrieerzählungen überträgt, was ohne mitlaufende Verschiebungen im Verhältnis bildungsorientierter und massenadressierter Ästhetik kaum möglich wäre. Zum Zwecke wissenschaftlicher Beschreibung aber stoßen vitalistische Serienbegriffe rasch an ihre Grenzen: Die ökonomischen und institutionellen Bedingungen populärer Fortsetzungsgeschichten müssen oft gewaltsam aus dem eigenen Erkenntnisinteresse ausgegrenzt werden; die Untersuchung ihrer sozial stabilisierenden 28 | Zum Verhältnis von Redundanz und Innovation als einem Grundproblem seriellen Erzählens vgl. Eco 1985. Zu Recht wurde in diesem Zusammenhang häufig auf die Bedeutung von Genrekonventionen als Repertoire für populäre Variations- und Hybridisierungsmöglichkeiten verwiesen (Cawelti 1976, Roberts 1990, Gelder 2004, Hügel 2007). 29 | Vgl. Maase 1997, Hügel 2007. 30 | Eine Frühform dieses Arguments beschreibt Fernsehserien als Inbegriff postmoderner Ästhetik, vgl. Nelson 1997, ausgehend von Eco 1962. Anschließend an Deleuze (1968, 1969) neigen vor allem poststrukturalistische Ansätze zu neovitalistischen Positionen, die Serialität zu einer Generalformel kultureller Evolution erklären; ideengeschichtliche Vorläufer finden sich in Paul Kammerers biologistischer Metaphysik des Seriellen (1919) und Henri Bergsons Begriff des »élan vitale« (1907). Eine neoliberale Variante wurde jüngst von Johnson (2005) formuliert. Zum historischen Zusammenhang der Begriffe Serie und Leben vgl. auch Winkler 1994.

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Tätigkeiten und psychologischen Relevanzen ist von vornherein als rückschrittlich markiert; Hybridität und Selbstreferenz wandeln sich von Beobachtungsergebnissen zu Wertungskategorien.31 Es erscheint aussichtsreicher zu fragen, wie populär-serielles Erzählen historisch aktiv wird. Damit ist mehr gemeint als seine zeitliche Verortung.32 Im vorliegenden Band geht es nicht um Chronologien der Serienentwicklung, sondern um das, was mit einem Ausdruck des New Historicism als kulturelle Arbeit populärer Serialität bezeichnet werden kann: ihre Beteiligung an einem Prozess ästhetischer Modernisierung, der Selbstverständnisse, Identitäten und Rollenmöglichkeiten auf allen Ebenen sozialer Organisation betrifft (vom unwahrscheinlichen Aggregat eines Nationalstaates bis hinunter zur Psychologisierung und Subjektwerdung des Individuums als kleinster sozialer Handlungseinheit). Versteht man populäre Serialität in diesem Rahmen als die variationsoffene und differenzierungsorientierte Wiederholung generisch erprobter, industriell reproduzierter Geschichten, so zeigt sich die historische Handlungsmacht dieses Erzähltypus vor allem an zweien seiner Aspekte. Erstens handelt es sich bei populären Serien nicht um in sich kohärente Werke, die einem Publikum vielleicht nur aus Spannungsgründen in segmentierter Form präsentiert werden. Stattdessen haben wir es mit etwas zu tun, das man zuvor eher aus oralen Kulturen kannte: regelmäßig fortlaufenden Geschichten, die in der Regel zeitgleich – oder in seriellen Strukturen gedacht: in konstanter Rückkopplung – zu ihrer Rezeption erzählt werden. Der hohe Druck kommerzieller Produktionstaktung (im Fall von Zeitungsromanen oder Comic Strips z.B. täglich eine neue Folge) erfordert mediale Standardisierungen und narrative Schematisierungen, industrielle Produktionsweisen also, führt gleichzeitig aber dazu, dass immer neue inhaltliche Wendungen, ja immer neue medien- und erzähltechnische Innovationen in die Erzählung eingeführt wer31 | Die Tendenz philosophischer Serialitätstheorien zur wertenden Aufspaltung des Phänomens in eine emanzipatorische (offene) und eine restrikive (geschlossene) Variante ist auffallend (vgl. zu diesem Thema auch den Beitrag von Denson/Mayer im vorliegenden Band). Neuerdings wird gerne betont, dass beide Serialitätsformen nicht getrennt voneinander gedacht werden könnten; nicht immer ist solches Postulat theoretisch folgenreich (vgl. Kelleter 2012c). Regelmäßig nämlich grenzen sich philosophische Serialitätstheorien gegeneinander durch Parteinahme für einen noch fließenderen, noch instabileren, noch subversiveren Serialitätsbegriff ab. 32 | Studien zur Geschichte populärer Serien haben sich bislang vor allem am Wandel der Bauformen und Genres abgearbeitet. Zur Historie einzelner serieller Gattungen und Medien, im amerikanischen Raum meist ausgehend von Stedman 1971, siehe Hagedorn 1995 und dort genannte Titel; für Europa: Maase 1997; für Deutschland: Kreuzer/ Prümm 1979, Durzak 1982, Mikos 1987, Galle 1988, Frey-Vor 1991, Hickethier 1991, 2003, Martenstein 1996.

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den müssen, um das Interesse eines wiederkehrenden Tagespublikums und das Interesse der Serie an sich selbst am Leben zu halten. Eine populäre Serie zeichnet sich also einerseits durch die wiederholte Aufführung lieb gewonnener Figurenkonstellationen und bekannter Handlungsmuster aus, sie kann andererseits aber nicht immer dieselbe Geschichte in gleicher Form erzählen, wenn sie populär bleiben (also: die Bereitschaft zu ökonomischen Investitionen bei Produzenten und Publikum auf Dauer stellen) möchte. Werkästhetische Produktions- und Rezeptionstheorien werden diesem Erzähltypus nur noch bedingt gerecht. Stattdessen bedarf es serienästhetischer Analysekriterien. Zweitens fällt auf, dass populäre Serien eine geradezu epidemische, d.h. außergewöhnlich reproduktionsintensive und differenzierungsfreudige Wirkung auf die alltägliche und zunehmend auch die öffentliche Kommunikation ihrer Leser, Zuschauer und Produzenten entfalten können. Als historische Erstbeispiele werden oft die französischen Feuilletonromane der 1840er Jahre und ihre europäischen und amerikanischen Nachfolger genannt. Über einen oft sehr langen Zeitraum hinweg – im Fall von Eugène Sues Les mystères de Paris (1842/43) waren es fast zwei Jahre – konnten serielle Rezipienten in semi-öffentlichen und zunehmend auch öffentlichen Räumen und dort in unterschiedlichen Formen und Graden des Involviertseins über den Fortgang der offenen Erzählung spekulieren.33 Spätere Beispiele sind die so genannten »Straßenfeger« des bundesdeutschen Fernsehens der 1960er Jahre oder amerikanische »Kultserien« wie Star Trek (sechs Serien seit 1964) und Twin Peaks (1990/91). Die Beteiligung der Adressaten am Fortgang der Erzählung erschöpft sich in solchen Formen keineswegs in laufender Kommentierung, sondern umfasst zunehmend auch Betätigungsformen wie systematische Interessenmobilisierung, Fan Fiction oder professionalisierte Eigenproduktionen, die ihrerseits zur Vervielfältigung, Verzweigung und Hybridisierung existierender Erzählwelten beitragen.34 Für populäre Serien lässt sich demnach eine ungewöhnlich enge Verschränkung nicht nur von Produktion und Rezeption, sondern auch von Textstruktur und Textaktualisierung festhalten: Das eine folgt nicht einfach auf das andere, sondern beides läuft, auf den Gesamtzusammenhang einer Serie hochgerechnet, simultan ab und steht in konstanter Wechselwirkung.35 Das gilt nicht nur 33 | Zu den Mystères de Paris siehe den Beitrag von Hügel im vorliegenden Band; vgl. auch Miller/Riha 1971, Neuschäfer et al. 1986, Aubry 2006, Türschmann 2007a, 2008. 34 | Siehe die Beiträge von Bendix/Hämmerling/Maase/Nast und Kelleter/Stein im vorliegenden Band; vgl. auch Jenkins 1992, 2006, Hayward 1997, Gray/Mittell 2007; zu Leserbriefen bereits an Eugène Sue vgl. Thiesse 1980. 35 | Damit sind auch Herstellung und Genuss nicht mehr strikt personal trennbar; vgl. Chabon 2008 zur Möglichkeit, populärkulturelle Produzenten als Konsumenten ihrer eigenen Artefakte zu entwerfen.

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im Extremfall hochfrequent getakteter Fortsetzungen oder bei Erstpräsentationen, sondern mit entsprechenden Formunterschieden auch für sporadisch publizierte Reihen, retrospektive Rezeptionen und sogar die neuartige Rezeption von Serien als geschlossene DVD-Sets oder im individuellen Zugriff im Internet.36 Bei hochfrequenten und lang laufenden Fortsetzungsroutinen (z.B. jeden Morgen zum Frühstück einen Cartoon oder jeden Sonntagabend einen Fernsehkrimi) fällt nur besonders deutlich auf, dass eine serielle Erzählung anders als ein abgeschlossenes Werk die eigene Wirkung auf das Publikum beobachten kann, während die Erzählung noch läuft. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen werkästhetischer und serienästhetischer Praxis: Eine Serie kann sich, anders als ein abgeschlossenes Werk, im Lauf der Erzählung auf die eigene Rezeption einstellen, was umgekehrt bedeutet, dass Serienrezipienten deutlich größere Spielräume als Werkrezipienten besitzen, um auf laufende Narrationen Einfluss zu nehmen oder im Prozess fortgesetzten Erzählens selbst aktiv zu werden. Die Geschichte populärer Serien zeigt, dass diese Spielräume genutzt werden. Klassische Beispiele beinhalten die Wiederauferstehung der Figur Sherlock Holmes nach konzertierten Leserprotesten (1903), das Preisgeld von $10.000, das die Produzenten der Filmserie The Million Dollar Mystery (1914) für den besten von Zuschauern erdachten Schluss aussetzten, die anhaltende Verzweigung des Star-Trek-Universums nach unerwartet resonanzreicher Neuausstrahlung der ersten Serie in den 1970er Jahren oder die Telefonumfrage zum weiteren Schicksal der Figur Robin in den Batman-Comics der 1980er Jahre. Umgekehrt lassen sich zahlreiche Belege für die starke Durchlässigkeit zwischen professionellen und Amateur-Produktionen nennen.37 Solche und ähnliche Beispiele dokumentieren für Serien eine im Vergleich zu anderen Erzählformen ungewöhnlich intensive Rückkopplung zwischen Diegese und Alltag. Schon aufgrund ihres Fortsetzungsinteresses und ihrer kommerziellen Programmabhängigkeit sind populäre Serien meist sehr eng in die Lebenswelt und (bei regelmäßiger Präsentationstaktung) den Wochen- oder Tagesrhythmus ihrer Adressaten eingebunden – ein Sachverhalt, der wiederum zu thematischen Vorlieben und strukturellen Besonderheiten populärer Serien beiträgt, insbesondere mit Blick auf Figurengestaltung. Oft werden solche Feedback-Effekte von seriellen Erzählungen auch explizit gesucht und inszeniert, eben weil kommerzielle Produzenten ein selbstverständliches Interesse haben, den Geschmack

36 | Auch abgelaufene Serien können bei Zweit- und Drittpräsentation Entwicklungsimpulse für die eigene Aktualisierung in Kopien, Relaunches oder Neuaufnahmen setzen, vgl. Kompare 2005. Reaktionen auf einzelne Serien betreffen oft die weitere Entwicklung des Genres oder des Gesamtformats. 37 | Vgl. den Beitrag von Kelleter/Stein im vorliegenden Band.

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ihrer Kunden zu ermitteln, und weil Konsumenten ihrerseits daran interessiert sind, geschmacksgemäß bedient zu werden.38 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lassen sich drei Leitfragen zur Untersuchung populärer Serialität formulieren: (1) Wie funktioniert serielles Erzählen unter populärkulturellen Bedingungen? (2) Welche historischen Entwicklungen werden von populären Serien vorausgesetzt und unterstützt? (3) Wie unterscheidet sich populäre Serialität von seriellen Strukturen und Praktiken in anderen kulturellen Feldern? Oder abstrakter: Was sind die narrativen Verfahren, die historischen Prozesse und die kulturschaffenden Funktionen seriellen Erzählens auf dem Handlungsfeld der modernen Populärkultur? Damit sind die drei Dimensionen populärer Serialität benannt, die in den Beiträgen des vorliegenden Bandes behandelt werden: Narration, Evolution, Distinktion.

N ARR ATION Zur seriellen Narratologie liegt eine umfangreiche Forschungsliteratur vor, die sich vorwiegend mit Fernsehserien (seit den 1960er Jahren) beschäftigt.39 Eine typologische Basisdifferenz auf diesem Feld ist die Unterscheidung zwischen »series« und »serials«, d.h. Erzählungen mit abgeschlossenen und im Extremfall austauschbaren Folgen auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, Erzählungen, die Handlungsbögen über mehrere Folgen spannen.40 Die Differenz von eigenständigen Episoden und fortlaufenden Folgen wird in der Seriennar-

38 | Zur Alltagsdimension von Fernsehserien vgl. Mikos 1993, 2000. Zur Bedeutung der kommerziellen Dimension populärer Serien in diesem Zusammenhang siehe Hayward 1997. 39 | Vgl. Feuer 1986, Neuschäfer et al. 1986, Kozloff 1987, Hickethier 1991, Hoff/Wiedemann 1992, Mikos 1992, Oltean 1993, Butler 1994, Giesenfeld 1994, Brandt 1995, Schneider 1995, Sconce 2004, Allrath/Gymnich 2005, Mittell 2006, Newman 2006, Türschmann 2008; erste Ansätze zu einer epochen- und medienübergreifenden Narratologie des Seriellen in der deutschen Literaturwissenschaft finden sich bei Mielke 2006. 40 | Zur »series/serial«-Unterscheidung vgl. Williams 1974. Die Portionierung einer bereits abgeschlossenen Gesamterzählung aus Präsentationszwecken (»miniseries«) fällt nicht unter die Seriendefinition des vorliegenden Bandes, stellt aber einen wichtigen Übergangsbereich zu angrenzenden ästhetischen Handlungsfeldern dar. Dem stehen Definitionen gegenüber, die das Format Serie als »Präsentations- und Vermittlungsform« fassen, vgl. Hickethier 2003. Siehe aber auch Hughes/Lund 1991 zu konkurrierenden Konzepten formaler Ordnung, die unterschiedlichen Formen serialisierter Präsentation vom Viktorianismus zum Modernismus zugrunde liegen.

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ratologie wiederholt und in unterschiedlicher Terminologie beschrieben.41 Sie lässt sich in immer weitere Mischformen unterteilen, die das gängige Bild der populären Serie als einer regelmäßigen und meist kurz getakteten Variation des Immergleichen komplizieren. Mittell schlägt ein Spektrum vor, das Fernsehserien nach dem Grad narrativer Kontinuität in »miniseries«, »anthology series«, »episodic series« und »serial narrative« einteilt.42 Eco differenziert zwischen Reprise, Kopie, Serie und Saga.43 Auf Ebene intraserialer Verknüpfung werden »beats«, »episodes« und »arcs« unterschieden.44 Weber und Junklewitz nutzen in Anlehnung an das anglo-amerikanische Konzept der Continuity die Termini Fortsetzungsreichweite und Fortsetzungsdichte, um unterschiedliche Kohärenzgrade segmentierter Vernetzung zu beschreiben.45 Es gibt weitere Klassifikationsmodelle. Alle Formtypen weisen aber mindestens ein gemeinsames Merkmal auf, ohne das ein Erzählen in Fortsetzungen nicht möglich wäre. In jedem Fall nämlich richtet sich ein vorliegender Erzähltext auf seine simultane Wiederholung und Erneuerung in einem noch nicht vorliegenden Erzähltext aus. Was Hickethier mit Blick auf diesen Sachverhalt als »doppelte Formstruktur« von Serien bezeichnet – die gegenseitige Abhängigkeit von »Serien- und Folgendramaturgie« – lässt sich für beide Grundtypen seriellen Erzählens und ihre zahlreichen Hybride nachweisen. In allen Fällen ermöglicht die strukturelle Ausrichtung populärer Serien auf ihre eigene Rückkehr ein »kumulatives Erzählen« (Newcomb) bzw. eine immer vorausgreifende »Gesamtvorstellung« (Hickethier), die mehr ist als die Summe ihrer Teile und aus der heraus sich der narrative Mehrwert einzelner Segmente sowie die paradoxe Innovationskraft wiederholten Erzählens ergibt.46 Die kumulative Vorstellung eines seriellen Gesamttextes bleibt uneinholbar, solange die Serie noch läuft. Aus diesem Grund betonen viele Theoretiker die potenzielle Endlosigkeit serieller Narration.47 Natürlich hören alle Serien früher 41 | Z.B. Feuer 1986 zu »episodic series« und »continuing series« oder Weber/Junklewitz 2008 zu »Episodenserie« und »Fortsetzungsserie«. 42 | Vgl. Mittell 2010. Im deutschen Raum unterscheidet Mikos (1992) im Anschluss an die anglo-amerikanische Diskussion zwischen Mehrteiler, Serie und Sendereihe (im Englischen meist: »miniseries«, »serial« und »series« oder »procedural«). 43 | Vgl. Eco 1985. Türschmann 2009 bietet ein ähnliches Ordnungssystem anhand der Begriffe Feuilleton, Serie und Saga an. 44 | Newman 2006. 45 | Weber/Junklewitz 2008; zu Continuity vgl. Allrath et al. 2005 und den Beitrag von Hoppeler/Rippl im vorliegenden Band. 46 | Zu »doppelter Formstruktur« vgl. Hickethier 2003; zu »cumulate narrative« Newcomb 1985, 2004; zu »Gesamtvorstellung« siehe Hickethier 1991, ähnlich Oltean 1993. 47 | Vgl. Eco 1985, Kließ 1987, Kozloff 1987, Giesenfeld 1994, Allrath et al. 2005, Aubry 2006.

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oder später auf, aber wenn sie eingestellt werden, hat das in den seltensten Fällen den Grund, dass endlich alles erzählt ist, was erzählt werden sollte.48 Im Gegenteil: Populäre Serien enden häufig gar nicht im anspruchsvollen Sinn des Wortes, sondern sie verschwinden einfach. Darin zeigen sie sich als das, was sie ihrer Materialität nach sind: massenhaft reproduzierte Industriewaren, deren Produktion ab einem bestimmten Punkt nicht mehr lohnt oder aus anderen Gründen unmöglich wird. Dass populäre Serien abrupt aufhören, mitten in einem Erzählstrang, dessen Fortführung nicht mehr profitabel erscheint, ist zumindest für Fernsehproduktionen eher die Regel als eine Ausnahme. Viele Fernsehserien zielen selbst dann nicht auf Gesamtabschlüsse, wenn sie diese (wie im Fall von Mystery-Serien wie Twin Peaks oder Lost, die schon generisch einer Auflösung zustreben) permanent in Aussicht stellen. Das erzähltechnische Problem besteht dann eher darin, für wie lange und mit welchen Mitteln die Spannung auf Abschluss aufgeschoben werden kann, ohne retardierend auf die Konsumentenbindung zu wirken.49 Bisweilen kündigt sich die Abschreibung der seriellen Ware auch schon im Vorfeld an, so dass die Erzählung ihre Rezipienten in den Genuss einer (mitunter recht gewaltsam aufgesetzten) Schlussdramaturgie kommen lassen kann. In den wenigsten Fällen aber darf eine Serie mit sorgsam vorbereiteter Closure abtreten, sozusagen nachträglich zum werkhaften Mehrteiler geadelt. Möglich wird dies nur, wenn sich das kommende Ende bei Produktion und Erstausstrahlung bereits als Ende kennt bzw. als solches erwartet und rezipiert wird. Selbst in diesen Fällen aber lässt die Erzählung meist markierte Anschlussmöglichkeiten für eine Fortsetzung offen (wie in den letzten Episoden von Sex and the City oder The Sopranos). Was in zahlreichen Beiträgen des vorliegenden Bandes als Dynamik seriellen Erzählens bezeichnet wird, hat viel damit zu tun, wie jede Serie zwischen einer vermuteten Gesamtstruktur und ihren konkreten Einzelkomponenten oszilliert. Anders als werkästhetisch orientierte Produktions- und Rezeptionspraxen entwerfen sich populäre Serien auf ein stetig entlagertes Ganzes hin, das den Zusammenhang seiner Teile ermöglicht, ohne ihn zu dominieren. Einen Abschluss derart in Schwebe zu halten, ohne dem Erzählten Plausibilität zu rauben, heißt die Möglichkeit von Fortsetzung durch wiederholte Aufschübe zu garantieren – oder abstrakter: Kontinuität aus Diskontinuitäten zu erzeugen.50 Die interessante Frage ist dann wie so oft, worauf man seine Aufmerksamkeit lenkt, um zu untersuchen, wie dasselbe noch einmal, aber neu erzählt wird. Man kann unterschiedliche Typen seriellen Erzählens etwa hinsichtlich ihrer »Zäsurtechniken« oder hinsichtlich ihrer Zeitstruktur und Publikationstak48 | Die folgenden Ausführungen lehnen sich an die Analyse der letzten Episode der TV-Serie The Sopranos in Kelleter 2010 an. 49 | Vgl. Weber/Junklewitz 2008: 28. 50 | Vgl. ähnlich Blättler 2003 im Anschluss an Lévi-Strauss 1971.

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tung, hinsichtlich ihrer Programmgebundenheit oder hinsichtlich ihrer Verknüpfungsstrategien (z.B. die bei Soaps und Telenovelas verbreitete »Zopfdramaturgie«) identifizieren.51 Eine bloß formale Erfassung scheint allerdings in keinem Fall ausreichend, eben weil Populärkultur nicht über eigene Formen, sondern über eigene (ästhetische) Aktivitäten bestimmt ist. Das von Eco identifizierte Grundproblem seriellen Erzählens, gleichzeitig Wiedererkennbarkeit und Spannung, Redundanz und Variabilität zu schaffen, ist in eminenter Weise ein Praxisproblem und sollte nicht abgetrennt von seinen historischen Handlungsbedingungen untersucht werden.52 Hierzu zählt neben spezifischen Praktiken der Produktion und Rezeption auch der jeweilige Stand aktiven Formbewusstseins, den populäre Serien für sich ausgebildet haben. Es geht, kurz gefasst, darum, serielle Narration mit der Genese kultureller Aktionsmöglichkeiten zusammen zu denken. Die Frage nach den Struktureigenschaften serieller Erzählungen steht in permanenter Abhängigkeit zur Frage nach der Evolution populärer Serialität.

E VOLUTION Nimmt man die rekursive Dynamik populärer Serien ernst, so münden Fragen nach der Narratologie seriellen Erzählens zwangsläufig in Fragen nach dem geschichtlichen Wandel ästhetischer Praxis. Die kontinuierliche Bezugnahme serieller Erzählungen auf ihre eigene Fortsetzbarkeit führt zu narrativen Selbstentgrenzungen, die schließlich über den Zusammenhang einzelner Serien hinausweisen und die Genese populärer Serialität insgesamt betreffen. Die Möglichkeit, Serien als nicht-menschliche Akteure eines größeren Prozesses kulturellen Wandels zu betrachten (statt als frei verfügbare Nutzungsobjekte oder bloße Resonanzkörper autorisierter Intentionen), findet hier ihre Berechtigung: in der Beteiligung serienhistorischer Entwicklungen an einer weiter gefassten Dynamik der Modernisierung. Zur Debatte steht die Flexibilität und Reproduktionsfähigkeit einer ästhetischen Praxis, die die westliche Produktion von Kultur seit der Industrialisierung wesentlich mitbestimmt. Oder kürzer: Zur Debatte steht, was populäre Serialität geschichtlich tut. Fragt man in dieser Weise praxishistorisch, wird es möglich, die in der Forschung weit verbreitete Dichotomie von Produktion (meist als schematisch-ma51 | Zu Zäsurtechniken siehe Türschmann 2009; Zeitstruktur: Ganz-Blättler 1998; Programmgebundenheit: Hickethier 1991, 1994; Verknüpfung: Geißendörfer 1990 (die Erzählstrategie, die in Deutschland mit der Lindenstraße als »Zopfdramaturgie« bekannt geworden ist, wurde im anglo-amerikanischen Raum bereits 1987 von Feuer beschrieben). 52 | Vgl. Eco 1985.

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nipulativ entworfen) contra Rezeption (meist als kreativ-subversiv entworfen) zu dynamisieren, ohne die Existenz unterschiedlicher Handlungsweisen in Abrede zu stellen. Beginnt man, Prozesse ästhetischer Popularisierung als Bestandteile eines modernen, oder besser: eines Modernität schaffenden Kulturprozesses zu verstehen – und fasst man Modernität hierbei als die Kopräsenz konkurrierender Lebenswelten und Praxisfelder, die gleichwohl über raum- und milieuübergreifende Kommunikationstechnologien miteinander verbunden sind –, so können scheinbar widersprüchliche Befunde zur populären Ästhetik (Standardisierung vs. Differenzierung) in ihrem gegenseitigen Zusammenhang in den Blick genommen werden. Das zugrundeliegende Verständnis von Modernisierung ist eines, das sich von der teleologischen Begrifflichkeit klassischer soziologischer Modernisierungstheorien verabschiedet hat und stattdessen dem Paradigma der »multiple modernities« (Eisenstadt) folgt. Konfliktreiche Relationalität zeigt sich aus diesem Blickwinkel als Signum der Moderne; mit Charles Taylor könnte man auch von einer ständigen Diversifizierung von »Optionen« sprechen, wobei als wichtige Kondition hinzukommt, dass die vervielfachten Optionen der Moderne sich zunehmend als Optionen, also als Handlungsmöglichkeiten unter anderen kennen lernen und selbst verstehen.53 Auf die Kulturarbeit populärer Serialität bezogen: Massenreproduzierte serielle Erzählungen sind nicht nur Ausdruck oder Abbild von Nutzungsoptionen, sie schaffen Optionen, und nicht nur der Nutzung. Kommerzielle Serien schaffen Zugang zu ästhetischen Handlungen sowohl für immer mehr Akteure als auch zu immer feiner differenzierten ästhetischen Imaginations- und Handlungsmöglichkeiten. Der ausgeprägte Hang populärer Kultur zur Genrebildung lässt sich im Rahmen einer solchen Theorie ästhetischer Modernisierung plausibel erklären. Populäre Genres zeichnen sich (wie populäre Serien selbst) durch starke narrative Schematisierung aus, aber laufende Selbstreflexion setzt auch hier einen Prozess in Gang, der eine schier unübersichtliche Verzweigung ästhetischer Erfahrungsangebote hervorbringt. Populäre Genres und Serien haben eine inhärente Tendenz zur fortgesetzt spezialisierten Spartenbildung, so dass jede Science-Fiction-Leserin bald zwischen mehreren distinkten und in der Regel selbstbewussten Spielarten ihres Lieblingsgenres mit je spezifischen emotionalen, somatischen oder kognitiven Möglichkeiten unterscheiden und auswählen kann.54 53 | Vgl. Taylor 2007. Zu multiplen Modernen vgl. Eisenstadt 2006; siehe auch Randeria et al. 2004. Zur Geschichte soziologischer Modernisierungstheorien siehe Knöbl 2001. 54 | Hagedorn (1995) hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass populäre Serien meist zielgruppenorientiert agieren, statt auf Breitenwirkung zu setzen. Als kommerzielle Angebote sind sie allerdings auch in spezialisierter Form daran interessiert, ihr Zielpublikum konstant zu erweitern. Hagedorns Beobachtung gilt somit für einzelne Serien, nicht aber für das historische Phänomen populärer Serialität insgesamt.

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So beschrieben, stellt es keinen Widerspruch dar, wenn sich das Feld populärer Kultur seit Beginn des 19. Jahrhunderts sowohl zunehmend schematisiert als auch immer unübersichtlicher und komplexer wird. Unter den Bedingungen moderner Kommunikationstechnologien ist breitenwirksame Ästhetik eine zunehmend zugängliche und elementare, aber eben auch eine zunehmend anpassungs- und differenzierungsfähige, potenziell globalisierte Ästhetik.55 Die Reduktionsmomente kommerziell-industrieller Massenkunst, zu denen besonders narrative Serialisierung und Genrebildung gehören, produzieren kulturelle Zugänglichkeiten und formale Praxismöglichkeiten ungeahnten Ausmaßes. Der imaginäre Nachvollzug alternativer Lebensmöglichkeiten, das affektive Aufgehen in Erzählungen von fremden Welten, Ergriffenheit angesichts künstlicher Schrecken, das experimentelle Spiel mit alltäglichen Identitäten: Das alles gab es natürlich schon in vormodernen Zeiten, aber im Zeitalter populärer Serialität sind diese ästhetischen Erfahrungen zunehmend leicht und umfassend zu haben, ohne durch ihre Massenverfügbarkeit an somatischer Kraft, emotionaler Effizienz oder lebensweltlicher Relevanz einzubüßen. Die beschriebene Entwicklungsdynamik lässt sich vor allem für überdurchschnittlich hybride (multilinguale, multiethnische, multireligiöse und stark migrantische) Gesellschaften nachweisen, die bei der Entwicklung vielfach aneignungsfähiger und damit überhaupt erst massenhaft nutzbarer Artefakte nicht zufällig eine Vorreiterrolle spielen. Unterhaltungsformate aus solchen Gesellschaften sind für die globale Populärkultur oft stilbildend, weil sie, um ein multiethnisches, multilinguales oder multireligiöses Publikum anzusprechen, zur Verallgemeinerung formaler Strukturen geradezu gezwungen sind: Je heterogener die Adressaten, desto voraussetzungsloser, aber auch desto flexibler müssen die verwendeten künstlerischen Ausdrucksformen sein.56 Der populärkulturelle Reichtum etwa der USA oder Indiens verdankt sich genau jener sozialen Vielfalt, die für Kolonial- und Einwanderungsgesellschaften charakteDie in der Tat auffällige Angebotsdifferenzierung kommerzieller Serien ist überhaupt nur möglich, weil das Format Serie bereits erfolgreich massenadressiert ist, also eine Aufteilung in unterschiedliche Marktsegmentierungen erlaubt. Konkurrenzgerichtete Massenadressierung wiederum erfordert mit Blick auf heterogene (potenziell globale) Publika spezifische Praxen der Mehrfachadressierung, die durch populäre Texte bereits sehr früh entwickelt und schon im 19. Jahrhundert pragmatisch-theoretisch auf ihre medialen Wettbewerbsmöglichkeiten hin reflektiert werden. 55 | Vgl. insbesondere Flucks in einer Reihe von programmatischen Aufsätzen entwickelte Theorie der Populärkultur (1994, 1998, 1999, 2003, 2006, 2008). Viele dieser Texte sind in Fluck 2009 gesammelt. 56 | Mit Bezug auf die nordamerikanische Populärkultur vgl. vor allem Fluck 2006. Zum Zusammenhang von Populärkultur und Immigration siehe auch Rubin/Melnick 2007, Kelleter 2009a, Kelleter/Stein 2009.

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ristisch ist. Anders ausgedrückt: Der populärkulturelle Reichtum der USA oder Indiens basiert auf der Modernität dieser Gesellschaften. Das hilft erklären, weshalb ästhetische Neuerungen in der Populärkultur häufig als formale Verschmelzungen auftreten, die von Minderheiten oder nicht-dominanten Gruppen im Austausch mit einer urbanen oder kommerziellen Mainstream-Kultur getragen werden, etwa von Frauen (sentimentaler Roman), von Nachfahren afroamerikanischer Sklaven (Ragtime und Jazz), von jüdischen Immigranten (amerikanische Comic Books), von Jugendlichen (Rock’n'Roll) usw. Nicht von ungefähr eignet sich populäre Serialität hervorragend als Beobachtungskategorie für durchschlagende soziale und technologische Transformationen seit dem 19. Jahrhundert.57 Legt man ein Modell rekursiver Differenzierung, also ein evolutionäres Modell zugrunde, lässt sich beides gemeinsam in den Blick nehmen: die standardisierende und die diversifizierende, die globalisierende und die lokal strukturbildende Kulturleistung populärer Ästhetik. Nicht allein die Zugänglichkeit und Körpergerichtetheit ihrer ästhetischen Praxen macht die Populärkultur also zu dem, was sie ist, sondern vor allem auch ihre evolutionäre Eigendynamik. Das beinhaltet die Arten und Weisen, mit der sich Populärkultur selbst beobachtet und solche Selbstbeobachtung zur Differenzierung der eigenen Kontinuitätsmöglichkeiten nutzt. Als Bestandteil eines umfangreichen Modernisierungsprozesses involviert und formt die populäre Ästhetik nicht nur das Selbstverständnis einer wachsenden Anzahl von Menschen, sondern nutzt die so entstehenden Identitäten und Intentionen zur Selbstreproduktion. Populärkultur involviert eine beispiellos hohe Anzahl von Akteuren und Produkten, Wünschen und Zugehörigkeiten, weltanschaulichen Überzeugungen und sexuellen Präferenzen, um Variationen und Mutationen ihrer selbst zu generieren. Dieser Prozess mag wenig effizient erscheinen, aber in Ermangelung konzentrierter Organisation oder stabiler Autorisierung zeigt sich solches (serielles) Ausgreifen als eine erstaunlich verlässliche Methode kultureller Selbsterneuerung.58 Der vorliegende Band interessiert sich mit Blick auf diese Dynamik vor allem für das Phänomen serieller Proliferation, verstanden als ein Prozess narrativer Wucherung, der mindestens zweierlei umfasst: den auffallenden Drang von Fortsetzungsgeschichten zur Vermehrung und transmedialen Verzweigung ihrer selbst (die Selbstserialisierung von Serien)

57 | Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Denson/Mayer zum Verhältnis von Serialität und Kolonialismus sowie das Projekt von Hißnauer/Scherer/Stockinger zur Funktion des Tatort im bundesdeutschen Föderalismus (z.B. vor und nach der Wiedervereinigung). 58 | Vgl. Kelleter 2012b.

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und den Zusammenhang solcher Proliferation mit der ausgeprägten Fähigkeit serieller Ästhetik, Variationen durch Autoreflexion zu erzeugen.59

D ISTINK TION Der Versuch, Populärkultur als ein eigenes Feld kultureller Produktion zu definieren, sieht sich in der Forschung regelmäßig mit zwei Reflexen konfrontiert: zum einen mit der Feststellung, dass sich die Zuordnung einzelner Dokumente zu unterschiedlichen »Kulturen« (»Hochkultur«, »Unterhaltungskultur« usw.) oft retrospektiv ergibt, d.h. keine Rolle im Bewusstsein der historischen Akteure spielte; zum anderen mit dem Nachweis, dass Formmerkmale, die für populärkulturelle Artefakte identifiziert werden, sich auch bei Texten und Objekten finden, die diesem Feld historisch nicht angehören. Beide Beobachtungen sind richtig und in der hier vorgeschlagenen Bestimmung von Populärkultur enthalten. Es ist davon abzuraten, Populärkultur über bestimmte Texte oder Texteigenschaften zu bestimmen; stattdessen zeigt sie sich als ein zur Selbstbeobachtung fähiges Handlungsfeld relativ jungen, wenn auch langfristig sich anbahnenden Datums, dessen Evolution von einem konstanten Feedback zwischen formalen und lebensweltlichen Praktiken bestimmt wird. Die formalen Aktivitäten eines populären Produkts stehen dabei in Bezug zum Selbstverständnis und den verfügbaren Rollenidentitäten der beteiligten Akteure, darunter nicht nur menschliche, sondern auch materiale und mediale Handlungsträger.60 Die Aufmerksamkeit des vorliegenden Bandes gilt abschließend deshalb der Distinktionsarbeit populärer Ästhetik, d.h. ihrer Fähigkeit, sich durch Entscheidungen, Inszenierungen und Innovationen als selbstbewusstes Praxisfeld zu konstituieren.61 Die involvierten Akteure müssen diesen Prozess nicht durchschauen 59 | Siehe im Folgenden insbesondere die Beiträge von Denson/Mayer, Engell, Fahle, Jahn-Sudmann/Kelleter, Kelleter/Stein. 60 | Grundsätzlich kann also ein- und dasselbe Produkt gleichermaßen populärkulturell wie bildungskulturell genutzt oder positioniert werden. Allerdings weisen seine Faktur und Selbstinszenierung meist Affinitäten in die eine oder andere Richtung auf. Nicht jedes Produkt ist demnach mit gleicher Wahrscheinlichkeit popularisierbar, nicht jede Nutzungshandlung mit gleicher Wahrscheinlichkeit auf populärkulturelle Produkte anwendbar. Die narrative Praxis serieller Erzähltexte legt bestimmte Handlungen näher als andere, taugt aber nicht als Kriterium kultureller Zugehörigkeit. Zu nicht-menschlicher Handlungsmacht vgl. Latour 2005, zu den Konsequenzen für die Serialitätsforschung Kelleter 2012a. 61 | Vgl. Gelder 2004 im Anschluss an den soziologischen Distinktionsbegriff von Bourdieu 1979. Eine Ausrichtung am Beschreibungssystem Bourdieus wird von den folgend versammelten Beiträgen zum Thema Distinktion nicht angestrebt.

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oder intendieren; er kann auch auf einer allgemeineren Ebene kultureller Evolution ablaufen. Die Rede von Populärkultur im Singular unterbindet in der hier vorgeschlagenen Perspektive demnach nicht die Beschreibung populärkultureller Differenzierungen, sondern erfordert sie gerade. Umgekehrt scheint der weit verbreitete Wunsch nach einem unspezifischen Begriff populärer Kultur (sowohl in der These irreduzibler Vielfalt als auch in der These von der zunehmenden Ununterscheidbarkeit von Populärkultur und sog. »Hochkultur«) in Reaktion gegen die meist negativen Wertungen aufzutreten, die bei der Diskussion kommerzieller Ästhetik seit langer Zeit, wiewohl immer seltener, anfallen.62 In Absetzung hiervon haben ganze Forschungsschulen seit den 1970er Jahren einen dezidiert anti-elitären Habitus kultiviert, der populärkulturelle Gegenstände vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer Legitimierung betrachtet.63 Von einem solchen Standpunkt aus scheint es allerdings schwierig, Unterscheidungen zwischen populär- und bildungskulturellen Praxen zu treffen, die nicht ihrerseits (um)wertend wären. Die Frage nach aktiver Distinktion weist einen Weg aus diesem Dilemma. Der Prozess der Modernisierung, als dessen Triebkraft und Resultat die populäre Ästhetik auftritt, trägt zum Entstehen von differenten kulturellen Feldern bei, die sich oft weniger über die soziale Herkunft der beteiligten Personen als über eigene Rede-, Wertungs- und Handlungsmuster reproduzieren. Zur Beschreibung ästhetischer Praxis greifen binäre Schichtenmodelle (»Unterhaltungsmilieu« vs. »Hochkulturmilieu« u.ä.) somit nur zu einem gewissen Grad. Allein im Bereich der Künste lassen sich in Anlehnung an ein Modell von Naremore und Brantlinger für das 20. Jahrhundert mindestens sechs Handlungsfelder identifizieren, zwischen denen Unterscheidungen, Abstoßungen, Aneignungen und andere Positionierungen stattfinden:64 62 | Zur Geschichte des deutschen Schund-Diskurses vgl. Maase 2004. 63 | Im Extrem schließt das populistische und sozialromantische Standpunkte ein, die die Utopie kollektiven Selbstausdrucks ausgerechnet in der subjektiven Einverleibung massenverfertigter Industrieprodukte ausmachen; die Populärkultur gerät auf diese Weise rasch zur neuen Folk Art des globalen Kapitalismus. Schon in traditionell marxistischen Theorieumgebungen übernahmen stadtproletarische Kulturformen bisweilen Funktionen, die in nationalistischen oder ethnozentrischen Zusammenhängen dem Begriff einer authentischen Volkskultur zukommen. Zum Verhältnis von Kulturwissenschaft und Authentizitätssuche vgl. Bendix 1997. 64 | Vgl. Naremore/Brantlinger 1991 zu »six artistic cultures«. Die folgende Liste stammt aus dem Antragstext der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«, die das Modell Naremore/Brantlinger für die eigenen Zwecke stark modifiziert und erweitert (vor allem hinsichtlich der folgenreichen Selbstbeschreibung künstlerischer Kulturen).

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• Populärkultur als industrielle Mainstream-Kultur im hier beschriebenen Sinn. • Volkskultur (bisweilen auch Popularkultur) als Ensemble von Praxisformen, die sich mit anti-industriellem Impetus von kommerzieller Massenästhetik absetzen. Romantische Subjekt- und Authentizitätsbegriffe werden zu einer Vorstellung kollektiven Selbstausdrucks gesteigert (oft mit widerständiger Konnotation), die orale Kommunikationsformen prämiert und lokale Verweisungszusammenhänge gegenüber virtuellen Vernetzungen positiv bewertet.65 • Bildungskultur als institutionell und sozial vergleichsweise stabiles Repertoire kanonisierter Strukturen, Inhalte und Praxen, die der Formung subjektiver Selbsterkenntnis dienen. Derartige »Bildung« gilt als wichtige Voraussetzung individueller Gesellschaftsteilnahme und sozial produktiver Kritikfähigkeit. Aufgrund ihrer soliden Traditionalisierung ist die Bildungskultur vielfältigen Zugriffen seitens anderer kultureller Felder ausgesetzt, inklusive Popularisierung und Ideologiekritik.66 • Modernismus als ästhetische Kritik bildungsbürgerlicher Kulturverwaltung und Kanonisierung, die vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen der europäisch-amerikanischen Intelligenz als eigentlich authentische bzw. eigentlich bildungsförderliche Kunst jenseits sozialer Identifikationen gilt. • Avantgarde als Protest gegen das Autonomiekonzept, das Bildungskultur und Modernismus verbindet, mit Tendenz zur provokativen, romantisierenden oder politischen Aufwertung und kreativen Verarbeitung von Phänomenen aus anderen Bereichen. • Subkulturen und Independent-Szenen, deren ästhetische Praxis sich meist an der Populärkultur orientiert, sich aber auch von deren kommerziellen Zielen oder unterstellten ideologischen Interessen distanziert.67 Innerhalb dieses terminologischen Rahmens untersuchen folgende Beiträge, wie sich die genannten Felder durch gegenseitige Abgrenzungen und Aneignungen konstituieren und (de)stabilisieren. Im Vordergrund stehen Konstellationsverschiebungen im Verhältnis von Populär- und Bildungskultur. Dabei 65 | Antikommerzielle Selbstbeschreibungen können dabei wie immer mit kommerziellen Interessen und Aktivitäten einhergehen, vgl. Bendix 1997, 2002, Bendix/Roodenburg 2000. 66 | In Deutschland beschreibt man dieses Praxisfeld stark über soziale Identifikationen als bildungsbürgerliche Kultur, mit entsprechenden inhaltlichen Wertungen (»Hochkultur«), die freilich mit dem Selbstverständnis bildungskultureller Praxis in Konflikt geraten und anti-traditionalistische Absetzbewegungen provozieren können (vgl. die folgenden Felder). Zur nordamerikanischen Situation siehe u.a. Levine 1988. 67 | Vgl. mit Blick auf das nordamerikanische Independent-Kino Jahn-Sudmann 2006.

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gibt das Selbstverständnis der involvierten Personen als (ästhetisch) Handelnde Aufschluss über Popularisierungsprozesse, die durch die Untersuchung sozialer Trägergruppen allein nicht zu erfassen wären. Insbesondere kulturanthropologische Ansätze legen den Schluss nahe, dass populäre Serien (wie Perry Rhodan oder die Reihe Tatort) in Prozesse der Gruppenbildung und Gruppenabgrenzung eingebunden sind, für die eine an Bourdieu anschließende Lebensstilforschung bislang nur sehr abstrakte Kategorien gefunden hat.68 Auch das schwierige Phänomen populärkultureller Kanonisierung wird durch einen solchen Zugriff besser verständlich. Es ist möglich (und kommt regelmäßig vor), dass stilbildende Industriewaren Wertungen, Emotionen oder Selbstbeschreibungen erzeugen, die für gewöhnlich dem Feld des bürgerlichen Bildungskanons vorbehalten (oder diesem nachempfunden) sind.69 Bestimmte Serienfolgen oder ganze Serien, ja bestimmte Fußballbegegnungen können als »Klassiker« gelten. Einzelne Genrefilme oder einzelne Varianten einer seriellen Figur können über einen Autornamen indiziert (»George A. Romero’s Dawn of the Dead«, »Frank Miller’s Batman«) oder im Rezeptionsakt als außergewöhnliche Werke gewürdigt werden (kein Einlass nach Beginn des Films, Gefühl der Erhabenheit usw.). Comic-Serien können sich, auch prospektiv, durch spätere Buchpublikation und die Genrebezeichnung Graphic Novel distinguieren.70 Populär-serielle Artefakte sind damit durchaus in der Lage, traditionsäquivalente Funktionen auszubilden und zu autorisierten oder werkorientierten Verbindlichkeiten beizutragen, die ihrem Anspruch nach auch universalisiert werden können.71 Gerade in den genannten Fällen populärer Selbsttraditionalisierung treten aber die Unterschiede zwischen bildungskulturellen und populärkulturellen Kanones deutlich hervor: Im Vergleich zu den stabil konkurrierenden und relativ langlebigen Werkkanones der Bildungskultur (und mitunter auch 68 | Ich verdanke diese Einsichten Kaspar Maase. Siehe im vorliegenden Band insbesondere die Beiträge von Bendix/Hämmerling/Maase/Nast und Maase/Möller. 69 | Vgl. Helms/Phleps 2008, Kelleter 2010. 70 | Vgl. den Beitrag von Hoppeler/Rippl im vorliegenden Band. 71 | Vielleicht ist es mittlerweile sogar leichter, populäre Produkte zu kanonisieren, als kanonisierte Produkte zu popularisieren. Autornamen und Werkhaftigkeit reduzieren Spielräume, aber sie verringern zugleich die Wahrscheinlichkeit des Vergessens und ihre Autorität ist nicht ohne aufwändige Argumentationen wieder rückgängig zu machen. Demgegenüber zeichnen sich viele Kanonisierungsversuche innerhalb des Handlungsfeldes der Populärkultur durch ausdrücklich antiquarische Praxen aus, im Gegensatz zum tendenziell zeitentgrenzenden Selbstverständnis bildungskultureller Kanondebatten. Nichts altert schneller als das Populäre. Der populärkulturelle Zugriff auf bildungskulturelle Kanones erfordert demnach zeitgemäße Aktualisierungen oder ostentative technologische Verjüngungen (wie die Rezeptionsgeschichte William Shakespeares, reich an Medienwechseln, illustriert).

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der Volkskultur) zeichnen sich populäre Kanones durch ihre generische Vielfalt, ihre kulturspezifische Unübersichtlichkeit und ihre bemerkenswerte historische Instabilität aus. Zugespitzt gesagt, gehört es zum kulturgeschichtlichen Spezifikum populärer Kanones, dass sie aus seriellen Artefakten nicht nur bestehen, sondern selbst in Serie auftreten. Ihre Reproduktionsintensität und Differenzierungsfreudigkeit ist Zeichen und Resultat eines laufenden Prozesses ästhetischer Modernisierung.

S CHLUSSBEMERKUNG Der vorliegende Band möchte eine interdisziplinär anschlussfähige und forschungshistorisch nachhaltige Rahmentheorie für die derzeit stark expandierende, zugleich stark segmentierte Forschung zu populären Serien bereitstellen. Seine 17 Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen (von der Amerikanistik über die Medienwissenschaft zur Germanistik und Kulturanthropologie) sollen helfen, Serienforschung künftig vermehrt als Serialitätsforschung zu betreiben – anstatt, wie derzeit noch oft der Fall, als Abhandlung etablierter fachwissenschaftlicher Fragestellungen »anhand« von Serien, ohne oder mit nur geringer Berücksichtigung der serienästhetischen und serienhistorischen Besonderheiten des Materials. Dabei rufen die folgenden Beiträge über Heftromane, Krimireihen, Qualitätsfernsehen, Konzerttouren und Reality-TV im Hintergrund ihrer speziellen Fallstudien vor allem eine Frage auf: Was bedeutet es eigentlich für unsere sozialen Realitäten, wenn die zu ihrer Wahrnehmung verfügbaren Erzählungen zunehmend verkettet und vernetzt, also: seriell organisiert sind? Es ist durchaus denkbar, dass gegenwärtige Entwicklungen, denen wir aufgrund ihrer Tendenz zur Selbstbeschleunigung begrifflich ständig hinterherzuhinken scheinen (Informationsgesellschaft, Medienkonvergenz, Werk vs. Content usw.), in neuer historischer Tiefe und systematischer Breite beschreibbar werden, wenn wir ihre Beziehung zu den narrativen, historischen und kulturellen Dynamiken serieller Popularisierung besser begreifen lernen.

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Narration

Eugène Sues Die Geheimnisse von Paris wiedergelesen Zur Formgeschichte seriellen Erzählens im 19. und 20. Jahrhundert Hans-Otto Hügel

G ESCHICHTLICHKEIT VON S ERIALITÄT UND SERIELL E RZ ÄHLTEM Zum festen Bestandteil des populären wie des akademischen Wissens gehört die kulturkritische Maxime Ben Akibas (nach Gutzkows Drama Uriel Acosta, IV, 2): »Es war schon alles da – […] alles ist schon einmal dagewesen«.1 Bezogen auf Phänomene der populären Kultur wird mit solchem Hinweis deren historische Eigenheit bestritten; etwa wenn die Könige Salomon und David als erste Detektive oder die Höhlenmalereien von Altamira als erstes Graffiti angesprochen werden.2 Auch bei seriell erzählten Texten findet dieses Prinzip Anwendung. Antike, Mittelalter, frühe Neuzeit und natürlich das 19. Jahrhundert hat man durchmustert und in allen Epochen und Gattungen wurde man fündig: Serialität allüberall. Die Ilias oder die Odyssee sind demnach »die wohl ältesten überlieferten Beispiele serieller Unterhaltung« (Hickethier 1991: 17) und die Erzählungen aus Tausend und eine Nacht geben gar »das dispositive Modell« für Serialität als literarische Erzählstrategie ab (Giesenfeld 1994: 6). Für entsprechende dramatische Formen wird auf das »Karrentheater« des 16. Jahrhunderts verwiesen, bei dem »der serielle Zusammenhalt […] durch die Sukzession der etwa gleich großen […] Bilder […] gewährleistet war« (Berns 1994: 14), oder auf Kotzebues in Serie geschriebene, nur »mit einem begrenzten Repertoire an Stoffen und Figuren« ausgestattete Lust- und Schauspiele (Jurga 1999: 98). Auch »die Poesie […] hat ja nicht nur ihre ›Gedichtzyklen‹ und Gedichtsammlungen (nehmen wir 1 | Diese Weisheit ist selbst eine Wiederholung, und zwar des biblischen Verses aus dem Buch Prediger 1.9: »[…] nichts Neues gibt es unter der Sonne«. 2 | Zu Salomon und David vgl. Arnold/Schmidt 1978: 14; zur Höhlenmalerei Suter 1992: 9.

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nur den Westöstlichen Divan oder die Sonette Shakespeares als Beispiele), analog zum Genre Fernsehserien, sondern sie weist Seriencharakter ganz wesenhaft auch im Strophigen auf, im Reim, im Versmaß, im Rhythmus, in ihren Bildern, rhetorischen Figuren, Verweisketten« (Faulstich 1994: 49). So breit aufgefächert diese und andere Beispiele früher serieller Texte sind, so verschieden sind die zugrunde gelegten Begründungen für das ihnen eigene Moment von Serialität. Das antike Epos ist seriell nur nach seiner ursprünglichen Präsentationsform und Rezeptionsweise, »denn es wird jetzt im Stück und in Buchform angeboten, und das Fortsetzungsprinzip ist auf diese Weise kaschiert« (Hickethier 1989: 77).3 Bei Kotzebue begründet sich die Subsumierung der Theaterstücke unter die Rubrik »seriell« durch seine an Fließbandarbeit gemahnende Produktivität und die sich hieraus ergebende Genreähnlichkeit der Theatertexte (allein 1803/04 veröffentlicht er neun Lustspiele, insgesamt bringt er es auf weit mehr als 200 Stücke); während bei den lyrischen Beispielen Mehrteiligkeit oder das Zusammenspiel kleinerer Formelemente ausreicht. Serialität wird damit zu einem »ubiquitären« Phänomen, von dem »sich eigentlich nichts mehr als nicht-seriell« abhebt (Kreuzer in Giesenfeld 1994: 33). Von allen bisherigen Hinweisen auf Frühformen des Seriellen haben Die Geheimnisse von Paris von Eugène Sue am meisten Beachtung gefunden. Aus gutem Grund: Lässt sich Sues Roman doch auf allen Ebenen – der Präsentation und Rezeption, der Produktion und Distribution, der Form und des Stoffs – sinnvoll mit heutigen Beispielen seriellen Erzählens vergleichen. Vom Feuilletonroman (nicht einfach: Zeitungs- oder Zeitschriftenroman) wird, so die Forschung, eine Tradition seriellen Erzählens gestiftet, die »die Fernsehserie als Erbin anderer massenmedialer Serienformen« (Hickethier 1991: 27) erscheinen lässt.4 Für die Verwandtschaft von Sues Erfolgsroman mit heutigen Formen populärer Unterhaltung werden eine Reihe guter Argumente angeführt: die allmähliche Produktion in Abstimmung mit dem Publikum (Stichwort: Serienproduk3 | Für die Pariser Mysterien – so der Titel der deutschen Erstausgabe von Sues Les mystères de Paris – sind die Verhältnisse verwickelter. Die erste illustrierte Buchausgabe erschien noch während des Zeitungsabdrucks, als die Geschichte nicht zu Ende geschrieben war. Auch die deutsche Erstausgabe der Frankschen Buchhandlung erschien in Lieferungen (jede mit einer in den gebundenen Exemplaren oft fehlenden Illustration), wenn es sicher auch Buchhandlungen gab, die den Druck des ganzen Werks abwarteten. 4 | Vgl. Parfaits »The Nineteenth-Century Serial as Collective Enterprise« über die Mystères und Uncle Tom’s Cabin. Hickethier zieht an der zitierten Stelle die Traditionslinie der Fernsehserie nur bis zur Radioserie zurück. Auf den »Zusammenhang von periodischer Erscheinungsweise, von serieller Angebotsstruktur und Serie selbst« und in diesem Kontext auf die Mystères de Paris weist er aber vielfach hin (vgl. 1989: 79, 1994: 55f., 2003: 398).

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tion als kollektives Schreiben, als kollektives Unternehmen), die Distribution in Serie und sozusagen immer am gleichen Programmplatz, auf den ersten Seiten der Tageszeitung, und wegen des Zeitungsdrucks in enger Nähe zu den Aktualitäten des Tages und des Alltagslebens (Stichwort: Serienwelt als »Parallelwelt«) und vor allem die in die Breite gebaute Form des Romans, die die Einheit des Werkganzen hinter den Erzählfluss zurücktreten lässt, mitten im Lesen den Anfang vergessen macht und das Ende nicht mehr als kompositorisch zwingend erscheinen lässt, jedenfalls nicht als ein Ende, das alle vorangegangenen Episoden und Figurenschicksale integrierend zusammenführt (Stichwort: Unüberschaubarkeit, Endlosigkeit des Seriellen).5 Die Bedeutung solcher Argumente und Beobachtungen verstärkt sich, wenn man bedenkt, dass die Mystères mit diesen Eigenheiten alles anderes als ein Zufallsprodukt oder Einzelfall sind. Das belegt auf Seiten des Autors die Aussage, dass ihm schon seit Jahren eine »série de tableaux de mœurs« von Paris vorschwebte und auf Seiten des literarischkulturellen Umfelds der Zusammenhang von Fortsetzungsroman und Massenpresse.6 Die Einbettung des Romans in eine Formation zusammenwirkender kultureller Praktiken erklärt nicht nur Sues sensationellen Erfolg, sondern erlaubt (unabhängig davon, ob das eine oder andere Argument für die Serialität der Mystères bezweifelt werden kann), von den Mystères de Paris als einem traditionsstiftenden Beispiel publizistischer Serialität zu sprechen.7 5 | Zu kollektivem Schreiben vgl. Eco: »[D]er Roman schreibt sich von selbst, mit der Mitarbeit des Publikums« (1976: 47); zu Tagesaktualität: Jurga 1999: 47, Hickethier 1989: 79; »Parallelwelt«: Giesenfeld 1994: 5; Abwesenheit von Closure: siehe Ecos Subsumierung der Mystères unter jene Werke, »die wir als Werke mit einer SinuskurvenStruktur definieren. Spannung, Lösung, neue Spannung, neue Auflösung und so fort. Die Mystères sind in der Tat reich an kleinen angefangenen Dramen, die teilweise gelöst werden, wieder aufgegeben werden, um den Umleitungen des größeren erzählerischen Bogens zu folgen.« (1976: 63) 6 | Siehe Sues Brief an seinen Verleger vom April oder Mai 1839 (der erste Feuilletonroman erscheint 1836, vgl. Heidenreich 1987: 48), in dem er eine Idee skizziert, die auf die Mystères de Paris hindeutet: »Je voudrais vous voir un de ces jours pour vous parler d’une idée que je crois bonne, ce serait un ouvrage en 2 ou 3 volumes intitulé ›Paris en 1839‹« (zit. Galvan 1998: 20). Zur Massenpresse vgl. Neuschäfer: »Le roman-feuilleton doit son origine à la naissance de la presse de masse; vice versa, la naissance de la presse de masse serait inpensable sans l’aide du roman-feuilleton« (1978: 401). 7 | Zum kulturellen Umfeld gehört neben der Publikations- und Rezeptionsgeschichte des Romans auch die Präsentation Sues als »auteur populaire et asservi désormais à son public«, wie Sainte Beuve schreibt (zit. Grubitzsch 1977: 71). Damit ordnet sich Sue in die »littérature industrielle« ein: ein literarisches Feld, bei dem es auf den größtmöglichen finanziellen Erfolg ankam (vgl. Hülk 1985: 193 zu diesem ebenfalls von Sainte-Beuve geprägten Wort). Auf die überragende Wirkung Sues für die Geschichte des

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Wenn Sues Roman hier trotzdem einer erneuten Prüfung auf seine Position in der Geschichte des seriell Erzählten unterzogen wird, dann, weil es notwendig scheint, an der begrifflichen Differenz von Serialität und seriellem Erzählen, genauer: seriell Erzähltem, festzuhalten. Denn in Serie, in Fortsetzungen zu erzählen, muss nicht notwendig zu einer seriellen Form führen. Der Begriff Serialität zielt auf ein weites Feld kultureller Praktiken; er öffnet den Blick für einen kulturellen Gesamtzusammenhang und vermeidet die fruchtlose Diskussion um »series« oder »serial«, »feuilleton« oder »série«, Serie oder Reihe. Daher ist es sinnvoll, eingeführte Begriffe wie Genre oder Form aus serialitätstheoretischer Perspektive neu zu beleuchten. Das erfordert aber, die Ebenen, auf denen man argumentiert, begrifflich transparent zu halten. Ob etwa die Seite der Produktion, die Präsentation, die Rezeption oder die der Form angesprochen wird – das bleibt in der Forschung vielfach unbestimmt, wie schon oft beklagt wurde.8 Zu ermitteln, wie die Mystères im Einzelnen seriell (oder auch nicht seriell) erzählt sind – ohne sich mit dem Hinweis auf ihr periodisches Erscheinen oder ihre episodische Struktur zu begnügen9 –, gibt Auskunft über die Erzählform dieses einen Romans und erlaubt einen Formvergleich zwischen Feuilletonroman und Fernsehserie. Dabei wird es darauf ankommen, sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Differenzen zu beachten, denn erst ein solcher Vergleich kann darüber aufklären, in welchem Sinn die Fernsehserie Erbin früherer Serienformen ist: ob sie nur die abstrakte Position einnimmt, die in einem älteren Mediensystem dem Fortsetzungsroman zukam, oder ob sie – literarisch populären Romans, vor allem für den Abenteuerroman, hat in Deutschland Klotz (u.a. 1979: 58) hingewiesen. Mir scheint der Einfluss der Mystères auch in den Kolportageromanen der 1880er und 1890er Jahre auffindbar (etwa: Das schöne Fabrikmädchen oder die Geheimnisse einer großen Stadt, 1888; Die Bettelgräfin oder die Schicksale einer Grafentochter, 1895/96 und natürlich Karl Mays Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde, 1882/84). 8 | Vgl. Weber/Junklewitz: »Kritisch zu sehen ist die vielfach mangelnde Trennung zwischen Objekt- und Metasprache […] Um Begriffskonfusionen zu vermeiden und die Kommunikation innerhalb der Wissenschaft wie auch zwischen Wissenschaft und Medienpraxis zu verbessern, ist es grundsätzlich sinnvoll, zwischen den Ebenen der Objekt- und Metasprache zu unterscheiden – und die jeweilige Ausdifferenzierung der Serienform von einem klar umrissenen Erkenntnisinteresse leiten zu lassen.« (2008: 22) Mielke (2006: 39-49) verwischt bewusst die Differenz von textinterner Rahmung durch die Sende- bzw. die Veröffentlichungsweise einerseits und den textinternen Rahmen der Veröffentlichungsform andererseits. 9 | Entsprechend der in den USA gebräuchlichen Definition: »For the sake of clarity, this essay will equate ›serial‹ with publication by instalments in periodicals« (Parfait 2004: 129).

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gesprochen – mit demselben Kapital arbeitet. Dies zu klären ist wichtig, weil das seriell Erzählte für uns derzeit vor allem durch die Fernsehserie bestimmt ist. Vorstellungen vom seriell Erzählten, die mit ihr nicht kompatibel wären, ergäben kulturgeschichtlich keinen Sinn, weil alles Erzählen, auch das Erzählen in Serien, geschichtlich bestimmt ist. Daher wird die aus der Lektüre der Mystères sich ergebende Erkenntnis der Formdifferenz zwischen dem (bloßem) Erzählen in Fortsetzungen und dem Erzählen in einem seriellen Raster nicht zu einer allgemeinen, notwendig formal bleibenden Definition des Seriellen führen.10 Ziel der Untersuchung ist vielmehr das begriffliche Erfassen einer Welterfahrung, die allem seriell Erzählten zu Grunde liegt und seine Form bestimmt: die Erfahrung der Welt als einer immer schon vorstrukturierten, nie komplett neu sich öffnenden – einer Welt von Fällen! Und dies wiederum führt auf die Spur der ersten seriell erzählten Genrefigur: der des Detektivs – und von dort weiter zur Frage nach den epochalen (kultur- und mediengeschichtlichen) Zusammenhängen des seriell Erzählten, die mit einer kurzen Lektüre von Conan Doyles Adventures of Sherlock Holmes skizzenhaft umrissen werden sollen.

P R ÄSENTATION DES R OMANS IM E RSTDRUCK Schlägt man den Erstdruck der Mystères de Paris auf, stellt man – geschult an den Usancen heutiger Feuilletonromane sowie der Druckweise von Romanen und Erzählungen in Familienzeitschriften oder feuilletonistischen Beiblättern der Zeitungen im 19. Jahrhundert – überrascht fest, dass die Fortsetzungen ohne Ausnahme mit einem Kapitelschluss enden.11 Der Umfang der Fortsetzungen ist keinesfalls normiert; mal sind es zwei, mal drei Seiten (ungefähr im Verhältnis 2:1). Die Fortsetzungen umfassen hin und wieder nicht nur ein längeres, sondern auch zwei kürzere Kapitel. Obwohl durch die Variation des Seitenumfangs eine gewisse Flexibilität für den Zeitungsdruck erreicht wurde, genügte das nicht, um die Identität von Fortsetzung und Romankapitel zu realisieren. Daher hielt man den Raum variabel, der für das Romanfeuilleton zur Verfügung gestellt wurde: Die Spaltenhöhe variiert, und zwar in durchaus erheblichem Umfang. Zwischen einzelnen Fortsetzungen schwankt die Spaltenhöhe um bis zu einem Drittel. Insgesamt folgen häufiger deutlich wechselnde als annähernd gleich hohe Spaltenhöhen aufeinander. Mit anderen Worten:

10 | Vgl. etwa den Vorschlag von Weber/Junklewitz 2008: 18. 11 | Vgl. demgegenüber etwa Didaskalia (mit wechselndem Untertitel): Belletristisches Beiblatt des Frankfurter Journals (1823-1930).

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Nicht der Roman wurde an das Präsentationsmedium, sondern dieses an den Roman angepasst.12 Damit liegt ein anderes Verhältnis zwischen Erzählung und Distributionsmedium vor als bei der heutigen Fernsehserie. Für diese ist Normierung des Erzählquantums oberstes Gebot, schon allein, um das jeweilige Programmschema einzuhalten (auch wenn dies zu Beginn des Formats noch nicht der Fall war). Die Normierung des Zeitbudgets hat eine Normierung des dramaturgischen Ablaufs zur Folge – ein kaum zu überschätzender Faktor für die Rezeption; mit dem Ergebnis, dass der heutige Rezipient schon durch einen Blick auf die Uhr feststellen kann, ob der bei einer Krimiserie aktuell Verdächtigte der Täter sein wird oder nicht. In den Mystères ist eine solche Normierung des dramatischen Verlaufs innerhalb der Kapitel noch nicht festzustellen. Zwar weist der Roman zahlreiche wiederkehrende Erzähltechniken auf, aber einen gleichförmigen Kapitelaufbau oder gar wiederkehrende Situationen, wie sie für zeitgenössische Fernsehserien eigentümlich sind – etwa die vier Freundinnen in Sex and the City (HBO, 19982004), die am Tisch sitzen, essen und reden –, gibt es in den Mystères de Paris nicht.13

E RZ ÄHLEN IN ABGERUNDE TEN S ZENEN Diese Art der Präsentation, so anders als bei Programmserien, ist sinnvoll; sie entspricht dem grundsätzlichen Erzählgestus Sues. Überblickt man das Ganze, stellt man fest: Grundsätzlich erzählt Sue eher in abgeschlossenen Szenen. Das ist durchaus im Theatersinn wörtlich zu nehmen: Anfang und Ende der Szenen, der Kapitel, sind gewöhnlich an den Auf- oder Abtritt von Personen geknüpft. »Der Tschurimann, der Unbekannte und die Schallerin traten ein« – so beginnt etwa nach kurzer Vorstellung des Ortes das zweite Kapitel.14 Überhaupt 12 | Dreimal, wenn Kapitel als »Fortsetzung« betitelt werden, kann man allerdings auch den umgekehrten Fall beobachten. 13 | Wiederkehrende Situationen, die eine Art Binnenserialität demonstrieren, finden sich aber gehäuft im Kolportageroman. Siehe Mays Waldröschen, wo wieder und wieder ähnliche Situationen dargeboten werden (Inszenierung vor aller Augen, Höflichkeitsformeln, Gesprächssituationen, Ineinander von Heimat und Ferne); vgl. Hügel 2010: 210-215. 14 | Für die erste Partie (insgesamt 23 Kapitel) vgl. ähnlich: I 4, 5, 6, 7, 8, 9, 12, 13, 14, 15a, 15b (wegen Doppelzählung und anderem Kapitelanfang, 159), 18. Entsprechend für die Kapitelschlüsse vgl.: I 5, 6, 9, 11, 13, 14, 16, 19, 20, 23. Sues Text wird zitiert ohne Jahreszahl mit Angabe der Seite nach der leicht zugänglichen Übersetzung von Helmut Kossodo, bei der leider nicht angegeben ist, auf welcher französischen Textba-

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spielt der ganze Roman in Paris und Umgebung – als ob Sue die theatrale Einheit des Ortes bewahren wollte – während das Geschehen, das fern von Paris spielt, durch Botenberichte nachgeholt wird. Generell nehmen Botenberichte oder nachgeholte briefliche wie mündliche Zusammenfassungen von vergangenen oder nicht in Paris spielenden Ereignissen eine wichtigere Funktion ein als man bei einem sensationellen Abenteuerroman, dem es doch auf »Sinnlichkeit« (Eggebrecht 1985) ankommt, vermuten würde.15 Der szenisch abgerundete Bau der meisten Kapitel lässt einen Erzählfluss nicht wirklich zu. Die allermeisten Kapitel führen den jeweiligen Spannungsbogen zu Ende. Ecos Bild von der Romanstruktur der Mystères als einer »Sinuskurve« annonciert insofern das Falsche; eine Sinuskurve läuft gewöhnlich wellenförmig ins Unendliche. Sues Roman hingegen findet beständig Haltepunkte, fast an jedem Fortsetzungsende. Gewiss gibt es auch Cliffhanger zwischen einigen Partien des Romans (vgl. den Hiat zwischen II und III, III und IV und vielleicht auch zwischen IV und V und V und VI; bei den Letztgenannten ist aber der Spannungswert, wenn er überhaupt vom Leser realisiert wird, nicht sonderlich hoch) und hin und wieder einige schwache an Kapitelenden.16 Diese geben dem Roman aber noch keine vorwärtsdrängende Dynamik, nicht zuletzt weil er vom Wechsel der Erzählstränge lebt, die den Cliffhangern die Wirkung nehmen. Mit anderen Worten: Das Erregende der Mystères liegt in der Szene, in der psychischen Dramatik, nicht im Handlungsverlauf oder gar der Action. sis sie beruht. Der Übersetzer, das zeigen einige Eigenheiten, hat die erste deutsche Ausgabe von 1843 benutzt. Wo es um die strukturelle Aufteilung des Romans geht, werden aus dem Erstdruck im Journal des Débats die dortige Kapitelzählung (nach Partie mit römischer und Kapitel mit arabischer Ziffer) und falls zweckmäßig der Kapiteltitel hinzugefügt. Bei allen Zitaten der deutschen Ausgabe ist der französische Erstdruck verglichen worden. 15 | Ganz oder überwiegend aus Berichten oder nachgeholten Erzählungen bestehen u.a. die Kapitel: I 3, 4; II 1, 2, 3, 4, 10, 11; III 2, 3, 4; IV 17, 18, 19; V 1; VI 1; VII 13, 14, 19; Epilog 1, 2, 3, 8. 16 | Als Beleg eine Aufstellung aus der vierten Partie. Abgeschlossene Szenen ohne Spannungspunkt am Kapitelende bieten die Kapitel: IV 1, 2, 3, 4, 5, 6, 9b (b wegen Doppelzählung von 9 im ED), 10, 11, 12, 13, 14, 17, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25. Wer also die simple Gleichung aufstellt: »Erzählen in Fortsetzungen + Cliffhanger = serielle Erzählung«, der verkennt die differenten Formvorstellungen von Verlegern und Lesern im 19. Jahrhundert. Vgl. Lunds Zitat eines Essays aus Harper’s vom Dezember 1855, in dem die »serial form« der eigenen Publikationen gelobt wird: »Each number is intended to end where it ends, and no longer, as in old times, to pause upon a moment of horror, just as the robber was tumbling through the window, or, more breathlessly, just as Adolphus Augustus was going down upon his knee – ›to be continued‹. Now, every number has a certain kind of completeness.« (1993: 82)

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Dynamik im Handlungsverlauf ist Sue zwar nicht fremd – man denke an die dramatische Rettung Martials und der Schallerin durch die Wölfin –, kommt insgesamt aber selten vor. Dass die vielleicht dramatischste Szene des Romans, das Schlusskapitel von Partie VIII, die letzte Szene vor dem Epilog, ihre Dramatik aus dem erzwungenen Stillstand der Protagonisten bezieht (Rudolfs Kutsche bleibt in einer aufgeregten, fast umstürzlerisch gesonnenen Menge stecken), ist mehr als nur ein Symptom; vielfach lässt sich beobachten, wie Sue Stillstand und Dramatik miteinander verknüpft. Man mag dies als Zeichen für die vorrevolutionäre Situation in Frankreich lesen – darauf kommt es hier aber weniger an. Wichtiger ist die Konsequenz des szenischen Stils für die Form des Romans.

TECHNIKEN DER V ERZÖGERUNG Wie ein Maximum an Dramatik mit einem Minimum an Erzählfluss in einer Szene zusammen gehen, illustriert das Beispiel der Blendung des auf einen Stuhl gefesselten Schulmeisters – die Szene, die den dramatischen Höhepunkt des ersten Teils bildet. Das Kapitel startet mit einer 19 Zeilen langen Bühnenanweisung, die das erzählende Präteritum unterbricht und den Raum, das Mobiliar, die Requisiten und die Anordnung der anwesenden Figuren exakt beschreibt. Sie beginnt mit dem Satz: »Die folgende Szene spielt sich in einem rot tapezierten und hell erleuchteten Salon ab«, und endet wie folgt: Der Schulmeister sitzt in einem großen Rollstuhl mitten im Zimmer. Er ist so fest zusammengeschnürt, daß er sich nicht bewegen kann. Die Leute, die diesen Mann gebracht haben, sind wieder verschwunden. Rudolf, der Arzt, der Tschurimann und der Mörder sind allein. (198) Einen Übergang zwischen Regieanweisung und Erzählung bringen danach die Angaben zur Gefühlslage der aufgetretenen Figuren: Rudolf ist nicht mehr gereizt. Er ist ruhig, ein wenig traurig und gefaßt. Er wird eine feierliche und schreckliche Aufgabe erfüllen. Der Arzt ist nachdenklich. Der Tschurimann ist von einer unbestimmten Furcht ergriffen. Er kann kein Auge von dem Blick Rudolfs wenden. Der Schulmeister ist totenbleich … er hat Angst. Eine legale Verhaftung hätte er vielleicht weniger gefürchtet, und seine Keckheit hätte ihn vor einem gewöhnlichen Gericht nicht verlassen, aber hier überrascht und erschreckt ihn alles. Er ist in Rudolfs Gewalt, in der Gewalt eines Mannes, den er für einen Handwerker gehalten, dem er Schwäche oder Verrat in der Stunde des Verbrechens zugetraut, und den er vorgehabt hatte zu opfern, um allein den Gewinn des Diebstahls zu kassieren. Und zu dieser Stunde erscheint ihm Rudolf plötzlich so furchtbar und gewaltig wie die Gerechtigkeit selbst. (198f.) Die Beschreibung führt den Leser in die Szene hinein; stimmt ihn im Wortsinn ein, d.h. bringt ihn auf Gleichklang mit den Anwesenden, so verschieden

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diese auch empfinden. Zugleich verzögert sie den Einsatz der Handlung, erhöht die Spannung, schiebt implizit die Frage vor sich her: Was geschieht jetzt? Um Spannung zu realisieren, entwickelt Sue ein ganzes Arsenal einzeln benennbarer Erzähltechniken. Zunächst gibt es eine summarische Ankündigung: »Er wird eine feierliche und schreckliche Aufgabe erfüllen«. Damit wird der Spannung, die den Leser ergreift, eine Richtung gegeben, zugleich aber Konkretion verweigert. Dann spiegelt der Erzähler die vom Leser aufgegriffene Perspektive Rudolfs, der den Arzt und den Tschurimann anblickt. Die Spiegelung wird ein zweites Mal wiederholt und kommentiert (»Der Schulmeister ist totenbleich … er hat Angst«), um dann in eine auktoriale Stellungnahme zu münden, die mit einer Vermutung beginnt und den Leser sogleich an die Empfindungen und Gedanken des Protagonisten heranführt, so dass das Erkannte objektiviert und zu einem runden Bild verdichtet wird: »Und zu dieser Stunde erscheint ihm Rudolf plötzlich so furchtbar und gewaltig wie die Gerechtigkeit selbst«. Daraufhin wird, um den Eintritt der Handlung ein letztes Mal auf unbestimmte Zeit zu verzögern und die Spannung noch einmal zu erhöhen, der akustische Eindruck des Ganzen gegeben, unter Nutzung eines traditionellen metaphorischen Kontrastes (äußerliche Stille vs. innerlicher Sturm): »Draußen herrschte die tiefste Stille. Man hörte nur das Prasseln des Regens … Rudolf wendete sich an den Schulmeister.« (199)

I NEINANDER VON R ATIONALITÄT UND E MOTIONALITÄT : P ERFORMATIVE Ä STHE TIK Das sich nun anbahnende Verhör steuert auf drei in steigernder Reihung dargebotene Höhepunkte zu. Sie werden, was den statuarischen Verzögerungsstil der Einleitung fortsetzt, mit rhetorischen Wiederholungen allmählich vorbereitet: Passagen, in denen argumentativ und psychologisch scheinbar wenig passiert, die aber die Erregung der Anwesenden (und damit der Leser) steigern.17 Markiert oder eingeleitet werden sie jeweils durch einen erregten Ausruf des sonst ruhig sprechenden Rudolf.18 Durch solche Verbindung des Rhetorischen mit 17 | Vgl. für den ersten Höhepunkt das zweimalige »Sie werden es später zugeben« (200) und das dreimalige »Das ist falsch« (200f.); für den zweiten das zweimalige »Werden Sie mir sagen« (203) und das dreimalige »Du willst also leben«, davon einmal verkürzt als: »Du willst«, hinzu kommt ein viermaliges Aufgreifen des Zentralworts »leben« durch den Schulmeister (204); für den dritten das fünfmalige »das darf nicht sein« (206f.), mit dem die exorbitante Strafe der Blendung gerechtfertigt wird. 18 | Man beachte, wie Sue auch diese Höhepunkte allmählich steigert: »›Frevler!‹ rief Rudolf mit drohender Stimme« (201); »›Das Gesetz!‹ rief Rudolf. ›Das Gesetz! Sie wagen es, sich auf das Gesetz zu berufen, nachdem Sie seit zwanzig Jahren in offener und be-

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dem Emotionalen wird die rationale Kühle der Rede mit der Hitze der seelischen Reaktion, der Irrationalität des Gefühls verbunden. Die Folge: Es entsteht ein hochartifizieller Effekt. Dieser wird gesteigert, indem auch die einzelnen Elemente in sich gegensätzlich komponiert werden, etwa wenn der Schulmeister in rhetorischer Reihung seinen Nervenzusammenbruch zur Schau stellt oder wenn die gefasst vorgetragene Begründung für das Urteil beim Richter Rudolf in einen ebenfalls emphatisch vorgetragenen, emotionalen Ausbruch endet.19 Der Verzögerungsstil, der hier anhand einer Szene belegt ist – Eco spricht vom »obsessive[n] Verlängern der Szenen« (1976: 67) –, bestimmt die Konstruktion des Romans auch im Ganzen. In der Zentralintrige Sarahs sind rationales Kalkül und emotionale Ansprache untrennbar verbunden; erst versucht sie, Rudolf emotional zu isolieren, um ihn zu gewinnen, dann möchte sie sein Vatergefühl ausnutzen. Auch die Strafen, die der Rächer Rudolf verhängt, erklären sich aus einer Kombination von rationalen und irrationalen Komponenten. Der Schulmeister, der die Gesellschaft durch Stärke und Übermut herausgefordert hat, soll durch Blendung gebrochen werden. Der geizige Notar wiederum wird gezwungen, sein ganzes Geld zur Wiedergutmachung und zu karitativen Zwecken zu stiften. Selbst der Reformeifer Rudolfs – dessen ästhetische Funktion hier mehr interessiert als die Frage seiner politischen Durchsetzbarkeit – verbindet gesteigerte Gemütserregung (»Ich finde etwas Pikantes an diesen Kontrasten« [325]) mit einer rationalen, faktisch unterfütterten Deklamationsrhetorik. Der Effekt erhöhter Künstlichkeit, der hieraus entsteht, scheint weniger für ein proletarisches als für ein feinsinniges, (groß)bürgerliches Publikum gemacht. Rudolf stellt sein Reformprogramm entsprechend als Ausweg aus der Langweile des Reichseins vor.20 Die genaue Lektüre des Textes bestätigt somit literatursoziologische Studien – und umgekehrt.21 Sues Leistung scheint dabei weniger in der (Neu)Begründung des sozialen Romans zu liegen als darin, Stil- und Figurenkonzepte des melodramatischen und klassizistischen Unterhaltungstheaters der Juli-Monarchie auf die Erzählkunst übertragen zu haben.22 Wichtiger als die literatursoziologische oder kulturgeschichtliche ist hier aber die ästhetische Funktion dieser so außergewöhnlichen Erzählkunst, denn sie ist nicht nur kunstvoll, sondern waffneter Auflehnung gegen die Gesellschaft leben?‹« (203); »›Oh mein Gott! Sein eigener Sohn!‹ rief Rudolf schmerzlich entsetzt und barg den Kopf in seinen Händen« (205). 19 | Zum Schulmeister siehe: »›Was habe ich diesem Mann getan? Wer ist er? Was will er von mir? Wo bin ich?‹ rief der Schulmeister fast wahnsinnig« (207); zum Urteil: »›David, gehen Sie ans Werk. Gott möge mich allein strafen, wenn ich mich geirrt haben sollte …‹ Er verbarg das Gesicht mit beiden Händen« (209). 20 | Vgl. ebd. 590f. 21 | Vgl. Schenda 1976: 103, Prendergast 2003: 40-65. 22 | Vgl. auch Ecos Rede von den »Theatercoup[s]« (1976: 68f.).

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– und das ist entscheidend – demonstrativ kunstvoll, so dass man durchaus von einer performativen Ästhetik sprechen kann.

A NWESENHEIT DES E RZ ÄHLERS Zentraler Punkt dieser performativen Ästhetik ist die beständige, explizite wie implizite Anwesenheit der Erzählfunktion. Der ganze Roman ist trotz oder gerade wegen seiner konstruktiven Mängel durch sie bestimmt. Direkt äußert sich der Erzähler in vorweg gestellten Zitaten aus Gesetzen, in eingeklammerten Einfügungen oder in den kommentierenden Sacherläuterungen (später wird diese Technik im Reiseroman von Karl May u.a. übernommen).23 Hin und wieder wird in den späteren Anmerkungen sogar die Identität des Erzählers mit dem Autor hergestellt.24 Im Grunde aber verweisen alle Zitate aus Zeitungen oder Büchern direkt auf den Autor.25 Sie sind Zeichen für sein Engagement, zeigen, welche Person hinter dem Werk steht. Daher passen sie gut zum gesamten Apparat des sozialen Romans: sowohl zu den immer länger werdenden, in die Romanhandlung eingefügten Exkursen mit ihrer Moralkritik aller Schichten und Klassen, inklusive Problematisierung sozialer Institutionen (Gefängnis, Krankenhaus, Irrenhaus, Todesstrafe, Armut usw.), als auch zu den in die Romanhandlung integrierten Blicken hinter die Kulissen derselben Welt, wenn wir die Figuren an all diese Orte begleiten. Dieser Apparat ist von Anfang an da, auch wenn die Exkurse und deklamatorisch vorgetragenen Essays mit der Zeit zunehmen: Die Mystères sind ab ovo als Beispielgeschichte angelegt. Nicht nur Rudolf gibt immer wieder »ein Beispiel« (477) für das Gute, auch die anderen Protagonisten sowie die Nebenfiguren – und nicht bloß die aus den missachteten Klassen – treten als Beispielfiguren auf, so dass der Roman, der durchaus als »Forschungsreise« (10) angelegt ist, funktional eher einer Versuchsanordnung gleicht.26 23 | Bei solchen Hinzufügungen ist nicht immer deutlich zwischen einer implizit in die Erzählung integrierten Erzählfunktion und dem explizit aus der Erzählung heraustretenden, sozusagen in die Kamera den Leser ansprechenden Erzähler zu unterscheiden. Vgl. Stellen wie: »(so nannte sie ihn spöttisch)« (1400), »(man hat den Banditen ohne Zweifel bereits erkannt)« (1855), die vielleicht eher einen beiseite sprechenden Erzähler zeigen, während die Erläuterungen zur Identität von Figuren: »(Roland)«, (»was mit Herrn Bradamani [Polidori] los ist«) (980), »Frau von Orbigny (ehemalige Roland)« (792) auch als Sprechen der Erzählfunktion verstanden werden können. 24 | Siehe ebd. 1520, 1696. 25 | Zu Zeitungen vgl. ebd. 1632, 1697, 1701; zu Büchern ebd. 1678, 1681. 26 | Siehe etwa »Marienblume«, die »uns als Beispiel dieser wohltuenden Einwirkung« vorgeführt wird (916).

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Die von Beginn an scharf ins Auge gefasste Zielsetzung, das Moralische mit dem Sozialpolitischen zu identifizieren – die zeitgenössische Kritik versteht die Mystères und anschließende Nachahmungen, die »Mysterienliteratur«, als Romane mit einer »Tendenz« –, passt zu der breiten, ausufernden Anlage der Erzählung.27 Die zahlreichen (mehr als 100) den Leser direkt ansprechenden Bemerkungen zur Romanstruktur, mal als Anmerkung, mal im Text, mal als Ankündigung, sind nicht nur Zeichen für das Aus-den-Fugen-Geraten der Romanstruktur.28 Sie lassen sich dialektisch auch als Ankündigungen eines gezielt vorgehenden Erzählers verstehen. So sehr der Roman ausufernd jede Orientierung zu verlieren scheint, so sehr bekräftigen die beständigen, das Geschehen erläuternden Hinweise (besonders für den zeitgenössischen Leser des Erstdrucks, der sowieso stärker als der Leser der Buchausgabe im Hier und Jetzt der Fortsetzung agiert): »Ich, der Erzähler, habe einen Plan.«

»A LLES IST WIE NICHT GESCHEHEN «: D OPPELTE G ENREZUGEHÖRIGKEIT Zielorientierung und das ausgestellt Planvolle zeichnen beide in den Mystères zusammengebrachten Genres aus, den Tendenz- wie den Intrigenroman. Der Tendenzroman will überzeugen; er hält dem Leser beständig – was die Kritik immer schon wahrgenommen hat – die Anklage der sozialen Missstände und die Reformvorschläge für die Lösung der sozialen Fragen vor Augen, ebenso aber – was gerne übersehen wird – ein ganz traditionelles stoizistisches Erziehungsprogramm. Man denke an die wiederholt gehaltene Philippika gegen die »Leidenschaft« oder an den gemischten Charakter aller Hauptfiguren, auch des alle überragenden »Übermensch[en]« Rudolf. Ecos (an Gramsci anschließender) Versuch, die Mystères als Kampf des Guten gegen das Böse zu charakterisieren, wäre demnach zu relativieren.29 Der Intrigenroman ist natürlich auf die Widerlegung der Intrige(n) angelegt und hat daher stets eine finale Ausrichtung. Sue erhöht diese Zielorientierung noch durch den Kunstgriff, nicht nur den psychologisch-persönlichen Kampf um Liebe und Krone (die »Sarah McGregor und Tom vs. Rudolf und Murph«Handlung), sondern auch die soziale Frage als eine Intrige darzustellen. Indem die Handlung im Kern als Kampf gegen das Verbrechen stattfindet, muss sich 27 | Vgl. »Mysterienliteratur« (1845: 3, 13); zum Begriff »Tendenzromane« siehe ebd. 1846: 1442. 28 | »Ehe wir den Leser am Gespräch teilnehmen […] lassen, müssen wir ihm erklären« (980); »Wir werden später auf diese Ereignisse zurückkommen« (907); in Form eines Appells: »Der Leser erinnert sich« (379). 29 | Vgl. Eco 1976: 62.

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hinter jedem aufgedeckten Missstand ein Verantwortlicher, ein Verbrecher, finden. In einer für Serienerzählungen nicht untypischen abstrusen Steigerung stellt sich dabei mit fortschreitender Erzählung heraus, dass »fast alle Übeltäter von Paris miteinander in einer geheimnisvollen Verbindung stehen« (1105) – während im Zentrum des Verbrechernetzes die Spinne Jacques Ferrand sitzt. (Auch die moralisch einwandfreien Figuren sind alle untereinander vernetzt.) Im Gefolge solcher Aufdeckungen wird das riesige und scheinbar unüberschaubare, allen Gesellschaftsschichten entstammende Personal des Romans genau verfugt durch die Position, die jeder zum Hauptmissetäter Ferrand oder zum Wohltäter Rudolf einnimmt. Die Beweglichkeit des Erzählers, der durch alle sozialen Räume schweift, ist bemerkenswert, in ihrer Wirkung aber eingeschränkt: Im Grunde bewegen wir uns lesend immer nur alternativ in einem der beiden Lager. Das Intrigengeschehen fesselt uns zwar und wir eilen seiner Auflösung entgegen. Zugleich aber fehlt es dem Roman an Mobilität, weil er immer nur bei Rudolf und seiner Welt oder in der Welt der Intriganten und Verbrecher sein kann. (Die wenigen Szenen, in denen die beiden Lager zusammengeführt werden, etwa wenn Rudolf verkleidet den Schulmeister zu einem Einbruch verleitet, weisen dementsprechend eine besonders dichte Handlungsspannung auf.) So ist es mehr als nur ein Zufall, dass mit dem Sieg über Ferrand das Geschehen den letzten Rest an Schwung verliert. Es folgen – so kann man vielleicht sagen – nur noch Aufräumarbeiten. Das Schicksal etlicher Missetäter wird uns gar nicht mehr zu Ende erzählt. Auch der Tendenzroman ist mit dem Tod des Haupttäters am Ende. Statt Missständen werden nun verstärkt gelingende Sozialarbeiten (etwa im Irrenhaus) vorgeführt. Sieht man vom Epilog ab, wird im Grunde nur die Gefühlsintrige Sarahs einem wirklichen, überdies doppelten Schluss zugeführt: Sarah stirbt und kann daher sterbend und bereuend siegen; Vater und Tochter finden sich endlich wieder (wie später auch am Schluss des Waldröschens). Als (zweifachem) Intrigenroman ist den Mystères somit ein merkwürdiges Ineinander von Statik und Zielorientierung eigen.30 Dabei resultiert die Statik der Mystères nicht bloß aus der mangelnden oder fehlenden Entwicklung der Figuren oder der starren Zuordnung zu den zwei Lagern. Sie ist dem Genre von Grund auf gegeben, denn der Intrigenroman kommt nie über seinen Ausgangspunkt hinaus. Er hebt sich und seinen Erzählanlass, die gestellte Falle, erzählerisch nur auf. Im Unterschied zur Detektiverzählung bietet der siegreiche Kampf gegen die Intrige kein übertragbares Verfahren für ähnliche gelagerte Fälle. Während die Detektivgeschichte Verbrechensaufklärung als Arbeit darstellt – was dem Erzählfluss Eigenwert und Dynamik gibt, als Modell für 30 | Nicht ohne Grund erlebt der Intrigenroman im wilhelminischen Kaiserreich, besonders in den 1880er und 1890er Jahren, ein Revival; siehe etwa die Sensationsromane von E.A. König.

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das Wirken einer aufgeklärten Kriminalistik –, kreist der Intrigenroman nur in sich.31 Die Intrige wird durch persönlichen Einsatz, meist sogar bloß durch Zufall widerlegt (siehe Rudolfs zufälliges Erlauschen der Falle, die Sarah Mme. d’Harville stellt). Das erzählerische Geschehen ist entsprechend schicksalhaft bestimmt. Es ist immer ein Sonderfall; sobald der geschürzte Knoten gelöst, sobald das Schicksal der Figuren erzählt ist, könnte es wie am Ende von Frischs Mein Name Sei Gantenbein (dort aus Misstrauen gegenüber der Glaubwürdigkeit des Fiktionalen) heißen: »Alles ist wie nicht geschehen«.

Z EITSOUVER ÄNITÄT Die Analyse der Romanstruktur wie der Blick ins szenische Detail zeigen die Mystères gleichzeitig bestimmt von Ziellosigkeit und Erregung, von Statik und Zielorientierung. Solch verhakte Erzählweise – wie ich dieses Ineinander fassen möchte – bringt dem Leser eher die lokalen, sozial bestimmten Räume nahe, weniger eine Erfahrung der Zeit oder genauer: der Sukzession. Den zeitlichen Ablauf des Geschehens nachzuvollziehen, ist schon wegen der vielen sich aufeinander beziehenden Zeitangaben kaum möglich. Wie etwa soll der Leser diese Angabe dekodieren: »Die nachfolgenden Szenen spielen sich am Abend des Tages ab, an dem Frau Seraphin sich auf den Befehl Jacques Ferrands zu dem Süßwasserpiraten Martial begeben hatte« (1033)? Der genannte Befehl ist selbst nur durch eine Kette relativer Angaben zeitlich bestimmbar, da er in einer Kurzszene erwähnt wird, die an einen anderswo spielenden Erzählstrang angehängt ist, und – auch das noch – zwischen dem Erscheinen der einen und der anderen Fortsetzung fast ein Monat vergangen ist. Besonders in Verbindung mit den mehrfach wechselnden, häufig auch kurzfristig hin und her springenden Erzählsträngen ergeben die relativen Zeitangaben kein deutliches Bild vom chronologischen Ablauf der Ereignisse.32 Klar ist aber die ästhetische Funktion der vielen gleichzeitig oder in geringen Zeitabständen ablaufenden Handlungen, die oft Hunderte Seiten füllen: Sie steigern das melodramatische Vorwissen des Lesers gegenüber den Figuren und erhöhen sowohl das Erregungspotential als auch die schicksalhafte Verhängnisspannung der Szenen. Demgegenüber herrscht bei Episodenserien (darunter auch frühe Fernsehserien) in der Regel Klarheit über die Sukzession, weil mit jeder Episode eine 31 | Zur Darstellung von Verbrechensaufklärung als Arbeit vgl. Hügel 1978. Daneben gibt es zahlreiche Überlegungen, die Detektiverzählung formalistisch zu betrachten und in der Verbrechensaufklärung nur die analytisch erzählte Wiederherstellung der gestörten Ordnung zu sehen (etwa Marsch 1972). 32 | Zu springenden Erzählsträngen vgl. ebd. 1244, 1256.

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neue Zeitrechnung beginnt; eine Zeitrechnung, von der man für gewöhnlich nur zu wissen braucht, dass die neue Episode relativ nach der vorherigen liegt. Bei Soaps oder anderen zeitlich durchlaufenden Endlosserien ist die Sukzession trotz oder wegen der berühmten Zopfdramaturgie ebenfalls deutlich gesetzt. Und selbst in jüngeren, narrativ komplexen Serien wie Lost (ABC, 20042010), wo das zeitliche Verhältnis der verschiedenen Handlungsstränge nicht eindeutig ist und die Ungewissheit darüber die Spannung erhöht, ist das relative Zueinander der einzelnen Folgen letztlich klar.33 (Gleiches gilt für die Zuordnung verschiedener Zeitebenen durch Flashbacks, die mehr und mehr in Mode kommen.) Die Zeitsouveränität, die der Erzähler der Mystères so ausgiebig nutzt, erscheint ihm selbst problematisch, weil er sieht, dass der »Vielheitsroman« (Fontane über Vor dem Sturm) kombiniert mit einer fast willkürlichen, auf maximale Erregung abgestellten Handhabung der Erzählstränge die strukturelle Einheit seines Werks gefährdet: »Vielleicht wird man uns vorwerfen, die nachfolgenden Szenen so ausführlich beschrieben zu haben, da die episodischen Schilderungen die Einheit unserer Geschichte stören« (1421). Diese episodische Struktur ist von Beginn geplant; denn schon im Vorwort heißt es: »Wir wollen versuchen, dem Leser einige Episoden aus dem Leben anderer Barbaren darzustellen, die ebenso außerhalb der Zivilisation stehen wie die von Cooper so hervorragend geschilderten Völker« (9). So sehr die episodische Struktur auf Profitinteressen des Autors und der Zeitungsverleger verweist, bleibt festzuhalten: Sie ermöglicht erst die mäandernde Reise durch eine geheimniserfüllte Stadtlandschaft. Tendenzroman und souveräner Erzähler bedingen sich. Sue, der Autor, der mit seinem Roman Kenntnisse erweitern, ja Einstellungen der Leser verändern will, und der Erzähler, der souverän mit seinem Stoff umgeht, sind zwei Seiten einer Medaille. Jedes Moment an Sichtbarkeit der Erzählfunktion (und nicht bloß die Anwesenheit des Autors im Roman) ist ein Aufruf an den Leser, sich zu fragen: Welche für mein Leben wichtige Mitteilung wird mir hier gemacht? Die ganze Maschinerie von Theatercoups und Überraschungen, von Sensationen aller Art, bestätigt wiederholt den in der Einleitung niedergelegten Plan: Die Mystères sollen den Leser in eine Welt führen, die ihm fremd ist, eine Welt, die mit dem Setzen einer Szenerie, eines Ortes, nicht einfach gegeben ist, sondern graduell erobert werden muss und sich dann »Schritt für Schritt aufhellen wird« (10).

D IE L ESERBRIEFE In der Zeitstruktur, der szenischen Darstellung, der Handlungsführung: Auf allen Ebenen präsentiert sich der Erzähler der Mystères als souverän, auch wenn 33 | Vgl. im vorliegenden Band die Beiträge von Jahn-Sudmann/Kelleter und Mittell.

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die Erzählfunktion wegen des szenischen Stils nicht durchgängig auktorial und schon gar nicht allwissend, sondern planvoll und engagiert agiert. Ein solcher Erzähler passt zum sozialen Roman, der als Neuigkeit und als Neuigkeitsverbreiter daherkommt. Und er passt zum Aufsehen, ja zum Engagement, das der Roman bei den Lesern hervorrief. Ob aber die engagierte Leserbeteiligung die Mystères zu einem Text populärer Kultur macht oder ihn gar in die Genealogie des seriell Erzählten stellt, ist fraglich. Gewiss: Es gibt im Einzelfall (vgl. Nr. 13) sogar so etwas wie Fan Fiction, nämlich eine Folge von Gedichten (fast 300 Strophen), die die Schreiberin jeweils nach der Veröffentlichung der Romanteile an Sue sandte.34 Und gewiss: Es gibt Briefe, in denen Vorschläge gemacht werden, wie die Geschichte ausoder weitergehen könnte; aber wohl kaum mehr als eine Handvoll. Vier davon (16, 66, 67, 247) schlagen etwas vor, was sowieso im Genrerahmen liegt (Missetäter und Verbrecher sind zu bestrafen, Marienblume soll als »Sainte« sterben). Nur zwei machen – soweit ich sehe – detaillierte Vorschläge (Nr. 48 bittet um das Wiederauftauchen des Tschurimann und Nr. 16 schlägt als zweite, weniger konventionelle Möglichkeit für das Ende von Marienblume ein Weiterleben in der Direktion einer sozialen Einrichtung vor). Daneben gibt es etliche Briefe, die Hinweise auf Fehler Sues geben, dem Autor Sachinformationen anbieten (die von Sue zum Teil prompt verwertet werden) oder ähnlich gelagerte Fälle schildern. Numerisch scheint dies, zu diesem frühen Zeitpunkt populär-serieller Rezeption, noch zu wenig, um die kollektive Mitautorschaft der Leser zu attestieren oder aus den Lesern Fans zu machen, die wie bei heutigen TV-Serien in einem Rückkopplungs-System mit der Produktionsseite stehen – auch wenn der Kritiker der Blätter für literarische Unterhaltung ein solches Feedback schon unterstellte, um sein Urteil über Sues »Fabrikationsthätigkeit« zu begründen (»Mysterienliteratur«, 1845: 2). Somit zeigen die Briefe vor allem das Interesse und die Spannung der Leser, auch den Aufwand, den sie betreiben müssen, um die Mystères lesen zu können (vgl. Nr. 69); vergleicht man aber die Briefe an Sue mit denen, die Karl May seit dem Erscheinen der Orientromane im Deutschen Hausschatz erhielt (ab 1881), bemerkt man den Unterschied: May animiert die Leser, die Figuren in ihr Leben zu nehmen; bei Sue wird mehr die Referentialität des Romans und seiner Figuren aufgegriffen.35 34 | Die Leserbriefe an Sue werden nach der Ausgabe Galvan 1998 unter Angabe der Nummer zitiert. Die Verfasserin von Nr. 13 ist wohl eher ein Briefflirt als ein Fan im heutigen Wortsinn; siehe ihre Une visite à M. Eugène Sue, auteur des Mystères de Paris (Nr. 76 und zwölf weitere Briefe). 35 | Vgl. auch die Beschreibung der Briefe bei Schenda 1976: 93-102. Zu May siehe die Präsentation von Leserbriefen in der Ausstellung des Historischen Museums Berlin 2007/08.

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Für die Leserbriefschreiber (auch die, die nicht zu den Literaturkollegen zählen) sind die Mystères noch kein ausdrückliches Werk der Unterhaltung. Mag der Tendenzroman auch der Unterhaltung dienen, zur Leseraktivität (wie zur Kritik) motiviert vor allem die Tendenz. Damit spielen die Mystères in einem anderen Feld als heutige Fernsehserien, werden diese doch primär als unterhaltend wahrgenommen – auch dann, wenn sie sich auf kritische Darstellungen einlassen.36

»I MMER WEITER GEHEN « (R EFR AIN : D IE S TR ASSENJUNGS) Somit bleibt ein Unterschied festzuhalten zwischen sozial kritischen Fernsehserien wie Law and Order (NBC, 1990-2010) und den Mystères. Die Kritik der Mystères ist gegen die zeitgenössische Wirklichkeit gerichtet, während Law and Order so erzählt, dass die kritische Auseinandersetzung zu letztlich systemstabilisierenden Weiterverarbeitungen im »kulturellen Forum« des amerikanischen Fernsehens führt. Diese Differenz erklärt die unterschiedliche Erzählhaltung von Feuilletonroman und TV-Serie. Mit dem souveränen, fundamentalkritischen Erzähler ist ein Spieler aufgeboten, der den Leser wie ein Führer in die Welt des noch nie Vernommenen begleitet, beständig vorgibt, dem Leser Unbekanntes vorzubringen, und ihn fortwährend nach dem Sinn des Ganzen fragen lässt, während er selbst mit seinen deklamatorischen Essays Gewissheit zu verbreiten sucht.37 Das aber widerspricht einer seriellen Erzählweise, die so tut, als ob das Erzählte sich von selbst, oder besser: aus sich selbst heraus, erzählt. Seriell Erzähltes wirkt oft schon mit der ersten Episode wie gesetzt und zugerichtet, so dass selbst das Überraschende als Ausmalen des schon Vorgegebenen erscheint. Trotzdem haben die Mystères, auch was die Form und nicht nur was die Präsentationsweise angeht, Verschiedenes mit seriell Erzähltem gemein, vor allem die gleichbleibende Verhaltensweise der Figuren und das ausufernd Episodische, das immer noch ein weiteres Schicksal draufsetzt. Zugleich zeigt solche Schicksalsfülle den Unterschied zu den meisten seriell erzählten Fernsehserien unserer Tage. Die Welt Sues ist nicht mit dem Erzähleinsatz gesetzt, zugerichtet, so dass die Erzählung scheinbar ohne Erzähler, wie von selbst sich erzählend, weiterlaufen kann. Die Mystères spielen vielmehr in einer Welt, die vom Erzähler stets aufs Neue in Gang gebracht werden muss. Das erst macht sie zur beständig neuen Sensation bzw. zum neuen Ärgernis.

36 | Vgl. Hügel 2007. 37 | Erneut drängt sich der Vergleich mit May auf, der die Führungsfunktion des Erzählers in den Reiseromanen zwanglos durch die Ich-Figur begründet.

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Verwandt mit seriell Erzähltem sind die Mystères auch durch den zögerlich auslaufenden Schluss, der darum vielleicht umso stärker abschließenden Charakter erhält. Der Reihe nach werden die Lebenswege langsam zu Ende geführt: Zuerst (in VIII 6) stirbt Ferrand sehr ausführlich, dann erfahren wir nach einer Tugend- oder Verbrechensskala abgestuft und in ganzer Variationsbreite die Schicksale der anderen. Sarah stirbt schnell und schmerzlos (VIII 15), danach wird uns der dahinvegetierende Schulmeister vorgeführt (VIII 17), dann Morel vom Wahnsinn erweckt (VIII 19), schließlich stirbt der Tschurimann dramatisch im Kampf (VIII 20), daraufhin lesen wir vom Glück der Lachtaube und vieler anderer (Epilog 4), bis endlich Marienblumes Leben verlischt (Epilog 8) und die Erzählung abbricht. So lange und so langsam der Roman trotz einiger dramatischer Episoden ausläuft, hat er insgesamt doch einen starken Zug zum Ende hin, hierin neueren Fernsehproduktion wie Lost durchaus vergleichbar. Nicht ohne Grund sind die Leser auf das Ende so gespannt. Und ihre Erwartung wird nicht enttäuscht (siehe Leserbrief Nr. 16) – ganz anders als bei Soaps wie Dallas (CBS, 1978-1991), wenn das Ende, der plötzliche Bankrott der Ewings, fast über Nacht einbricht, weil auch Endlosserien irgendwann einmal aufhören müssen. Finalität, also ein Ende, das einen werkhaften, geformten Abschluss der Erzählung bringt, ist für seriell Erzähltes immer eine kritische, eine fundamental fragwürdige Angelegenheit.38

M YSTÈRES . M EHRTEILER . M INISERIE . Mit dem in neun Partien aufgeteilten Druck in den Débats, zwischen denen immer längere Produktionspausen liegen, lassen sich die Mystères als »Miniserie« im Sinn eines echten Mehrteilers verstehen (d.h. der segmentierten Darbietung eines präfabrizierten, für sich existierenden Werkes). Mehrteiler unterscheiden sich formal von Serien – und Formunterschiede sind keine Quantité négligeable, denn die Form steuert die Bedeutungsproduktion der Rezipienten. Bei der Frage, wo der Mehrteiler aufhört und die Serie beginnt, ist natürlich nicht die Länge des Erzählten oder die Episodenanzahl entscheidend. Es kommt auf andere Aspekte an, etwa die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Closure. Oder auf die Frage, ob einzelne Folgen für sich rezipierbar sind, ohne dass der fehlende Schluss als Mangel empfunden wird (Erzählmodell Soap), bzw. ob eine abgeschlossene Episode auf ein Wiederaufgreifen des gleichen Erzählmodells drängt (Erzählmodell Episodenserie). Beides kann seriell Erzähltes begründen. Hickethier (1989) hat insofern Recht, wenn er sagt, dass die Geste »das Beste 38 | Zur Krisensituation serieller Enden und dem Versuch von Serien, sich nachträglich in Mehrteiler zu verwandeln, vgl. Kelleter 2010.

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von meiner Erzählung kommt erst noch« grundlegend für seriell Erzähltes ist.39 Bei Maigret, Nero Wolfe oder Sherlock Holmes habe ich am Ende jeder Geschichte das Gefühl, immer noch nicht genug über den alternden Kommissar, das Verhältnis Archies zu seinem Brötchengeber oder den Ruhm des wissenschaftlichen Detektivs erfahren zu haben. Episodenserien sind ja gerade deshalb seriell erzählt, weil sie trotz des zu Ende erzählten Falls, der zu Ende erzählten Einzelgeschichte, beim Rezipienten den Wunsch nach mehr, nach einer neuen Episode zurücklassen.40 Mit der Analyse der Erzähltechniken, die diesen Wunsch hervortreten lassen, wird auch das unter Formaspekten grundsätzliche Problem des seriell Erzählten zu lösen sein: Wie Episodenserien und Endlosserien unter einen Formbegriff gebracht werden können. Für Fragen nach der Form seriell erzählter Texte ist deshalb entscheidend, wie dieser Wunsch nach Fortsetzung in den Episoden angelegt ist. Oder anders ausgedrückt: Wie aus einmalig Geschehenem ein Fall wird. Wo die Grenze zwischen auf Abgeschlossenheit angelegten und offen angelegten Serienerzählungen liegt, ist nicht schematisch zu beantworten, sondern in der Erzählform begründet. Auch Miniserien, die keine Mehrteiler sind, wie Kir Royal (ARD, 1986) oder Prime Suspect (ITV, 1991), können seriell erzählt und, ähnlich Soaps, auf keinen finalen Serienschluss hin angelegt sein. Und auch die Serien einer neuen Generation, die mit komplexen Spannungsbögen arbeiten, sind nicht im Sinne von Werktexten final ausgerichtet, selbst wenn sie keinen leichten Ein- und Ausstieg mehr ermöglichen; aber vielleicht ist mit der neuen Seriengeneration auch etwas epochal anderes entstanden.

S TART IN DIE W ELT DES SERIELL E RZ ÄHLTEN – IN EINE W ELT VON F ÄLLEN Die Mystères mögen nicht wie Fernsehserien seriell erzählt sein, aber ein Phänomen von Serialität sind sie allemal. Serialität ist im 19., aber auch schon im 18. Jahrhundert alles andere als selten (Schillers in Fortsetzungen geschriebener und gedruckter Geisterseher etwa rief ähnliche Reaktionen wie die Mystères hervor) und nimmt im Lauf der Zeit noch zu. Man denke an die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Kolportageromane oder an die seit 39 | Vgl. Hickethier 1989. Trotzdem gehört Tausend und eine Nacht im strikten Sinn nicht in die Geschichte seriell erzählter Texte; die Geste »das Beste von meiner Erzählung kommt noch« wird von einer Erzählerin vorgebracht, die außerhalb ihrer Geschichten steht. Nur der Rahmen der Märchensammlung ist seriell. 40 | Daher sticht das Kriterium der Unendlichkeit der Handlung nicht, mit dem Mikos (1987: 6) Episodenserien aus dem Feld des seriell Erzählten ausschließen möchte; siehe auch den Einwand Hickethiers (1991: 8).

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den 1870er Jahren laufenden Romanhefte. Vor allem im Bereich des Krimigenres gibt es zahlreiche serielle Erzählungen. Die Richtergeschichten J.D.H. Temmes (seit 1855) und die Polizeigeschichten von Richmond (1827), William Russel (seit 1849) oder von James McGovan (seit 1878) sind allesamt zuerst oder als Nachdruck periodisch erschienen und haben sogar wiederkehrende Erzählerfiguren.41 Trotzdem setzen auch sie weniger auf die serielle Variation eines Grundmusters als auf die Darbietung stets andersartiger, außergewöhnlicher und neuartiger Fälle. Dass es gerade im Krimigenre so viele Ansätze zu seriellem Erzählen gibt, darf nicht verwundern. Denn: Der Kriminalfall, zumal der, der mit rationalen Mitteln durch Arbeit gelöst wird, handelt von vornherein in einer zugerichteten Welt; die Rationalität der Detektionsarbeit wirkt wie ein Filter, der über die zu erzählende Welt gelegt ist. Liebesgeschichten handeln demgegenüber ihrem Selbstverständnis nach immer von einem einmaligen, nicht wiederholbaren Schicksal und es bedurfte einiger Gewöhnung an seriell Erzähltes, bis auch Liebe sich so erzählen ließ. Es passt somit zu dem hier vertretenen Ansatz, dass es eine Detektivfigur ist, die die Hauptrolle in den ersten seriell erzählten Geschichten spielt: Sherlock Holmes. Wie schwierig zu realisieren und neuartig selbst am Ende des 19. Jahrhunderts seriell Erzähltes war, zeigt der steinige Weg, den diese Figur gehen musste, bis sie auf dem Markt durchgesetzt war. Es bedurfte dreier Anläufe, bis endlich alles zusammenpasste, die Figur, die Erzählweise und das Medium, ein neuartiges Unterhaltungsmagazin (The Strand Magazine). Für eine Theorie und eine Geschichte des seriell Erzählten ist dabei besonders aufschlussreich, dass die Figur schon bei ihrem ersten Auftreten perfekt vorhanden war. Erfolglos blieb sie zunächst trotzdem, weil eingebunden in einen traditionellen Schicksalsroman.42 Ihr Potential konnte sie so noch nicht entfalten; ohne serielle Erzählform kann auch eine Serienfigur wenig ausrichten. Erst die Magazingeschichten (ab Juli 1891), die von vornherein als Serie geplant waren (vielleicht nur als Miniserie, denn Doyles Vertrag lief zunächst nur über sechs Geschichten und wurde dann immer wieder zu besseren Konditionen verlängert; zuerst erhielt der Autor 35, dann 50 Pfund je Geschichte, dann 1000 für zwölf), etablierten die Detektivabenteuer. Dass Doyle trotzdem nur unwillig an die Serienarbeit ging – vor jeder Vertragsverlängerung spielte sich das gleiche Spiel ab: Er hatte keine Lust und dachte sich einen Preis aus, der abgelehnt werden musste, aber nicht abgelehnt wurde – ist mehr als nur eine Anekdote.43 Es zeigt, wie wenig etabliert seriell Erzähltes immer noch war.

41 | Das sind nur einige Beispiele; eine bibliografische Aufstellung würde viele Seiten füllen; vgl. Hügel 1978: 305-327. 42 | Siehe die nachgeholten Geständniserzählungen der ersten beiden Holmes-Romane. 43 | Vgl. Carr 1949: 85-92.

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Planvoll kann die Serie genannt werden, nicht nur weil sie im Stück verabredet war, sondern wegen den Variationselementen der Erzählstruktur. Die Adventures weisen stets den gleichen Aufbau auf: Holmes bekommt den Fall übertragen und bietet eine oder mehrere Proben seiner Kunst; dann sehen wir den Detektiv bei seiner Arbeit, deren Sinn und Anlage verdeckt gehalten wird; dann wird die Aufklärung ausgiebig erläutert und in einer Art Coda der moralische Wert der Geschichte reflektiert. Immer wieder befinden wir uns in gleichen oder ähnlichen Situationen: in Baker Street 221b, in den Straßen Londons, in Kutschen, im Gespräch mit Klienten, Holmes aus der Zeitung lesend, Annoncen aufgebend, Watson aus Holmes’ Archiv vorlesend und so fort. Am stärksten offenbart sich der planvolle Aufbau der Serie aber in ihrem Aufbau. Sie beginnt mit der Geschichte, die ein für allemal klärt, dass der Detektiv kein Love-Interest hat (was eine weitreichende Genrekonvention festlegte). Nach »Scandal in Bohemia«, im Grunde schon nach den ersten Sätzen: »To Sherlock Holmes she is always the woman. I have seldom heard him mention her under any name« (Doyle 1891: 61), ist klar: Der Detektiv wird allein bleiben, d.h. allein mit – und in – seinen Fällen leben. Ein Fall aber ist nichts Singuläres; nach einem Fall kommt der nächste und so weiter. Von Fällen zu erzählen, ist die natürliche, die ursprüngliche Art, seriell zu erzählen. Doyle stellt dieses Zugerichtet-Sein der Adventures überdies heraus, wenn er Watson vor den Augen der Leser überlegen lässt, welche Fälle er für seine Sammlung auswählen soll.44 In dieser Auswahl formuliert sich die Stellung des Chronisten Watson; denn der Arzt ist nur ein Chronist, der keinen Einfluss auf die Erzählung nimmt, selbst wenn er als Freund den Detektiv aktiv unterstützt. Wie andere Erzählerfiguren von Detektivgeschichten (Archie Goodwin) spinnt er als Erzähler keinen eigenen Faden: Die Adventures sind, wie es sich für seriell Erzähltes gehört, so wiedergegeben, als ob sie sich von allein erzählten. Heißt einen Fall bearbeiten, von vornherein in einer zugerichteten Perspektive auf die Welt zu blicken, so verengt Doyle den Blickwinkel nochmals durch einen besonderen Kniff. Die Adventures sind – was leicht übersehen wird – keine klassischen Detektivgeschichten; sie sind keine Whodunits, sondern sozusagen Howdunits. Dies aber nicht aus Perspektive des Täters, sondern aus der des Detektivs! Bei Doyle sollen wir nicht mitraten oder den Fall gar vor dem Detektiv gelöst haben (wie es das Genreklischee will), sondern nachvollziehen, wie es dem Detektiv gelungen ist, das Verbrechen auf so verblüffend schnelle Weise aufzuklären.45 Damit wird das Leserinteresse auf die Konstruktion der Geschichte, auf das Funktionieren der Detektion, oder genrehistorisch gespro44 | Vgl. den ersten Absatz von »Adventure V – The Five Orange Pips« (Doyle 1891: 481). 45 | Vgl. etwa Holmes’ Statement nach der ersten Tatortuntersuchung in »The Mystery of the Boscombe Valley«: »It has been a case of considerable interest.« (Doyle 1891: 411)

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chen: auf die Etablierung der Fairplay-Regeln abgestellt. Mit dem Herausstellen des artistischen Moments der Erzählung, mit dem Akzentuieren des Wie (wie hat der Detektiv es gemacht bzw. wie ist die Erzählung gebaut?) etabliert Doyle Kennerschaft als Lesegratifikation, ja als Lektüreziel, und begründet damit ein zentrales Motiv für die Teilhabe an populärer Kultur (an der wir wahrscheinlich weniger teilhaben, weil ihre Inhalte – was immer das wäre – uns wichtig sind, als deshalb, weil wir das medien- und selbstreflexive Spiel der Unterhaltung genießen). Mit Kennerschaft als dominanter Lesestrategie nehmen wir eine dem seriell Erzählten angemessene Haltung ein. Während – um es ein wenig holzschnittartig zu formulieren – traditionell Erzähltes referentiell eine außerhalb des Textes liegende Wirklichkeit benennt, akzentuiert ein seriell erzählter Text selbstreferentiell die Bezüge innerhalb des Textes. Selbstreferentielles Lesen bewegt sich in den Text hinein, referentielles Lesen aus dem Text heraus. Jenes fragt, wie der Text gemacht ist und wie ich mich als Rezipient in ihm zurecht finde; dieses fragt, wie ich mich mit Hilfe des Textes, so vermittelt er Wirklichkeit auch darstellen mag, in ihr zurecht finde. Lesen eines seriell erzählten Textes ist vor allem Teilnahme am selbstreferentiellen Spiel, ist Teilhabe an populärer Unterhaltung.

F R AGWÜRDIGE A BGESCHLOSSENHEIT : D OPPELTER B LICK So zu erzählen, dass selbstreferentielle Kennerschaft stimuliert wird, gibt seriell Erzähltem eine besondere Qualität. Während es 2000 Jahre lang entsprechend einer aristotelischen Ästhetik darauf ankam, Ganzheit anzustreben – selbst im Fragment –, bietet seriell Erzähltes Texte an, die dies in Frage stellen. Bei seriell erzählten Texten weiß ich nicht mehr, ob sie für sich stehen oder ob sie Teil von etwas sind. Zumindest kommt es mir als Rezipienten nicht mehr notwendigerweise darauf an, sie als etwas Ganzes wahrzunehmen. Seriell Erzähltes zu lesen oder zu sehen, heißt mehr als nur in der aktuellen Geschichte zu sein; es heißt, einen vergleichenden Blick auf früher gemachte Lese- oder Seherfahrungen mit dem schon Erzählten parat zu halten. Dabei hat der Rezipient immer mehrere Möglichkeiten. Er kann feststellen: »immer dasselbe«, oder: »heute ist es anders«. Und als dritte und wichtigste Möglichkeit kann er beides zugleich realisiert sehen. Dieses zwischen den Folgen oder Episoden oszillierende Hin- und Herschalten, der doppelte Blick des »Serienjunkies« (siehe die entsprechende Homepage) – ein Vorgang, der nicht bewusst ablaufen muss –, scheint ein fundamentaler Rezeptionsvorgang bei seriell Erzähltem zu sein. Mit dem Zweifel an ihrer Ganzheit geht der Zweifel an der Abgeschlossenheit seriell erzählter Texte einher. Das gilt auch für strenge Episodenserien. Seriell erzählte Texte – so kann man vielleicht sagen – sind Texte von fragwürdiger Ganzheit und Abgeschlossenheit. Es gibt nicht generell und »ganz offenbar ein

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Bedürfnis in uns nach Abgeschlossenheit von Handlungen« (Hickethier 1989: 79); jedenfalls nicht in dem Sinn, dass es nicht auch kulturelle Praktiken gäbe, die ohne diesen Reiz und seine Erfüllung auskämen. Selbst Soaps sind nicht nur für den Dauerzuschauer oder den Fan gemacht. Wenn ich in den Ferien eine Woche lang Sturm der Liebe (ARD, seit 2005) verfolge, bin ich schnell zum Kenner geworden und habe meinen Spaß daran. Trotzdem kann ich am Ferienende ohne Bedauern aufhören und vermisse keine Fortführung, schon gar keinen Schluss, weil auch die Endlosserie in Sachen Liebe (und nicht nur die Episodenserie in Sachen Kriminalfall) von Fällen erzählt. Ob die gleichsam von selbst sich erzählenden, die nach vorne ausgerichteten und kein letztes Ziel kennenden, die, was Ganzheit und Abgeschlossenheit angeht, fragwürdig gewordenen, die einen Fall vorstellenden und auf die Behauptung des Einmaligen verzichtenden, die selbstreferentielle Kennerschaft provozierenden, mit einem Wort: die seriell erzählten Texte symptomatisch sind für unsere Kultur? Für Hans-Henrik Krummacher zum 80. Geburtstag.

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Der Schamane in Las Vegas Elvis als Serienheld (1969-1977) Heinrich Detering

1 Als Serienheld erscheint Elvis Presley zuerst 1963 in einem der ersten und bekanntesten Siebdrucke Andy Warhols: der Popstar in Jeans und offenem Hemd, schwarzweiß und grob gerastert, die Waffe im Anschlag, auf den Betrachter gerichtet. Nur die Figur selbst ist zu sehen, in einem unregelmäßig beschatteten Grauweiß, wie vor der Leinwand eines Fotostudios; jeder Kontext ist getilgt. In unterschiedlichen Varianten ist das Bild realisiert, in Schwarzweiß, später auch in Farbe (dann mit rotem Hemd vor blauem Grund): als Einzelbild Elvis, als Double Elvis, in dem die Figur verdoppelt dasteht (und zwar wiederum in zwei Varianten: einmal ineinander übergehend, einmal nebeneinander stehend), als Triple Elvis mit drei Figuren – und weiter in einer seriellen Steigerung, die jeder Betrachter selbst weiterdenken kann. Tatsächlich entstanden 1963 Eight Elvises, und zehn Jahre später hat Warhol in der Gemeinschaftsausstellung Where is Elvis? The Man and His Reflection das Einzelbild über die Breite einer Museumswand noch einmal vervielfacht: Elvis (Eleven Times).1 Die eine Szene, die Warhol fixiert, zeigt Elvis im Angriff auf das Publikum und zugleich als die amerikanische Ikone schlechthin: den Cowboy als Kämpfer, allein im Nirgendwo. Das »old, weird America« der Outlaw-Helden, das Greil Marcus in Dylans Basement Tapes und ihrer Opposition zur Mainstream-Kultur der 1960er Jahre erkannte, wendet sich gegen das Amerika, das der Betrachter repräsentiert. In Gestalt dieses Elvis geht Amerika in den Angriff auf sich selbst über; hier wendet das Alte und Ursprüngliche sich gegen die Gegenwart, und zwar in einer Geste von jäher Plötzlichkeit: Der Westernheld hat in lässiger und gespannter Körperhaltung die Waffe schon schussbereit im Anschlag, ehe wir, sein Gegenüber, ihn überhaupt gesehen haben.

1 | Zum programmatischen Kontext vgl. Lüthy 1995.

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Das jedenfalls gibt der individuelle Film Still zu verstehen. Die Serialität des Siebdrucks hingegen – in der sich die schon in den Einzelbildern begonnene Serialisierung des Motivs erweitert – holt diese Message in einer je nach Perspektive dialektischen oder paradoxen Wendung wieder ein und verkehrt sie in ihr Gegenteil. Sie zeigt Elvis’ aggressive Pose ihrerseits als Teil einer Serie, und zwar in mindestens dreifacher Hinsicht: Erstens zeigt sie das Bild als Teil eines Films, der bloß für einen Moment angehalten ist. Der Silbergrund, den Warhol zunächst auf die Leinwand aufgetragen hat, führt diese nah an die Filmleinwand heran, »the silver screen«, und die verblassenden Wiederholungen erinnern an die Bilder rechts und links auf dem endless Highway der Filmspule (tatsächlich ist die Vorlage ein Szenenbild aus dem Western Flaming Star von 1970). Zweitens zeigt sie das Bild, wie alle diese Arbeiten Warhols, als Teil eines Kunstwerks, das kein Unikat mehr ist, sondern ein industrielles Massenprodukt, in dem die spontane Pose längst zur unendlich-unbeweglichen Wiederholung erstarrt ist; nur noch durch Variationen der Reproduktion kann der selbst unbewegliche Reproduzierte bewegt werden. Und drittens zeigt sie das Bild als Teil einer Serie ähnlicher Posen desselben Helden – weniger in seinen zahlreichen meist austauschbaren Filmen (denn gegenüber diesen stellt das Westernbild eine Ausnahme dar) als in seiner Rock’n’Roll-Inszenierung als Inbegriff des juvenilen, maskulinen, potenten Aggressors und Provokateurs. So hatte Warhol ihn bereits im Jahr zuvor in dem Siebdruck Red Elvis gezeigt: nur das Gesicht, das den Betrachter leicht von unten herauf mit dunkel geschminkten Augen und unter halb gesenkten Wimpern anschaut, in sechs mal sechs Bildern auf einem ganz in dionysisches Rot gefärbten Blatt. (Und so antwortet er dem zweiten Projekt, an dem Warhol parallel arbeitete: den Porträts von Liz Taylor.) Dieser amerikanische Cowboy und Outlaw ist also, jeder erkennt es, der Rocksänger Elvis Presley, der einen Cowboy und Outlaw spielt – oder sollte die archetypische amerikanische Figur in ihm lediglich die zeitgemäße Erscheinungsform eines Rock’n’Rollers angenommen haben? Die Verbindung der solchermaßen ausgestellten Dialektik von Individualität und Archetyp mit der Dialektik von situativer Aggression des Dargestellten und industrieller Serienproduktion der Darstellung behält ein Beunruhigungspotential auch dann, wenn die Performanz des Kunstwerks selbst ein Einverständnis suggeriert (oder zu suggerieren vorgibt), das sich mit der Beschreibung eines populärkulturellen Phänomens zustimmend begnügt.

2 Als Serienheld erscheint Elvis Presley zum zweiten Mal in seinen Konzerten im International Hotel in Las Vegas vom Juli 1969 bis Weihnachten 1976 und in

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den daraus hervorgehenden Tourneen.2 Diesmal ist er selbst der Regisseur der Inszenierung, jedoch durchweg (und wie immer in seiner Arbeit) in enger Kooperation mit Vertrauten, die auch im Studio und schließlich, in der zunehmenden Auflösung der Grenze zwischen Bühne und Privatleben, selbst in seiner Wohnung an seiner Seite sind: Freunden und Ratgebern wie seinem Manager »Colonel« Tom Parker und der später zur »Memphis Mafia« mutierenden Entourage um Red West, Charlie Hodge und andern, den Sängern seiner Begleitchöre (denn es sind stets zwei Chöre, darauf ist zurückzukommen) und den Musikern seiner Bands (denn es sind stets zwei Bands). Sie alle sind so auf ihn konzentriert, dass das Ergebnis der Arbeit mit gleichem Recht als die Arbeit eines genialen Einzelnen betrachtet werden kann, der seine Umgebung wie ein Instrument für seine künstlerischen Zwecke einsetzt, und als das Werk eines Kollektivwesens, das den Namen Elvis trägt. Es ist der Individualname eines produktiven Künstlers, eines Produzenten, und ein Gattungsname, die Bezeichnung eines Produkts, einer Marke. »Elvis and Elvis Presley are the property of Elvis Presley Incorporated«, steht – in diesem oder einem ähnlichen Wortlaut – auf allen Produkten der Firma; und genau so hat Elvis Presley selbst es spätestens seit dem Pakt mit Colonel Parker gewollt. Der Slogan »taking care of business« mit dem artistisch-kommerziellen Doppelsinn von »mach deine Sache gut« und »denk ans Geschäft« ist, abgekürzt zu der Formel »TCB« und mit einem Blitz-Symbol verbunden, in Elvis’ Umgebung allgegenwärtig, als Kettenanhänger und Ausweis-Emblem, als Label auf seiner Brille und Abzeichen auf seinem Privatjet, in zahllosen Varianten als Wandschmuck in seinen Studios und in seinen Wohnräumen in Graceland. Kunstanspruch und kommerzielle Produktion gehen in dem so abgekürzten Programm bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander über; sie verbinden den Körper des Künstlers mit dem Kollektiv seiner Entourage, den privaten Wohnraum mit den Arbeitsorten im Studio und auf der Bühne. Und sie tun dies alles im Zeichen des Blitzes, einer je nach Kontext elektrischen oder himmlischen Energie. Der Elvis, den Warhol 1962/63 im Modus der Serialität – als serielle Kunstfigur in einem seinerseits seriellen Kunstwerk – porträtiert, tritt in den folgenden Jahren selbst in das Warholsche Kunstwerk ein. Er wird seinerseits zum Produzenten und Produkt einer seriellen Inszenierung, die ihn selbst, seine Mitspieler und sein Publikum einschließt. Erst aus dieser für seine Kunst konstitutiven Serialität heraus wird er im Gegenzug eine Singularität zur Geltung bringen, die an die Präsenz seines Körpers gebunden ist und mit dessen Zerstörung erkauft wird. Für diese doppelte These soll im Folgenden argumentiert werden. Zu Weihnachten 1968 war Elvis Presley aus der Asche immer banalerer und auch kommerziell zunehmend erfolgloser Filme mit einem sensationellen Fernsehauftritt aufgestiegen, der zur Mutter aller populärkulturellen Come2 | Vgl. Skar 1997, Tunzi 2008, Sharp 2009.

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backs werden sollte. Das Fernseh-Special Elvis hatte ihn, in einer klug (und hochgradig artifiziell) komponierten Mischung aus spontanen Live-Auftritten vor kleinem Publikum und aufwendig choreographierten, musicalartigen Spielszenen, in allen Facetten seiner mittlerweile erreichten Fähigkeiten als Sänger, Schauspieler und Entertainer gezeigt, in den wechselnden Kostümen seiner bisherigen Karriere, von der engsitzenden schwarzen Lederkluft des Rockers (und Marlon-Brando-Bewunderers, »the wild one«) bis zum weißen Abendanzug des Gospelpredigers, und in den wechselnden Szenerien seiner Musik und ihrer sozialen Orte, vom Südstaaten-Bordell (diese Szenen fielen in der ersten Ausstrahlung prompt der Zensur zum Opfer) über Anspielungen auf die Gefängnisrebellion (»Jailhouse Rock«) bis zur gutgelaunten Jam Session mit den Begleitmusikern seiner frühen SUN-Aufnahmen. In der Eröffnungssequenz der Sendung (deren Gattung nicht leicht zu bestimmen ist, weil sie Spielfilm, Musical, Konzertdokumentation verbindet) dreht sich Elvis auf einer weitgehend dunklen Bühne aus der Rückansicht jäh zur Kamera und singt mit dunkel-bedrohlicher Stimme eine Bluesnummer: »If you’re lookin’ for trouble/ You’ve come to the right place.« The right place: Das ist jetzt ironischerweise und unübersehbar das NBC-Filmstudio, in einer Sendung, die mitfinanziert wird von der Singer-Nähmaschinenfabrik – was die sexuelle Provokationskraft des Auftritts und die musikalische Intensität der Performances nicht im Geringsten beeinträchtigt. Provokation und Kommerzialität, der Outlaw-Cowboy im Zentrum der Bewusstseinsindustrie: Von diesem Anfang an lässt sich das NBC-Special anschauen wie eine kongeniale filmische Entfaltung von Andy Warhols Poster.

3 Nimmt man diese gewissermaßen strukturelle Ironie der NBC-Inszenierung wahr, dann erweist es sich als ein sehr folgerichtiger Entschluss, dass Elvis von seinem Comeback aus nicht, was nahe gelegen hätte, auf Tournee ging – denn immerhin hatte er seit etwa zehn Jahren kein öffentliches Konzert mehr gegeben –, sondern nach Las Vegas, ins soeben neu errichtete International Hotel, zu dieser Zeit das größte Hotel der Welt (mit 1.512 Zimmern). Elvis trat nicht zum ersten Mal in der Stadt auf, deren Entertainment er privat längst schätzen gelernt hatte. Aber seine frühen Auftritte 1956 hatten die Erwartungen der Beteiligten nicht erfüllt; der rebellische Rock’n’Roll-Sänger mit seiner minimalistischen Begleitcombo und seiner sexuell provozierenden Performance hatte ein an Entertainer wie Sinatra, Sammy Davis Jr. oder Liberace gewöhntes Publikum vergebens zu unterhalten versucht. Zum Zeitpunkt der 1968er Comeback-Show hatte aber nicht nur der Künstler sich gewandelt, sondern auch das Publikum. So wurde der erste Las-Vegas-

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Auftritt am frühen Abend des 31. Juli 1969 zum Beginn der größten Erfolgsserie, die das Musikprogramm der Stadt je gesehen hatte. Bestrittenen, aber glaubhaften Angaben zufolge waren die Konzerte eines populären Musikers für das veranstaltende Hotel zum ersten Mal kein Zuschussunternehmen, das über die Casinoeinnahmen finanziert werden musste. Mit Elvis erwirtschafteten die Veranstalter einen Überschuss; allein in der ersten Saison wurden über 101.000 Tickets verkauft. Der Imagegewinn für das Hotel, das sich einem jüngeren Publikumsgeschmack öffnen wollte, war ebenso groß wie derjenige des Performers, der eine ergiebige Einnahmequelle und ein Forum für neue künstlerische Experimente fand. Die drei wichtigsten dieser neuen Wirkungsbedingungen waren 1. das umfangreiche Ensemble, mit dem unterschiedlichste musikalische Stile und Traditionen in die Konzerte integriert werden konnten, 2. die Möglichkeit zu einer engen und kontinuierlichen Interaktion mit dem Publikum (das in der Stadt nicht arbeitete, sondern nur zur Unterhaltung angereist war; das im Vorprogramm durch Komiker, zunächst Sammy Shore, später Jackie Kahane, unterhalten wurde; das in geringem Abstand von der Bühne an gedeckten Tischen saß und von Kellnern mit Speisen und Getränken versorgt wurde) und 3. die unter diesen produktiv wie rezeptiv gleichermaßen günstigen Bedingungen entstehende Dynamik einer seriellen Ästhetik (vor allem auf Produktionsseite). Schon von Beginn an war die Veranstaltung – durch Elvis selbst, durch seinen Manager Colonel Parker, durch den Hotelbesitzer Kirk Kerkorian – als Beginn einer Konzertserie geplant, mit zwei jeweils einmonatigen Sequenzen im Jahr bei zwei Konzerten täglich: der Dinner Show um 20.15 Uhr und der Midnight Show um 24 Uhr. Dass nach dem überwältigenden Erfolg dieser Pilot-Staffel mit zweimal neunundzwanzig Shows die Serie verlängert wurde, war selbstverständlich. Niemand aber hätte 1969 vorausgesagt, dass Elvis im International bzw. im Las Vegas Hilton (wie es später hieß) schließlich 635 durchweg ausverkaufte Konzerte geben würde – nicht ohne Unterbrechungen durch Konzerte und Tourneen an anderen Orten, aber in einem kontinuierlichen Design, das den »Las-Vegas-Elvis« zu einer populären Popfigur, schließlich zum Klischee und dann zum tragikomischen Abziehbild werden ließ. Es war die bis dahin längste Konzertserie der Popkultur; überboten wurde sie erst von Bob Dylans »Never Ending Tour«. Die Spielregeln dieser Serie wurden vom ersten Konzert an entwickelt. Nach einigen anfänglichen Unsicherheiten stand das Grundschema fest; es wurde bis zum Ende beibehalten. Dieses Schema ist zunächst in den Blick zu nehmen, weil sich an ihm der erste der beiden hier relevanten Aspekte von Serialität beschreiben lässt: die zuverlässige, graduell sich entwickelnde Wiederholung einer

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etablierten Basisform, die mit zunehmender Hervorhebung ihrer selbst Züge eines Rituals gewinnt. (Dass die Konzerte in der Regel vor wechselndem, also stets neuem, wenn auch zunehmend informiertem Publikum stattfanden, erklärt, weshalb der für serielle Ästhetik wesentliche Aspekt der Variation hier vor allem auf Produktionsseite – durch die zunehmend pompöse Markierung des Wiederholten – wirksam wurde.)3 Danach ist der komplementäre Aspekt der Narration zu untersuchen, die sich innerhalb dieses Rahmens entwickelt, bis sie schließlich den Rahmen selbst zerstört.

4 Eine möglichst dichte Beschreibung der Abläufe, die Elvis Presleys Las-VegasKonzerte als wiederkehrendes Grundmuster mit selbstreflexiven Steigerungen organisieren, kommt nicht ohne eine Beschreibung ihrer kulturellen Semantik aus. Die Inszenierung einer »Larger than life«-Persona, die Konstruktion der Bühne, auf der sie sich ereignet, und die Interaktion mit dem Publikum vor dieser Bühne läuft – so ist zu zeigen – hinaus auf ein genuin kunstreligiöses Ritual mit patriotischer Färbung (wenn nicht Zielsetzung). Es ist konzentriert auf die herausgehobene einzelne Figur des Künstlers als eines Schamanenpriesters, entwickelt aber um diese Gestalt herum, von ihr ausgehend und durch sie geleitet, eine komplexe Kulthandlung, die im Medium der Musik und ihrer szenischen Performanz eine als heilig erlebte nationale Identität »Amerikas« inszeniert und im durch die Inszenierung gestifteten kollektiven Verschmelzungserlebnis zelebriert. In der Figur des Schamanen, die dieses Erlebnis im strikten Sinne des Wortes vermittelt, verkörpert sich dabei, mit zunehmender Tendenz im Laufe der Serie, das Vermittelte in solcher Weise, dass er selbst als die Personifikation dieses Heiligen erscheint, ja schließlich geradezu göttliche Dignität gewinnt und entsprechende Verehrung erfährt – kulminierend in dem Satz, den in der kurz vor seinem Tod aufgezeichneten Fernsehdokumentation Elvis In Concert ein ergriffener Zuschauer spricht, während das Bild Elvis’ landendes Flugzeug zeigt: »It is as if God has landed.« (Man könnte beinahe hinzufügen: »in his own country«.) Hier ist eine terminologische Zwischenbemerkung angebracht. Unter einem Schamanen verstehe ich im Folgenden (ohne dabei auf Einzelheiten dieses in Ethnologie und Religionswissenschaften umstrittenen Begriffs einzugehen) einen durch besondere Begabung und soziale Akklamation autorisierten priesterlichen Vermittler zwischen einer sozialen Gemeinschaft und einer Geisterwelt, zu der nur er in rituellen Handlungen und auf dem Weg der Ekstase 3 | Zum Verhältnis von serieller Überbietung und serieller Selbstreflexion siehe den Beitrag von Jahn-Sudmann/Kelleter im vorliegenden Band.

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Zugang erhält. Zur Ausübung dieses Rituals ist ein tranceartiger Zustand erforderlich, der jedoch kontinuierlich Kommunikation mit den Umstehenden ermöglicht. Unter psychischen und physischen Anstrengungen vermag der Schamane auf diese Weise Krankheiten zu heilen, überhaupt gestörte harmonische Verhältnisse wiederherzustellen. Als Vermittler nimmt er häufig eine markierte Stellung zwischen basalen sozialen Gegensätzen seiner Gemeinschaft ein, etwa zwischen männlichen und weiblichen Merkmalen. Wenn ich den Begriff hier versuchsweise auf Elvis’ Rollen und Tätigkeiten auf der Konzertbühne anwende, geschieht das zunächst nur per analogiam und in deskriptiv-typologischer Absicht. Der Begriff liegt aber auch in historischer Hinsicht nicht fern, weil Elvis sich selbst im Lauf der Konzertserie zunehmend auf schamanistische Traditionen Nordamerikas bezieht; darauf ist zurückzukommen. Hier wie dort schließen schamanistische Praktiken eine positive Bezugnahme auf christliche Traditionen – Gebete oder Gospel-Songs – keineswegs aus; zumindest diejenigen Merkmale, auf die es im Folgenden ankommt, betreffen Praktiken, nicht Dogmen.4 Wie also sieht das progressive Schema aus, das Elvis Presleys Las-Vegas-Ritual zugrunde liegt? Um mit dem Offensichtlichen und darum leicht Übersehenen anzufangen: Jedes der gut einstündigen Konzerte ist tatsächlich ausschließlich ein Konzert. Nachdem Elvis auf der Bühne erschienen ist, findet nur noch Musik statt. Anders als in vielen vergleichbaren Las-Vegas-Veranstaltungen gibt es keine Tanzvorführungen oder sonstige Showeinlagen. Damit steht allein der Sänger im Zentrum. Wenn es Tanzbewegungen gibt, so sind es die seinen, und sie begleiten seinen Gesang; wenn jemand komödiantische Bemerkungen macht oder Geschichten erzählt, dann nur er. Die mächtigen und auffallenden Grundpfeiler, die das Gerüst des Konzerts tragen, bestehen einfach in seinem Auf- und Abtreten, das aber eben keineswegs einfach, sondern zunehmend ritualisiert ist. Die Eröffnung des Konzerts wird, nach verschiedenen Experimenten, bald zur wichtigsten und auffallendsten (von Fernerstehenden daher auch am häufigsten verspotteten) Markierung von Serialität. Zugleich markiert es den Übergang aus der Welt des Alltags in das Ritual, buchstäblich einen »rite de passage«, der spätestens dann vollzogen ist, wenn Elvis »Welcome to My World« singt.5 Der Abschluss wird vorbereitet durch ebenfalls hoch ritualisierte Abschiedsgesten und vollzogen durch das »ite missa est« der Lautsprecheransage: »Elvis has left the building.« Die zwischen diesen beiden Grundpfeilern ausgespannte Struktur variiert, enthält aber bestimmte wiedererkennbare Ele-

4 | Einen guten Überblick über Begriff und Forschungsdiskussionen gibt Müller 2006. 5 | In Las Vegas hat Elvis diesen Song nur wenige Male präsentiert; durch die Aufnahme in das Programm des Hawaii-Konzerts 1973 hat er aber wenn nicht quantitativ, so doch qualitativ den programmatischen Status erhalten, auf den es hier ankommt.

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mente, deren (experimentierender) Wegfall durch das Publikum entschieden sanktioniert wird. Das Eröffnungsritual der Las-Vegas-Konzerte nimmt an Komplexität rasch zu, bis es sich spätestens 1971 zu der kunstreligiös-patriotischen Choreographie verdichtet, die dann weitgehend unverändert bleibt. Diese Entwicklung gibt ein Beispiel für Elvis’ inszenatorisches Genie.6 Die entscheidende Voraussetzung, auf der sie aufbauen muss, ist der Ort des Geschehens selbst. Las Vegas als der sprichwörtliche »Spielplatz Amerikas«, »America’s playground«, ist einerseits ein zentraler Ort der populären Unterhaltungsindustrie im Stadium ihrer vollständigen Etabliertheit (anders als die experimentellen populärkulturellen Szenen etwa in New York, in Memphis oder in San Francisco) und andererseits der Ort, an dem vieles zugelassen ist, was im Rest des Landes als verboten, ja als tabuisiert gilt: »What happens in Vegas, stays in Vegas.« Zu entwickeln für diesen Ort ist eine Kombination aus amerikanischer Mainstream-Musik, die den Künstler an diesen Ort anschließbar macht, ihn hier angemessen einführt, und zwar einerseits aus der amerikanischen Rock’n’Roll-Kultur, aus der er hervorgegangen ist, und andererseits aus einem Hollywood, das in seinen Spielfilmen die seichteste und langweiligste Seite der Unterhaltungsindustrie gezeigt hat, in der die ursprüngliche Energie der Youth Culture verbraucht scheint. Die gesuchte Kombination musikalischer und theatralischer Idiome muss ein tragfähiges Fundament abgeben für die Erscheinung eines Elvis, der aus allen Irrfahrten verklärt und vergrößert wiederkehrt. In dieser Figur und durch sie sollen die Konflikte, von denen die amerikanische Gesellschaft im Jahr 1969 zerrissen ist und die in der »nach Elvis« entstandenen avancierten Rockmusik reflektiert werden, versöhnt erscheinen. Wenn das Unternehmen gelingt, dann repräsentiert dieser Elvis die Erinnerung an und den utopischen Ausblick auf ein geheiltes Amerika. Bereits bevor er auftritt, fällt die Zusammensetzung des Ensembles auf. Denn auf der weitläufigen Showbühne ist alles, was die Zuschauer von einem Las-Vegas-Konzert erwarten, erstaunlicherweise verdoppelt. Es gibt zwei Chöre: ein Gospeltrio afroamerikanischer Sängerinnen, The Sweet Inspirations, die oft bereits im Vorprogramm aufgetreten sind, und ein männliches Gospelensemble, zunächst die Imperials, dann bis zum Schluss J. D. Sumner and The Stamps 6 | Die Urheberschaft an den einzelnen Bestandteilen der Konzertinszenierungen ist in der Kritik umstritten (das Ablaufschema hat Elvis vermutlich mit Charlie Hodge ausgearbeitet, die vieldiskutierte Adaptation von Strauß’ Zarathustra scheint sich sowohl aus einem Einfall seines Orchesterleiters Joe Guercio als auch aus seiner eigenen Vorliebe für die Filme Stanley Kubricks ergeben zu haben). Unbestritten ist aber die maßgebliche Rolle Elvis Presleys für Konzept und Durchführung der Konzerte. Von ihm gehen die meisten künstlerischen Anregungen aus, bei ihm liegt die Entscheidung über Vorschläge anderer, er nimmt konzeptionelle Änderungen vor usw.

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Quartet. Und es gibt zwei Instrumentalensembles: das an diesem Ort unfehlbar zu erwartende große Swingorchester (zunächst geleitet von Bobbie Morris, dann bis zum Schluss von Joe Guercio), das bereits im Übergang zwischen Vorprogramm und Elvis’ Auftritt gespielt hat, und eine Rock’n’Roll-Band. Sie erinnert an die Anfänge jenes Elvis Presley, dessen erste Welterfolge mit zwei akustischen Gitarren und einem Schlagbass eingespielt wurden (und die Elvis in seiner Begrüßung dann ausdrücklich ins Gedächtnis rufen wird), zeigt sich aber jetzt, 1969, in zeitgemäß modernisierter Version mit Elektro- und Rhythmusgitarre, Fenderbass, Schlagzeug und Klavier. Damit sind insgesamt rund fünfzig Personen auf der Bühne. Schon diese Zusammenstellung der Musiker lässt ein Programm erkennen. Es verweist einerseits auf ein biografisches Narrativ (»from rags to riches«) und suggeriert andererseits eine Synthese aus jenen Gegensätzen, die in der amerikanischen Öffentlichkeit des Jahres 1969 mit größter Härte aufeinanderstoßen. Das sind zunächst die Konflikte von Race und Gender, sichtbar bereits vor dem Erklingen des ersten Tons: Auf Elvis’ Bühne sind schwarz und weiß, weiblich und männlich verteilt auf zwei auch durch die Kostümierung unterschiedene Chöre, die aber im Lauf des Konzerts sicht- und hörbar kooperieren und harmonieren. Das Hinzukommen einer Sopranistin (Millie Kirkham, dann Kathy Westmoreland) verstärkt die weibliche Gruppe und schafft eine Art Geschlechtersymmetrie; dabei wird die Sopranistin in Elvis’ gutgelaunter Vorstellung der Musiker stets als Einzelne genannt (»The girl with the beautiful high voice is Kathy Westmoreland«), nicht als Mitglied der weiblichen schwarzen Gospelgruppe, neben der sie doch steht: die Differenz der Races bleibt gewahrt. Mit Beginn des Programms werden diese Konflikte auch hörbar, und sie werden hörbar durchgespielt. »Schwarze« und »weiße« Musiktraditionen werden aufgenommen und zugleich, quer dazu, die musikalischen Idiome einer älteren, etablierten Generation – Swing, Bigband Jazz, großorchestrale Unterhaltungsmusik – und die Musik der rebellischen Jugendkultur, die 1969 freilich schon sehr viel weiter gegangen ist und höhere Komplexität erlangt hat als der geradlinige Rock’n’Roll aus Elvis’ Anfängen. (Dass er sich selbst und seinen Fans schon historisch zu werden beginnt, macht die angestrebte Synthese der musikalischen Traditionen und Generationen leichter.) In der Eröffnungs-Choreographie und Programmfolge, die im Laufe der ersten Konzerte aus dieser Ausgangssituation entwickelt werden, wird nach und nach ein Konzept erkennbar; in monumentalen Songs wie »America the Beautiful« oder »An American Trilogy« wird es schließlich explizit formuliert.

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5 Die ersten Las-Vegas-Konzerte, von denen die meisten vollständig nur auf Bootlegs dokumentiert sind, zeigen den tastenden Beginn dieser Entwicklung.7 Während die Zuhörer an gedeckten Tischen plaudern und auf den Star warten, spielt das Orchester diskrete Swingmusik, die All-American Durchschnittsvariante eines gemäßigten Jazz. Mit dem Auftritt von Elvis wechseln Stil und Rhythmus jäh: Ein elektrisierendes Rock’n’Roll-Riff setzt ein und verharrt in der ostinaten Wiederholung ebendieses Auftakts, während Elvis über die Bühne geht, das Publikum begrüßt, sich eine akustische Gitarre geben lässt, die fast ausschließlich dekoratives, an die musikalischen Anfänge erinnerndes Requisit bleibt.8 Bei dem Riff, das Band und Orchester währenddessen spielen, handelt es sich unverkennbar um den Anfang von »Blue Suede Shoes«, Carl Perkins’ Hit von 1956, den Elvis damals nur auf einem Album einspielte und der nun als Erinnerung an seine und Perkins’ Anfänge im SUN-Studio in Memphis dient (dessen Besitzer Sam Phillips sich unter den Ehrengästen befindet). In dem Augenblick, in dem Elvis ans Mikrophon tritt und in das Ostinato der Band hinein die an diesem Ort beziehungsreichen Verse singt: »And it’s a-one for the money, a-two for the show«, ist der Star angekommen: Die Show beginnt. Es ist ein, wie die Aufnahmen zeigen, wirkungsvoller Einsatz. Und doch stimmt etwas daran noch nicht. Denn dieser Auftakt aktualisiert nur den »weißen« Teil des durch die Bühnenkonstruktion bereitgestellten Potentials: Auf Swing folgt ein noch ganz der Country Music verpflichteter Rockabilly-Song, und der geht überdies nicht aus dem Swing hervor, sondern steht in einem markanten Gegensatz zu ihm. An diesen beiden Stellen setzen darum Elvis’ Änderungsversuche ein. Zunächst experimentiert er mit dem Song. An die Stelle des Country-Klassikers setzt er eine ebenfalls aus seinem frühen Repertoire stammende Bluesnummer, bezieht sich also markant auf die afroamerikanische Tradition. Es ist seine Uptempo-Version von Big Arthur Crudups »That’s Alright Mama«; der »weiße« Rockabilly von »Blue Suede Shoes« wird in den mittleren Teil des Programms verschoben. Damit ist, zwischen Swingorchester und Blues, ein wesentlicher Teil der im Konzert auszuhandelnden Gegensätze bereits etabliert. Noch immer aber stehen beide Seiten als hörbare Gegensätze unversöhnt gegeneinander. Hier setzt 1971 die zweite wichtige Neuerung der Eröffnungssequenz an. Es ist die Ersetzung der orchestralen Swingmusik durch die pompöse Einleitung 7 | Die ersten beiden Konzerte vom 26. August 1969 sind auf dem von Ernst Mikael Jørgensen in Zusammenarbeit mit RCA herausgegebenen Label FTD: Follow That Dream erschienen. 8 | Zur Serialität des »Riff« als einer Konstituente des Blues und der Rockmusik siehe grundlegend Steinfeld 2000.

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(»Sonnenaufgang«) aus Richard Strauß’ Also sprach Zarathustra. Damit ist, in auffallender Nähe zum zeitgenössischen Glam Rock David Bowies, nicht nur eine neue Dimension der Monumentalisierung des Konzerts und des Sängers eröffnet (und eine Steilvorlage für Parodisten gegeben), sondern auch der entscheidende Schritt getan zur Inszenierung einer alle aufgerufenen kulturellen Konflikte einschließenden Synthese. Mit den von c’ über g’ zu c’’ aufsteigenden, zwischen Dur und Moll changierenden Fanfarenklängen des Orchesters wird so dramatisch wie nur möglich die europäische Bildungskultur aufgerufen (als gelte es, das Elvis-Konzert als popkulturelle Wagneroper zu inszenieren) – aber als eine bereits durch die amerikanische Kultur transformierte. So wie Nietzsches europäischer Übermensch nämlich auf Elvis’ Bühne in der Comic-Gestalt des amerikanischen Superman wiederkehrt, so muss man in Las Vegas 1971 Richard Strauß’ sinfonische Dichtung als amerikanische Filmmusik hören. Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey war im Vorjahr in die Kinos gekommen und hatte in seiner Eröffnungssequenz Strauß’ Musik auf erregende Weise neu gedeutet. Die solchermaßen selbst schon doppelt semantisierte Orchestermusik erklingt, während die Bühne in ein erwartungssteigerndes Halbdunkel getaucht ist. Elvis’ Erscheinen, mit raschen Schritten aus der Seitenkulisse heraus, markiert nun exakt den Augenblick des Übergangs, der Transformation, der Metamorphose: Mit dem Hellwerden der Bühne werden die Strauß’schen Pauken zu afrikanischen Trommeln, die ihrerseits übergehen ins elektrisierende Riff von »C.C. Rider«, der vormals melancholisch getragenen und introvertierten Bluesnummer der schwarzen Tradition, die erst der junge Elvis in die jetzt von der Rockband aufgenommene Rock’n’Roll-Nummer verwandelt hatte: ein peitschendes, durch die später einsetzenden, Strauß’ Grundmotiv vereinfacht wiederaufnehmenden synkopierten Trompetenfanfaren (die von der Quinte über die Sext zur Oktave abwechselnd auf- und absteigen) noch einmal gesteigertes Ostinato von Rockband und Swingorchester im Zusammenspiel (dieses Riff wurde intern »Hail Elvis« genannt; der Titel erscheint aber nicht in Programmen). In dieses Zusammenspiel, das beliebig ausgedehnt werden kann, ohne seine Spannung zu verlieren, taucht dann – je nachdem wie lange es dauert, bis der Sänger sich allen Seiten des Publikums gezeigt und seine akustische Gitarre ergriffen hat (eine als Pose ausgestellte Pose) – Elvis’ Stimme ein, mit dem erregten und melodiösen Ruf »Oh see – C. C. Rider«. Seine Worte nimmt schließlich der wie im pfingstkirchlichen Gottesdienst einsetzende Gospelchor hypnotisch wiederholend auf. Damit ist in einer einzigen, ununterbrochenen Nummer, die beliebig zu kürzen oder auszudehnen ist, ein künstlerisches Programm formuliert: eine Translatio imperii von der Bildungs- zur Populärkultur, die ihrerseits, und zwar wesentlich auch durch Elvis’ eigene Musik seit seiner ersten Einspielung von »C.C. Rider«, afroamerikanische und europäische Traditionslinien ver-

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schmilzt. Serialität gehört zu den herausgehobenen Distinktionsmerkmalen dieses Prozesses. Denn der linearen Logik von Strauß’ Zarathustra tritt mit dem zum Rock’n’Roll-Song gewordenen Blues die repetitive Variationsfigur des Riff gegenüber. Je länger Elvis’ Konzerte sich fortsetzen und je serieller sie damit erscheinen, desto deutlicher lässt sich diese markante Eröffnung als Re-Entry wahrnehmen: Die Serialität, die das Ganze organisiert, tritt im auffallendsten seiner Bestandteile wieder dominierend hervor. Dieses Re-Entry wird sich im Laufe des Konzerts mehrfach wiederholen, etwa in der – vielleicht dem Vorbild von Lennon und McCartneys »Hey Jude« folgenden – variierenden Wiederholung des Refrains am vermeintlichen Ende von »Suspicious Minds«.9 Nicht weniger als achtzehn Mal wiederholt Elvis in der auf dem Las-Vegas-Album On Stage erschienenen Fassung die Schlussstrophe »I’m caught in a trap…«: serielle Ästhetik als gleichermaßen pathetische wie selbstreferentielle Steigerung. Von diesem Beginn an hat das folgende Konzert vor allem die Aufgabe, das eingangs bereitgestellte Material zu entfalten. Gleich der zweite Song zeigt, wie das geht, und zwar abermals mit der Entwicklung zweier Versionen in den frühen Konzerten. Elvis beginnt a capella in einer langsam aufsteigenden Linie ein ruhiges »Well – well – well« zu singen, es eine Oktave tiefer und noch langsamer zu wiederholen, gleichsam einzutauchen in die Gospeltiefe des afroamerikanischen Amerika. Die männlichen Gospelsänger, gefolgt von einer Bluesgitarre, fallen halblaut ein; in aufsteigenden Melismen wird der »Well – weeell«-Ruf variiert. Weit über eine Minute hinaus kann diese Spannung gehalten werden, dann bricht aus dem sakralen Gospel-Anfang die sexuelle Soul-Erregung von Ray Charles’ »I Got a Woman« hervor – und erst in der zweiten Version geht es über den Gospel-Standard »Amen« wieder ins Sakrale zurück. Damit wird der religiös-kultische Ursprung der seriellen Inszenierung in Erinnerung gerufen: Die hypnotische Wiederholung des »Amen«-Rufs, in den das Publikum wie im Gottesdienst einstimmt, ähnelt derjenigen der Silbe »See« im ersten Song – allerdings nur, bis das religiöse Riff plötzlich abreißt und eine kurze und explosive Reprise von »I Got a Woman« die Performance beendet. Mit der Einführung der Zarathustra-Eröffnung geht eine allmähliche, aber signifikante Veränderung des Programms einher. Gegenüber den riffbetonten Rocksongs wird das Gegengewicht der linearen, auf opernhaft-pathetische Steigerung zielenden Songs verstärkt (vom aus »O Sole Mio« abgeleiteten »It’s Now or Never« über Sinatras »My Way«). Dabei gewinnen im Lauf der Jahre die großen Gospel-Songs, in denen religiöse und profane Erregungszustände im Zeichen kirchlich-gottesdienstlicher Ekstase verschmelzen, so sehr an Bedeutung (»You Gave Me a Mountain«, »How Great Thou Art«), dass Elvis zeitweilig daran dachte, sein Programm ganz auf Gospels zu konzentrieren. In jedem 9 | »Hey Jude« wurde von Elvis 1969/70 ebenfalls im Studio und im Konzert gesungen.

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Fall entspricht die beträchtliche Erweiterung des musikalischen Spektrums den Vorgaben der monumentalen Ouvertüre. Explizit zu sich selber kommt das Programm in dem Augenblick, in dem die musikalische Synthese – als affektive, auf Miterleben zielende Ausdrucksform sozialer und politischer Synthesen – die Erinnerung an den amerikanischen Bürgerkrieg thematisiert, die mythisch gewordene Urszene von Zerfall und Vereinigung einer Nation. »An American Trilogy« heißt der Song, den Mickey Newbury kurz zuvor aus der Südstaaten-Hymne »Dixie«, der Nordstaaten»Battle Hymn of the Republic« und dem traditionellen Gospelsong »All My Trials« zusammengesetzt hatte. Die dramatisch inszenierte und in Elvis’ Performance theatralisch ausagierte Dynamik des Songs, der durch den Schmerz von Trennung und Tod hindurch ins Licht einer religiös überhöhten nationalen Einheitsutopie führt, nimmt in äußerster Verdichtung die dominierenden semantischen Gegensätze des gesamten Konzerts auf und löst sie auf im verheißungsvollen Ausblick »All my trials, Lord, soon be over«. Triumphal wird am Ende das »Glory, hallelujah!« wiederholt. »When Elvis sings American Trilogy«, so hat Greil Marcus kommentiert, »he signifies that his persona, and the culture he has made out of the blues, Las Vegas, gospel music, Hollywood, schmaltz, Mississippi, and rock’n’roll, can contain an America you might want to conjure up« (zit. Victor 2008: 15).

6 Der Körper des Sängers, der dies singt und es singend in äußerster Emotionalität ausagiert, ist kostümiert. Dieser Umstand fällt in den ersten Konzerten noch nicht als ungewöhnlich auf, entwickelt aber bereits ab der zweiten Konzertstaffel im Januar 1970 ein signifikantes Eigenleben. Während des ersten Konzerts im Juli 1969 trug Elvis einen zweiteiligen schwarzen Anzug, der Eingeweihte an ein Karate-Gi erinnern konnte. Tatsächlich hatte ihn der Modeschöpfer Bill Belew, der fortan (ab 1972 zusammen mit Gene Doucette) exklusiv für Elvis arbeitete, mit Blick auf Elvis’ private Vorliebe für Karate und andere Martial Arts entworfen. Aus dieser Ausgangsidee aber entwickelte sich jener Kostümeinfall, der Elvis’ Auftritte von nun an von allem unterschied, was Las Vegas je gesehen hatte. Während die hier etablierten Entertainer gewöhnlich mehr oder weniger konservative oder flamboyante Anzüge trugen, steckte Elvis Presley in allen Konzerten seit dem 26. Januar 1970 in einem Kostüm, das das Modell des Karate-Gi transformierte und variierte: dem Jumpsuit. Für die serielle Inszenierung der Konzerte hat dieses engsitzende, einteilige, mit symbolischen Zeichen und Figuren reich ornamentierte Kostüm (von dem über hundert unterschiedliche Varianten entworfen wurden) wesentliche Bedeutung. Es erscheint nicht mehr lediglich als Kleidungsstück, das einfach

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an- oder abgelegt werden kann. Der Sänger – dieser durch Strauß’ Zarathustra angekündigte Übermensch und Superman – trägt es nicht eigentlich, sondern er ist es. Und er ist es, bewusst und programmatisch, als Schamane. Die Kräfte der Tiere, die auf dem Jumpsuit abgebildet sind – Tiger, Adler, Löwe, Schlange, Phönix, Drache, Pfau –, gehen ebenso auf ihn über wie die durch abstrakte spirituelle Symbole vergegenwärtigten Kräfte: Regen- und Sonnensymbole, Schneeflocke, Feuer, Auge. Ikonographische Vorbilder fanden Belew und Doucette, von Elvis dazu aufgefordert, vorwiegend bei schamanistischen Überlieferungen Nordamerikas, von dort aus dann auch in anderen, vor allem asiatischen Mythologien: Elvis zeigt sich als Medizinmann der Populärkultur. Der amerikanische Adler etwa, der den während des Hawaii-Konzerts getragenen Jumpsuit schmückt und der als »Aloha Baldheaded Eagle« berühmt wurde, ist in der stilisierten Darstellung zuerst als ein indianischer Adler markiert. Er verweist ebenso auf Traditionen der amerikanischen Ureinwohner wie der »Peacock Suit«, der »Snake Suit«, der »Thunderbird Suit« und der »Mexican Sundial Suit«. Elvis’ gelegentliche Hinweise auf entfernte indianische Vorfahren bekräftigen diese Bezüge autobiografisch. Die weiteren Accessoires wie Gürtel, Ringe, Armbänder und Halsketten, die Elvis und zunehmend auch einige der Musiker tragen, zeigen entsprechende Zeichen und erweitern die spirituelle Akzentuierung in immer komplexeren und enigmatischeren Zeichensystemen. Das Kostüm als zweite Haut: Die Metamorphose, zu der der musikalische Auftritt sich entwickelt, umfasst auch den Körper des Schamanen, schließt ihn ein und verwandelt ihn für seine Reise.10 Die Vollendung der Metamorphose, die finale Steigerung des Jumpsuits, ist das Cape, das dem Sänger in der Zeit um 1972/73 erst am Ende des Konzerts angelegt wird, zum letzten Song. An dessen Ende kniet Elvis in einer pathetischen Geste dicht am Bühnenrand nieder – oft nacheinander an mehreren Stellen, so dass alle Zuschauer ihn in dieser Pose frontal sehen können –, breitet triumphal die Arme aus und öffnet damit sein (ebenfalls von Belew oder Doucette entworfenes, die Gestaltung des Suits aufnehmendes) Cape, als seien es Flügel. Im Hawaii-Konzert wird diese Assoziation dadurch verstärkt, dass es tatsächlich gewaltige, wiederum indianisch stilisierte Adlerflügel sind, die man über die ganze Breite der Rückenansicht eingestickt sieht.11 Im Augenblick dieses 10 | Dazu ausführlich der von Tommy Edvardsen und Atle Larsen herausgegebene Prachtband Elvis Presley: Fashion For A King. – Der Erfolg gab dem Versuch recht: Im Fankult gewinnen die wechselnden Designs und Symbole der Jumpsuits und Schmuckstücke seit den frühen 1970er Jahren stetig an Bedeutung; ihnen werden etwaige Botschaften über Elvis selbst, aber auch über die Welt und das Leben abgelesen. 11 | Am Ende der öffentlichen Generalprobe stellt Elvis dieses Symbol besonders nachdrücklich aus, wenn er mit dem Rücken zum Publikum niederkniet und das Cape ausbreitet.

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Triumphes ist der Schamane im Vollzug seines Rituals vollends in einen neuen Zustand übergegangen, buchstäblich »larger than life«: größer und machtvoller als der Mensch, der er vormals war und anschließend wieder sein wird. In derselben Weise zeigt Elvis’ Bühnen-Umgang mit Bewegungsabläufen aus dem Karate während der ersten beiden Konzertstaffeln den Übergang von dekorativen Einfällen zur schamanistischen Überhöhung, zum kunstreligiösen Ritual. Die Karateübungen, aus denen der Jumpsuit-Einfall hervorgegangen ist, werden selbst bald ein unentbehrlicher Teil der Bühnenshow – ein exzentrischer Einfall, und eine der wesentlichen Erweiterungen des Konzepts.12 Wie die Religionswissenschaft die sakrale Bedeutung einer Kerze in ihrer Repräsentation des kontrollierten Feuers begründet sieht, so lässt sich in der choreographisch vorgeführten Kampfkunst die Kontrolle des gewaltbereiten und expansiven Körpers beobachten: eine Ausweitung und Steigerung der symbolischen sexuellen Interaktion, als die das Publikum und der Sänger selbst die Elvis-Konzerte schon seit den ersten Anfängen beschrieben haben. Die in tänzerische Bewegungen überführte Körperaggression repräsentiert bedrohliche Körperkraft und deren sichere Beherrschung zugleich. Sie gibt damit den Liebesliedern – den sexuell unterlegten wie den aggressiv konnotierten – ebenso eine physische Dimension wie den Evokationen von Gewalt in der »American Trilogy« oder im Song von »Polk Salad Annie«. Auch der Gospelchor wird in diese manchmal höchst effektiven, manchmal in die Lächerlichkeit abgleitenden Szenen einbezogen. In Konzerten von 1970 wiederholt er Elvis’ Kampfrufe in »Polk Salad Annie«, bis er selbst gar nicht mehr singt, sondern nur noch seinen instrumentell begleiteten Schaukampf ausführt. Schon in den frühen Konzerten geht die Karate-Andeutung in die Eröffnungssequenz ein und bildet dort den Schluss: in der Kampfpose erstarrt, beherrscht der Triumphator seine Bühne.

7 Ziel der Abschlussrituale ist es, das Publikum an diesem Körper des Sängers teilhaben zu lassen. Sie bestätigen und bekräftigen damit in als unüberbietbar inszenierter Konsequenz den Vollzug jener Synthese, die in der Eröffnung angekündigt worden ist. Auch wenn es hier wie dort Gestaltungsvarianten gibt, stehen die rituellen Grundzüge früh fest. Was zu Beginn Forderung und Ankündigung war, wird nun in glücklich entspannter Gelassenheit als Erfüllung gefeiert. Die Versöhnung der eingangs etablierten Gegensätze hat stattgefunden, im musikalischen Programm und der sie theatralisch ausagierenden schamanisti12 | Am deutlichsten stellt der »Mad Tiger Suit« die Beziehung zwischen Martial Arts und Kostümierung her: »Tiger« lautete Elvis Presleys Karate-Name.

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schen Performance ebenso wie im ekstatischen Gemeinschaftserlebnis. In vielen Selbstkommentaren hat Elvis die Dynamik dieser Konzerte als Überbietung eines Liebesaktes beschrieben. Nirgends kommt dieser Aspekt so deutlich zum Ausdruck wie in den Abschlussritualen. Denn die für sich genommen womöglich banal und konventionell erscheinende Liebeserklärung des Sängers an das Publikum, die der letzte Song stets formuliert (mit wenigen Ausnahmen »Can’t Help Falling in Love With You«), wird begleitet von zeremoniellen Handlungen, in denen sich die Vereinigung des Getrennten auch physisch realisiert. Schon die pathetische Cape-Geste, die ja zunächst nur den in seinen letzten Verklärungszustand übergegangenen Schamanen präsentiert, erreicht ihr kultisches Ziel erst dort, wo das Cape in einer großen Geste ins Auditorium hinein geschleudert wird; dabei ist gerade der immense materielle Wert des mit Edelsteinen besetzten und einmaligen Objekts ein wesentlicher Teil dieser Verschmelzung als Ergebnis einer Verausgabung: Elvis verschenkt, wirft fort, was man vernünftigerweise nicht aus der Hand gibt. Praktische Erwägungen dürften dazu geführt haben, dass dieser Akt, der am Ende des weltweit ausgestrahlten Hawaii-Konzerts 1973 einen effektvollen Höhepunkt markierte, mitsamt dem Cape selbst bald wieder aufgegeben wurde. An seine Stelle treten Rituale, die weniger pathetisch (und weniger kostspielig), aber als Ausdruck physischer Vereinigung sehr viel triftiger sind. So gehört bereits in den frühen Konzerten zur Interaktion zwischen Sänger und Publikum der Austausch von Gaben. Wie Zuschauer und vor allem Zuschauerinnen nicht nur die obligatorischen Dessous, sondern auch Puppen oder Tücher auf die Bühne werfen, so wirft der Sänger, anfangs nur aus dem Augenblick heraus, ein Taschen- oder Halstuch ins Publikum. Aus diesen eher zufällig über das Konzert verteilten kleinen Szenen entwickelt sich der Kern des Abschlussrituals. Bereits in einem frühen Song hat Elvis, gleichsam präludierend, Küsse an zur Bühne drängende weibliche Fans verteilt und sich mit zu ihm emporgehaltenen Tüchern die Stirn abgetupft. In der entfalteten Konzert-Choreographie wird das abschließende »Can’t Help Falling in Love With You« dann fast gar nicht mehr als Lied gesungen, sondern nur noch gerade soweit angedeutet, dass für die Hörer das Gemeinte wiedererkennbar wird. Dafür gilt nun die ganze Aufmerksamkeit der physischen Hinwendung zu einer beträchtlichen Zahl einzelner Zuschauer (um deretwillen Elvis eigens die Bühne durch einen langen Steg ins Auditorium hinein hat verlängern lassen). Durch einen Kuss, oft auch nur durch Berührungen auf Scheitel oder Stirn erteilt er zunächst gleichsam seinen Segen, um dann vor den Augen des Publikums Berührungsreliquien in Serie herzustellen und zu verteilen: Während er am Bühnenrand entlang geht und dabei in der einen Hand das Mikrophon hält, reicht ihm sein Assistent Charlie Hodge von einem vorbereiteten großen Bündel, das er über dem Arm trägt, ein Halstuch nach dem anderen. Elvis berührt damit kurz Gesicht oder Hals, so dass es wenn nicht buchstäblich, so doch symbolisch

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mit seinem Schweiß getränkt ist, und reicht oder wirft es unter die Zuhörer. Das geschieht in beträchtlicher Geschwindigkeit und Effektivität und löst oft ekstatische Reaktionen aus (zu sehen etwa in der CBS-Dokumentation Elvis in Concert, 1977). Am verklärten Körper des Schamanen erhält seine Gemeinde durch seine Schweißtücher Anteil; zusammen mit den begleitenden Worten der Liebeserklärung wird der Abschluss des Konzerts zum sakramentalen Akt. Dann verlässt der Sänger die Bühne so, wie er gekommen ist: unter den Klängen des ostinat wiederholten Riffs von »C.C. Rider«. Es endet erst in dem Augenblick, in dem aus den Lautsprechern die Mitteilung kommt: »Elvis has left the building.«

8 Dies alles trägt, so überraschend es klingen mag, auf weite Strecken spielerische Züge, die im Lauf der Konzertserien noch zunehmen und auch zunehmend ausgestellt werden. Selbstreferentielles Spiel aber hebt das hochgetriebene rituelle Pathos nicht auf, sondern stärkt im Gegenteil dessen populärkulturelle Glaubwürdigkeit; es ist geradezu Bestandteil dieses besonderen Rituals. Das Spiel ist humorvoll, aber keineswegs ironisch. Die gesprochene oder anstelle der richtigen Textzeile gesungene Bemerkung, dass der engsitzende Jumpsuit hoffentlich nicht reiße; der komische Seufzer der Erschöpfung am Ende einer Bravourarie; das stereotype und jedes Mal wieder gleich herzliche Kompliment an »the best audience I ever had«: Scherze wie diese erzeugen eine Verbindung mit dem Publikum, das an die Stelle vergötternder Bewunderung das herzliche, warmherzige, manchmal zärtliche Einverständnis eines Liebesspiels setzt. So wie die Begrüßung »Hello, I’m Johnny Cash« (oder irgendein anderer Musiker oder Schauspieler, das Spiel wird mit wechselnden Namen immer wiederholt) die selige Wiedererkennung des Einen, des Unverwechselbaren bestätigt, so trägt auch jedes bereitwillige Eingehen auf Publikumseinwürfe zur Konstituierung der erlebten Gemeinschaft bei: Elvis reagiert schlagfertig auf Zwischenrufe, kommentiert Geschenke, die ihm zugeworfen werden, setzt sogar eine große Gorillapuppe, die eine Fangruppe ihm auf die Bühne schiebt, in deren Mitte und improvisiert den nächsten Song um sie herum. Derartige Spiele des Sängers im Umgang mit seinem eigenen Material und Interaktionen zwischen ihm und dem Publikum variieren die Serie, unterbrechen sie aber nicht: Sie sind Elemente konstanter Fortsetzung. Das gilt auch für die unterschiedliche Auswahl und Anordnung der Songs von Show zu Show und von Saison zu Saison, die stets vorsichtig verfährt, wenn es darum geht, Songs innerhalb des Programms von einer Position auf eine andere zu verschieben oder durch ähnliche zu ersetzen. Grundlegende Veränderungen werden auf diesem Wege nur ganz langsam und sukzessive eingeführt.

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Gerade Elvis’ Umgang mit Songs, denen er längst überdrüssig geworden ist (etwa »Love Me Tender« und »Are You Lonesome Tonight«) zeigt, wie stark er an die Publikumserwartungen gebunden bleibt: Er lässt die Songs nicht fallen, sondern transformiert sie zu komischen Nummern, etwa indem er nach dem voreilig bejubelten Instrumentalvorspiel achselzuckend erklärt: »That’s it« oder Textzeilen zu Nonsensversen entstellt. Er zieht das Publikum gleichsam gegen die Songs auf seine Seite; im Lachen stellt sich das Einverständnis wieder her. Die basale Struktur der Konzerte bleibt bei fast allen derartigen Kapriolen dieselbe. Was geschieht, wenn sie angegriffen wird, zeigt sich in einer Art experimenteller Gegenprobe: Im ersten Sommerkonzert des Jahres 1974 versucht Elvis, des Zarathustra müde, eine neue Eröffnungssequenz und streicht die meisten Reprisen seiner frühen Hits. Beide Änderungen werden vom Publikum nicht mit hinreichender Emphase aufgenommen und deshalb sogleich wieder fallengelassen. Können sich aus einem solch übervorsichtigen Beharren überhaupt Züge einer seriellen Narration entwickeln?

9 Die nächstliegende Antwort auf diese Frage wäre der Hinweis auf die von den Las-Vegas-Konzerten ausgehenden Auftritte an anderen Spielorten und die wiederum daraus hervorgehenden Tourneen, die bis zu Elvis’ Lebensende mit den Las-Vegas-Konzerten alternieren und in bestimmter Hinsicht auch konkurrieren. Schon ihr erster Anlass ergab sich aus der Erneuerungsdynamik des Seriellen: 1973 hat der Las-Vegas-Zarathustra von der fortwährenden Wiederkunft des Gleichen genug. An die Stelle des Rituals versucht er das Ereignis zu setzen, an die Stelle der Serie das singuläre Werk. Spektakulär gelingt das – nach Konzerten u.a. im Houston Astrodome 1970 und im Madison Square Garden 1972 – im selben Jahr mit dem Konzert Aloha from Hawaii, das, teils über Satellit übertragen, teils in Aufzeichnungen ausgestrahlt, weltweit von mehr Menschen gesehen wird als die Mondlandung (und das nebenbei auch die Grenzen des rituell affirmierten Amerika ausschreitet). Aber auch die weniger sensationsträchtigen Tourneen durch Teile der USA entautomatisieren die gewohnten Abläufe schon durch den permanenten Wechsel der Spielorte. »This happens once in a lifetime«, sagt eine Stimme durch die Saallautsprecher vor Beginn der Show, bevor sie an die Ordnungsregeln erinnert (zu hören in der Dokumentation Elvis On Tour); und fast dasselbe schärft Elvis selbst seinen Mitspielern vor dem Konzert ein: »It’s a new crowd out there, a new audience. And they haven’t seen us before. So it’s gotta be like the first time we go on.« Jedes Mal ist das erste Mal: aus dieser einfachen Tournee-Regel könnte sich, in der Abfolge der Stationen und dann der einzelnen Tourneen über die Jahre hinweg, ein Road Movie ergeben.

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Das aber geschieht nicht. Und es geschieht aus leicht einsehbaren Gründen nicht. Nicht nur ist die Einmaligkeit für viele Zuhörer schon dadurch relativiert, dass sie dem König auf den Reisen durch sein Reich folgen – wohingegen die Las-Vegas-Konzerte mit einem allabendlich neuen Publikum zu tun haben, nur eben im selben Konzertsaal –, sondern in beiden Fällen bleibt Fortsetzung auf die Ausbalancierung von Ereignishaftigkeit und Wiederholung angewiesen. Am Ablauf des Rituals ändert sich deshalb trotz der wechselnden Spielorte nur so viel, wie es den ausführenden Personen und Institutionen profitabel oder notwendig erscheint (siehe etwa die für die TV-Ausstrahlung notwendigen Straffungen des Hawaii-Konzerts). Am Ende überwiegt die Reproduktion lokaler oder volkskultureller Bindungen oft gegenüber dem populärkulturellen Spiel: Selbst die Begleitumstände der Shows, die Begrüßungen durch Bürgermeister und Fanclubs, die Flughäfen und Hotels, wiederholen sich auf ermüdende Weise. Der Schamane geht auf Wanderschaft, aber er bleibt der Schamane. Weil sein Ritual immer von Neuem durchgespielt werden muss, um immer von Neuem seine heilende, seine Heils-Wirkung, zu entfalten, bleibt seinen Tournee-Konzerten der Eintritt in die Werkkultur vorenthalten. 635 Konzerte umfasst die Serie der Konzerte in Las Vegas; 97 analog aufgebaute Konzerte am Lake Tahoe in Nevada (im Sahara Tahoe Hotel & Casino) kommen zwischen 1971 und 1976 dazu, außerdem 382 Konzerte auf Tournee quer durch die USA und neun weder in eine ortsfeste Konzertserie noch eine Tournee gehörende special concerts in Houston, auf Hawaii sowie in Detroit und Pontiac. Mindestens 1.123 Konzerte hat Elvis Presley zwischen dem 31. Juli 1969 und dem 26. Juni 1977 gegeben.13 Was sich in dieser Zeit als erzählbares Geschehen ereignet, ergibt sich nicht aus äußeren Umständen, sondern aus Veränderungen im Zentrum des Rituals, das hier beschrieben worden ist: im Körper des Künstlers.

10 Von Beginn an steht die Präsenz des Körpers im Zentrum der Konzerte. Die Körperlichkeit der Stimme ist es, die von Fans und Kritikern gleichermaßen bewundert wird. Der Körper wird im Lauf des Rituals vor den Augen des Publikums vom Ursprung der Stimme zum Akteur der zeremoniellen Karate-Bewegungsabläufe. Er wird durch Kostüm und Accessoires mythisch überhöht und verklärt, kulminierend in der finalen Metamorphose unter den entfalteten Flügeln des Capes. Am Körper erhalten die Zuschauer durch Berührung 13 | Zu Lake Tahoe vgl. McCasland/Krein (2008: 5); zu den Konzert-Tourneen Edvardsen/Larsen (2011: 11). Insgesamt variieren die Angaben zwischen 1.123 und 1.126; manche Zählungen kommen sogar auf 1.150 Konzerte.

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und Berührungsreliquien physischen Anteil. Veränderungen, die mit diesem Körper vor sich gehen, affizieren Beschaffenheit und Ablauf des Rituals. Die Tragweite dieser Veränderungen ist größer als in dem vertrauten Fall, dass die Hauptdarstellerin einer Daily Soap schwanger wird oder der Held einer Sitcom sich einer Entziehungskur unterziehen muss. Denn hier, im schamanischen Pop-Ritual, hat der Körper des Künstlers sakrale Bedeutung erlangt; seine Veränderung macht nicht nur Anpassungen im Drehbuch erforderlich, sondern verändert die rituelle Konzeption selbst. Es ist hier nicht der Ort, die ausufernden Debatten und Analysen zu Elvis Presleys Gesundheitszustand in seinen letzten Lebensjahren zu referieren, die Aufschwünge und Abstürze nachzuzeichnen oder zu entscheiden, wie weit sie aus angeborenen physischen Schwächen oder aus Medikamentenmissbrauch resultierten. Es genügt festzuhalten, dass – soweit ich sehe – alle Erzählungen über die künstlerische Entwicklung des späten Elvis sich als Erzählungen von seinem Körper konstituieren, von Fanberichten während der Tourneen über Bücher wie Red Wests und Dave Heblers skandalträchtigem Elvis: What Happened? von 1977 (und den Reaktionen von Elvis’ Management) bis zu Peter Guralnicks unübertroffener Biografie, deren zweiter Band auf 760 Seiten The Unmaking of Elvis Presley erzählt. Immer wieder wird in diesen Erzählungen die Kunstkritik zum medizinischen Bulletin – und umgekehrt. Wie unmittelbar körperliche Veränderungen tatsächlich die spezifische Kunstübung berühren, um die es hier geht, wird deutlich, wenn man die Einsatzformen des Körpers in ihr bedenkt. Der aufgeschwemmte Leib des Kranken wird vom Jumpsuit nicht mehr überhöht und verklärt, sondern steht in einem tragischen oder komischen Gegensatz zu ihm: Der Körper widersetzt sich dem Kostüm. Der schwerfällig gehende oder schwankende Schamane ist nicht mehr imstande, die Kampfgesten der Martial Arts auszuführen. Wo die Bewegungen schmerzhaft werden, wird auch der physische Kontakt mit Zuhörern eingeschränkt; wo die Sehkraft nachlässt, reduziert sich der Austausch mit dem Publikum. Andererseits können sich aus denselben Beeinträchtigungen neue und nicht geplante Effekte ergeben: Der Körper, der eben noch kaum aufrecht zu halten war, bringt unverhofft einen Schmerzensschrei hervor, der die Eröffnung eines Songs wie »Hurt« für die Hörer zur physischen Schockerfahrung macht. Der über dem Klavier beinah Zusammengesunkene wächst in einer sichtbaren Kraftanstrengung stimmlich über sich hinaus; was vormals ein gespielt komischer Seufzer war, wird nun zum Ächzen des sich Überwindenden. Aus dem seriellen Schema heraus entwickelt sich so, innerhalb eines einzelnen Konzerts und mehr noch in ihrer Abfolge, ein zweites, gegenüber dem Versöhnungs- und Verschmelzungs-Ritual neues Drama: das Drama des Künstlers und seines Körpers, das Drama einer dem sich entziehenden Körper abgezwungenen Kunstanstrengung. So wird der Tourneebericht zur Fortsetzungsgeschichte.

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Dabei sind die Erzählschemata, denen diese Geschichte in unterschiedlichen Versionen folgt, in weiten Teilen unvereinbar. Weithin dominiert das »Rise and fall«-Narrativ; aber auch das entgegengesetzte, das Phönix-Modell, findet sich in vielen Varianten (und kann Aspekte des Opfers einschließen). Und natürlich bleibt jederzeit eine Darstellung möglich, die, wie Ernst Mikael Jørgensens musikgeschichtliche Pionierarbeiten, weder eine steigende noch eine fallende, sondern eine Zickzacklinie zeigt. Mit dem Körper geht die Serie zu Ende, die diesem Körper so viel abverlangt hat. Im Dezember 1976 sang Elvis Presley zum letzten Mal in Las Vegas, und er ließ das Publikum laut und deutlich wissen: »I hate Vegas.« Am 26. Juni 1977 gab er sein letztes Tournee-Konzert, in Indianapolis, Indiana; einer der stärksten und konzentriertesten Auftritte seiner späten Jahre. Als er am 16. August tot in seinem Badezimmer aufgefunden und ins Krankenhaus transportiert wurde, kam allen Kommentatoren der nächstliegende Satz in den Sinn. Elvis had left the building. Es war der endgültige Schlusspunkt des Rituals, es war, am Ende der letzten Folge, der schwarze Bildschirm. Für wertvolle Hinweise und Auskünfte danke ich Petra Münster (Mainz).

L ITER ATUR Detering, Heinrich. »Kunstreligion und Künstlerkult. Anmerkungen zu einem Konflikt von Schleiermacher bis zur Moderne«. Schleiermacher-Tag. Eine Vorlesungsreihe. Hg. Günter Meckenstock. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, 179-200. Edvardsen, Tommy und Atle Simen Larsen. Elvis Presley: Fashion For A King. Oslo: FTD, 2011. Guralnick, Peter. Careless Love: The Unmaking of Elvis Presley. Boston: Back Bay, 1999. Jørgensen, Ernst Mikael. Elvis Presley: A Life in Music. The Complete Recording Sessions. New York: Ernst Jorgensen, 1998. Jørgensen, Ernst Mikael und Peter Guralnick. Elvis Day by Day: The Definitive Record of His Life and Music. New York: Ballentine, 1999. Lüthy, Michael. Andy Warhol: Thirty Are Better Than One. Frankfurt a.M.: Insel, 1995. Marcus, Greil. Mystery Train: Images of America in Rock’n’Roll Music. New York: Plume/Faber & Faber, 52008. McCasland, Sue und Joseph A. Krein. Best Kept Secret: Elvis Live at Del Webb’s Sahara Tahoe. O. O.: Praytome Publishing, 2008. Müller, Klaus E. Schamanismus: Heiler, Geister, Rituale. München: Beck, 32006.

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Plasketes, Georges. Images of Elvis Presley in American Culture, 1977-1997: The Mystery Terrain. Binghamton: Haworth, 1992. Sharp, Ken. Elvis, Vegas ’69: The Story of the King’s Return to the Concert Stage. Chicago: JAT, 2009. Skar, Stein Erik und Pål Granlund. Elvis: The Concert Years 1969-1977. Oslo: FTD, 1997. Steinfeld, Thomas. Riff: Tonspuren des Lebens. Köln: DuMont, 2000. Tunzi, Joseph A. Elvis Concerts. Chicago: JAT, 2008. Victor, Adam. The Elvis Encyclopedia. New York: Overlook Duckworth, 2008. West, Red, Sonny West und Dave Hebler (zusammen mit Steve Dunleavy). Elvis: What Happened? New York: Ballantine, 1977. Filmmaterial: Elvis: ’68 Comeback Special [NBC, 1968]. Deluxe Edition. 3 DVDs, BMG 2004. – Elvis: That’s The Way It Is [1970]. The Complete Works. 9 DVDs, International, 2009. – Elvis On Tour [1972]. WB 2010. – Elvis: Aloha From Hawaii [1973]. Deluxe Edition. 2 DVDs, RCA 2004. – Elvis In Concert [CBS, 1977]. – Elvis: From Kansas City To Sin City [1973-74]. Victrola 2010. – Night Of The Phoenix: New Year’s Eve 1976. 2010. [Aufnahmen der Konzerte in Parid City und Omaha 1977.] Audiomaterial: From Memphis to Vegas/From Vegas to Memphis (RCA 1969). – Elvis: On Stage, February 1970 (RCA 1970). – Elvis: As Recorded At Madison Square Garden (RCA 1972). – Elvis: As Recorded Live On Stage in Memphis (RCA 1974). – Elvis In Concert (RCA 1977). – Mitschnitte der Konzerte Las Vegas 26.8.1969 (Dinner/Midnight Shows), 23.2.1971 (Dinner Show), 11./12.8.1972 (Dinner/Midnight Shows), 18.3.1973 (Dinner Show), 30.8.1973 (Dinner Show), 19.8.1974 (Opening Show), 21.8.1974 (Midnight Show), 13.12.1975 (Midnight Show), sowie Mitschnitte der Konzerte in West Palm Beach 13.2.1977, Orlando 15.2.1977, Saginas 3.5.1977, Madison 24.6.1977, Indianapolis 26.6.1977, alle auf FTD/Gravel Road Label.

Narrative Komplexität im amerikanischen Gegenwartsfernsehen Jason Mittell

Neben der Heerschar von Krimiserien, Sitcoms und Reality-Shows, die das amerikanische Fernsehprogramm bevölkern, ist in den letzten Jahrzehnten eine Unterhaltungsform entstanden, die bei Kritik und Publikum großen Anklang findet. Es handelt sich um eine neue Art des Geschichtenerzählens im Fernsehen: narrativ komplexe Sendungen, die sich deutlich von den Episodenund Fortsetzungsserien unterscheiden, die das amerikanische Fernsehen seit seiner Entstehung geprägt haben. Sowohl erfolgreiche Serien weisen solche innovativen Erzählformen auf – von Seinfeld (NBC, 1989-1998) über Lost (ABC, 2004-2010) und The West Wing (NBC, 1999-2006) bis zu The X-Files (FOX, 1993-2002) – als auch Serien, die trotz Kritikerlobs wenig Publikumsanklang fanden, etwa Arrested Development (FOX, 2003-2006), Veronica Mars (UPN/CW, 2004-2007), Boomtown (NBC, 2002-2003) oder Firefly (FOX, 2002). Der PayTV-Sender HBO verdankt seinen Ruf und seinen Abonnentenstamm narrativ komplexen Serien wie The Sopranos (1999-2007), Six Feet Under (2001-2005), Curb Your Enthusiasm (seit 2000) und The Wire (2002-2008). Die genannten Titel unterscheiden sich deutlich von konventionellen Fernseherzählungen. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, die formalen Eigenschaften und Muster dieser narrativen Form zu beschreiben sowie zu fragen, welche Umstände zu ihrer Entstehung seit den 1990er Jahren beigetragen haben.

N ARR ATIVE K OMPLE XITÄT ALS E RZ ÄHLMODUS Zum besseren Verständnis der Erzähltechniken des zeitgenössischen amerikanischen Fernsehens lässt sich »narrative Komplexität« als ein Erzählmodus im Sinne David Bordwells beschreiben. Bei Bordwell bezeichnet der Ausdruck Erzählmodus, auf filmisches Erzählen bezogen, einen »historisch spezifischen Regelsatz für Erzählkonstruktion und Erzählverständnis«, der die Grenzen zwischen einzelnen Genres, Autoren bzw. Regisseuren und künstlerischen

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Bewegungen in Richtung eines kohärenten Ensembles von Erzähltechniken überschreitet.1 Bordwell bezieht sich auf bestimmte Filmformen wie das klassische Hollywood-Kino, den Kunstfilm und den historischen Materialismus, die, auch wenn sie eigene Erzählstrategien verfolgen, aufeinander verweisen und andere Filmformen integrieren. Kristin Thompson weitet Bordwells Ansatz auf das Fernsehen aus, indem sie vorschlägt, Sendungen wie Twin Peaks (ABC, 1990-1991) oder The Singing Detective (BBC, 1986) als eine Form des »Kunstfernsehens« zu betrachten, bei dem die Regeln des Kunstfilms auf das Fernsehen übertragen werden.2 Tatsächlich beeinflusst das Kino viele Aspekte des Fernsehens, insbesondere im visuellen Stil; dennoch widerstrebt es mir, ein narratologisches Modell, das für geschlossene Spielfilme entwickelt wurde, auf die fortsetzungsorientierte, langfristig angelegte Erzählstruktur von Fernsehserien anzuwenden. Produktiver scheint es, für Fernseherzählungen ein an ihr Medium gebundenes Vokabular zu entwickeln. So gründet die narrative Komplexität des Gegenwartsfernsehens auf Erzählweisen, die auf die medienspezifische Serienstruktur zugeschnitten sind; dabei heben sich narrativ komplexe Fernsehsendungen vor allem von den konventionellen Modi episodischer und fortsetzungsorientierter Serienformate ab. Die weite Verbreitung und Popularität narrativ komplexer Fernsehserien seit den 1990er Jahren rechtfertigt es, von dieser Zeit als einer Ära der Fernsehkomplexität zu sprechen. Zwar bleiben komplexe Sendungen zahlenmäßig hinter konventionellen Fernsehformaten zurück – es gibt mehr herkömmliche Sitcoms und Dramaserien als komplexe Erzählungen –, doch ebenso wie das Hollywood-Kino der 1970er Jahre aufgrund der innovativen Arbeiten von Altman, Scorsese und Coppola in Erinnerung geblieben ist, nicht aufgrund der oft beliebteren Katastrophenfilme, Liebesfilme und Komödien, die die Kinosäle füllten, wird das amerikanische Fernsehen der vergangenen 20 Jahre, so meine Vermutung, als Epoche der formalen Experimente und Innovationen in Erinnerung bleiben: als eine Epoche, in der die Leistungsgrenzen des Mediums neu vermessen wurden. Auch wenn die hieraus entstehende »Komplexität« weder den Großteil des Fernsehprogramms noch seine populärsten Sendungen kennzeichnet (zumindest laut der fehlerbehafteten Ermittlung der amerikanischen Einschaltquoten nach den Nielsen-Ratings), gibt es genügend erfolgreiche Sendungen, die mit konventionellen narrativen Verfahren brechen und neue Erzähltechniken entwerfen.3

1 | Vgl. Bordwell 1985: 155. 2 | Vgl. Thompson 2003. 3 | Der vorliegende Aufsatz berücksichtigt ausschließlich Drehbuchserien mit Figurenkonstanz, wiederkehrenden Situationen und Entertainment-Charakter. Fernsehfilme, Mehrteiler, Sketch-Comedies sowie Anthologie-, Varieté-, Nachrichten-, Dokumentar-

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Natürlich sind die Etiketten »konventionell« und »komplex« keine wertfreien Beschreibungen; wie die filmwissenschaftlichen Begriffe »primitiv« oder »klassisch« weisen sie immer auf evaluative Standpunkte hin. An anderer Stelle habe ich die Bedeutung von Wertungsfragen in der Fernsehwissenschaft diskutiert – Wertung ist eine Praxis, vor der die zeitgenössische Medienforschung eher zurückschreckt –, doch im gegebenen Kontext sind die genannten Begriffe nicht vorrangig evaluativ gemeint.4 Komplexität und Qualität bedingen sich nicht zwangsläufig. Ich persönlich ziehe hochwertige konventionelle Sendungen wie The Dick Van Dyke Show (CBS, 1961-1966) oder Everybody Loves Raymond (CBS, 1996-2005) der narrativ komplexen, aber konzeptionell unklaren und logisch verwirrenden Serie 24 (FOX, 2001-2010) bei Weitem vor. Nichtsdestotrotz schafft der Typus narrativer Komplexität, von dem hier die Rede sein soll, eine Bandbreite an kreativen und rezeptiven Möglichkeiten, die als bedeutsame Entwicklung in der Geschichte des Fernsehens, ja amerikanischer Erzählformen insgesamt untersucht und gewürdigt werden sollten.5 Komplexe Erzählungen erscheinen oft reichhaltiger und vielschichtiger als konventionelle Produktionen. Statt aber die Überlegenheit einer ganzen Erzählform oder eines Erzählgenres zu proklamieren, sollten sich solche Werturteile an der Analyse individueller Sendungen ausrichten. So wird auch im Folgenden nicht behauptet, dass das zeitgenössische Fernsehen in irgendeiner Hinsicht »besser« sei als das Fernsehen der 1970er Jahre. Vielmehr gilt es zu fragen, welche narrativen Strategien sich wie und warum geändert haben und welche weiter reichenden kulturellen Resonanzen mit diesem Wandel verbunden sind. Fernsehwissenschaftler tun sich oft schwer, das Medium mit Blick auf seine narrative Dimension zu untersuchen, weil die Fernsehforschung aus dem doppelten Paradigma von Kommunikations- und Kulturwissenschaften hervorgegangen ist, die beide trotz unterschiedlicher Methoden dazu tendieren, soziale Aspekte über die ästhetische Analyse zu stellen. Narrative Analysen konventioneller Fernsehprogramme sind damit überraschend selten. Im Wesentlichen besteht das Feld aus den klassischen Arbeiten von Horace Newcomb, Robert Allen, Sarah Kozloff, John Ellis und Jane Feuer.6 Einige frühe Besprechungen innovativer Erzählstrategien durch Newcomb, Christopher Anderson, Thomas und Realitysendungen fallen aus meinem Untersuchungsfeld heraus, auch wenn sie Aspekte der beschriebenen narrativen Form beinhalten können. 4 | Vgl. Mittell 2005. 5 | Viele Kennzeichen narrativer Komplexität dürften in den Fernsehformaten anderer Nationen üblicher sein, und sicher kann der Einfluss des britischen Fernsehens auf das amerikanische TV-Programm nicht geleugnet werden. Dennoch bleibt die Frage berechtigt, wie sich das amerikanische Fernsehprogramm, das immerhin einen weltweiten Medienmarkt bedient, unter seinen eigenen Bedingungen entwickelt hat. 6 | Vgl. Newcomb 1974, Ellis 1982, Allen 1985, Feuer 1986, Kozloff 1992.

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Schatz und Marc Dolan verorten die Vorgänger zeitgenössischer narrativer Komplexität in Serien wie Magnum, P.I. (CBS, 1980-1988), St. Elsewhere (NBC, 1982-1988) und Twin Peaks.7 Zwei neuere Studien zur Narratologie des zeitgenössischen Fernsehens stammen von Steven Johnson und Jeffrey Sconce, auf deren Erkenntnisse ich im Folgenden aufbaue. Ich sehe diese Veröffentlichungen als Anzeichen für ein gesteigertes medienwissenschaftliches Interesse an eben jenen formalen und ästhetischen Fragen, die von der Fernsehforschung bislang eher vernachlässigt wurden.8 Gestützt auf diese Quellen möchte ich eine Detailanalyse des narrativen Modus entwickeln, der im zeitgenössischen amerikanischen Fernsehen als medienspezifische ästhetische Innovation zu beobachten ist. Dieser neue Modus, den ich als »narrative Komplexität« bezeichne, ist weniger konventionsgesteuert als klassische Episoden- oder Fortsetzungsserien – tatsächlich könnte man das Abweichen von Regeln als seine hervorstechende Eigenschaft bezeichnen. Gleichwohl erscheint es sinnvoll, die wachsende Zahl von Sendungen, die gegen die Konventionen und Traditionen von Episoden- und Fortsetzungsserien verstoßen, zu einer gemeinsamen Kategorie zusammenzufassen. Während einige Autoren diese neue Form als »romanhaftes« (novelistic) Fernsehen bezeichnen, scheint es mir angebrachter, sie trotz des Einflusses anderer Gattungen wie Roman, Film, Videospiel und Comic als einzigartig für das Medium Fernsehen zu beschreiben.9 Bei der Untersuchung narrativer Komplexität im Serienfernsehen ziele ich methodisch auf eine historische Poetik ab, die formale Entwicklungen innerhalb ihrer spezifischen historischen Kontexte von Produktion, Verbreitung und Rezeption verortet.10 Folgt man diesem Ansatz, zeigen sich Innovationen in der medialen Form weniger als kreative Leistungen visionärer Künstler denn als Schnittpunkte historischer Kräfte, die mit unterschiedlichen Techniken an der Transformation etablierter Normen arbeiten. Eine so verstandene Analyse untersucht die formalen Elemente eines jeden Mediums innerhalb der historischen Kontexte, die zu Neuerungen, aber auch zur Bewahrung von Normen beigetragen haben. Welche sind also die relevanten Kontexte, die das Aufkommen narrativer Komplexität im amerikanischen Gegenwartsfernsehen ermöglichen? Einige entscheidende Veränderungen in den Medienindustrien, den Medientechnologien sowie im Publikumsverhalten fallen mit der Entstehung des genannten Erzählmodus zusammen. Sie fungieren zwar nicht als direkte Auslöser formaler Umgestaltung, tragen aber fraglos zur Entfaltung kreativer Strategien bei. Auch wenn es noch andere Kontexte zu untersuchen gäbe, zeigt 7 | Siehe Newcomb 1985, Anderson 1987, Schatz 1987, Dolan 1995. 8 | Vgl. Sconce 2004, Johnson 2005. 9 | Vgl. McGrath 2000 als einflussreiche Diskussion eines romanhaften Fernsehens. 10 | Vgl. Bordwell 1989, Jenkins 1995. Mittell 2004 wendet diese historische Poetik auf die Fernsehserie Dragnet (TBA, 1951-1959) und das Genre der Polizeiserie an.

N ARRATIVE K OMPLEXITÄT

schon ein kurzer Überblick über die wichtigsten Veränderungen der 1990er Jahre, wie dieser Wandel die televisuelle Arbeit beeinflusst und wie formale Merkmale die Grenzen von Einzeltexten überschreiten.

E IN M EDIUM IM W ANDEL Ein wesentlicher Faktor für das Aufkommen narrativer Komplexität im zeitgenössischen Fernsehen ist die veränderte Wahrnehmung der Legitimität des Mediums und seiner Anziehungskraft auf Autoren. Viele innovative Fernsehsendungen aus den letzten zwanzig Jahren stammen von Künstlern, die ihre Karriere beim Film begonnen haben, einem Medium mit höherem kulturellen Prestige als das Fernsehen. Zu nennen wären hier vor allem die Regisseure David Lynch (Twin Peaks) und Barry Levinson (Homicide [NBC, 1993-1999]; Oz [HBO, 1997-2003]) sowie die Drehbuchautoren Aaron Sorkin (Sports Night [ABC, 1998-2000]; West Wing), Joss Whedon (Buffy the Vampire Slayer [WB/ UPN, 1997-2003]; Angel [WB, 1999-2004]; Firefly), Alan Ball (Six Feet Under) und J. J. Abrams (Alias [ABC, 2001-2006]; Lost). Die Anziehungskraft des Fernsehens spezifisch auf Drehbuchautoren hängt mit seinem Ruf als Produzenten-Medium zusammen, bei dem Autoren größere Kontrolle über ihre Arbeit ausüben können als beim auf Regisseure konzentrierten Produktionsmodell des Films. Auch vor dem Hintergrund der Entstehung des Reality-TV – einer beliebten, weil kosteneffektiven Alternative zu Drehbuchsendungen – scheinen sich Fernsehautoren des einzigartigen Mehrwertes fiktionaler Fernsehsendungen zunehmend bewusst zu werden. Narrative Komplexität zeigt gewissermaßen an, wo Reality-Shows an ihre Grenzen stoßen: Die sorgfältig arrangierte Entwicklung von dramatischen oder komischen Handlungssträngen in fiktionalen Großerzählungen sind von Reality-Sendungen nicht in gleicher Weise zu leisten.11 Viele Autoren wissen somit die größeren Herausforderungen und die Möglichkeiten zur kreativen Entfaltung in lang laufenden Serien zu schätzen, wohingegen tiefgehende Charakterzeichnung, fortführende Handlungsstränge und episodische Variationen innerhalb eines zweistündigen Films als Option kaum zur Verfügung stehen. Man beachte, wie Whedons Film Serenity (2005), der die Erzählung von Firefly fortsetzt, die Handlung einer ganzen Staffel unter Minimierung von Erzählvarietät, Figurenentwicklung und Spannungsbögen auf zwei Stunden verdichtet. Zwar sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch innovative Filmerzählungen in Erscheinung getreten, die ähnliche narrative 11 | Damit soll nicht unterstellt werden, dass es dem Reality-TV an Komplexität mangelt, doch die Erzählbögen von Reality-Shows hängen offenbar (wie in der traditionellen Seifenoper) mehr von Figuren und ihren Beziehungen ab als von Ereignissen und Handlungsstrukturen. (Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Ganz-Blättler.)

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Qualitäten wie die zeitgleichen Fernsehserien aufweisen – man denke an doppelbödige Filme wie Memento (2000) und Adaptation (2002) –, doch Hollywood zieht weiterhin Formeln und Inszenierungen vor, die zu einem erfolgreichen Premierenwochenende passen. Umgekehrt war das zeitgenössische Fernsehen gerade mit gewagten Sendungen erfolgreich, was vermuten lässt, dass der Markt für narrative Komplexität eher im Fernsehen als im Film zu finden ist. Veränderungen innerhalb der Fernsehindustrie haben den Strategien narrativer Komplexität weiteren Aufwind gegeben. So diktierte die traditionelle Logik der Branche, dass das wöchentliche Publikum für Sendereihen zu unbeständig sei, um Fortsetzungserzählungen zu erlauben. Unter dem Druck der Syndizierung zog man die austauschbaren Episoden konventioneller Sitcoms und in sich abgeschlossener Serienformate vor. Doch als die Anzahl der Sender zunahm und die Zuschauerzahlen für die einzelnen Sendungen zurückgingen, zeigte sich, dass eine kleine, aber loyale Anhängerschaft ausreichen kann, um eine Sendung wirtschaftlich tragbar zu machen. Die Gesamtzuschauerzahlen von Buffy und Veronica Mars zeugen nicht von großen Erfolgsserien, doch die Erwartungen neuerer Networks wie UPN und WB sind maßvoll. Hinzu kommt die Aussicht auf eine junge Zielgruppe, die sich in kultgleiche Anhängerschaft zu solchen Sendungen begibt. Beides genügt, um Networks zu motivieren, einzelnen Serien auch einmal zugestehen, ihre Zuschauerschaft langsam aufzubauen. Andere komplexe Sendungen richten sich ausdrücklich an ein eher gebildetes Publikum, das Fernsehen normalerweise meidet und nur für The West Wing, The Simpsons (FOX, seit 1989) oder The Sopranos einschaltet. Es versteht sich von selbst, dass eine Zuschauergruppe, die sonst wenig Fernsehen schaut, von den Werbetreibenden besonders geschätzt wird. Auf Kabelsendern wie HBO mögen komplexe Sendungen wie The Wire, Oz und Deadwood vielleicht nicht die Zuschauerzahlen der Sopranos erreichen, doch das Prestige dieser Sendungen fördert das Markenimage des Senders, der von sich behauptet, anspruchsvoller als das traditionelle Fernsehen zu sein und daher die Investition einer monatlichen Zusatzgebühr zu lohnen. Zugleich wird der spätere Verkauf von DVDs angekurbelt. Auch wenn Sendungen wie Firefly, Boomtown, Wonderfalls (FOX, 2004) oder die frühe Pionierserie My So-Called Life (ABC, 1994-1995) nie genug Zeit erhielten, ein Stammpublikum aufzubauen, sind diese kurzlebigen Sendungen später allesamt auf DVD erschienen. Ihre eingeschworene Fangemeinde nimmt die Möglichkeit, Fernsehen in dieser Form »zu sammeln«, begeistert an; die Medienindustrie wiederum ist bestrebt, von diesem Trend zu profitieren, indem sie Sendungen mit maximalem »Wiederanschauwert« (rewatchability) entwickelt.12 12 | Vgl. Johnson 2005 über den Wandel von einer Programmgestaltung des kleinsten gemeinsamen Nenners hin zum Kriterium der bestmöglichen Wiederholbarkeit.

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Technologische Neuerungen haben diese Entwicklung auf ähnliche Art beschleunigt. In den ersten 30 Jahren des Mediums wurde der Fernsehkonsum in erster Linie von Networks kontrolliert, die eine begrenzte Auswahl an Sendungen in einem eng abgesteckten Sendeplan anboten. Andere Möglichkeiten, Sendeinhalt zu platzieren, gab es nicht. Als im Zuge der Syndizierung Wiederholungen üblich wurden, wurden die wiederholten Serien meist in ungeordneter Reihenfolge gezeigt. Um sich der fast zufälligen Ausstrahlung von Folgen anzupassen, legten daraufhin auch Neuproduktionen den Schwerpunkt auf episodische Strukturen. Seit der Verbreitung von Kabelfernsehen und Videorekordern in den frühen 1980er Jahren können Zuschauer aber einen größeren Einfluss auf die Rezeptionsbedingungen nehmen. Die steigende Anzahl von Sendern mit ihren vielen Programmwiederholungen führte dazu, dass Zuschauer eine Serie in chronologisch ausgestrahlten »reruns« aufholen oder verpasste Kabelsendungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Woche doch noch anschauen konnten. Neue Geräte wie Videorekorder und digitale Festplattenrekorder schließlich ließen dem Publikum die freie Entscheidung darüber, wann eine Sendung rezipiert wurde. Für die narrative Konstruktion von Fernseherzählungen wurde dabei der Umstand wichtig, dass Zuschauer einzelne Episoden oder Szenen erneut anschauen können, etwa um komplizierte Sachverhalte zu entschlüsseln. Zwar waren einige Serien schon seit vielen Jahren auf Video erhältlich, aber die kompakte Verpackung und visuelle Qualität der DVD hat zum Boom einer neuen Art des Fernsehkonsums beigetragen. Fans können eine Serie nun regelrecht zelebrieren, indem sie komplette Teile auf einmal schauen (etwa bei den häufig berichteten Versuchen, eine Staffel von 24 in einem Stück zu sehen, um dem diegetischen Zeitrahmen gerecht zu werden). All diese Praktiken entsprechen nicht mehr der flüchtigen Unterhaltungsform, die das Fernsehen früher einmal war. Technologische Transformationen weg vom TV-Bildschirm haben die Fernseherzählung ebenfalls beeinflusst. Die Allgegenwart des Internet ermöglicht es Fans, für komplexe Erzählungen eine Art »kollektive Intelligenz« mit Informationen, Interpretationen und Diskussionen zu generieren, die zur aktiven Teilnahme einlädt. In Fällen wie Babylon 5 (PTEN/TNT, 1994-1998) oder Veronica Mars nehmen die Serienproduzenten sogar an den Diskussionen teil und nutzen die Foren als Feedback-Mechanismen, um die Verständlichkeit oder den Unterhaltungsfaktor ihrer Produkte zu testen.13 Andere digitale Plattformen wie Videospiele, Blogs, Online-Rollenspiel-Seiten und webbasierte Fanseiten haben neue Bereiche eröffnet, in denen Zuschauer an den fiktionalen Welten in einer Weise teilhaben, die weit über den einseitigen Konsum beim traditionellen 13 | Vgl. Jenkins 1995 über ein frühes Beispiel für diese Praxis; Jenkins zitiert treffend einen Online-Fan: »Könnt ihr euch vorstellen, dass Twin Peaks vor Videorekordern oder ohne das Internet herausgekommen wäre? Das wäre die reinste Hölle gewesen!« (54)

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Fernsehen hinausgeht. Umfangreiche Erzählwelten wie Sunnydale (aus Buffy) oder Springfield (aus The Simpsons) werden so zu interaktiven und partizipatorischen Gefilden (Metaversen), die sich beliebig ausdehnen lassen. Mit den Vertriebswegen des Internet haben sich die Konsum- und Schöpfungspraktiken von Fans, die Kulturwissenschaftler in den 1990er Jahren noch als subkulturelles Phänomen einstuften, weiter verbreitet und immer mehr Anhänger gefunden. Inzwischen ist aktives Zuschauerverhalten zur Mainstream-Praxis avanciert. Auch wenn keine dieser technischen Neuerungen das Aufkommen narrativer Komplexität verursacht hat, wird der Erfolg vieler komplexer Sendungen entscheidend durch solche Anreize und Möglichkeiten gefördert. Es wäre vereinfachend, Programmtrends als direkte Entsprechungen des Geschmacks oder der Sehgewohnheiten von Zuschauern zu betrachten; dennoch besteht kein Zweifel, dass sich viele innovative Sendungen der letzten Jahre nur deshalb im Programm behaupten konnten, weil sie auf großes Publikumsinteresse stießen. Mithilfe neuer, individuell zugänglicher Aufnahme- und Wiedergabetechniken sowie der Möglichkeit, Inhalte online zu teilen, haben Zuschauer eine zunehmend aktive Rolle im narrativ komplexen Fernsehen übernommen und damit seinen Erfolg innerhalb der Medienindustrie befördert. Wie weiter unten gezeigt werden soll, erfordert dieses Fernsehformat eine aufmerksame und engagierte Rezeptionshaltung, die sich auf die angebotenen narrativen Verwicklungen einlässt und ihre Codes dechiffriert. Das mag erklären, weshalb komplexe Sendungen oft leidenschaftlichere und engagiertere Publika hervorbringen als konventionelle Angebote es tun. Diese Sendungen begründen fast immer eingeschworene Fangemeinschaften und fördern aktives Feedback (insbesondere wenn die geliebte Sendung abgesetzt werden soll). Darüber hinaus geht die Erfolgsgeschichte narrativer Komplexität mit einer Zunahme – und mit der zunehmenden Bedeutung – von Amateur-Fernsehkritiken einher. Neue Internetportale wie televisionwithoutpity.com bieten Plattformen für durchdachte und humorvolle Kommentare zu wöchentlichen Episoden.14 Laut Johnson bieten solche Angebote ein »kognitives Training«, das Problemlösungskompetenzen und Beobachtungsgabe schult. Unabhängig davon, ob dieses Argument empirisch belegt werden kann, motivieren die neuen Serien ihre Zuschauer zweifellos dazu, sich aktiver in den Prozess des Erzählens einzubringen. Sicher ist auch, dass das narrativ komplexe Fernsehen mit einer breiteren Palette an Unterhaltungsanreizen aufwarten kann als die meisten konventionellen Sendungen. Das alles bedeutet nicht, dass die genannten industriellen, kreativen, technologischen und partizipatorischen Entwicklungen für sich al14 | Diese Website ist sowohl Reality-Shows als auch Drehbuchserien (ohne Sitcoms) gewidmet. Die meisten der behandelten Drehbuchserien können als narrativ komplex bezeichnet werden, während die Mehrheit der Sendungen, die nicht auf die Website aufgenommen werden, konventioneller Natur sind.

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lein das Aufkommen narrativer Komplexität als Erzählform verursacht hätten; in ihrer Gesamtheit aber schaffen sie die Voraussetzung für die Herausbildung und wachsende Beliebtheit dieser Erzählform.

S ERIELLE F ORMEN Was genau ist narrative Komplexität? Formal gesehen, handelt es sich um eine Neudefinition episodischer Erzählmuster unter dem Einfluss der seriellen Fortsetzungserzählung – das aber nicht als Verschmelzung von Episoden- und Fortsetzungsserien, sondern als eine Verschiebung des Gleichgewichts zwischen beiden Formaten. Anders als im episodischen Muster üblich muss in narrativ komplexen Serien nicht jede Einzelfolge eine abgeschlossene Handlung aufweisen. Stattdessen rücken Fortsetzungselemente (in unterschiedlichen Genres) in den Vordergrund. Gleichzeitig befreit narrative Komplexität das serielle Format von den Genremustern der Seifenoper. Viele, wenn auch nicht alle komplexen Sendungen, die in Fortsetzungen erzählen, weisen den in Soaps üblichen melodramatischen Stil und die Konzentration auf Figurenbeziehungen zurück oder spielen diese Merkmale doch deutlich herunter. Das verschafft zeitgenössischen Sendungen Abstand zu den kulturellen Konnotationen eines verunglimpften Genres.15 Zwar kann auch eine Soap relativ komplex erzählen und ihren Zuschauern einen hohen Grad an aktiver Beteiligung abverlangen, wenn etwa das Netz von Beziehungen und die Hintergrundgeschichten, die mit jeder Handlungswende evoziert werden, immer wieder neu entflochten werden müssen. Doch narrativ komplexe Sendungen stellen Handlungsentwicklungen deutlicher in den Vordergrund als Seifenopern; Beziehungs- und Figurendrama entwickeln sich aus dem Plot heraus, nicht umgekehrt, wie bei Soaps. Historisch gesehen, lässt sich die Bewegung hin zu mehr Komplexität in die späten 1970er und frühen 1980er Jahre zurückverfolgen, als innovative Primetime-Soaps wie Dallas (CBS, 1978-1991) und Dynasty (ABC, 1981-1989) sowie parodistische Vorgänger wie Soap (ABC, 1977-1981) und Mary Hartman, Mary Hartman (syndiziert, 1976-1977) große Beliebtheit erlangten. Bei der Kritik erfolgreiche, wenn auch anfangs einschaltquotenschwache Sendungen wie Hill Street Blues (NBC, 1981-1987), St. Elsewhere und Cheers (NBC, 1982-1993) 15 | Zu Soaps siehe Allen 1985. Das Verhältnis von Soaps, narrativer Komplexität und geschlechtsspezifischem Vergnügen ist ein kompliziertes Thema, das über den Rahmen dieses Aufsatzes hinausgeht. Warhol (2003) untersucht traditionell weiblich konnotierte Rezeptionshaltungen, die, so glaube ich, in die männlich konnotierten Genres und Strukturen komplexer Sendungen Eingang finden, so dass sich im Ergebnis ein geschlechtsübergreifendes Vergnügen einstellt, das sich von konventionellen Seifenopern und Episodenserien unterscheidet.

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importierten Fortsetzungsstrukturen in die Genres Polizeiserie, Arztserie und Sitcom.16 Anders als Seifenopern aber sind diese Primetime-Serien nicht darauf ausgerichtet, den narrativen Abschluss zu verzögern. Stattdessen kombinieren sie in der Regel episodische Handlungsstränge mit multi-episodischen Handlungsbögen und fortlaufenden Beziehungsdramen. Diese Sendungen tendieren also dazu, Episoden- und Fortsetzungsstrukturen bestimmten Genrenormen zuzuordnen: So werden Beziehungsgeschichten wie in Soaps von Folge zu Folge weitergeführt, wohingegen die jeweiligen Polizei- und Medizinfälle normalerweise innerhalb einer Folge abgeschlossen oder als Zweiteiler gereiht werden. Anders als in Soaps stellt die einzelne Folge demnach keinen bloßen Schritt auf einer langen narrativen Reise dar, sondern verfügt über eine einigermaßen klar ausgewiesene Identität. Eine ähnliche Aufteilung zwischen fortsetzungsorientierten Beziehungen und episodischen Plots zeigt sich auch bei Serien der späten 1980er Jahre, etwa Moonlighting (ABC, 1985-1989), thirtysomething (ABC, 1987-1991) und Star Trek: The Next Generation (syndiziert, 1987-1994). Diese Sendungen beinhalten innovative narrative Elemente, die in den 1990er Jahren dann deutlich häufiger auftreten. Serien der 1990er Jahren bauten auf den Innovationen der 1980er Jahre vor allem darin auf, dass sie Handlungsbögen über einzelne Folgen und Staffeln hinweg ausdehnten. Frühe Versuche mit langförmigen Handlungsbögen, wie sie Mitte der 1980er Jahre vor allem bei Wiseguy (CBS, 1987-1990) und Crime Story (NBC, 1986-1988) zu beobachten waren, konnten sich beim Publikum zunächst nicht durchsetzen und zogen keine Nachahmer nach sich – bis zum Durchbruch von Twin Peaks in den frühen 1990er Jahren. Dieser Kulthit, dessen Einfluss weit nachhaltiger war als die Programmpräsenz der Serie selbst, brachte eine ganze Welle neuer Sendungen hervor, die die kreativen Strategien ihres Vorbilds übernahmen, aber auf seine stilistischen Exzesse und thematischen Idiosynkrasien verzichteten. Als Kreuzung aus Mystery-Serie, Seifenoper und Kunstfilm bot Twin Peaks Zuschauern und Produzenten eine Ahnung von den neuen narrativen Möglichkeiten televisueller Komplexität. Auch wenn Twin Peaks letzten Endes ein Quotenflop war, öffneten Kritikerlob und diverse Auszeichnungen die Tür für andere Sendungen, die sich in den frühen 1990er Jahren kreative Freiheiten beim Geschichtenerzählen herausnahmen. Hierzu gehörten vor allem die erfolgreichen Serien Seinfeld und The X-Files, die dem Repertoire komplexer Narration im Fernsehen entscheidende Facetten hinzufügten. The X-Files zeigt exemplarisch, was man als Gütesiegel narrativer Komplexität bezeichnen kann: ein Wechselspiel zwischen episodischem und fortsetzungsorientiertem Erzählen. Komplexe Dramaserien wie The X-Files, Buffy the Vampire Slayer, Angel und The Sopranos changieren oft zwischen langfristig 16 | Thompson 1996 bietet eine Analyse der Programminnovationen dieser Ära.

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angelegten Handlungsbögen und abgeschlossenen Einzelteilen. Wie Sconce ausführt, kann jede beliebige X-Files-Folge entweder mit Blick auf die übergreifende »Mythologie« angeschaut werden – ein fortlaufender, hochraffinierter Verschwörungsplot, der Auflösung und Abschluss endlos hinauszögert –, oder mit Blick auf die jeweilige »Monster der Woche«-Geschichte, die meist außerhalb des übergeordneten Rahmens der Mythologie steht. Auch wenn The X-Files über Jahre hinweg eine Reihe innovativer Erzählverfahren durchspielte, zeugen der Kreativitätsniedergang der Serie und ihr Ansehensverlust bei Kritikern von einem entscheidenden Spannungsmoment narrativer Komplexität: Es muss ein Ausgleich gefunden werden zwischen den konkurrierenden Anforderungen episodischer und fortsetzungsorientierter Erzählnormen. Laut der Meinung vieler Zuschauer und Kritiker litt X-Files an einer zu großen Kluft zwischen dem übermäßig komplexen und immer wieder aufgeschobenen Geheimnis der Gesamtserie und den davon losgelösten, unabhängigen »Monster der Woche«-Episoden, die dem angesammelten Wissen über die Verschwörung mitunter auch widersprachen. Ein Beispiel ist die viel beachtete – und weitgehend parodistische – Folge »Jose Chung’s From Outer Space« (3.20), die sich über die verschachtelten Plots der Serie lustig macht und einige der bisherigen Enthüllungen zur fortlaufenden Mythologie (über Außerirdische auf der Erde) unterminiert. Wie viele andere Folgen ließ diese Episode das ansonsten hingebungsvoll an Agent Mulders endloser Suche beteiligte Publikum im Unklaren darüber, wie die geschilderten Ereignisse auf konsistente Weise im Serienuniversum unterzubringen seien. Das Zuschauerurteil teilte sich somit in zwei Lager: auf der einen Seite die Anhänger der Verschwörungstheorie, die die manchmal selbstbezüglichen und im Tonfall abweichenden »Monster der Woche«-Folgen als Ablenkung von den ernsteren mythologischen Rätseln verstanden; auf der anderen Seite jene Fans, die vor dem Hintergrund des zunehmend undurchschaubaren und widersprüchlichen übergeordneten Handlungsbogens die Kohärenz der für sich stehenden Episoden zu schätzen lernten. Ich persönlich fand mich im zweiten Lager wieder, bevor ich die Serie ganz aufgab. Buffy und Angel gehen geschickter vor, um die gegenläufigen Anforderungen von fortsetzungsorientierter und episodischer Rezeption zu integrieren. Auch wenn beide Sendungen (zusammen und getrennt betrachtet) ein umfassendes und fortlaufendes Rätselraten über den Kampf zwischen Gut und Böse provozieren, sind die Handlungsstränge auf staffelüberspannende Erzählbögen ausgerichtet, die einen bestimmten Bösewicht – in Buffys Worten: einen »big bad« – ins Zentrum stellen. Innerhalb einer Staffel treibt fast jede Folge diesen Handlungsbogen voran, bietet aber zugleich episodische Kohärenz und MiniAuflösungen an. Sogar hochgradig experimentelle oder extravagante Folgen halten das Gleichgewicht zwischen episodischen und fortsetzungsorientierten Strukturen. So präsentiert die Buffy-Folge »Hush« (4.10) ein buchstäbliches

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»Monster der Woche«, bekannt als »Der Gentlemen«, der den Einwohnern von Sunnydale die Stimmen stiehlt. Diese Prämisse führt zu einer beeindruckend konstruierten Folge, die in fast gänzlicher Stille erzählt wird. Trotz des einmalig auftauchenden Bösewichts und des ungewöhnlichen wortlosen Erzählmodus treibt »Hush« aber auch verschiedene übergreifende Handlungsbögen voran, indem einzelne Figuren Schlüsselgeheimnisse enthüllen und ihre Beziehungen zueinander vertiefen. Viele andere Buffy- und Angel-Folgen greifen in ähnlicher Weise auf episodische Elemente zurück, die dann mit weiter reichenden Erzählbögen hinterlegt werden. Umgekehrt verweben beide Serien weit gespannte Handlungen mit melodramatischen Figurenbeziehungen. Auf die Spitze getrieben wird dies, wenn Buffy vorwärtsgerichtete Plot-Entwicklungen zu einer Emotionalisierung des Geschehens zwischen den Figuren nutzt, die dann ihrerseits den jeweiligen Plot mobilisiert. Ein Beispiel hierfür ist erneut »Hush«: Die Folge bietet zugleich den Abschluss eines »Monsters der Woche«, bringt die Beziehung zwischen Buffy und Riley voran und fügt neue Verwicklungen zum staffelüberspannenden Handlungsbogen der »Initiative« hinzu.

O PER ATIONALE Ä STHE TIK Narrative Komplexität kann nicht einfach als Mischform von episodischer und fortsetzungsorientierter Serialität mit Primetime-Charakter definiert werden. Viele Sendungen brechen aktiv mit Fortsetzungsnormen, richten sich aber auch gegen episodische Erzählkonventionen. Seinfeld etwa verhält sich durchaus zwiespältig zur Frage fortsetzungsserieller Plot-Entwicklung. Einige Staffeln entfalten fortlaufende Situationen, z.B. Georges bevorstehende Hochzeit, Elaines neuen Job oder Jerrys Pläne, eine NBC-Sitcom zu produzieren. Die Hauptfunktion dieser Handlungsbögen besteht darin, Hintergrundgeschichten für Insider-Witze und selbstbezügliche Referenzen bereitzustellen. So schlägt George eine mögliche Story für seine und Jerrys Sitcom »about nothing« vor, die auf dem Abend basiert, als die beiden in einem chinesischen Restaurant auf einen Tisch warteten – der tatsächlichen Handlung einer früheren Folge. Trotzdem erfordern diese Fortsetzungsgeschichten wenig explizites Wissen von Episode zu Episode, da die Ereignisse nur selten einzelne Episoden überschreiten. Der Grund hierfür dürfte sein, dass sich die Serie inhaltlich vor allem um Details und Geringfügigkeiten des Alltagslebens dreht, so dass bedeutende Handlungen und Ereignisse ohnehin kaum vorkommen. Auch wenn man der narrativen Welt von Seinfeld mehr abgewinnt, wenn man die fortlaufenden Verweise z.B. auf Art Vandelay oder Bob Sacamano bemerkt, bleibt die Handlung auch ohne besonderes Zuschauerengagement verständlich; anders als bei The X-Files oder Buffy müssen keine langfristigen Erzählbögen verfolgt werden. Dennoch bietet Seinfeld eine Fülle an narrativer Komplexität, oft gewährleistet durch die

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Weigerung, episodischen Normen von Abschluss, Auflösung und getrennten Handlungssträngen gerecht zu werden. Viele Episoden lassen die Figuren in einer unhaltbaren Situation zurück: Kramer wird als Zuhälter festgenommen; Jerry rennt in den Wald, nachdem er zum »Wolfsmenschen« wurde; George steckt mit einem Serienmörder in einer Flugzeugtoilette fest. Anders als in Fortsetzungsformaten werden diese ungelösten Momente nicht als spannungsschaffende Elemente eingesetzt, sondern als komödiantische Pointen, auf die später kein Bezug mehr genommen wird. Seinfeld und andere narrativ komplexe Comedies wie The Simpsons, Malcolm in the Middle (FOX, 2000-2006), Curb Your Enthusiasm oder Arrested Development nutzen das episodische Format vor allem dazu, die Konventionen situativer Kontinuität und eines wiederherzustellenden narrativen Gleichgewichts zu untergraben; gleichzeitig begrüßen sie konditionelle Fortsetzbarkeit: Einige Handlungsstränge werden tatsächlich weiter entwickelt, während andere nie wieder erwähnt werden. Arrested Development, eine einigermaßen explizit fortsetzungsorientierte Comedy-Sendung, unterwandert diese Muster am stärksten. Die meisten Episoden enden mit einem Teaser, der zeigt, was »Nächste Woche in Arrested Development« geschehen wird, nämlich die Fortführung der eben gezeigten Geschichte. Regelmäßige Zuschauer merken aber rasch, dass die folgende Episode diese Szenen gar nicht beinhaltet und dass sie in der fortlaufenden Serienwelt auch nicht stattgefunden haben werden. (In der zweiten Staffel wird diese Regel allerdings variiert, als sich herausstellt, dass ein Teil des Teaser-Materials unerwartete diegetische Folgen hat.) Auf ähnliche Weise interpretiert The Simpsons das episodische Format in exzessiver und sogar parodistischer Weise. Kontinuität zwischen den Folgen wird zwar unterbunden, indem jede Episode zum Gleichgewichtszustand einer Gegenwart zurückkehrt, in der Bart ewig in die vierte Klasse geht und der allgemein dysfunktionale Zustand der Familie endlos fortbesteht.17 Aber es gibt Ausnahmen (etwa Apus Hochzeit und seine achtfache Vaterschaft), die nahelegen, dass mindestens zwei Jahre in Springfields Lebenszyklus vergangen sein müssen – doch niemand sonst ist gealtert. Oft wird die wiederholte Rückkehr zum Ausgangszustand auch durch Witze thematisiert. So führt The Simpsons zu unklaren Erwartungen darüber, welche Veränderungen nach jeder Folge auf »Reset« gesetzt werden – häufige Arbeitsplatzverluste, die Zerstörung von Eigentum, beschädigte Beziehungen, die in der nächsten Folge wiederhergestellt sein werden usw. –,  und welche weitergetragen werden, so wie Apus Familie, die Beziehung zwischen Skinner und Crabapple oder der Tod von Maude Flanders. Komplexe Comedies verwenden die Regeln des Fortsetzungsformates somit selektiv. Während sie bestimmte Ereignisse in ihre Hintergrundgeschichten einweben, rangieren sie andere Momente in das banalere Reich vergessener episodischer Geschichten aus. Die 17 | Vgl. Mittell 2004 für eine Analyse der Simpsons als Parodie auf das Sitcom-Format.

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Zuschauer müssen über diese Unterscheidung entweder als Inkonsistenz hinwegsehen oder sie als einen der ausgeklügelten Züge narrativer Komplexität akzeptieren. Äußerungen von Fans in Online-Foren legen nahe, dass letztere Haltung üblicher ist, insofern das Publikum die sich verändernden Regeln als Teil eines anspruchsvollen Spiels narrativer Komplexität begreift. Seinfeld verkörpert eine weitere Facette narrativer Komplexität: die gegenüber konventionellen Fernsehprogrammen gesteigerte Selbstbezüglichkeit komplexen seriellen Erzählens.18 Die Sendung kostet das Gemacht-Sein ihrer Handlungsabläufe voll aus: Mithilfe von unwahrscheinlichen Zufällen und parodistischen Medienverweisen werden die Geschichten der einzelnen Figuren in jeder Episode in einer Kreisstruktur verwoben. In konventionellen Fernsehsendungen, die eine A- und B-Handlung aufweisen, können beide Geschichten zwar thematische Parallelen aufweisen oder ein Gegengewicht zur jeweils anderen bilden, sie interagieren aber nur selten auf Handlungsebene. Komplexität, besonders in Comedies, wendet sich gegen dieses Muster, indem die Beziehung zwischen multiplen Handlungssträngen mehrfach abgewandelt wird; Geschichten werden ineinander verwoben, stoßen wiederholt aufeinander und laufen zusammen. In Seinfeld werden üblicherweise vier Handlungsstränge getrennt voneinander begonnen. Dabei wird es der Fantasie des erfahrenen Zuschauers überlassen, wie und mit welchen unwahrscheinlichen Rückwirkungen die Geschichten konvergieren werden.19 Diese Art der vernetzten Plot-Bildung wurde von Curb Your Enthusiasm und Arrested Development übernommen und weiter geführt: Das Zusammenlaufen und Aufeinanderstoßen von Handlungssträngen dehnt sich hier solcherart über Episoden aus, dass die serielle Erzählung zu einer Reihe ausgeklügelter Insiderwitze wird. Nur wenn man Larrys Begegnung mit Michael, dem Blinden aus der ersten Staffel von Curb Your Enthusiasm, kennt, ergibt dessen Rückkehr in der vierten Staffel einen Sinn. Auf ähnliche Weise erweitert Arrested Development die Zahl koinzidierender Plots pro Episode. Oft gibt es sechs und mehr Handlungsstränge, die sich gegenseitig abstoßen und in unwahrscheinliche Koinzidenzen, Wendungen und ironische Auswirkungen münden, von denen manche sich erst in späteren Episoden oder Staffeln offenbaren. Dieser Modus ist schon für sich genommen recht amüsant; darüber hinaus bietet er dem Zuschauer ein Vergnügen, das in der konventionellen Fernseherzählung relativ schwer zu realisieren ist. Das Publikum von komplexen Comedies wie Seinfeld oder Arrested Development konzentriert sich nämlich nicht nur auf die diegetische Welt der Sitcoms, es erfreut sich auch an den zum Einsatz gebrachten kreativen Mitteln und der Kunstfertigkeit, mit der die Produzenten 18 | Die beste Analyse der narrativen Techniken von Seinfeld liefert Smith 1995. 19 | Johnson 2005 bietet eine umfassende Untersuchung von Plot-Bildungen mit mehreren Handlungssträngen.

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komplexe Plot-Strukturen einfädeln. Sconce bezeichnet diesen Rezeptionsmodus (der eine detailliertere Untersuchung verdient) als »metareflexiv«. Damit ist ein Konzept angesprochen, das Neil Harris in seiner Studie zu P.  T. Barnum entwickelt hat. Harris stellt die These auf, dass Barnums mechanische Stunts und Bluffs ihr Publikum zu einer »operationalen Ästhetik« einluden, deren Kernfrage nicht »Was wird passieren?« lautet, sondern: »Wie hat er das gemacht?«20 Auch als Zuschauer von Seinfeld erwarten wir von vornherein, dass die egoistischen Pläne der Figuren in einer absurden Auflösung vereitelt werden. Trotzdem schauen wir zu – denn wir wollen erfahren, welche narrativen Mechanismen zum Einsatz kommen, um die vier Handlungsstränge in einer perfekt geeichten komödiantischen Rube-Goldberg-Erzählmaschine zusammenzuführen. Diese Art der Plot-Bildung entwickelt ein besonders hohes Maß an Selbstreflexivität, nicht nur in Form expliziter Selbstreferenzen (z.B. Seinfelds Sendung in der Sendung oder die augenzwinkernde Verwendung von Fernsehkonventionen wie Product Placement, Stunt Casting oder Voice-Over-Narration in Arrested Development), sondern auch im Wissen der jeweiligen Sendung, dass sie unter genau dieser rezeptiven Perspektive (»Wie werden sie es machen?«) gesehen wird. Operationale Ästhetik ist damit ein durchgängiges Kennzeichen auch der Online-Foren von Fans. Hier werden die Praktiken seziert, mit denen komplexe Comedy- und Dramaserien Zuschauer leiten, fehlleiten, manipulieren oder enttäuschen. Ein wichtiger Teil des Zuschauervergnügens besteht darin, narrative Verfahren zu rekonstruieren.21 Man schaut diese Sendungen nicht nur, um in eine realistisch anmutende Welt einzutauchen (wenngleich dies ein wichtiges Motiv sein kann), sondern, um dem Getriebe seriellen Geschichtenerzählens bei der Arbeit zuzusehen und über die Fertigkeit zu staunen, mit der solche narrativen Feuerwerke entfacht werden. Die operationale Ästhetik tritt besonders deutlich in jenen spektakulären Momenten komplexer Sendungen, Episoden oder Sequenzen hervor, die man mit Spezialeffekten im Film vergleichen kann. Analysen von filmischen Spezialeffekten haben gezeigt, wie uns solche Augenblicke des Staunens und Überwältigtseins aus der Diegese herausheben und dazu einladen, der medialen Technik selbst Aufmerksamkeit zu schenken, mit deren Hilfe sich interplanetarische Reisen, realistische Dinosaurier oder komplizierte Kampfhandlungen auf Baumwipfeln herstellen lassen. Diese Spektakel stehen oft im Gegensatz zur eigentlichen Erzählung; sie greifen zurück auf das Kino der Attraktionen, das dem narrativen Film vorausging, und schwächen zugleich die Narrativität 20 | Harris 1981; vgl. auch Gunning 1995 sowie Trahair 2004 zur operationalen Ästhetik in der Filmkomödie. 21 | Entsprechende Diskussionen finden im Internet für zahlreiche Serien statt, etwa Alias, 24 und Lost auf televisionwithoutpity.com, The Simpsons auf snpp.com und Arrested Development auf the-op.com.

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des zeitgenössischen Blockbuster-Kinos ab.22 Auch im Fernsehen kommen solche Spezialeffekte vor, wenngleich das visuelle Fernsehspektakel sich eher in den übertriebenen Schönheitsnormen von Bierwerbungen und Baywatch (NBC, 1989-1999) realisiert als in der Pyrotechnik der großen Leinwand. Narrativ komplexe Sendungen bieten allerdings eine andere Art der Attraktion: den narrativen Spezialeffekt. Diese Momente fördern eine operationale Ästhetik, indem sie die konstruierte Natur der Erzählung ausstellen. Oft verzichten diese Effekte auf Realismus, im Austausch gegen eine formal selbstbewusste, geradezu barocke Qualität der Darstellung, dank derer wir den Erzählprozess als Funktion einer Medienmaschine erfahren statt illusionsästhetisch in die Diegese einzutauchen. Wenn Sendungen sich in ihren eigenen komplexen Konventionen eingerichtet haben, erleben wir, wie weit sich die Grenzen ihrer Experimente verschieben lassen und welch extravagante Variationen von Themen und Normen möglich werden. Narrative Spezialeffekte können z.B. mit dem Höhepunkt einer Sendung zusammenfallen, etwa wenn alle getrennten Plots in Seinfeld oder Arrested Development am Ende zusammenkommen oder wenn die Handlung in Lost oder 24 eine Wendung nimmt, die uns zwingt, alles zu überdenken, was wir zuvor in der Episode gesehen haben. Narrative Spektakel können auch Variationen eines Themas sein. Beispielsweise beginnt bei Six Feet Under jede Folge mit einem »Todesfall der Woche«; ab der zweiten Staffel aber variieren die Autoren die Darstellung dieser Todesfälle so, dass Irreleitungen oder Ausschmückungen den Zuschauer bei der Stange halten, wenn er die immanenten Regeln der Sendung einmal verstanden hat. Ein besonders bezeichnender Moment narrativen Spektakels findet sich in der Lost-Episode »Orientation« (2.3): Nachdem zwei Charaktere entdeckt haben, was sich unter der mysteriösen Luke im Wald verbirgt, in die sie seit langem einzudringen versuchen – nämlich ein verfallenes Forschungsinstitut –, schauen sie sich dort einen alten Schulungsfilm an, der die ursprüngliche Funktion des Ortes beschreibt. Als sie den rätselhaften Film zu Ende gesehen haben, der viele obskure Details enthält, die die Ereignisse der ersten Staffel in einem neuen Licht erscheinen lassen, ruft Locke fröhlich aus: »Wir werden uns das wohl nochmal anschauen müssen!« Damit spiegelt er die Reaktion von Millionen von Zuschauern wider, die nur darauf warten, den Film nach Schlüsseln zu den diegetischen und formalen Geheimnissen der Serie zu durchsuchen. Das reflexive Selbstbewusstsein solcher Szenen unterscheidet sich von der Art, in der z.B. Tex-Avery-Cartoons ihre eigenes Gemacht-Sein thematisieren, oder von den Mitteln, mit der modernistische Kunstfilme dazu auffordern, ihre Konstruiertheit aus einer emotionalen Distanz zu betrachten. Operationale Reflexivität lädt uns ein, die erzählte Welt ernst zu nehmen und zugleich ihre Gestaltung zu erkennen und ästhetisch zu würdigen. 22 | Vgl. Ndalianis 2004.

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Eine andere Ebene narrativen Spektakels betrifft ganze Episoden. Wahrscheinlich hat keine Sendung die spektakuläre Episodengestaltung weiter vorangetrieben als Buffy. Einzelne Folgen gründen auf narrativen Mitteln wie stark einschränkenden Erzählparametern (die Stille in »Hush«), Genremischungen (die Musical-Episode »Once More with Feeling« [6.7]), Perspektivwechseln (wenn in »The Zeppo« [3.13] ein neues Abenteuer aus dem Blickwinkel der Nebenfigur Xander erscheint) oder außergewöhnlichen Erzählsituationen (Andrews Pseudo-Dokumentarfilm in »Storyteller« [7.16]). Ähnlich funktionieren verschiedene Folgen von Star Trek: The Next Generation (»Frame of Mind« [6.21], »The Inner Light« [5.25]), X-Files (»Triangle« [6.3], »Monday« [6.14]), Angel (»Spin the Bottle« [4.6], »Smile Time« [5.14]), Seinfeld (»The Parking Garage« [3.6], »The Betrayal« [9.8]), Scrubs (NBC, 2001-2008/ABC, 2009-2010) (»His Story« [2.15], »My Screw Up« [3.14]) und The Simpsons (»22 Short Films About Springfield« [7.21], »Trilogy of Error« [12.18]). Jede dieser Episoden hält Spannungsmomente oder Lacher bereit, aber das spezifischere Vergnügen liegt in der Bravour, mit der Erzählkonventionen auf spektakuläre Weise gebrochen werden. Vermittels ihrer operationalen Ästhetik fordern diese komplexen Erzählungen den Zuschauer auf, sich auf die Ebene einer formalen Analyse zu begeben und die Techniken zu erkunden, mit denen solch eindrucksvolle Erzählkunst gelingt. Der Modus einer ästhetisch bewussten Rezeption wird von diesen Sendungen gerade deshalb herausgefordert, weil die von ihnen generierten Befriedigungen auf einer Bewusstseinsebene liegen, die über den traditionellen Fokus der Zuschauer auf Figuren und Handlungen hinausgeht. Nicht nur einzelne Episoden können eine operationale Ästhetik ins Leben rufen, sondern ganze Serien sind mitunter solchen narrativen Spektakeln gewidmet, und zwar entweder auf Ebene ihrer fortlaufenden Geschichte oder der ihnen innewohnenden Struktur. Alias ist ein Beispiel für den ersten Fall: Die Serie jongliert fortlaufende und episodische Agentengeschichten zusammen mit übergreifenden Beziehungsdramen, die den Hintergrund sowohl für Familienals auch Spionagepolitik bilden. Die gewagtesten Momente sind aber zu verzeichnen, wenn die Handlung unvorhergesehen scharfe Wendungen nimmt, aufgrund derer das ganze Szenario einen »Neustart« hinlegen muss, so dass sich die beruflichen und zwischenmenschlichen Dynamiken fast jeder Figur ändern. Der erste und wohl durchschlagendste dieser Reboots findet zur Mitte der zweiten Staffel statt, in der nach dem Super Bowl ausgestrahlten Episode »Phase One« (2.13). Im Verlauf dieser Folge wird das gesamte Spionageszenario neu konfiguriert. So wandelt sich die Hauptfigur von einer Doppelagentin zur vollwertigen CIA-Mitarbeiterin, die zwar weiterhin denselben Bösewicht jagt, nun aber mit anderen Motiven und Allianzen. Daneben verändern sich die Beziehungen zwischen den Charakteren. Sydneys unschuldige, unbeteiligte Freundin Francie wird durch eine ruchlose Agentin ersetzt, und ihre seit langem geschürten Gefühle für Vaughn brechen endlich hervor – alles innerhalb

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einer Stunde! Diese Veränderungen hauchen einem figuralen Muster neues Leben ein, das sich durch Wiederholungen bereits zu erschöpfen drohte. Entscheidend für den Erfolg der Neuausrichtung ist aber das beeindruckende Können, mit dem die Produzenten etablierte Situationen auf eine Art und Weise neu konfigurieren, die diegetisch konsistent (zumindest innerhalb der eigenen haarsträubenden Regeln der Sendung, was Spionagetechnik und Geheimnisse betrifft), narrativ mitreißend und den Figuren und ihren Beziehungen emotional angemessen ist. Ähnliche Serienrevisionen wurden auch in späteren Staffeln von Alias vorgenommen, ebenso wie in Buffy (mit der Einführung von Buffys Schwester Dawn) und Angel (als die Helden die Kanzlei ihrer Erzfeinde übernehmen). In all diesen Fällen ist das Zuschauervergnügen nicht nur an die diegetischen Wendungen geknüpft, sondern immer auch an die außergewöhnlichen Erzähltechniken, die für solche Manöver erforderlich sind. Für Nervenkitzel sorgen sowohl die erzählten Geschichten als auch die Art, wie die Erzählungen mit Erwartungen und Konventionen brechen.23 Narratives Spektakel kann auch in das Kernszenario einer Sendung eingebaut werden. 24 wird oft für die Geschicklichkeit gelobt, mit der die Serie erzählte Zeit und Erzählzeit zur Deckung bringt (mit Ausnahme der Werbeunterbrechungen). Noch interessanter ist der Umstand, dass es sich wohl um die einzige Fernsehserie überhaupt handelt, die nach ihrer Erzähltechnik benannt wurde statt in Bezug auf eine dargestellte Welt: Die Zahl 24 bezieht sich auf nichts Bemerkenswertes in der erzählten Geschichte, sondern auf die Anzahl von Stunden (und Episoden), die benötigt werden, diese Geschichte zu entfalten. Andere Produktionen sind auf ähnliche Weise mehr für ihren Erzähldiskurs als für die ausgebreiteten Handlungen bemerkenswert. Boomtown z.B. bietet ziemlich gewöhnliche Polizeigeschichten, aber indem die Fälle aus einer Vielzahl wechselnder, begrenzter Blickwinkel innerhalb eines Figurenensembles erzählt werden, sind sie nuancierter als sie auf den ersten Blick erscheinen. Jack & Bobby (WB, 2004-2005) erzählt die typische Geschichte von zwei Teenager-Brüdern. Durch die geschickte Einspielung von zukünftigen Interviews aus den 2040er Jahren entsteht jedoch ein Handlungsstrang darüber, dass einer der beiden US-Präsident wird, wodurch im jugendlichen Familiendrama kommende Ereignisse und Beziehungen stets mitschwingen und dieses akzentuieren. Die Serie Reunion (FOX, 2005) wiederum stellt eine Gruppe von Highschool-Freunden in den Mittelpunkt. Jede der wöchentlich ausgestrahlten Episoden skizziert über

23 | Narrative Reboots haben Vorbilder im Kunstkino, etwa in den Arbeiten von Luis Buñuel und David Lynch. Der Effekt ist jedoch bei einer fortlaufenden Serie mit einer über mehrere Jahre sich aufspannenden Erzählung ein anderer als bei einem abgeschlossenen Spielfilm.

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eine Spanne von insgesamt 20 Jahren ein Jahr in ihrem Leben.24 Das, was den Zuschauer in all diesen Sendungen wohl am meisten fesselt und sie von anderen Produktionen unterscheidet, sind nicht die erzählten Geschichten, sondern die narrativen Strategien und die Art ihres Einsatzes.

E RZ ÄHLSTR ATEGIEN Narrativ komplexe Sendungen nutzen eine Reihe von Strategien, die für diesen Erzählmodus zwar nicht einzigartig sind, aber mit solcher Häufigkeit und Regelmäßigkeit verwendet werden, dass sie eher die Norm als die Ausnahme darstellen. Analepsen – bzw. Änderungen in der Chronologie – sind schon im konventionellen Fernsehen nicht ungewöhnlich. Rückblenden dienen hier entweder dazu, eine entscheidende Hintergrundgeschichte nachzuerzählen (so wie der Kriminalbeamte ein Verbrechen rekonstruiert) oder die gesamte Handlung einer Episode in der Vergangenheitsform einzurahmen, z.B. die Inszenierung des Zusammentreffens von Rob und Laura in The Dick Van Dyke Show. Auf ähnliche Weise nutzen konventionelle Sendungen oftmals Traum- oder Fantasiesequenzen, um die Möglichkeiten anderer Szenarien auszukosten, z.B. die Wiedererzählung von Roseanne (ABC, 1988-1997) als 50er-Jahre-Sitcom, oder um das Innenleben einer Figur auszuloten wie in der experimentellen St. Elsewhere-Episode »Sweet Dreams« (3.8). Ein weiteres Instrument, das sich in einigen Folgen klassischer Sendungen wie All in the Family (CBS, 1971-1979) oder Diff’rent Strokes (NBC, 1978-1985) findet, ist die Erzählung ein und derselben Geschichte aus mehreren Blickwinkeln (»Rashomon-Effekt«). Voice-OverNarration wiederum ist im Fernsehen zwar nicht besonders üblich, aber einige konventionelle Sendungen wie Dragnet (NBC, 1951-1959) oder The Wonder Years (ABC, 1988-1993) nutzen diese Technik, um den Tonfall einer Sendung festzulegen oder erklärende Übergänge zu liefern. All diese Elemente sind freilich explizit als Abweichungen von einer Norm markiert; mithilfe von expositorischen Erzählungen (»Ich erinnere mich gut daran …«) oder künstlichen Szenarien (z.B. Hypnosen, Zeugenaussagen vor Gericht oder Erinnerungen beim

24 | Für Reunion wurde ursprünglich geplant, jede Staffel von einer anderen Clique handeln zu lassen, was die Stabilität von Situationen und Figuren über Bord geworfen hätte, die für serielles Fernsehen üblich ist. Stattdessen wollte man das flexiblere Staffelmodell des Reality-TV übernehmen, bei dem sich ständig neue Kandidaten und Schauplätze abwechseln, der darunterliegende Präsentationsmodus aber identisch bleibt. Die Sendung erreichte jedoch keine zufriedenstellenden Einschaltquoten, so dass sie in der Mitte der ersten Staffel eingestellt wurde; die der Geschichte zugrunde liegenden Geheimnisse blieben ungelöst.

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Anschauen eines Fotoalbums) wird deutlich betont, dass die Sendung im Folgenden unkonventionell vorgeht. In zeitgenössischen komplexen Sendungen sind solche narrativen Variationen nicht nur üblicher, sondern werden auch weit subtiler eingesetzt als in traditioneller Fernsehunterhaltung bzw. werden erst verzögert offenbart. Diese Produktionen scheuen nicht davor zurück, ihre Zuschauer vorübergehend zu verwirren. Fantasy-Sequenzen, die ohne klare Markierung auftreten wie in Northern Exposure (CBS, 1990-1995), Six Feet Under, The Sopranos oder Buffy, liefern Ereignisse, die zwischen Figurensubjektivität und diegetischer Realität schwanken. Sie spielen mit unklaren Abgrenzungen, um Charaktertiefe, Spannung oder komische Effekte zu erzeugen. Komplexe Erzählungen durchbrechen oftmals auch die illusionsästhetische »vierte Wand«. Ob es sich dabei um eine direkte Zuschaueransprache handelt (in Malcolm in the Middle und The Bernie Mac Show [FOX, 2001-2006]) oder um eine unklarer zu verortende OffStimme, die die Linie zwischen dem Diegetischen und dem Nicht-Diegetischen verwischt (in Scrubs und Arrested Development): Beide Techniken betonen den eigenen Konventionsbruch. Sendungen wie Lost, Jack & Bobby oder Boomtown zeigen in jeder Folge Analepsen, die nur durch wenige Orientierungspunkte markiert werden. Alias und The West Wing hingegen beginnen Episoden häufig mit einem Teaser, der den Höhepunkt der Geschichte zeigt, um dann die Uhr zurückzudrehen und die verwirrende Situation aufzuklären, mit der die Folge einsetzte. In all diesen Beispielen schafft der Mangel an expliziten Wegweisern Momente narrativer Desorientierung. Dies verlangt dem Zuschauer höhere Aufmerksamkeit ab, wenn er die Geschichte verstehen möchte. Gleichzeitig werden regelmäßige Zuschauer belohnt, die gelernt haben, den Spielregeln der jeweiligen Sendung zu folgen. In formaler Hinsicht können diese Strategien bestimmten Verfahren im Kunstkino ähneln, doch ihre Funktion in ausdrücklich populären Kontexten, gerichtet an ein Massenpublikum, ist eine andere. So mögen uns einige Szenen in Lost oder Alias vorübergehend verwirren, gleichzeitig bestärken sie uns aber in dem Vertrauen, dass es eine Auflösung geben wird. Diese Belohnung erhalten wir zu gegebener Zeit in Momenten komplexen, aber kohärenten Verstehens, das sich von der Ambiguität und unklaren Kausalität vieler Kunstfilme unterscheidet.25 Die West Wing-Episode »Noël« (2.10) ist ein typisches Beispiel für den Einsatz solcher Diskursstrategien. Die Episode wird von einer Therapiesitzung eingerahmt, in der Josh Lyman eine posttraumatische Stressreaktion nach einem Attentatsversuch verarbeiten soll. Die Situation ermöglicht den konventionellen Einsatz wiederholter Rückblenden, vermittelt durch Joshs Erzählung. Die Rückblenden werden jedoch exzessiv eingesetzt, sind nicht innerhalb einer klaren 25 | Bordwell 1985 bietet in diesem Zusammenhang eine einflussreiche Analyse der Kunstfilmerzählung.

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Reihenfolge angeordnet und weisen Klangbrücken zwischen der gegenwärtig stattfindenden Therapie und den vergangenen Ereignissen auf. In der Gesamtwirkung stellt sich ein Gefühl der Desorientierung ein, das geeignet ist, Spannung und Beklemmung auf Zuschauerseite zu erhöhen. Daneben wird häufig eine bestimmte Szene wiederholt, in der Josh seine Hand an einer Glasscherbe schneidet, angeblich ein Unfall. Sein Therapeut vermutet jedoch korrekt, dass Joshs Erklärung eine gewaltsame Handlung verdecken soll. Die gelogenen Rückblenden sind von den anderen bis zum Ende der Folge nicht klar zu unterscheiden. Somit bleibt es dem Publikum überlassen, die Widersprüche und die verwirrende Chronologie aufzuschlüsseln. Die Episode erreicht ihren Höhepunkt in einer fünfminütigen Sequenz, die getrennte Klänge und Bilder aus fünf verschiedenen Zeitfenstern miteinander verwebt (inklusive einer Handlungsabfolge, die in Wirklichkeit nie stattgefunden hat) und, rhythmisch aufbereitet, einen soliden emotionalen Bogen spannt. Dieser Präsentationsmodus, der eigentlich eher für das europäische Kunstkino als für das amerikanische Fernsehen üblich ist, wird hier in den Dienst einer kohärent fortlaufenden Erzählung gestellt. Ein großer Teil des Zuschauervergnügens ist serieller Natur, da Joshs Zusammenbruch an Dramatik gewinnt, wenn man die Figur gut kennt. Natürlich kann die Folge auch als fesselndes Charakterporträt für sich allein stehen (was dem Schauspieler Bradley Whitford einen Emmy einbrachte), das aber nur, wenn man sich auf ihre spezifischen Erzählkonventionen einlässt – eine Kompetenz, die regelmäßige Zuschauer bereits erworben haben. Narrativ komplexe Sendungen setzen demnach oft auf zeitweilige Desorientierung und Verwirrung, ermöglichen den Zuschauern aber immer, durch langfristige Teilhabe und aktives Engagement die eigene programmspezifische Auffassungsgabe zu trainieren.26 Eine ganze Reihe von aktuellen Medien laden ihre Nutzer zur schrittweisen Erlangung bestimmter Kompetenzen ein, die dann zum Verständnis der jeweils vorgestellten Geschichten und diegetischen Welten notwendig sind.27 Insbesondere Videospiele bauen darauf, dass ihre Spieler einzelne narrative Zusammenhänge und Nahtstellen durch Interaktion selbst ergründen. Fast jedes Spiel beinhaltet sein eigenes diegetisches Trainingsmodul, in dem Spieler lernen, die jeweilige virtuelle Welt mit ihren spezifischen Vorannahmen und Vorgaben zu kontrollieren. Parallel hierzu hat das gegenwärtige Kino einen populären Zyklus von doppelbödigen »puzzle films« hervorgebracht, deren spezifische Regeln be26 | Als ich diese Episode während einer Vorlesung vorführte, hielt ein Student, der die Sendung nie gesehen hatte, sie für eine »Rekapitulationsfolge«. Er nahm fälschlicherweise an, dass sich die Rückblenden auf Ereignisse beziehen, die bereits in früheren Folgen zu sehen waren. Tatsächlich trifft das nur auf wenige Sekunden zu, die den Anschlag auf Josh zeigen. 27 | Vgl. Johnson 2005 für weitere Hinweise zu diesem medienüberspannenden Trend.

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griffen werden müssen, wenn man der Erzählung folgen möchte. Filme wie Pulp Fiction (1994), The Usual Suspects (1995), Lola rennt (1998), The Sixth Sense (1999), Memento, Adaptation oder Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004) gründen allesamt auf einer Ästhetik, bei der das Publikum aufgefordert wird, zusammen mit den Machern in ein kreatives Spiel einzutreten, das im Wesentlichen darin besteht, interpretative Codes zu knacken.28 Das Ziel solcher Entschlüsselung besteht allerdings nicht darin, die Rätsel der Erzählung vorzeitig zu lösen. Während der Zuschauer die doppelbödigen Strategien der Geschichte rekonstruieren können soll, muss er trotzdem noch in der Lage sein, zu genießen, dass er erfolgreich manipuliert wird. Ich bezweifle, dass jemand, der die Wendungen dieser Filme vorhersieht, behaupten würde, sie mehr genossen zu haben als ein Zuschauer, der sich willentlich (aber aktiv) vom Film mitreißen lässt. »Puzzle films« enthüllen ihre narrativen Mechanismen deshalb oft auf dem Höhepunkt des Erzählspektakels – man denke an die Klimax von The Sixth Sense, wenn Rückblenden die überraschende Auflösung offenbaren und der Film offen zur Schau stellt, wie er den Zuschauer meisterhaft an der Nase herumgeführt hat. Obwohl nur wenige Fernsehsendungen dieses Modell übernehmen – einzelne Episoden von Seinfeld, Simpsons, Scrubs und Lost ahmen »puzzle films« nach, die ihrerseits durch die wegweisende Anthologieserie The Twilight Zone (CBS, 1959-1964, 1985-1989, UPN, 2002-2003) beeinflusst wurden –, besteht ein gemeinsames Merkmal der Rezeption von Videospielen, doppelbödigen Filmen und narrativ komplexen Fernsehserien darin, dass die Rezipienten dieser Formate an der Geschichte gleichzeitig Anteil nehmen und sich von ihr manipulieren und überraschen lassen. Hier zeigt sich die operationale Ästhetik: Wir erfreuen uns an den Ergebnissen der Unterhaltungsmaschine, während wir darüber staunen, wie sie funktioniert.

Z USCHAUERBE TEILIGUNG Somit fördert – und mitunter erfordert – narrativ komplexes Fernsehen einen neuen Modus des Zuschauerengagements. Während Fankulturen schon immer an populären Erzählwelten intensiv mitgewirkt haben, indem sie etwa die Konsistenz der Hintergrundgeschichten oder die interne Logik von Sendungen wie Star Trek (NBC, 1966-1969) und Dr. Who (BBC, seit 1963) untersuchten, verlangen zeitgenössische Sendungen nicht nur auf Ebene des Serienuniversums und der Figuren detaillierte Analyse, sondern auch hinsichtlich komple28 | Offensichtlich werden dabei viele Techniken aus früheren Kunstkino-Experimenten übernommen, aber abgesehen von einigen »Paranoia-Filmen« der 1970er Jahre wie The Conversation (1974) wurden solche Formate bislang nur selten im populären Kino genutzt.

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xer Fragen von Plot und Handlungsabläufen. Zuschauer sehen sich Lost, Alias, Veronica Mars, The X-Files, Desperate Housewives oder Twin Peaks zumindest teilweise auch deshalb an, weil sie die zentralen Rätsel der jeweiligen Sendung lösen wollen – in Fanforen kann man die entsprechenden »Spürhunde« bei der Arbeit beobachten. Aber wie bei jeder Fiktion, die von Geheimnissen angetrieben wird, verlangen Zuschauer nicht nur nach interner Logik des Erzählten, sondern auch nach Überraschungen, die ihre Annahmen durchkreuzen. Verarbeitung der Sendung bedeutet, in eine fesselnde Diegese hineingezogen zu werden (so wie bei allen wirkungsvollen Geschichten), dabei aber zugleich die Erzählprozesse zu erkunden, mit deren Hilfe die Sendung den nötigen Grad an Komplexität und Rätselhaftigkeit erreicht. Viele Zuschauer derartiger Serien avancieren daher zu Amateur-Narratologen, die Konventionen von Brüchen unterscheiden, Chronologien rekonstruieren und Inkonsistenzen ebenso wie Kontinuitäten über Episoden und sogar ganze Staffeln hinweg beobachten. Obwohl Fangemeinden sicher schon immer in dieser Richtung tätig waren, konzentriert sich die Forschung hierzu meist auf ihre Beschäftigung mit bestimmten Inhalten, etwa im Fall von Madonna-Videos oder The Cosby Show (NBC, 1984-1982). Narrativ komplexe Sendungen hingegen laden Zuschauer dazu ein, sich auch auf Ebene der Form aktiv einzubringen. Dabei lassen diese Sendungen die Konventionen des traditionellen Fernsehens erkennen und loten die Möglichkeiten aus, die sowohl durch langfristiges Geschichtenerzählen als auch durch kreative Diskursstrategien innerhalb einer Episode eröffnet werden. Viele Sendungen erfordern solches Engagement ausdrücklich; es ist schwer vorstellbar, dass jemand Lost oder Arrested Development sehen könnte, ohne sich auf die formalen Innovationen dieser Serien einzulassen und sich zu fragen, wie Rückblenden oder reflexive Erzählformen die Perspektive auf die dargestellte Handlung beeinflussen. Man kann derartige Produktionen nicht als Fenster auf eine realistische Geschichtenwelt rezipieren; stattdessen fordert narrativ komplexes Fernsehen seine Zuschauer auf, auch dem Fensterrahmen Aufmerksamkeit zu schenken und darüber nachzudenken, wie die Erzählung Zugang zur Diegese gewährt und die Sicht auf die sich entfaltende Handlung zurichtet und oftmals verzerrt. Interessanterweise ist das sowohl bei sehr populären Sendungen der Fall (Lost, Seinfeld, The X-Files) als auch bei Kultprogrammen mit begrenzter Zuschauerzahl, deren Publikum bereit ist, einiges an Mühe für die notwendigen Dechiffrierungsprozesse aufzubringen (Arrested Development, Veronica Mars, Firefly). Obwohl viele dieser Kultsendungen kein Massenpublikum erreichen, legt die Beliebtheit anderer komplexer Sendungen nahe, dass anspruchsvolles Erzählen zunehmend massenkompatibel ist. Damit soll die fortgesetzte Relevanz traditioneller Komponenten der Fernsehunterhaltung nicht heruntergespielt werden, also Charaktertiefe, saubere Auflösung der Handlungsstränge, Action, Spannung und Humor. Narrative Komplexität in ihrer solidesten Form greift auf all diese Elemente zurück, fügt ihnen aber das opera-

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tionale Vergnügen eines formalen Engagements hinzu. Lost bindet Zuschauer sicher auch deshalb, weil es der Serie gelingt, emotional mitreißende Figuren zu zeichnen. Diese Figuren jedoch werden in eine fremdartige Situation geworfen, die sich weder nur als Science Fiction noch einfach als paranormales Mysterium oder religiöse Allegorie klassifizieren lässt, obwohl sämtliche dieser Anteile enthalten sind – und das alles konstruiert entlang einer ausgefeilten Erzählstruktur, die weit komplexer ist als alles, was man zuvor im US-amerikanischen Fernsehen gesehen hat. Die vorliegende Analyse narrativer Komplexität vertritt die Auffassung, dass in den letzten zwei Dekaden ein neues Paradigma des Geschichtenerzählens im amerikanischen Fernsehen entstanden ist. Zu diesem Paradigma gehört die Neufassung des Verhältnisses von episodischen und fortsetzungsorientierten Formaten, ein größeres Maß an Selbstreflexion bei der Ausgestaltung von Erzählmechanismen sowie gestiegene Ansprüche an das Zuschauerengagement, und zwar sowohl auf Ebene des diegetischen Vergnügens als auch bezüglich formaler Kenntnisse und Kompetenzen. Untersucht man die Struktur dieses Modus des Geschichtenerzählens, kann man Verbindungen zu Entwicklungen in der Medienindustrie und ihren Technologien, zu kreativen Strategien und Alltagspraktiken erkennen. All diese Aspekte schwingen im kulturellen Wandel mit, der mit der Entstehung der digitalen Medien und der zunehmenden Interaktivität von Kommunikations- und Unterhaltungsformen einhergeht. Ein verbreiteter Trend, der sich sowohl in Fernseherzählungen als auch in vielen digitalen Formaten (wie Videospielen und Webseiten) zeigt, manifestiert sich in der erhöhten Relevanz prozeduraler Kompetenzen. Auf Seiten von Konsumenten bedeutet dies die Einsicht, dass jeder kulturelle Ausdrucksmodus bestimmten (technologischen) Protokollen folgt und dass man, um sich auf eine gegebene Form einzulassen, die ihr zugrunde liegenden Verfahrensweisen beherrschen muss. Explizit zeigt sich das zum einen in Videospielen (wo der Spielerfolg an das Erlernen bestimmter Prozeduren geknüpft ist), zum anderen im Bereich der Internetnutzung, wo wir in einer sehr kurzen Zeit dazu übergegangen sind, die Nutzung von Links, Suchmaschinen und Bookmarks als natürliche Verhaltensweisen anzusehen. Im Bereich des Fernsehens wiederum stellen komplexe Erzählungen die Anforderungen narrativer Auffassungsgabe und medialer Nutzungskompetenz in den Vordergrund – Fähigkeiten, die in der Fernsehrezeption bislang nur in rudimentärer Form eingefordert wurden. Um diesen Wandel zu begreifen, müssen wir seine Struktur und seine Grenzen mithilfe narratologischer Verfahren nachzeichnen, aber auch mit anderen Methoden, die uns verstehen helfen, welche Bereiche der Unterhaltungsindustrie, welche technologischen Innovationen und welche Teilhabepraktiken durch den beschriebenen narrativen Modus berührt werden. Eine solche Analyse nach dem Modell einer historischen Poetik verdient einen festen Platz innerhalb des vielfältigen Methodenrepertoires der Medienforschung. Anhand der Interaktion von formalen

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Entwicklungen und kulturellen Kontexten gilt es zu zeigen, dass alle Facetten der Medien, von der Produktion bis zur Rezeption, in den komplexen Mitteln aktiv sind, mit denen das Fernsehen komplexe Geschichten erzählt. Übersetzung aus dem Englischen von Frank Kelleter mit Christiane Focking und Annika Lamer.

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DSDS als Reality-Serie Kumulatives Storytelling »on the go« Ursula Ganz-Blättler Eine Geschichte ist erst dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat. Friedrich Dürrenmatt

Dieser Aufsatz befasst sich am Beispiel von Deutschland sucht den Superstar (abgekürzt DSDS) mit der Casting-Show als unterhaltender Fernsehserie. Weil serielle Erzählungen generell dazu neigen, ihr Publikum zum »Mitschreiben« aufzufordern, können Protagonisten von Reality-Serien als Darsteller ihrer eigenen Erfolgsgeschichten genauso Kultstatus und Anhängerschaft erlangen wie die Protagonisten fiktionaler Fernsehunterhaltung. Weil zum Ende der jeweiligen Staffel die von den Zuschauern als Voting-Community mitverantworteten narrativen Stränge einer potenziellen Erfolgsgeschichte offen bleiben, stellt sich die Frage nach deren Fortsetzung: Was passiert mit den Kandidaten und ihren Fangemeinden, wenn die Bühnenlichter ausgehen, die Chartplatzierung Geschichte ist und sich die Öffentlichkeit einer neuen Staffel und ihren Protagonisten zuwendet? Der folgende Beitrag liefert eine Rückschau auf drei Jahre miterlebtes DSDS-Fandom, umgesetzt als erzähltheoretische Reflexion zur Reality-Serie.

S ERIEN : F ORTGESE T Z TE G ESCHICHTEN MIT F OLGEN Wann ist eine Geschichte zu Ende erzählt? Sobald es nichts mehr, oder besser: nichts wesentlich Neues und Interessantes mehr zu wissen gibt?1 Oder erst, wenn die berichteten Ereignisse (gemäß Dürrenmatt) nicht mehr an Dramatik oder menschlicher Tragik überboten werden können? Die Frage ist komplex, 1 | So der Vorschlag von Branigan 1992.

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weil sie sich einer rein pragmatischen Betrachtung entzieht. Jede Narration konstruiert den Gegenstand, um den sie kreist, beständig neu, indem sie Szenarien möglicher Fortsetzungen entwirft und damit Erwartungen schürt, die in der Folge bestätigt oder verworfen werden, was wiederum neue mögliche Fortsetzungsszenarien und entsprechend aktualisierte Sinnzusammenhänge in Aussicht stellt. Bei Ricoeur präsentiert sich dieses Kreisen um die Essenz der narrativen Aussage wie folgt:2 Abbildung 1: Der mimetische Zirkel nach Paul Ricoeur

Mit »mimesis 1« ist bei Ricoeur der Prozess gemeint, mit dem Erzähler und ihr Publikum gemeinschaftlich neue Ereignisse antizipieren (Präfiguration), mit »mimesis 2« der Prozess des aktuellen Mitfieberns (Konfiguration) und mit »mimesis 3« der Prozess des eigentlich sinnstiftenden, abschließenden Rekapitulierens (Refiguration). Erst bei diesem letzten Prozess wird der Plot (das heißt: was bis zu diesem Moment über die Sachlage und deren Veränderung bzw. Entwicklung in Erfahrung zu bringen ist) definitiv in die Geschichte in ihrer Gesamtschau überführt. Die Frage nach dem »Ende« einer Geschichte ist somit ohne Einbezug der kontinuierlichen Konstruktionsleistung seitens eines mitdenkenden und mitwissenden Publikums nicht zu beantworten. Im Einzelfall beruft sich dabei jede Lektüre eines dramatischen Geschehens auf genrebezogene Lesevereinbarungen, bedingt aber auch aufwändige Decodierungsleistungen, weil sich dieses Geschehen notwendigerweise lückenhaft präsentiert und auf Grundlage erkannter Zusammenhänge und unter dem Einfluss eigener Erfahrungen

2 | Vgl. Ricoeur 1983-1985; Modell nach Dubied 2004.

DSDS ALS R EALIT Y -S ERIE

laufend ergänzt und aktualisiert werden muss.3 Noël Carroll geht deshalb in seiner Definition von Fiktion so weit, dass er die Autoren fiktionaler Geschichten weniger als Erfinder denn als Animateure sieht, die den geneigten Lesern, Zuhörern und Zuschauern ihr Material zum freien imaginativen Gebrauch zur Verfügung stellen.4 Zu Ende gedacht sind Geschichten demnach genau in jenem Moment, in dem keiner der beteiligten Co-Autoren noch Lust bekundet, in der angedachten Richtung einer Abenteuer- oder Überlebensgeschichte, einer Liebesgeschichte oder einer Erfolgsgeschichte best- oder schlimmstmögliche Szenarien zu imaginieren. Dann erst kommt das Erzählen an sein Ende, oder besser gesagt: Es macht Platz für neue Erzählungen – die durchaus dieselben Protagonisten betreffen können, bloß in anderen als den ursprünglichen Szenarien und Rollenzuschreibungen.5 »Und sie lebten glücklich bis an ihr Ende« wird dann vielleicht zu einem trivialen »Und sie zogen sich zurück, und man hörte nur noch ganz selten was von ihnen«. Was ja vom Impetus des narrativen Diskurses her tatsächlich als Todesurteil gewertet werden kann, sofern dieser Diskurs fortgesetzt partizipative Beiträge zum gemeinsamen »Weltenbau« (Helbling 1995) und zur reflexiven Anschlusskommunikation erfordert. Beim hier interessierenden episodischen Erzählen, das häppchenweise erfolgt und auch mit den institutionell bedingten, regelhaft anfallenden Unterbrechungen von Tag zu Tag oder Woche zu Woche (eben: in Serie) seine Fortsetzung findet, stellt sich die Frage nach dem Ende in besonders komplexer Weise, weil der Stand der Dinge unter dem Einfluss neu hinzugefügter Informationen über Werdendes und Gewesenes laufend anzupassen und von daher besser als Fluss der Dinge zu beschreiben ist.6 Jede Episode kann als Geschehen für sich gelesen werden, fügt aber auch narratives Wissen zu der übergeordneten Geschichte hinzu (innerhalb einer Staffel, oder über die Gesamtdauer einer Serienlaufzeit hinweg). Die einmal angedachte Geschichte verändert sich im Lauf einer kontinuierlich verfolgten, langfristigen Lektüre, die ja ein langfristiges und kollektives Protokollieren sich anhäufender Wissensstände ist – und damit durchaus Züge eines aktiven Mitschreibens der Geschichte annimmt. 3 | Vgl. Iser 1970. 4 | Vgl. Carroll zu »stories that authors intend readers, listeners, and viewers to imagine« (1998: 273). 5 | Zur Verwendung bestehender Protagonisten in neuen literarischen Fiktionen aus derselben Feder vgl. Helbling 1995. 6 | Vgl. Schabacher: »In einer ersten Näherung […] meint ›Serie‹ eine Folge ähnlicher Dinge. Spezifisch als TV-Serie wiederum lassen sich fiktionale Formate kennzeichnen, die mit wiedererkennbaren Figurenensembles und Settings Narrationen kreieren, die periodisch fortgesetzt werden.« (2010: 23)

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Paul Booth versteht die einschlägigen Textproduktionen von Serienfans, die ihr narratives Wissen im Internet, etwa in enzyklopädischen Wikis oder Diskussionsforen ausbreiten, sammeln und austauschen, als Beiträge zu einer gemeinschaftlich betriebenen narrativen Datenbank. Solche Datenbanken wiederum erscheinen als zunehmend vertraute Orte, an denen man zum Weitererzählen loser Handlungsfäden wie auch zum Diskutieren über bereits Erzähltes und zum Austausch über gemeinsam Erlebtes zusammenkommt: To envisage narrative as a database is to grant salience to an understanding of narrative not just as an activity or process, but also as a place, as an environment upon which meaning can be inlayed. A traditional narrative is temporally connected by plot: the causal association between events. A narrative database, instead, forms from the complex interaction of the audience with the serial narrative, not via an external narrator, but through the connections made by members of the fan community […] The rewriting of the cult serial narrative emerges from the rereading of the story by an audience as communal narrator. The rereading of a database is a way of self-narrating, of constructing a discourse for the self. (Booth 2010: 97)

Die Metapher der laufend erweiterten Datenbank lässt sich gut mit dem Verständnis von Geschichten als in Folgen erzählten Stories-in-progress vereinbaren. Ich schließe dabei an den von Horace Newcomb geprägten Begriff des »cumulative narrative« an.7 Unter einer kumulativen Erzählung sind episodische Seriengeschichten zu verstehen, deren Protagonisten die Befähigung zur selektiven Erinnerung an vorangegangene Episoden oder historisch weiter zurückliegende Ereignisse besitzen. Sie können damit auf in der Vergangenheit angesiedeltes Story-Material genauso zurückgreifen wie die ausführenden Serienproduzenten (Showrunner) und ihr aufmerksames Fanpublikum. Kumulativ ist eine Geschichte dann, wenn sie mehrere Lesarten auf der Basis unterschiedlicher Wissensstände erlaubt, wobei sich das über langfristige Lektüre erworbene Zusatzwissen hauptsächlich in einer Vertiefung der Serienfiguren und damit einer auf Dauer schärferen, nuancenreicheren Charakterzeichnung niederschlägt. Wo sich also aus Sicht des Gelegenheitszuschauers oberflächliche Stereotypen in vorhersehbaren Klischee-Abläufen tummeln, entsteht für den aufmerksamen und mitdenkenden Beobachter als in der Sache erfahrenen Leser – Eco spricht vom »expert reader« (1990) – eine reiche, von Widersprüchen und langwierigen Entwicklungen geprägte Welt, in der zu verweilen sich durchaus lohnt. Um ein etwas älteres Beispiel aus den Daily Cartoons der US-amerikanischen Tagespresse zu zitieren: Charlie Browns Hund Snoopy ist für einen Beagle nicht nur erstaunlich bewandert in der Geschichte des Luftkriegs zwi7 | Vgl. Newcomb 1985, 2004 und weiterführend: Ganz-Blättler 2011.

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schen Deutschland und den Alliierten anno 1914-1918 – man denke an seine fliegerischen Heldentaten, bei denen er sich als Flieger-As Red Baron imaginiert –, sondern er kann sich auch an frühere Abenteuer erinnern. In den Strips vom 6. bis 13. August 1965 weist er als smarter Beach Boy den Annäherungsversuch einer jungen Hundedame zurück, weil diese ihn ein halbes Jahr zuvor (damals auf der Eisbahn) mit einem anderen Hund betrogen hatte. Tatsächlich sind seit der leidenschaftlichen Affäre sechs Monate in der erzählten Zeit der Serie vergangen. Snoopys harsche Reaktion ergibt nur dann einen Sinn, wenn sich der Leser an diese frühere Episode erinnert – was Zeichner Charles Schulz offenbar von ihm erwartet. Um es mit Eco zu sagen: In the stories of Charlie Brown, apparently nothing happens, and any character is obsessively repeating his/her standard performance. And yet in every strip the character of Charlie Brown or Snoopy is enriched and deepened. This does not happen either with Nero Wolfe or Starsky and Hutch: we are always interested in their new adventures, but we already know all we need to know about their psychology, their habits, their capacities, their ethical standpoints. (1990: 87)

Um zum eingangs vorgestellten Modell von Ricoeur zurückzukehren: Die über Wochen, Monate und Jahre fortgesetzten Serien, die ihren Protagonisten (oder einigen ihrer Protagonisten) ein Gedächtnis und damit die Möglichkeit persönlicher Entwicklung und Lernprozesse zugestehen, fordern den treuen Leser, Zuschauer oder Zuhörer nicht nur heraus, diese Entwicklung besonders aufmerksam zu verfolgen und sich die Geschichte, unter Rückgriff auf einschlägige Konventionen und selbständiges »Lückenbüßen«, zu eigen zu machen. Die Lesevereinbarung beinhaltet auch eine andauernde Revision des einmal Gewussten. Dabei kann es um eine Vertiefung gehen oder um ein radikales Umdenken, wenn Dinge in Erfahrung gebracht werden, die bisherige Kenntnisse über den Haufen werfen oder in einem neuen Licht erscheinen lassen. Der mimetische Zirkel bezieht sich demnach nicht nur auf die bereits festgeschriebenen (oder im Fernsehen ausgestrahlten) Ereignisse, die sich, Kapitel für Kapitel und Sitzung für Sitzung, zu einer kohärenten Kette von Verhaltenseinheiten zusammensetzen. Sondern es muss auch Folge für Folge neu und unter Aufbietung aller interpretatorischen Kräfte entschieden werden, was an bereits Gewusstem für den weiteren Verlauf der Geschichte als relevant erachtet wird und was nicht. Kein Wunder, dass Serien ihr Publikum binden: Es wird ihm ja bei jeder Unterbrechung der Serienhandlung, wie überhaupt bei jeder Lücke im Erzählfluss (seien es Werbeunterbrechungen, Cliffhanger zum Ende einer Folge oder Staffel-Pausen) angeboten, den in der Schwebe befindlichen weiteren Verlauf der kumulativen Story-in-progress zwischenzeitlich weiterzuschreiben, zu revidieren und mitzugestalten.

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Abbildung 2: Ricoeurs mimetischer Zirkel, adaptiert für episodische (und insbesondere periodisch weitergeführte) Serienerzählungen

Damit relativieren öffentlich erzählte Fortsetzungsgeschichten die klassische Rollenverteilung, wie sie bei am Stück konsumierten Geschichten zumindest zu Beginn etabliert wird (im Extremfall: hier der alleswissende Erzähler, dort der nichtwissende Zuschauer/Zuhörer/Leser). Denn der Leser, der sich auf das lückenhafte Geschehen einlässt und »dranbleibt«, wird im Lauf der Zeit durchaus zum Besserwisser und damit zu einem aktiven Teilnehmer an der laufenden narrativen Kommunikation: ein prä- und refigurierender Miterzähler, der sich eine eigene Expertenmeinung erlaubt und für das laufende Geschehen Szenarien entwirft, die vom auktorial vorgegebenen Handlungsverlauf der Vorlage erheblich abweichen können. Solange es dabei um ein rein spielerisches Mit-Imaginieren geht – ich rede von dem für unterhaltende Serien als typisch geltenden Fall der literarischen oder audiovisuellen Fiktion, die als solche eindeutig zu erkennen ist –, sind gemeinsam konstruierte, flexibel erweiterbare Paralleluniversen die Regel und auktorial kontrollierte Festschreibungen die Ausnahme. Wie sich das angeregtanregende Mit- und Weiterimaginieren allerdings darstellt, wenn der Anlass für den kollektiven Weltenbau ein Geschehen im Hier und Jetzt ist, das Personen mit einem selbstbestimmten Eigenleben impliziert, soll im Folgenden gezeigt werden. Es geht um die Erzählungen eines höchst erfolgreichen Reality-Formats: der Casting-Show.

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D AS B ESONDERE DER R E ALIT Y -S ERIE ALS G ESCHICHTE MIT F OLGEN Wenn es ein Genre gibt, das nur im Medium Fernsehen stattfinden kann, ist es das Reality-Genre bzw. die »unscripted series«, wie das Phänomen im angelsächsischen Raum auch genannt wird (in Abgrenzung zu den klar erkennbar fiktionalen TV-Serien mit zuvor abgesprochenen Dialogen). Es handelt sich um mehr oder weniger stark dramatisierte (vor- und nachbearbeitete) Fortsetzungsgeschichten mit Laien in den Hauptrollen (besonders häufig: als Kandidaten einer Spielshow), wobei in der Regel keine Dialoge vorgegeben (»gescripted«) sind, jedoch durchaus redaktionelle Vorgaben in Form von Rollenzuschreibungen mit entsprechenden Verhaltenserwartungen bestehen, in die die Teilnehmenden als nichtprofessionelle Akteure quasi hineinwachsen, während sie in vorprogrammierten Abläufen vor der Kamera agieren – für die Dauer der Einzelfolge und, sofern sie in der Serie verbleiben, über die Laufzeit der ganzen Staffel. In letzter Zeit haben Reality-Formate vor allem im Zusammenhang mit strategischen Fragen zur Programmgestaltung im Zeitalter des Fernsehens 2.0 für Aufsehen gesorgt.8 Von der Nachfrageseite her betrachtet, geht es vornehmlich um die spezifische Attraktivität solcher Programme für das breite Publikum.9 Dabei wird längst nicht mehr nur der Siegeszug des so genannten Trash-TV beklagt oder voyeuristische Lust am Intimen bzw. Schadenfreude ob bescheidener Kandidatenleistungen konstatiert. Den Fans als »expert readers«, die dem jeweiligen Programm über die ganze Staffel oder die ganze Laufzeit hinweg die Treue halten, ist durchaus dieselbe Neugierde als Motivation zuzugestehen, die auch Fernsehwissenschaftler umtreibt, wenn sie die Frage nach der Authentizität (Unmittelbarkeit) des ausgestrahlten Geschehens stellen. Inwiefern also beruhen die von den Fernsehkameras aufgezeichneten Ereignisse auf formellen und informellen Vereinbarungen hinter den Kulissen? Wieweit sind und bleiben sich die Kandidaten solcher Vereinbarungen bewusst, und welche Spielräume strategischer oder taktischer Verweigerung haben sie? Und, in der Konsequenz der bereits gestellten Fragen: Als wie »authentisch« sind die live ausgestrahlten Verhaltensweisen und Handlungen tatsächlich einzuschätzen? Mara Kurotschka (2007) liefert in ihrer Auseinandersetzung mit den Authentisierungs- und Fiktionalisierungsstrategien von Deutschland sucht den Superstar wichtige Anhaltspunkte für die Beantwortung dieser Fragen. Die Autorin vertritt in ihrer narrativen Analyse von DSDS die Meinung, dass man den Kandidaten solcher Spielshows durchaus Gewandtheit im Um8 | Vgl. etwa Magder 2009. 9 | Für das Beispiel der Casting-Show vgl. Nieland 2004, Döveling 2007, Kurotschka 2007, Wolf 2010.

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gang mit dem Rampenlicht zugestehen dürfe, weil sie ja auch als Amateure oder Halbprofis (im Musik- oder Modebusiness) einschlägige Kenntnisse und Auftritts- bzw. Catwalk-Erfahrung mitbringen. Sie sind zumindest auf der Showbühne nicht Opfer einer vorgegebenen Inszenierung (die ihnen festgeschriebene Rollen zuweist, etwa als »Rocker« oder »Schmusesänger«), sondern gestalten diese Inszenierung aktiv mit. Wesentlich schwieriger, weil auf Anhieb unvertraut, gestaltet sich gemäß Kurotschka das Rollenspiel in allen anderen Situationen, in denen Kameras auf die Casting-Kandidaten gerichtet sind. Dort haben diese Instant Celebrities Rollenerwartungen genauso zu erfüllen wie auf der Showbühne, etwa als Rebell oder »verrückter Typ«, als idealer Schwiegersohn und patenter Kumpel, als Zicke usw. Dabei ist die öffentliche Wirkung dieser Rollen aber weit schwerer abschätzbar als die professionelle des vorgegebenen Musikgenres, weil der Geltungsbereich nun nicht mehr an den Rändern der Showbühne aufhört. Aufgrund der Abschottung der Kandidaten von ihrer gewohnten Lebenswelt kann diese Wirkung auch nicht wirklich eingeübt und hinsichtlich der Publikumsresonanz überprüft werden. Gerade Laien (hinsichtlich des Umgangs mit öffentlicher Aufmerksamkeit und der Wahrung ihrer Privatsphäre) sind dem Druck, der durch solche Vorgaben entsteht, nur bedingt gewachsen und können sich leicht »vergessen«. Dazu Kurotschka: Die eingeschränkten Fähigkeiten hinsichtlich ihres willkürlichen Darstellungsrepertoires werden insbesondere in Situationen hoher emotionaler Anspannung offenkundig. In diesen Momenten wirkt die Darstellung der Kandidaten brüchig, und der wirkliche Mensch scheint hinter der Fassade sichtbar zu werden. (2007: 139)

Was dann als Authentizität hinter der Maske des (vermuteten) Rollenspiels zutage tritt, ist womöglich lediglich eine Überforderung – die sich allerdings im Vergleich zum gewohnt routinierten Umgang anderer Fernsehpersönlichkeiten mit Medienhypes als scheinbare Unmittelbarkeit und (positiv oder negativ konnotierte) Unwillkürlichkeit im Auftritt äußert. Der Ausraster vor laufender Kamera enthüllt dann eben den »wahren Charakter« des Menschen. Die Tränen sind Ausdruck »wahrhaft« empfundener Emotionalität. Und wer in einer hochdramatischen Situation die Contenance bewahrt, gilt je nachdem als »besonnen«, als »kühl« oder auch als »berechnend«. Kurotschka spricht in diesem Zusammenhang von einer »Korsettierung« der Kandidaten und davon, dass es letztlich nicht um eine möglichst wirklichkeitsgetreue Darstellung von realem Geschehen geht, sondern um eine »quoten- und damit gewinnorientierte dramaturgische Aufbereitung von Video-Sequenzen aus dem Leben der Kandidaten« (2007: 127).

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Dazu kommt, dass die Kandidaten im Lauf der erfolgsorientierten Spielhandlung (der Kür eines »Superstars« oder auch eines nächsten »Supermodels«) in zunehmendem Maße nicht mehr nur der Jurywertung ausgeliefert, sondern auch dem Zuschauervotum anheimgestellt sind. Damit liefern sie sich einer spezifizierten Zielgruppe von Wählern aus, um die innerhalb der gegebenen Wettbewerbssituation immer wieder neu gebuhlt werden muss.10 Es ist dieser im Sinne von Ricoeur als »narrativ« identifizierbare Erwartungsdruck, der Bindung schafft – und zwar auf beiden Seiten. Zum einen fühlt sich der Kandidat den für ihn votierenden Zuschauern gegenüber zu Höchstleistungen verpflichtet, sowohl hinsichtlich der musikalischen Performanz als auch hinsichtlich der Performanz in authentischer Selbstdarstellung für ein jeweiliges Spezialpublikum mit besonderen Anforderungen. Umgekehrt verpflichtet sich der anrufende Zuschauer »seinem« Kandidaten gegenüber zu anhaltenden Supportleistungen, weil ja der Anruf im Studio suggeriert, dass sich durch solche Interaktionen – die aus betriebswirtschaftlicher Sicht nichts anderes sind als vom Zuschauer bezahlte Marktforschung – der steinige Weg des entdeckten Talents zur postulierten Spitze in direkter und pragmatischer Weise ebnen lasse. Die Einladung zum gemeinsamen Erklimmen der Charts erfüllt sich dabei nicht mit dem Abschluss der jeweiligen Staffel, sondern erst in der Zeit danach. Deswegen sieht auch die letzte Entscheidungsshow jeder Staffel keine narrative Schließung vor, sondern bricht unmittelbar nach Bekanntgabe der VotingZahlen ab. Es ist ein Cliffhanger: Die begonnenen Karrieregeschichten finden mit dem Ergebnis nicht ihr Ende, sondern nehmen dort ihren Ausgang. Der narrative Vertrag ist der einer Soap Opera: Er erfüllt sich erst in der Folgezeit über das Erscheinen und den Kauf von Tonträgern, über die Ankündigung und den Besuch von Konzerten und Werbeveranstaltungen, und nicht zuletzt über die Teilnahme an unzähligen weiteren Voting-Aktionen, die von Jugendzeitschriften und Webradios initiiert werden und zum Sängerwettstreit aufrufen. Dass bei derartigen Initiativen regelmäßig die Finalisten der Casting-Sendungen die ersten Plätze belegen, illustriert den Erfolg dieser Strategie jenseits des Formatrahmens.11 Für die zuschauende, mitfiebernde, anrufende und im Internet weiter klickende Voting-Gemeinschaft geht es dabei nicht zuletzt um den 10 | Vgl. Kurotschka 2007. 11 | Ein Beispiel: Marco Carta, der Sieger des italienischen Casting-Formats Amici von 2008, hat es im Folgejahr dank seiner anruferfahrenen Voting-Community spielend auf das Siegerpodest des altehrwürdigen Sänger-Wettstreits von San Remo geschafft. Im nachfolgenden Jahr gewann der Sieger von Amici 2009, Valerio Scanu. Zahlreiche kritische Stimmen haben daraufhin auf den Zusammenhang zwischen der kriselnden Musikindustrie und den Reality-Formaten als (kurzfristig wirksame) Marketingstrategie hingewiesen, vgl. etwa »In Rilievo« 2010.

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Erhalt der öffentlichen Aufmerksamkeit für den jeweiligen Favoriten – so gut sich das eben als Teilnehmer einer doch recht beschränkten Teilöffentlichkeit bewerkstelligen lässt. Damit komme ich zu dem Punkt, der meine eigenen Betrachtungen von den Beobachtungen Kurotschkas zu DSDS als einer effizienten, Realität und Fiktion raffiniert verschränkenden Erzählmaschine abgrenzt: Bisher noch kaum zur Sprache gekommen ist die narrative Struktur und prinzipielle Offenheit der über Casting-Formate erzählten Erfolgsgeschichten, insofern diese nach Abschluss der jeweiligen Staffel interaktiv und medienübergreifend weiter rezipiert und seitens der Fangemeinden mit enormem Einsatz weiter geschrieben werden – zumindest solange, wie die beteiligten Personen im Licht der erwähnten Teilöffentlichkeit stehen und für ihre jeweilige Anhängerschaft Relevanz als auftretende Acts und so genannte Microcelebrities besitzen.12 Es geht mir dabei insbesondere um die Aspekte der zuschauerseitig etablierten, personenbezogenen narrativen Datenbank und der auf lebhaften Imaginationen beruhenden Konstruktionsleistungen, die im Fall der Reality-Serien fanspezifische Verhaltensformen und kreative Ableger generieren, die auch von fiktionalen Serien her bekannt sind (z.B. Fotos und Videos als Zeugnisse besuchter Events, selbstproduzierte Fan Art, Fanzines, Fan Fiction usw.).13 Der Traum von der angedachten Karriere geht ja für die Kandidaten – sowohl die postulierten Gewinner als auch die Verlierer – weiter, und zwar als kollektiv imaginierte Erfolgsgeschichte unter verschärften (Alltags-)Bedingungen. Dass der allseits generierte Erwartungsdruck unter solch erschwerten Bedingungen nicht nachlässt, ist nachvollziehbar: Kandidaten und Fangemeinden stellen dem drohenden Rückfall in die Anonymität ehrgeizig und unverdrossen den Traum nationaler oder gar weltweiter Berühmtheit entgegen. Weil dafür im Zeitalter von Web 2.0 öffentliche und halb-öffentliche Plattformen genutzt werden (z.B. Fanforen, Blogs, Facebook und andere soziale Netzwerke), lassen sich die entstehenden Geschichten jenseits der von der ursprünglichen Serie etablierten öffentlichen Plattformen (und häufig im taktischen Widerstand dazu bzw. in rechtlichen Grenzbereichen des Copyright Abuse) als integratives Gemeinschaftsprojekt weiter verfolgen.

12 | Der Begriff Microcelebrity ist bisher vor allem für Blogbetreiber und Camgirls etabliert, lässt sich aber auch für Casting-Kandidaten und deren Gefolgschaft verwenden. Es handelt sich um Personen, die in Internet-Medien einem zahlenmäßig beschränkten (quasi dörflichen) Kreis bekannt sind und in diesem Kreis Star-Status genießen. Dazu Thompson: »Microcelebrity is the phenomenon of being extremely well known not to millions but to a small group – a thousand people, or maybe only a few dozen« (2007: n.pag.). 13 | Eine beliebte Plattform für Fan Fiction zu DSDS-Kandidaten ist »FanFiktion.de«.

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Das Beispiel der Casting-Show ließe sich dabei beliebig erweitern und für andere Reality-Serien adaptieren. Ausgewählt wurde es hier zum einen, weil sich bei diesen transmedialen Events von nationaler Reichweite besonders viele Realitätsebenen in komplexer Weise verschachteln (wie Kurotschka anschaulich darstellt), aber auch weil die Autorin über drei Jahre hinweg Gelegenheit hatte, in der Fangemeinschaft eines durchaus erfolgreichen Casting-Kandidaten Informationen aus erster Hand zu sammeln. Dies erlaubt, die charakteristischen Episoden der Serie »danach« exemplarisch nachzuzeichnen. Ich gehe im Folgenden von zwei Prämissen aus. Die eine Prämisse besagt, dass Casting-Shows in erster Linie als patente Marketinginstrumente der krisenanfälligen Unterhaltungsindustrie fungieren, die scheinbar aus dem Nichts kommende Unbekannte zu kommerziell verwertbaren (und buchbaren) Acts im Sinn von Nischenprodukten formatiert und mit entsprechend generierten Zielpublikumserwartungen kurzschließt. Die andere Prämisse besagt, dass die Fanbase eines Casting-Kandidaten im Anschluss an die Ausstrahlung der Show nicht allein durch die seriell eingeübte Inszenierung der Person als »Star« oder die dokumentierten und unter Wettbewerbsbedingungen überprüfbaren Gesanges- und Darstellungsleistungen des Kandidaten gehalten wird, sondern vor allem durch die reizvolle Aussicht, aktiv an der weiteren Karriere und damit der Lebensgeschichte besagter Personen mitzuschreiben. Damit sind narrative Bindungen angesprochen, die zwar durch die Medien generiert, also eigentlich »parasozial« sind – im Musikgeschäft werden sie traditionellerweise über die Star-Fan-Interaktion via Konzertbühne bewirtschaftet –, die aber über die Fortsetzung in sozialen Netzwerken sehr rasch Relevanz für die Lebenswirklichkeit der beteiligten Akteure (den Star wie die Fans) erlangen. Der designierte Star wird versuchen, seine Fans bei der Stange zu halten, indem er deren Erwartungen hinsichtlich musikalischer Erfolgsmeldungen, aber auch hinsichtlich der Veräußerlichung seiner privaten Person so gut wie möglich aufrechterhält. Der Fan wiederum nimmt sich als »Juror« (und Mitverantwortlicher) für die Karriere seines Favoriten womöglich Freiheiten heraus, die die Privatsphäre des Kandidaten in erheblicher Weise tangieren. Es mag ja gut gemeint sein, wenn man seinem »fave« in öffentlich einsehbaren Blogs und Foren bessere Berater als die tatsächlich vorhandenen wünscht, einen anderen Musikstil als den vom Star präferierten, einen anderen Kleider- oder Frisurengeschmack – und bessere bzw. andere Fans als jene, mit denen man sich die Aufmerksamkeit teilt und über die kommenden Durststrecken hinweg teilen muss. Dies sind für fiktionale Serien durchaus gängige Verfahrensweisen der kenntnisreichen Anschlusskommunikation. In öffentlich einsehbaren Fanfiktionen wird aber auch »Weltenbau« in Form alternativer Realitäten entworfen, in denen der Künstler, womöglich zusammen mit dem schreibenden Fan, fiktive Abenteuer besteht und Liebschaften pflegt, bei denen anderen real existierenden Personen imaginäre (und nicht immer schmeichelhafte) Rollen zugedacht

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werden. All das ist von genuinem Interesse und ehrlich gemeinter Anteilnahme geprägt, trägt aber ein gewaltiges Konfliktpotenzial, weil sich die vom Künstler selbst und seinem Umfeld gewählten Lebensentwürfe nicht wirklich mit den imaginären Alternativentwürfen der aktiven Fangemeinde zur Deckung bringen lassen.

DSDS: D ER TAG DANACH Gemäß der Definition von Kurotschka handelt es sich bei Deutschland sucht den Superstar um »(1) eine Geschichte, die (2) im Rahmen einer Live-Show erzählt wird, in der (3) ein Spiel gespielt wird, das (4) wirkliche Folgen hat« (2007: 145). Das ist zutreffend. Allerdings sind es viele Geschichten um programmatisch eingesetzte Spielfiguren in der Gestalt von Casting-Kandidaten, die parallel erzählt werden und die sich um den Hauptstrang einer Geschichte bündeln, deren Protagonist alle Fäden in der Hand zu halten scheint und Staffel für Staffel als unangefochtene Hauptfigur wiederkehrt: der für die Sendereihe produktionstechnisch mitverantwortliche Hauptjuror, der als Fachmann und (möglicher) Mäzen beansprucht, Karrieren zu fördern oder zu verhindern. Bei Deutschland sucht den Superstar (und bei anderen Casting-Formaten) heißt er Dieter Bohlen. Wer sich als Serienzuschauer dieser außerordentlich populären und mediengewandten Figur als Hauptdarsteller verpflichtet, wird Staffel für Staffel mit einer neuen Ausgabe derselben Geschichte belohnt: Er hat die Sicherheit, dass zum Ende der Staffel eine Person als Sieger des Wettbewerbs gekürt wird, von der sich dann Tonträger erwerben lassen, die zur gleichen Zeit von zahlreichen anderen Zuschauern gekauft werden. Wer sich demgegenüber aus dem reichen Angebot an Publikumslieblingen einen aussucht, der dem eigenen Geschmacks- und Sympathieempfinden besonders zusagt, schlüpft in die vorgegebene Rolle eines Teamplayers und Supporters – entsprechend dem Vorbild des Saalpublikums, das in verschiedene Fankurven aufgeteilt erscheint. Er verpflichtet sich gewissermaßen zur Gefolgschaft bis zum Triumph, wobei dieser Triumph letztlich jenseits des Casting-Formats und seines Finales, aber auch jenseits des Momentes der Unterzeichnung eines erträumten Platten- oder Modelvertrags liegt. Eigentlich ist der Triumph ein beständig aufgeschobener, prospektiver. Die Geschichte geht, mit anderen Worten, weiter. DSDS erzählt damit wahlweise zwei unterschiedliche Fortsetzungsgeschichten: Je nach Präferenz einmal die als »series« erlebte Erfolgsgeschichte mit Wiederholungsgarantie (wobei die Zuschauererwartungen hinsichtlich komischer wie emotionaler Momente mit Sicherheit, weil genreimmanent, erfüllt werden). Oder aber die als »serial« erlebte Kandidatenkür mit völlig offenem Ausgang, die vom Zuschauer als teilnehmendem Beobachter einiges mehr an Engagement und Hingabe verlangt, und zwar über Wochen (bis zum Erschei-

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nen von Single und Album), Monate (bis zu den ersten öffentlichen Auftritten des Stars mit Band und eigenem Songmaterial) und Jahre hinweg. Im letzten und konsequentesten Fall heißt das: bis zur erhofften Konsolidation im Musikbusiness, die im Zeitalter intelligenten Selbstmarketings und kleiner Labels auf ganz verschiedenartige Weise erfolgen kann. Was DSDS dem Zuschauer als Blaupause für eigene Imaginationen anbietet, ist demnach eine komplex verschachtelte narrative Doppelstruktur, die einerseits das Format selbst ins Zentrum stellt (der Talentwettbewerb, der jedes Jahr als Joint Venture von Plattenindustrie und Fernsehindustrie neue medienübergreifend vermarktete »Superstars« generiert), und andererseits den Kandidaten eine – langfristig individuell nutzbare – Plattform zur Selbstvermarktung zur Verfügung stellt. Abbildung 3: DSDS als narrative Doppelstruktur

Im Modell steht links die (in der Krise befindliche) Musikindustrie mit den produzierenden und vertreibenden Major Labels (erst Sony BMG, jetzt Universal) und angehängten Zweigindustrien, Künstlermanagement sowie Eventorganisation. In der Mitte finden sich überlagert die Formatstruktur und die individuelle Kandidatenbiografie, die in das Format hineingeschrieben und entsprechend adaptiert wird, während rechts das – im Erfolgsfall rasch wachsende, aber im Regelfall auch außerordentlich heterogene – Umfeld der Kandidaten dargestellt ist. Das Schaubild zeigt auf, wie unterschiedlich die Erwartungen sind, die durch Casting-Formate geschürt werden: Auf der einen Seite werden Kandidaten und Fans von der mit den Formatbetreibern kooperierenden Musik- oder Modeindustrie als Käufer und Werbetreibende instrumentalisiert, sowohl während der Ausstrahlung der jeweiligen Staffel wie auch danach, solange

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Tonträger der Kandidaten vertrieben werden. Auf der anderen Seite instrumentalisieren Kandidaten und Fans das Format und die kooperierende Industrie, um den gemeinsam geträumten Traum von der Weltkarriere zu verwirklichen – oder wenigstens den Wunsch, weiterhin Musik zu machen, mit dieser Musik öffentlich aufzutreten und von der eigenen musikalischen Tätigkeit in irgendeiner Form leben zu können. Abbildung 4: Das Joint Venture zwischen Musikindustrie und Fernsehformat

Aus der Sicht des Casting-Formats als staffelweise fortgeführter Fernsehserie ist der Kandidat eine reine Spielfigur und erscheint ganz in den Dienst des Formats und des darin generierten Produktverbundes gestellt, an den er auch vertraglich gebunden ist. Der Kandidat ist aus solcher Perspektive ein Produkt des Formats, entsprechend der von Simon Cowell (Erfinder des Casting-Formats XFactor und langjähriger Juror von American Idol) überlieferten Aussage, wonach die krisengeschüttelte Musikindustrie ihre nächsten Acts von Grund auf selbst designen (heißt: auf bestimmte Hörererwartungen hin zielgruppengerecht produzieren) muss: This job nowadays […] means you have to be much more proactive in what you’re doing, you are the person who has to instigate your next artist. You can’t just wait for someone to walk in who is amazing. It’s too competitive now. You have to be the creator. (Cowell 2001: n.pag.)

Auf der anderen Seite stehen die – im nächsten Modell ins Zentrum gerückten – Interessen des Casting-Kandidaten, für den das Fernsehformat und die institutionellen Beziehungen zu einem großen Plattenlabel ein patentes Mittel zum Zweck darstellen, Aufmerksamkeit für den Moment zu generieren und Fans als Basis für eine dauerhafte, erfolgversprechende musikalische Laufbahn zu gewinnen.

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Abbildung 5: Das Joint Venture zwischen Kandidat(enumfeld) und Fanbase als Team

Wer sich als Fernsehzuschauer und (möglicher) Plattenkäufer auf diese doppelte narrative Struktur einlässt, hat die Wahl, Teil einer Fangemeinschaft auf Zeit zu werden und mit der Rückkehr vor den Bildschirm, zu Beginn der nächsten Staffel, die Erwartungen der Fernsehproduzenten zu erfüllen, die sich ein treues Stammpublikum für ihr Format erhoffen. Oder aber man wählt sich aus einer bestimmten Staffel seinen Favoriten im Sinn eines »Lieblingsschauspielers«, dem man sein Interesse auch jenseits der Fernsehausstrahlung zuwendet und dem man weiter zuhört und zusieht, inklusive der (auch riskanten) Aussicht, zum »expert reader« für seine sämtlichen öffentlichen und auch privaten Angelegenheiten zu werden. Man gerät damit zum Bestandteil einer dauerhaften, jedoch zahlenmäßig beschränkten Gemeinschaft von sogenannten Hardcorefans, die sich durch das, was an Unwägbarem jenseits der absehbaren Karriereschritte zu erwarten ist, nicht leicht abschrecken lassen. Entschädigt wird dieser nachhaltige Fan, der sich dafür entscheidet, den Weg seines persönlichen »Superstars« durch Höhen wie Tiefen und womöglich über Jahre hinaus zu verfolgen, nicht nur durch eine besonders große Nähe zu dem Favoriten, sondern auch durch eine enorme Akkumulation von Wissen, die sich aus der intensiven Auseinandersetzung mit dem (Musik- oder Mode-) Business als Themenschwerpunkt ebenso nährt wie aus der intensiven Auseinandersetzung mit anderen, prinzipiell gleichgesinnten Fans. Diese verfolgen ein gemeinsames Ziel und bewirtschaften die aus Fakten und Gerüchten genährte narrative Datenbank kollektiv. Sie verstehen aber auch Unterschiedliches unter Karriereförderung, gerade wegen der mit der Zeit wegbrechenden institutionellen Vorgaben. Für Konfliktstoff sorgen etwa die oft wenig professionellen Strukturen, die die ursprünglich straff organisierte Kandidatenbetreuung ablösen (müssen), sobald der Künstler wieder auf sich selbst gestellt ist. Unstimmigkeiten werden aber auch durch unterschiedliche Vorstellungen darüber

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geschürt, wie man sich als Fan gegenüber seinem Favoriten sowie gegenüber anderen Fans zu verhalten hat. Anders ausgedrückt: Die Casting-Show als Reality-Serie produziert auf lange Sicht gerade keine standardisierten, stereotypisierten und idealisierten Fernsehlieblinge mit einer uniformen, quasi gleichgeschalteten Gefolgschaft von »cultural dopes«, sondern komplexe Charaktere, die sich einer Fremdzuschreibung von Eigenschaften, Verhaltensweisen und Entwicklungen verweigern (müssen) – allerdings in der nicht immer leichten Allianz mit Fans als Karrierepartnern, die wiederum eigene Vorstellungen und Erwartungen mitbringen. Zwar gibt es in den jeweiligen Universen Blaupausen für eindimensionale Rollenzuschreibungen. Dazu gehört die Konkurrenz in Form des (wahlweise: unmusikalischen, hässlichen, unsympathischen, unfairen oder nicht authentischen) Gegenkandidaten, der dem eigenen Favoriten unmöglich das Wasser reichen kann. Zu den Feindbildern gehört aber auch der überaus kritische Fan, der sich herausnimmt, Karriere-Entscheidungen des Stars offen zu hinterfragen bzw. auf der anderen Seite die Figur des Managers, der wahlweise als »ausbeuterisch«, »unfähig«, »unsensibel« oder schlicht als »Katastrophe« gesehen wird. Es zeigen sich hier Strukturen und Dynamiken, die in wechselvollen Fanallianzen immer dann auftreten, wenn ihnen eine Wettbewerbssituation zugrunde liegt. Für eine weitergehende Betrachtung der entsprechenden Dynamiken gibt der Mannschaftssport Fußball, mit seinen äußerst bewegten Fangruppen- und Vereinsgeschichten, ein gutes Vergleichsbeispiel ab.14 Bleibt die abschließende Frage, ob sich für die Form der Reality-Serie, wie sie jenseits des originären Fernsehformats von den ehemaligen Kandidaten und ihren Fangemeinschaften weiter geschrieben wird, regelhafte Episoden oder Kapitel ausmachen lassen, mit entsprechenden dramaturgischen Zuspitzungen und Spannungshöhepunkten. Die Frage lässt sich insofern bejahen, als das Berufsfeld des Musikers oder Models solche Vorgaben natürlich bereithält. Die strukturierenden Elemente werden im Fall von DSDS gleich im Anschluss an die Staffel etabliert und bleiben im Wesentlichen von Ausgabe zu Ausgabe gleich. Immer wieder neu und geduldig abzuwarten sind insbesondere: • Veröffentlichungsdaten für Tonträger und Videos (die nach der Ankündigung häufig wieder auf unbestimmte Zeit verschoben werden), • Konzertereignisse und öffentliche Auftritte, bei denen sich die Fans treffen und ihrerseits Dokumentationsmaterial für die Zuhausegebliebenen produzieren, • Promotionstermine im Zusammenhang mit Musikveröffentlichungen und Auftritten.

14 | Vgl. Brenner 2009.

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Hinzu kommen Auftritte in bestimmten Reality-Formaten, für die die ehemaligen DSDS-Kandidaten regelmäßig angefragt werden (etwa das Perfekte Promidinner bei VOX, dessen Gewinner wiederum in die VOX-Kocharena eingeladen wird), und Auftritte auf roten Teppichen und bei Benefizveranstaltungen. Schließlich sorgen diverse vom Künstler und seinem engeren Umfeld bzw. von Fanclubs initiierte Aktivitäten dafür, dass das Interesse der Anhängerschaft während der Wartezeiten auf Neues nicht erlahmt. In diesem Zusammenhang lässt sich beobachten, dass die Grenze zwischen offiziellen und inoffiziellen Support-Aktionen bisweilen durchlässig wird und die bestehenden professionellen oder semiprofessionellen Strukturen durch besonders initiative Fans Verstärkung finden. Karriereunterstützung kann dann auch heißen, dass für den persönlichen Star Konzert-Events auf die Beine gestellt sowie Auftritte bei Festivals eingefädelt werden. Das kann auf der einen Seite als eine besonders intensive Form der Interaktion zwischen Star und Fans interpretiert werden, hat aber auch mit dem schon erwähnten Umstand des akkumulierten (Hintergrund-)Wissens zu tun, das aus Laien populärkulturelle Experten macht – und aus Experten unter Umständen (voll- oder teilzeitamtliche) Event-Manager und Promotionsprofis.15 Solange der ehemalige Kandidat in der Lage ist, Musik und damit News zu produzieren, solange er »tourt« und zumindest gelegentlich im Licht der Öffentlichkeit steht, geht die Geschichte zwischen ihm und seinen miterzählenden Fans weiter. Sie verliert allerdings mitunter den Impetus einer Erfolgsgeschichte und wird zunehmend alltäglicher. Im Gegenzug gewinnt die eigene Biografie als Projekt (wieder) Priorität, für den Künstler genauso wie für seine Fanbase. Was von der zu Beginn so intensiven, durch Medienhypes und Paranoia erheblich befeuerten Mission der Karriereförderung um jeden Preis bleibt, sind Lernprozesse: Einsichten und vielfältig verwertbare (technische, ästhetische wie soziale) Kompetenzen, die für das eigene Leben jenseits des gemeinsam betriebenen Hobbys Bedeutung erlangen können. Das Ende der Geschichte ist dann ein doppeltes, entsprechend der eingangs erwähnten Doppelstruktur des Reality-Formats. Auf der einen Seite steht der programmatische Fall des Untertauchens, sobald die breite Medienöffentlichkeit (in unserem Fall: RTL und VOX, in Kombination mit der Bild-Zeitung) nicht länger Kenntnis nimmt und das ursprünglich verpflichtete Plattenlabel abspringt. Das Untertauchen ist aber nicht einem Aufgeben gleichzusetzen; das gemeinsame Ziel einer sukzessiven Veröffentlichung neuer Titel oder des weiteren Musikmachens zum Broterwerb kann weiter verfolgt werden. In den Nischen des Showbusiness, aber auch in dessen Randregionen (dazu zähle ich so unterschiedliche Betätigungsfelder wie den Ballermann, die Musikpädago15 | Vgl. in diesem Zusammenhang die Beiträge von Hoppeler/Rippl und Kelleter/Stein im vorliegenden Band.

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gik, die Radiomoderation und das Modeln) lässt sich auf vielfältige Weise ein Auskommen und eine Lebensgeschichte finden. Wirklich zu Ende gedacht ist die Story erst, wenn das ursprünglich in der Reality-Serie gesetzte Ziel seitens des Protagonisten durch ein gänzlich anderes abgelöst wird, für das sich jedes weitere Mitschreiben, Produzieren und Spekulieren erübrigt. Es ist – oder wäre – dies aber nur der Moment, in dem eine neue, eine andere Geschichte ihren Anfang nimmt.

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Formen und Verfahren der Serialität in der ARD-Reihe Tatort Ein Untersuchungsdesign zur Integration von Empirie und Hermeneutik Christian Hissnauer, Stefan Scherer und Claudia Stockinger

Z UR SERIELLEN L OGIK DES TATORT Die ARD-Krimireihe Tatort ist das Urgestein des bundesdeutschen Fernsehens. Keine andere Serie ist länger auf Sendung, kein anderes Format (mit Ausnahme der Tagesschau) hat das Fernsehverhalten der Zuschauer so geprägt wie der Tatort. Zunächst für zwei Jahre konzipiert, um der ZDF-Serie Der Kommissar (1969-1976) Konkurrenz zu machen, gehört die Reihe seit über 40 Jahren zur Sonntagabendunterhaltung (die erste Folge »Taxi nach Leipzig« wurde am 29. November 1970 ausgestrahlt); durchschnittlich einunddreißigmal im Jahr ist um 20.15 Uhr Tatort-Zeit.1 Welche Aufschlüsse für die Erforschung populärer Serialität bietet die ARDReihe? Eine differenzierte Antwort auf diese Frage hat zu berücksichtigen, dass der Tatort zu Recht als der »wahre Gesellschaftsroman« (Vogt 2005) bundesdeutscher Verhältnisse gilt, zu dem es in der Literatur und anderen Medien kein Gegenstück gibt. Seit ihrem Beginn gibt die Reihe Einblicke in die sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland; an ihren Folgen lässt sich ein Stück deutscher Geschichte studieren – nicht zuletzt deshalb, weil der Tatort die Organisationsstruktur der ARD abbildet, die wiederum die föderale Ordnung der Bundesrepublik reflektiert. Genau darin unterscheidet sich dieser Fernsehkrimi von anderen seriellen Mustern im Fernsehen. 1 | Mitte der 1990er Jahre wurde die Frequenz der Tatorte aufgrund der zunehmenden Konkurrenz privatwirtschaftlich organisierter Programmanbieter deutlich erhöht. Daher bezieht sich der Wert auf die Zeit ab 1996 (1970: 2 Folgen pro Jahr; zwischen 19711990: 11-12 Folgen pro Jahr; 1991, 1992, 1994: 15 Folgen pro Jahr; 1993: 18 Folgen pro Jahr; 1995: 22 Folgen pro Jahr).

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Innerhalb einer einzelnen Serie (also in den Folgen eines Senders mit konstantem Ermittlerpersonal) und in der gesamten Reihe, die auch durch interserielle Verweise zusammengehalten wird, verschränkt der Tatort das Prinzip abgeschlossener Folgenhandlungen mit Elementen der Fortsetzungsgeschichte. Für den Zuschauer ergibt sich daraus ein wiedererkennbarer Gesamtzusammenhang. Zugleich ist der Tatort mit Blick auf Themen, Figuren, Handlungsorte und Genrevariationen sehr viel variabler und verfahrensoffener als übliche Krimiserienformate.2 Auch der regional ausgerichtete Anspruch des Tatort auf Realismus in der Darstellung, repräsentiert durch die einzelnen Sendeanstalten der ARD, gehört zu den Alleinstellungsmerkmalen der Reihe.3 Aufgrund seiner langen Laufzeit bietet sich der Tatort für Untersuchungen an, in denen es um die Dokumentation, Darstellung und Analyse der historischen Verfahren populär-seriellen Erzählens in synchronen wie diachronen Vergleichen geht. Dafür haben wir ein Untersuchungsraster entwickelt, das die Geschichte der Formen und Verfahren von Serialität sowohl innerhalb einer einzelnen Serie als auch innerhalb der Reihe (im interseriellen Wechselspiel der Sendeanstalten) systematisch erschließt. Die ergänzende Analyse von Fernsehkritiken in regionalen und überregionalen Tages- und Wochenzeitungen sowie in ausgewählten Fachmedien (epd, Funk-Korrespondenz) nimmt die Maßstäbe für erfolgreiche Gestaltung von Serialität auch hinsichtlich des Wechselspiels von Produktion und Rezeption in den Blick; hier sind Kontinuitäten ebenso zu 2 | Diese Offenheit übernimmt der Tatort von frühen Krimireihen des Abendprogramms wie Stahlnetz (NWRV/NDR, 1958-1968), Die fünfte Kolonne (ZDF, 1963-1968) oder (eingeschränkt) Das Kriminalmuseum (ZDF, 1963-1965), in denen es keine festen Ermittlerfiguren oder Handlungsorte gibt. Lediglich die Folgen von Das Kriminalmuseum spielen jeweils erkennbar in München. Durchgängige Ermittlerfiguren finden sich zunächst vor allem in Vorabendserien wie Funkstreife Isar 12 (WDR, 1960-1963), Kommissar Freytag (HR, 1963-1964), Die Karte mit dem Luchskopf (ZDF, 1963-1965) oder Hafenpolizei (NDR, 1963-1966). Die Karte mit dem Luchskopf ist dabei nicht nur die erste ZDF-Serie überhaupt, sie präsentiert auch eine sehr ungewöhnliche Ermittlerfigur: eine Privatdetektivin, die ihren Kunden vorspielt, sie handle im Auftrag eines Chefs. Im Abendprogramm wird die durchgängige Ermittlerfigur mit Kommissar Keller (Der Kommissar) populär. Der Tatort kombiniert kontinuierliche und variable Formen. Es ist daher zu einfach, lediglich Stahlnetz als Vorläufer des Tatort anzuführen (u.a. Wehn 2002: 34, Hickethier 2010: 44). 3 | Der Polizeiruf 110 (DFF/DDR-FS, seit 1971), die einzige Reihe, die nach der Wiedervereinigung und der damit verbundenen Einstellung des DFF-Sendebetriebs weitergeführt wurde (am 15. Dezember 1990 in der ARD), adaptiert seit 1993 die serielle Hybridform des Tatort als Reihe verschiedener Serien (zum Polizeiruf 110 vgl. Hoff 2001). Zuvor versuchte die Serie Eurocops (ZDF u.a., 1988-1995) – mit mäßigem Erfolg –, diese Form auf europäischer Ebene als internationale Koproduktion zu etablieren.

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beobachten wie grundlegende Veränderungen im Wertungsverhalten und in der Publikumserwartung. Die Rezeption hat dabei produktions- und serienästhetische Konsequenzen insofern, als sie konzeptionelle Neuausrichtungen mitsteuert. Dies gilt zum einen für die Anpassung an veränderte Zeitverhältnisse und Zielgruppen, zum anderen für regionalspezifische Serialitätsmuster. So lassen sich Rückkopplungseffekte zwischen Rezeption und Ästhetik der Serialität erkennen, die möglicherweise auch auf andere Serienformate übertragbar sind. Der vorliegende Aufsatz stellt unser laufendes Projekt vor und zielt dabei auf Aussagen über Bedingungen und Formen serieller Variation im historischen Wandel und über die Möglichkeiten ihrer wissenschaftlichen Erforschung.

L EITENDE F R AGESTELLUNGEN Mit der auf die Organisationsstruktur der ARD zugeschnittenen Reihe Tatort liegt ein dauerhaft erfolgreiches Serienkonzept vor, das als das letzte kollektive Erlebnis die bundesrepublikanische Gesellschaft regelmäßig erreicht – so Thea Dorn in einem Artikel über die Tatort-Serie aus Bremen.4 Es ist daher nicht übertrieben, im Fall des Tatort von einem verstetigten Publikumsinteresse zu sprechen, und es liegt nahe, an diesem Beispiel der Frage nach (möglicherweise verallgemeinerbaren) historischen Strategien der Erzeugung von seriellen Erzählformen und Erzählverfahren nachzugehen. Diese werden durch eine Rasteranalyse ermittelt, die einen aussagekräftigen Teil der insgesamt vorliegenden Folgen der Reihe nach zentralen Markern inhaltsanalytisch erfasst, in einem elektronischen Datensatz nachhaltig sichert und die Ergebnisse zum einen der Tatort-Forschung, zum anderen der Serialitätsforschung insgesamt zur Verfügung stellt. Wir untersuchen die einzelnen Folgen als serielle Wettbewerbsprodukte (die sich voneinander abgrenzen) und im Serienverlauf; einschlägige Fernsehkritiken werden nach dem Gesichtspunkt analysiert, ob und wie sie die Serialität der behandelten Folgen diskutieren. Für die spezifische serielle Logik der Reihe sind damit die Aspekte der Entwicklung und Differenzierung von Verfahren seriellen Erzählens entscheidend. Es stellt sich die Frage, welche Veränderungen der Gestaltung über Jahrzehnte hinweg zu beobachten sind. Jeder Serie droht die Gefahr der Abnutzung und Ermüdung.5 Der Tatort begegnet als Reihe dieser Gefahr mit verschiedenen Maßnahmen: mit neuen Ermittlerteams oder neuen Standorten, mit der konzeptionellen Veränderung etablierter oder der Einführung neuer Serien. Durch die inhaltsanalytische Rasteranalyse eines breit angelegten Textkorpus und durch die anschließende hermeneutische Auswertung der quantitativen Ergeb4 | Zit. Hordych 2009. 5 | Vgl. Hickethier 2003: 401.

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nisse lässt sich zeigen, in welchem Verhältnis invariante Bestandteile (wie der feste Sendeplatz, die Folgendauer von zumeist 90 Minuten, der einheitliche Vorspann mit Kennmelodie usw.) und relativ konstante Merkmale (wie die intra- und interserielle Kohärenzbildung über Handlungsorte, Ermittlerfiguren, Ermittlerkonstellationen, Plotstruktur und Konzept usw.) zu den historisch variablen Merkmalen stehen: zu den Themen, zur erzählerischen und darstellerischen Komplexität einzelner Folgen, zu den interseriellen Verweisen zwischen den Serien (etwa in Formen der Amtshilfe und gemeinsamer Ermittlungen), zu den Genrevariationen, zum regional ausgerichteten Realismus von Folgen und Serien sowie weiteren Aspekten. Kurzum: Es geht darum, zu zeigen, wie sich im Tatort »Schema und Variation in Erzählung und Dramaturgie« zueinander verhalten (Hickethier 2003: 402).6 Eine Zuschauerbindung auf Dauer – die dem Tatort bis heute mit bis zu 10 Millionen Zuschauern pro Folge gelingt – ist nicht ohne ein Sinnangebot denkbar, das von der Reihe bereitgestellt wird. Worin besteht dieses Sinnangebot? Welche Veränderungen in den Gegenständen und Mitteln zur Erzeugung emotionaler Teilhabe sind zu beobachten?7 Welche Rolle spielt das auf die Leerstelle zwischen dem Ende einer Folge und dem Beginn der nächsten bezogene Serienkonzept der Spannung?8 Die Tatort-Forschung hat sich diesen Fragen bislang noch nicht systematisch gestellt.

D ER TATORT IM K ONTE X T DER S ERIENFORSCHUNG Der »Tatort« als Serie. In der Forschung zur Fernsehserie spielt der Tatort bis auf vereinzelte Hinweise, die den spezifischen Serialitätsstatus der Reihe betreffen, kaum eine Rolle. Uneinigkeit besteht bereits in der Frage nach der generischen Identifikation des Formats als Serie und/oder Reihe.9 Auf der einen Seite gilt der Tatort als »eine Reihe von verschiedenen Serien, die jeweils durch eine durchgehende Detektiv-Figur definiert werden« (Giesenfeld 1994a: 36).10 Auf der anderen Seite wird die Zuordnung zur Reihe gerade in Frage gestellt: Unter der Voraussetzung, dass die Serie ein konstantes Personal in verschiedenen Situationen zeige, sei der Tatort »sicher eine Serie und keine Reihe, und als Serie verknüpft durch ein Erscheinungsbild, das wiedererkennbar ist und das

6 | Vgl. auch Hickethier 1994: 57, Prugger 1994: 92f., Giesenfeld 1994b: 11. 7 | Zur Frage nach emotionaler Teilhabe vgl. Hickethier 1991: 40, 45, 50, 30f., 1994: 61f., 64, 59, Prugger 1994: 110f., Hickethier 2003: 402f. 8 | Zum Serienkonzept Spannung vgl. Türschmann 2007. 9 | Vgl. u.a. die Diskussion bei Giesenfeld 1994a: 33-37. 10 | Siehe hierzu auch Kließ 1994, 1996: 174, 176, Hickethier 2001: 199.

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über eine Verknüpfung allein durch den Rahmen (1001 Nacht, Decamerone) weit hinausgeht« (Hartmut Winkler, zit. Giesenfeld 1994a: 36). Bemerkenswert ist an solchen Befunden, dass beide Positionen mehr oder weniger explizit auf der Annahme basieren, der Zusammenhalt der in sich abgeschlossenen Folgen sei weniger durch dramaturgische Verknüpfungen gegeben als durch äußere Merkmale (wie den festen Programmplatz, das Titelsignet oder den Vor- und Abspann). Demnach präsentiert der Tatort Einzelfilme, und jede Folge zeigt eine »abgeschlossene und zugleich komplexe Handlung«, bei der es »kaum übergreifende dramaturgische Elemente gibt. Was die Reihe zusammenhält, ist eher […] eine Idee der Wirklichkeitsdarstellung«, die den Filmen »eine ganz unserielle und untriviale Vielgestaltigkeit verleiht, die aber doch dafür sorgt, daß jeder einzelne Film wiedererkennbar ein Tatort ist« (Giesenfeld 1990: 5).11 Aus historisch-rekonstruierender Perspektive auf mehr als 40 Jahre TatortGeschichte (1970-2012) geht dieser Befund an der besonderen Serialität des Formats sowie am Prozess der Ausdifferenzierung ihrer Formen und Verfahren vorbei: Schon seit Beginn der 1970er Jahre finden sich rekursive Anschlüsse an vorangehende Folgen und Serien – etwa über den Ermittlerwechsel von der Serie einer Sendeanstalt zur Nachfolgeserie derselben Sendeanstalt, über Elemente der Amtshilfe, die von Beginn an zum Tatort-Konzept gehören, oder über selbstreferentielle Bezugnahmen auf das Format schon in frühen Folgen (etwa in »Jagdrevier«, NDR 1973, Regie: Wolfgang Petersen – Kommissar Finke wird in einer Dorfkneipe mit einer Folge des Zollfahnders Kressin konfrontiert).12 Seit Mitte der 1990er Jahre häufen sich übergreifende dramaturgische Elemente der Veränderung von Ermittlerfiguren, etwa hinsichtlich ihrer psychischen Entwicklung, der Prozesse ihres Älterwerdens, der Verschiebungen ihrer Rollen innerhalb der beruflichen Hierarchien, ihrer sozialen Rollen, familiären Dispositionen usw. Erkennbar wird damit, dass sich beim Tatort die Beschreibungsprobleme der Seriennarratologie komplizieren, die sich bis heute in erster Linie auf die Unterscheidung zwischen »series« (abgeschlossenen Folgehandlungen) und »serials« (fortlaufenden Handlungssträngen) beziehen.13 Nichtsdestoweniger arbeiten die meisten Beiträge zur Fernsehserie mit dieser Typologie (so der Forschungsbericht von Weber und Junklewitz), wenngleich in teils unterschiedlicher Begrifflichkeit und unterschiedlicher typologischer Binnendiffe-

11 | Vgl. auch Kließ 1994: 176. 12 | Vgl. das Glossar in du 2007: 45. 13 | Zur anglo-amerikanischen Forschung vgl. Allrath/Gymnich 2005; zur Unterscheidung Serie vs. Feuilleton: Türschmann 2007; zum Begriffsgebrauch in der internationalen gegenüber der deutschen Diskussion: Liebnitz 1992: 148-150, 160-166.

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renzierung.14 Eine aktuelle Begriffspräzisierung differenziert zwischen »Episodenserie« und »Fortsetzungsserie« (Weber/Junklewitz 2008: 21). Solchen Ansätzen einer primär formalen Bestimmung, die allerdings die Historizität der Verfahren durchaus sehen, steht Hickethiers Vorschlag gegenüber, Serialität an die historische Genese der Programmstruktur zurückzubinden, also Serienmodelle als Etappen der Mediengeschichte zu beschreiben.15 Die historische Ausdifferenzierung von Serienmodellen verändert wiederum die Programmstruktur.16 Folgerichtig müssen Serien-Bestimmungen selbst historisch auf dem jeweiligen Stand der Ausdifferenzierung des Fernsehens gefasst werden. Krimi-, Abenteuer- und Komödienserien neigen dabei zum episodischen Modell, während Familienserien zumeist »Fortsetzungsgeschichten« darstellen (Weber/Junklewitz 2008: 21). Naturgemäß ändern sich im Prozess dieser historischen Entwicklungen auch Genre-Typologien.17 Wir gehen davon aus, dass Serien grundsätzlich kaum rein formal zu erfassen sind. Eine differenzierte Analyse muss vielmehr serielle Veränderungen im Serienverlauf berücksichtigen und dafür die zunehmende Diversifizierung generischer Formen, den sich wandelnden Mediengebrauch und andere Faktoren wie die allmähliche Besetzung eines Programmplatzes (die im Fall des Tatort den Sonntagabend zu einem gleichsam »heiligen« Alltagsereignis macht) in den Blick nehmen.18 Hickethier hat entsprechend die »Serie als Programm« konzeptualisiert (1989: 81), wofür sowohl das Familienschema als auch das Detektivschema Identifikationsfiguren bzw. attraktive Helden (wie Schimanski) bieten.19 Serialität resultiert demnach zum einen aus einer »gewachsenen Dramaturgie«, die »genaue Kenntnis des Stoffs« ebenso voraussetzt wie Kenntnis »seiner Hintergründe, der Zeit, in der er angesiedelt ist, [und] der Kontexte, auf die er sich bezieht« (ebd. 91). Zum anderen bedient sie das Interesse an der »Entwicklung« der Hauptfiguren in ihrem jeweiligen Umfeld, bezogen auf ihre »Anschauungen«, »Verhaltensweisen« und »sozialen Beziehungen« (ebd. 92). Für das Beschreibungsraster, das wir zur Bestimmung der seriellen Erzählformen und Erzählverfahren im Tatort erstellt haben, ist ein Begriff von Serie hilfreich, den Weber und Junklewitz aus der Bündelung des bisherigen Dis14 | Vgl. Weber/Junklewitz 2008: 19; unterschiedliche Begrifflichkeit bei Mikos 1994: 136f. 15 | Zur Abgrenzung gegen Mikos vgl. Hickethier 1991: 27. Zur Kritik an Mikos siehe auch Liebnitz 1992: 163f. Zur Historizität der Verfahren vgl. Mikos 1994: 135; außerdem Engell 2004. 16 | Vgl. Hickethier 1989: 83. 17 | Vgl. zu einer solchen Typologie Boll 1994: 51-55. 18 | Zur Alltagsfunktion des Tatort vgl. den Beitrag von Bendix/Hämmerling/Maase/ Nast im vorliegenden Band. 19 | Vgl. Hickethier 1989: 83-84, 88.

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kussionsstands vorschlagen. Dabei werden folgende Charakteristika auf der Ebene der Verknüpfung festgestellt: Mehrteiligkeit, regelmäßige Ausstrahlung, wiederkehrende Figuren und feste Personen-Konstellationen, Kontinuität der Handlung und Schauplätze bei thematischer Zusammengehörigkeit, fortlaufende Erzählungen, Reduktion der kinematografischen Differenziertheit, wiedererkennbare Zuordnungssignale und Ausstrahlung unter einem Sammelbegriff. Die kritische Diskussion dieser Merkmalsmatrix, die kaum durchweg alle Beispiele erfassen kann, erlaubt unter Einbeziehung von Hickethiers Kriterium der Produktionsinstanzen eine möglichst allgemeine Bestimmung: »Eine Serie besteht aus zwei oder mehr Teilen, die durch eine gemeinsame Idee, ein Thema oder ein Konzept zusammengehalten werden und in allen Medien vorkommen können« (Weber/Junklewitz 2008: 18).20 Reihe und Hyper-Serialität. Die Kategorie der Reihe, für den Tatort in Abgrenzung zu anderen Fernsehkrimi-Serien diskutiert, wird in der Forschung auch für ein vergleichbares Format verwendet: für das einstige DDR-Konkurrenzprodukt Polizeiruf 110, das wie der Tatort einen sozialen Aufklärungsanspruch erhebt.21 In den 1970er Jahren wurde der Begriff Reihe noch durchaus synonym zu Serie eingesetzt (wenn man etwa Episodenserien wie den Freitagabend-Krimi im ZDF als Reihen bezeichnete).22 Erst in den 1980er Jahren wird er auf Formate ohne festes Figurenpersonal eingegrenzt; heute bezieht er sich in der Produktionspraxis »unterschiedslos auf serielle Programme mit einer Episodenlänge von 90 Minuten« (Weber/Junklewitz 2008: 22).23 Für unser Interesse an der spezifischen, die föderale Struktur der Sendeanstalten abbildenden Organisationsform des Tatort erscheint Hickethiers Typologie der »Grundformen seriellen Erzählens« geeignet (2001: 198-200): Die Reihe ist demzufolge – bezogen auf ihre lange Laufzeit und die Beliebigkeit der Sendereihenfolge – als eine »systematische Fortsetzung« der Serie mit abgeschlossenen Handlungsfolgen zu verstehen; einzelne Folgen sind lediglich durch »ein Titelsignet oder eine gleichbleibende Eingangssequenz« verknüpft, wobei der Zusammenhalt zwischen den einzelnen Teilen »nur locker« ist (ebd. 199). Für den Tatort schlägt Vogt mit Rekurs auf Giesenfeld den »narratologischen Begriff Hyper-Serie« vor (2005: 115).24 Der Tatort sei »eine Landkarte oder ein Atlas der Bundesrepublik«, »sofern jede Episode bzw. Teilserie lokale und regionale Charakteristika für ihre narrative Strategie nutzt«. Damit werde der Tatort zur »Landeskunde als Thriller« (ebd. 117), zum einen mit chronikalischer Funktion, 20 | Vgl. auch Krah 2003. 21 | Vgl. Klaus 1992: 119; Tatort als Reihe: Weber/Junklewitz 2008: 20. 22 | Vgl. Waldmann 1977: 113f., Liebnitz 1992: 162f., Weber/Junklewitz 2008: 22. 23 | Hierzu auch Eick 2007: 63. 24 | Giesenfeld 1994a: 36.

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zum anderen mit aufklärerischer und kritischer Wirkungsabsicht gerade im Hinblick auf die Entwicklung einer offenen, multikulturellen Gesellschaft seit 1970. Vogt zufolge funktioniert der Tatort daher wie ein »Hypertext«. Darüber hinaus biete er Autorenfilme im Fernsehformat mit teils experimentellem, teils parodistischem Anspruch im Konkurrenzverhältnis zu anderen Parallelunternehmen (z.B. dem Samstags-Krimi im ZDF). »Spin-off-Effekte« (ebd. 126) demonstrierten einerseits die Macht des deutschen Erfolgsmodells in Sachen Krimi, andererseits sein auf Genrevariationen ausgerichtetes Potenzial (ebd. 128). Die »doppelte Formstruktur« der »Tatort«-Reihe. Zur Erschließung der historischen Serialität des Tatort sind Hickethiers Überlegungen zur »doppelten Formstruktur« hilfreich, weil sie die Ausdifferenzierung der Serialitätsformen komplementär zur Ausdifferenzierung der Programmstruktur im medienhistorischen Verlauf konzipieren: Zum einen weisen die Serienfolgen eine deutliche Einheit in Handlungsführung, Figurenkonstellation und Dramaturgie auf; zum anderen sind sie in der periodischen Abfolge auf Fortsetzung hin angelegt, indem die Kette von Einzelfolgen diverse Verknüpfungsformen praktiziert.25 Verweisfunktionen über die einzelne Folge hinaus führen zur »Verschmelzung des akkumulierten Serienwissens in eine Gesamtvorstellung« (Hickethier 1991: 10).26 Dieses »cumulative narrative« (Newcomb 2004: 422) resultiert aus den historisch entstandenen Hybridbildungen zwischen den beiden Grundformen seriellen Erzählens (»series« und »serial«) und kennzeichnet den Tatort im Prozess der »Serienaneignung« in zweierlei Hinsicht:27 sowohl mit Blick auf die einzelnen Serien der Reihe (intraserielle »Gesamtvorstellung«) als auch bezogen auf die Reihe insgesamt (interserielle »Gesamtvorstellung«). Sie bietet zeitlich und inhaltlich begrenzte Einheiten, die in einen größeren, häufig vom Zuschauer gekannten Gesamtzusammenhang gestellt werden (können) und dergestalt ein spezifisches Attraktionsmoment des Formats ausmachen. Auch solche Formen der akkumulierten Serialität sind historischer Veränderung unterworfen. Für die Reihe Tatort ist hierbei entscheidend, dass sie weniger einer linearen als einer sich vielfältig verzweigenden Serialität folgt.28 Den Gesamtzusammenhang dieser mehrschichtig eingesetzten Serialitätsmarker kann die Raster-Analyse erschließen, die damit zugleich die materiellen Grundlagen 25 | Vgl. Hickethier 2003: 398. 26 | Vgl. auch Weber/Junklewitz 2008: 21. 27 | Zur Serienkompetenz siehe Mikos 1994: 159-174; zum Begriff kumulativen Erzählens vgl. im vorliegenden Band auch den Beitrag von Ganz-Blättler. 28 | Vgl. das Konzept der »konnexionistischen« oder »wuchernden« Serialität bei Kelleter/Stein im vorliegenden Band sowie die These von der »Netzstruktur« einer Serie in Klar 1994.

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dafür schafft, die Reihe Tatort genauer im Spektrum der genannten Modelle und im Spektrum zwischen loser und zunehmender intraserieller Kohärenz (z.B. in der Zunahme von Fortsetzungsdichte und Fortsetzungsreichweite) zu verorten.29 Serie heißt das Versprechen auf ein »Fortsetzung folgt«, das sämtliche periodischen Medien organisiert. Insofern lassen sich auf Serien die Kardinalkriterien anwenden, die populären Periodika generell zugerechnet werden: Periodizität, Aktualität, Universalität und Publizität.30 Ausgehend von diesen Kriterien untersuchen wir die strukturoffenen Anpassungsleistungen des Tatort an die genannte Gesamtvorstellung, die zwischen (stereotyper) Wiederholung und Innovation durch Distinktion je neu austariert werden. Dabei kann selbst das Versprechen, dass eine Fortsetzung folge, unterlaufen werden, z.B. in Einheiten, die auf eine einzige Folge beschränkt bleiben (»Howards Fall«, SFDRS 1990). Beim Tatort hat man es zudem, vor allem in jüngerer Zeit, immer wieder mit Genre- bzw. Formatverletzungen zu tun, sowohl was Serien- als auch was Fernsehkrimierwartungen betrifft, etwa, wenn die Lösung des Falls das Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit nicht befriedigt oder Erklärungsmuster bemüht werden, die außerhalb unserer Erfahrungswirklichkeit liegen (z.B. »Tod im All«, SWF 1997) – oder wenn Tatorte ohne Fall präsentiert werden, weil der Tod z.B. aus Zufall eintritt (»Kleine Herzen«, BR 2007). Hickethiers Beobachtungen zur »Serialität des Programms« (1991: 11) verweisen auf die rituelle Nutzung serieller Unterhaltungsangebote. Für den Tatort jedoch stellt die Einlösung des Unterhaltungsversprechens »ohne besondere Verstehensanforderungen« (ebd. 12) seit Mitte der 1990er Jahre nicht mehr unbedingt die Regel dar. Immer häufiger begegnen dem Zuschauer komplex erzählte und filmisch avancierte Folgen, die sich auch auf der Bildebene vom Realismus-Anspruch der Reihe lösen können, indem sie u.a. durch Beleuchtung, Farbgebung (z.B. entsättigte Bilder), ambitionierte Kamerastrategien, forcierte Schnitttechniken und intertextuelle bzw. intermediale Bezugnahmen ästhetisiert werden. Derartige Folgen, die ihre eigene Form reflektieren oder mit filmischen Modellen spielen (z.B. mit der Ästhetik der Berliner Schule in »Kleine Herzen« oder »Unsterblich schön«, BR 2010), halten in der Tat einer »klassischen ›Interpretation‹« des avancierten Spielfilms stand (Giesenfeld 1990: 6). Dennoch macht die regelmäßige und kontinuierliche – und damit auch serielle – Produktion des Programms solche Folgen für den Normalseher kommensurabel.31 Eine komplexe Tatort-Folge wird dann schlicht konsumiert, 29 | Vgl. dazu die Grafik bei Weber/Junklewitz 2008: 27, die dem Tatort eine mittlere Position zuweist. 30 | Vgl. Frank/Podewski/Scherer 2009: 2. 31 | Der Ausdruck Normalseher wird hier analog zu dem in der neueren Narratologie diskutierten Begriff des Normallesers gebildet, vgl. Jannidis 2004.

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und zwar aus Gewohnheit. Die Sendeanstalten begegnen dem Risiko des Quoteneinbruchs zudem durch die Neuausstrahlung konventioneller Folgen. Das Organisationsprinzip der Reihe Tatort kann daher zwischen gängigem SerienNiveau und anspruchsvollem Kunstfilm (mit ggf. in der Massenpresse diskutiertem Provokationspotenzial) oszillieren, ohne dass dies seiner Beliebtheit auf Dauer schaden würde. »Tatort« als Sozialserie. Die Faszination des Seriellen entsteht auch im Tatort aus der Ambivalenz zwischen überschaubarem Einzeltext und Gesamttext, wobei das Format selbst maßgebend zur Differenzierung des Krimi-Genres beigetragen hat. Ob die Serien Mentalitätsveränderungen reflektieren oder hervorrufen, lässt sich dabei kaum entscheiden.32 Auf jeden Fall können »Momente eines kollektiven Unterbewußten« (Hickethier 1991: 35, in Anlehnung an Kracauer) stärker bei Serien als in Einzelproduktionen beobachtet werden, wobei sich für den Tatort zugleich die Frage stellt, warum er nicht ähnlich international erfolgreich ist wie der Exportschlager Derrick (ZDF, 1974-1998): Zwischen regionalen, nationalen und internationalen Sehinteressen ist offenbar ständig zu differenzieren. Da sich die Serienforschung mit dem Tatort über punktuelle Hinweise hinaus kaum systematisch befasst hat, ist auch die Genre-Zugehörigkeit nicht wirklich geklärt. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Zuordnung des Tatort zum Genre der Krimiserie im historischen Verlauf zunehmend uneindeutig wird – eine Hypothese, deren Tragfähigkeit durch die Rasteranalyse überprüft werden soll. Zu bedenken ist, ob der Oberbegriff Sozialserie (deren Reinform die Familienserie liefert) auf die Reihe anwendbar ist und inwieweit hier die sozialkritischen Impulse der ausgehenden 1960er und der 1970er Jahre eingegangen sind. Der Tatort funktioniert durchaus im Sinn »paralleler Welten«, indem er über Jahre hinweg sein Publikum über gesellschaftlich erwünschte oder weniger erwünschte Verhaltensweisen orientiert (Hickethier 2007: 642).33 Der eigene Alltag wird auf diese Weise selbst zum Gegenstand einer »Dramatisierung« bzw. fiktionalen Bearbeitung (Göttlich 1999). Legt man die Thesen zur Sozialserie nach Prugger zugrunde, ergeben sich die Gründe für die Popularität des Tatort aus der spezifischen Serialität der Reihe: Merkmale wie das zyklische Serienangebot, die Alltagsnähe, die Abgrenzung von Fremdem u.a. sind hier zu nennen.34 Die Anpassung der fiktiven Zeitstruktur an die reale Erlebenszeit der Zuschauer suggeriert dabei eine weitgehende Simultaneität von Sende-, Rezeptions- und fiktiver Zeit; die Aktualität des Tatort wiederum festigt Erwartungshaltungen durch Genre- und Serienkonventionen. 32 | Vgl. Hickethier 1991: 35. 33 | Mit Bezug auf Felix/Giesenfeld 1994. 34 | Vgl. Prugger 1994.

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Die inhaltsanalytische Erschließung der Folgen in unserem laufenden Projekt zielt deshalb darauf ab, einerseits das verhandelte Themenspektrum im historischen Verlauf systematisch zu ermitteln, andererseits die Wechselwirkungen zwischen Rezeption und Produktion im historischen Verlauf zu untersuchen, um auf diese Weise zu Aussagen über die historische Virulenz von Themen und Wertorientierungen zu gelangen. Die »Tatort«-Forschung. Eine wissenschaftliche Forschung, die den Tatort als Reihe in den Blick nimmt, existiert lediglich in Ansätzen.35 Bislang liegen meist journalistisch-essayistisch angelegte Überblicksdarstellungen und Einzelbeobachtungen vor. Folgt man der allgemeinen Serienforschung, ist der Tatort »noch stark von der Produktionsweise und Ästhetik des Einzelspiels geprägt« (Hickethier 1991: 25). Das lenkt die Aufmerksamkeit auf Regisseure, filmische Mittel, Experimente und andere Aspekte, die sich im Kern auf die Frage nach der Möglichkeit populärkultureller (etwa filmischer) Autorschaft beziehen lassen – auch die Serienforschung interessiert sich neuerdings für dieses Thema.36 Die Frühphase einer wissenschaftlichen Annäherung an den Tatort repräsentiert das Heft Tatort: Die Normalität als Abenteuer (1990), u.a. mit Zusammenfassungen ausgewählter Folgen sowie Beiträgen von Koebner zur Geschichte der Reihe und Netenjakob zum Konzept der Schimanski-Serie. Ein Sammelband aus dem Jahr 2000 diskutiert in teils journalistischer, teils essayistischer Form Einzelaspekte (u.a. regionale Bezüge, Ermittler, Standorte).37 Ähnliches gilt für das Sonderheft der Zeitschrift du (2007). Daneben gibt es einzelne erhellende Aufsätze, z.B. zum Tatort als dem »wahren deutschen Gesellschaftsroman« (Vogt 2005). In jüngerer Zeit interessiert sich die Tatort-Forschung in Gender-Perspektive für die Rolle weiblicher Ermittlerfiguren im deutschen Fernsehkrimi.38 Eine »medienpsychologische Untersuchung« zur Reihe konzentriert sich auf die Frage der Erzeugung von »Heimat im Fernsehen« (Mously 2007); das Thema Einwanderung/Migration ist Gegenstand einer Darstellung zur Rolle von »Migranten im Tatort« (Ortner 2007) und einer Abhandlung zum »Anderen im Tatort« (Walk 2011). Bollhöfers Dissertation behandelt die topografische Rekonstruktion einer Stadt im Film, beschränkt auf das Beispiel des Kölner Tatort. Ihr Befund, dass es »gerade die Serialität [sei], der der Tatort seine Alltäglichkeit verdankt« (2007: 18), bleibt unausgewiesen. Die Dissertation von Gräf erforscht den Tatort als »populäres Medium«, das »als kultureller Speicher« für historische Mentalitäten fungiere (2010: 11ff.). 35 | Siehe u.a. Gräf 2010, Griem/Scholz 2010, Scherer/Stockinger 2010a, 2010b. 36 | Vgl. Kelleter 2010. 37 | Wenzel 2000. 38 | Dietze 2004.

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Hier liegt der Akzent auf Konzepten der Bürgerlichkeit, die als Folie historischer Abweichungen in den Feldern Geschlechterkonzeptionen und Sexualität (Männlichkeit, Weiblichkeit, Homosexualität) und Darstellung des Fremden seit den 1980er Jahren dienen. Filmische Darstellungslogiken (Bildersprache, Kameraführung u.a.) oder die serielle Logik der Reihe werden nicht untersucht. In einer kurzen Studie rücken Gräf und Krah die »Sittengeschichte« des Tatort in den Mittelpunkt (2010). Insbesondere untersuchen sie verschiedene Formen der Darstellung und Verknüpfung von Sexualität und Verbrechen. Dabei gehen sie vor allem der Frage nach, welche Formen und Aspekte von Sexualität als abweichend konstruiert und welche damit normiert werden. Die mentalitätsgeschichtliche Argumentation geht auch hier nicht näher auf den Aspekt der Serialität ein. Eine weitere Publikation rekonstruiert die Entwicklung der Kommissare des BR an wenigen ausgewählten Folgen (in der Regel die jeweiligen Erstlings-Folgen) und kommt deshalb kaum zu übergreifenden Befunden.39 Karczmarzyk erhebt den Anspruch, eine allgemeine »Strukturformel« (2010: 15) des Tatort zu entschlüsseln, bezieht sich dabei aber lediglich auf Produktionen der Jahre 2000 bis 2008. Ein Sammelband aus dem Jahr 2010 beleuchtet vor allem aktuelle Entwicklungen (z.B. das Thema Migranten in Deutschland) und berücksichtigt an älteren Reihentexten nur die Folge »Tote Taube in der Beethovenstraße« (WDR 1973; Regie: Samuel Fuller) sowie die Serie um Schimanski.40 Eher selten wird der Tatort in allgemeine Untersuchungen zum Fernsehkrimi eingebettet, und auch dann ohne genauere Reflexionen auf die spezifische Serialität der Reihe.41 Die Aufmerksamkeit liegt zumeist auf allgemeinen Merkmalen des Reihen-Konzepts (Aktualität, Realismus, Regionalität, Aufklärung) sowie auf gesellschaftskritischen Perspektiven (ausgehandelt an Delikten wie Kinderprostitution, Frauen- und Kinderhandel, Umweltkriminalität, Wirtschaftskriminalität, Wohnungskriminalität, politischen Themen: Neonazis, MAD-Fälle u.a.). In historischer Perspektive interessiert man sich vornehmlich für den Wechsel der Ermittlerfiguren: In den 1980er Jahren lassen sich insofern Probleme mit der Kontinuität beobachten, als neue Ermittler nicht durchgesetzt werden konnten; seit den 1990er Jahren sind diese Probleme aber gelöst worden.42 Übergreifende Analysen, die auf der Gesamtheit der Produktion seit 1970 über alle Sendeanstalten hinweg basieren, gibt es nur wenige, etwa in der Erforschung der vom Tatort erzeugten Raumkonzepte.43 39 | Pajonk 2010; siehe auch Bredehöft 2011, eine Rezension auf der Internetplattform tatort-fundus. 40 | Griem/Scholz 2010. 41 | Vgl. Brück 2003: 159-171, Viehoff 2005. 42 | So Brück 2003: 169. 43 | Vgl. Scherer/Stockinger 2010a, 2010b.

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P ILOTSTUDIE : V ERBINDUNG VON I NHALTSANALYSE UND H ERMENEUTIK Unser Untersuchungsdesign ermittelt die historischen Formen und Verfahren seriellen Erzählens im Tatort auf zwei Ebenen: 1. Auf der Ebene der Filme haben wir ein Analyseraster für die Ästhetik des Seriellen systematisiert, das im Rahmen einer möglichst umfassenden Korpusanalyse angewendet wird; insgesamt werden 488 der 785 Folgen erfasst, die zwischen 1970 und 2010 in der ARD ausgestrahlt wurden.44 Das sind 62,17 Prozent des Reihenbestands.45 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Serien eines Senders (zunehmend) Distinktionsstrategien ausbilden, die sich aus der Konkurrenzsituation sowohl zur jeweiligen Serienproduktion der anderen Fernsehanstalten als auch zur ambitionierten Filmszene (Kinofilm, Fernsehspiel) ergeben. In diesem Zusammenhang lässt sich die in der Serienforschung etablierte These, in den 1990er Jahren sei ein vor allem auf formale Artistik bezogener qualitativer Sprung bei Fernsehserien zu beobachten, am Material konkret überprüfen.46 Auch die spezifische Konkurrenz der Sender untereinander führt zur Ausdifferenzierung der Reihe, indem die Anstalten zum einen spezifische regionale Ansprüche, zum anderen je eigene Konzepte entwickeln: Mit dem MDR wird »der Osten« Tatort-fähig, der SWF setzt als erster Sender auf weibliche Ermittler, die dann mit den neuen Kommissarinnen seit Mitte der 1990er Jahre zu vergleichen sind – um nur einige Beispiele zu nennen. 2. Auf Ebene der Rezeption wird die Behandlung der Reihe insbesondere in der professionellen Fernsehkritik untersucht. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach Kontinuität und Wandel in den Maßstäben für gelungene Serialitätsgestaltung. Das Beschreibungsraster erfasst Serialisierung also sowohl auf Ebene der Produkte als auch auf Ebene ihrer kritischen Diskussion in der Re-

44 | Die zwischen 1985 und 1989 vom ORF außerhalb der Gemeinschaftsproduktion realisierten 13 Folgen sind hier nicht mitgezählt, da sie bislang nicht in der ARD gezeigt wurden (lediglich einige Dritte Programme und 3sat haben einen Teil dieser Folgen ausgestrahlt). 45 | Die Rasterung erfolgt anhand einer diachronen und einer synchronen Stichprobe. In diachroner Perspektive (1970-2010) werden die Tatort-Folgen von BR, WDR, SWF/ SDR (fusioniert zum SWR), SR und Radio Bremen berücksichtigt. Auf diese Weise werden die Produktionen von fünf für die Reihe maßgeblichen Sendeanstalten im historischen Verlauf der Serienabfolgen vollständig analysiert. Daneben werden die im historischen Verlauf eruierten regionalen und senderspezifischen Differenzen in einem synchronen Schnitt Mitte der 1990er Jahre (1993-1998) am Vergleich sämtlicher Produktionen der Reihe ermittelt (also auch von SFB, HR, MDR, SFDRS und ORF). 46 | Vgl. zu dieser These Koebner 1994: 186, Allrath/Gymnich 2005: 4.

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zeption (die selbst Formen und Verfahren der Serialisierung in wertender Perspektive beobachtet und ggf. anstößt). Bezogen auf die Serialität der Folgen dient die Rasterung dazu, deren invariante Teile genauer in den Blick zu bekommen; außerdem lassen sich im Folgen- und Serienvergleich strukturelle Äquivalenzen (etwa bei Figurenkonstellationen, Schauplätzen usw.) erfassen und unterschiedliche Dynamiken serieller Abläufe angemessen beschreiben.47 Methodisch bietet sich dafür ein inhaltsanalytisches Vorgehen an, das vor allem beim Umgang mit großen Textmengen und zur Analyse textueller Strukturen und deren Veränderungen sinnvoll ist. Inhaltsanalysen reduzieren die Komplexität von Medientexten, um eine systematische Vergleichbarkeit und verallgemeinerbare Aussagen über eine Vielzahl ähnlicher Medientexte zu ermöglichen.48 Da die inhaltsanalytische Rasteranalyse der Tatort-Folgen und ein ergänzendes hermeneutisches Vorgehen in unserem Forschungsdesign wechselseitig aufeinander bezogen sind, werden die jeweiligen Vorteile der verschiedenen methodischen Zugänge genutzt. Bereits im Prozess der Codierung wird dabei auf ein Verfahren zurückgegriffen, das interpretierende und klassifizierende Elemente verknüpft. Die Rasteranalyse nutzt die hermeneutisch-klassifikatorische (qualitativ-quantitative) Inhaltsanalyse nach Mathes.49 Dieses Vorgehen beinhaltet drei Teile: eine mehr oder weniger extensive hermeneutische Interpretation (abhängig von Fragestellung, Textsorte, Medium usw.), eine quantitative Klassifikation (Codierung) und eine zweigleisige, beide Vorgehensweisen aufeinander beziehende Auswertung (statistische Auswertung und hermeneutische Detailanalyse). Für die Erschließung der Tatort-Reihe wird das Verfahren an die Erfordernisse einer Fernsehanalyse angepasst, indem z.B. dramaturgische und ästhetische Kategorien berücksichtigt werden. In der Klassifizierung (Codierung) wird die Modul- und Netzwerktechnik der Inhaltsanalyse angewendet. Dies erlaubt, die Relation bestimmter Serialitätsmerkmale analytisch zu erfassen.50 Zudem garantiert der modulare bzw. netzartige Aufbau des Kategoriensystems eine große Flexibilität der Codierung und die Erweiterbarkeit des inhaltsanalytischen Instrumentariums; es lassen sich z.B. fakultative Kategoriennetze integrieren, die es ermöglichen, spezifische Themen wie Technik- oder Religionsdarstellung zu erfassen.51 Modulare und netzartige Kategoriensysteme gelten aufgrund ihrer differenzierten Codierpotentiale als besonders geeignet. 47 | Vgl. dazu Juretzka 1992: 45. 48 | Vgl. Mathes 1992: 407, Rössler 2005: 16. 49 | Vgl. Mathes 1988a, 1988b, 1989, 1992, Mathes/Geis 1990, Roller/Mathes 1992, Eckert/Mathes 1995. 50 | Vgl. Adam 2008: 182ff. 51 | Vgl. Mathes 1989: 26.

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Die Kategorienbildung erfolgte sowohl deduktiv (theoriegeleitet) als auch induktiv (empiriegeleitet) aus der Kenntnis und Sichtung einer relevanten Zahl von Tatort-Folgen. So lassen sich sowohl theoretisch relevante Serialitätsmerkmale, z.B. zur These der Sozial- und Hyper-Serie, als auch spezifische Merkmale der Reihe bzw. einzelner Folgen angemessen berücksichtigen. Bei einzelnen Kategorien (Figuren, Abweichungen und Besonderheiten des Reihenvorspanns usw.) werden die Codes während der Codierung laufend ergänzt. Insgesamt erlaubt das Vorgehen eine systematische Analyse bei größtmöglicher Flexibilität in der Erfassung der relevanten Merkmale. Die statistische Auswertung inhaltsanalytisch erfasster Daten macht es möglich, die Dynamik serieller Aspekte differenziert nach Sendern, einzelnen Kommissaren und Ermittlerteams, speziellen Serialitätsmarkern oder historischen Faktoren vergleichend zu analysieren. Der Datensatz dient gleichzeitig als Wissensmanagementsystem für die hermeneutische Feinanalyse einzelner Filme, narrativer Muster und serieller Aspekte. Dafür werden Stringvariablen verwendet, um kurze Stichwörter zu einzelnen Kategorien zu vermerken und Zeitangaben für relevante Szenen oder Sequenzen zu notieren. Die inhaltsanalytische Rasteranalyse dient somit als datentechnische Basis für eine ausführliche hermeneutische und filmanalytische Untersuchung der spezifischen Serialitätsstrukturen im Tatort und ihrer historischen Veränderungen. Statt Schlussfolgerungen auf beliebige Beispiele aus einem Serienkorpus zu gründen, erlaubt die Rasteranalyse damit, den Stellenwert einzelner Beispiele und der hermeneutischen Fallanalysen präzise zu bestimmen.52 Folgende Serialitätsmarker werden mit der inhaltsanalytischen Rasterung erfasst:53 Serielle Signifikanz von Titeln – Vorspann – filmischer Einsatz der Folge – Exposition der Ermittlerfiguren – Ermittlerfiguren – Nebenfiguren (wiederkehrend) – Gegenspieler – Haupthandlung: Kriminalfall (Falldramaturgie) – Nebenhandlungen (Privatleben) – Fortsetzungsreichweite und Fortsetzungsdichte – Themen und Motive – Zeit/zeitliche Struktur – Räume (wiederkehrend) – Rauminszenierung – Gestaltung (Dramaturgie/Ästhetik) – regionalspezifische Serialitätsmuster (typische Landschaften/Stadtansichten, Dialektfärbung von Figuren etc.) – Selbstthematisierung – Genrezuordnung – Formatverletzung – intertextuelle/intermediale Verweise und Vernetzungen (z.B. durch Gast-Ermittler) – Wiederholungen – Inkongruenzen/Abweichungen. Diese Serialitätsmerkmale werden als Hauptvariablen für die inhaltsanalytische Untersuchung zugrunde gelegt. Die Analyseeinheiten werden hierarchisch und parallel gegliedert. Hierarchieebenen bilden die zentralen Analysekategorien Folge, Figuren/Räume und intertextuelle bzw. intermediale Verweise/ 52 | Vgl. Dellwing 2009. 53 | Vgl. auch Boll 1994: 26, Wünsch/Decker/Krah 1996.

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Selbstthematisierungen. Innerhalb dieser Ebenen werden parallel verschiedene Kategoriennetze konstruiert (z.B. auf der Ebene »Folge« Kategoriennetze zur Analyse der zeitlichen Gestaltung, der Rauminszenierung, der Dramaturgie usw.). Mit anderen Worten: Es werden einzelne Serialitätsmerkmale mit verschiedenen, analytisch differenzierten Kategorien, Modulen bzw. Netzen erfasst (synthetische Codierung). Die folgende Grafik veranschaulicht die vereinfachte Grundlogik des Kategoriensystems:

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Die Rezeptionszeugnisse (Fernsehkritiken, Zeitungsartikel) werden ebenfalls mittels einer hermeneutisch-klassifikatorischen Inhaltsanalyse und mittels ergänzender hermeneutischer Feinanalysen untersucht. Durch die Verknüpfung einzelner Kategoriennetze zu Netzwerken, die die inhaltliche Relation von Textmerkmalen abbilden, eignet sich die Inhaltsanalyse »insbesondere zur Analyse komplexer Argumentationszusammenhänge« (Mathes/Möller/Hißnauer 2001: 66). Dafür ist es notwendig, den Datensatz nicht nach Artikeln, sondern nach einzelnen Aussagen aufzuschlüsseln. Im Gegensatz zu klassischen Inhaltsanalysen wird es dadurch möglich, systematisch und differenziert Kontinuität und Wandel in den Bewertungsaspekten zum Thema Serialität zu ermitteln und die jeweilige Relevanz spezifischer Serialitätsmarker (z.B. als Erwartungshorizont) in der Rezeption zu messen. Neben Aussagen zu seriellen Aspekten werden in der Auswertung der Fernsehkritiken folgende Parameter berücksichtigt: Spekulationen über den Fortgang der Reihe oder einer Serie bzw. Figur, Forderungen an die Reihe oder Serie und Vergleiche innerhalb der Reihe bzw. mit anderen Reihen, Serien und Figuren. Zudem werden die Folgen erfasst, die als Klassiker oder Musterbeispiele der Reihe bezeichnet werden. Die vereinfachte Grundlogik des Kategorienschemas zeigt die folgende Grafik:

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Die Auswertung beider Analyseteile sowie die Interpretation der Ergebnisse werden an die leitenden Fragestellungen zurückgebunden, vor allem an die Hypothesen zur historischen Entwicklung der Serialität der Reihe Tatort, die unserem Design zugrunde liegen. Insbesondere die Untersuchung der Ermittlerfiguren, deren Exposition, deren Dienst- oder Privatsituation usw. wird dabei Einblick in die seriellen Qualitäten des Tatort geben. Gerade das Verhältnis stereotyper Beschreibungsmuster zu Neuerungen im Detail, die auch zur Neudeutung der Figur führen können, ist hierfür aufschlussreich. Der Charakter des Ermittlers bzw. der Ermittlerin wird dabei ebenso berücksichtigt wie Ermittlungskonstellationen (allein/im Team) und Ermittlerhierarchien, Geschlechterrollen oder Vernetzungen zwischen den Ermittlern unterschiedlicher Serien sowie die Interaktion mit (wiederkehrenden) Nebenfiguren und/oder Gegenspielern. Konzeptionelle Veränderungen in der Ermittlungsarbeit sind beispielsweise durch Teambildungen (Konstellationen wie Schimanski und Thanner, 1981), in den Verschiebungen der Geschlechterparadigmen (signifikant seit Odenthal, 1989) oder durch die zunehmende Einbindung der Ermittlerfiguren in individuelle Lebensphasenmodelle (Familiengründung, Eltern- und Großelternschaft u.ä.) seit 2002 zu erwarten. Den Anfängen einer Serie sowie dem Serienwechsel innerhalb des Angebots einer Sendeanstalt kommt dabei besondere Aufmerksamkeit zu. Die Logik der Serienentwicklung folgt, so unsere Hypothese, folgendem Schema: (1) Einführung der Serie, (2a) Stabilisierung im Rekurs auf etablierte serienspezifische Serialitätsmarker, (2b) Stabilisierung durch das Spiel mit Abweichungen im

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Rekurs auf die etablierten Muster bzw. Stereotypien, (3) Ablösung der Serie als Zeichen für die Grenzen der Serialisierung (Faktoren: Überdruss, »auserzählte« Ermittlerfiguren, mentalitäts- und sozialgeschichtliche Verschiebungen, Veränderung der Lebensstile oder Zeitgeist). Über die Jahre hinweg kommt es in diesem schematischen Rahmen zu Veränderungen in der Logik der verhandelten Kriminalfälle und in der Funktion von Nebenhandlungen wie in der Raumordnung. Für diesen Wandel spielen das je sich verändernde thematische und motivische Interesse ebenso eine Rolle wie historische Zäsuren: allgemein nach Maßgabe der von der Kulturgeschichte beschriebenen Gliederung nach Dezennien (1970er, 1980er, 1990er, 2000er Jahre), spezieller im Blick auf politische Zäsuren (1989-1991), auf medienhistorische Faktoren (duales Rundfunksystem seit 1984, Videoclip-Ästhetik seit den 1980er Jahren, Krimi-Boom 1995/96) und schließlich auf ereignisgeschichtliche Einbrüche (9/11, Weltwirtschaftskrisen 1973, 2002, 2009).54 Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass auch im Tatort seit den 1990er Jahren zunehmend mit ambitionierten Verfahren jenseits der zunächst dominierenden »Fernsehspiel-Dramaturgie« (Brück 2004: 204, zur Serie Der Kommissar) gearbeitet wird, dass also die »televisuality« (Caldwell 1995) von Folgen auffällig zunimmt und deren »narrative Komplexität« (Mittell 2006) eine gesteigerte Medienkompetenz der Zuschauer voraussetzt. Entsprechendes gilt für die seit den 1990er Jahren beobachtbare Tendenz zur (thematischen und formalen) Selbstreflexivität der Texte.55 Ästhetisch ambitionierte und experimentelle Folgen insbesondere des BR in diesen Jahren (»Frau Blu lacht«, 1995, »Perfect Mind. Im Labyrinth«, 1996, u.a.) legen eine solche Untersuchung nahe. Dabei kann die Rasteranalyse genauer bestimmen, wie andere Sender auf diese Entwicklungen reagieren. Auch die zwischen ca. 2001 und 2008 feststellbare Tendenz zur Individualisierung und Privatisierung der Ermittlerfigur, die nun bevorzugt, bisweilen sogar im Nachhinein (ORF: Eisner) mit Nachwuchs ausgestattet wurde (RBB: Stark, NDR: Borowski, Casstorff, Lindholm, WDR: Schenk), dürfte das Interesse zeitweise dominiert haben. Dass der Zuschauer das Älterwerden des Nachwuchses miterlebt, gehört zu den neueren starken Serialitätsmarkern der Reihe, so unsere Hypothese, wobei durch den jüngsten Generationenwechsel bei den Ermittlern des SWR (Stuttgart), MDR (Leipzig), NDR (Hamburg) und HR (Frankfurt) diese Tendenz nicht weiter verstärkt wurde. Auch wenn insgesamt die seit Mitte der 1990er Jahre beobachtbare Neigung zu formalen Experimenten in den letzten Jahren wieder rückläufig scheint, werden u.a. vom BR immer wieder auch cineastisch ambitionierte Folgen ausgestrahlt, so »Außer Gefecht« (2006) als Tatort in Realzeit, »Der oide Depp« (2008) als formale Selbstreflexion auf die Geschichte des deutschen Fernsehkrimis oder 54 | Spezifisch zum Krimi-Boom vgl. Viehoff 2005: 107. 55 | Vgl. Sconce 2004.

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die bereits mehrfach erwähnte Folge »Kleine Herzen« (2007) im Stil der Berliner Schule (Christian Petzold, Thomas Arslan u.a.). Die Ergebnisse der qualitativen Interpretation bilden die Grundlage für eine historische Verlaufsgeschichte der Ästhetik des Seriellen im Tatort, die Inhaltsanalyse und Hermeneutik miteinander verbindet, indem sie beide Methoden wechselseitig aufeinander bezieht. Das Untersuchungsdesign schließt damit an Hickethiers Plädoyer für einen »integrierende[n]« Ansatz an (2001: 33), indem es die Befunde der Rasteranalyse erläutert, kommentiert und schließlich in einer qualitativen Interpretation einzelner Folgen auswertet.56 Mit dieser Kombination unterschiedlicher analytischer Vorgehen, die für verschiedene Fach- und Wissenschaftstraditionen stehen, betreten wir Neuland. In diesem Sinne arbeiten wir an einer Pilotstudie. Wir erhoffen uns mittels dieser methodischen Anlage eine Gegenüberstellung von Ergebnissen, die sich bestätigen, kombinieren lassen, vertiefen, aber auch widersprechen können und damit zu neuen Forschungsfragen und Hypothesen führen. Wir wollen zeigen, wie sich die unterschiedlichen Analyseverfahren sinnvoll ergänzen und insbesondere für die Untersuchung von populärer Serialität insgesamt nutzbar gemacht werden können.

L ITER ATUR Adam, Silke. »Medieninhalte aus der Netzwerkperspektive: Neue Erkenntnisse durch die Kombination von Inhalts- und Netzwerkanalyse«. Publizistik 53 (2008): 180-199. Allrath, Gaby und Marion Gymnich (Hg.). Narrative Strategies in Television Series. Basingstoke: Palgrave, 2005. Boll, Uwe. Die Gattung Serie und ihre Genres. Aachen: Alano, 1994. Bollhöfer, Björn. Geographien des Fernsehens: Der Kölner »Tatort« als mediale Verortung kultureller Praktiken. Bielefeld: transcript, 1997. Bredehöft, Timo. »Die BR-Kommissare im Fadenkreuz«. Tatort-Literatur. Rezension BR-Kommissare. 5.6.2011. (5.6.2011). Brück, Ingrid. Alles klar, Herr Kommissar? Aus der Geschichte des Fernsehkrimis in ARD und ZDF. Bonn: ARCult Media, 2004. Brück, Ingrid et al. (Hg.). Der deutsche Fernsehkrimi: Eine Programm- und Produktionsgeschichte von den Anfängen bis heute. Stuttgart: Metzler, 2003. Caldwell, John Thornton. Televisuality: Style, Crisis, and Authority in American Television. New Brunswick: Rutgers University Press, 1995. 56 | Vgl. Hickethier 1991: 35.

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Im Diesseits der Narration Zur Ästhetik der Fernsehserie Oliver Fahle

Was ist das serielle Prinzip gegenwärtiger Fernsehserien und welche Ideen von Serialität müssen entwickelt werden, um die Fernsehserie als ästhetische Erscheinung zu verstehen? Diese beiden ineinander verschränkten Fragen stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags. Dazu stelle ich vier Problemfelder zur Diskussion: Erstens betrachte ich aus historischer Perspektive die Serien Twin Peaks (ABC, 1990-1991) und Miami Vice (NBC, 1984-1989) als Scharnier- und Wendepunkte der aktuellen Fernsehserie, ohne deren Verständnis die gegenwärtigen Entwicklungen auch aus fernsehtheoretischer Sicht nicht begriffen werden können. Zweitens soll ein Konzept von Intermedialität vorgestellt werden, das den Fernsehserien der Gegenwart zugrunde liegt, ja in und von ihnen verhandelt wird. Es ist in diesem Zusammenhang davon auszugehen, dass ein Grund für die Attraktivität der Fernsehserie im Wandel der Bildmedien (Film, Fernsehen, digitale Medien) liegt. Drittens behaupte ich, dass eine wesentliche Innovation von Fernsehserien nicht nur in den Qualitäten von Regisseuren, Schauspielern, Drehbuchautoren und Drehorten besteht, also in den Ansprüchen an filmische Erzählung, sondern im Anspruch, die Narration gerade zu überschreiten und Serialität als ästhetische Kategorie der Bildmedien diesseits der Narration aufzuwerten. Damit stelle ich ein philosophisches Konzept von Serialität vor, das in der Entwicklungslogik der populären Qualitätsserien der Gegenwart liegt.

TWIN P EAKS UND M IAMI V ICE In einem nach wie vor lesenswerten Buch aus dem Jahr 1990 behauptet David Buxton, dass mit der Serie Miami Vice die Geschichte der Fernsehserie in eine Krise geraten sei, die zugleich das Ende des bisher gekannten Formats bedeute.1 1 | Vgl. Buxton 1990.

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Miami Vice bringt demnach eine Entwicklung der amerikanischen Fernsehserie zum Abschluss, die in den 1950er Jahren mit Bonanza (NBC, 1959-1973) und den so genannten Human-Nature-Series begann, sich in den 1960er Jahren mit Pop-Series wie The Avengers (ITV, 1961-1969) fortsetzte und in den 1970er Jahren in Polizeiserien wie Kojak (CBS, 1973-1978) mündete. In den 1980er Jahren gerät das Projekt, das diese Serien immer wieder neu ausgehandelt haben, nämlich, so Buxton, erstens der Kampf der amerikanischen Konsumgesellschaft gegen das Böse und, zweitens, die erzähltechnisch erzeugte Aufrechterhaltung der Grenzen zwischen beiden Seiten, in eine schwere Krise.2 Mit Miami Vice ist Buxton zufolge der Kampf gegen das Böse verloren, was sich nicht nur in den erzählten Geschichten zeige, in denen Polizei und Verbrechen unentwirrbar miteinander verflochten sind, sondern auch auf Ebene des Erzähldiskurses, der das Erzählte durch seine Annäherung an Werbe- und Musikvideoästhetik weitgehend entwerte: Style itself becomes a form of vice which destroys the innocent, one-to-one relationship between signs and things that existed in a morally pure society; an advanced consumer society is viceful because consumption is no longer utilitarian and uplifting but extravagant, superfluous, desirous. (1990: 143)

Die Argumentation Buxtons zielt darauf, dass vor allem Human-Nature-Series wie Bonanza eine Art Double Bind geschaffen haben. Auf inhaltlicher Ebene zeigen sie eine Gesellschaft, die moralisch intakt ist, solange Eigentum und Konsum zum Wohl der Allgemeinheit eingesetzt werden, wenn auch nur von einigen wenigen Besitzern (wie den Cartwrights). Diese ideologische Position korrespondiert mit einem Erzählstil, der die Repräsentation in den Dienst narrativer Kohärenz stellt, so wie es aus der klassischen Hollywooderzählung bekannt ist. Diese »Vereinbarung«, die im Lauf der Jahre immer prekärer wurde, kündigt Miami Vice auf, indem es den Stil dem Erzählinhalt gleichstellt oder sogar über ihn erhebt und dabei die Trennung in Gut und Böse nahezu auflöst. Dies zeigt sich vor allem an der Darstellung von Konsum. Der Ferrari von Sonny Crockett und der gesamte Reichtum Miamis, der exzessiv zur Schau gestellt wird, beruht auf einer Drogenwirtschaft, gegen die zugleich polizeilich vorgegangen wird. Dies unterscheidet sich besonders von den Polizeiserien der 1970er Jahre. Auch in Kojak überschritt die Polizei schon mal die Grenzen des gesetzlich Erlaubten, hauste aber in einem etwas heruntergekommenen Polizeibüro und erledigte die Arbeit mit knappen öffentlichen Geldern. Erst die Konsumexplosion der 1980er Jahre, die in Miami Vice selbst zum Bestandteil der Fernsehästhetik wird, lässt die moralische Integrität der Ermittler nicht mehr einwandfrei aussehen. Hier kommt also nicht die Fernsehserie, sondern nur eine bestimmte ideologische 2 | Vgl. ebd. 141-160.

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Verfassung ihrer selbst an ein Ende. Es ist dann kein großer Schritt, bis die Verbrecher selbst zu menschlichen und mitunter sympathischen Protagonisten werden, wie in The Sopranos (HBO, 1999-2007), eine der ersten »neuen« Fernsehserien, in der »Verbrecher und Kriminelle als zentrale Identifikationsfiguren einer Serie« (Bock 2008: 161) eingeführt wurden. Genauso wichtig erscheint jedoch der zweite Aspekt von Miami Vice: Wenn Werbeästhetik und an MTV erinnernde Musikclipsequenzen den Stil der Serie über deren Narration aufwerten, wird Intertextualität zu einem zentralen Bestandteil des seriellen Geschehens. Diese Bilderfolgen, die narrativ unnütz oder untüchtig sind, gewinnen Autonomie und organisieren Ebenen diesseits der Narration. Damit vollziehen sie einen markierten Bruch mit bisherigen Serien, der von nachhaltigem Einfluss für die aktuellen Fernsehserien sein wird. Hierbei ist natürlich zu bedenken, dass sich das (westliche) Fernsehen in den 1980er Jahren insgesamt wandelt und von einem eher hierarchischen und geschlossenen zu einem interaktiven und intermedialen Medium wird – eine Entwicklung, die beispielhaft in den Unterscheidungen von Paläo- und Neofernsehen bzw. »zero-degree« und »style-television« erfasst wurde.3 Buxton reflektiert diesen Übergang nicht und beobachtet die Fernsehserie gewissermaßen intrinsisch, als eigenständige Gattung mit spezifischen Entwicklungsstufen, die bestimmte ideologische Vorstellungen des amerikanischen und westlichen Kapitalismus vermittelt. Das ist durchaus die Stärke seines genrehistorischen Ansatzes. Er läuft allerdings Gefahr, die beobachteten Entwicklungen als eine Verfallsgeschichte zu lesen – wie an der Kapitelüberschrift des letzten Kapitels (über Miami Vice) deutlich wird: »A fallen world« (1990: 140). Buxton übersieht damit eine Entwicklung im Prinzip televisueller Serialität, bei der Serialität nicht mehr nur als Organisationsform der Episoden begriffen wird, sondern sich gleichsam in und zwischen den Episoden einnistet. So bilden etwa die Farben in Miami Vice eine eigene Serialität aus, die nicht mehr narrativ beschrieben werden kann. Oder die Clipsequenzen serialisieren sich von Folge zu Folge, ohne erzählerisch sinnvoll eingesetzt zu werden. Das heißt, Serialität löst sich von der Narration und bildet eine eigene ästhetische Form, die die narrative Organisation parasitär durchwandert und dafür sorgt, dass eine Episode auf mehreren Text- und Wissensebenen betrachtet werden muss (wenn man den Stil nicht nur als Bauform des Erzählens, sondern als eigene epistemische Ebene versteht). Die erste Serie, die diese epistemische Neuverfassung der Fernsehserie radikalisiert, ist Twin Peaks von David Lynch und Mark Frost. Twin Peaks ist sicherlich in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich; ähnlich wie Rainer Werner Fassbinders Berlin Alexanderplatz (WDR, 1980) kann man sie vielleicht als Autorenfilmserie begreifen, bei der ein bereits anerkannter Filmregisseur für das Fernsehen 3 | Vgl. Casetti/Odin 1990, Caldwell 1995.

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arbeitet. Allerdings standen zahlreiche Folgen von Twin Peaks nicht unter der Regie von Lynch, so dass die Serie zwar Züge einer anspruchsvollen Autorenproduktion trug, aber nicht demonstrativ aus dem Rahmen bisheriger Formate fiel. Was sie allerdings aus ästhetischer Perspektive bemerkenswert macht, ist ihre epistemische Orientierung. Dabei geht es – anders als bei Miami Vice – weniger um die stilistischen Merkmale, die bei Twin Peaks zwar ebenfalls auffällig, insgesamt aber innerhalb des narrativen Paradigmas lesbar sind. Vielmehr geht es darum, dass der im Vordergrund der Handlung stehende Kriminalfall – die Aufklärung des Mordes an Laura Palmer – die verschiedensten Erkenntnisweisen herausfordert und zulässt. Ganz offensichtlich ist Leland Palmer, der Vater des Opfers, nicht der alleinige Mörder, sondern andere Mächte innerhalb und außerhalb des Täters spielen eine entscheidende Rolle, die kriminal- und untersuchungstechnisch eingeholt werden muss. FBI-Agent Dale Cooper verwendet daher wissenschaftliche und parawissenschaftliche Mittel nebeneinander, um der Wahrheit näher zu kommen. Lorenz Engell hat in diesem Zusammenhang detailliert beschrieben, wie in Twin Peaks das vor-aufklärerische Wissensparadigma der Ähnlichkeit (nach Foucault) sowohl in der Ermittlung als Methode als auch in den narrativen Zusammenhängen eingesetzt wird.4 Convenientia (Auftauchen der Dinge am gleichen Ort), Aemulatio (Spiegelbeziehungen, Verdopplungen), Analogie (gleiche Kontexte) und Sympathie (Annäherung entfernter, aber verwandter Dinge) strukturieren den Wissens- und Erkenntniskosmos der Serie und müssen auch vom Rezipienten in ihrer Logik akzeptiert werden, wenn die narrativen Zusammenhänge begriffen werden wollen. Dazu bildete sich eine eigene Community, die Anspielungen, Zitate, Verweise und Rätsel (auch schon im Internet) zu lösen versuchte – eine Serie wie Lost (ABC, 2004-2010) wird später darauf aufbauen. In anderen Worten: Twin Peaks etabliert eine epistemische Ordnung, die auf dem Zusammenspiel rationaler und intuitiver Erkenntnismodi aufbaut, platziert dabei – strukturell ähnlich wie Miami Vice – verschiedene ikonische Ebenen nebeneinander und schafft auf diese Weise Serialisierungsverläufe, die sich über alle Episoden verstreuen. Wie in Miami Vice vervielfältigt sich das serielle Prinzip und kann nicht mehr nur als narratives Organisationsprinzip verstanden werden. Serien gewinnen damit – durchaus im Sinne der Postmoderne – eine stärkere intertextuelle Form, indem sie sich auf andere Formate (Werbung, Clip), Genres (Horrorfilm, Western) und andere Serien (etwa die Serie in der Serie: »Invitation to Love« in Twin Peaks) beziehen. Die Konsequenzen dieser neuen Form der Serialisierung zeigen sich auf verschiedenen Ebenen, von denen Intermedialität, Narration und Temporalität zu den wichtigsten gehören und deshalb im Folgenden erläutert werden sollen.

4 | Vgl. Engell 2000.

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S ERIALITÄT ALS I NTERMEDIALITÄT IM D IESSEITS DER N ARR ATION Intermedialität ist als Schlagwort in geisteswissenschaftlichen Debatten seit zwei Jahrzehnten ebenso präsent wie unscharf. Sicher ist, dass die Begriffe »Medium« und »Intermedialität« sich in einer Art Zirkelbewegung gegenseitig bedingen, denn die ersten großen medientheoretischen Texte, also Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) und Marshall McLuhans Understanding Media (1964), bestehen darauf, dass Medien nur in Abgrenzung zu anderen Medien definierbar sind, weshalb es kein Medium gibt, das nicht andere enthält. Im Wesentlichen zeigt sich hier die Unschärfe des Medienbegriffs, denn wann »ein« Medium beginnt oder endet, ist Definitionssache. Ist der Film ein Medium? Oder schon ein Bild, ein Ton, eine Geste und ein Wort? Produktiver als die deklaratorische Klärung solcher Fragen scheint es, den eigenen Argumentationskontext klar zu machen und den Medienbegriff darin zu verorten. Versuche, den Begriff der Intermedialität systematisch zu klären, sind deshalb nur bedingt hilfreich; die (beweglichen) Gegenstände scheinen sich diesen Systematisierungen immer wieder zu entziehen.5 Daher hat sich in den Medienwissenschaften ein dynamischer Begriff von Intermedialität etabliert, der auf konkrete mediale Situationen und Gegenstände anwendbar ist.6 Besonders fruchtbar ist das Konzept der Remediatisierung bei Jay David Bolter und Richard Grusin.7 Darunter verstehen die Autoren den Wettstreit der Medien untereinander, der sich grundsätzlich über die Stufen der »immediacy« und »hypermediacy« entwickelt. Medien, so das Argument, versuchen einerseits, sich als Vermittler zu verstecken, um näher an die Realität heranzukommen (»immediacy«); weil sie andererseits aber vorangegangene Medien auch »übertreffen« möchten, integrieren sie diese in ihr eigenes mediales Dispositiv (»hypermediacy«) – meist mit dem Ziel, hierüber erneute Unmittelbarkeit zu erlangen, also noch näher an die Realität heranzurücken. Remediation ist demnach ein ständiger Prozess der Neuordnung medialer Formen, der seit dem Aufkommen digitaler Medien besonders stark ins Bewusstsein gerückt ist: Like other media since the Renaissance – in particular, perspective painting, photography, film and television – new digital media oscillate between immediacy and hypermediacy, between transparency and opacity. This oscillation is the key to understanding 5 | Man folgt z.B. Rajewskis Ausführungen (2000) mit Faszination ob des präzisen Aufbaus eines intermedialen Begriffsapparats, sieht diesen dann aber nur wenig einsatzbereit für die Arbeit an konkreten – zumal nicht literarischen – Texten. 6 | Hilfreich u.a.: Paech/Schröter 2007. 7 | Vgl. Bolter/Grusin 2000.

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O LIVER F AHLE how a medium refashions its predecessors and other contemporary media. Although each medium promises to reform its predecessors by offering a more immediate or authentic experience, the promise of reform inevitably leads us to hypermediacy. (Bolter/ Grusin 2000: 19)

Während Bolter und Grusin Remediatisierung als den ständig paradoxen Versuch beschreiben, Hypermedialität als Unvermitteltheit auszugeben, könnte dies auch umgekehrt perspektiviert werden, als ein ständiger Abbau des Medialen, in dem sich Medien im intermedialen Prozess sowohl konstituieren als auch zum Verschwinden bringen. Die Realität ist dann nicht mehr im Sinn von Repräsentation – als eine Realität, die repräsentiert werden kann – zu denken, sondern als intermediale Realität, die sich nur zwischen verschiedenen Medien aufführen lässt. Das Medium-Werden spielt damit eine wichtigere Rolle als das Medium-Sein, wie es Andrea Braidt zuletzt für die Serie Mad Men (AMC, seit 2007) herausgestellt hat. Laut Braidt ist der spezifische Stil dieser Serie nur in einem Zusammenspiel zwischen Film und Fernsehen (»cinematic television«) denkbar: Im Spiegel des cinematic television tritt der Film auf; ein Auftreten, das jedoch als idealhafte Täuschung gelesen werden muss. In dieser Denkfigur erlangt weder der Film noch das Fernsehen Subjektstatus (Medium-Sein). Vielmehr durchläuft sowohl das Kino als auch das Fernsehen einen Prozess der Überführung (des jeweils einen ins jeweils andere) an diesem heterotopen Ort des cinematic television (Medium-Werden). (2011: 280)

Braidt geht davon aus, dass einer dieser »heterotopen Orte« (nach Foucault) der Spiegel ist; sie argumentiert daraufhin (mit Lacan), dass die Medien Film und Fernsehen ein Spiegelstadium des Erkennens und Verkennens durchlaufen. Medien konstituieren sich also wie oder als Subjekte, indem sie sich als jeweils andere(s) (v)erkennen – wie Mad Men es als kinematografische Fernsehserie vorführt. Ungeachtet der gelehrten Argumentation kann der Begriff des Medien-Werdens jedoch auch in seiner seriellen Struktur begriffen werden. Überführt nicht gerade das Serielle die Bildmedien in einen anderen Aggregatzustand, weg von den festen Zuschreibungen als Einzelmedien, als Film und Fernsehen, hin zu »cinematic television«? Ist das Serielle nicht eine Form des Werdens par excellence und müsste sich das in seiner »reifen« Form nicht auch in der Ästhetik der Bildmedien zeigen und vielleicht in Fernsehserien seinen privilegierten Ort haben? Medien-Werden (d.h. ständige Remediatisierung) ereignet sich zwischen Bilderserien, etwa des Films und des Fernsehens; daneben gibt es weitere Serialisierungsstrategien, die sich in gegenwärtigen Serien überkreuzen: etwa das »science (cinematic) television«, wenn man an die herausge-

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hobene Rolle naturwissenschaftlicher Bildgebungsverfahren in Serien wie CSI (CBS, seit 2000), Nip/Tuck (2003-2010) oder House (FOX, seit 2004) denkt.8 Gegenwärtige Fernsehserien, so möchte ich behaupten, operieren also mit Serialisierungen, die sich zwischen Medien oder medialen Formaten organisieren, ähnlich wie es Miami Vice mit Videoclips begonnen hatte. Bildästhetisch schließt das an die Tendenz des Neofernsehens zur Hybridisierung und Selbstreferenz an, wie sie exemplarisch von Ralf Adelmann und Markus Stauff als »picture effect« gekennzeichnet worden ist: Die Bezeichnung picture effect weist darauf hin, dass die stilisierende Arbeit zur Sichtbarkeit und Reflexion von Bildern führt. Neben »Realität« und »Fiktionalität« (bzw. Diegese) als Wahrnehmungs- und Referenzmodi werden im Fernsehen schlicht Bilder sichtbar gemacht, oder, insofern es eben keine Bilder, sondern Visualisierungsprozesse sind: Oberflächentexturen, gestaltbare Bildflächen und ästhetische Formen. Durch technisch-stilistische Bearbeitung erhalten die Visualisierungen das, was dem Fernsehen immer wieder abgesprochen wird: Materialität, Räumlichkeit, Brillanz und subtile Differenzierung. Bildflächen überlagern sich und bewegen sich in die Tiefe des Bildraums; Schrifttafeln werden halbtransparent über andere Bilder geblendet; die Farbflächen blitzen metallisch etc. Dies sind keineswegs ästhetische Spielereien, sondern entscheidende Scharnierpunkte der medialen Zirkulationsprozesse. (2006: 65)

Betrifft diese Beschreibung auch die ästhetische Gesamtentwicklung des Fernsehens, also Nachrichten, Berichte, Werbung, Live-Übertragungen usw., so zeichnet sich die Fernsehserie doch dadurch aus, dass sie die beschriebenen Visualisierungsoperationen selbst serialisieren und damit in den narrativen Wandel einbeziehen kann. Neben den häufigen cinematisch und naturwissenschaftlich inspirierten Bildgebungen kann man weitere Serialisierungen auf unterschiedlichen Ebenen ausfindig machen. So begleitet den Zuschauer der Sopranos das dreifache Bild Tony Sopranos: das öffentliche Bild, das durch Fernsehbilder transportiert wird, das subjektive Bild in den Sitzungen bei Dr. Melfi und das intime Bild, das Tony bei seinen Ausrastern und Morden zeigt. Entscheidend ist, dass diese drei Bildebenen nebeneinander herlaufen, ohne dass eine dominiert, als gleichsam parallele Bild- oder Erzählstränge, und dass alle drei zum Werden des Fernsehbildes von Tony Soprano beitragen. Das Gleichgewicht wird zwar stets bedroht, was gerade auch in den Schlussbildern der letzten Staffel deutlich wird, aber nie zerstört. Keine Verhaftung kann Tony zugrunde richten und auch zu Dr. Melfi kehrt er, trotz gegenteiliger Aussagen, immer wieder zurück. Ein weiteres Beispiel findet sich in Mad Men, in dem es neben dem »cinematic style« auch um historische Dokumentation als eigene Verlaufsform geht. 8 | Vgl. auch den Beitrag von Sielke im vorliegenden Band.

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Die mitlaufenden Bilder des historischen Wandels (Wahl Kennedys) stehen in einem funktionalen Kontrast zu den Ereignissen der Serie. Während die historischen Bilder Gegenwartsbewusstsein demonstrieren – also die Charaktere in ihrer Lebenswelt zu Beginn der 1960er Jahre zeigen –, setzt die Serienhandlung den Zuschauer ins Verhältnis zu einer Vergangenheit, die mit der Geschichte in keinem Ursache-Wirkung-Verhältnis, aber doch neben dieser als – weitgehend vom Fernsehen – geformte Wirklichkeit steht. Ein weiteres Beispiel ist die Parallelisierung der lebenden und toten Körper in Six Feet Under (HBO, 20012005). Der Körper steht bei vielen Serien ja ohnehin im Mittelpunkt, besonders mit Blick auf den Kontrast zwischen dem Körperinnen und dem Körperaußen. Das Eindringen in den Körper (CSI, Nip/Tuck, House) wirft die Frage nach der Vermittlung von Innen und Außen auf, die die einzelnen Serien zwar unterschiedlich behandeln, in jedem Fall aber als schwierige Vermittlung kennzeichnen. Das Subjekt ist hier keine Einheit; zwischen dem wissenschaftlich sezierbaren Innen, dem psychologischen Selbst und dem öffentlichen Bild klaffen Distanzen, die sich nicht mehr narrativ überbrücken lassen, sondern die »nur« noch serialisierbar sind. Dabei zeigt sich in Six Feet Under besonders deutlich, wie wenig anschlussfähig die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Serialisierungen ist. Die Körper verstummen meist zu Beginn einer Episode und stehen fortan im stummen Kontakt mit dem Weiterleben der restlichen Welt. Die toten Körper gewinnen gleichsam einen Eigenwert, der narrativ nicht mehr eingeholt werden kann. Sie bleiben als ikonische und materiale »Objekte« zurück. Tina Weber sieht in den gegenwärtigen Serien damit auch eine neue Ästhetik des leblosen Körpers: Was aber bedeutet es, derart häufig mit Todesdarstellungen in Fernsehserien konfrontiert zu werden? Das Eigentümliche einer Leiche kann mit dem Paradox der gleichzeitigen An- und Abwesenheit, der gleichzeitigen Identität und Identitätslosigkeit eines Menschen beschrieben werden. Ihre Gegenwart ist daher von einer ambivalenten Atmosphäre geprägt, die zugleich Vertrautheit und auch Unbehagen erweckt. Der Leichnam ist dem einstmals lebenden Körper gleich einem Doppelgänger ähnlich. Was die Überlebenden in ihm sehen, ist immer nur der Hinweis auf ein fehlendes und bedeutungsvolleres Konzept. Der Leichnam ist ein Bild seiner selbst, ein unsicheres Bild, das stets schon verloren ist und sich schließlich dem wahrnehmenden Begreifen entzieht. (2007: 545)

Drei Thesen können meine Abschlussbetrachtung einleiten. Erstens: Serialisierung ist eine eigenständige Form der Remediatisierung, die nicht auf das Verschwinden oder Aufzeigen des Medialen, auch nicht auf die Realität (im Sinn von Bolter und Grusin), sondern auf das Mit- und Gleichzeitiglaufen verschiedener medialer Operationen zielt. Diese können sich zwischen »klassischen« Medien abspielen, wie im »cinematic television« (sicher seit Twin Peaks eine

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wichtige Form), oder zwischen Ikonisierungs- und Erzählebenen, wie im »science (cinematic) television«, oder auch zwischen Bilderserien selbst. Wichtig ist, dass sich Serialisierung damit als ästhetische Operation zwar nicht außerhalb, aber doch diesseits der Narration organisiert. Das heißt zweitens: Nicht mehr Narration organisiert Serialität, sondern Serialität organisiert Narration. Serien zielen weniger auf narrative Befriedigung als auf ihr Gegenteil. Gerade die Enden von Staffeln bringen aus narrativer Sicht oft Enttäuschung, nicht weil sie schlecht gemacht sind, sondern weil Serien gar nicht auf narrative Schließung abzielen.9 Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass dieser Wandel dahin führen kann, Narration selbst als eine herausgehobene Serie zu verstehen, die mit anderen Serien korrespondiert. Die Umwälzung, die mit Miami Vice begann, brächte dann in den gegenwärtigen Serien folgende Umkehrung hervor: Nicht mehr Narration dominiert als Ordnungsprinzip mit Tendenz zur Sinngebung, temporalen Organisation und Abschließung, sondern Serialisierung mit Tendenz zur Sinnoffenheit, temporalen Desorganisation und Unabschließbarkeit. Drittens würde eine solche Serialisierung den Horizont linearer Zeit als Grundlage von Serien sprengen und eine – wie ich es wenig elegant nennen möchte – post-heterochrone Serialisierung hervorbringen. Eine solche Serialisierung beruht weniger auf dem Zusammenhang zwischen den seriellen Elementen als auf ihrer Parallelisierung, Unverbundenheit und Dekonnektierung. Sie löst nicht mehr ein Ereignis in mehrere gleichzeitige, aber unvereinbare Zeitserien auf (wie es Deleuze in Bezug auf den Film und sein Zeitbild konstruiert), sondern zielt auf Trennung und Spaltung.10 Zugespitzt formuliert: Was durch Narration zusammengehalten wird, wird durch Serialisierung getrennt. Ist es diese Spannung zwischen Zusammenhang und Auseinanderlaufen, die von Fernsehserien der Gegenwart ausformuliert wird? Eine letzte Anstrengung ist nötig, um diese Frage in ein theoretisches Fundament zu integrieren.

H ERME TISCHE S ERIALISIERUNG In seiner zweiten größeren Abhandlung zur Serialität unterscheidet Deleuze zwei Zeitformen: die chronologische und die äonische (ich etikettiere die zweite sogleich um und nenne sie heterochron).11 Die beiden Formen sind eigentlich untrennbar und entstehen gleichzeitig als Serien. Serien bestehen nach Deleuze demnach immer aus zwei Bewegungen: eine, die Zeit chronologisch vereint, 9 | Vgl. die Einleitung des vorliegenden Bandes. 10 | Vgl. Deleuze 1991. 11 | Vgl. Deleuze 1993. Meine Ausführungen lehnen sich im Folgenden an Fahle 2011 an (dort im Kontext des Entwurfs einer Bildtheorie des Fernsehens).

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und eine, die Zeit heterochron aufspaltet. Während die eine Form der Serialität Identität herstellt, behauptet, fortführt und bei allen Elementen des Wandels auch stabilisiert, treibt die zweite Form der Serialität die Identität in die Paradoxie, untergräbt und hinterfragt sie und verbindet Wandel nicht mit Stabilität, sondern mit Destabilisierung oder Transformation oder, wie Deleuze das nennt, mit Werden. Gerade diese zweite Form verwendet Deleuze, um die moderne Kunst im weitesten Sinne zu beschreiben. Besonders die Filme Godards behandelt er in diesem Sinn als serielle Formatierungen. So entwirft Godard z.B. Serien von Farbgebungen oder Serien von Genrezuschreibungen oder Serien von Klischees.12 Während also die erste Form der Serie der stabilen Konstruktion einer klassischen Zeitauffassung gehorcht, bringt die zweite die Paradoxien des modernen Kunstwerks hervor, das Deleuze mit dem Werden gleichsetzt: Darin besteht die Gleichzeitigkeit eines Werdens, dessen Eigenheit es ist, sich dem Gegenwärtigen zu entziehen. Insofern es sich dem Gegenwärtigen entzieht, verträgt dieses Werden weder die Trennung noch die Unterscheidung von Vorher und Nachher, von Vergangenem und Künftigem. Es gehört vielmehr zum Wesen des Werdens, in beide Richtungen gleichzeitig zu verlaufen, zu streben: Alice wächst nicht, ohne zu schrumpfen, und umgekehrt. Der gesunde Menschenverstand besteht in der Behauptung, dass es in allem eine genau bestimmbare Richtung, einen genau bestimmbaren Sinn gibt; das Paradox jedoch besteht in der Bejahung zweier Richtungen, zweier Sinnprägungen zugleich. (Deleuze 1993: 15)

Damit bereitet Deleuze sein Konzept von Serialität vor, demzufolge zwei serielle Ordnungen paradox aneinander gebunden sind, also nicht gleichzeitig vorkommen können, aber auch nicht unabhängig voneinander begriffen werden können. Dieses Konzept ist im Großen und Ganzen anschließbar an Theorien des modernen Films, die ebenfalls verschiedene Serien – wie Erinnerungen verschiedener Gedächtnisse – miteinander verschweißen. Inwiefern kann die Fernsehserie mit diesem Doppelkonzept beschrieben werden? Die Fernsehserie hat das Konzept der zweiten – heterochronen – Serialität eher schwach ausgebildet, bleibt im Wesentlichen dem Aktionsbild verpflichtet, also der ersten, chronologischen Form der Serialität, der chronologischen mit ihren Aspekten von Differenz und Wiederholung, Offenheit und Geschlossenheit, Kontinuität und Diskontinuität, Teil und Ganzem, auch wenn es Ausnahmen gibt.13 Aktuelle Fernsehserien hingegen entwerfen einen eigenen Typ von Serialität, der auf dem ersten aufbaut und unter weitgehender 12 | Vgl. Deleuze 1991: 236ff. 13 | Zu innovativen Möglichkeiten der Serialität im Fernsehen vgl. (ebenfalls im Anschluss an Deleuze) Trinks 2000.

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Umgehung des zweiten eine eigene Ästhetik, nicht der Heterochronie (wie im modernen Film), sondern der Post-Heterochronie oder gar der Post-Heterogenität herausbildet. Während Deleuze behauptet, es gäbe im reinen Werden die Bejahung zweier Richtungen, zweier Sinnprägungen zugleich, würde ich sagen, es gibt in der Fernsehserie bestenfalls eine Ko-Präsenz zweier oder mehrerer Richtungen, die aber nicht mehr paradox aneinander vermittelt werden, sondern hermetisch. Die hermetischen Serien verweisen nicht auf Anbindung, sondern eher auf Verschließung und Abdichtung. Die oben aufgefächerten medialen und ikonischen Bilderserien werden damit hermetische Ordnungen eines zentrumslosen seriellen Prinzips. Vielleicht ist dies tatsächlich eine postmoderne Serialität – nicht zu verwechseln mit der postmodernen Fernsehserie, die man wohl eher in Miami Vice oder Twin Peaks sehen müsste –, d.h. Serialität nicht mehr linear-wiederholend (klassisch), auch nicht mehr different-paradoxierend (modern), sondern indifferent-hermetisch. Gegenwärtige Serialität entfaltet sich dabei als die nicht parallele Kopräsenz von Reihungen, die keine gemeinsame Identifizierung aufweisen, sondern post-heterogen nebeneinander herlaufen, ohne sich allzu viel mitzuteilen. Es wäre eine serielle Ästhetik der Trennung und Dekonnektierung. Diese Serialität der Dekonnektierung ist eine Serialität unter digitalen Bedingungen, denn sie bezieht sich auf digital hervorgebrachte Strukturen der Vernetzung. Mein Eindruck – und viel mehr ist es an dieser Stelle noch nicht – ist jedoch, dass jüngere Fernsehserien weniger die Vernetzung thematisieren. Diese ist ihnen bereits inhärent. Im Zentrum stehen vielmehr die Entnetzungen, die losen Enden, die anschlusslosen Verbindungen, die nicht kommunizierenden Röhren und der drohende Kollaps der Vernetzung. Wie angeführt, stehen in gegenwärtigen Serien verschiedene serielle Stränge nebeneinander, mit nur noch schwachen Kommunikationskanälen untereinander (Körperinnen/ Körperaußen, lebender/toter Körper, öffentliches/privates/intimes Bild). Dabei reflektieren manche Serien selbst den Bruch des Zusammenhängenden, wie etwa The Wire (HBO, 2002-2008) und Breaking Bad (AMC, seit 2008). Während es in The Wire um den schwierigen Versuch geht, die jederzeit bedrohte Kommunikation zwischen der Polizei und den Drogenorten Baltimores aufrechtzuerhalten (vor allem mit technischen Medien des Telefons, des Fotografierens, der Überwachung und Aufzeichnung), bildet in Breaking Bad die Chemie eine serielle Ebene, die der Familie des Protagonisten, Walt, gegenübergestellt wird. Alles ist Materie, alles ist Veränderung, die durch den Zusammenschluss von Materie erwirkt wird. Davon ist Walt als Chemielehrer überzeugt. Seine eigene Veränderung (der Krebs, die Kriminalität, die Trennung von seiner Frau) ist ein eigener Erzählstrang, der sich aber ebenso mit den Gesetzen der Chemie erklären und erzählen lässt. Und dennoch sind die beiden in Breaking Bad ausformulierten Serien – auch wenn sie sich aufeinander beziehen – so weit voneinander entfernt, dass sie in zwei verschiedenen Kanälen oder Universen stattfinden.

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Sie nehmen noch aufeinander Bezug, aber nur indem sie sich niemals treffen. Damit reagieren Serien wie diese auf eine Ästhetik der Netzwerkkommunikation: Dort wo alle Anschlüsse möglich sind, wo sich Kontaktpunkte vielfältig bilden können, lassen sie verschiedene, dekonnektierte Welten nebeneinander herlaufen, die sich ständig austauschen und doch niemals berühren.

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Evolution

Grenzgänger Serielle Figuren im Medienwechsel Shane Denson und Ruth Mayer

Medien sind nie völlig transparent in ihrem Zugriff auf narrative Formate und Gegenstände, aber im seriellen Erzählen und insbesondere bei der Inszenierung serieller Figuren wird ihre Bedeutung und Wirkungsmacht besonders augenfällig. In diesen Zusammenhängen fungieren Medien nicht nur als Erzählinstanzen, sondern werden auch zu einem Bezugsobjekt, dessen narrative Funktionen ständig changieren. Die Prinzipien von Serialität und Medialität stehen demnach in einer spannungsreichen, historisch variablen Wechselbeziehung, die hier näher beschrieben wird. Als serielle Figuren betrachten wir topische Figuren, die sich in der populärkulturellen Imagination des 20. und 21. Jahrhunderts fest etabliert haben und deren populärkulturelle Karriere von unterschiedlichen Medien geprägt wurde. Als Beispiele dienen die an Medienwechseln reichen Inszenierungen von Frankensteins Monster, Dracula, Sherlock Holmes, Tarzan, Fu Manchu, Fantômas, Superman und Batman. Dabei geht es insbesondere um die Frage, wie sich unterschiedliche mediale Formen auf serielle Erzählinhalte auswirken und wie die Erzählungen im Gegenzug ihre medialen Rahmungen und Transformationen reflektieren. Die für serielle Figuren zentralen Aspekte der Wiederholung und Wiedererkennbarkeit werden so in Bezug gesetzt zu den expliziten Variationen oder subtilen Revisionen in der Inszenierung der Figuren – zu Brüchen also, die sich vor allem an Medienwechseln und sich wandelnden Repräsentationsformen festmachen lassen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass sich die Inszenierungen von seriellen Figuren nicht nur mittels unterschiedlicher Medien vollziehen, sondern dass Medien und ihre spezifischen Medialitäten in seriellen Inszenierungen prominent thematisch werden, dass also die Inszenierung von seriellen Figuren ein narrativ bedeutsames und formengeschichtlich folgenreiches Moment medialer Selbstreflexivität aufweist: Die Medienevolution wird in besonderer Weise durch serielle Figuren reflektiert und dokumentiert. Ihre Hochkonjunktur erlebten serielle Figuren deshalb auch in der Hochphase der massenmedialen Ausdifferenzierung zwischen 1880 und 1960, der

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so genannten »massenmedialen Sattelzeit« (Knoch/Morat 2003). Der Beginn dieser Periode, in der sich die modernen Massenmedien und die globalen Mediennetzwerke etablierten und konsolidierten, koinzidiert bezeichnenderweise mit der Hochphase des westlichen Imperialismus, und die Karriere der Massenmedien ist eng mit der Herausbildung der modernen Industriegesellschaft und den Prozessen der ökonomischen Globalisierung verbunden. Wir argumentieren, dass diese Entwicklungen für die Erfolgsgeschichte serieller Figuren nicht nur diegetisch bedeutsam sind; die mediale Dissemination serieller Figuren vollzieht sich im komplexen Bezug auf die politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

1 Im Zusammenwirken von Serialität und Medialität manifestiert sich die materielle Dimension seriellen Erzählens, die wir im Folgenden als einen Prozess der Selbstentfaltung beschreiben wollen. Das heißt, dass Geschichten um serielle Figuren sich scheinbar selbst (fort)schreiben: Ihnen kommt ein Moment von Eigendynamik zu, das den Rekurs auf Autoreninstanzen und Intentionalitäten obsolet oder doch unzulänglich erscheinen lässt.1 Damit soll nicht behauptet werden, dass zwischen Medialität und Serialität eine konstante oder gar universell präformierte Verbindung besteht; der Zusammenhang von Medialität und Serialität ist vielmehr durch ein komplexes und prekäres (sich kontinuierlich neu organisierendes) Gefüge aus kulturell und historisch spezifischen Bedingungen bestimmt. Wenn im Folgenden also Prozesse der Differenzierung und Re-Fokussierung, der Transformation und Selbstvergewisserung, untersucht werden, die sich beim Ineinandergreifen von seriellen Erzählungen und medialen Formaten beobachten lassen, geht es um mehr als um die Feststellung, dass serielles Erzählen medienbedingt ist – das wäre ein Gemeinplatz, der auf jegliche Art von Narration zutrifft. Ebenso wenig geht es um die Frage, wie sich Medien und Medienformate auf Erzählinhalte auswirken.2 Es soll auch keinem radikalen Mediendeterminismus das Wort geredet werden: Wir behaupten nicht, dass die Inhalte und Abläufe serieller Erzählungen allein medienbestimmt sind oder 1 | Zu Begriffen der Autorschaft in der Narratologie vgl. Jannidis/Lauer/Martínez/Winko 1999, Jannidis 2004. Zu seriellen Geschichten, die sich (wie) von selbst fortschreiben, vgl. den Beitrag von Hügel im vorliegenden Band. 2 | Einschlägige Arbeiten zur Literaturverfilmung und anderen Adaptionspraktiken sind Schneider 1981, Limbacher 1991, McFarlane 1996, Mecke/Roloff 1999, Naremore 2000, Elliott 2003, Aragay 2005, Stam/Raengo 2005, Hutcheon 2006, Cartmell/Whelehan 2007.

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sich ausschließlich medienkonform entfalten. Doch die Kehrseite eines mediendeterministischen Denkansatzes scheint ebenso wenig plausibel. Schließlich bringen serielle Erzählungen keine spezifischen medialen Formen oder Formate hervor; praktisch jedes Medium kann für die Zwecke des seriellen Erzählens genutzt oder adaptiert werden. Inhärent besteht demnach keine starke, eindeutig definierbare Verbindung zwischen Serialität und Medialität. Im Gegenteil ist anzunehmen, dass das Zusammenwirken der Faktoren durch die seriellen Figuren selbst, im Zuge ihrer narrativen und materiellen Herausbildungen, gestaltet wird. Im Hinblick auf die Dynamik der unaufhörlichen Fortsetzbarkeit und ReInszenierbarkeit, die sich in der populären Karriere von Sherlock Holmes exemplarisch manifestiert, hat Michael Chabon Serienerzählungen als »storytelling engines« bezeichnet: »among the most efficient narrative apparatuses the world has ever seen« (2008: 47). Diese Erzählmaschinen laufen immer weiter, produzieren immer neue Geschichten, auch ohne dass ihre Autoren oder das Produktionspersonal konstant bleiben. Man könnte Chabons Diagnose ergänzend präzisieren und serielle Figuren als die Ingenieure des Zusammenhangs von Serialität und Medialität identifizieren, als die eigentlich gestaltenden Kräfte in der Entwicklung seriell inszenierter Erzählungen. Anhand der Entstehungsbedingungen dieser seriellen Erzählmaschinen lässt sich nachzeichnen, wie der Serialitäts-Medialitäts-Nexus zustande kommt, welche Funktionen er für die fiktionalen Akteure der Serienerzählungen ausbildet und in welchem Verhältnis die Mechanismen seriell inszenierter Geschichten zu den Erlebniswelten ihrer Rezipienten stehen. Unser Argument basiert wesentlich auf einer Unterscheidung zweier Typen von fiktionalen Akteuren in Serienerzählungen – genauer: zweier unterschiedlicher Arten serieller Existenz. Wir unterscheiden zwischen seriellen Figuren einerseits und Seriencharakteren andererseits. Bei Letzteren handelt es sich um Charaktere, die in einer fortlaufenden Inszenierung (beispielsweise einer Soap Opera, einem Serienroman oder einer Saga) entwickelt werden. Seriencharaktere gewinnen im Lauf ihrer narrativen Entwicklung im Allgemeinen psychologische Tiefe, sie werden mit oft komplexen Biografien und verzweigten Familiengeschichten ausgestattet und sind primär im Blick auf ihre Vorgeschichten und ihre Weiterentwicklung interessant. Serielle Figuren dagegen präsentieren sich im Allgemeinen als flach; sie erfahren – wie Umberto Eco einst über Superman schrieb – in jeder Inszenierung aufs Neue einen virtuellen oder »scheinbaren Anfang«, der den »Endpunkt des vorangegangenen Ereignisses außer Acht lässt« (1984: 206). Seriencharaktere wachsen also – sie bilden eine mehr oder weniger lineare Biografie aus –, während serielle Figuren durch Wiederholungen, Revisionen und »reboots« der eigenen Geschichte geprägt sind. Die Begriffe »serielle Figur« und »Seriencharakter« bezeichnen natürlich idealtypische Figurationen, die in der narrativen Entfaltung oft ineinander über-

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gehen. Man kann sogar sagen, dass serielle Figuren in der Regel auf Seriencharaktere zurückgehen: viele (Tarzan, Sherlock Holmes, Fu Manchu, Fantômas) wurden zunächst in Zeitschriften- und Zeitungsfortsetzungen eingeführt, dann in Serienromanen weiterentwickelt, und mutierten schließlich mittels Medienwechseln zu seriellen Figuren. Superman und Batman wurden serielle Figuren, nachdem sie als Seriencharaktere in Teilgeschichten von Comic-Periodika etabliert und dann erst alleingestellt wurden. Die Übergänge sind also fließend; die vorgeschlagenen Begriffe nehmen keine typologische Klassifikation vor, sondern benennen Aggregatszustände oder Entwicklungsstadien dynamischer Figurationen. Wenn wir dabei zwischen gerundeten Charakteren und flachen Figuren unterscheiden, beziehen wir uns ausschließlich auf die diegetische Integrität bzw. Disintegrität der narrativen Biografien, nicht auf die generische Unterscheidung von Erzählverfahren. Die Erfahrungswelt eines Seriencharakters mag durch Rückblenden, Anspielungen, Schleifen und andere nicht-lineare Erzähltechniken vermittelt werden – dennoch kann man in den allermeisten Fällen aus den narrativen Versatzstücken eine schlüssige Biografie zusammenstellen. Dagegen können serielle Figuren in der jeweiligen erzählerischen Annäherung völlig linear präsentiert werden – und dennoch verfügen sie in der Gesamtschau über palimpsest-ähnliche Biografien, die sich diegetischer Kohärenz widersetzen (was gerade in den Versuchen von Fangemeinden, Kohärenz und Geschlossenheit aus einer Fülle unterschiedlicher Erzählvarianten, Paralleluniversen und Figurenhorizonte zu schaffen, augenfällig wird).3 Strukturell gesehen hat die Serie von Inszenierungen, die die Karriere einer seriellen Figur ausmacht, also mehr mit einer Mordserie als mit einer fortlaufenden Fernsehserie gemein; die Serialität der seriellen Figur lässt sich in der Tat mit der Serialität eines Serienkillers vergleichen.4 In beiden Fällen werden 3 | Vgl. Denson 2011b. 4 | Die Verbindung zwischen seriellen Figuren und Serienmördern erweist sich auch historisch als interessant. Die Untergrundkämpfer und Rächerfiguren, die sich in den europäischen und amerikanischen Feuilleton-Romanen des 19. Jahrhunderts, etwa Eugène Sues Les mystères de Paris (1842-1843) oder George Lippards The Quaker City, Or, the Monks of Monk Hall (1845) tummelten, legen dasselbe zwanghafte Triebverhalten an den Tag wie die Serienverbrecher, auf deren Spuren sie sich bewegen, und viele der Helden der amerikanischen »dime novels« des 19. Jahrhunderts waren streng genommen Amokläufer (Slotkin 1992). Der Grenzgängerstatus dieser Protagonisten lebt in einer Figur wie Sherlock Holmes fort, dessen Geschichte eng an die des prototypischen Serienkillers Jack the Ripper geknüpft ist – und auch Jack the Rippers Geschichte wurde seriell in Zeitungen und Zeitschriften erzählt. Man darf annehmen, dass der populäre Mythos des Serienkillers als einer Figur im Wiederholungszwang sich zu weiten Teilen aus der modernen Faszination für fiktionale serielle Figuren speist (vgl.

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ritualisierte, sich wiederholende Taten begangen, die zwar formale oder situative Varianten zulassen, jedoch keine inhaltliche Progressionslinie auf der psychischen oder narrativ-biografischen Ebene aufweisen. Es gibt demnach keine Logik der Entwicklung zwischen einer Tat und der nächsten; die serielle Figur lernt aus ihrer Vergangenheit kaum mehr als der Serienkiller, der psychologisch betrachtet in der Endlosschleife eines Wiederholungszwangs gefangen zu sein scheint. Besonders offensichtlich wird dieser Zusammenhang in den Frankenstein-Filmen, die die mechanistische Repetition von Handlungen und die episodische Neugeburt der monströsen Hauptfigur schließlich zu ihrem Gegenstand machen.5 Zwei Typen figurenbezogener Serialisierung können demnach idealtypisch unterschieden werden: Serien, die mehr oder weniger linear fortlaufen, sich in sukzessiven Folgen aufbauen und so eine progressive Entwicklungsdynamik verkörpern, tendieren zumindest in ihrer klassischen Variante dazu, in einem mehr oder weniger stabilen, unauffälligen medialen Rahmen erzählt zu werden und dabei Charaktere im eigentlichen Sinn hervorzubringen: Seriencharaktere.6 Serielle Figuren hingegen vermehren sich durch mehr oder weniger mechanische Wiederholungen von prädeterminierten Mustern. Das Monster wird geschaffen, es wendet sich gegen seinen Schöpfer, es läuft Amok und wird schließlich durch die vereinte Kraft der Dorfgemeinschaft besiegt, so dass die Ordnung wiederhergestellt wird – aber nur vorübergehend, bis zur nächsten Inszenierung der Geschichte. Auch wenn die Erzählung in sich geschlossen ist und nicht die Art Fortsetzung einfordert, die man von einer Folge Grey’s Anatomy (ABC, seit 2005) oder Dallas (CBS, 1978-1991) erwartet: Fortsetzbarkeit und Wiederaufnahme der seriellen Figurengeschichte ist auch bei Erzählungen um serielle Figuren strukturell gesichert. Egal ob wir einen Frankenstein- oder einen Tarzan-Film betrachten, eine Sherlock-Holmes- oder eine Fu-ManchuGeschichte lesen: Es gibt keine letzte Erzählung, kein Finale, das die Reihe endgültig abschließen würde. Das wird ironischerweise gerade im spektakulären Tod der Hauptfigur (man denke an Sherlock Holmes’ dramatisches Ende in den Reichenbach-Fällen oder an die zahlreichen Tode Fu Manchus zum Abschluss Walz 1996, Seltzer 1998, Schmid 2005). Zu Holmes und Sue siehe auch den Beitrag von Hügel im vorliegenden Band. 5 | Vgl. Denson 2007, 2011a, 2011b. 6 | Das gilt zumindest für die meisten Serienerzählungen vor den 1980er Jahren; danach lassen sich zunehmend serielle Formate finden, die mediale Selbstreferenz auch für Seriencharaktere salonfähig machen (vgl. Kelleter 2010, 2011) bzw. subtile Schattierungen in der Charakterzeichnung auch für serielle Figuren einführen, siehe Francis Ford Coppolas Dracula (1992) oder Kenneth Brannaghs Mary Shelley’s Frankenstein (1994) bzw. die Batman-Figur in Filmen wie Batman Begins (2006) oder The Dark Knight (2008).

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einzelner Erzählungen) deutlich. Die Iterabilität von flachen, seriellen Figuren impliziert nicht nur ihre episodische Existenz (ähnlich Cartoon-Figuren), sondern auch die Fähigkeit, sich gänzlich vom diegetischen Konstrukt einer narrativen Welt, von den damit verbundenen Kontinuitätsansprüchen und sogar von den Medien, die fiktive Welten anderenfalls unsichtbar konstruieren, zu lösen. Deshalb können sich serielle Figuren auch so umstandslos in immer neuen Erzählwelten einnisten (einmal ist Frankenstein im Ingolstadt des späten 18. Jahrhunderts, dann wieder im Amerika der Gegenwart) und von Medium zu Medium springen (vom Roman zum Film zum Radio zum Fernsehen zum Computerspiel usw.), ohne dass die Figuren dabei signifikant variieren müssten; diese bleiben relativ konstant, so dass die Variationen in den Parametern ihrer Inszenierung in den Vordergrund der jeweiligen Adaption treten. Unsere kontrastierende Rede von Charakter vs. Figur ist also nicht willkürlich angelegt. Ein Charakter suggeriert Tiefe und Komplexität, während die Figur in ihrer Flachheit im engen Bezug zu einem Hintergrund, einem narrativen oder medialen Horizont der Inszenierung betrachtet werden muss. Diese relationale Position der Figur bedeutet aber, dass serielle Figuren – gerade in Situationen des Medienwechsels – zum Bezugspunkt für diverse Figur/GrundUmkehrungen werden können, wie wir sie aus der Gestaltpsychologie kennen.7 Während ein Seriencharakter gemeinhin stabil vor einem diegetischen Hintergrund modelliert wird, der ihm Tiefe verleiht, kann die serielle Figur unversehens selbst zum Grund werden, gegen den der vormalige mediale Grund als Figur hervortritt. Geschieht dies, werden Unterschiede zwischen Text und Film oder Film und Comic in der seriellen Erzählung thematisch. Aber auch kleinere mediale Brüche wie der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm oder die Differenzen bei televisuell ausgestrahlten, auf Zelluloid erfassten oder digital erzeugten Bildern werden auf diese Weise regelmäßig adressiert und reflektiert. Zwei bis heute ungebrochen ikonische serielle Figuren mögen diese Prozesshaftigkeit illustrieren: Frankensteins Monster und Tarzan. Die Ikonizität beider Figuren wurde Anfang der 1930er Jahre filmisch begründet und in beiden Fällen ist die Einschlägigkeit der Figur eng mit einem Schauspieler verknüpft, auch wenn schließlich zahlreiche andere Darsteller und Formate zur Aktualisierung des ikonischen Musters eingesetzt wurden: Boris Karloff für Frankensteins Monster und Johnny Weissmuller für Tarzan. Die frühen 1930er Jahre markieren aber auch die Hochzeit der medialen Übergangsphase zum Tonfilm. In dieser Phase vollzog sich die Ikonisierung der Figuren – und im Zuge dieser Ikonisierung verloren beide Figuren ausgerechnet die sprachliche Artikuliertheit, die sie als literarische Charaktere ausgezeichnet hatte. Die Aufmerksamkeit wurde stattdessen auf die unheimliche nicht-sprachliche Geräuschhaftigkeit der Figuren gelenkt, die in der Inszenierung die technischen 7 | Vgl. Denson 2008.

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Möglichkeiten des Mediums eklatant akzentuierte.8 Die spektakulären medial-reflexiven Signale der Figuren verloren im Laufe ihrer Ikonisierung und im Lauf der Etablierung des Mediums Tonfilm allerdings ihre Prägnanz; sie wurden unauffällig oder unsichtbar. So sind viele klassische Momente medialer Selbstreflexivität in der Inszenierungsgeschichte serieller Figuren heute nur noch erfassbar, wenn man die Figuren wieder im Kontext der Medienwechsel betrachtet, die ihren Werdegang bestimmen. Dabei sind die subtileren Verschiebungen und Umbrüche innerhalb spezifischer medialer Formationen besonders interessant, etwa die Transposition einer Figur auf dem Weg vom Roman zum Heftroman, von der Vaudeville-Bühne zum stummen Kurzfilm des »cinema of attractions« (Gunning 1986) oder eben im Wechsel vom Stumm- zum Tonfilm. In diesen Zusammenhängen bestätigt sich, dass serielle Figuren durch ausgeprägte Plurimedialität gekennzeichnet sind: Ihre Serialität ist eng an die serielle Abfolge der Medienformate gekoppelt, mittels derer sie inszeniert werden. Um auf die eingangs formulierte Unterscheidung zurückzukommen: Klassische Seriencharaktere existieren innerhalb einer Serie – das mediale Format der Serie stellt gewissermaßen ihre Ökosphäre, den lebensbedingenden Rahmen und Horizont, dar, der selbst nicht spektakulär thematisiert werden kann –, während serielle Figuren idealtypisch gesehen in Serie existieren: als eine Reihe von variierenden Wiederholungen, die sich nicht innerhalb eines homogenen medialen und diegetischen Raumes, sondern zwischen oder quer zu solchen Erzählräumen entfalten.

2 Wie entstehen serielle Figuren und der für sie typische Nexus von Serialität und Medialität? Um diese Frage zu beantworten, muss man die historische Ausdifferenzierung der zwei seriellen Existenzformen, die wir eben skizziert haben, etwas näher betrachten. Wie angedeutet, sind die Verbindungen zwischen Serialität und Medialität vielfältig, und sie gehen weit über unser spezifisches Interesse an seriellen Figuren hinaus. Roger Hagedorn beschreibt die serielle Narration im Allgemeinen als eine Art Werbeträger für neue Medien. Im Feuilleton abgedruckte Serienromane halfen beispielsweise Zeitungen zu verkaufen, farbige Comic-Strip-Serien machten für neue Vier-Farb-Druckprozesse Reklame. Ähnlich zielten frühe Radio- und Fernsehserien darauf, ein Publikum für die damals neuen Medien anzulocken, d.h. potenziellen Medienkonsumenten einen Grund zu geben, teure Geräte anzuschaffen, und sie dann daran zu binden.9 Die populäre Serialität ist daher eng mit einer unter ständigem 8 | Vgl. Spadoni 2007, Denson 2008. 9 | Vgl. Hagedorn 1988.

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Innovationsdruck stehenden Medienmodernität verbunden.10 Dies gilt sowohl für Serien, die Seriencharaktere generieren, als auch für die Art Serialität, die im Zusammenhang mit seriellen Figuren entsteht. Der Unterschied zwischen Seriencharakteren und seriellen Figuren muss folglich vor dem Hintergrund einer periodischen (und relativen) Undifferenziertheit der jeweiligen Serialitätsformen verstanden werden. Um es zu wiederholen: Seriencharaktere und serielle Figuren stehen nicht in einem Ausschlussverhältnis zueinander; sie stellen keine absolut differenzierten Größen dar. Aber in den historischen und formellen Relationen, die diese Figurationen verbinden – und in den Differenzierungs- und Konvergenzprozessen, die ihre Unterscheidbarkeit begründen –, finden sich wichtige Hinweise auf die Funktionen und Implikationen des Ineinanderwirkens von Serialität und Medialität. Im Kontext der aufkommenden Medienmodernität des 19. Jahrhunderts liefern die populären Publikationsformate von »story papers«, »dime novels« oder »penny dreadfuls« bedeutende Impulse für die Analyse einer Eigendynamik in der Entfaltung serieller Figuren. Hier schälten sich einige der zentralen Charakteristika serieller Figuren heraus. Die Hefte mit Massenappeal fungierten als wichtige Komponente für die Proliferation von seriellen Erzählformaten im Allgemeinen und von seriellen Figuren im Besonderen. Die Karriere der so genannten »story papers« etwa – kompakter zeitungsartiger Publikationen voller melodramatischer und sensationeller Geschichten, die besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA populär waren – ist eng mit technisch-materiellen Neuerungen in der Produktion und Distribution von Druckmedien verknüpft: Dampfgetriebene Druckpressen ermöglichten die billige Herstellung, und das transkontinentale Eisenbahnnetz sorgte für eine schnelle und weite Verbreitung. Unter diesen Voraussetzungen konnte die Serienproduktion, wie sie dem Print-Kapitalismus der Zeitungsindustrie zugrunde lag, zur Produktion von narrativen Serien eingesetzt werden. Die Serialisierung der periodisch erscheinenden Veröffentlichungen wurde dabei dadurch begünstigt, dass eine fortlaufende Nummerierung der nun als Reihe zu begreifenden Publikationen die Verleger der »story papers« dazu berechtigte, ihre Waren zu vergünstigten Posttarifen 2. Klasse zu vertreiben.11 Nun lag es nahe, die erzählten Geschichten der fortlaufenden Serie anzupassen. So wurden Leser gehalten, keine der regelmäßig erscheinenden Ausgaben auszulassen, und Serialität wurde vom materiellen Begleitumstand zum narrativen Prinzip. Wiederkehrende Protagonisten hielten fortlaufend-lineare sowie episodische Serien zusammen. Die etwas längeren »dime novels«, die ab 1860 populär wurden, nutzten ebenfalls die serielle Nummerierung zum Zweck der Tarifermäßigung bei der Post; gleichzeitig intensivierten sie die narrative Serialisierung, weil sie als Sprung10 | Vgl. Engell 2001. 11 | Vgl. Fuller 2003, DeForest 2004.

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brett zur medialen Proliferation dienten. Frühe serielle Figuren wie Buffalo Bill und Jesse James beharrten auf ihrem Status zwischen wahrer Welt und Fiktion, andere, wie die Detektive und Unterwelt-Helden der populären Heftromane des 19. Jahrhunderts, gerierten sich als Vermittler zwischen distinkten sozialen Welten oder Räumen.12 Authentizitätsansprüche wurden regelmäßig genutzt, um die serielle Figur über den Rahmen der »dime novels« hinaus in spektakulären theatralen oder filmischen Inszenierungen fortzuschreiben. Die Figuren fungierten damit von Anfang an als Grenzgänger im doppelten Sinne: Narrativ-konzeptuell siedelten sie an der Grenze von Gut und Böse, von Heldentum und Outlaw-Status, von Wirklichkeit und Fiktion, ja von Leben und Tod. Und formal-materiell markierten die Figuren die Grenze zwischen verschiedenen seriellen Repräsentationsformen und Medien. Dieses Merkmal des doppelten Grenzgängertums lässt sich für sämtliche serielle Figuren konstatieren, die im 20. Jahrhundert erfolgreich waren. Alle changieren zwischen Zuständen und Welten, sie markieren narrativ wie formal das Außergewöhnliche, Randständige, Krankhafte, Fantastische, sie verkörpern die Grenze.13 Diese Liminalität in der Figurenzeichnung hängt eng mit der medialen Liminalität der Inszenierungen zusammen. Eine wirklich erfolgreiche und überlebensfähige serielle Figur muss in der Lage sein, ihre eigene diegetische Kohärenz zu unterminieren und eine Spannung zum diegetischen Rahmen der Serienerzählung aufzubauen, so dass dieser letztlich gesprengt werden kann. Ein Vergleich der Figuren Tarzan und Whistlin’ Dan Barry, die beide in Heftromanen der 1910er Jahre entstanden, illustriert dies. Beide Figuren scheinen zunächst strukturell sehr ähnlich. Wie die Tarzan-Geschichten erschienen die Whistlin’-Dan-Erzählungen ursprünglich als serialisierte Heftromane, bevor sie als gebundene Bücher nachgedruckt wurden. Nach zwei Fortsetzungen der literarischen Geschichte erfolgte dann auch bei Whistlin’ Dan ein Medienwechsel: Eine Reihe von Filmen mit Cowboy-Filmstar Tom Mix entstand. Wie der Affenmensch Tarzan war der junge Whistlin’ Dan ein Wesen zwischen Natur und Kultur – genauer: ein Wolfskind. Whistlin’ Dans Spitzname leitete sich von seinem unheimlichen Pfeifen ab, das wie Tarzans Schrei als wild und animalisch gekennzeichnet ist. Beide Figuren etablierten sich damit in der populären Imagination als Grenzgänger zwischen Wildnis und menschlicher Zivilisation, und beide präsentierten sich durch den schnellen Wechsel des Mediums auch als mediale Grenzgänger. Während aber Whistlin’ Dan rasch aus dem populärkulturellen Gedächtnis verschwand, ist Tarzan zur Ikone geworden. Whistlin’ Dans Schicksal wurde wohl dadurch be12 | Vgl. Slotkin 1992, Denning 1998. 13 | Selbst Sherlock Holmes wird wesentlich vor dem Hintergrund einer sozialdarwinistischen Essentialisierung von Verbrechen und sozialer Devianz entworfen, vgl. Thompson 1993: 60-83, Huh 2003.

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siegelt, dass sein Autor, Max Brand, zunehmend emotionale Tiefe evozierte und psychologische Konfliktkonstellationen entwarf, statt formelhafter Action Raum zu geben.14 Entsprechend markiert schon der dritte Whistlin’-Dan-Roman das frühe Ende der Figurenkarriere, denn die Spannungen zwischen Dans wilder Natur und der menschlichen Gesellschaft münden hier in Dans tragischen Tod durch die Hand seiner eigenen Frau. Tarzan hingegen wurde im Lauf seiner plurimedialen Serialisierung immer flacher; die Figur zeigte immer weniger Kontinuitäten in ihren unterschiedlichen diegetischen Umsetzungen und wurde dadurch zunehmend anschlussfähig für Inszenierungen, die ihren literarischen Ursprüngen widersprachen. Tarzans Karriere vollzog sich im engen Bezug auf den Medienwandel des 20. Jahrhunderts und wurde durch neue mediale Formate immer wieder entscheidend revitalisiert. Man denke an filmische Neuerungen wie den bereits erwähnten Tonfilm oder an die spektakuläre CGI-Animation im Walt Disney Tarzan von 1999. So gesehen kann er gar nicht sterben wie Whistlin’ Dan; seine entcharakterisierte Flachheit erlaubt ihm, das mediale Umfeld immer dann leichtfüßig zu wechseln, wenn er die Grenzen eines bestimmten Formats ausgelotet hat. Am Beispiel Tarzan lassen sich somit die Mechanismen der plurimedialen Inszenierung serieller Figuren benennen: Die Figur verortet sich an der konzeptuellen Grenze zwischen Mensch und Tier und weist in ihrer Plakativität und Flachheit zugleich über die Grenzen ihres ursprünglichen narrativen Universums hinaus. Ähnlich gestaltet sich die Ausgangssituation für andere prototypische serielle Figuren. Sie alle sprengen narrativ und medial-selbstreflexiv die Rahmenbedingungen ihrer ursprünglichen Inszenierungen. Serielle Figuren sind liminal angelegt und operieren expansiv: Sie sind Figuren der Ausbreitung.

3 Erfolgreiche serielle Figuren zeichnen sich durch Offenheit und Unbestimmtheit aus, sie lassen sich leicht adaptieren und aneignen. Das bedeutet aber nicht, dass sich ihre Erfolgsgeschichten nicht historisieren ließen. Tatsächlich ist eine solche Historisierung höchst aufschlussreich, denn der Ausgangspunkt für viele erfolgreiche serielle Figuren liegt nicht zufällig im »langen« 19. Jahrhundert, erweist sich also eng mit den Phänomenen der Industrialisierung, der Kolonialisierung und des Imperialismus verknüpft. Frankenstein, Dracula, Tarzan, Fu Manchu, Fantômas und mit signifikanten Einschränkungen auch die ComicSuperhelden Superman und Batman sind Figuren, für die sich festhalten lässt, was Michael Chabon mit Bezug auf Sherlock Holmes schrieb: Ihr Aufkommen 14 | Vgl. DeForest 2004.

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zeugt von der westlichen Faszination für die weißen Stellen auf der Landkarte, für den »Cape-to-Cairo spirit«, der Kolonialismus und Industrialisierung bestimmte (2008: 49). Chabon assoziiert das Ausgreifende der Erzählform Serie mit dem expansiven Grundgestus des Empire: In beiden Fällen geht es um Projekte der (kommerziellen) Aneignung und Verbreitung, um Versuche der Kontrolle, die von der Dynamik der Kontaktzone durchdrungen sind und deren Verselbstständigung – weg von einem ursprünglichen Autor oder Medium – auf die Ambivalenz von Erzählungen verweist, die sich nie völlig kontrollieren oder ideologisch festschreiben lassen, sondern ständige Revisionen und Neuschreibungen provozieren.15 Die narrativen Grenzgänge der ausgewählten Figuren reflektieren damit serielle Modi der Inszenierung: Auch wenn sie nicht von vornherein seriell angelegt waren, gewinnen die Figuren im Lauf ihrer Evolution schnell eine serielle Dynamik, die mit der Semantik der Ausbreitung (»sprawl« oder »spread«) besser beschrieben ist als durch die Bildlichkeit der linearen Verkettung.16 Sie springen von Medium zu Medium, passen sich neuen Bedingungen an und machen sich diese zu eigen, sie mutieren, sie breiten sich aus und bleiben doch immer erkennbar die gleichen. Die expansive Dynamik serieller Fiktion ist demnach mit den Strukturen der politischen und ökonomischen Expansion, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausbildeten und im 20. Jahrhundert konsolidierten, komplex verwoben. Wir sollten diesen Zusammenhang nicht als bloße Analogie fassen, sondern besser von Wechselverhältnissen und Homologien sprechen, also eine Beziehung des gegenseitigen Einwirkens annehmen. Wir sehen die Projekte populärer serieller Narration somit nicht einfach als Versuch, die abstrakten Prozesse der Industrialisierung und des globalen Kapitalismus, die im Imperialismus des 19. Jahrhunderts wurzeln, zu repräsentieren. Serielle Narrationen, vor allem die Erzählungen um serielle Figuren, scheinen auf einer sehr viel grundlegenderen Ebene an der Herstellung und Dissemination kapitalistischer Ideologien der modernen Industriegesellschaften beteiligt zu sein. Nicht von ungefähr evozierte Benedict Anderson eine »logic of the series« (1998: 34), um die globale Expansion des modernen Nationalstaats zu fassen. Die Grundidee des Nationalstaats mit seiner »modularen«, auf Kompatibilität zielenden politischen und ökonomischen Ordnung basiert nach Anderson auf einem »new serial thinking«, das eine »new grammar of representation« generiert (ebd.). Diese politische Logik des Seriellen rekurriert auf dieselben Prinzipien und Mechanismen, die auch die populäre Serialität anschoben: »a characteristic feature of the instrumentalities of [the] profane state was infinite reproducibility, a reproducibility made technically possible by print and photography« (1991: 182). Eben die technischen Verfahren der Reproduktion und Vervielfältigung, die Hagedorn 15 | Vgl. Mayer 2002, 2011. 16 | Vgl. auch den Beitrag von Kelleter/Stein im vorliegenden Band.

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als die Anschubkräfte der seriellen Narration ausmachte, eröffnen für Anderson eine modulare Vision der Welt als globale Figuration: The world had to be understood as one, so that no matter how many different social and political systems, languages, cultures, religions, and economies it contained, there was a common activity – »politics« – that was self-evidently going on everywhere. […] [T]his natural universality has been profoundly reinforced – everywhere – by an unself-conscious standardization of vocabulary. (1998: 32-33)

Anderson benennt Romane und Zeitungen als wichtige Agenten der Implementierung von globaler Gleichzeitigkeit und Universalität, einer »homogenen, leeren Zeit« (Walter Benjamin, zit. Anderson 1991: 24).17 In seinem Fokus auf die bildungsbürgerlichen medialen Formate ignoriert er aber die populärkulturellen Maschinen der sensationalistischen und melodramatischen – oft seriellen – Narration in Print und auf der Bühne, die im 19. Jahrhundert eine sicherlich nicht minder wichtige Rolle bei der transnationalen Verhandlung von Nation und Nationalität spielten.18 Für die Epoche von 1880 bis 1960 (und danach) fungieren dann die Massenmedien Kino, Radio und Fernsehen als ungleich effektivere und enger getaktete Vermittler von Erfahrungen und Fantasien der Gleichzeitigkeit als die Romane und Zeitungen des vorangegangenen Jahrhunderts.19 Die kulturelle Arbeit dieser Medien lässt sich in der Semantik der Serialität – in den Begriffen von Regelmäßigkeit, Ritualisierung, Standardisierung, Wiederholung und Variation des Vertrauten – exemplarisch beschreiben.20 Mehr noch als für die Romane und Zeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts gilt für die Massenmedien, dass sie Kollektivität als serielles Prinzip erfahrbar machen. Sie zeigen, um ein weiteres Mal Anderson zu zitieren, »how basic to the modern imagining of collectivity seriality always is« (1998: 40). Die grundlegende Bedeutung der Denkfiguren des Seriellen für die Idee des Kollektiven hatte vor Anderson bereits Jean-Paul Sartre entwickelt, ohne dass Anderson auf ihn Bezug nimmt.21 Sartre verortet wie Anderson die formative Kraft des Seriellen auf der Ebene sozialer Praxen oder »praktischer Realitäten« (Sartre 1960: 170). Als zeitgenössisches Fallbeispiel für seine Kartografie des Seriellen nutzt er wie später Anderson den ritualisierten Akt der Zeitungslektüre, wendet sich dann aber auch anderen medialen Praxen, etwa dem Rundfunkkon17 | Vgl. hierzu auch White 2004. 18 | Vgl. Allen 1991, Denning 1998, Fahs 2001, Castro-Klarén/Chasteen 2003, Edelstein 2010. 19 | Vgl. Spigel 1992, Tichi 1992, Hempf/Lehmkuhl 2006, Hipfl/Hug 2006, Shavit 2009, Berry/Kim/Spigel 2010. 20 | Vgl. auch den Beitrag von Hickethier im vorliegenden Band. 21 | Vgl. White 2004: 62.

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sum zu. Die kollektiven Handlungen der Medienmoderne interessieren Sartre als »Komplex [ensemble] [von] materiellen Umstände[n]« (ebd. 273), durch den eine rein negativ wirksame »Exterioritätsbeziehung zwischen Mitgliedern einer provisorischen und kontingenten Ansammlung« (ebd. 274) hergestellt wird. Das Kollektiv, das durch die seriellen Praxen der modernen Lebenswirklichkeit generiert wird, besteht paradoxerweise aus isolierten und anonymen Einzelnen; folglich bildet es eine prekäre und instabile Zweckgemeinschaft, bestimmt allein über gemeinsame Handlungen und im Bezug auf die gemeinsame Erfahrung von Entfremdung: »Die Rundfunkhörer bilden in diesem Moment eine Serie, indem sie dabei sind, die gemeinsame Stimme zu hören, die sie, jeden von ihnen, in ihrer Identität als einen Anderen konstituiert« (ebd. 276). Mit der Betonung der materiellen Basis solcher Zusammenschlüsse akzentuiert Sartre einen Aspekt, der bei Anderson eher vernachlässigt wird: den Umstand, dass das serielle Kollektiv nicht nur aus menschlichen Subjekten besteht, sondern aus Subjekt-Objekt-Verkettungen, oft in Form von MenschMaschine-Ensembles (Fabrik) oder massenmedialen Zusammenschlüssen von Publika und technischen Apparaten. Die Prozesse der Medienmoderne werden demnach nicht von einzelnen Akteuren oder Agenten gesteuert. Nicht einmal Parteien gesteht Sartre diese Handlungsmacht zu, auch sie sind »gezwungen, sich der seriellen Struktur anzupassen, die die ›Massenmedien‹ durchgesetzt haben« (ebd. 291). Während Sartre dafür plädiert, die »passive Aktivität« (ebd. 289) serieller Medienrezeption in neuer politischer Gruppenbildung zu überwinden, möchten wir uns dieser Logik des Seriellen neutraler nähern.22 Wie hängen die technischen Prozesse der seriellen Produktion und Dissemination mit kulturellen und sozialen Signifikations- und Austauschprozessen zusammen? Mit Sartre kann man festhalten, dass nicht nur Nachrichten, Plots, Meinungen oder Botschaften medial zirkulieren, sondern dass die menschlichen und technischen Produzenten und Vermittler dieser Materialien selbst als Elemente der seriellen Dissemination auftreten – ähnlich wie es in jüngeren Theoriekontexten das Akteur-Netzwerk-Modell nach Bruno Latour beschreibt.23 Gesellschaftliche 22 | Für Sartre exemplifiziert Serialität die Instrumentalisierung des Einzelnen durch den modernen Staat (vgl. auch Young 1994). Für Anderson hingegen stellen serielle Praxen zumindest in ihrer Manifestationsform als »unbound seriality« eine potenziell emanzipatorische und universell verfügbare Idee des Politischen zur Verfügung (1998: 29). Anderson unterscheidet damit einen positiven und einen negativen Typus von Serialität: Die Logik des Seriellen, so argumentiert er, wirkt entweder korrelierend und registrierend (»bound«) oder dynamisch und inspirierend (»unbound«). Wir folgen Chatterjee (1999) in seiner Kritik an Andersons Terminologie und verstehen beide Formate als dialektisch verschränkt. 23 | Vgl. Latour 2005.

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Produktions- und Wirkungszusammenhänge sind demnach als dezentrale und changierende Gefüge zu verstehen, die sich nicht in passive – instrumentale – und aktive Bestandteile auseinanderdividieren lassen.24 Das wird besonders ersichtlich, wenn man das Augenmerk auf die »storytelling engines« der seriellen Narration und ihre seriellen Figureninventare richtet. Diese Erzählmaschinen stellen selbst vernetzte Arrangements – Serien eben – dar, in denen die Positionen von Erzähler und Erzählgegenstand, von Projektoren und Screens, von Figur und Grund austauschbar und variabel sind.25 In diesem Zusammenhang erweist sich die Liminalität der seriellen Figur – ihre Existenz an der Schnittstelle unterschiedlicher Zustände und Bedingtheiten – als wesentliche Kondition. Die serielle Inszenierung wiederkehrender Figuren, Figurenkonstellationen oder Handlungslinien dreht sich bei all unseren Fallbeispielen um fundamentale konzeptuelle oder ideologische Inkonsistenzen, die dramatisiert oder vorgeführt, eher denn reflektiert oder aufgelöst werden. Man denke an die Dichotomie von monströser Geschichtslosigkeit und kosmopolitischer Aktualität, die Figuren wie Frankensteins Kreatur und Dracula auszeichnet, an die Gratwanderungen zwischen zeitlosem Dschungel und modernistischer Metropole bei Tarzan oder an den Umstand, dass Fu Manchus »chinesisches« Wesen gleichermaßen mit Primitivität und techno-szientistischer Raffinesse assoziiert wird.26 In all diesen und vielen anderen Fällen werden die ideologischen Parameter der Inszenierung in ihrer seriellen Struktur manifest, sie wirken als Serie. Serielle Figuren sind nie völlig präsent, nie völlig greifbar, weil sie ihre Gestalt im impliziten oder expliziten Verweis auf vorherige Dramatisierungen oder auf mögliche zukünftige Entwicklungen erhalten. Die Erzählungen um diese Figuren operieren mit der Gestik des experimentellen Changierens zwischen Prinzipien und Kategorien und folgen damit der Logik einer taxierenden Bezugssetzung: Sie stellen, um den Titel von Andersons Studie aus dem Jahr 1998 zu zitieren, spectre[s] of comparisons dar.27 Eine Figur wie Fu Manchu kann also zum Inbegriff der Ideologie der »Gelben Gefahr« in den USA und anderswo werden, nicht weil sie einer politischen Überzeugung oder auch nur einem ideologischen Gemeinplatz Ausdruck gäbe, sondern weil sie solche Gewisshei24 | Mit Blick auf Fernsehserien vgl. Kelleter 2012. 25 | Vgl. auch Denson 2011a. 26 | Vgl. Denson 2007, 2008, 2011a, 2011b, Mayer 2008, 2011. 27 | Um es zu wiederholen: In ihrer Typenhaftigkeit und Flachheit ist die serielle Figur gekennzeichnet durch genau die Eigenschaften, die Anderson der globalen Expansion politischer und ökonomischer Ordnungen zuschreibt: »emptiness, contextlessness, visual memorableness, and infinite reproducibility in every direction« (1991: 185) – und die Sartre mit den Begriffen der »Austauschbarkeit« (1960: 276) oder »flüssige[n] Homogenität« (ebd. 279) fasste.

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ten gleichermaßen suggeriert und seriell retardiert. Sartre hat das mit Bezug auf antisemitisches »Wissen« beschrieben: Der Jude (als innere serielle Einheit der jüdischen Vielheiten), der Kolonialherr, der Berufssoldat usw., das sind keine Ideen, ebenso wenig wie der politisch Kämpfende oder […] der Kleinbürger, der Handarbeiter. Der theoretische Fehler (der jedoch kein praktischer Fehler ist, weil ja die Praxis sie wirklich in der Alterität konstituiert hat) lag darin, diese Wesen als Begriffe aufzufassen, während sie – als grundlegende Basis äußerst komplexer Beziehungen – zunächst serielle Einheiten sind. (1960: 285)

Ebenso projizieren die Fu-Manchu-Erzählungen in ihrer Serialität ein Wissen von »Chineseness«, das nie ausgeführt werden muss, weil es immer schon geschrieben scheint und immer noch geschrieben werden wird. Die reproduzierbare, modulare Qualität der seriellen Figur sorgt für die stetige Dissemination ideologischen Wissens, aber auf der anderen Seite gestattet eben diese Qualität auch eine frappierende narrative und ideologische Flexibilität – sie verleiht der seriellen Figur die Schwingkraft für Neuschreibungen, Umkehrungen und Aneignungen. In jedem Fall müssen die ineinander verschränkten Prozesse der Serialisierung und der Medialisierung im Kontext ihrer gesellschaftspolitischen und technischen Entstehungsbedingungen betrachtet werden. Die serielle Figur erweist sich so als wesentlich bedingt durch die materiellen und konzeptuellen Parameter der modernen Industriegesellschaft und der »massenmedialen Sattelzeit«, innerhalb derer sich die Karrieren der von uns untersuchten Figuren allesamt parabelhaft vollzogen. Aktuell aber greift die Logik der politischen und massenmedialen Serialität, wie Sartre und Anderson sie je unterschiedlich für die Kontexte von Kolonialisierung, Imperialismus und industrialisierter Welt des 20. Jahrhunderts konstatieren, nur noch bedingt. Im Zeitalter der Digitalisierung weicht die Semantik der Modularisierung mit ihrer Implikation von Übertragbarkeit und Aneignung anscheinend der Semantik der Konvergenz mit ihrer Implikation von Zusammenfluss und Partizipation.28 Neue Formen und Formate des Seriellen etablieren sich, und die serielle Figur in ihrem klassischen Zuschnitt mag ausgedient haben. Auch die Dichotomie von serieller Figur und Seriencharakter, die für die Beschreibung der Medienlandschaften des 19. und 20. Jahrhunderts hilfreich ist, verliert im frühen 21. Jahrhundert ihre Trennschärfe. Im Kontext einer um sich greifenden Medienkonvergenz, vor dem Hintergrund der radikalen Neuverhandlung von Produktions- und Rezeptionskonzepten und der Herausbildung transmedialer Erzählformate (die mit plurimedialen Verfahren, wie wir sie beschrieben haben, einiges gemein haben, aber nicht mehr identisch sind) etablieren sich neue Rahmenbedingungen für 28 | Vgl. Jenkins 2006.

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den Entwurf eines seriellen Figureninventars. Doch auch wenn die Logik des Seriellen, die das 20. Jahrhundert in seiner massenmedialen Ausfaltung prägte, für die Auseinandersetzung mit den medialen Prozessen der Gegenwart nicht mehr passgenau ist, ist sie doch unverzichtbar, um den aktuellen medialen Entwicklungen historische Tiefenschärfe zu verleihen.

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Die Dynamik serieller Überbietung Amerikanische Fernsehserien und das Konzept des Quality-TV Andreas Jahn-Sudmann und Frank Kelleter

Ü BERLEGUNGEN ZU EINER THEORIE SERIELLER Ü BERBIE TUNG In einer noch zu schreibenden Geschichte serieller Erzählformen werden die späten 1990er Jahre vielleicht einmal als Umbruchphase erscheinen: als eine Zeit, in der kommerzielle Fortsetzungsgeschichten höchste kulturelle Anerkennung erfuhren. Sowohl in den USA als auch in Europa entstand ein vielleicht nicht gänzlich neuer, wohl aber neu einflussreicher Diskurs über Serien, insbesondere Fernsehserien, der bevorzugt mit Begriffen wie »Komplexität« und »Qualität« arbeitete.1 Den Anlass boten ambitionierte Produktionen wie Oz (HBO, 1997-2003) und The Sopranos (HBO, 1999-2007), die, so war wiederholt zu lesen, das Medium Fernsehen mit unerwartet intelligenten Erzählformen revolutionierten. Auch das aktuelle wissenschaftliche Interesse an Serien, sichtbar in immer neuen Konferenzen und Sammelbänden zum Thema, verdankt sich in weiten Teilen der öffentlichen Neubewertung amerikanischer TV-Programme zur Jahrtausendwende. Im Feuilleton hat sich das Lob von Fernsehserien seither zu einem eigenen Genre entwickelt; die hieran anschließende Forschung vergleicht eine Produktion wie The Wire (HBO, 2002-2008) be1 | Zur narrativen Komplexität neuer Fernsehserien vgl. Mittell 2006 (deutsche Fassung im vorliegenden Band); gute deutschsprachige Einführungen finden sich in Blanchet et al. 2011. Zu früheren Konzepten von Quality-TV siehe Feuer et al. 1984, Newcomb 1985, Thompson 1996. Die Fernsehwissenschaft hat natürlich schon lange vor der Jahrtausendwende auf den Wert des Mediums hingewiesen und diverse »golden ages« der TV-Geschichte ausgemacht. Der aktuelle Quality-TV-Diskurs schließt an solche Interessen an, ist aber weit mehr als nur ein Ereignis in den Media Studies. Die hohe Zahl von Thematisierungen auf unterschiedlichen Feldern kultureller Produktion verweist auf einen »Diskurs« im umfänglichen Sinn des Wortes. Besagter Diskurs soll im Folgenden auf seine Struktur, Praktiken und Effekte, nicht auf das Zutreffen oder Nicht-Zutreffen seiner Qualitätsbegriffe untersucht werden.

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vorzugt mit dem Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts. Das serielle Fernsehen befindet sich neuerdings also in illustrer Gesellschaft; als weitere Referenzgrößen werden klassische Kinofilme, Opern und sogar Sonette genannt. TV-Unterhaltung scheint endlich zu den Medien bildungsbürgerlicher Kunst aufzuschließen.2 Bei den meisten dieser Vergleiche handelt es sich um heikle Analogieschlüsse, kulturgeschichtlich könnten sie aber kaum aufschlussreicher sein, setzen sie die selbst diagnostizierte Verschiebung der Grenzen zwischen Populär- und Bildungskultur doch gleichsam in die Tat um.3 Nicht nur zeitdiagnostisch jedoch lohnt sich der Blick auf das amerikanische Quality-TV der Jahrtausendwende. Die Untersuchung dieses Materials trägt in unvermuteter Weise auch zur theoretischen Debatte um das Verhältnis von serieller Redundanz und serieller Variation bei. Die Beziehung von Wiederholung und Erneuerung ist bekanntlich ein Kernproblem jeder Theorie seriellen Erzählens. Je länger eine Serie das tut, was sie ihrem Wesen nach tut – nämlich: wiederkehren –, desto stärker limitiert sie die eigenen Fortsetzungsmöglichkeiten. Eine Erzählung auszuweiten oder zu verlängern, heißt immer auch, das Risiko narrativer Selbstabnutzung zu erhöhen. Bei langer Laufzeit wird es für Serien deshalb zunehmend dringlich, die gegenläufigen Strukturmerkmale von Wiedererkennbarkeit und Erneuerung auszubalancieren. Umberto Eco sieht hierin ein Grundproblem allen seriellen Erzählens: dass Serien einerseits von Schematisierung und Verlässlichkeit leben, andererseits konstant unter Variationsdruck stehen.4 Wie also können serielle Standardisierungen einen Prozess ästhetischer Innovation in Gang setzen? Diese Frage stellt sich nicht nur für populäre Serien, sondern für kommerzielle Kultur insgesamt – man denke an die Programmentwicklung des Fernsehens mit seiner Logik von Imitation und Differenz oder an die Rolle von »play-enhancing constraints« in massenproduzierter Kunst.5 Serien jedoch stehen in besonderer Weise vor dieser Herausforderung. Möchte 2 | Zur Vorreiterrolle des Feuilletondiskurses über »prime-time novels« für medienwissenschaftliche Betrachtungen in den USA vgl. Kelleter 2012. Zum Vergleich von Serien des amerikanischen Kabelfernsehens mit Sonetten (aufgrund der gegenüber NetworkSerien geringeren Anzahl und geänderten Funktion von Episoden innerhalb einer Staffel) siehe O’Sullivan 2010. Natürlich betreffen derartige Aufwertungen nicht die gesamte Fernsehunterhaltung, sondern immer nur herausgehobene Teile. 3 | Die »longue durée« derartiger Befunde reicht für die amerikanische Populärkultur mindestens bis Seldes 1924 zurück; im späten 20. Jahrhundert nehmen sie so stark zu, dass man mittlerweile von einem kulturwissenschaftlichen Topos sprechen kann. 4 | Vgl. Eco 1985. 5 | Zur Programmgeschichte des amerikanischen Fernsehens siehe Mittell 2010a. Eine Fallstudie zur Rolle spielförderlicher Beschränkungen in der Populärkultur findet sich in Kelleter/Stein 2009.

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eine Fortsetzungsgeschichte erfolgreich weiterlaufen (wie es in ihrer ökonomischen Natur liegt), so ist sie permanent mit der Aufgabe konfrontiert, als Marke wiedererkennbar zu bleiben und doch vom eigenen Muster abzuweichen. Die Herausforderung besteht aus einem Paradox: Reproduktion als Innovation zu betreiben. Der Blick auf amerikanische Serien seit den 1990er Jahren zeigt, dass dieses Problem nicht allein auf der narrativen oder formalen Ordnung von Fortsetzungsgeschichten eine Rolle spielt. Möchte man verstehen, wie sich Invarianz und Variabilität in Serien zueinander verhalten, sollte man auch die rekursive Dynamik serieller Erzählungen berücksichtigen, also ihren Hang zur (medialen) Selbstbeobachtung oder abstrakter gesprochen: das eigendynamische Moment ihrer Evolution, ermöglicht durch ein konstant mitlaufendes Reflektieren auf die Bedingungen und Möglichkeiten der eigenen Fortsetzbarkeit. Am amerikanischen Fernsehen der 1990er und 2000er Jahre lässt sich ablesen, dass solche rekursiven Momente nicht nur auf der Ebene einzelner Serientexte wirken, sondern auf der Ebene des Gesamtformats »kommerzielle Serie« eine entwicklungsgeschichtliche Rolle spielen. Dabei ist die Betonung des kommerziellen Charakters populärer Serien wichtig; dies nicht, um eine deutsche Kritik der Kulturindustrie fortzuschreiben, und sicherlich nicht, um zu unterstellen, amerikanische Fernsehtexte operierten unter idealen Marktbedingungen, sondern um daran zu erinnern, dass populäre Serien vor allem als Konkurrenzformate funktionieren. Entsprechend sollten sie theoretisiert werden, unter Rücksichtnahme auf die Besonderheiten ihres Wettbewerbs. Was nämlich serielle Konkurrenz in der Populärkultur von anderen Formen konkurrierender Textualität, etwa auf dem Feld kanonischer Kunstproduktion, unterscheidet, ist die Tatsache, dass eine kommerzielle Serie nicht nur mit anderen kommerziellen Serien konkurriert, sondern immer auch mit sich selbst. Eben weil sie ein unabgeschlossener, stets weiterzuführender Erzähltext ist und zugleich eine wiedererkennbare Ware bleiben muss, vergleicht sich eine lang laufende Serie zwangsläufig mit früheren Ausformungen ihrer selbst. Es gibt demnach einen intraseriellen und einen interseriellen Wettbewerb: die Selbst- und Fremdkonkurrenz von Serien. In beiden Fällen ist Überbietung eine der erfolgreichsten Strategien, Standardisierung in kompetitive Erneuerung zu überführen. Erzähltechnisch kann das heißen, dass man dieselbe Geschichte noch einmal, aber in gesteigerter (und somit potenziell neuer) Form präsentiert, etwa mit mehr Figuren oder sichtbar höheren Produktionskosten oder spektakuläreren Spezialeffekten. Solche Steigerungen ermöglichen, dasselbe Produkt noch einmal, aber als Novum zu verkaufen, unterschieden von anderen, unterschieden aber auch von sich selbst. Als Überbietung soll im Folgenden somit die wiederholte Intensivierung erfolgreich etablierter Distinktionsmerkmale im inter- und intraseriellen Wettbewerb bezeichnet werden.

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Weil es sich dabei um ein so eingängiges Verfahren handelt, ist Überbietung fast zu einer Klischeeformel für Populärkultur schlechthin geworden. »Schneller, größer, teurer«: das sind sprichwörtliche Etiketten für eine Ästhetik, die Innovation vor allem als Pseudo-Innovation, d.h. als wettbewerbsorientierte Steigerung zu kennen scheint. Auffällig ist aber, dass die Steigerungsdynamik von »schneller, größer, teurer« zugleich die historische Selbstbeobachtung serieller Formate unterstützt. Anders ausgedrückt: Was zunächst und wesentlich über quantitative Operationen funktioniert, kulminiert zuletzt in metaserieller Intelligenz. Gerade aufgrund der paradoxen Anforderung, innovativ zu reproduzieren, können kommerzielle Serien gar nicht umhin, über ihre eigene Genese nachzudenken, mit Blick auf andere Wettbewerbsteilnehmer wie auch mit Blick auf die übergreifende Geschichte populärer Serienformate insgesamt. Wer mit einer gelungenen Genre-Kombination überzeugen möchte (und Hybridisierung ist eine andere wichtige Strategie innovativer Reproduktion), indem z.B. die Konventionen des Highschool-Dramas mit Vampir-Sagas in überraschende Verbindung gesetzt werden, der muss sich recht gut in populärkulturellen Erzählrepertoires und ihren Rezeptionsbedingungen auskennen. Das Resultat ist ein Prozess populärkultureller Selbsthistorisierung, der sich in den letzten Jahrzehnten erheblich beschleunigt und differenziert hat, nicht zuletzt dank der produktiven Aktivitäten digital vernetzter Publika und Nutzer.6 Populärkulturelle Serien und vor allem Fernsehserien wissen mittlerweile so gut über die eigene Geschichte Bescheid, dass sie ein beeindruckendes Repertoire an Strategien entwickelt haben, um Schema und Variation mit Blick auf andere Wettbewerbsteilnehmer auszubalancieren. Das metaserielle Selbstbewusstsein, das hieraus hervorgeht, lässt sich durchaus nicht nur bei prestigeträchtigen Produktionen wie The Sopranos oder Deadwood (HBO, 2004-2006) finden – und es kann auch keinen klar unterschiedenen Akteursgruppen zugeordnet werden (z.B. kulturindustriellen Produzenten versus alltäglichen Nutzern). Stattdessen hat es seinen Sitz in den Handlungsweisen fortgesetzten Erzählens selbst – oder mit anderer Terminologie gesprochen: im Akteur-Netzwerk populärer Serialität.7 Das amerikanische Fernsehen der 1990er und 2000er Jahre ist für eine Untersuchung der rekursiven Eigendynamik seriellen Erzählens besonders interessant und geeignet, weil das Label »Quality-TV« selbst einen historischen Überbietungsanspruch formuliert. Das Konzept Qualitätsfernsehen weist ge6 | Die Erklärungskraft des Gedankens der »Nutzung« scheint für populärkulturelle Phänomene freilich in dem Maße begrenzt, in dem er dem Selbstverständnis bildungskultureller Handlungskontexte (mit ihren relativ stabilen Unterscheidungen von Autor/LeserRollen) verpflichtet bleibt. Vgl. den Beitrag von Kelleter/Stein im vorliegenden Band. 7 | Vgl. Latour 2005. Zur Brauchbarkeit der Akteur-Netzwerk-Theorie für eine Analyse populärer Serialität vgl. Kelleter 2012 und den Beitrag von Engell im vorliegenden Band.

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wissermaßen über das Feld kommerzieller Populärkultur hinaus, um die bildungskulturellen und Avantgarde-Potenziale des Mediums offensiv zu mobilisieren. Die wahrscheinlich markanteste Formel für diesen medienhistorischen Innovationsanspruch ist das Motto, mit dem der Pay-TV-Kanal HBO zwischen 1996 und 2009 für sich warb: »It’s not TV. It’s HBO.« Ein Marketingslogan – und doch hat er die Agenda und vielfach den Ton öffentlicher und wissenschaftlicher Beschreibungen der neuen Serien wesentlich mitbestimmt. Fragt man nämlich, was eigentlich adressiert wird, wenn von der »Qualität« des Qualitätsfernsehens die Rede ist, so zeigt sich: size matters. Die in Forschung und Feuilleton angebotenen Beschreibungen des angeblich neuen Phänomens lassen sich erstaunlich oft ins Muster wettbewerbsorientierter Steigerungen einpassen. Eine entsprechend wichtige Rolle spielen Metaphern der Expansivität und Größe (Serien als »vast narratives«) bei der akademischen Aufarbeitung von Programmen wie The Wire oder Lost (ABC, 2004-2010).8 Die Multiplizierung von Handlungssträngen, deren zunehmende Verwicklung oder das Spannen immer weiterer Handlungsbögen (»arcs«): Es sind regelmäßig solche Steigerungen vorgängiger Niveaus, die als Ausweis für die erhöhte Komplexität und mithin Qualität dieser Texte im Vergleich zu früheren Staffeln oder Serien dienen. Der kompetitive Vergleich zwischen Serien ist ein rhetorischer Grundbaustein des gegenwärtigen Quality-TV-Diskurses. Immer wieder zeigen sich die identifizierten Qualitäten als Effekte einer impliziten oder expliziten Mehrung: The Sopranos setzt Gewalt noch detaillierter in Szene als Oz, The Wire hat noch mehr Schimpfworte als The Sopranos, Nip/Tuck (FX, 2003-2010) ist noch transgressiver als Six Feet Under (HBO, 2001-2005), wobei der numerische Zuwachs an nackten oder toten Körpern gerne in Qualitätsmarkierungen wie »Realismus« oder sogar »höherer Realismus« übersetzt wird. Gleichzeitig hat derselbe Diskurs uns beigebracht, über Fernsehserien als singuläre Kunstwerke zu sprechen.9 Angesichts dieser Spannung lohnt es sich, die gegenwärtige Quality-TV-Rhetorik als einen Komplex von Beschreibungen, Wahrnehmungen und Effekten zu betrachten, der letztlich die gesamte Tektonik kultureller Legitimität betrifft. Dabei steht nicht nur die Legitimität von Texten auf dem Spiel, sondern auch die der fachwissenschaftlichen Disziplinen, die mit der Beschreibung und Analyse dieser Texte beschäftigt sind. Hierzu zwei Bemerkungen: Erstens können diskursanalytische Verfahren zeigen, dass die wissenschaftliche Rede vom Quality-TV die Qualitätspraktiken der Sender und Serientexte, also die Selbstbeschreibung des amerikanischen Quality-TV, oft erstaunlich genau reproduziert. Besonders auffällig ist das im Fall von The Wire, wo fast alle wissenschaftlichen Diskussionen aus den USA 8 | Zu »vast narratives« vgl. Harrigan/Wardip-Fruin 2009. 9 | Siehe vor allem Anderson 2008.

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(und, soweit vorhanden, auch aus Deutschland) den penetranten RealismusDiskurs der Serie aufnehmen und fortschreiben, selbst wenn sie den systemischen Blick der Erzählung auf die postindustrielle Stadt betonen.10 In solchen Fällen zeigt sich eine bekannte Tatsache, auf die es dennoch lohnt, erneut hinzuweisen: Wissenschaftliche Beobachter tun mehr, als zeitgeschichtliche Medientexte einfach zu analysieren, insbesondere wenn sie in identische oder ähnliche kulturelle Kontexte wie diese Medientexte eingebunden sind (was bei der Analyse des amerikanischen Fernsehens durch die amerikanischen Media Studies idealtypisch gegeben ist). Dieser Typus von Forschung ist immer auch ein Akt kultureller Selbstbeschreibung und kann seinerseits als solcher analysiert werden. Amerikanische Medienforscher tragen zu den Distinktionsprozessen bei, die sie zugleich beobachten. Sofern man in diese Debatten nicht direkt involviert ist, lassen sich Rückkopplungseffekte zwischen (amerikanischer) Medienforschung und (amerikanischer) Medienpraxis feststellen, die den Akteuren bewusst sein können oder nicht. In beiden Fällen zeigt sich die Kategorie serieller Qualität häufig als Resultat eines solch feldübergreifenden Feedbacks.11 Zweitens: Es scheint wenig angebracht, Diskursanalyse als Entlarvungswissenschaft zu betreiben. Im Folgenden soll es nicht darum gehen, nachzuweisen, dass dort, wo in der Öffentlichkeit von Qualitäten die Rede ist, in Wirklichkeit nur Verschleierungsmaßnahmen einer Warenlogik am Werk sind. Stattdessen fragt der vorliegende Aufsatz nach der Folgenträchtigkeit der aktuellen QualityTV-Beschreibungen, also danach, wie diese Selbst- und Fremdbeschreibungen an den ästhetischen Prozessen beteiligt sind, die durch ihre Objekte in Gang gesetzt werden. Anders ausgedrückt: Es geht immer auch darum, wie amerika10 | Eine genauere Analyse des amerikanischen Quality-TV-Diskurses anlässlich The Wire findet sich in Kelleter 2012. 11 | Muss betont werden, dass die »Nicht-Beteiligung« an amerikanischen Selbstdefinitionen keinen Anspruch auf »objektive« (d.h. ihrerseits interessen- oder kontextlose) Außensicht erhebt? Wahrscheinlich. Es geht schlicht um die Bereitstellung informierter Re-Deskriptionen, deren Wahrscheinlichkeit im Rahmen kultureller Autoreferenzen oder fachwissenschaftlicher Interessenpolitik gering ist. Möchte man Selbstbeschreibungen also nicht als privilegierte Perspektiven beim Wort nehmen – und möchte man kulturspezifische Konstellationen zu ihrem Recht kommen lassen –, bietet sich ein amerikanistischer Zugriff in Ergänzung medienwissenschaftlicher Analysen an. Andernfalls läuft man Gefahr, der amerikanischen Forschungsliteratur ihre kulturelle Herkunft gerade zum Vorwurf zu machen und ihr mit einer gewissen Überheblichkeit vorzurechnen, dass sie nicht den eigenen (deutschen) Methodenpräferenzen entspricht. Die Frage, wie sich der amerikanische Quality-TV-Diskurs internationalisiert, ist eine andere, denn transnationale Interaktionen sind für Forschungspraktiken in den USA noch relativ bedeutungslos. Nur selten kommen American (Media) Studies aus den USA in die Verlegenheit, sich aus dem Blickwinkel externer Beschreibung zu imaginieren.

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nische Medienbeobachtungen und amerikanische Medienpraktiken als unterschiedliche, aber aufeinander bezogene Kräfte innerhalb eines größeren kulturellen Systems namens amerikanische Kultur agieren.12

I NTR ASERIELLE Ü BERBIE TUNG UND PROZEDUR ALE Ä STHE TIK : L OST Die Qualitäten des Qualitätsfernsehens ergeben sich nicht einfach als Zuschreibungen von Fernsehkritik, Medienwissenschaft oder Paratexten (Trailer, Vorspänne, DVD-Specials usw.). Vielmehr stehen die verschiedenen Selbst- und Fremdbeschreibungen in aktiver Beziehung zum ästhetischen Handeln der Serien selbst. Am eindrücklichsten zeigt sich das vielleicht in HBOs vielfach thematisierter Programmpolitik der Rewatchability, die kommerzielle Serien bewusst auf werkästhetische Rezeptionsformen wie Close Reading und auf eine kanonisierungsfähige Zweitdistribution als geschlossene DVD-Sets hin konzipiert.13 Der fernsehhistorische Überbietungsanspruch, der in der Selbstbeschreibung »Quality-TV« zum Ausdruck kommt, ist demnach ästhetisch folgenreich: Neue, in der Tat innovative Serienformen werden durch die mediale (Selbst)Beobachtung konkurrierender Formate ermöglicht. Dies erklärt, weshalb sich metaseriell aktive Erzähltexte besonders gut für medientheoretische Ansätze eignen, die die Rekursivität des Fernsehens betonen.14 Eines der besten Beispiele für den Zusammenhang von Steigerung und Innovation im zeitgenössischen Fernsehen ist die Serie Lost, die zwischen 2004 und 2010 auf ABC ausgestrahlt wurde. Strukturell handelt es sich um eine klassische Network-Serie, was sich u.a. in der Anzahl der Episoden pro Staffel (mit Ausnahme von Staffel 4), der Produktionsgeschwindigkeit und den Schauspielerstilen im Ensemble Cast zeigt. Zugleich ist die Serie ein auffälliges Beispiel für den so genannten HBO-Effekt auf traditionelle Broadcasting-Programme. In der Forschung wird Lost als eine der innovativsten Fernsehserien überhaupt 12 | Die gewählte Terminologie greift natürlich auf Gedankenfiguren aus dem Werk Niklas Luhmanns zurück; eine streng systemtheoretische Beschreibung wird dabei nicht angestrebt. 13 | Wie die Einführung des DVD-Box-Sets mit den X-Files (Fox, 1993-2002) im Jahr 2000 die TV-Serie zu einem sammlungs- und ausstellungswürdigen Objekt avancieren ließ und dadurch die Struktur der warenförmigen Beziehung zwischen dem Fernsehen und seinen Zuschauern neu gestaltete, ist bereits mehrfach diskutiert worden (siehe etwa Kompare 2006, Mittell 2010b). 14 | Für die deutsche Medienwissenschaft siehe vor allem Engell (2009 und Beitrag im vorliegenden Band), der das Medium als selbstreferentielles »Experimentalsystem« (in Rückgriff auf Hans-Jörg Rheinbergers Begriff) beschreibt.

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gehandelt.15 Bereits anhand der Pilotfolge wird dabei erkennbar, dass sich die Serie zunächst über Schauwerte distinguieren möchte: Die außergewöhnlich hohen Produktionskosten des Pilotfilms (man schätzt, zwischen 10 und 14 Millionen US-Dollar) flossen vor allem in spektakuläre Special Effects zur Darstellung eines Flugzeugabsturzes, dessen Gestaltung in den ersten öffentlichen Diskussionen ausführlich thematisiert wurde. Als Network-Produktion war es Lost kaum möglich, derartige Aufwendungen im Folgenden noch zu steigern. Stattdessen verschoben sich intraserielle Überbietungsmomente im weiteren Verlauf auf den Umgang der Serie mit Zeitlichkeit als Thema und Erzählverfahren.16 Während in den ersten Staffeln regelmäßig Rückblenden eingesetzt wurden, die die Vorgeschichte der Überlebenden des Flugzeugabsturzes erzählen, tauchen in späteren Staffeln neben Flash Forwards auch Zeitreisen, Zeitschleifen und parallele Zeitlinien (Flash Sideways) auf. Der steigerungsorientierte, mithin serielle Einsatz solcher Erzähltechniken wird bereits zu Beginn der zweiten Staffel deutlich. Die ersten Episoden der neuen Season offenbaren, dass noch eine andere Gruppe von Passagieren den Absturz von Oceanic Flight 815 überlebt hat und auf der Insel gestrandet ist. Nach etwa einem Drittel der Staffel wird deren Vorgeschichte in der Episode »The Other 48 Days« (2.7) ausführlich in einer einzigen langen Rückblende erzählt, die neue Blickwinkel auf bereits bekannte Ereignisse eröffnet. Die Ausdehnung der bislang punktuell für Einzelfiguren genutzten Flashbacks auf Episodenlänge bekräftigt die drastische Erweiterung des Personeninventars in den vorangehenden Episoden und unterstützt die Erwartung, dass im Fortgang der Serie noch mehr Figuren neu eingeführt und sich damit immer weitere Aspekte der mysteriösen Insel aus anderen Perspektiven zeigen werden – so wie es dann auch geschieht. Der Einsatz der ersten Prolepse am Ende der dritten Staffel, in der Doppelfolge »Through the Looking Glass« (3.22/23), erweitert das Repertoire zeitlicher Verfahren noch einmal entscheidend, da unvermutet.17 Ein wesentliches Überraschungsmoment besteht darin, dass der Flash Forward nicht als solcher markiert ist. Als Zuschauer wird man somit zunächst zu der Annahme verleitet, 15 | Mittell, der wiederholt für eine stärker wertende Fernsehforschung plädiert hat (2005, 2009a), beschreibt Lost als »the best show on American broadcast television« (2005), mit impliziter Einschränkung des Werturteils durch institutionelle Kontextualisierung. Aufsatzsammlungen zur Serie liefern Kaye 2007, 2010, Pearson 2009. 16 | Vgl. Schabacher 2010 als einen der ersten Aufsätze, der sich mit der Ästhetik der Zeitdarstellung in Lost auseinandersetzt. Mit Deleuze gesprochen, erweitert die Serie ihren (medienästhetisch naheliegenden) Einsatz von Aktionsbildern um die demonstrative Aufführung von (serienästhetisch plausiblen) Zeitbildern. 17 | Schon das Lewis-Carroll-Zitat im Episodentitel verweist auf den selbstbewusst experimentellen Umgang mit Techniken der Zeitdarstellung.

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dass es sich bei der Vorausblende, die einen depressiv wirkenden Jack Shepard mit Vollbart in einem Flugzeug zeigt, um das etablierte Verfahren der Rückblende handelt. Erst in den letzten Minuten des Staffelfinales wird deutlich, dass wir in die Zukunft geblickt haben. Die Mystery-Serie erhöht hiermit gleichsam ihren narrativen Einsatz für eine vierte Staffel: Einigen Überlebenden ist es gelungen, die Insel zu verlassen! Wider Erwarten bringt dieser lang erwartete Erfolg aber keine Erleichterung, sondern steigert die Erzählspannung in überraschender Weise: Jack ist getrieben vom Zwang, zu jenem Ort zurückzukehren, von dem er drei Staffeln lang unter Aufbietung aller Kräfte zu entkommen versuchte. Nach der ersten Prolepse werden Verfahren der Zeitdarstellung von der Serie in den Staffeln 4-6 mit einer so hohen Wiederholungsintensität exponiert, dass hierdurch automatisch ihre Variabilität betont wird. Die Serie forciert gleichsam die Erwartung, dass sich derartige Zeitexperimente im weiteren Verlauf konstant fortsetzen und noch verstärken werden. Solcher Aufwand wird keineswegs nur als Mittel äußerlicher Stilisierung betrieben, etwa um die Handlung dramatischer zu gestalten. Da Zeitphänomene bereits recht früh in der Serie in ihrer funktionalen Andersartigkeit ausgestellt werden, sind erzähltechnische Verfahren wie Rück- oder Vorausblenden rasch auch thematisch kodiert. Wie Schabacher feststellt, zeichnet sich Lost ab der dritten Staffel dadurch aus, dass »Erinnerungen und (Zukunfts-)Visionen sich derart überlagern, dass unentschieden bleibt, was Vergangenheit und was Zukunft ist« (260). Anders ausgedrückt: Lost experimentiert nicht nur mit unterschiedlichen Methoden temporaler Gestaltung, sondern erhebt Fragen der Dauer, Abfolge und Vergänglichkeit zu zentralen Problemen der Handlung selbst. Das Ergebnis ist eine »operationale« bzw. »prozedurale« Ästhetik, die Mittell als ein Grundmerkmal des amerikanischen Qualitätsfernsehens identifiziert hat.18 Ähnlich einem digitalen Spiel operiert Lost mit Steigerungsdynamiken, die die Unterscheidbarkeit von Inhalts- und Formebene komplizieren und deshalb vom Zuschauer mediale Aufmerksamkeiten neuen Typs verlangen. Der Unterhaltungswert solch intraserieller Überbietungen ergibt sich aus der Möglichkeit, gleichzeitig am Wie und am Was der fortschreitenden Erzählung spekulativ beteiligt zu sein. So kann der Genuss einer gelungenen Illusionsästhetik bruchlos mit dem Genuss kompetenter Mediennutzung einhergehen. Zu Fragen nach dem Sinn des Geschehens, nach der Auflösung des Rätsels, gesellen sich Fragen eines anderen Typs: Welche weiteren ästhetischen Operationen der Gestaltung von Zeitlichkeit sind denkbar? Und warum wird Zeitlichkeit überhaupt so wiederholungs- und variationsintensiv durchdekliniert?

18 | Vgl. Mittell 2006, 2009b. Zum folgenden Spielbegriff siehe auch den Beitrag von Klein im vorliegenden Band.

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I NTR ASERIELLE Ü BERBIE TUNG ALS RISK ANTES E RZ ÄHLEN An der Fähigkeit, »prozedurale« Fragen obigen Typs plausibel zu beantworten, misst sich nicht selten der Erfolg einer Serie, die auf intraserielle Überbietungen setzt. Exponierte Steigerungen erfordern gewissermaßen eine diegetische Legitimierung, um zu verhindern, dass die nächste Überbietung oder der (finale) Abschluss der Überbietungskette enttäuschen. Dass solche Intensivierungen eine prekäre Angelegenheit sind, wissen dabei wohl vor allem die Produzenten von Serien sehr genau. Überbietungen erfordern eine ausgeprägte ästhetische Risikobereitschaft. Das zeigt sich besonders bei der detailgetreuen Darstellung von Sexualität und Gewalt in amerikanischen Kabelproduktionen, die rasch das Gespenst einer negativen Überbietungslogik (d.h. einer konstanten Unterbietung sozial akzeptabler Repräsentationen) heraufbeschwört. Bestimmte Formen der Selbstthematisierung, etwa Ironiesignale, können dieses Risiko ebenso mindern wie evaluative Rahmungen durch Fernsehkritik und wissenschaftliche Beschreibung. Das Konzept des Quality-TV arbeitet an der Überbietungslogik des seriellen Fernsehens demnach auch in der Weise mit, dass es erlaubt, die Darstellung expliziter Sexualität oder Gewalt in Werte wie »Realismus«, »Selbstreferenz«, »Transgressivität« oder »Historizität« umzumünzen.19 Lost wiederum, als Network-Serie mit anderen Problemen befasst, entgeht der Gefahr narrativer Überlastung (wie in einem anderen Aufsatz zu zeigen wäre) durch schrittweise Transformation der eigenen generischen Gestalt und wiederholte Inversion der Figurenkonstellationen im Ensemble-Drama. Das Prekäre exponierter Steigerungen offenbart sich auch bei einer Network-Produktion wie 24 (FOX, 2001-2010), die als Action-Serie schon aus generischen Gründen die Erwartung ständiger Selbstüberbietung weckt. Dabei setzt die Serie neben der staffelweisen Verstärkung von Bedrohungsszenarien auf eine stetig fortschreitende Ausweitung und Radikalisierung von Folterszenarien. Die sichtbare Abbildung von Folter in einem kommerziellen Medium läuft natürlich immer Gefahr, als kulturindustrielles Spektakel kritisiert zu werden – für die Intensivierung solcher Szenen gilt das umso mehr. 24 legt deshalb Wert darauf, dass die wiederholte Dramatisierung von Folter nicht bloß als eine Strategie zur Maximierung visueller Schockeffekte erscheint. Aufwändig und ausgefeilt werden die entsprechenden Szenen erzählerisch-thematisch plausibilisiert und auf diese Weise für Kritik und Forschung als Kardinalpunkte der Handlung im Sinne Chatmans (1978) beschreibbar.20 19 | Man fragt sich in diesem Zusammenhang, ob die Darstellung männlichen Chauvinismus in Mad Men (AMC, seit 2007) anders rezipiert würde, ginge es in der Serie um die Werbebranche der Gegenwart. 20 | Die Ästhetisierung von Folter in 24 ist vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des so genannten »war on terror« oft thematisiert worden, vgl. Howard 2007.

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Darüber hinaus erhebt 24 das schon aus Lost bekannte Experiment mit Techniken temporaler Gestaltung in den Rang eines titelgebenden Konzeptes: Die Geschichte jeder Staffel ist auf exakt 24 Stunden begrenzt, Erzählzeit und erzählte Zeit sind weitgehend synchronisiert, Zeit wird durch das Split-ScreenVerfahren verräumlicht und verbildlicht. In letzter Konsequenz verschiebt sich der Blick von Dauerzuschauern (»heavy viewers«) damit weg von den Modi der nahtlosen Fortsetzung einer Handlung (24 als »serial«) oder der variierenden Wiederholung etablierter Situationen (24 als »series«) hin zu einem Konzept von Serie als segmentierter Versuchsanordnung, die das Verhältnis von Schema und Variation auf Ebene ganzer Staffeln – die nun als abgrenzbare ästhetische Einheiten deutlich hervortreten – thematisiert. Damit wird intraseriell genau jene Herausforderung sichtbar, die auf interserieller Ebene immer gegeben ist: Jede populärkulturelle Serie, gleich welchen Formats, muss ihre konzeptionellen Entscheidungen unter Wettbewerbsbedingungen legitimieren, und das in doppelter Hinsicht als Programmangebot des Fernsehens und als ein Angebot unter vielen medienkulturellen Optionen. Nicht nur ökonomisch, sondern auch ästhetisch muss sie sich in einem Netzwerk anderer TV-Serien und kulturindustrieller Angebote mittels Anpassungen, Abgrenzungen und Steigerungen positionieren und dabei die Möglichkeiten und Risiken fortgesetzter Reproduktion reflektieren.21 Auch dort, wo Originalität als höchster Wert gilt, kann also eine Qualitätsfernsehserie in einem Feld von Qualitätsfernsehserien nicht alles anders als andere Produktionen machen; immer steigert sie auch Qualitäten, die als solche bereits etabliert sind.

I NTERSERIELLE Ü BERBIE TUNG : S IX F EET U NDER , N IP/TUCK UND D EXTER Weil die Distinktionsstrategien erfolgreicher Serien, sobald sie einmal als innovativ identifiziert worden sind, schnell von anderen Wettbewerbsteilnehmern übernommen und fortgeführt werden, ist es kaum möglich, die kulturelle Arbeit kommerzieller Fortsetzungsgeschichten allein mit Blick auf Einzelpro21 | Der Begriff Netzwerk bezeichnet hier und im Folgenden ein handlungsabhängiges (dynamisches) Gefüge der Bezugnahme, keine integrative Struktur, zu der sich eine all-verbundene Zentralposition oder eine analytische Gesamtschau denken ließe. Die gegenseitige Bindung einzelner Positionen in seriellen Netzwerken ist aktionsabhängig genau in dem Sinn, dass sie mit gleichzeitigen Unverbundenheiten einhergeht; vgl. den Beitrag von Kelleter/Stein im vorliegenden Band. Zu einem unterschiedlichen, in der Sache aber äquivalenten Begriffsgebrauch, der Netzwerk (im Sinn einer Ethik der Inklusion) und Serie (im Sinn einer Indifferenz des Werdens) voneinander unterscheidet, siehe den Beitrag von Sielke.

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duktionen zu beschreiben. Vielmehr sind Netzwerk-Analysen erforderlich, und zwar solche, die sich nicht damit begnügen, ein weiteres Mal zu belegen, dass Populärkultur im Wesentlichen mit Methoden der Imitation, Hybridisierung und Abgrenzung arbeitet. Ein serialitätstheoretischer Überbietungsbegriff kann helfen, die Spezifik ökonomischer, ästhetischer und institutioneller Verflechtungen zwischen bestimmten Serien, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt aufeinander beziehen, herauszuarbeiten. Einer solchen Analyse ginge es keineswegs darum, diejenigen Serien zu ermitteln, die das eine oder andere Distinktionsmerkmal auf die Spitze treiben. Vielmehr könnten die aktiven Verbindungen, die Serien vermittels ihrer ästhetischen Entscheidungen, institutionellen Strategien und paratextuellen Selbstbeschreibungen untereinander herstellen, kleinteilig rekonstruiert werden (im Sinn des Latourschen Leitspruches »follow the actors«). Dabei wäre es keineswegs notwendig, einen intentionalen oder systematischen Komplex gemeinsamer Merkmale und Handlungen zu identifizieren, um das Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Serien als ein Überbietungsverhältnis zu erkennen; wenige, wiewohl effektive Aktivitäten der Bezugnahme würden ausreichen. Im vorliegenden Kontext kann ein solches Forschungsprogramm nur exemplarisch angedeutet werden. Auf Ebene thematischer Verflechtungen etwa lassen sich interserielle Überbietungen zwischen Six Feet Under und Nip/Tuck sowie, in einem weiteren argumentativen Schritt, Dexter (Showtime, seit 2006) erkennen.22 Dabei unterscheidet sich Nip/Tuck, eine Serie über zwei Schönheitschirurgen aus Miami, natürlich in vielen Punkten sehr deutlich von Six Feet Under, sowohl was das Genre als auch was den visuellen Stil betrifft. Dennoch gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die Steigerungen sichtbar werden lassen: Beide Serien setzen auf drastische, wenngleich realistisch konnotierte Inszenierungen von toten (Six Feet Under) oder lebenden (Nip/Tuck) Körpern in tragikomischen Geschichten. In Nip/Tuck jedoch wird der Körper in seinen Deformierungen, in seiner Vergänglichkeit, aber auch in seiner Modifizierbarkeit wesentlich detaillierter und grotesker in Szene gesetzt als in Six Feet Under. Die Serie radikalisiert damit einen Topos, der für das Fernsehen im Allgemeinen und für die jüngeren Qualitätsserien im Besonderen kennzeichnend ist: die Schnittstelle von Körper und Technologie.23 Genauer gesagt, setzt Nip/Tuck auf eine ausgesprochen explizite Zurschaustellung unkonventioneller Sexualpraktiken und überbietet in dieser Hinsicht nicht nur Six Feet Under (eine der ersten Kabelproduktionen, die sich um eine normalisierende Darstellung homosexueller Hauptfiguren bemühte), sondern

22 | Eine Sammlung von Aufsätzen zu Six Feet Under liefert Akass/McCabe 2005. Zu Nip/Tuck und Dexter liegen bislang nur vereinzelt Forschungen vor. 23 | Vgl. Smit 2008.

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die allermeisten Programme des amerikanischen Fernsehens.24 Diese Einschätzung teilte auch der Parents Television Council, eine private Interessenorganisation konservativen Zuschnitts, die das amerikanische Fernsehprogramm regelmäßig auf Familienfreundlichkeit durchmustert. Im August 2005 schrieb der Gründer und Präsident des PTC, Leo Brent Bozell III, einen offenen Brief an die Sony Corporation, die als exklusiver Sponsor der dritten Staffelpremiere von Nip/Tuck auftrat: »Without question, Nip/Tuck is one of the most sexually explicit, profane, and violent television programs in the history of American television. By underwriting such graphic content, Sony would be violating parents’ trust in the Sony corporate brand and image.« Bozells Rhetorik der Superlative wird der Show durchaus gerecht, kontrastiert aber in vielsagender Weise mit der Routiniertheit eines solch alarmistischen Lobbyismus in der amerikanischen Fernsehgeschichte. (Sony reagierte entsprechend gelassen und sponserte im folgenden Jahr auch die vierte Staffelpremiere, um in exklusiven Werbepausen eigene Kinoproduktionen anzupreisen.) Bozells Protest gibt damit einen guten Eindruck sowohl vom marktfähigen Konventionalismus als auch vom ausgeprägten Transgressionswillen der Serie; um die Bedenklichkeit von Nip/ Tuck zu belegen, fügte er eine DVD bei, deren Inhalt im Anschreiben wie folgt zusammengefasst wird: • A gang member injecting Botox into a man’s penis. • An incredibly graphic and bloody scene of the doctors performing plastic surgery, including breaking a man’s nose with a chisel and slicing open his eyelids. • A gang member is shown having sex with his girlfriend from behind while Sean McNamara is forced to watch. He threatens Sean by saying »This could be your wife.« • Dr. Christian Troy having graphic sex complete with partial nudity with a model, Kimber, whom he just met in a bar. • Dr. Christian Troy receiving oral sex from an anonymous woman. She asks him to reciprocate, so he lies on the bed and tells her to »saddle up.« She sits astride his face as he performs oral sex on her.

24 | Heteronormativität wird dabei keineswegs in Frage gestellt. Zwar finden sich in Nip/Tuck auch nicht-heterosexuelle Figuren, spielen aber anders als in Six Feet Under oder Queer as Folk (Showtime, 2000-2005) nur untergeordnete oder funktionale Rollen. Die beiden Schönheitschirurgen respektieren z.B. nicht wirklich die fachliche Kompetenz ihrer lesbischen Kollegin Grace Santiago und rücken diese wiederholt in die Rolle einer humorlosen Spielverderberin. Die Figur Grace dient damit vorrangig als Kontrastfolie zum exzessiven heterosexuellen Begehren der männlichen Hauptfiguren. Was immer an der Sexualpolitik der Serie als riskant auffällt, wird auf diesem Weg »politisch korrekt« abgesichert. Der Preis ist, dass Grace in dem Maße als Figur entsexualisiert erscheint, in dem sie sich vom pubertären Gehabe der Kollegen distanziert.

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A NDREAS J AHN -S UDMANN UND F RANK K ELLETER • Dr. McNamara stands naked in front of a plastic sex doll. He puts his penis in the doll’s mouth and moves the head up and down. Then he throws the doll to the floor, face down, and enters it from behind. While he is thrusting into it, he imagines it is his estranged wife, and his thrusts become more violent. • Dr. Troy takes Kimber to an orgy at a house where each room caters to different fetishes. He takes her into the »girl on girl« room and encourages her to have sex with another woman in the room while he watches. Clearly uncomfortable at first, Kimber nevertheless puts her hand on the other woman’s breast, kisses her, and allows the other woman to perform oral sex on her. (Bozell 2005)

Die genannten Praktiken, die zum Standardrepertoire pornografischer Darstellungen gehören, werden in der Serie konstant durch noch extremere Szenarien erweitert. Die Folge »Shari Noble« (4.4) etwa handelt von einer Patientin, die die Schönheitschirurgen aufsucht, weil ihr Hund, ein Pit Bull, »beim Spielen« versehentlich ihre Brustwarze abgebissen habe. Als ihr Mann, ein im Irak stationierter Soldat, am Ende der Folge in der Praxis auftaucht, stellt sich heraus, dass seine Frau zum wiederholten Male versucht hatte, ihren Hund mit Erdnussbutter zu verführen. (Der eifersüchtige Ehemann präsentiert ihr das getötete Tier unmittelbar nach der Operation.) Das Zusammenspiel von wettbewerbstüchtigen Transgressionen und medialen Innovationsansprüchen in Nip/Tuck ist ein ebenso illustratives wie offensichtliches Beispiel für die Anstrengungen des FX-Bezahlsenders, durch Eigenproduktionen wie The Shield (2002-2008) oder Rescue Me (2004-2011) jenes Zielpublikum zu erreichen und idealerweise abzuwerben, das so erfolgreich von HBO-Original-Series wie Six Feet Under oder The Sopranos angesprochen wurde. Unterstützt wird diese institutionelle Selbstpositionierung von den Paratexten der Serie (Trailer, Vor- und Abspann), deren Stil dasselbe Versprechen von »nonbroadcast-type-edginess« (Lyons 2007: 4) transportiert, das man von einschlägigen HBO-Serien kennt. Damit setzt sich Nip/Tuck – auch für Kritik und wissenschaftliche Betrachtung – explizit als Teil eines televisuellen Verweiszusammenhangs in Szene. Wo Six Feet Under oder The Sopranos im Quality-TV-Diskurs noch häufig wegen ihrer (vermeintlichen) kinematografischen »Not-TV«-Ästhetik gewürdigt wurden, rücken Nip/Tuck und andere Serien der 2000er Jahre verstärkt den TV-Kosmos als ästhetische Referenzgröße in den Vordergrund.25 Zur gegenwärtigen Nobilitierungswelle gehört eben auch, dass die Historie der TV-Serie im Gefolge vermehrter Qualitätssichtungen als eine Geschichte von Klassikern erzählbar wird.26 Im Fall von Nip/Tuck lautet die entscheidende Referenzserie dabei Miami Vice (NBC, 1984-1989); einerseits we25 | Zur kinematografischen Anmutung der genannten HBO-Serien vgl. z.B. Akass/McCabe 2005; kritisch hierzu: Schwaab 2010. 26 | Vgl. Hißnauer/Klein 2012.

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gen der Wahl des Schauplatzes, andererseits weil Miami Vice mit der seinerzeit innovativen Ausstellung eines betont televisuellen Stils wie keine zweite Serie die ästhetischen Veränderungen des Fernsehens seit Mitte der 1980er Jahre repräsentiert.27 Six Feet Under wiederum überbietet andere Produktionen durch ebenso konsequente wie eindringliche Bezugnahme auf ein Thema, das im (seriellen) Fernsehen ohnehin allgegenwärtig ist: das Sterben. Die Logik der Steigerung greift dabei zunächst in ihrer einfachsten – numerischen – Form: In buchstäblich Hunderten von Variationen, seltsamen wie komischen, dramatischen wie banalen, werden zu Beginn einer jeden Folge neue Todesarten vorgeführt. Die Serie programmiert ihre Zuschauer geradezu darauf, Woche für Woche einer neuen Person beim Sterben zuzuschauen. Der Tod wird hier als etwas erfahrbar, was er in der individuellen Erfahrung (außerhalb fiktionaler Geschichten) gerade nicht, der Sache nach aber sehr wohl ist: etwas Alltägliches. Durch die Erstellung eines seriellen Archivs von Sterbeformen erkundet Six Feet Under gleichsam die paradoxe Individualität des Todes, ja die Zumutung sterblicher Individualität selbst. Die Logik der Überbietung ist hier eng mit dem Prinzip der Wiederholung verbunden, in einer ostentativ durchdachten, geradezu philosophischen Weise, die die Differenz zwischen der ästhetischen Fernseherfahrung und der Welt außerhalb des Fernsehens zugleich markiert und problematisiert. Auch Dexter (Showtime, seit 2006), wie Nip/Tuck in Miami angesiedelt, führt den Tod als alltägliches Ereignis vor. Die Titelfigur hat sich als Serienkiller auf Opfer spezialisiert, die selbst (Serien-)Mörder sind. Offenkundig strebt diese hochgradig künstliche Konstruktion eine medienreflexive Überbietung des populären Serienmörder-Narrativs an.28 Die narrative Versuchsanordnung wird dabei durch eine weitere Steigerungslogik kompliziert, die das Verhältnis der medialen Inszenierung zum vermeintlich außermedialen Alltag betrifft (und am Zuschauererfolg solch selbstbezüglicher Experimente im alltagsnahen Medium Fernsehen beteiligt sein dürfte). Dexters Doppelleben – auf der einen Sei27 | Zu »Televisualität« als Stil vgl. Caldwell 1995. 28 | Die Serie macht diesen Überbietungsanspruch bereits in der Pilotfolge explizit. Dexters Schwester Debra, die beim Sittendezernat arbeitet, jedoch Ambitionen hegt, zur Mordkommission zu wechseln, bittet ihren Bruder, sich ein Bild von einem Tatort zu machen, an dem der Körper einer zerstückelten Prostituierten gefunden wurde. Als Dexter, der Experte für Blutspritzer, beim Fundort der Leiche eintrifft, wundert sich ein Kollege, warum er überhaupt vor Ort sei, denn bei diesem Opfer gäbe es überhaupt keine Blutspuren. Dexter reagiert fassungslos (wir hören seine Gedanken im Off): »No blood. No sticky, hot, messy, awful blood. Why hadn’t I thought of that? No blood. What a beautiful idea.« Den Tatort verlassend grübelt er über die seriellen Konsequenzen seines Fundes nach: »But that bloodless body. … This guy may have exceeded my own abilities.«

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te Serienkiller, auf der anderen Seite fürsorglicher Familienmensch und freundlicher Mitarbeiter in der Forensik des Miami Metro Police Department – ist gar keines. Die eigentlich unvereinbaren Lebenswelten sind auf das Engste miteinander verbunden. So wie sich Dexters Erfahrungen als akribisch vorgehender Killer für seine forensische Arbeit als hilfreich erweisen, so erlaubt ihm umgekehrt der Zugang zu Polizeiinformationen, gezielt Personen aufzuspüren, die seiner Meinung nach den Tod verdient haben. Während wir in der ersten Staffel beobachten können, mit welch erstaunlicher Souveränität sich Dexter zwischen diesen Welten bewegt, wird im weiteren Serienverlauf schnell deutlich, dass auch einem Planungsexperten Fehler unterlaufen, dass unvorhersehbare Ereignisse eintreten, Mitmenschen misstrauisch werden können. Wie Tony Soprano, der sein Familienleben mit seiner Existenz als Mafiaboss in Einklang bringen muss, hat Dexter zwei Lebenswelten mit je eigenen Routinen und Regeln aufeinander abzustimmen. So gibt es keinen Alltag ohne permanente Störung. Das wird erwartungsgemäß auch innerhalb der Serie thematisiert; Stiefvater Harry weiß um die dunklen Seiten Dexters und belehrt ihn: »This is what I’m talking about, Dexter. Doesn’t matter how good you are at keeping all your worlds separate. Eventually they’re going to collide.« Die extreme Gegensätzlichkeit der Welten, die hier zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, unterstreicht zum einen die Wirklichkeitsferne des fiktionalen Serienkosmos. Zum anderen aber radikalisieren bzw. überbieten Serien wie Dexter oder The Sopranos genau jene sehr realen Widersprüche, die im Leben der Zuschauer ebenfalls permanent – oder besser: in Serie – wirken: zwischen Beruf und Familie, zwischen privater und öffentlicher Existenz, zwischen gelebtem und erwünschtem Alltag. Wo Steigerungsserien dergestalt die Instabilität etablierter Ordnungsroutinen vorführen, machen sie immer auch darauf aufmerksam, wie wirksam die ästhetische Erfahrung populärer Kultur an das gekoppelt ist, was sich hiervon gerne als gewöhnliche Realität unterscheidet. Laut Sconce (2004) ist das Fernsehen der Gegenwart längst zu einem autogenerativen, mehr mit sich als einer externen Wirklichkeit beschäftigten Medium geworden – eine naheliegende Überlegung, wenn man sieht, wie exzessiv jüngere Fernsehserien sich genau als solche in Szene setzen. Gleichwohl gehören zur Selbstgeneration serieller Netzwerke die hierdurch in Gang gesetzten Bewegungen und Erkenntnisse einer Vielzahl menschlicher und nicht-menschlicher Akteure. »Das Fernsehen« ist in diesem Sinn nie einfach selbstreferenziell, sondern ein Agent und eine Agentur (medien)kultureller Evolution: eine Handlungsinstanz, die Reflexionen, Intentionen und Adaptionen weit über sich selbst hinaus ermöglicht und erfordert.29

29 | Zum Ausdruck »Agent und Agentur« vgl. Engell et al. 2008. Zu »non-human agency« siehe Latour 2005.

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S CHLUSSBEMERKUNG : M E TASERIALITÄT, Q UALIT Y -T V, TR ASH -T V In den Überbietungsansprüchen eines sich erfolgreich als innovativ beschreibenden Qualitätsfernsehens bricht sich eine medienhistorische Entwicklung Bahn, der man ohne Pathos metaserielles Selbstbewusstsein unterstellen darf. Gemeint ist mit diesem schillernden Begriff das kommunizierte Bewusstsein einer Serie nicht nur über ihre eigene Vergangenheit und Zukunft, sondern über ihr situiertes Handeln – ihr Experimentieren und ihr Taktieren – in einem Netzwerk aus Inter-Akteuren, das die Abgeschlossenheit von Serien grundsätzlich in Frage stellt. Die Perspektive, aus der heraus TV-Serien sich dabei selbst in ihrer kulturelle Umgebung reflektieren, ist epochemachend: eine Umbruchphase in der Tat. Nicht nur behaupten die neuen Qualitätsserien nämlich ein außergewöhnlich explizites Bewusstsein ihrer Position in der Geschichte seriellen Erzählens, sie nehmen diese Selbstverortung effektiv in die eigene ästhetische Praxis auf. Mit diesen Serien und in diesen Serien experimentiert das Fernsehen gewissermaßen mit der eigenen Zukunft, denn nicht weniger als diese steht seit der Jahrtausendwende auf dem Spiel. So ist es kein Zufall, dass das Fernsehen die eigenen Qualitätsansprüche genau in dem Moment forciert und dabei an gesellschaftlicher wie wissenschaftlicher Akzeptanz gewinnt, in dem sein Status als populärkulturelles Leitmedium zu verblassen beginnt. Vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, in der Eltern ihre Kinder zum Fernsehschauen statt Internetsurfen anhalten werden, um sie zu bewegen, umfangreiche Geschichten mit echten Figurenkonstellationen statt nur fragmentarische Situationen zu konsumieren.30 Damit ist es aber auch kein Zufall, dass das Quality-TV fast zeitgleich mit dem Trash-TV eine Blüte erlebt: zwei scheinbar entgegengesetzte mediale Dispositive, die oft unbemerkt voneinander einer gemeinsamen Logik folgen.31 Hierzu eine letzte Szene: In der fünften Staffel von Nip/Tuck verlegen die Schönheitschirurgen ihr Geschäft nach Los Angeles, um ihrer Midlife-Crisis zu entfliehen und mehr Geld zu machen (zwei Motive, die den Variationsdruck spiegeln, der zu diesem Zeitpunkt auf der Serie selbst lastet). Da niemand die Doktoren aus Miami kennt, bleiben die Kunden zunächst aus. Man bemüht sich um Publicity und landet schließlich als medizinisches Beraterteam bei einer TV-Schundserie über Schönheitschirurgie, genannt »Hearts N’ Scalpels«. In einer Szene sehen wir, wie der Star der fiktiven Serie das Skript für den be30 | Zur mediengeschichtlichen Normalität solcher Übergänge vgl. Kelleter 2011. Die früheste uns bekannte Beschreibung findet sich bei Riepl 1913; die in den Medienwissenschaften derzeit populärste Neuauflage (im Begriff der Remediatisierung) ist Bolter/Grusin 2000. 31 | Vgl. die Beiträge von Ganz-Blättler und Frizzoni im vorliegenden Band.

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vorstehenden Dreh durchsieht und während der Lektüre den Produzenten der Show anbrüllt: »What the hell is this shit? A musical episode? How gay is that? This is the kind of desperate slag you don’t do until your fifth season.« Die Ärzte aus Miami, Zeugen dieser kreativen Krise, plädieren dafür, die Serie realistischer zu gestalten und solides Wissen über Schönheitschirurgie einzubringen. Als die Produzenten diesem Rat folgen, steigen die Einschaltquoten. Diese Szene erinnert uns daran, wie eng und zugleich reibungsintensiv Quality-TV und Trash-TV, das televisuelle Kunstwerk und die televisuelle Ware, miteinander verbunden sind. Sie zeigt aber auch, wie sehr sich Nip/Tuck dieses Umstandes bewusst ist, d.h. aktiv über die Möglichkeiten und Risiken, Grenzen und Chancen, serieller Variation nachdenkt. Hierzu gehört, dass eine Show wie Nip/Tuck, angesiedelt im schmalen Grenzbereich zwischen Quality-TV und Trash-TV, serielle Überbietung als ein stets fragiles Verfahren exponiert. Diese und andere Serien scheinen zu wissen, dass es keine populärkulturelle Qualität ohne quantitativen Einsatz gibt – so wie abgeschmackte Zahlenspiele umgekehrt mehr Qualität und Komplexität beinhalten als wir für gewöhnlich annehmen.

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Diskurs und Spiel Überlegungen zu einer medienwissenschaftlichen Theorie serieller Komplexität Thomas Klein

Unter den Merkmalen, die im Diskurs zu Quality-TV immer wieder zur Sprache kommen, nimmt Komplexität einen prominenten Rang ein. Mit Bezug auf diesen Begriff wurden und werden vor allem in Feuilleton-Artikeln zu aktuellen US-amerikanischen TV-Serien Parallelen zur Weltliteratur, zu Charles Dickens, William Shakespeare und dem antiken Drama eines Sophokles und Aischylos gezogen. Unklar bleibt, welche Rolle der spezifische narrative Modus, das serielle Erzählen, bei diesen Vergleichen spielt. Mit ästhetischer Komplexität scheint nämlich zuvorderst die Qualität in der dramaturgischen Umsetzung der großen zeitlosen Themen und Motive gemeint: Liebe, Hass, Intrige, Mord, Aufstieg und Fall. Damit werden neue Fernsehserien zweifellos im Sinn einer Wiederkehr der großen Erzählung rezipiert. Die Ästhetik der Postmoderne, die einmal gegen die große Erzählung zugunsten eines fragmentarischen Erzählens angetreten war, ist diesen Serien wohl nicht mehr eigen. Zwar wird der visuelle und montageästhetische Einfallsreichtum als ein Gütesiegel des Quality-TV hervorgehoben, doch dieses erlangt seine Signifikanz wohl eher in der Differenz zur »Tatsache des Fernsehens« (Cavell 2001). Das jedenfalls würde den häufig geäußerten Vergleich des Quality-TV mit dem Kino erklären: Die neuen Serien, so ist vielfach zu hören, lieferten zurzeit das bessere Kino.1 Auch im akademischen Diskurs wird der HBO-Slogan »It’s not TV. It’s HBO« häufig zum Anlass genommen, neue amerikanische Serien in ihrer Erzählweise und audiovisuellen Ästhetik mehr vom Kino als vom Fernsehen aus zu beurteilen. Nicht dass Vergleiche mit dem Kino grundsätzlich falsch wären, aber damit lässt sich nur bedingt eine Medienspezifik ergründen – worauf ja viele dieser Untersuchungen gerade abzielen. Auch wenn seit einigen Jahren davon die Rede ist, dass sich die medialen Formen in einer »convergence cul1 | Vgl. z.B. Pavlovic 2006.

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ture« (Jenkins 2006) aufeinander zu bewegen, gibt es doch Grund zur Annahme, dass Fernsehserien medienspezifische formale Elemente aufweisen. Auch ihre Komplexität ließe sich durchaus als transmediales Phänomen fassen, ist in ihrer spezifischen Realisierung aber durch mediale Differenzen markiert. Im Folgenden soll eine Definition des Begriffes Komplexität erarbeitet werden, die dazu in der Lage ist, die Spezifik der medialen Form zu berücksichtigen.

K OMPLE XITÄT IM AK ADEMISCHEN Q UALIT Y -T V-D ISKURS Robert J. Thompson, der als einer der ersten den Begriff Quality-TV in die fernsehwissenschaftliche Diskussion eingebracht hat, sprach 1996 in Bezug auf Hill Street Blues (NBC, 1981-1987) vom »complex intertwining of many different story lines« (1996: 70).2 Offen bleibt, wie das Verflechten von Storylines im Detail realisiert wird, damit es als komplex bezeichnet werden kann. Darüber hinaus kann Thompsons Formel auch auf Kinofilme wie Robert Altmans Short Cuts (1993) angewandt werden. In der deutschsprachigen Forschung ist jüngst die weiterführende These geäußert worden, dass »Fragen nach der Ästhetik von Zeitlichkeit […] sich in besonderer Weise [eignen], um der Komplexität neuerer TV-Serien Rechnung zu tragen« (Meteling et al. 2010: 7). Ausgangspunkt dieser Überlegung ist die Praxis einiger Serien, einer neuen Folge kurze Zusammenfassungen des in früheren Episoden Erzählten voranzustellen. Dies, so das Argument, stünde »für eine spezifische Form der Redundanzerzeugung, die der Komplexität der Narrative korrespondiert« (ebd. 8). Dem ist im Prinzip zuzustimmen, doch erneut stellt sich die Frage, wie Komplexität denn damit zu definieren ist. In seinem Aufsatz »Narrative Complexity in Contemporary American Television« (2006) macht Jason Mittell Vorschläge, wie dies geschehen kann.3 Mit Bezug auf David Bordwells »narrational modes« (1985) beschreibt Mittell narrative Komplexität als »at its most basic level a redefinition of episodic forms under the influence of serial narration – not necessarily a complete merger of episodic and serial forms but a shifting balance« (2006: 32). Während die konventionelle episodische Form diejenige sei, die auf Geschlossenheit abziele, zeichne sich die komplexe episodische Form durch Offenheit im Verlauf, durch »ongoing stories« aus. Demzufolge weisen also in erster Linie »serials« bzw. jene Serien Komplexität auf, die Weber und Junklewitz als »Fortsetzungsserien« und Serien mit hoher »serieller Kohärenz« bezeichnen (2008: 23). Die Sitcom, eine Form, 2 | Wobei der Begriff Quality-TV auch schon vor Thompson Verwendung fand, um neben ästhetischen Merkmalen die ökonomischen Zielgruppen-Strategien US-amerikanischer Sender in den 1980er Jahren zu beschreiben, vgl. Feuer/Kerr/Vahimagi 1984. 3 | Vgl. deutsche Übersetzung im vorliegenden Band.

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die eher episodisch strukturiert ist, gewinnt dann an Komplexität, wenn sie die konventionelle episodenbasierte Rückkehr zum Status quo durch Elemente serieller Kontinuität ergänzt oder auch unterläuft. Eine erste Kritik an diesen Ausführungen: Es ist fragwürdig, ob die episodische Serie als die konventionelle bzw. herkömmliche serielle Form bezeichnet werden kann, stellt die kontinuierlich erzählende Soap Opera doch eine frühe wirkmächtige Form im Fernsehen wie schon im Radio dar. Auch im Kino dominierten lange Zeit die – häufig, aber nicht immer – mit Cliffhangern operierenden Film-Serials die Leinwände. Zumindest für das bundesdeutsche Fernsehen kann zudem festgestellt werden, dass Fortsetzungsserien eine Zeit lang durchaus zum konventionellen Repertoire der öffentlich-rechtlichen Sender gehörten, wie etwa die Weihnachtsserien des ZDF zwischen 1979 und 1995, die zumindest bis Ende der 1980er Jahre enorm erfolgreich waren. Als ein weiteres wichtiges Merkmal narrativer Komplexität nennt Mittell den »narrative special effect«: »These moments push the operational aesthetic to the foreground, calling attention to the constructed nature of the narration and asking us to marvel at how the writers pulled it off« (2006: 35). Diese narrativen Spezialeffekte grenzt Mittell von antiillusionistischen reflexiven Formen etwa im modernen Kunstkino ab, die dem Zuschauer die Konstruktion der Fiktion bewusst machen. Stattdessen zeichne sich die »operational reflexivity« (2006: 35) neuerer Serien dadurch aus, dass dem Zuschauer das Spiel mit der Fiktion als Attraktion vermittelt wird, ohne dass letztlich die Wahrnehmung eines fiktionalen Handlungszusammenhangs entscheidend in Frage gestellt würde. Diese Strategie stellt Mittell auch am Beispiel von Sitcoms dar, die zwischen den Formen von »serial« und »series« oszillieren. Die genannte narrative Strategie ist demnach nicht per se an »ongoing stories« gebunden. Sie kann auch in Episodenserien Anwendung finden, wie etwa in CSI: Miami (CBS, seit 2002). Darüber hinaus ließe sie sich auch als erzählerisches Mittel eines mitunter postklassisch genannten Kinos verstehen, das in Abwandlung von Tom Gunnings These vom »cinema of attractions« (1986) das Erzählen einer Geschichte als Reihung von ästhetischen Attraktionen praktiziert. »Narrative special effects« finden sich daher ebenso in Spielfilmen. Auch multiperspektivisch erzählende Kinogeschichten können in diesem Zusammenhang genannt werden.4 In seine letzte These bindet Mittell stärker die Erfahrung des Zuschauers ein: »Narrative complex programs invite temporary disorientation and confusion, allowing viewers to build up their comprehension skills through longterm viewing and active engagement« (2006: 37). In diesem Zusammenhang kommt Mittell auf Computerspiele zu sprechen, aber auch auf »puzzle films«, 4 | Vgl. Steiner 2011. Als noch junges, aber bereits vieldiskutiertes Beispiel ließe sich Christopher Nolans Inception (2010) anführen.

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die beide durch eine »game aesthetic« (ebd. 38) gekennzeichnet seien: eine Ästhetik, die auch in Serien eingesetzt werde. In einem 2009 erschienenen Band über »puzzle films« (Untertitel: Complex Storytelling in Contemporary Cinema) beschreibt Warren Buckland den Typus wie folgt: »A puzzle plot is intricate in the sense that the arrangement of events is not just complex, but complicated and perplexing, the events are not simply interwoven, but entangled« (2009: 3). Die hier implizierte Unterscheidung zwischen »komplex« und »kompliziert« könnte als Ausgangspunkt für eine genauere Beschreibung des Problemfeldes Komplexität dienen.

K OMPLE XITÄT : E IN A NSAT Z Ich stimme Buckland zu, dass »komplex« und »kompliziert« zu unterscheiden sind. In vielen fernsehwissenschaftlichen Texten scheinen die Begriffe aber synonym verwendet zu werden. So spricht Kristin Thompson von »complicated narrative strategies«, wenn sie offenbar komplexe narrative Strategien meint (2003: 93). Komplexe Zusammenhänge können kompliziert sein, müssen aber nicht. Ebenso muss eine komplizierte Frage nicht in jedem Fall komplex sein. Komplexität macht eine klare Antwort schwierig, auf eine komplizierte Frage kann sich aber eine klare Antwort finden lassen. Ein Film von Andy Warhol ist vielleicht kompliziert, weil schwer zu verstehen, erreicht diese Wirkung aber nicht, weil er eine komplexe Narration aufweist. Komplex ist vielmehr das, worauf Warhol mit einigen seiner Filme anspielt, die Wahrnehmung des Zuschauers. Dies erscheint mir wichtig, weil einige neue Serien komplexe Strukturen aufweisen, ohne dass diese kompliziert sind. Der Grund dafür besteht in der Serialität. Was in einer Folge schwierig zu verstehen sein mag, wird in nachfolgenden Episoden aufgelöst. Während sich ein Film wie David Lynchs Lost Highway (1997) – da ist Buckland zuzustimmen – nie ganz auflösen lässt, zeichnet sich eine Serie wie Lost (ABC, 2004-2010) dadurch aus, dass (die meisten) offenen Fragen nach und nach aufgeklärt werden und die besondere Strategie darin besteht, dies in einem kalkulierten Maße zeitlich zu verzögern, um den Zuschauer an die Serie zu binden. Das von Mittell angesprochene »active engagement« der Zuschauer wird kontinuierlich und über einen langen Zeitraum mit neuen Informationen gefüttert. Für weniger erfolgreiche Beispiele unter den neuen Serien ließe sich vielleicht die These aufstellen, dass sie komplex und kompliziert sind: In einer Serie wie Carnìvale (HBO, 2003-2005) wäre Komplexität dann mit einer Kompliziertheit kombiniert, die es vielen Zuschauern erschwert, die Komplexität kognitiv zu reduzieren oder ein Spiel um Lösungswege in Gang zu bringen, weil hierfür einfach zu wenig Hilfestellungen und Anhaltspunkte geliefert werden.

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Komplexitätsreduktion ist bekanntermaßen ein wichtiger Begriff in der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Bei Luhmann, dessen Theorie komplex und kompliziert ist – zumal weil sich in ihr der Begriff des »Einfachen« als Gegenbegriff zu »komplex« nicht findet (2004b: 174) –, ist folgende Definition von Komplexität formuliert: »Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann« (1987: 46). Luhmann leitet diese Begriffsbestimmung von der Beobachtung ab, dass der Zunahme von Elementen, die ein System zusammenhalten, eine Grenze gesetzt ist, »von der ab es nicht mehr möglich ist, jedes Element zu jedem anderen in Beziehung zu setzen« (1987: 46). Abhängig vom Erreichen oder Nicht-Erreichen dieser Grenze spricht Luhmann von zwei Formen der Komplexität: derjenigen, die es noch erlaubt, die Elemente miteinander zu verbinden, und derjenigen, die das nicht mehr erlaubt. Die erste Form der Komplexität ermöglicht es, Relationen zwischen den Elementen herzustellen, die zweite ermöglicht dies nicht mehr.5 Nun handelt es sich bei Luhmanns Begriff der Komplexität um einen zentralen Baustein seiner Gesellschaftstheorie. Der Begriff ist also, trotz wiederholter Anwendung auf die Massenmedien, nicht ästhetisch oder narrativ gemeint. Ich möchte mich aber dem Versuch von Schwanitz anschließen, Luhmann auch auf die ästhetische Struktur von Texten anzuwenden.6 Wenn man dies tut und die Elemente bei Luhmann als die Bausteine einer seriellen Erzählung nimmt – also u.a. die von Thompson genannten Storylines, aber auch Figuren –, dann ist in einem ersten Schritt anzumerken, dass Serien mehr oder weniger Komplexität aufweisen können, weil es immer eine Kopplung von Elementen geben wird. Von niedriger Komplexität wäre eine Serie dann, wenn sie wenige Elemente aufweist – also z.B. nur zwei Storylines und eine entsprechende Anzahl von Figuren –, die in einer geringen Zahl von Relationen zueinander stehen. Davon ausgehend könnte aber auch beim Film mit einem identischen Komplexitätsbegriff gearbeitet werden. Im Unterschied zum Film haben Fernsehserien freilich die Möglichkeit, eine größere Zahl von Elementen (etwa von Figuren) mit einer hohen Verknüpfungskapazität zu integrieren, also: größere Komplexität auszubilden. Im Film wird vergleichsweise selten von dieser Strategie Gebrauch gemacht. Robert Altman gilt als der Meister dieser »pluralen Figurenkonstellationen« (Tröhler 2007), und in den 1990er Jahren wurde infolge von Short Cuts diese Erzählweise einige Jahre populär (z.B. in Paul Thomas Andersons Magnolia, 1999). Die Möglichkeiten des Films, auf diese Weise zu erzählen, sind jedoch begrenzt, und diese Grenze betrifft vor allem die Dimension der Zeit. Nicht umsonst weisen viele Filme mit pluralen Figurenkonstellationen 5 | Vgl. auch Luhmann 2004b: 174. 6 | Vgl. Schwanitz 1990.

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Überlänge auf. »Serials«, die sukzessiv oder prozessual angelegt sind, können diese Erzählweise wesentlich besser zur Anwendung bringen. Dies möchte ich in Beziehung zu Luhmanns Begriff der »Temporalisierung der Komplexität« setzen. Luhmann meint damit »Anpassung des Systems an die Irreversibilität der Zeit« (1987: 77). An einer späteren Stelle in Luhmanns Text findet sich eine Formulierung, die stark an Grundeigenschaften des Seriellen erinnert, wenn er schreibt, dass »temporalisierte Elemente […] von Moment zu Moment neue Situationen [schaffen], in denen Wiederholung oder Veränderung zur Disposition steht« (1987: 77). Beim Film ist diese Möglichkeit durch die begrenzte Laufzeit schwach ausgeprägt. Die Fortsetzungsserie und in einem geringeren Maße auch die Episodenserie hingegen schaffen nicht nur von Moment zu Moment, sondern von Folge zu Folge, von Staffel zu Staffel, neue Situationen, in denen Wiederholung und Variation in Bezug auf die Verknüpfung der Elemente zur Disposition stehen. Es stellt sich für neuere Serien, deren Komplexität im Quality-TV-Diskurs hervorgehoben wird, damit die Frage, wie verhindert wird, dass Komplexität die oben genannte Grenze überschreitet und so die Relationen zwischen den Elementen lockert. An dieser Stelle kommt der Begriff der Komplexitätsreduktion ins Spiel. Für Luhmann ist er untrennbar mit Komplexität verbunden: »Die Komplexität der Welt, ihrer Arten und Gattungen, ihrer Systembildungen entsteht also erst durch Reduktion von Komplexität« (1987: 47). Wie dies vonstatten gehen kann, erläutert Luhmann an einem Beispiel, das gut auf Film und Serie übertragen werden kann: Von Reduktion von Komplexität sollte man […] in einem engeren Sinne immer dann sprechen, wenn das Relationsgefüge eines komplexen Zusammenhangs durch einen zweiten Zusammenhang mit weniger Relationen rekonstruiert wird. […] So bewahrt ein Mythos, beschränkt durch die Möglichkeiten mündlicher Erzählung, die Welt und Situationsorientierung eines Volksstammes. Der Komplexitätsverlust muss dann durch besser organisierte Selektivität (zum Beispiel: gesteigerte Anforderungen an Glaubwürdigkeit) aufgefangen werden. (Luhmann 1987: 49)

Dies lässt sich leicht auf den Westernfilm übertragen. Die Komplexität der amerikanischen Siedlungsgeschichte wird durch einen glaubwürdigen Mythos, den der Frontier – der Grenzregion zwischen Wildnis und Zivilisation – reduziert. Die Westernserie Deadwood (HBO, 2004-2006), so ließe sich sagen, umgeht diese Form der Komplexitätsreduktion, indem der Mythos nicht zur Rekonstruktion eines komplexen Zusammenhangs herangezogen wird, sondern selbst immer wieder in einem Prozess von Folge zu Folge reflektiert wird. Nichtsdestoweniger ist auch hierfür eine Form der Komplexitätsreduktion nötig. Darauf werde ich gleich zu sprechen kommen.

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Bisher wurde der Eindruck erweckt, als ginge es nur um die Quantität von Relationen, wenn von Komplexität die Rede ist, so dass der gewählte Ansatz nicht über die oben erwähnten Äußerungen im Diskurs zu neuen Serien hinausgeht. Doch spricht Luhmann auch davon, dass »Verknüpfungsanforderungen oder Kontextuierungen eines Elements die Qualität eines Elements bestimmen« (2004b: 173). Auch wenn Luhmann von der Qualität eines Elements spricht, soll es im Folgenden nicht um die Frage nach den Qualitäten des Qualitätsfernsehens gehen.7 Entscheidend ist für mich der Begriff der Kontextuierung. Von welchem System und welcher Form sprechen wir nämlich? Es muss die spezifische serielle Form diskutiert werden, die es ermöglicht, Komplexität zu erzeugen, diese aber auch zu reduzieren. Es geht also um die Frage, worin die spezifische Kontextuierung der Elemente, und damit eben ihre Qualität, letztlich aber die Substanz der Komplexität besteht. Bisher wurden in der Diskussion zur Komplexität in Serien mehrere narrative Mittel herausgearbeitet, die Komplexität induzieren. Mein Ansatz besteht darin, grundsätzlicher nach einer Art Erzählkontext zu fragen, der Komplexität bedingt. Meine These lautet, dass sich Serien wie The Sopranos (HBO, 1999-2007), Deadwood, Lost oder In Treatment (HBO, 2007-2010) mit konkret benennbaren Themen oder Diskursen befassen bzw. diese reflektieren.

Z UM B EGRIFF D ISKURS Zum Begriff des Diskurses finden sich zahlreiche Definitionen, nicht zuletzt abhängig davon, in welcher wissenschaftlichen Disziplin er benutzt wird. Selbst Foucault, der den Diskursbegriff wie kein anderer prägte, hat im Verlauf seiner Karriere mehrere Definitionen geliefert. Die Definition, die ich hier verwende, findet sich in der Archäologie des Wissens, einem Buch, das in vieler Hinsicht eine systematisierte Theorie seiner in konkreten Studien zuvor verstreut auftauchenden Darstellungen der diskursanalytischen Vorgehensweise bietet. Hier beschreibt er den Diskurs an einer Stelle als: »einmal allgemeines Gebiet aller Aussagen, dann individualisierbare Gruppe von Aussagen, schließlich regulierte Praxis, die von einer bestimmten Zahl von Aussagen berichtet« (1969: 116). Die Aussage ist demnach die »elementare Einheit des Diskurses« (ebd. 117). Unter Aussage ist eine Äußerung zu verstehen, ein »Akt der Formulierung« (ebd. 120). Aussagen entstehen durch das Sprechen oder Schreiben zu einem Objekt oder zu einem Thema, das in seiner spezifisch hervortretenden Gesamtheit eine derartige Rahmung erfährt, dass von einer diskursiven Formation gesprochen werden kann. Eine diskursive Formation, so Sara Mills, kann »auf7 | Vgl. hierzu mit ähnlicher Argumentation zum Verhältnis von Quantität und Qualität den Beitrag von Jahn-Sudmann/Kelleter im vorliegenden Band.

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grund des systematischen Vorkommens von Ideen, Meinungen, Konzepten, Denk- und Verhaltensweisen innerhalb eines spezifischen Kontextes entdeckt werden – und aufgrund der Effekte, die diese Denk- und Verhaltensweisen produzieren« (2007: 19). Foucault sah die Diskursanalyse nicht als Methode der Interpretation. Die Aussagen einer diskursiven Formation sind weniger über hermeneutische Vorgehensweisen zu erschließen als in Form einer Beschreibung. So geht Foucault von einer »Evidenz« (1981: 159) der Aussage aus, womit er die Möglichkeit von Interpretationsspielraum, etwa der Doppeldeutigkeit sprachlicher Aussagen, zwar nicht abstreitet, aber nicht zum Gegenstand der Diskursanalyse erklärt. Diese Diskurshaftigkeit glaube ich in einigen vorzugsweise amerikanischen Serien am Werk zu sehen. Dabei soll nicht behauptet werden, dass jede in Frage kommende Serie den Diskurs hinsichtlich seiner Komplexität in gleichem Umfang seriell erfasst. Auch die Qualität der Auseinandersetzung mit dem Diskurs steht hier nicht zur Debatte. In einem ersten Schritt möchte ich vielmehr zeigen, dass es Serien gibt, die von Folge zu Folge, von Staffel zu Staffel, immer mehr Wissen zusammentragen und in Wechselwirkung treten lassen, und dass sie durch ihre Serialität dazu imstande sind, diesen Akt der Wissensproduktion selbst audiovisuell darzustellen. Sowohl bezüglich der auditiven als auch der visuellen Ebene soll gleichermaßen von Aussagen die Rede sein, die immer wieder Bezug zum zentralen Diskurs nehmen.8 Die Relevanz der auditiven Ebene möchte ich hervorheben, weil sie im gegenwärtigen Quality-TV-Diskurs kaum eine Rolle spielt. Es ist aber auffällig, dass die Quantität des Dialogs in vielen neuen Serien im Vergleich zu früheren nicht abgenommen hat, wohl aber das Wie des Dialogs sich verändert, und zwar nicht nur im Sinn einer drastischen Sprache – wie es Marc Leverette bereits im Titel seines Aufsatzes »Cocksucker, Motherfucker, Tits« in einer von ihm mitherausgegebenen Aufsatzsammlung zu HBO veranschaulicht (2008). Vielmehr finden sich häufig Dialoge, die in unterschiedlicher Art und Weise als Aussagen zu einem Diskurs verstanden werden können. Das gilt bereits für The Simpsons (FOX, seit 1989). Im Prinzip eine »series«, die Strukturen der »serial« integriert, zeichnet The Simpsons eine ganze Reihe von Figuren als symptomatisch für die amerikanische Gegenwartsgesellschaft; viele Folgen, natürlich nicht alle, können fast als animierte Diskursanalysen verstanden werden. Es gibt nahezu keinen Diskurs, der in dieser Serie nicht zur Sprache kommt. Ich wage zu behaupten, dass The Simpsons als Bricolage aller Bereiche der Populärkultur längst selbst wie ein Archiv, ein Zettelkasten (um den Bezug zu Luhmann nicht abbrechen zu lassen) für Erzählungen aller Art fungiert. 8 | Dabei wird selbstverständlich nicht abgestritten, dass Serien auch jenseits dieser narrativen Strategie rezipiert und interpretiert werden können.

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Auch Deadwood bringt einen Diskurs buchstäblich zur Sprache. Die von David Milch entwickelte Westernserie spielt in dem titelgebenden historischen Ort Deadwood und versammelt ein enorm umfangreiches Personal, das zum überwiegenden Teil auf historischen Personen beruht. Die diskursive Formation in Deadwood ist der Mythos des Wilden Westens, dessen Kern immer wieder mit der Opposition Wildnis/Zivilisation beschrieben wurde. Indem das stark auf serielle Kohärenz ausgelegte »serial« fast ausschließlich in einer Siedlung spielt, wird der Narration eine räumliche Beschränkung auferlegt, die notwendig ist, um die große Zahl an dramaturgischen Elementen mit einer hohen Verknüpfungskapazität auszustatten, ohne dass die Aufnahmekapazität des Zuschauers überfordert wird. Diese räumliche Beschränkung fungiert als ein Mittel der Komplexitätsreduktion. Leverette geht im oben genannten Aufsatz zur Sprache der HBO-Serien vor allem auf Deadwood ein. Doch jenseits des gewiss intendierten Tabubruchs ist die Sprache der Serie geprägt von einer enorm hohen Vielfalt im Ausdruck und einem hohen Reflexionsniveau. Damit wird die der Serie innewohnende Authentizität – oder wie Milch es ausgedrückt hat: »reality come alive« (zit. Lavery 2006: 5) –, die ja eine Abkehr vom klassischen US-amerikanischen Western darstellt, ihrerseits unterlaufen. Man beachte, dass Strategien der filmischen Authentizitätserzeugung schon seit den 1960er Jahren, spätestens unter dem Einfluss des Italo-Western, in den US-amerikanischen Western eingeflossen sind, vor allem als Mittel der Dekonstruktion des Mythos. Neu in Deadwood ist die Kombination dieser bekannten ästhetischen Strategien mit audiovisuellen Diskursfragmenten, die immer wieder neue Reflexionen auf den Wilden Westen liefern, bis der Zuschauer, als Beobachter eines komplexen Mediengebildes, zunehmend den Eindruck gewinnt, tatsächlich gesichertes Wissen zu erlangen. Dergestalt geht es in der Serie um den Mythos im Brennpunkt von Wahrheit und Wissen. Die Sicht auf den Wilden Westen ist sowohl jene, die infolge der Frontierthese Frederick Jackson Turners (1893) den Diskurs auch im Westernfilm geprägt hat, als auch jene, die, etwa von der Historikerin Patricia Nelson Limerick vertreten, den Wilden Westen als einen Raum versteht, der weniger von weißen Heldenfiguren als von den multiethnischen Akteuren einer mühevollen und hoch problematischen Kolonisation geprägt war.9 Dabei gelingt es der Serie immer wieder, Aussagen zu kombinieren, die eine historische Wahrheit durch eine andere ergänzen. So findet sich in einer Ansprache des Bar- und Bordellinhabers Al Swearengen, der trotz der pluralen Figurenkonstellation im Zentrum des Geschehens steht, folgende Aussage zu seiner Entscheidung, die Vergeltung einer angeblichen Mordtat von Indianern aus strategischen Gründen auf den folgenden Morgen zu vertagen: »God rest the souls of that poor family. And pussy’s half price, next 15 minutes.« (1.2) Etwas vereinfachend ließe sich sagen, 9 | Vgl. Limerick 1987.

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dass die erste Aussage dem Mythos des klassischen Western entspricht und die zweite neueren Erkenntnissen zur amerikanischen Historie, wie sie sich auch bei Limerick finden.10 Auch in The Sopranos gibt es viele Beispiele für Figurenrede, die als diskursive Aussagen betrachtet werden können. Das folgende Beispiel stammt aus der siebten Episode der ersten Staffel, in der Tony Soprano mehrfach bei seiner Therapeutin Dr. Melfi gezeigt wird und sehr viel mit Rückblenden in die Kindheit Tony Sopranos gearbeitet wird. Am Ende einer Therapiesitzung findet sich folgende Dialogpassage: Tony: It’s in the blood. It’s hereditary. Melfi: Genetic predispositions are only that. Predispositions. It’s not a destiny written in stone. People have choices. Tony: She finally offers an opinion. Melfi: Well, they do. You think that everything that happens is preordinated? You don’t think that human beings possess free will? Tony: How come I’m not making fucking pots in Peru? You’re born to this shit. You are what you are. Melfi: Within that there’s a range of choices. This is America. Tony: Right. America.

Die Therapiesitzungen und Rückblenden in der Episode vermitteln den Zuschauern natürlich Informationen über die Figuren, über das Leben Tony Sopranos als Kind und sein Verhältnis zu seinem Vater. Das ist eine wesentliche Funktion des Dialogs. Zugleich wird in den zitierten Repliken eine fundamentale Aussage im Rahmen des Diskurses der Serie getroffen: zur Mafia (»it’s in the blood«, d.h. in die Mafia wird man hinein geboren und man kommt nicht wieder heraus) im Kontext positiv konnotierter amerikanischer Mythen (»people have choices«), die auf die Versprechen nationaler Identität verweisen, zugleich aber durch die Aussprache des Schlusswortes von Tony (»America«) in Zweifel gezogen werden. Komplex wird dieser Zusammenhang dadurch, dass er die ganze Serie durchdringt. Allein schon aus der Tatsache, dass Tony eine Therapie macht – was nicht dem Männlichkeitsideal der Mafia entspricht –, kann das Diskursfragment »Therapie« extrahiert werden, das mit mehreren Elementen innerhalb des filmischen Kosmos in Wechselwirkungen tritt und durch sprachliche Aussagen permanent zu dem Zentraldiskurs »Mafia und Gesellschaft« in Bezug gesetzt wird.

10 | »In towns dependent on mining, cattle, or military posts, with a substantial population of male workers, prostitution was essential to the town’s prosperity.« (Limerick 1987: 51)

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In The Sopranos und Six Feet Under (HBO, 2001-2005) – einer Serie zum Diskurs des Todes und des Sterbens – wird Komplexität, wie häufig in neueren Serien, durch die Kombination mit einem gängigen Fernsehgenre, hier: der Familienserie und der Soap Opera, reduziert. In Lost wiederum entsteht Komplexitätsreduktion, indem die Handlung als Spiel, als Puzzle angelegt ist. Das Publikum, als Teil des Mediensystems, kann selbst die Komplexität regulieren und trägt damit zur Autopoiesis der Narration bei. Und bei In Treatment geht es um den Diskurs der Psychotherapie, und das therapeutische Setting bestimmt nahezu komplett den seriellen Raum, so dass der therapeutische Dialog zum zentralen narrativen Element avanciert.11 Selbstverständlich geht nicht jede Serie auf die gleiche Art und Weise mit dieser Dialektik von Narration und Diskurs um. Es ist auch nicht so, dass die Serien, um die es mir geht, das Erzählen einer fiktiven Geschichte mit Figuren, Konflikten, Wendepunkten, tragischen Ereignissen außer Acht lassen. Wichtig ist mir, eine serielle Erzählweise zu bestimmen, die, um wieder zu Luhmann zu kommen, dem Medium Fernsehen eine bestimmte »Kopplung seiner Elemente« (1995: 169) verabreicht, womit die Möglichkeiten des Mediums, das durch das Internet schon fast überholt galt, regeneriert werden.12 Gleichzeitig, oder mit geringfügiger Verzögerung, gelingt es der komplexen Fernsehserie, ein anderes Medium, nämlich die DVD, zu formen. Regeneration besteht hier auch darin, das früher gerne behauptete und immer wieder in Experimenten versuchte interaktive Potential des Fernsehens zu aktivieren. Ich glaube, dass dies in einigen Fällen mit dem Mittel des Spiels gelingt.

S PIEL Zur Erläuterung massenmedialer Unterhaltung schlägt Luhmann vor, sich zur Differenzierung zwischen unterschiedlichen Realitäten am »Modell des Spiels« (2004: 96) zu orientieren, und spricht in diesem Zusammenhang über Spiele gar als Episoden. Als Archäologe auf der Suche nach einer brauchbaren Theorie glaubt man einem weiteren Baustein auf die Spur gekommen zu sein. Aber vielleicht entsteht daraus auch nur eine Idee. Diese Idee ist zugegebenermaßen nicht ganz neu.13 Sie korrespondiert mit Mittells Ausführungen, wonach in Fernsehserien insofern eine Spielerfahrung auszumachen sei, als die Zuschauer eingeladen würden, »to play along with the creators to crack the interpretive codes to make sense of their complex narrative 11 | Vgl. Klein 2008. 12 | Vgl. Luhmann 1995: 170. 13 | Auf die mögliche Relevanz des Spielbegriffs für den Forschungsbereich Fernsehserie hat schon Hoff (1992) hingewiesen.

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strategies« (2006: 38). Wie erwähnt, ist diese »game aesthetic« auch im Kino zu beobachten. Thomas Elsaesser spricht diesbezüglich vom »Mind-Game Film«: There are films in which a character is being played games with, without knowing it or without knowing who it is that is playing these (often very cruel and even deadly) games with him (or her) […] Then, there are films where it is the audience that is played games with, because certain crucial information is withheld or ambiguously presented. (2009: 14)

Die Serie, die die beiden genannten Kategorien am auffälligsten, ja kongenial zusammenbringt, ist ohne Frage Lost: eine Serie, die fast den Eindruck eines Computerspiels mit Missionen und neuen Levels erweckt, an dessen Verlauf der Zuschauer partizipiert, ohne dass ihm allerdings Tastatur, Maus oder Joystick zur Verfügung stehen, um aktiv einzugreifen. Es geht um Spiele, die die Geschicklichkeit des Geistes fordern. Insofern könnte man auch von Denksport sprechen. Darin besteht die eingeforderte Partizipation. Die »utopischen Konzeptionen des interaktiven Fernsehens« (Neitzel/Nohr 2010: 426) räumen das Feld für einen anderen Typ Fernsehen, der dem Zuschauer Handlungsvollzüge offeriert, die aus dem Nachdenken über das Gesehene ein Fortschreiben des Gesehenen in diversen Kommunikationsrahmen (vor allem dem Internet) machen.14 Da Spielen auf Interaktion beruht, bezieht der Spielbegriff zum einen den Zuschauer in die Analyse ein. Zum anderen besteht eine narrative Funktion der Implementierung von Spielstrukturen in Serien darin, die Komplexität der Diskurse zu reduzieren. Bereits die spielerische Umsetzung von gesellschaftlichen Diskursen in Form fiktionaler Handlungen kann in diesem Zusammenhang genannt werden. Bei einer Serie wie House (FOX, seit 2004), die ansatzweise mit meinem Ansatz kompatibel ist, wird die Komplexität des medizinischen Diskurses, der sich in einer Vielzahl dem Zuschauer gänzlich unbekannter Fachausdrücke manifestiert, durch die Krimistruktur (Dr. House als Detektiv des Körpers) reduziert und gleichzeitig die Partizipation des Zuschauers in Form des Mitratens aktiviert.15 In The Sopranos besteht die spielerische Partizipation für den Zuschauer darin, dem Geheimnis hinter den Panikattacken Tony Sopranos auf die Spur zu kommen. Ebenso geht es in In Treatment darum,

14 | Vgl. in diesem Band auch den Artikel von Bendix/Hämmerling/Maase/Nast. 15 | Auch wenn von House eine Computerspiel-Version auf den Markt kam, können transmediale Verwertungsketten von der Serie zum Computerspiel nicht automatisch als Nachweis dafür gesehen werden, dass die betreffende Serie das spielerische Element bereits als integrierten Baustein enthält. Siehe zu House auch die Ausführungen bei Fahle im vorliegenden Band.

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gemeinsam mit Dr. Paul Weston den psychischen Problemen der Patienten auf die Spur zu kommen.

F A ZIT Die medienwissenschaftliche Relevanz des hier vorgestellten Ansatzes besteht darin, bestimmte Bausteine der Sozialtheorie Niklas Luhmanns, die sich auch in seiner Medientheorie finden, mit den derzeit laufenden Diskussionen um den Diskursbegriff und den Spielbegriff mit Blick auf serielle Fernseherzählungen zu verbinden. Die Anwendungsmöglichkeiten von Luhmann und Foucault auf Fragestellungen der Serialität sind dabei weiter zu reflektieren, auch vor dem Hintergrund, dass in den Theorien beider der Begriff der Serie einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Des Weiteren könnten andere spieltheoretische Ansätze erprobt werden, wie etwa Schlegels Ästhetik des Spiels, die ein »Verweisungsspiel der Teile als Selbstreflexion« (Sonderegger 2000) impliziert. Wichtig erscheint mir, noch einmal darauf hinzuweisen, dass es sich nicht um einen Ansatz handelt, der serielle Komplexität in seiner Gänze umspannt. Es geht darum, bestimmte Formen serieller Komplexität zu theoretisieren und daraus ein Instrumentarium für die Analyse bestimmter Serienformen zu entwickeln. Serielle Komplexität wird hier verstanden als Produktion und Diskussion von Wissen über unterschiedliche gesellschaftliche Themen und Diskurse in Form von Erzählungen, die in erster Linie serielle Kohärenz aufweisen. Das Thema, so meine zentrale These, ist der Diskurs, und die Serialität stellt die Struktur bereit, um der Komplexität der Diskurse in einem fortgesetzten Aufeinanderschichten von Diskursfragmenten gerecht zu werden. Aus dieser Perspektive betrachtet, ließe sich ein Teil der amerikanischen Serienproduktion in den letzten etwa zwölf Jahren auch als eine Geschichtsschreibung der USA lesen. Dabei ließe sich mit Blick auf die derzeit gängigen Medienträger weiter argumentieren, dass die DVD dem Rezipienten einen Großteil der Verknüpfungskapazität selbst in die Hand gibt. Die Rezeption der DVD unterläuft dergestalt die fernsehtypische Rezeption von Serien im Rahmen des so genannten »televisual flow«. Sie ermöglicht ein detailliertes und spezifisches Sehen und Hören, einen spielerischen – auch hier lässt sich der Spielbegriff integrieren – Umgang mit dem audiovisuellen Material.

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Folgen und Ursachen Über Serialität und Kausalität Lorenz Engell

K AUSALITÄT UND M EDIALITÄT Eine Leitfrage medialer Historiographien ist diejenige nach den geschichtlichen Verursachungsverhältnissen, nach der Kausalität als einem Merkmal des Historischen. Gehen mediengeschichtliche Einträge konsekutiv und letztlich kausal auseinander hervor? Ist Geschichte allgemein und Mediengeschichte im Besonderen als wie immer verzweigte, vielgestaltige Kausalkette zu fassen? Oder spielt Kausalität in der Geschichtlichkeit gar keine, oder eine erst nachträglich – und mit welchen medialen Mitteln – zugeschriebene Rolle? Verursachen die diskursiven und nicht diskursiven Praktiken im Umgang mit Medien und in der Bezugnahme auf sie in ihrem komplizierten Zusammenspiel überhaupt erst das, wovon die Mediengeschichte handelt, nämlich: Medien?1 Welche konditionierenden oder determinierenden Funktionen nimmt dabei speziell die Technik als dingliche und apparative Grundlage aller Medien ein?2 Strukturell analoge Fragen nach Verursachungs- und Hervorbringungsbeziehungen tauchen aber auch an anderen Stellen des medienwissenschaftlichen Forschungsinteresses auf. Denken wir an die Komplexe der verteilten Intelligenz oder der vernetzten Kreativität. Wenn zur Intelligenz auch die Kreativität zählt, was bedeutet es dann, von »verteilter Kreativität«, also verteilter Schaffenskraft und mithin Urheberschaft zu sprechen?3 Welche komplizierten Felder können für die Hervorbringung, die Entstehung des Neuen, in Anspruch genommen werden? Welche Eigenfunktion nehmen dabei die Medien ein, die die Distribution, Rekonfiguration und Redistribution der verteilten Urheberschaft schließlich bewerkstelligen? Und wie kann die kreative Kausierung des

1 | Vgl. Vogl 2001. 2 | Vgl. Kittler 1986. 3 | Vgl. Bairlein et al. 2010.

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Neuen unterschieden werden von einer mechanischen, absehbaren, immer schon vorherbestimmten Ursachenwirkung? Wenn man schließlich im Zusammenhang mit der jüngeren Akteur-Netzwerk-Theorie interessiert ist an Fragen der Handlungsmacht und ihrer Verteilung über Menschen, Dinge und Zeichen unter den Bedingungen moderner Medien, dann wird man ohnehin immer wieder auf die Frage nach der Kausalität zurückgeworfen. Handlungsmacht heißt ja nichts anderes als die Fähigkeit, Wirkungen zu erzielen, Effekte zu zeitigen, Folgen und vor allem Veränderungen zu verursachen.4 Zu allerletzt könnte man sogar an den ganz traditionellen kritischen Diskurs über Medien, vor allem Massenmedien, denken, der sich noch immer an der angenommenen Wirkmacht, erneut der Verursachung also, am »Einfluss« der Medien auf was auch immer – Lernverhalten, Überzeugungen, Sittlichkeit, Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen, politische Kulturen, gesellschaftliche Machtverteilungen – abarbeitet.5

K AUSALITÄT ALS MEDIENPHILOSOPHISCHES P ROBLEM DES F ERNSEHENS So sind Medialität und Kausalität eng ineinander verschränkt, sei es im Hinblick auf die Historizität, auf die Kreativität oder auf die Wirkungsmächtigkeit der Medien. Wenn das zutrifft, wenn Kausalität und Medialität so eng aufeinander verweisen, dann müssen wir das untersuchen. Aber das Feld ist natürlich immens, unüberschaubar. Die Begriffs-, Ideen- und Diskursgeschichte der Kausalität, die vor allen Dingen wissenschaftlichen Praktiken der Verursachung, aber auch ihre ästhetischen und alltagsphänomenalen Erscheinungsformen wären vorab systematisch zu klären. Das alles kann Jahre in Anspruch nehmen. Deshalb möchte ich das Feld massiv einschränken. Als Medienphilosoph bin ich auch nur in einem winzigen Teilbereich des Problems überhaupt kompetent. Denn als Medienphilosoph muss ich natürlich immer schon rekursiv annehmen, dass Medien und Medienpraktiken mitwirken an allen Erscheinungen, die sie hervorbringen, an allen Konzepten und Gedanken, die sie initiieren oder ausdrückbar und zirkulierbar machen. Das aber heißt nichts anderes, als dass Medien immer schon – mehr oder weniger – kausal sind für das, was wir unter Kausalität verstehen oder praktizieren. Medien schreiben Kausalbeziehungen fest oder zumindest aus, und stellen sich dann selbst unter das von ihnen verkörperte oder ins Werk gesetzte Kausalprinzip in seiner je spezifischen Ausprägung. Ein Medium wie 4 | Siehe Latour 2002, Cuntz 2008. Zur Akteur-Netzwerk-Theorie in Bezug auf populäre Serialität vgl. auch den Beitrag von Kelleter/Stein im vorliegenden Band. 5 | Siehe im vorliegenden Band vor allem den Beitrag von Hickethier.

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das Fernsehen etwa birgt selbst ein Konzept und eine Praktik der Kausierung und trägt sie aus. Medienphilosophisch relevant ist deshalb nicht die Frage: Was ist Kausalität, und wie hängt sie mit der Medialität zusammen? Medienphilosophisch relevant ist vielmehr die Frage: Was versteht ein bestimmtes Medium unter Kausalität, und wie setzt es Kausalität ins Werk? Genau dieser Frage will ich im Bezug auf das Fernsehen nachgehen; das Fernsehen soll es sein, erstens, weil es mich nun einmal interessiert; zweitens, weil wir über das Fernsehen, gemessen an seiner enormen Bedeutung, besonders wenig wissen, und drittens, weil gerade das Fernsehen immer unter die Vermutung herausragender Wirkmacht gestellt worden ist. Aber selbst diese Frage ist noch viel zu weit gestellt und kann und muss noch einmal verengt werden. Ich gehe nämlich davon aus, dass das Fernsehen nicht nur auf das Engste und Komplizierteste mit der Kausalität verwoben ist und ein spezifisches Modell der Kausalität seinerseits kausiert, wie indirekt und verteilt auch immer. Vielmehr nehme ich, darüber hinausgehend, an, dass dem Fernsehen – wie eigentlich allen Medien – auch immer darum zu tun ist, herauszufinden, wie es selbst funktioniert, welches seine Möglichkeiten und Entwicklungsperspektiven sind, wie es sich zu anderen Medien verhält. Wenn die Kausalität ein besonders wichtiger Grund und zugleich ein besonders wichtiges Produkt des Fernsehens ist, dann hat das Fernsehen allen Grund, an sich selbst zu erforschen und zu entfalten, worum es in dieser Kausalität geht oder gehen könnte – und mit ihr zu experimentieren. Fernsehen lesbar zu machen als Erforschung und Erfahrung der Kausalität, das wäre also der medienphilosophische Zugriff auf das Problem von Kausalität und Medialität. Tatsächlich gibt es, so möchte ich vorschlagen, einen Ort, an dem das Fernsehen in privilegierter Weise solche Experimente und Explorationen vornimmt, einen Ort, an dem es unausgesetzt seine eigenen Konzepte und Praktiken der Kausalität verhandelt. Dieser Ort ist die Fernsehserie. Deshalb möchte ich nun in zwei Hauptschritten die Fernsehserie als Studie zur und Experiment mit der Kausalität betrachten. Der erste Schritt wird zunächst versuchen, den Zusammenhang zu klären, der die Serienform überhaupt mehr oder weniger zwingend mit der Kausalität verbindet, qua Form nämlich. Es wird eine weitgehend theoretische, begriffliche Argumentation werden. Im zweiten Schritt wird dann anhand konkreter Fälle die Aus- und Umformung untersucht, der einzelne Serien das Kausalitätsprinzip, dem sie qua eigener Form unterworfen sind, ihrerseits unterwerfen.

»A RT AND A GENCY«: V OM O BJEK T ZUM I NDE X In seinem instruktiven Buch Art and Agency hat der Anthropologe Alfred Gell eine originelle Theorie des Kunstobjekts vorgeschlagen, in der das Kunstobjekt

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hauptsächlich über seine Eingebundenheit in Kausalbeziehungen begreifbar gemacht wird.6 Es gebe, so Gell, eine Klasse von Objekten, die in der westlichen Kultur meist als Kunstobjekte oder kunstnahe Objekte gefasst würden – wie etwa Designgegenstände –, die aber auch in anderen Kulturen in ähnlicher Weise, beispielsweise als magische, rituelle oder religiöse Objekte vertreten seien. Es sind Objekte, die Verursachungsbeziehungen thematisieren. Ganz gleich, welche Funktionen sie im Übrigen einnehmen und erfüllen, oder welcher Gebrauch von ihnen gemacht wird, oder wie ihre Gestalt und ihr Aussehen bestimmt sind, sie präsentieren immer ihr eigenes Hervorgebrachtsein, ihr Vorhandensein als Folge einer oder vielfältiger Ursachen. Zumindest werfen sie die Frage nach ihrer Herkunft und ihrem Gemachtsein auf. Oder aber sie vergegenwärtigen ihre Fähigkeit, wiederum etwas hervorzubringen, Wirkungen, Folgen zu zeitigen. Jedes Kunstwerk begreifen wir als Artefakt, mindestens als Folge einer Entscheidung oder einer Kette von Entscheidungen. Und jedem Kunstwerk schreiben wir zu, potentiell Wirkung zu zeitigen, auf Betrachter und Benutzer oder auf andere Künstler oder Kunstwerke. Genauso können magische Objekte als verursacht, eigens hervorgebracht, als Instrument eines Willens gelten; und sie können ihrerseits als wirkmächtig angesehen werden. Um eine übergreifende Kategorisierung zu ermöglichen, die nicht nach den Bezirken von Kunst, Magie, Technik und Religion differenziert, bezeichnet Gell solche Objekte als Indices. Ein Index, so Gell, ist ein Objekt, das Verursachungsverhältnisse thematisiert.7 Verursacher müssen dabei keineswegs Menschen oder anthropomorphe Personen mit Intentionen sein. Der Index, also etwa das Kunstwerk, kann völlig unintendierte, nur in ihm selbst begründete Wirkungen hervorbringen. Gell zieht es deshalb vor, von »Agenten« und »Patienten« zu sprechen statt von Subjekten und Objekten. Der Index ist Agent, insofern er wirkt, und Patient, insofern er Wirkung ist oder erfährt. Ebenso kann ein Urheber Agent sein, aber auch Patient, wenn er beispielsweise im fremden Auftrag, dem einer höheren Macht handelt, willenlos, unwillentlich oder gar gegen seinen Willen. Und genau so kann auch ein Benutzer, ein Adressat des Index, Patient sein, auf den das Kunstwerk oder magische Objekt einwirkt, aber auch Agent, auf den hin nämlich, wie auf einen mäzenatischen Auftraggeber oder wie auf einen Kunden mit vermuteten Vorlieben, der Index gestaltet wird. Und schließlich kann der Index all dies auch noch repräsentieren. Er kann also sowohl seinen Urheber, den Agenten, als auch die von ihm unter Einfluss gesetzte Instanz, den Patienten, vergegenwärtigen oder verkörpern. Gell spricht hier, erneut, um vorzeitige Subjekt-Objekt-Relationierungen auszuschalten, vom »Prototypen«, den der Index verkörpern könne. Der Geist etwa, oder der Urahn, in dessen Auftrag es unterwegs ist, kann das magische Objekt auch be6 | Vgl. Gell 1998. 7 | Vgl. ebd. 13.

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herbergen oder bezeichnen, und das Kunstwerk kann den Stifter oder Auftraggeber darstellen, oder gar den Künstler oder den Betrachter. Oder es kann die Verursachungsmacht auf das Dargestellte, den Prototypen selbst, übertragen, so als machte uns die Landschaft selbst auf dem Gemälde melancholisch oder der schöne Körper auf der Leinwand selbst begehrlich, und nicht jeweils die Abbildung. Der theoretische und ästhetische Diskurs zu technischen Bildern – zu Photographie, Film und Fernsehen – ist genau mit solchen Abwägungen immer und immer wieder neu befasst. Die anthropologische Argumentation Gells kann ich hier nicht entfalten, mich interessiert seine logisch-formale Konstruktion. Denn Gell besteht umsichtigerweise darauf, dass all diese Thematisierungen der Verursachung reine Zuschreibungsphänomene sind.8 Ein Index ist also keineswegs ein Objekt, das tatsächlich verursacht wurde und tatsächlich Wirkung zeitigt. Darüber können wir niemals etwas wissen. Aber es ist ein Objekt, dem wir Gemachtheit und/ oder Macht zuschreiben. Kausalität ist für Gell eine reine Zuschreibungskategorie oder Zuschreibungspraxis. Ob ein Kunstwerk tatsächlich gestaltet und verursacht wurde oder nicht, und von wem, das ist im Grunde, aller wissenschaftlichen und kunstkritischen Diskussion darüber zum Trotz, irrelevant, solange ihm diese Qualität zugeschrieben wird. Und dass ein magisches Objekt vielleicht völlig wirkungslos ist, widerstreitet nicht der Tatsache, dass ihm solche Wirkungsmacht dennoch attestiert wird. Kausalität ist demnach überhaupt keine Frage »objektiver« oder »empirischer« Sachverhalte, sondern eine reine Zuschreibungskategorie, die eine Ordnung in die Welt projiziert. Diese Ordnung, die im Objekt operativ wird, die Patienten und Agenten unterscheidet und sie auf Indices, Prototypen, Benutzer oder Adressaten und Expedienten umrechnet, erlaubt eine höchst flexible, variable und auch rekursive Handhabung der Welt durch die Handhabung der Objekte. Die entscheidende Frage bei all dem ist natürlich, wie es denn wiederum zur Zuschreibung von Handlungs- und Verursachungsmacht kommen kann. Wieso schreiben wir einem Objekt all diese Funktionen des Index und damit die ganze Grammatik oder gar Episteme von Agent und Patient zu? Wie kommen wir dazu? Wieso werden bestimmte Objekte dafür in Anspruch genommen, andere nicht? Hat das ausschließlich mit kulturellen Konventionen, sozialen Mechanismen zu tun, oder auch mit beobachteten – und möglicherweise schließlich wiederum zugeschriebenen – Eigenschaften der jeweiligen Objekte? Auf diese zentrale Frage gibt uns Gell keine Antwort, aber er gibt uns einen Hinweis darauf, wo wir nach einer Antwort suchen können. Dieser Hinweis wird uns direkt zur Serialität führen: Ausschließlich, so möchte ich im nächsten Schritt zeigen, solche Objekte, die, in welcher Weise auch immer, in Serien gestellt sind und die, wie auch immer genau, innerhalb von Serien fungieren, eignen 8 | Ebd. 35ff.

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sich zur Zuschreibung von Kausalität. Das wird deutlich, wenn wir Gells mehr oder weniger intuitive Begrifflichkeit ernst nehmen und solche Verursachungsobjekte als Indices, als Index in einem präzisen Sinn, betrachten, nämlich im Rahmen der Zeichentheorie und der Logik Charles Sanders Peirce’, der diesen Terminus eingeführt hat.

D ER DOPPELTE I NDE X Peirce bestimmt den Index tatsächlich als einen besonderen Zeichentyp, der auf das Engste mit Kausalrelationen verbunden ist. In seinem zerklüfteten Gesamtwerk gibt er an mindestens drei Stellen drei verschiedene, aber letztlich miteinander zusammenhängende Bestimmungen des Index. Der Index ist für Peirce zunächst ein Zeichen, das »wie ein zeigender Finger eine reale physische Kraft, die der eines Magnetiseurs ähnlich ist, auf die Aufmerksamkeit ausübt und auf ein partikuläres Sinnesobjekt lenkt« (Peirce 1885: 256). Beispiele für Indices sind bei Peirce immer wieder: die Wetterfahne, deren Stellung vom Wind ursächlich erzeugt wird und die zugleich die Richtung eben dieses Windes anzeigt, und das Wetterhäuschen, auf das der Luftdruck kausal einwirkt und das diesen dann bezeichnet. Weitere prominente Fälle sind Rauch als Folge und Zeichen des Feuers, die Relation von Donner als Folge und Blitz als Ursache, aber auch von Blitz als sichtbarer Indizierung der atmosphärischen Entladung. Entscheidend ist Peirce’ Hinweis auf die Photographie als Index dessen, was sie abbildet und was die Photographie physisch ausgelöst habe. Im Sinne Gells könnte man hier einen Fall von Prototypie erkennen: Das Photo bildet seine Ursache ab. Weiter und indirekt zählt Peirce zu den Indices die Weg- und Landmarken, dann sprachliche Bezeichnungen wie »hier«, »jetzt«, »ich«, aber auch alle anderen Pronomina usw. Von dem Objekt, auf das der Index die Aufmerksamkeit lenkt – dem Weg, der abgebildeten Person, dem Feuer, der Windrichtung – vermittelt der Index keinerlei Information außer derjenigen seines bloßen Vorhandenseins oder Angesprochen- und Gemeintseins. Er »weiß« nichts über das Objekt, außer, dass es »da« ist. Peirce spricht deshalb von einer »existenziellen Relation« (eher als einer Kausalbeziehung). Wie aber funktioniert der Index bei Peirce? Wie ist er möglich? Er wirkt, so Peirce, weil er eine Eigenschaft hat, die er ohne das Vorhandensein oder die Existenz des Objekts nicht hätte. Wäre die photographierte Person nicht da, vor der Kamera, hätte auch das Photo ein anderes Aussehen. Wehte der Wind aus anderer Richtung, wiese auch die Wetterfahne dorthin. Der Index hat diese Eigenschaft, darauf besteht Peirce allerdings, auch dann, wenn er gar nicht aufmerksamkeitsheischend funktioniert, z.B. nicht »gelesen« wird. Sie ist also zunächst gleichsam naturgesetzlich mit dem Index verbunden, nicht kulturell. Diese Unterscheidung wiederum nimmt Peirce jedoch wieder zurück, in einer

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an Schopenhauer erinnernden Bewusstseinsontologie. Im Index wirke, so Peirce, ein »duales Bewusstsein«, das zugleich das Bewusstsein selbst auf etwas ihm Äußeres und von ihm Unabhängiges hin überschreite, nämlich dasjenige eines »Willens«: »Was ich Wollen nenne, schließt das Empfinden von Aktion und Reaktion, Widerstand, Außensein, Anderssein, Paarsein ein«. Er spricht von »Aufeinandertreffen, Zusammenprall« (1885: 256ff.). Etwas trifft mich, ich treffe auf etwas. Das Bewusstsein erfährt sich im Index, also in der Kausalität, stets als an Physis gebunden, unlösbar. In diesem Zusammenprall schließlich wirke, so Peirce, eine doppelte Formgebung durch den Index. Einmal prägen die Gegebenheiten dem Bewusstsein als äußere Formen Bedingungen auf, die als Widerstand den Willen und die Arbeit, die Tätigkeit, herausfordern. Andererseits unterwirft das Bewusstsein die Tätigkeit der inneren Form der Selbstkontrolle und Hemmung. Eine weitere wichtige Textstelle zum Index findet sich in den berühmten »Lowell Lectures« (1866, 1892/93, 1903). Vor allem die dort ausgeführte Bestimmung des Index ist dann in der Debatte entscheidend und wirksam geworden, nicht so sehr die weitere Befassung mit der »Wirkkraft«, der »physischen Kraft«, also der eigentlichen Annahme einer naturgesetzlichen Kausalität. In den »Lowell Lectures« befasst Peirce sich näher damit, wie die Beziehung zwischen dem aufmerksamkeitsheischenden Objekt und dem Index, der die Aufmerksamkeit organisiert, beschaffen ist. Das Objekt der Aufmerksamkeit ist, so Peirce, stets partikular, ist dieses hier und kein anderes, ist unvertretbar und spezifisch, ist, im Gegensatz zum Allgemeinobjekt des abstrakten Begriffs, konkret und physisch relevant.9 Peirce unterscheidet nun zwei Varianten, in denen ein Zeichen – selbst ja stets ein physisches Objekt oder doch an einen dinglichen Grund gebunden – die Aufmerksamkeit eines Bewusstseins binden und leiten kann. Im ersten Fall wird das Zeichen »künstlich«, »absichtlich« gesetzt und dann möglichst unauflöslich mit dem Objekt der Aufmerksamkeit verbunden. Das wäre präzise das Gellsche Verständnis des Index. Peirce spricht in seinem 19. Jahrhundert etwa vom Denkmal, das den Ort einer Schlacht bezeichnet, und erneut vom Wegweiser, der eine nachträgliche Setzung ist. Die Kausalrelation als Bindung zwischen Objekt und Zeichen ist dabei eine künstlich erzeugte, verhängte, und daher sekundäre. Sie verweist auf eine zweite, weitere, gleichsam parasitäre Kausalität, nämlich die Gemachtheit des Zeichens selbst. In seiner eigentümlichen Terminologie spricht Peirce von der »degenerierten Form«, an später Stelle dann von der »abgeleiteten Form« des Index (1903: 364). In der zweiten Variante zerfällt der Index nochmals in zwei Teile; Peirce spricht hier aber vom »genuinen Index«. Zunächst einmal gibt es eine notwendige Eigenschaft, durch die der Index an das Vorhandensein des kausierenden 9 | Vgl. Peirce 1903: 362ff.

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Objekts gebunden ist, wie etwa die Richtung, die Wind und Windfahne miteinander teilen. Zweitens aber gibt es, so Peirce, die erneut sekundäre Darstellung dieser Eigenschaft in dem »eigentlichen« Zeichen, das damit ein Zeichen »zweiter Ordnung«, »Repräsentamen einer Repräsentation« werde (1903: 363). Im Fall der Wetterfahne haben wir also zu unterscheiden zwischen dem physischen Einwirken des Windes auf die Fahne zum einen und der Darstellung dieser Einwirkung durch die Fahne zum anderen. Bleibt die erste Schicht eine Angelegenheit der unbegriffenen Natur selbst, so handelt es sich bei der zweiten bereits um eine Kulturleistung. Nun spricht Peirce davon, dass der Index, vermittelt über das zweite Zeichen, »eine tatsächliche Information« vermittelt (1903: 364). Die geteilte Eigenschaft der ersten Ebene hat der Index immer; als Zeichen gelesen hingegen wird er nur, wenn das Zeichen auf der zweiten Ebene so auch interpretiert wird. Peirce nimmt also einerseits klassisch ontologisch und postkantianisch an, dass »es« Einwirkung, mithin Kausierung, schlicht »gebe«, dass aber Kausalität andererseits, um erkennbar und weiterverarbeitbar, also ihrerseits wirksam zu sein, eine Konstruktion bleiben bzw. werden muss. Erst als Konstruktion ist Kausalität ihrerseits kausal, z.B. für Handeln. Erst hier erlangt sie Handlungsmacht im Sinne Gells: Agency. Der zweipolige Index ist der Ort, an dem dieser Umschlag, die Akkulturierung der Kausalität, die dadurch überhaupt erst Kausalität wird, stattfindet.

V OM I NDE X ZUR S ERIALITÄT In einem dritten wichtigen Textstück nimmt Peirce diese Bestimmung des Index wieder auf und bezieht sich auf die Photographie als Beispiel.10 Diese, so schreibt er, ist erstens kausal von den Lichtverhältnissen verursacht: Ihre konkrete Hell-Dunkel-Anordnung ist an das Vorhanden(gewesen)sein des abgebildeten Objektes gebunden. Dieses Objekt hat erstens die Lichtstrahlen so defraktiert, wie sie sich dann auf der lichtempfindlichen Schicht des Films eingraviert haben. Zweitens aber bezeichnet die Photographie eben dieses Objekt auch noch, und zwar, so Peirce, durch die Ähnlichkeit der Hell-Dunkel-Konfiguration auf der Photographie mit derjenigen, die bei der Wahrnehmung des tatsächlichen Objekts ausgebildet werde. Dann aber legt Peirce ausführlich und entscheidend dar, dass die Qualifikation eines Zeichens als Index eine Sache der Interpretation (oder der Zuschreibung) ist. Wodurch wird ein Zeichen – oder, wenn wir auf Gell zurückblicken: ein Objekt – zu einem Index? Es ist nicht von sich aus ein Index, sondern es wird, so Peirce, dazu erst jedes Mal gemacht, durch eine eigene Operation nämlich. Diese Operation ist sehr komplex und erfordert, charakteristisch für Peirce, ein anderes, zweites Zeichen. In diesem 10 | Vgl. Peirce 1895/96: 64-72.

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anderen, zweiten Zeichen »präsentier[t] sich [das erste] selbst als Index« oder wird umgekehrt »durch seinen Interpretanten [d.h. durch ein weiteres Zeichen] als Index dargestellt« (1895/96: 69). Dies nun ist in unserem Zusammenhang die entscheidende Wendung: Damit etwas als Folge einer Ursache sichtbar gemacht und seinerseits wirksam werden kann (also als Index im Gellschen und im Peirceschen Sinne Kausalität aufrufen oder hervorrufen kann), muss es wiederum als Ursache einer Folge bezeichnet werden, muss es diese Folge als Ursache hervorrufen. Kurz: Nur in der Serie kann es überhaupt Ursachen und Folgen und mithin Kausalität geben. Kausalität und Serialität sind unauflösbar aneinander verwiesen. Die Serienbildung als Einschreibung der Kausalrelation in ein zweites (und folgend immer noch weitere) Zeichen funktioniert nach Peirce so: Das zweite Zeichen, der sogenannte Interpretant, nimmt an sich selbst Eigenschaften an, durch die es sich in Abhängigkeit von Eigenschaften des ersten Zeichens begibt, die es dann wiederum als solche der Relation zwischen dem bezeichneten Objekt – dem nach Peirce »primären« Objekt – und dem ersten Zeichen ausgibt. Diese Relation, eben die Kausalität, ist das Objekt des zweiten Zeichens, das Peirce auch »Dicizeichen« nennt, das »sekundäre« Objekt, und das wäre erneut exakt Gells Index-Objekt, das Kunstwerk, der Fetisch oder das magische Objekt. Peirce schreibt über die Photographie: Doch solche Indices sind fast immer mit ihren Objekten durch eine Zweitheit verbunden, die sie zu Teilen von Indices macht, welche Dicizeichen sind. Es ist diese Tatsache, die das Photo zu einer Aufzeichnung des Ausschnitts der projizierten Lichtstrahlen von dem Objekt macht, und die uns zeigt, welches das Objekt ist, von dem es das Repräsentamen ist. Diese Tatsache konstituiert das Subjekt des Dicizeichens. Das Prädikat, das den Kern der Information enthält, ist der photographische Abzug selbst. Die Tatsache, dass, nachdem das Negativ entwickelt worden ist, der Abzug davon auf diese Weise und nicht anders gemacht worden ist, ist Teil der Tatsache der existenziellen Relation des Abzugs zum Objekt. (Peirce 1895/96: 71f.) Kausalität ist mithin eine Aussage, durch die eine von Aussagen unabhängige Tatsache geschaffen wird. Durch diese Aussage, die Indices über ihnen vorgängige Zeichen anfertigen, »vermitteln« sie also Informationen, die als außerhalb ihrer selbst liegend, als schlicht vorhanden, unabhängig von den Zeichen angenommen und ausgewiesen werden. Trotzdem ist diese Annahme und dieser Ausweis ein Zeicheneffekt. Indices zwingen oder motivieren uns zumindest dazu, Kausalität zu thematisieren, und zwar so, als wäre sie eine von den Indices selbst unabhängige Gegebenheit. Sie unterscheiden sich damit von anderen Zeichen, etwa den Symbolen, die Informationen nicht als gegeben voraussetzen, sondern, wie logische Schlüsse, ableitbar, produzierbar machen. Und das alles nun gehorcht einer seriellen Anordnungsweise. Kausalität ist, da sie ein Operationsresultat ist, zugleich Zuschreibungs- und Seinssetzungsver-

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fahren, an Serialität gebunden. Das ist auch nur konsequent und kompatibel, wenn wir aus der Theorie der Handlungsnetzwerke und der verteilten Agency hinzunehmen, dass seinssetzende und erkenntnisschaffende Operationen sich stets in Ketten oder Serien organisieren. Kurz: Kausalität erfordert zwingend die Form der Serie. Und genau deshalb ist sie überall dort zu Formvielfalt, zu Evolution, Variation, Inversion, Negation, Iteration und Reflexion freigegeben, wo Serien das auch sind. Und genau das führt uns zur Fernsehserie und ihren Formen.

F ERNSEHSERIEN : F OLGEN UND U RSACHEN IN E PISODEN Die erste Anordnung entlang von Kausalschemata in Fernsehserien ist natürlich innerhalb der Diegese, der Erzählung selbst, anzutreffen. Fernsehserien sind zunächst einmal fast ausschließlich nach der Logik und dem Schematismus des Aktionsbildes aufgebaut. Es handelt sich sogar um ein recht einfaches Aktionsbild, allein schon wegen der Kürze der Serienepisoden und ihrer zügigen Produzierbarkeit, worauf schon früh Adorno in seinem berüchtigten Text über »Fernsehen als Ideologie« bestanden hat.11 Innerdiegetisch und bildnerisch ist das, wie wir wissen, durch Reiz-Reaktions-Ketten motiviert, angeordnet stur im Schuss-Gegenschuss-Verfahren oder auch in Rede und Gegenrede. Dramaturgisch erschöpft es sich nahezu völlig in der Ordnung des Zweikampfs und findet in der Figur des Duells seinen Hauptausdruck. Irdische und Außerirdische, Bobby und J.R., J.R. und Cliff Barnes, Einheimische und Fremde, Milieu und Figur, Gut und Böse, Täter und Ermittler, Girl und Boy: Sie alle werden in simple Verursachungsketten eingebaut. Jeder Gegenschuss und jede Reaktion erklärt, ganz im Sinne Peirce’, den Schuss ex post zu seiner Ursache, zur Aktion, indem er an sich selbst eine Veränderung zeitigt, die derjenigen analog ist, die er als Einwirkung des vorherigen Bildes auf sich ausgibt. Der Schütze, der die Augen verengt, die Geliebte, die die Augen weitet, die Mutter, die die Hände ins Gesicht schlägt, J.R, der sein Lachen lacht – das alles sind formatierte, standardisierte Bilder, die dennoch einen Zustandswechsel durchlaufen und sich damit selbst als den anderen Zustand des anderen Bildes, das ihnen vorausgegangen ist, als Fortsetzung des anderen Bildes mit anderen Mitteln, ausgeben. Und die Kausalkette endet zuverlässig am Ende jeder einzelnen Episode. Keine Ursache weist auf Folgen in einer anderen Episode, und keine Episode nimmt Gründe in Anspruch, die in einer früheren Episode liegen. So sehr die Episoden also auch in sich auf Kausalitätsverhältnisse abgestellt sind, so sehr entzieht sich doch die Serie selbst jedweder Kausierungskette. Wir könnten von einer still gestellten oder leeren Kausalität der Episodenserie sprechen. 11 | Vgl. Adorno 1963.

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Trotzdem ist die Situation schon in der einfachen Episodenserie nicht ganz so einfach. So fällt etwa auf, dass die diegetischen Welten einer großen Zahl auch traditioneller Episodenserien durch und durch von Ursachen-, genauer: Urheberforschung geprägt sind: Wer war es? Das gilt für alle Ermittlerserien vor Columbo (NBC, 1968-2003) – und wird durch Columbo noch epochal verstärkt, denn hier geht es, eine Ebene abstrakter, nicht mehr um die Frage danach, wer es getan hat, sondern darum, wie Columbo das herausbekommt, wie er also die Causa und mit ihr die Kausalität rekonstruiert.12 Dass dabei Indices, Indizien nämlich, Objekte, die sich als Folgen ausgeben von Ursachen, in Reihen nacheinander angeordnet, die Hauptfunktion übernehmen, ist ebenfalls überdeutlich. Damit wird in Columbo eine charakteristische Spaltung vollzogen: Unsere eigene Fähigkeit, in Ketten und Serien anzuordnen, weicht von derjenigen des Inspektors ab, denn wir suchen nach Indizien dafür, dass der Inspektor die richtige, nämlich kausale Anordnung der Indizien vornimmt. Beide innerdiegetischen Serien sind wiederum miteinander verzahnt. Oder nehmen wir Hawaii Five-O (CBS, 1968-1980): Die Handlungsweise von Steve Garrett wird durch die gesamte Serie hindurch – überwiegend im Subtext und ganz nebensächlich – ausgegeben als Folge einer ursprünglichen Traumatisierung des Helden, des Mordes an seinem Vater. In der Originalserie freilich, anders als im gerade laufenden Remake, erfahren wir das erst nach und nach. Die späteren Folgen präsentieren sich auf diesem Nebenstrang selbst, nachträglich und in einer Reihe, als Folgen einer vor allen Folgen liegenden Ursache, zu der die Serie sich rückwärts vorarbeitet. Jede Folge ist konsekutiv in der Serie, aber retrograd in der Begründungskette. Oder, da wir gerade auf Hawaii sind: In Magnum, P.I. (CBS, 1980-1988) wird dieses Prinzip wiederum verdoppelt. Einerseits gibt es die Vietnamerfahrung Magnums und seiner beiden Freunde, indexikalisch etwa durch »Da Nang«Baseballcaps ins Bild geholt. Andererseits gibt es aber, erneut in Subtext und Nebenstrang, unaufklärbare Ursachen und Urheberschaften: Wer ist der abwesende angebliche Schriftsteller Robin Masterson, in dessen Villa Magnum lebt und mit dessen Ferrari er herumfährt? Ist Masterson der Master, der Autor, der Urheber der Figur, der Serie überhaupt? Oder ist es Magnum selbst, der damit eine sich selbst verdoppelnde Selbstbegründungsfigur würde, also ein genuiner Index, der sich als Folge einer Ursache ausgibt, indem er an sich selbst Wirkungen hervorbringt, die denjenigen, die die behauptete Ursache auf ihn hätte, wenn sie die Ursache wäre, ähnlich sind? Denn Magnum muss sich stets an die Anweisungen des Hausverwalters Higgins halten, ohne dass das wiederum begründet wäre. Magnum gehorcht dem ridikülen Higgins, der wiederum angeblich Masterson gehorcht. Und wenn Masterson, der Autor, wiederum Magnum, der Figur, gehorchte? Das ist die eigentlich durchlaufende Frage, deren Entfal12 | Vgl. im vorliegenden Band auch den Beitrag von Hügel zu Sherlock Holmes.

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tung sich Magnum, P.I., in ganzer Erstreckung widmet. Eine Langzeitstudie in Kausalität ex post et in circulum. Eine hoch interessante und komplexe Variation zur Exploration von Kausalität bilden aber schon in den 1960er, 1970er Jahren die so genannten Pop-Series aus.13 Sie gehorchen durchweg unverändert dem Prinzip der geschlossenen Episoden. Die darin begründete Akausalität zwischen den Episoden nehmen sie nun jedoch in die Episoden mit hinein, um dort Reflexionen über die Verursachung der Verursachung durch indexikalische Prozesse und über die Verteilung von Kausalitäten über schwach definierte und heterogene Felder anzustellen. The Avengers (ITV, 1961-1969) sei als Beispiel angeführt. In dieser Serie wird eine Welt entfaltet, die zwar Kausalität, aber keine Ursachen kennt. Es genügt zu wissen, dass alles, was geschieht, Folge irgendwelcher Ursachen ist, aber die Ursachen braucht man nicht mehr zu kennen. Anders als in Hawaii Five-O erfahren wir eigentlich nicht, warum die Helden, John Steed und Emma Peel, ihrem gefährlichen Agentenjob nachgehen. Auch die Herkunft ihrer Aufträge ist weitgehend unklar. Nur ab und zu werden wir über die Motive der Bösewichte unterrichtet. Auch die Erzählkette bleibt sehr lose, oft müssen wir akzeptieren, dass die Helden an diesem oder jenem Ort auftauchen, ohne dass wir wissen, wie sie dorthin gekommen sind und warum. Es wird uns also der Index verweigert. Verstärkt wird das durch ein Kontrastverfahren. In einzelnen, dann wieder recht ausgespielten Sequenzen werden die Verrichtungen und Handgriffe der Helden genau und sorgfältig gezeigt, zumal dann, wenn es sich um technische Verrichtungen, um Geschicklichkeit und die Handhabung seltsamer Werkzeuge und auch des eigenen Körpers handelt. Hier sind die Kausalitäten auf einmal überdeutlich. Wenn die Helden nämlich stets gegen die Bösewichte gewinnen, dann vor allem deshalb, weil sie geschickter sind. Das aber heißt nichts anderes, als dass die Ursache für den Erfolg eben nicht mehr auf Personen allein zurückgerechnet wird. Der Index bringt an sich eine Wirkung hervor, die nicht mehr auf ein einziges Vorgängerzeichen oder Vorgängerobjekt verweist, sondern auf ein ganzes Geflecht aus Objekten, Gesten, Körpern, Personen. Und dies erfordert wiederum, dass er eine Analogie zu diesem Geflecht hervorbringt. Die mitunter übermäßig kleinteiligen, vergnüglichen Spezialgeräte – Antischwerkraftschuhe, raffinierte Kletterseilzüge, verteilte Minisprengsätze, Betäubungs- und Verkleidungsmittel aller Art –, die zudem in aller Regel vor unseren Augen erst zusammengesetzt werden müssen, tun genau dies. Nicht zu vergessen all die Masken und Tarnungen in den Pop-Series, etwa in Mission: Impossible (CBS, 1966-1973) und Department S (ATV, 1969-1970). Sie dienen vor allem der Erzeugung eines Irrtums in der Kausalkette: Der Urheber war gar nicht der Urheber, und nur im Nachhinein ist das überhaupt entscheid13 | Vgl. Buxton 1990.

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bar. Hier wird wiederum die Kausierungs- und Indexikalisierungsfähigkeit des Zuschauers ins Spiel gebracht, denn das Erstaunen der getäuschten Figur ist zugleich dasjenige des Zuschauers. Das Bild des Getäuschten produziert an sich eine Analogie zur Täuschung des Betrachters und setzt sich dadurch selbst als Ursache des Erstaunens des Zuschauers ein. Das ist interessant, weil damit eine Kreiskausalität geschlossen wird und Verursachung zum Kurzschluss gerinnt: Wir wissen, dass Kausalität lediglich eine Zuschreibung ex post ist, aber auf der Suche nach den Bedingungen der Zuschreibung stellen wir uns selbst unter die Wirksamkeit des Bildes der Serie. Die Serie selbst ist also deshalb kausal, weil sie uns dazu veranlasst, ihr Kausalität zuzuschreiben. Sie ist kausal, weil sie kausal ist. Wir kommen darauf zurück.

F ERNSEHSERIEN : B ILDER ALS F OLGEN UND U RSACHEN DER B ILDER Das Wechselspiel zwischen Kausalität und Grundlosigkeit setzt sich in der Mitte der 1980er Jahre in Miami Vice (NBC, 1984-1989), einer Neo-Pop-Serie, massiv fort.14 Es wird nun aber markant verschoben, von der Ebene der Diegese auf diejenige der Bilder, die die Diegese präsentieren und entfalten. Dabei wird ihr eine Umkehrbarkeit zugeschrieben, die auch die Urheberschaft der Zuschreibung neu problematisiert. In Miami Vice ist nämlich die Verkettung der Sequenzen innerhalb der Episode nahezu völlig aufgelöst. Die Abfolge der Sequenzen, bisweilen sogar der Einstellungen, gehorcht keiner diegetischen Kausalkette mehr. Rhythmus- und Farbwechsel, also genuine Qualitäten des Bildes selbst, des Index, bestimmen die Dramaturgie. Damit gibt sich das Bild selbst als Ursache des Figurenhandelns und der diegetischen Verhältnisse zu lesen. Das Bild verweist auf seine unabhängige Gemachtheit, indem es sich von der Erzählung ablöst und diese, statt als seine eigene Ursache und ihm selbst vorgängige, gesetzte Größe auszugeben, von der es Wirkung empfängt, umgekehrt zur Folge erklärt. Das Bild selbst wiederum erklärt sich auf diese Weise zur Folge nicht etwa der erzählten Welt, sondern der technischen und ästhetischen Entscheidungen der Produktion: Spur und Index seiner eigenen Gemachtheit. In den Termini Gells können wir sagen, dass sich das in der Serie Abgebildete, Repräsentierte, oder Verkörperte, der Prototyp, nun nicht mehr mit der Verursachungsinstanz, auf die der Index verweist, überlagert. In Moonlighting (ABC, 1985-1989) haben wir eine komödiantische Variation dazu, wenn etwa eine Verfolgungsjagd sich völlig verselbstständigt und aus der Diegese hinaus in das Studio, quer durch die Kulissen der Serie zieht.

14 | Zu Miami Vice siehe auch den Beitrag von Fahle im vorliegenden Band.

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In den 1990er Jahren wird das Arsenal der Verursachungsverhältnisse dramatisch erweitert. Wir haben gesehen, wie es sich von den Verkettungen zwischen Handlungen und Personen in der klassischen Ermittlerserie verschoben hat zu den Verquickungen mit den Dingen in den Pop-Series, und wie es sich von der Urheberschaft als personaler Autorschaft, wie bei Magnum, P.I., verlagert auf die verteilte und komplexe Bildproduktion. Mit Twin Peaks (ABC, 19901991) tritt zu Beginn der 1990er Jahre eine weitere Kraft auf und verkompliziert die Kausalrelationen und ihre Hervorbringung. Hier nämlich kommen nach den technischen und bildtechnischen die magischen Verursachungen hinzu. Nehmen wir nur das berühmte tibetanische Flaschenexperiment, das Agent Cooper durchführt: Aus einem Eimer, den ein Helfer hält, entnimmt er Steine und wirft sie nach einer etwas weiter weg aufgestellten Flasche, während ein anderer Helfer sich sehr stark auf Namen und Personen von Verdächtigen konzentriert. Tatsächlich trifft der Stein bei einem Namen die Flasche. Der Gemeinte ist zwar nicht der gesuchte Mörder, aber ein großer Bösewicht ist er allemal – und kann enttarnt werden. Allerdings sind mehr oder weniger sämtliche Einwohner von Twin Peaks in Missetaten verwickelt. Außerdem gibt es Traum- und Trancesequenzen, Kontakt mit Außerirdischen usw. Alles das wirkt handlungsleitend und verursachend. Dabei spielen auch ritualtechnische Fähigkeiten, visionäre Körper- und Geisttechniken eine wichtige Rolle, die Symptome am Körper des Ermittlers hervorbringen, die dann analog zu den befragten Symptomen sind. Immer wieder geht es auch um technische Gegebenheiten, Medien sogar, so ein Diktiergerät, ein Mikroskop, Abhöreinrichtungen. In der nachträglichen Spielfilmfassung, die uns die Vorgeschichte zur Serie erzählen möchte, geht es sogar insbesondere um das Fernsehen und den elektrischen Strom selbst, der es betreibt. In der Serie wiederum findet sich eine eingelassene, innerdiegetische Serie, von der wir vermuten, dass sie irgendwie auf die Geschehnisse in Twin Peaks einwirkt. Dies sind erste massive Hinweise darauf, dass das Fernsehen in der Serie auch seinen eigenen Status auf seine eigene Kausalität hin zu befragen beginnt. Hinsichtlich der Serienform ist dabei entscheidend, dass jedes Bild auf jedes frühere als dessen Variante Zugriff nehmen kann. Kein einziges Bild ist aus der Indizierung ausgeschlossen. Kein Einziges wird dem Vergessen anheim gegeben. Innerdiegetisch heißt das, dass alle Vorkommnisse an alle späteren potentiell anschließbar sind, sich ex post als kausal erweisen könnten. Das führt so weit, dass schließlich jedes Bild, jede nächtliche Ampel, die im Wind schwankt, jede verschlossene Tür, jeder Blick als Indiz gelesen wird für eine nicht benennbare Wirkkraft, also für ein unsichtbares Bild hinter und vor allen anderen Bildern, das jedoch irgendwann in der Abfolge zu erscheinen verspricht. Die Bilder in Twin Peaks bringen an sich selbst, in ihrer Abfolge und wechselseitigen Zuschreibung, genau jene nach streng rationalistischen Kriterien völlig unbegründbare Wirkung hervor, die wir ihnen dann im Ver-

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hältnis zu uns zuschreiben. Wir finden sie spannend und einnehmend, indem wir uns unter die Wirkung stellen, die sie untereinander aufeinander zu haben behaupten. Dieses Prinzip einer durch das Bild der Verursachung produzierten, also verursachten Verursachung, d.h. einer verteilten, komplexen und zugleich rückwirkenden Kausalität kann schließlich sogar wieder in die Diegese einziehen. Das geschieht präzise in CSI (CBS, seit 2000). Alle Kausalität wird hier indexikalische Konstruktion, und alle Indizien sind als Bilder ausgewiesen und in Serien angeordnet. Innerhalb dieser Bilderserien in der Serie gibt es eine Rückwärtsdetermination, etwa in den häufigen Bilderketten, die ein- und dieselbe Darstellung oder Aufnahme in immer größerer Auflösung, aus verschobenem Blickwinkel, ablaufend in Einzelbildschaltung oder mit immer mehr hinzugerechneten Details auf den Bildschirmen der Ermittler zeigen. Urheber des folgenden, das vorhergehende interpretierenden Bildes ist der Tastendruck oder Mausklick des geschickten Ermittlers, der das Instrument, die bildgebende Apparatur, steuert – er selbst aber ist darin veranlasst und gesteuert durch das vorherige Bild und durch das, was er darauf erkennen und vor allem noch nicht erkennen kann. Unter Zuhilfenahme des Ermittlers und der Apparatur zeugen sich die Bilder hier selbst fort, weisen sich als Folgen anderer Bilder aus. Zugleich wird jedoch – weitgehend, aber nicht ausschließlich – das Prinzip der Kette geschlossener Episoden eingehalten. Jede einzelne Folge der Serie also begründet sich in sich selbst als ein mehr oder weniger geschlossener Bilderkreislauf, der sich zwischen den Episoden dann wiederholt. Die Folgen untereinander geben sich nicht als Folgen voneinander oder auseinander zu erkennen. Diese Wiederholung schreibt die Kausierungen zwar nicht mehr in der Zeit fort, aber verfestigt sie.

F LASH F ORWARD Die vorläufig extremste Variante einer unbegründbaren, selbstsetzenden und verteilten Kausalität scheint mir in der Serie FlashForward (ABC, 2009-2010) vorzuliegen. FlashForward präsentiert ein ursprüngliches Ereignis, einen ungeheuren Blackout, dem die gesamte Erdbevölkerung für etwa drei Minuten ausgesetzt ist. In diesen drei Minuten erfahren alle Menschen individuelle Visionen eines Augenblicks, der genau sechs Monate in der Zukunft liegt. In der Folge der Folgen geht es nun darum, die Ursache für diesen ungeheuren Eingriff festzustellen, seinen Zweck zu erkennen und diesen Zweck, falls nötig, zu vereiteln, mindestens aber den Versuch zu unternehmen, die schlimmen und verbrecherischen Varianten dessen, was in sechs Monaten sein soll, zu verhindern, vom Rückfall in den Alkoholmissbrauch und bevorstehenden Ehebruch bis zu Mord und Totschlag und Verbrechensherrschaft in großem Stil. Die Serie

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arbeitet sich also – charakteristisch für das, was ich anderenorts als Neo-Serie gefasst habe – finit zu einem festen Punkt in der Zeit vor. Alles, was geschieht, steht einerseits in der Folge der Ereignisse, die erst noch kommen werden, andererseits in der Folge vergangener, noch zu klärender Ereignisse, die zu der kollektiven Vision und damit der Heraufkunft des zukünftigen Ereignisses erst geführt haben. Selbstverständlich sind beide Seiten der Kausalkette über Indizien präsent, und diese wiederum zumeist als Bilder, nämlich als die tatsächlich im Sinn des kinematographischen Flash Forward eingeschnittenen Visionen zahlreicher Figuren zum einen, als innerdiegetische Bilddokumente aus der Zeit vor dem Blackout zum anderen. Beide Bilderarten werden noch dazu oftmals wiederholt; immer wieder sehen wir die Aufnahmen aus der Überwachungskamera des Stadions, immer wieder bestimmte Visionen. Sie werden insbesondere zentral zusammengefasst im zentralen Objekt-Bild der ganzen Serie, einer großen Display-Wand im Büro des Ermittlers, an der Kopien und Stills der Bilder, Notizen, Graphiken, Photographien und sogar einzelne Dinge angeheftet und untereinander mit einem Netz aus roten Fäden verbunden sind. Dieses große Pinboard bemüht sich vordergründig darum, die Verursachungszusammenhänge abzubilden, aber tatsächlich verursacht es sie seinerseits, denn es fungiert für den Ermittler handlungsleitend wie ein Diagramm oder eine Matrix. Es besitzt auslösende Funktion und insofern Agency, die wiederum in ihrer Herkunft über all die arrangierten Materialien, darunter das Ganze des Pinboards selbst, verteilt ist, denn es kommt schon – oder sollte man sagen: schließlich – in der Vision des Ermittlers selbst vor, und das immer wieder. Die wichtigste Aufgabe des Ermittlers ist es am Ende, ein Ausbrechen aus der Kausalkette zu ermöglichen, das Vorhergesagte also eben nicht eintreten zu lassen, sondern zu vermeiden. Die indexikalische Fortschreibung, die die Herkunftsbilder des Blackout mit den Zukunftsbildern aus den Visionen verknüpft, und die die Serie FlashForward als Abfolge von Episoden ausmacht, muss unterbrochen oder in eine andere Richtung gelenkt werden. Das aber kann nur gelingen, wenn Bilder dazwischen treten können, die entweder ein Abbrechen der Kette auslösen – Niklas Luhmann würde vermutlich von Selbstreferenzunterbrechung sprechen –, oder die eine Neuordnung der Kausalverhältnisse ermöglichen. Es werden Bilder benötigt, durch die die Serie, nunmehr als Ganzes in ihrem Verlauf genommen, an sich selbst eine Veränderung hervorbringen kann, die sie als Folge einer noch unbekannten und auch dem ursprünglichen Plot selbst nicht inbegriffenen Begründung ausgeben kann. Kurz, es geht um das Anders-Werden der Serie selbst, die nur dann gelingen kann, wenn sie von ihrem eigenen Skript abweicht, also letztlich die Kausalkette umbiegen kann, der sie ihre eigene Entstehung verdankt. Schließlich könnte man diese Wendung noch einmal erweitern, wenn man annimmt, dass es FlashForward nicht nur um sich selbst, seine Herkunft und um sein eigenes

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Skript als Abweichung vom Kausalverlauf geht, sondern um das Serienformat und die Serialität selbst – und damit um Kausalität überhaupt. Ausgehend von der Einsicht, dass jede Kausalität eine nachträglich gestiftete, ihrerseits aber unbegründbare ist, die nur durch Serien erzeugt werden kann, ist FlashForward – hierin Vorläuferserien wie Lost (ABC, 2004-2011) ähnlich – ein in der Entwicklung der Fernsehserie begründetes, wie immer paradoxes Experiment.15 Es exploriert die Möglichkeit, Kausalität erstens zu öffnen und zu verteilen, wie dies schon die frühen Episodenserien des Ermittlergenres begonnen haben und wie es dann die Pop-Series fortsetzten. Zweitens geht es darum, die notwendige Nachträglichkeit der Kausalität durch Rekursion in Vorgängigkeit und Vorläufigkeit umzubiegen und damit selbsttragend zu begründen; auch das haben frühere Serien wie Magnum, P.I. bereits erprobt. Drittens aber und für meine Augen neu bemüht sich FlashForward schließlich darum, Kausalität paradox außerhalb von Kausalität zu begründen, also durch ihr Gegenteil, dadurch nämlich, dass man sie aussetzen, durchbrechen und abweichen lässt: dadurch, dass die Abweichung vom Kausal- oder Serienverlauf ihrerseits als Verursachungsgeschehen anerkannt wird. Was uns am Ende, an den Anfang zurückkehrend, motivieren könnte, nicht gleich die ganze Mediengeschichte als Kette von Verursachungen neu zu bestimmen, aber doch vielleicht diejenige des Fernsehens als selbst stets ex post zur Wirkmacht erklärtes Medium und sicherlich diejenige der Fernsehserie als Ort der Reflexion auf Kausalität.

L ITER ATUR Adorno, Theodor W. »Fernsehen als Ideologie«. 1963. Eingriffe: Neun kritische Modelle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1996. 81-98. Bairlein, Josef et al. (Hg.). Netzkulturen: Kollektiv, kreativ, performativ. München: epodium, 2010. Belliger, Andréa und David J. Krieger (Hg.). ANThology: Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript, 2006. Buxton, David. From The Avengers to Miami Vice: Form and Ideology in Television Series. Manchester: Manchester University Press, 1990. 72-119. Cuntz, Michael et al. (Hg.). Unmengen: Wie verteilt sich Handlungsmacht? München: Fink, 2008. Gell, Alfred. Art and Agency: An Anthropological Theory. Oxford: Clarendon, 1998. Hennion, Antoine. »Offene Objekte, Offene Subjekte: Körper, Dinge und Bindungen«. Offene Objekte. Hg. Lorenz Engell und Berhard Siegert. Sonderheft Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1.11 (2011): 93-110. 15 | Zu Lost siehe die Beiträge von Jahn-Sudmann/Kelleter und Mittell im vorliegenden Band.

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Autorisierungspraktiken seriellen Erzählens Zur Gattungsentwicklung von Superheldencomics Frank Kelleter und Daniel Stein

W AS S ERIEN TUN Serielle Erzählungen fordern die Beteiligung ihrer Rezipienten stärker heraus als Werktexte es tun. Schon die enge zeitliche Verschränkung von Produktion und Erstrezeption, aber auch das ständige Erfordernis erneuter finanzieller Investitionen (in Form fortgesetzter Herstellungs- und Kaufentscheidungen) sorgt dafür, dass Zuschauer mehr sind als nur Zuschauer, Leserinnen mehr tun als nur lesen. Publika üben einen traditionell hohen Einfluss auf Inhalt, Ablauf und Form kommerzieller Fortsetzungsgeschichten aus. Oder aus Sicht der Objekte gesprochen: Serien haben einen immanenten Hang zur Popularisierung. Sie setzen in großer Zahl kreative Handlungen auf Seiten ihrer Adressaten frei; sie vermehren und diversifizieren kulturschaffende Handlungen. Dass Serien Kultur machen und nicht bloß reflektieren, ist kein neuer Gedanke. Dennoch hat er die Analyse serieller Erzählformen bislang kaum berührt. Offenbar lassen sich populärkulturelle Formate leichter nobilitieren, wenn sie zur Illustration anderer Themen genutzt werden; nennen wir es das »x in y«-Modell der Serienforschung (»Masculinity in Spider-Man«, »Intertextuality in Watchmen«, »Food in The Sopranos« usw.). Aus solchen Fokussierungen lässt sich einiges lernen – über Einzeltexte, über kulturspezifische Topoi, über die Produktion kulturwissenschaftlichen Wissens. Soll Serialitätsforschung aber mehr leisten als eine Ausweitung routinierter Erkenntnisinteressen auf serielle Texte, so stellen sich andere Fragen, etwa nach dem Erzählen in Serie als einer ästhetischen Praxis und ihrer kulturhistorischen Gestaltungskraft. Dabei geht es nicht einfach darum, was mit Serien getan wird, noch darum, was sie narratologisch sind. Beide Fragen, oft in fachwissenschaftlicher Konkurrenz gestellt, können in der Frage zusammenkommen, was Serien tun.

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Es geht demnach um Handlungen – von Personen und Texten, von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren.1 Das eigendynamische Moment seriellen Erzählens tritt unter solchem Blickwinkel immer deutlicher hervor: seine nicht-intentionale Handlungsmacht (Agency), etwas, das Aktionsmöglichkeiten, Intentionsmöglichkeiten und Identitäten für alle Beteiligten schafft, something which makes us do things. Oder tiefer greifend: etwas, das uns im Glauben bestärkt, dass wir mit den Dingen, die wir tun, übereinstimmen. Insofern Serien Kultur machen, machen sie eine bestimmte Art von Kultur: eine, die den involvierten Akteuren – Produzenten wie Rezipienten, Texten wie Medien – zunehmend fließende Handlungsrollen zur Verfügung stellt. Die Geschichte populärer Serialität kann in diesem Sinn als Geschichte kommunikativer Modernisierung erzählt werden, d.h. als eine Geschichte der zunehmenden Reflexivität und Durchlässigkeit lebensweltlicher und ästhetischer Optionen.2 Ab einem bestimmten Punkt ist die Unterscheidung zwischen einem Produkt der so genannten Kulturindustrie und einem Fan- oder Amateur-Artefakt dann nicht mehr leicht zu treffen. Heutige Webcomics und andere Eigenproduktionen sind häufig von Anspruch und Ästhetik her kaum noch von lizensierten Waren zu unterscheiden; umgekehrt machen sich professionelle Comic-Produzenten oft mit dem Selbstverständnis von Fans und Konsumenten an die Arbeit, vor allem bei lang laufenden Serien, die mitunter älter sind als ihre aktuellen menschlichen Akteure. Die traditionellen Fragen nach der Produktion sozialer Identität (Race, Class, Gender) können auf dieser Ebene vielleicht neu gestellt werden. Zwangsläufig nämlich offenbaren die Selbstidentifikationen populärkultureller Akteursgruppen Autorisierungskonflikte. Kommerzielle Massenkommunikation ist per Definition arbeitsteilig und multiauktorial. Sie lässt Zuständigkeiten, Handlungsrollen und Selbstverständnisse in weit stärkerem Maß proliferieren und miteinander in Wettbewerb treten als es die bildungskulturelle Werkkultur mit ihren relativ stabilen Konkurrenzen tut. Derart unbeständige Verhältnisse werfen Fragen nach dem Autorisiert-Sein von ästhetischen Handlungen auf. Von wem oder wovon etwa – und wie – wird über die Legitimität von Fortsetzungen oder Umschreibungen einer bestimmten Serie entschieden? Unterhalb der nur scheinbar eindeutigen Ordnungsmacht von Copyright und Trademark zeigt sich ein reger Austausch unterschiedlichster Aktionsmöglichkeiten.3 Die daran anschließenden Fragen sollen im Folgenden verhandelt werden: Wie be1 | Zur folgenden Definition von Handlungsmacht als »etwas, das uns Dinge tun lässt« vgl. Latour 2005. Zur theoretischen Begründung »nicht-menschlicher« Akteure vgl. ebenda das Kapitel »Objects too have agency« (63-86). 2 | Vgl. die Einleitung des vorliegenden Bandes. 3 | Zur Bedeutung von Copyright und Trademark für amerikanische Superheldencomics vgl. Gaines 1992, Packard 2010.

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günstigen, kontrollieren oder kanalisieren professionelle Serienproduzenten die kreativen Partizipationsakte ihrer Adressaten? Wie definieren sie auf diese Weise Professionalität? Wie wird diese Professionalität umgekehrt von ihrem Publikum adressiert? Wie inszenieren sich Serienpublika als produktive oder rezeptive Akteure? Und wie verhalten sich die Serienerzählungen selbst gegenüber ihren menschlichen Akteuren? Sämtliche dieser Fragen laufen in einer Kernfrage zusammen: Welchen Wandel erfährt die in der Bildungskultur noch ausgesprochen haltbar definierte Unterscheidung Autor/Leser – eine für das neuzeitliche Kulturverständnis fundamentale Opposition – durch populäre Serialität?4 Weil Comics oft als Vorreiter von Entwicklungen in anderen seriellen Medien auftreten, lohnt es sich, diese Frage anhand amerikanischer Superheldencomics zu stellen. Generelle Aussagen auch für andere Serienformate zumindest der amerikanischen Populärkultur sind zu erwarten.5 Konkret gilt es zu ermitteln, welche historischen Möglichkeiten es gibt, Comic-Autorschaft auszuüben, und welche populärkulturellen Identitäten dabei von Personen und Artefakten inszeniert, behauptet und verhandelt werden.6 Dabei steht zu vermuten, dass populäre Serien werkästhetische Autorbegriffe nicht aushebeln, sondern in charakteristischer Weise komplizieren und dynamisieren. Eine solche Untersuchung operiert in respektvoller Distanz zu CulturalStudies-Ansätzen. Seit den 1980er Jahren liegen bekanntlich eine Reihe von Studien zur kreativen Tätigkeit von Fans und anderen Publika vor.7 Ein Großteil dieser Arbeiten, insbesondere aus dem Umfeld der Birmingham Schule, positioniert professionelle Autoren und so genannte Nutzer in relativ deutlicher Opposition zueinander. Die Grundannahme ist, dass Fans und Konsumenten 4 | Zum Begriff Bildungskultur und zur weiteren Differenzierung kultureller Felder in der Moderne vgl. die Einleitung dieses Bandes (im Anschluss an Naremore/Brantlinger 1991). 5 | Erste Analysen zur Serialität amerikanischer Zeitungscomics finden sich bei Hayward 1997, Kelleter/Stein 2009, Gardner 2012. Zur Serialität von Superheldencomics siehe Wüllner 2010. 6 | In der Forschung werden Fragen nach Comic-Autorschaft meist mit Blick auf literarisch ambitionierte Comics, nicht Superheldencomics gestellt (vgl. die Sektion »Authorizing Comics« in Williams/Lyons 2010 über Art Spiegelman und Chris Ware); die Interaktionen von professionellen Akteuren und Amateuren spielt dabei selten eine Rolle. Zur Theorie und Geschichte von Comic-Autorschaft in den USA vgl. Brooker 2000, Duncan/Smith 2009, Stein 2009, Gabilliet 2010. Zum Zusammenhang von Autorschaft und Autorität siehe Donovan et al. 2008; gute Einführungen in die Autorschaftstheorie liefern Jannidis et al. 1999, Detering 2002. 7 | Siehe beispielhaft Jenkins’ Untersuchungen zu »participatory cultures« und Fan Fiction (1992; 2006a).

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auf serielle Angebote vergleichsweise souverän reagieren. Diese Annahme (mit ihrer dezidierten Unterscheidung von Produktion und Rezeption) verrät fraglos einiges über das anti-hegemoniale Selbstverständnis der Cultural Studies, kann jedoch unterschiedliche ideologische Verpflichtungen beinhalten.8 Gemein ist allen Varianten, dass sie den Popularisierungsprozess seriellen Erzählens selbst populistisch lesen (und teilweise auch betreiben), d.h. mit normativer Privilegierung der Fan- oder Nutzer-Perspektive als einer eigenschöpferischen oder eigensinnigen Praxis. Die bildungskulturelle Aufspaltung von Autor- und Leserrollen wird hier gewissermaßen als Dichotomie von Produzent/Nutzer neu bestätigt, wobei die Wertigkeit der Begriffe ausgetauscht ist (am drastischsten sicherlich in Stuart Halls Gegenüberstellung von »the people versus the power bloc« [1981]). Die nachfolgenden Ausführungen übernehmen von diesen Ansätzen die wichtige Einsicht in den Handlungscharakter aller Populärkultur. Versuche, die kulturelle Arbeit populärer Serien allein an autorisierten Erzähl- und Produktionsstrukturen oder exklusiven Textzugehörigkeiten festzumachen, verfehlen mit Sicherheit einiges, was hier geschieht. Gleichwohl erscheinen die populistischen Prämissen der Cultural Studies fragwürdig, d.h. einerseits die wertbefrachtete, gern wiederholte Definition von Populärkultur als »Kultur für das Volk, gemacht vom Volk«; andererseits die tief sitzende Annahme, der kommerzielle Charakter populärer Produkte stünde in Widerspruch zu ihrer enormen Vernetzungsoffenheit.9 Solche Populismen erschweren trotz ihrer praxeologi8 | Fiske (1989) und die Birmingham Schule z.B. imaginieren populäre Nutzer vornehmlich als subversive Leser, die sich kapitalistische Waren für die eigenen widerständigen, heißt: implizit antikapitalistischen Zwecke aneignen und umdeuten. Demgegenüber neigen die American Cultural Studies der 1980er und 1990er Jahre dazu, populäre Rezeptionen im Rahmen eines progressivistischen, bisweilen neoromantischen Demokratieverständnisses zu theoretisieren; sie sind somit weniger an »resistance« als an der Graswurzel-Vitalität gewöhnlicher Bürger interessiert. Jenkins’ Begriff der »participatory culture« etwa deutet Popularisierung unumwunden (und unumwunden positiv) als Demokratisierung, was den Erfolg derartiger Beschreibungen in amerikanischen Theorieumfeldern erklären hilft (vgl. Kapitelüberschriften in Jenkins 2006b: »Quentin Tarantino’s Star Wars? Grassroots Creativity Meets the Media Industry«, »Photoshop for Democracy: The New Relationship between Politics and Popular Culture«). 9 | Die erste Definition, einem Abraham-Lincoln-Zitat verdächtig nahe, unterschlägt nicht nur die Eigendynamik ästhetischer Praxis, sondern rechnet ästhetische Praxis exklusiv personell zu. In grundsätzlich demokratischer Manier geht sie davon aus, dass individuelle Interessen sich selbst transparent und einer freien Entscheidung fähig sind. Der Antagonismus von Geld und Geist (oder Geld und Volk) wiederum ist in einer marxistischen Semantik auf Anhieb einleuchtend. In beiden Fällen kann gefragt werden, ob sich solche Kohärenzeffekte auch deshalb einstellen, weil marxistische und demo-

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schen Grundierung ein Verständnis davon, wie populäre Serien in modernen Mediengesellschaften soziale Identitäten mobilisieren, und zwar ohne direkte auktoriale oder institutionelle Steuerung. Im Feld populärer Produktionen und Rezeptionen gibt es offensichtlich kein Central Management. Für eine Theorie populärer Serialität bietet sich deshalb an, von der Vorstellung hauptverantwortlicher Intentionen und Akteursgruppen abzurücken, ohne die Einsicht in den Praxischarakter populärer Ästhetik aufzugeben. Man kann dies tun, indem man die – oft selbst populärkulturell gefärbte – Vorstellung einer personalen, ökonomischen oder medialen Zentralagentur durch die Vorstellung eines entwicklungsfähigen Netzwerkes aus agierenden Personen, Formen und Medien (menschlichen, narrativen und apparativen Akteuren) ersetzt: eines evolutionären Systems »Populäre Kultur«, das seinen Beteiligten Rollen anbietet und Intentionen wie Identitäten zur Verfügung stellt.10

W AS AMERIK ANISCHE S UPERHELDENCOMICS TUN Die Identifikation sich distinguierender Personengruppen und ihrer kommunizierten Interessen ergibt noch keine Beschreibung populärkultureller Autorisierungskonflikte. Vielmehr ist nachzuzeichnen, welche auktorialen Handlungsmöglichkeiten durch welche Interaktionen geschaffen und stabilisiert werden. Der vorliegende Beitrag rekonstruiert Praktiken, mit denen der eigentlich unwahrscheinliche Status der Autorschaft für standardisierte und arbeitsteilige Serienerzählungen seit den 1960er Jahren behauptet, markiert, zugeschrieben oder ausgeübt wird. Der Fokus liegt auf dem Austausch produktiver, d.h. textund bilderzeugender Handlungen, so wie er über Comic-Hefte, Editorials, Leserbriefe und Fanzines (also professionelle und amateurhafte Selbstbeschreibungen) sowie über die ästhetische Arbeit der Comic-Serien selbst zugänglich ist (also darüber, wie eine Serie sich als Serie thematisiert und entfaltet). US-amerikanische Superheldencomics eignen sich für eine solche Untersuchung besonders gut, weil die Durchlässigkeit kulturindustrieller und konkratische Ideologien ihrerseits in enger historischer Beziehung zu populärkulturellen Erzählgenres stehen. 10 | Mikroskopische Akteur-Netzwerk-Analysen scheinen in diesem Sinn mit einer makroskopischen Systemtheorie populärer Kultur (Stäheli 2005, Huck/Zorn 2007) vereinbar. Eine solch kontraintuitive Konstruktion würde persönliche Intentionen oder institutionelle Motive weder als transparente Ursachen behandeln noch als Ordnungsillusionen entlarven, sondern auf ihre empirische Beteiligung an der Herstellung folgenreicher Selbstreferenzen befragen. Die Dekuvrierungsrhetorik zahlreicher feldtheoretischer Modelle nach Bourdieu schiene überwindbar (vgl. Lopes 2009, mit Abstrichen Gabilliet 2010).

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sumseitiger Handlungen in diesem Genre traditionell hoch ist und Autorschaftsdebatten entsprechend explizit geführt werden. Die Figuren Batman und Spider-Man bieten sich zum Vergleich an, weil ihr Ursprung in unterschiedliche Epochen fällt, weil sie von konkurrierenden Verlagen (DC und Marvel) publiziert werden und weil sie besonders intensive Autorisierungskonflikte hervorgebracht haben.11 Dabei ist es kaum möglich, die komplette Gattungsentwicklung zu beschreiben; stattdessen sollen drei längere Umbruchphasen skizziert werden (ca. 1962-1968, ca. 1984-1993, ca. 2001-2008), für die sich ein Wandel sowohl der vorherrschenden Serialisierungspraktiken als auch der vorherrschenden Autorisierungspraktiken feststellen lässt.12 Mit diesem Entwicklungsmodell lässt sich die serielle Gattungsgenese von linearen narrativen Welten über parallele und konvergierende Multiversen zu den so genannten Metaversen der Gegenwart nachverfolgen.13 Lineare Serialität zeichnet sich idealtypisch durch professionell hergestellte Serien mit einfachen Episoden- oder Fortsetzungsstrukturen aus, die sich gegen kreative Aneignung durch ihre Adressaten weitgehend abzuschließen versuchen. Multilineare Serialität bezeichnet im Idealtyp parallele und überlappende, oft medienübergreifend organisierte und mit narrativem Gedächtnis ausgestattete serielle Universen, die durch professionelle und zunehmend auch nicht-professionelle Akteure produziert werden. Metaversen schließlich unterstützen eine konnexionistische (oder wuchernde) Serialität: eine unübersichtliche Verflechtung 11 | Geschlecht und ethnische Identität beider Superhelden spiegeln die dominanten Figurenmuster der Gattung; zur Marginalisierung weiblicher und nicht-weißer Superheldenfiguren vgl. Brown 2001, Robinson 2004. 12 | Der Begriff der Gattung beschreibt dabei das Ergebnis wiederholt variierender Selbstbezugnahmen von Erzähltexten, kein vorgängiges oder beständiges thematisches Reservoir. Zum Superheldencomic als Genre siehe Coogan 2006, Ditschke/Anhut 2009; zum Gattungsbegriff vgl. Frow 2006: 11. 13 | Diese dreistufige Unterteilung ist nicht deckungsgleich mit Fan-Epochisierungen wie »Golden Age«, »Silver Age« und »Bronze Age« (weitere Vorschläge bei Duncan/Smith 2009, Jenkins 2009, Gabilliet 2010). Statt auf Zäsuren liegt die Betonung auf der Evolution aufeinander bezogener Autorisierungs- und Serialitätspraktiken. Damit rückt die identifizierte Abfolge näher an Entwicklungsmodelle anderer serieller Medien wie z.B. TVI, TVII und TVIII (Ellis 2000, mit TVI als »scarcity« von Auswahlmöglichkeiten ab 1930, TVII als »availability« durch Deregulierung ab 1980, TVIII als »choice« durch Fragmentierung der Märkte und Interaktivität des Konsums) oder dem ebenfalls dreiteiligen Phasenmodell des amerikanischen Fernsehens bei Lotz 2007 (»network era«, 19521985; »multi-channel transition«, 1985-2005; »post-network era« seit 2005). Es steht zu vermuten, dass sich ähnliche Dynamiken auch für andere Serienformen und Medien feststellen lassen, allerdings nicht zeitgleich, sondern vom Stand serieller Differenzierung im jeweiligen Medium abhängig: ein Indiz für die Eigendynamik dieses Prozesses.

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unterschiedlichster serieller Universen, zunehmend in elektronischen Medien durch selbstorganisierte oder semi-professionelle Akteure. Das Ergebnis sind serielle Proliferationen, die sich nur schwer auf traditionelle Weise legitimieren oder kontrollieren lassen, weil sie auf verschiedene Medien oder uneindeutig autorisierte, wenngleich global vernetzte Akteursgruppen verteilt sind. Auf den Gesamtkontext einer Serie bezogen, erfüllen Metaversen oft Kommentar- und Ordnungsfunktionen, die das serielle Universum einerseits ausweiten und komplizieren, andererseits Komplexitätsreduktion auf einem höheren Reflexionsniveau leisten, z.B. dadurch, dass Geschichten über die Produktion und Rezeption einer Serienfigur nun zum integralen Bestandteil der Serie selbst werden. Das Wissen über Batman geht auf diese Weise in die kulturelle Arbeit von Batman-Serien ein.14

L INE ARE S ERIALITÄT Comics wie Superman und Batman besaßen Ende der 1930er Jahre noch kein narratives Gedächtnis. Beide Serien konzentrierten sich auf abgeschlossene Einzelepisoden, die die eigene Seriengeschichte kaum reflektierten. Dies korrelierte mit einer bestimmten Praxis der Autorennennung: Bis Ende der 1960er Jahre wurden Batman-Comics (in den Heften Detective Comics und Batman) allein unter dem Namen Bob Kane veröffentlicht, obwohl sie in Wirklichkeit multiauktorial hergestellt wurden. Der Autorname im Serienheft fungierte damit als Label.15 Doch damit nicht genug: DC Comics (damals noch National Allied Publications) inszenierte Bob Kane als einen Schöpferautor, dessen Urheberschaft und monatliche Erneuerung des Superhelden von einzigartiger Kreativität zeugte. So wurde Kane den Lesern des Batman-Hefts 1 (Frühjahr 1940) als »creator of THE BATMAN« vorgestellt, und das nicht nur in dem Sinn, dass er die Figur erfunden habe, sondern als Künstler (»artist«), der, so der biografische Begleittext, kein »copyist« sei, sondern ein Werk von »definite originality« (n.pag.) geschaffen habe. Am Anfang der Superheldengattung steht damit ein Autorisierungskonflikt, der nach Umberto Eco charakteristisch für das Kunstverständnis der Moderne mit ihrem (romantischen) Ursprungsgedanken des 14 | Vgl. Parkin 2009: 13-22. Das hier vorgeschlagene Entwicklungsmodell könnte damit einmal selbst zu einem Akteur in Batman- und Spider-Man-Metaversen werden. Entsprechend offen darf es sich zur Aufgabe der Komplexitätsreduktion bekennen. Zur »kulturellen Arbeit« von populären Serien siehe Kelleter 2012b. 15 | Laut Brooker (2000: 52) wurde Kane schon bei der zweiten und dritten Folge durch andere Zeichner ersetzt, wenn auch nur vorübergehend. Superman begann als Koproduktion von Jerry Siegel (Schreiber) und Joe Shuster (Zeichner), wurde bald aber auch von anderen Personen produziert. Zum Konzept des Autor-Labels siehe Niefanger 2002.

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Künstlergenies ist: Wer kann als originärer Schöpfer eines neuen Figurentypus gelten, und wer muss sich mit der Rolle des Kopisten abfinden?16 Die Inszenierung des Comic-Autors als Schöpfer geht mit einer nachgerade normativen Bestimmung populärkultureller Leserrollen einher. Die direkte Ansprache der Leser in Batman 1 ist in diesem Zusammenhang auffallend: »Meet the Artist!«, offeriert der Titel des biografischen Begleittextes. Der erste Satz wiederholt diese Einladung – »Readers, meet Bob Kane« – und bietet den so Angesprochenen alsbald eine Rolle als »many fervent fans« an. Die fotografische Darstellung des Künstlers bei der Arbeit sowie Kanes Blick in die Kamera verstärken den Eindruck, dass hier ein Verhältnis zwischen Autor (als Schöpfer und Künstler) und Lesern behauptet wird, das aus dem Bereich werkästhetischer Produktion nicht unbekannt ist.17 Interessant allerdings ist neben der in bildungskulturellen Kontexten eher seltenen Ansprache im Plural (»readers«), dass wir es mit einem biografischen, nicht autobiografischen Text zu tun haben. Der Unterzeichner des Artikels ist »The Editor«, offensichtlich ein Pars pro Toto, denn der Text spricht ebenfalls in der ersten Person Plural: »we induced Bob to sit down at a typewriter and dash off a few pertinent facts about his life« (ein autobiografischer Anspruch ist somit nur indirekt gegeben und die Kommunikation mit dem Autor vom saloppen Ton kollektiver Leseransprache kaum unterschieden). Dieses »wir« wird nie aufgeschlüsselt; es scheint auf eine Gruppe von Redakteuren, Herausgebern und/oder Verlagschefs zu verweisen, die den Künstler Bob Kane protegieren. Hinter der Inszenierung einer singulären Schöpferperson bleibt somit der multiauktoriale Produktionsprozess – sowie der Anspruch auf Massenadressiertheit – deutlich erkennbar. Erst in den 1960er Jahren bricht bei DC die Fiktion auktorialer Einheit auf, und zwar aufgrund eines Kommunikationsprozesses, an dem professionelle Produzenten genauso beteiligt sind wie Leser und die Comic-Hefte selbst. Der Vernetzungscharakter seriellen Erzählens zeigt sich dabei an der Tatsache, dass der Einbezug immer weiterer Akteure nicht nur die Hierarchien des Produktionsfeldes ausdifferenziert, sondern neue Aktionsmöglichkeiten für die Superheldengattung selbst schafft. Die Entstehung innovativer Heldentypen (als Konkurrenzentwürfe zu etablierten Figuren) steht in Wechselbeziehung zu den Aktivitäten von Rezipienten, die nun beginnen, Leserbriefe zu schreiben, Fanclubs zu gründen und eigene Autoritätsansprüche zu erheben (etwa über die Interpretation der Seriengeschichte, über Fortsetzungsmöglichkeiten oder über die Bedeutung einzelner Autoren). DCs Hauptkonkurrent, der Marvel-Verlag, reagiert auf die beschriebenen Autorenlabel mit einer offensiven Propagierung multipler und selbstbewusst populärkultureller Autorschaft. Vieles davon ist schon im allerersten Spider16 | Vgl. Eco 1990: 83-84. 17 | Vgl. Caduff 2007.

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Man-Auftritt in Amazing Fantasy 15 (Aug. 1962) erkennbar. Statt einheitliche auktoriale Zuständigkeit zu behaupten, macht der Comic-Text überhaupt keine Unterscheidung zwischen Autor, Redakteur und Erzähler. Auf dem Titelblatt wird eine »message from the editor« angekündigt, doch es bleibt unklar, ob sich diese Ankündigung auf die tatsächliche Meldung auf der »Fan Page« weiter hinten im Heft (zu Publikationsfragen) bezieht oder ob sie die Einführungsworte zum »new amazing Spider-Man« auf der ersten Seite betrifft (n.pag). So oder so setzt Spider-Man mit einer direkten »message to you from the editor« ein, die sich bezeichnenderweise in den gelben Erzählkästchen des Comics befindet, also dort, wo eigentlich der Erzähler sprechen sollte. Entsprechend signaturhaft sind die Autornamen Stan Lee und S. Ditko handschriftlich auf der ersten Seite des Erzähltextes verzeichnet. Die Gleichung Redakteur = Autor(en) = Erzähler wird nochmals vom Ton der entsprechenden Passagen ratifiziert, bei denen es sich ebenfalls um direkte Leseradressen handelt. Äußerst unverhohlen sprechen die Erzähler-Redakteure hier mit der Stimme kulturindustrieller Produzenten, die als Verkäufer agieren und ihr eigenes Produkt anpreisen: »we in the comic mag business«. Darüber hinaus unterstreicht das erste Panel die kommerzielle Grundierung der zu erwartenden Innovationen, indem es die Besonderheit der neuen Figur ausdrücklich als die Besonderheit einer Ware exponiert, die sich von konkurrierenden Superhelden abhebt: »they’re a dime a dozen! But, we think you may find our Spiderman just a bit … different!«.18 Aus welchem Rollenverständnis heraus wird hier gesprochen? Sicher aus keiner werkästhetischen Autorrolle mehr, nicht einmal in ihrer kommerziellen Zitat-Variante. Der Begriff des »creator«, unter dem Bob Kane bei DC auftritt, taucht nirgends auf. Der rasche Erfolg des Spider-Man als Alternativmodell unter den »long underwear characters« (wie es gleichermaßen genüsslich wie selbstreferentiell in der Eröffnungsgeschichte heißt) mag hiermit zusammenhängen. In Ikonografie und Handlung freimütig trivial und grell, ist SpiderMan kein getriebener Vigilante wie Batman und auch kein außerirdischer Verfechter des Guten wie Superman, sondern ein Teenager. Damit gleicht er den meisten seiner empirischen Leser und verrät zugleich etwas über den von Marvel konstruierten impliziten Leser dieses neuen Heldentypus: Parker ist ein von Selbstzweifeln geplagter Außenseiter, ein nervöser Superheld, der 18 | Die in der Formulierung »just a bit different« angelegte Spannung zwischen Zitat und Innovation – ein grundlegendes Merkmal allen seriellen Erzählens – drückt sich auch in der Cover-Gestaltung von Amazing Fantasy 15 aus. Zu sehen ist ein sich von rechts ins Bild schwingender Spider-Man, der über den Hochhausschluchten New Yorks einen Schurken unter dem Arm trägt. Dieses Cover lässt sich als Bildverweis sowohl auf das Detective Comics-Heft 27 (Mai 1939) lesen, in dem Batman eingeführt wird, als auch auf das erste Batman-Heft: Auf beiden Titelbildern hangelt sich Batman (im zweiten Fall mit seinem Teenage Sidekick Robin) auf ähnliche Weise durchs Bild.

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sich mit Alltagsproblemen herumschlägt, die weit näher an der Lebenswelt der vermuteten Leser liegen als die Ereignisse in Gotham und Metropolis. Dieser neue Heldentyp, seiner selbst unsicher und doch lautstark, mit betont kritzligem Lettering eingeführt, korrespondiert auch mit dem Selbstverständnis eines aufstrebenden populärkulturellen Konkurrenzunternehmens, das sich gegen einen etablierten Marktführer in Position bringt. Das erfordert eine neue Form der Autorisierung: Gegenüber Bob Kanes nicht immer nur scherzhaft mit werkästhetischen Konnotationen spielendem Künstleranspruch entwirft Marvel eine Vision kollektiv-verschworener Autorschaft, die ein ganzes Ensemble von Schreibern, Zeichnern, Koloristen und sogar Sekretärinnen unter dem Dach des so genannten »Marvel Bullpen« vereint.19 Heldentypen und Autorbegriffe gehen offenbar auseinander hervor: Eine mythische Figur wie Batman verlangt nach einem halbwegs mythisierten Autor (Kane als Schöpfer), während ein eher alltäglicher Superheld wie Spider-Man ein alltäglicheres Bild von Autorschaft (das Bullpen als Ort kameradschaftlicher Zusammenarbeit) hervorbringt. Die Leser des Spider-Man wiederum finden sich in einem intim konnotierten Vertrauensverhältnis zu den Produzenten der Serie wieder. Stan Lee spricht sie in der Kolumne »Stan’s Soapbox« (ab Juni 1967) konsequent direkt an und fordert sie wiederholt zur Mitarbeit an der Serie auf: »[S]ince it’s YOU who are the true editors of Marveldom, it’s time for another impassioned poll«, heißt es im September 1967 in Reaktion auf den Wunsch einiger Leserbriefschreiber, die Marvel-Helden sollten sich den gesellschaftspolitischen Fragen der Zeit stellen (Lee 2009: 7). Passionierten Lesern wird somit offiziell (d.h. auf dem Papier) ein Mitspracherecht eingeräumt; sie werden als Teilhaber, ja sogar als die wahren Herausgeber der Comics bezeichnet.20 Einen Monat später, im Oktober 1967, erklärt Lee:

19 | Im Fantastic Four Annual 7 (Nov. 1969) werden Fotos von Marvel-Mitarbeitern abgedruckt und mit folgenden Worten (in Comic-Schrift und Rahmen) überschrieben: »Because You Demanded It! Here’s a veritable rogues’ gallery of candid photos, featuring just about everybody in the whole blamed bullpen!« (N.pag.) Die Mitarbeiter werden namentlich vorgestellt und mit Spitznamen versehen, die ihre Funktion innerhalb des Betriebs sowie die enge Verbundenheit zwischen Produktion und Produkt beschreiben: Stan Lee ist »Marvel’s Madcap Monarch«; Neil Adams ist »X-Men Artist X-traordinary«; Sal Buscema ist »Honorary Avenger«. 20 | In Luke Cage, Powerman 39 (Jan. 1977) versichert Lee (wohl weil es notwendig ist): »We actually do read every letter you send. We listen to your comments. We write and draw our books according to what you – the real editors of Marvel Comics – want to see.« (N.pag.) Vgl. Pustz: »The idea that fans – as editors in absentia – and professionals were creating the comics together was central to Marvel’s rhetoric.« (1999: 167)

A UTORISIERUNGSPRAK TIKEN SERIELLEN E RZÄHLENS Many of you unsung heroes have written to ask how we really feel about our own mags. […] Well, just for the record, Charlie, we BELIEVE in our swingin’ superheroes! We created them – we live with their adventures – their hangups – almost 24 hours a day. We know ’em as well as we know our families. (Lee 2009: 8)

Durch Anteilnahme am Marvel-Universum können Leser demnach selbst zu Helden innerhalb dieser – nun doch sehr ausgeweiteten – Erzählwelt werden. Die Leserbriefe, die ab Ende der 1950er Jahre in den Superheldenheften abgedruckt werden, ermöglichen einen publizistischen Diskurs in Serienheften über Serieninhalte, der rasch zu Auseinandersetzungen über Rollenverteilungen und Zuständigkeiten in dieser neuen Kommunikationsform führt. Insofern scheint weniger die Frage nach dem Was und Warum einzelner Leserbriefe und ihrer Verfasser lohnenswert als die Frage danach, welche Handlungsmöglichkeiten durch Leserbriefe geschaffen werden. Sobald der Austausch zwischen Produzenten und Lesern nämlich zu einem integralen Bestandteil der Superheldencomics wird, wandeln sich auch die Rollen des Comic-Autors, des Redakteurs, des typischen Comic-Lesers usw. War der »Editor«, der den ersten Auftritt des Spider-Man in Amazing Fantasy 15 ankündigte, noch anonym, fordern Leserbriefe nun bald Auskunft über die persönlichen Überzeugungen und Intentionen der Marvel-Autoren. In voller Unterstützung der von Marvel forcierten Aufhebung aller Unterschiede zwischen Produzent, Erzähler, empirischem und implizitem Autor entsteht dabei ein Diskurs, der parallel zu den Comic-Geschichten verläuft und (personale) Hauptakteure benennt. Mehr noch: Stan Lees Aussagen als Redakteur suggerieren ein enges, gleichsam partnerschaftliches Verhältnis sogar zwischen Autoren und Figuren. Wenn sich Leser an diesem Spiel beteiligen, so geschieht dies offenbar nicht, weil sie Realität und Erzählung miteinander verwechseln; vielmehr verstehen sie (in den Worten Jared Gardners), dass sie eine populärkulturelle Rolle zu spielen haben. Die offensive Vermischung der Grenzen zwischen Produzenten, Konsumenten und fiktionalen Charakteren arbeitet hier an der Aufführung einer großen Gemeinschaft, die prinzipiell allen offen steht, in der aber auch jeder Teilnehmer (wie in einer Familie) einen eigenen Platz auszufüllen hat. Autorisierungskonflikte sind vorprogrammiert, stabilisieren dank konstanter Reproduktion aber das Gesamtsystem.21 21 | Zum Verhältnis von Realität, Erzählung und Rollenspiel vgl. Gardner 2011. Fanclubs sollen Leser ebenfalls an einzelne Serien binden und ihre kreativen Aktivitäten bündeln. DC gründete schon in den 1940er Jahren den Fanclub Supermen of America; Marvel rief 1964 die Merry Marvel Marching Society ins Leben (ab 1969 Marvelmania International und ab 1971 FOOM). Der Leser David Coleman schrieb in Amazing SpiderMan 5 (Okt. 1963): »I want to start a Spider-Man Fan Club to promote him. […] There are many projects in planning, as an opinion page, a Spider-Man Fan Club book, and a

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Das familiäre, fast religiöse (»we BELIEVE«) Verhältnis der Marvel-Produzenten zu ihren Figuren korreliert mit Leserbriefen, die ähnliche Bindungen ausstellen.22 Auf Produktionsebene wird hier ein Element eingeführt, das Leser dankbar aufnehmen (und ernst nehmen) sollen: der Aufruf, sich aktiv mit den Abenteuern und Problemen der Superhelden zu beschäftigen, sie – den MarvelProduzenten gleich – rund um die Uhr bei sich zu tragen und sie als Familienmitglieder willkommen zu heißen. In vielen Fällen bringt das Leserbriefe hervor, die voll emotional gefärbten Lobes sind. Oft wird aber auch Kritik geäußert und – im berechtigten Vertrauen auf die gleichermaßen belebende wie stabilisierende Wirkung solch kontrollierter Debatten – abgedruckt. So schickt Don Foote einen Brief an Stan Lee und Steve Ditko, der in Amazing Spider-Man 10 (März 1964) erscheint: Dear Stan and Steve, […] SPIDER-MAN #6 started off with a fine cover. For one, I hate those ugly word balloons on most of your covers. I’m glad you didn’t have one on this issue. The action and art was very good all through the story, but there is the poor paneling that dulls some of it. Back in the forties, you were masters at »staggered panels« – wha’ happen? If a panel is designed to fit the scene, it makes that particular panel much more exciting. Please try this out soon.

Lee antwortet: Good suggestion, Don, but staggered panels have never really appealed to us. We feel the interest and excitement should come from the drawing itself, rather than the shape of the panel borders. […] But, what do our BOSSES say? (Namely – YOU, the readers!) (N.pag.)

Auf Seiten des Leserdiskurses zeigen sich hier relativ diffuse und wertende Begrifflichkeiten (»fine«, »hate«, »ugly«, »very good«, »poor«, »dull«, »exciting«), zugleich aber auch ein artikuliertes Wissen über die Seriengeschichte (»back member sheet.« Interessanterweise gleichen diese Pläne dem ersten offiziellen Marvel Fanclub und wurden von den Herausgebern des Heftes ausdrücklich gebilligt: »You’ve got our blessing, Davey boy – just so long as YOU handle the mail and not US!« (N.pag.). 22 | Bei der Auswertung von Leserbriefen muss berücksichtigt werden, dass unklar ist, nach welchen Kriterien und aus welchen Motiven sie publiziert wurden. Es ist immer möglich, dass einzelne Briefe erfunden wurden, um spezifische Diskussionen anzustoßen oder in bestimmte Bahnen zu lenken. Dazu Barker: »[L]etters are selected, and often for early editions solicited or ghostwritten. They are not produced by some ›natural sampling‹ of readers’ responses. […] They are a part of the self-image of the comic. They present that self-image, and help to encourage the right kind of future response from readers.« (1989: 47)

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in the forties«). Letzteres legitimiert die persönliche Bitte an »dear Stan and Steve«, Änderungen in der formalen Gestaltung zukünftiger Episoden vorzunehmen: »Please try this out soon.« Auf Seiten der persönlich angesprochenen Herausgeber finden sich ebenfalls subjektive Wertungen (»never appealed to us«, »we feel«, »should«), aber auch die explizit – und sicherlich kalkuliert – ausgestellte Bereitschaft, mit den Lesern über Ästhetik und Fortgang der Serie zu verhandeln: »But, what do our BOSSES say? (Namely – YOU, the readers!)«. Fans werden persönlich angesprochen (»Don«) und gleichzeitig als Arbeitgeber bezeichnet, die das Marvel-Personal zu neuen Höchstleistungen animieren sollen. Die Comic-Texter und Zeichner vergangener Dekaden finden sich im Briefwechsel dagegen als »Masters« einer künstlerischen Traditionslinie wertgeschätzt. Insgesamt weicht die klassische Autor/Leser-Unterscheidung einem weitaus dynamischeren (d.h. relativ flexibel besetzbaren) Geflecht aus Rollen und Positionen, das zumindest auf Diskursebene vielfältiger segmentiert ist (d.h. zahlreichere, aber flachere Hierarchien aufweist) als in der bildungskulturellen Werkästhetik. Zur gleichen Zeit werden die Batman-Comics immer noch unter dem Autor-Label »Bob Kane« publiziert; andere Serien enthalten oft überhaupt keine Autorennennung. Doch auch hier entfaltet die Einführung der Leserbriefseiten ihre Wirkung: DC-Leser versuchen nun, das Label durch die Unterscheidung individueller Erzähl- und Zeichenstile zu entschlüsseln. Die Ergebnisse ihrer Nachforschungen teilen sie in Leserbriefen mit und diskutieren ihre Vermutungen in neu gegründeten Fanzines, die abseits industriell eingerichteter Foren agieren.23 Popularisierung durch serielles Erzählen heißt hier: Bedürfnis nach 23 | Ein Leser der Hawkman-Serie schreibt in Brave and Bold 35 (Feb. 1961): »[Hawkman’s] new, up-to-date version is great; thanks to Gardner Fox and Joe Kubert. And, while we’re on the subject of names, how ’bout keeping the author and writer’s name on the title page of each story? Quite a large amount of fans like to know who’s behind the characters.« (Ron Haydock, zit. Schelly 1999: 31) Weitere Beispiele lassen sich in den Leserbriefseiten der Batman-Hefte ab Nummer 125 (Aug. 1959) und Detective Comics ab Nummer 327 (Mai 1964) finden. Brooker zufolge fördern Herausgeber solche Spekulationen, weil die »cultivation of the ›authorship‹ discourse« (2000: 252) der Leserbindung diene. Belege sind Zuschriften wie diese: »After reading ›Raid of the Rocketeers‹ in the February Batman I’m sure a new writer has joined the Batman bullpen. The style of writing is completely different from either Fox, Herron, or Broome, the three mainstays. It might be the veteran Bill Finger, but I doubt it. […] My guess for the authorship is Nelson Bridwell, our man on the inside.« Die Antwort darauf – »An interesting deduction, but it laid an egg. The real hatching job was done by the follow-up correspondent« – und der folgende Brief sind ebenfalls typisch: »Guess the author, eh? Well, I have some sneaky suspicions but I’ll go about it in a scientific manner. Since it’s not Fox, Finger, Broome, or Herron, it would have to be either Kanigher, Hamilton, or Drake.« (Mike Friedrich und

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imaginärer Gemeinschaftlichkeit, nach Austausch mit fernen Gleichgesinnten. In Fanzines wie Alter Ego, Batmania und Capa-alpha nehmen Comic-Leser somit neue Rollen außerhalb der legitimierten Publikationen, wenn auch in konstantem Bezug auf diese ein: als Redakteure, Serienhistoriker, Comic-Zeichner usw.24 Gleichzeitig bieten Fanzines professionellen Comic-Produzenten eine Möglichkeit, sich als Autoren, aber auch als Leser (von Fanpublikationen) zu präsentieren – und vielfach sogar: präsentieren zu müssen. Bisweilen kehrt sich das Verhältnis von professionellen Anbietern (Autor-Editor-Kollektiv) und Konsumenten sogar um. Zwar wird die Rollenunterscheidung selten ausdrücklich aufgehoben – die Produzenten der Fanzines beschreiben sich in der Regel als Amateure und die Mitarbeiter der großen Comic-Verlage als Profis –, doch wenn Leser von Superheldencomics ihre eigenen Comics herstellen und publizieren, dann handeln sie als kreative Akteure eines erweiterten Serien-Universums. Und wenn sie Briefe von Autoren oder Zeichnern wie Carmine Infantino, Gardner Fox, Otto Binder, Sid Greene oder Mort Weisinger abdrucken, agieren sie aus einer Position, die sich oft in Analogie zu der eines Comic-Redakteurs oder Herausgebers versteht, der Leserbriefe auswählt und in den Letter Columns der Hefte veröffentlicht. Leser werden auch zu Kritikern, die auf die von Marvel und DC ausgestellten Autor- und Leserrollen reagieren und so an deren Weiterentwicklung arbeiten. Als prägnantes Beispiel kann das Exposé genannt werden, das Jerry Bails, der Herausgeber von Capa-alpha, im September 1965 in der zwölften Nummer des Fanzines über den Schöpfungsmythos der Batman-Serie veröffentlicht. Es trägt den Titel »If the Truth Be Known or ›A Finger in Every Plot‹« und skizziert die Rolle eines bis dahin relativ unbekannten Comic-Schreibers, Bill Finger, bei der Entstehung des Batman (Bails’ Aussagen basieren auf einem Interview mit Finger). Fanzines avancieren auf diese Weise zu einem Forum für bislang weitgehend anonyme, ja sprachlose Akteure aus der Comic-Industrie, die nun aus ihrer Rolle als Handwerker und Auftragsarbeiter heraustreten und Autorenstatus reklamieren können. Der Artikel verspricht im Stil einer besonders spektakulären Serienepisode Enthüllungen zur »Silent Legend Behind the Batman!«. Bails widerspricht der Vorstellung, Kane sei der einzige »creator of the Batman«: »Bill [Finger] is the man who first put words in the mouth of the Guardian of Gotham. He worked from the very beginning with Bob Kane in shaping and reshaping Comicdom’s first truly mortal costumed character.« (N.pag.) Der Rest des Exposés bescheinigt Finger die Urheberschaft fast aller wichtigen Figuren und Elemente des Batman-Universums: des Umhangs, des Ken Hodl, in Batman 181, 1966: n.pag.) Schon stilistisch sind Herausgeber- und Lesersprache kaum voneinander zu unterscheiden. 24 | Alter Ego und Batmania holten sich die Unterstützung von Herausgebern wie Julius Schwartz (DC Comics) ein.

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mit Gadgets vollgestopften Gürtels sowie von Haupt- und Nebenfiguren (Robin, Commissioner Gordon, Alfred, Pinguin, Catwoman). Damit präsentiert Capa-alpha der Batman-Fangemeinde einen maßgeblichen Co-Schöpfer und entrechteten Teil-Urheber der Serie. Das Fanzine positioniert Bails gleichsam in der Rolle des Enthüllungsreporters, der wiederum Kane in die Rolle des Leserbriefschreibers drängt.25 Postwendend nämlich verfasst Kane einen offenen Brief an alle Batman-Fans, und zwar nicht über Capa-alpha, sondern über das freundlicher gesinnte Batmania, dessen Herausgeber Biljo White das Exposé an Kane weitergeleitet hatte.26 Kanes Brief, »An Open Letter to All ›Batmanians‹ Everywhere«, breitet Insiderwissen im reißerischen Duktus der Comic-Leseransprachen aus: Here, for the first time, straight from the »horse’s mouth« is the real inside story about myself and »Batman«, with no holds barred, and I intend to […] get down to the real truth about the legend that is »Batman«, so fasten your seat belts, Batmanians, as the fireworks begin. (N.pag.)

Kanes semantisch wie typografisch überdeterminierte Wahrheitsansprüche gelten der endgültigen Klärung der Batman-Urheberschaft: »Now, Biljo, I’d like to emphatically set the record straight, once and for all, about the many ›myths‹ and ›conjectures‹ that I read about myself and my creation, ›Batman‹, in your ›Fanzine‹ and other publications. […] I, Bob Kane, am the sole creator of ›Batman‹.« Als er Bails dann spöttisch als »self-appointed authority on Batman« bezeichnet, ruft Kane explizit den zugrunde liegenden Autorisierungskonflikt auf: Wer kann die Seriengeschichte zuverlässiger rekonstruieren, der so genannte »sole creator« des Batman oder der Hobby-Kritiker eines Fanzines, der sich zum Anwalt eines bislang unbekannten Schreibers macht? So wird Kane zum AmateurHistoriker der Produktionshintergründe seiner eigenen Serie und tritt als einer der ersten prominenten Akteure im aufkommenden Fandiskurs über Comics in Erscheinung. Die ohnehin heikle Position des populärkulturellen Schöpferautors steht hier unter gesteigertem Legitimationsdruck, so wie sich professionelle Akteure fortan generell dazu gezwungen sehen, Handlungsrollen einzunehmen, die bislang von Laien besetzt wurden – und in einer entsprechenden Sprache zu sprechen.

25 | Journalisten spielen in den Serien von DC und Marvel eine zentrale Rolle: Clark Kent und Lois Lane sind Reporter des Daily Planet, Peter Parker arbeitet als Fotograf für den Daily Bugle. 26 | Der Brief ist auf den 14. Sept. 1965 datiert, erschien aber erst im Batmania Annual 1967, da eine Aussprache zwischen Kane und Finger geplant war (die offenbar nicht stattfand), vgl. Schelly 2001: 69.

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M ULTILINE ARE S ERIALITÄT Die beschriebenen Autorisierungspraktiken der 1960er Jahre koexistieren in der Regel mit linearen Serialitätsformen, arbeiten aber bereits an deren Transformation. In den 1970er Jahren lässt sich eine Reihe von Veränderungen in der amerikanischen Comic-Landschaft feststellen. Neben DC Comics produziert nun ein weiterer Verlag, Marvel Comics, sehr erfolgreich Superhelden, die sich von DC-Helden wie Superman, Batman und Wonder Woman dadurch unterscheiden, dass sie in einer realistisch konnotierten Welt (nahe der Lebenswelt der impliziten Leser- und Autorschaft) als Figuren mit Charakterschwächen und Alltagsproblemen operieren.27 Darüber hinaus entwickeln sich neue Serien-Formate. So erscheint neben The Amazing Spider-Man ab 1976 eine weitere Spider-Man-Heftreihe, The Spectacular Spider-Man. Während es sich dabei »nur« um eine parallele Serie handelt, richtet sich Spidey Super Stories (1974-1982) ausdrücklich an ein jüngeres Zielpublikum. Innovative Serienformate entstehen dann mit Marvel Team-Up (ab 1972), in der Figuren aus unterschiedlichen Serien in einzelnen Heften zusammen kämpfen, und den What If-Geschichten (ab 1977), in denen spekulative Szenarien entworfen werden, die keine Auswirkung auf die Kontinuität der Hauptserien haben (d.h. außerhalb des so genannten »Kanons« einer Serie stehen), z.B. »What If Spider-Man Joined the Fantastic Four?« (Feb. 1977) oder – man beachte – »What If the Original Marvel Bullpen Had Become the Fantastic Four?« (Okt. 1978).28 Die Multiplizierung serieller Formate geht mit der Diversifizierung seriellen Erzählens einher: Neben die bis dato meist episodischen und oneirischen Erzählstrukturen treten nun längere Handlungsstränge über mehrere Ausgaben und immer komplexere Figurenkonstellationen. Um die Gesamtentwicklung einer Serienfigur verfolgen zu können, müssen Leser fortan auch Hefte anderer Serienfiguren oder Figuren-Teams kaufen, denn alle Ereignisse finden in einem übergreifenden Marvel Universum statt (angesiedelt in New York), das 27 | Zu den Marvel-Helden dieser Zeit gehören neben Spider-Man die Mitglieder der Fantastic Four, The Incredible Hulk und die X-Men. Einer der populärsten früheren Superhelden ist Captain America, 1941 von Joe Simon und Jack Kirby ins Leben gerufen (als Marvel noch Timely Comics hieß). 28 | Bei DC lassen sich ähnliche Entwicklungen feststellen, vgl. neue Serien wie Batman Family (1975-1978). Schon seit 1942 druckte der Verlag non-kanonische »imaginary stories« in unterschiedlichen Heften; das 1989 entstandene Elseworld-Imprint verankerte dieses Erzählprinzip institutionell. In den 1980er Jahren richten sich die Imprints (Marvels Epic und DCs Vertigo) vor allem an ein älteres Zielpublikum; bei diesen Comics handelt es sich oft um experimentelle Formate, die Autorenrechte weitgehend anerkennen. Zum Thema serieller Continuity siehe auch den Beitrag von Hoppeler/Rippl im vorliegenden Band.

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sich über mehrere synchron verlaufende Serien erstreckt und Figurenübergänge zwischen einzelnen Serien erlaubt.29 Anders als bei DC (wo aus episodischen Einzelwelten zunächst parallele Universen werden) sind alle Serien bei Marvel mehr oder weniger explizit miteinander verknüpft. Insofern Ereignisse in einer Episode Konsequenzen im gesamten Serienuniversum haben, sind die einzelnen Erzählwelten also zur konstanten Selbst- und Fremdbeobachtung gezwungen: Multilinearität kulminiert in Metareflexionen, vor allem wenn die unterschiedlichen linearen Stränge miteinander konvergieren (sollen). Lineare, multilineare und konnexionistische Serialitätstypen sind demnach keine distinkten Erzählformen, die sich historisch ablösen würden; vielmehr handelt es sich um zu unterschiedlichen Entwicklungsstadien einer Serie unterschiedlich prominent ausgeprägte Reflexionsstufen. Je weiter die medialen Transfers einer Serie dabei reichen (und Superhelden sind fast von Beginn an multimedial organisiert)30 und je mehr die Serienhandlung in parallelen und potenziell konvergierenden Erzählwelten (Multiversen) stattfindet, desto dringlicher wird es, den Zusammenhalt der proliferierenden Figuren und Geschichten durch ein »metanarrative« abzusichern: »a ›story about a story‹ that combines major story lines with references to what went on behind the scenes« (Parkin 2009: 14). Eine der wirksamsten Methoden, mit denen Serien solche Metaversen schaffen, ist die Institutionalisierung einer Fankultur, oft im engen Austausch mit Comic-Verlagen. Metanarrative Perspektiven auf multilineare Comic-Serien werden aber auch durch kulturindustrielle Publikationen befördert, z.B. durch ein Buch wie Origins of Marvel Comics, 1974 von Simon & Schuster publiziert, das neben einer Reihe von »origin stories« berühmter Marvel-Helden auch Essays von Stan Lee enthält, die Auskunft über auktoriale Intentionen und Produktionsprozesse geben. Des Weiteren spielen institutionelle Faktoren eine Rolle, etwa die Veröffentlichung des Comic Book Price Guide von Robert Overstreet (ab 1970), die Umstellung des Vertriebes auf ein Direct Sales System (ab 1973 werden Comic-Hefte in eigens hierfür geschaffenen Comic-Buchläden und nicht länger an Kiosken oder Zeitungsständen verkauft) oder die Gründung des Comics Journal (1977), einem ehemaligen Fanzine, das sich schnell als pro29 | Zum »oneirischen Klima« der Superman-Serie noch bis in die frühen 1960er Jahre vgl. Eco 1984 (Superman altert nicht; ein Abenteuer hat in der Regel keinen Einfluss auf das nächste und wird dort auch nicht thematisiert. Bei Batman verhält es sich ähnlich). 30 | Schon sehr früh nach der Einführung populärer Figuren wie Superman und Batman entstanden flankierende Zeichentrickfilme, Radio-Hörspiele, Film Serials und Zeitungsstrips. Das Prinzip der Multilinearität war diesen Ablegern immer schon inhärent. Der große Erfolg der Batman-Fernsehserie (ABC 1966-1968) und des SpiderMan-Fernsehcartoons (ABC 1967-1970) sind in diesem Zusammenhang ebenfalls zu berücksichtigen.

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fessionelles Fachorgan etabliert und neben Kolumnen und Leserbriefen auch Interviews mit Comic-Produzenten abdruckt. Eine weitere wichtige Publikation ist das ebenfalls professionell produzierte, aber weniger analytisch ausgelegte Fanzine Amazing Heroes (1981-1992), dessen Fokus ausschließlich auf Superheldencomics liegt. Der anfängliche Slogan des Comics Journal, »a quality publication for the serious comics fan«, artikuliert ein neues Bewusstsein für Gattungsdistinktion, welches der Praxis eines eigenen Vertriebssystems entgegenkommt. In diesem Zusammenhang überrascht es nicht, dass der Impuls für das Direct Sales System nicht von den großen Comic-Verlagen ausging, sondern von einem professionellen Akteur aus der Fankultur. Phil Seuling hatte 1968 die jährliche New York Comic Art Convention ins Leben gerufen und 1972 die Firma East Coast Seagate Distribution gegründet, die an der Implementierung des Direktvertriebes entscheidend beteiligt war. Diese infrastrukturellen Veränderungen, allesamt unterstützt durch das innovative ästhetische Selbstverständnis der Gattung, wirken ihrerseits auf die Möglichkeiten seriellen Erzählens in Superheldencomics zurück. Der Overstreet Comic Book Price Guide etwa listet alle bis zu diesem Zeitpunkt erschienenen Hefte einzelner Serien und trägt damit zur Professionalisierung einer Sammlerkultur bei, deren Ursprünge mehr als eine Dekade zurückliegen und die den Price Guide überhaupt erst notwendig gemacht hatte. Das Sammeln von Heften – und damit verbunden: die Entstehung gesicherten Wissens über die Entwicklungsgeschichte einer laufenden Serie – gestattet neben der Kanonisierung bestimmter Autoren, Stile und Epochen serielle Selbstreflexionen neuen Typs, verkörpert in der Autorität langjähriger Lektüre. Wenn bestimmte Leser nämlich alle oder zumindest sehr viele Batman-Geschichten seit 1939 kennen, können sie über einzelne Charakterzüge der Figur, über die Figurenkonstellation, über Aspekte des Setting oder die ikonografische Wirkung einer Geschichte mit größerer Kompetenz sprechen als ein Redakteur, Autor oder Zeichner, insofern dieser kein dezidierter Batman-Fan ist.31 Die Organisation serieller Selbstreflexion in kompetenten Sammlerkulturen stellt neue Anforderungen an alle involvierten Akteure, insbesondere solche, die jünger sind als die Serie selbst. Neue Erzählpraktiken werden nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich. Rechnete das episodische Erzählen in abgeschlossenen Folgen noch mit Lesern ohne langes Serienwissen – und das mit gutem Grund, weil Leser eine verpasste Folge nicht nachkaufen konnten 31 | So antwortet der Autor und Redakteur Dennis O’Neil auf die Frage, wie er sich auf seine Arbeit an der Batman-Serie vorbereitet habe: »I went to the DC library and read some of the early stories« (zit. Pearson/Uricchio 1991: 18). Zur Bedeutung des Sammelns für populärkulturelle Distinktionsprozesse vgl. den Beitrag von Maase/Müller in diesem Band.

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(bis in die 1970er Jahre returnierten die Kioske unverkaufte Hefte am Ende des Monats; oft wurden sie vernichtet oder verramscht, nicht zur nachträglichen Lektüre bereitgehalten und katalogisiert) –, so ändern sich die narrativen Bedingungen drastisch, wenn das Serienwissen auf eine zunehmend große Zahl von Lesern verteilt ist, denen zugemutet werden kann, nicht nur jede neue Episode zu lesen, sondern diese auch in den Kontext alter Episoden einzuordnen. Fast zwangsläufig entwickeln Serien unter solchen Bedingungen längere Handlungsstränge, wiederkehrende Charaktere (inklusive Verweisen auf frühere Auftritte), dynamische Figurenkonstellationen und insgesamt ein metanarratives Bewusstsein, das sich in unterschiedlichen Akteuren aktualisiert. Professionelle Zeichner und Schreiber etwa werden von lang laufenden Serien dazu angehalten, sich mehr und mehr in die Rolle langjähriger Leser zu begeben, d.h. als Serienfans aufzutreten, die sich in dieser Hinsicht wenig von ihren engagierten Adressaten unterscheiden. Schon sehr früh hatte sich auf diese Weise Carmine Infantino, Zeichner und Redakteur u.a. von Batman und späterer Verlagschef von DC, in Alter Ego 5 (März 1963) als Anhänger der großen Abenteuer-Zeichner beschrieben (»My idols of yesteryear were and still are Hal Foster and Milton Caniff; in my opinion they are the giants«) – und Otto Binder, Autor von Captain Marvel und Jimmy Olson, gab sich kurze Zeit später als begeisterter Leser von Fanzines zu erkennen (»Alter Ego #7 certainly ›shazamed‹ into a super-issue! Cover: superb. Best likeness of the Marvel Family trio I’ve ever seen on a fanzine«, zit. Thomas/Shelly 2008: 67, 138). Ab den 1970er Jahren nimmt die Selbstidentifikation von Comic-Autoren als Comic-Dauerleser und Fans explosionsartig zu. So präsentiert sich Frank Miller in einem Interview mit dem Comics Journal als glühender Verehrer der Daredevil-Figur: »[W]hen I was doing Daredevil, I was on fire with it. I was in love with it. It was all I thought about.« (Vom Comics Journal wird Miller dann auch korrekt als »Daredevil fan« bezeichnet; zit. Brayshaw/Groth 1998: 87-88.) Ähnlich skizziert Todd McFarlane seinen Weg vom Comic-Sammler zum Comic-Autor: When I started collecting, I started buying Marvel first, started practically buying every single title, and then when I ran out of those titles, I started buying DCs. And when I ran out of those, then it was the independent comic books. And then there was, »I’m going to read them, and now I’m going to try and draw them, then write letters to them.« (Zit. Khoury 2007: 66)

Die autobiografische Chronologie (»and then … and then …«) suggeriert individuelle Karriereschritte, wo aus Sicht der Serie auch von einer Nutzung der Talente ein- und derselben Person für unterschiedliche Reproduktionserfordernisse gesprochen werden könnte. Die exklusive Zurechnung von Handlungen auf Personen – in der Populärkultur nicht weniger beliebt als in ihrer kulturwissenschaftlichen Betrachtung – setzt die beteiligten Subjekte jedenfalls unter

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konstanten Legitimationsdruck: »Ist« McFarlane denn nun Fan oder Autor? Behauptet er Fanstatus nur, um als Autor größere Glaubwürdigkeit für sich reklamieren zu können? Zeigt sein »Aufstieg« zum Comic-Produzenten, dass Fans keinen notwendigen Wissensvorsprung gegenüber den Auftragsarbeitern der Comic-Industrie besitzen? Verrät ein Fan seine Identität als Fan, wenn er zum professionellen Produzenten wird und mit seiner Arbeit Geld verdient?32 In der Populärkultur gibt es wohl kein Medium, keine Gattung, keinen Bereich, in dem diese Fragen nicht mit großer Dringlichkeit gestellt werden. Letztlich beschleunigen die hierdurch forcierten Identifikationskonflikte einen Prozess kreativer Proliferation, der oft unabhängig von (und sogar in Opposition zu) den Absichten und Zielen der Personen ablaufen kann, die er einbezieht. Statt von Interessen und Identitäten gesteuert zu werden, bringt er Interessen zur Anwendung und lässt Identitäten sich selbst erkennen. Autorisierungskonflikte sind demnach immer auch eine Arena populärkultureller Selbstbeobachtungen: ein experimentelles Feld, auf dem serielle Erzählungen die Möglichkeiten und Mittel ihrer Fortsetzung erproben. Vielleicht lässt sich solche Rekursivität am besten als evolutionärer Prozess beschreiben, der sich einer beispiellos großen Anzahl von Spielern und Produkten, Ambitionen und Bindungen, ideologischen Zugehörigkeiten und sexuellen Präferenzen bedient, um immer weitere Variationen und Mutationen (glückliche Zufälle) für künftigen Einsatz und rückwirkende Mobilisierung zu schaffen.33 Ähnlich ist auch ein Direct Sales System daran interessiert, die Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit konstant neu zu schaffen. Nach Einführung des neuen Vertriebssystems konnten Comic-Verlage und Autoren eine spezifische Leserschaft adressieren, deren ästhetische Vorlieben den Verkaufspraktiken des Direktvertriebes adaptiv entsprachen. Die neuen Comic-Läden orderten Serien nämlich zu festen Stückzahlen auf Basis des erwarteten Käuferinteresses; auf unverkauften Heften blieben sie sitzen. Die Folge war einerseits ein Fine Tuning der Bestellungen auf die Wünsche der Käufer hin und andererseits ein wachsender Back Catalogue, eine Ansammlung älterer Hefte, die zunächst zwar nicht verkauft wurden, deren Verbleib in den Regalen aber das Nachkaufen einzelner Folgen und das Vervollständigen lückenhafter Sammlungen ermöglichte und anregte. Im sozialen Raum der Comic-Buchläden differenzierte sich auf diese Weise eine ebenso kenntnisreiche wie engagierte Käuferkultur aus, die alsbald auch als (öffentlich organisierte) Fankultur die Publikationen bestimmter Schreiber und Zeichner verfolgte und damit einzelnen Produzenten – oft gezielt, oft kameradschaftlich – zu einem immensen Autoritätszuwachs verhalf. 32 | Zu Fanzine-Redakteuren und Leserbriefschreibern, die später Redakteure und Autoren bei Comic-Verlagen werden, siehe z.B. die Karrieren von Roy Thomas und Mike Friedrich. 33 | Vgl. Kelleter 2012b.

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Wenn Leser anfangen, sich öffentlichkeitswirksam für die Comics einzelner Schreiber und Zeichner zu interessieren (d.h. nicht nur durch ihre Kaufentscheidung, sondern auch in Leserbriefen, in Fanzines, auf Comic Conventions, durch Fan Awards usw.), berührt dies das Verhältnis von Schreiber/ZeichnerTeams zu den verantwortlichen Redakteuren und Verlagsinhabern, ja zu sich selbst und ihrer geteilten Arbeit. Zunächst scheint es ganz einfach: Ist eine Serie erfolgreich, werden Schreiber und Zeichner in der Regel nicht abgezogen – und erfolgreiche Serien werden grundsätzlich nicht eingestellt. Der Erfolg einer Serie wiederum bemisst sich an den Verkaufszahlen, wobei aber mit Publikationen wie dem Comics Journal, Amazing Heroes oder David Anthony Kraft’s Comics Interview (1983-1995) neue Parameter hinzukommen. Lesermeinungen (in Leserbriefen), Comic-Kritiken (in Kolumnen) und die Aussagen von Kollegen und anderen Vertretern des Betriebs (in Interviews) sind von nun an ebenfalls an der Frage beteiligt, ob und wie einzelne Serien fortgeführt werden. Dabei lehnt sich eine auf Produktions- und Rezeptionsseite zunehmend professionalisierte Comic-Kultur wiederholt auch an Wertungsmuster und Beschreibungsroutinen an, die in der Bildungskultur etabliert sind. Die Besonderheiten populärkultureller Autorisierungspraktiken bleiben dennoch sichtbar. So vollzogen sich in den 1980er und 1990er Jahren (mindestens) drei Entwicklungen, die die beschriebenen Konstellationen auf die Spitze trieben. Erstens wurden die Handlungsstränge, Figurenkonstellationen und Vorgeschichten der interagierenden Comic-Serien so komplex, dass DC sich genötigt sah, sie mit einem Schlag auf null zu stellen. Marv Wolfmans und George Pérez’ zwölfteilige Miniserie Crisis on Infinite Earths (1985-1986) reduzierte die verschiedenen Multiversen wieder auf ein einziges Universum; eine Vielzahl von Figuren wurde einfach getötet. Diese serielle Selbstdestruktion war durchaus als Erneuerungsmaßnahme gedacht, die neuen Lesern den Einstieg in die Serien des Verlags erleichtern sollte.34 Kurz darauf folgten mehrere Comics, die Figuren wie Batman grundlegend überarbeiteten. Zu diesen »reboots« zählen The Dark Knight Returns (Frank Miller, Lynn Varley, Klaus Janson, 1986), Batman: Year One (Frank Miller, David Mazzucchelli, 1987) und Batman: The Killing Joke (Alan Moore, Brian Bolland, 1988). Charakteristisch für die genannten Comics ist, dass sie über einen begrenzten Zeitraum (maximal 4 Hefte) eine umfassende Neuausrichtung des Batman vornehmen. Dies beinhaltet eine kantige 34 | Für Marvel lassen sich zwei analoge Beispiele nennen: das New Universe Imprint (1986-1989), das neue Figuren in neuen Settings vorstellte, kommerziell allerdings relativ erfolglos blieb, sowie das Ultimate Marvel Imprint (ab 2000), in dem alle wichtigen Marvel-Figuren in modernisierter Form für ein neues Publikum eingeführt wurden. Zurzeit (Aug. 2011) erfahren vier wichtige Marvel-Heftreihen, darunter Spider-Man, eine Neuausrichtung (Ultimate Comics Universe Reborn) und auch DCs Batman steht vor einem weiteren »relaunch«.

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und überdimensionierte Figurenzeichnung in The Dark Knight Returns, die sich demonstrativ von der etablierten Bildtradition absetzt, sowie eine Revision der Ursprungsgeschichte in Year One, die nicht nur nachträglich in die Serienhistorie eingreift, sondern das revisionistische Autorenteam rückwirkend an den Anfang der Seriengenese setzt (die Technik der »retrospective continuity« verleiht Autorität über Zukunft und Vergangenheit einer Serie). Moore und Bollands The Killing Joke schließlich erscheint nicht einmal als Serie, sondern im relativ neuen Format der One-shot Graphic Novel – ein Format, das Comics einen anspruchsvollen Avantgarde-Anstrich verleiht und als Reaktion auf die zunehmend diffusen Autorrollen und Autorisierungsansprüche innerhalb der Gattung verstanden werden kann. Die Anlehnung an den bildungskulturellen Werkbegriff ist offensichtlich.35 Zweitens sind die genannten Texte (die hier stellvertretend für eine ganze Reihe späterer Comics stehen)36 in der öffentlichen Wahrnehmung so eng mit ihren Schreibern und Zeichnern verbunden, dass sie oft als Werke von StarAutoren oder Comic-Auteurs rezipiert werden. Batman: Year One existiert somit nicht einfach nur als Heft 404-407 der Serie, sondern als »Frank Miller’s Batman: Year One«. In ähnlicher Weise ist The Dark Knight Returns eine eigenständig nummerierte Miniserie, die zugleich als »Frank Miller’s The Dark Knight Returns« beworben wird. Insgesamt verschiebt sich der Fokus auktorialer Zuständigkeit von der Entwicklung oder bloßen Reproduktion einzelner Helden auf die »visionäre« Umsetzung bereits vorhandener Serienstoffe. Der Creator weicht dem Auteur, der gleichwohl als Neuschöpfer (»revisionist«) auftritt, d.h. etablierte Figuren überarbeitet, ihnen neue Charakterzüge verleiht und eine neue Ikonografie begründet.37 Das kommunizierte Autorbewusstsein ist gleichermaßen gebunden (der Autor als Fan einer älteren Figur) wie individualistisch überhöht (der Autor als origineller Künstler). Die Arbeiten des Schreibers und Zeichners Todd McFarlane können beispielhaft für eine dritte Entwicklung stehen, die ohne die aktive Fankultur der 1960er Jahre, die infrastrukturellen Neuerungen der 1970er Jahre und das Aufkommen revisionistischer Star-Autoren sowie die Ästhetik der Graphic Novels in den 1980er Jahren undenkbar wäre. McFarlane begann seine Karriere als Zeichner für Marvel und DC. Bekannt wurde er mit der fünfteiligen Miniserie Spider-Man: Torment (1990), die mit knapp 3 Millionen verkaufter Hefte einen neuen Rekord aufstellte und einschneidende Veränderungen an der Ikonografie des Superhelden vornahm: Dem desillusionierten Batman aus The Dark Knight Returns folgte nun ein ebenfalls desillusionierter Spider-Man, der sich 35 | Vgl. den Beitrag von Rippl/Hoppeler im vorliegenden Band. 36 | Vgl. The Death of Superman (Dan Jurgens et al., 1992), Funeral for a Friend (Dan Jurgens et al., 1992) und Reign of the Supermen (Jerry Ordway et al., 1993). 37 | Klock 2002 liest diese Texte als »revisionary superhero narratives«.

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von einem blutrünstigen Gefecht zum nächsten schleppte. Torment verhalf McFarlane zu einem Bekanntheitsgrad, der Auswirkungen auf die rechtliche Stellung von Comic-Autoren haben sollte. Bezeichnenderweise nämlich stellte Jim Salicrup, der verantwortliche Redakteur von Torment, McFarlanes Autorschaft in einer Gesamtausgabe der Miniserie in Frage: »Did either John or Todd have complete creative freedom? Of course not. Neither John nor Todd own these characters, and it was my job to be the characters’ caretakers.« (N.pag.)38 Der Redakteur als Vormund: Wie immer man diesen Autoritätsanspruch im multiauktorialen Produktionsprozess bewerten mag, Salicrups Aussage weist auf die institutionellen Widersprüche jedes populärkulturellen Auteur-Begriffes hin. Ein professioneller Comic-Autor hat meist keine formale oder inhaltliche Endkontrolle über seine Arbeit und besitzt auch keine urheberrechtlichen Ansprüche. Wenige Jahre nach der Veröffentlichung von Torment vollzog sich im Angestelltensystem allerdings ein Wandel, der durch die gleichzeitige Stärkung individuellen Autorenbewusstseins und professioneller Serien-Anhängerschaft in den 1980er Jahren vorbereitet wurde. Immer vehementer forderten Schreiber und Zeichner nun »creators’ rights«.39 Revisionistische Neuschöpfer, die zudem aus der kenntnisreichen und emotional engagierten Position von Fans agierten, konnten das Arbeitsklima bei DC und Marvel als »sweatshop atmosphere« identifizieren (Frank Miller, zit. Sharrett 1991: 35). So wich das Bild vom freundschaftlichen Zusammenwirken im Marvel Bullpen einer kritischen Darstellung, derzufolge Schreiber, Zeichner und Koloristen entweder als bloße Angestellte oder als Handwerker für Auftragsarbeiten pro Seite entlohnt wurden.40 1992 verließ McFarlane schließlich zusammen mit einigen Kollegen den Marvel-Verlag und gründete eine eigene Firma, Image Comics, die sich innerhalb weniger Monate zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten für die beiden Marktführer aufschwang. Nach dem Prinzip des »creator ownership« organisiert – wer eine Figur erfindet, behält die Urheberrechte –, institutionalisierte 38 | Salicrup (2009) bezieht sich neben McFarlane auf John Byrne, der in den späten 1970er und in den 1980er Jahren an Fantastic Four gearbeitet hatte. 39 | Unter anderem im Comics Journal 137 (Sept. 1990) sowie Wiater/Bissette 1993. Im Umfeld der Underground Comicszene wurde bereits 1988 eine »Bill of Rights for Comic Creators« von Autoren und Zeichnern wie Scott McCloud, Dave Sim, Steve Bissette, Rick Veitch und Kevin Eastman unterzeichnet. 40 | Vgl. Miller: »You can’t own your own work, or even a piece of it. You cannot control your work as you produce it« (zit. Sharrett 1991: 41). Ab 1982 begannen Marvel und DC damit, ihren Schreibern und Zeichnern Tantiemen zu zahlen. Symbolträchtige Beispiele für Urheberrechtskonflikte in der Geschichte der Superheldencomics sind Siegel und Shusters mehrfache gerichtliche Auseinandersetzungen mit DC über die Rechte an Superman und Jack Kirbys Streit mit Marvel über die Rückgabe seiner Originalzeichnungen.

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Image Comics die von DC und Marvel selbst forcierte Kombination von seriendienlichem Fan-Ethos und expressivem Autoren-Individualismus. Das Ergebnis solch selbstorganisierter Independent-Kultur waren neue, oft monströse Superhelden, von denen McFarlanes Spawn aus der gleichnamigen Serie (seit 1992) zu den erfolgreichsten zählt.

K ONNE XIONISTISCHE S ERIALITÄT Zusammen mit ihren Gestalten verändert sich die Gestalt der Kulturindustrie selbst. Es wäre lohnend, die entstellten Körper, wechselnden Allianzen und kontingenten Verträge, von denen Spawn handelt, zu den Umbrüchen populärkultureller Produktion in den 1990er und 2000er Jahren in Beziehung zu setzen. Digitale Kommunikation spielt in diesem Zusammenhang fraglos eine herausragende Rolle. Wie aber würde das Internet aussehen ohne die »preadaptive advances« einer oft hermetischen Independent-Kultur, die das Prinzip der Selbstorganisation, wissensgestützte Hingabe (Nerdiness) und korporative Ambitionen miteinander vereint? Das Internet ist nicht einfach Technologie – weder apparative Bedingung noch technologisches Schicksal unserer kulturellen Gegenwart –, sondern Aggregat engmaschig vernetzter Handlungen: Träger und Ergebnis kommunikativer Evolution zugleich. So wurde das Internet schon Mitte der 1990er Jahre von einem beträchtlichen Teil nicht-professioneller Comic-Akteure für Aktivitäten genutzt, die schneller und weitreichender waren als jede Form printbasierten Austauschs. Anfang der Jahrtausendwende schaffte Marvel schließlich die Letter Columns seiner Comic-Hefte ab und verlagerte den Austausch mit Lesern komplett ins Internet, mit dem Ergebnis rapide sich beschleunigender Autoritätsaushandlungen vor allem nach Einführung der Web-2.0-Applikationen. Auch DC Comics druckten nach 2002 keine Leserbriefe mehr ab; stattdessen entstanden Online-Foren, Message Boards und sogar Portale, auf denen Amateure ihre Comics einreichen und sich um einen Verlagsvertrag bewerben konnten (z.B. das Zuda-Portal, das von 2007 bis 2010 online war, bei dem die Teilnehmer allerdings ihr Urheberrecht automatisch verloren). Digitale Vernetzung kompliziert redaktionelle Kontrollen und spornt damit Eigentums- und Zuständigkeitskonflikte an. Entsprechend vielschichtig gestaltet sich das Verhältnis beteiligter Interessen: Abgrenzungen und Festschreibungen proliferieren in Social Media in einem solchen Ausmaß, dass sie im Gesamtergebnis eine paradoxe Situation ständigen Aufbruchs suggerieren. So finden sich im Internet offizielle Seiten von Comic-Verlagen gleichberechtigt neben anonymen Wiki-Beiträgen, professionellen Kommentar- oder Kritikseiten wie Comicvine oder Comic Book Resources und nicht-autorisierten Fanseiten wie Spiderfan (seit 2000), Batman Yesterday, Today & Beyond (seit 2000) oder

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Legions of Gotham (seit 2003). Vor allem bei nicht-autorisierten Seiten sticht die Vielzahl an Möglichkeiten ins Auge, mit denen Akteure sich im Handlungsfeld einer Serie positionieren können. Legions of Gotham beispielsweise nannte sich ursprünglich »The Original Batman Homepage« (inzwischen: »The Definitive Batman Resource«), wohingegen Spiderfan schon auf der Eingangsseite als »The Unofficial Spider-Man Home Page« auftritt – ein offensiv annonciertes Autorisierungsdefizit, das zugleich die eigene Independent-Glaubwürdigkeit unterstreicht. Viele Fanseiten verschwinden auch wieder relativ rasch nach Rechtstreitigkeiten mit Comic-Verlagen, was im Gegenzug einen konstanten Fluss an alternierenden »inoffiziellen« Inhalten provoziert, oft mit entsprechend entschlossenem Habitus. Hinzu kommt eine wachsende und immer unübersichtlicher werdende Anzahl von Fan Webcomics (z.B. Batman: Dark Knight Adventures, Batman Beyond: Stripped oder Batman II) und Fan Fictions (z.B. über 4000 Batman-Einträge und fast 2000 Spider-Man-Einträge auf www. fanfiction.net, Stand Aug. 2011), die allesamt zu einer rasanten Beschleunigung von Autorisierungskontroversen (auch rechtlicher Art) führen.41 Die kaskadierene Serialität digital basierter Fortsetzungen und Neufassungen ist kaum noch mit Verweis auf individuelle Akteure oder Akteursgruppen, Texte oder Textgruppen, beschreibbar. Der Drang multilinearer Serien zur Organisation von Metaversen erreicht hier gewissermaßen einen (ersten) Höhepunkt, denn innerhalb von Metaversen werden die Grenzen zwischen Seriendiegese und Serienlektüre, zwischen innerseriellen und außerseriellen Handlungen, zwangsläufig porös. Die Unterscheidung von professionellen Akteuren und nicht-professionellen Akteuren gestaltet sich auch für die beteiligten Personen und Artefakte immer schwieriger. So lässt sich allein von der Bildästhetik her kein gravierender Unterschied zwischen erfolgreichen Fan-Webcomics wie Batman: Dark Knight Adventures (2003-2008) oder Batman Beyond: Stripped (2005-2008) und den Fernsehcartoons oder Spin-off-Comics ausmachen, auf denen sie basieren (Batman: The Animated Series, 1992-1995; The Batman Adventures, 1992-1995). Obwohl die Zahl der Akteure somit kontinuierlich wächst und ihre Vernetzungsdichte zunimmt, erweisen sich solche Komplexitätssteigerungen letztlich als laufende Effekte paradox wuchernder Akte der Komplexitätsreduktion, z.B. 41 | Als Beispiele für Webcomics siehe McLean et al. 2003-2004, Luchastyle et al. 2008. »Unübersichtlich« sind die digitalen Vernetzungen in dem Sinn, dass sich keine Position denken lässt, die mit allen anderen verbunden wäre. Metapositionen vervielfältigen sich auch deshalb, weil sich ihr Anspruch auf Gesamtschau nicht konkurrenzlos aufrechterhalten lässt. Die Dichte des dynamischen (handlungsabhängigen) Netzwerkes vereitelt und provoziert integrative Standpunkte, so dass konnexionistische Serialität immer auch von einem Moment simultaner Unverbundenheit geprägt ist (vgl. den Beitrag von Fahle im vorliegenden Band).

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durch immer neue Kanon-Bildungen oder endlos kollaborative Klassifikationen und Historisierungen.42 Die fließende Besetzbarkeit der Rolle des »Fan« – der mittlerweile nicht mehr nur als Dauerleser oder professioneller Autor, sondern auch als akademischer Beobachter (»acafan«) auftreten kann –, sorgt dafür, dass solche Ordnungsmanöver keineswegs auf Fanzines oder Websites beschränkt bleiben, sondern die Interessen auch von Künstlern und Wissenschaftlern involvieren, die ihre Auteur-Ansprüche nun verstärken oder immer weitere Originalitäts- und Deutungsausweise im Wettbewerb um Aufmerksamkeit exponieren müssen.43 Weil die Populärkultur dynamischer hierarchisiert ist als es bildungs- oder volkskulturelle Handlungsfelder sind, rufen neue Differenzierungen im Comic-Diskurs stets prompte Gegenentwürfe hervor, deren rascher Wechsel das Gesamtsystem am Laufen hält. Konnexionistische Metaperspektiven stehen nicht außerhalb ihrer Gegenstände, sondern nehmen an ihnen teil. Kontroverses Wissen über Superheldencomics wirkt als Antriebskraft der Gattungsgenese selbst. Gegenwärtig sind in diesem Zusammenhang vor allem zwei Entwicklungen bedeutsam: zum einen die reflexive Rückkopplung zwischen professionellen Angeboten und Amateurproduktionen, zum anderen die mitlaufende Transformation kultureller Autorität selbst. Mit Blick auf die erste Entwicklung fällt auf, dass sich für fast jeden nicht-autorisierten Webcomic, der Superhelden adaptiert, fortsetzt oder neu schreibt, ein entsprechend vorgehendes Industrieprodukt finden lässt – und umgekehrt. Neben regulären Batman- und Spider-Man-Serien, Elseworld- und What If-Geschichten (die sich oft kaum von Fan Fictions unterscheiden) entstehen Batman- und Spider-Man-Varianten im Stil japanischer Manga, Spider-Man-Geschichten für besonders junge Leser, Hefte, die auf Fernsehcartoons basieren, sowie diverse Team-Up und Crossover-Formate. Auch die publikumswirksamen Hollywood-Filme, Fernsehserien und Videospiele, die seit den 1980er Jahren die Gattung prägen, stehen in einem konstanten Wechselspiel mit unzähligen,

42 | Serielle Komplexitätssteigerung und serielle Komplexitätsreduktion sind schon auf narrativer Ebene kontinuierlich aufeinander angewiesen, vgl. Jahn-Sudmann zur Aufgabe von Serien, »selbstgenerierte Komplexität(en) zu reduzieren oder erzählerisch über- und durchschaubar zu organisieren« (Jahn-Sudmann 2011, n.pag.). Vgl. auch Kelleter 2012a zum simultanen Aufbau und Abbau von Komplexität in lang laufenden Serien sowie Kelleter 2012b zur Proliferationsdynamik populärkultureller Kanones. 43 | Zu »acafandom« vgl. Hills 2002. Brookers Batman Unmasked ist ein prägnantes Beispiel: Die Studie enthält neben dem Faksimile einer Batman-Kurzgeschichte, die Brooker als Kind geschrieben hat, eine Vielzahl von autobiografischen Reminiszenzen und Kommentaren.

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mitunter sehr populären Mash-Ups, Video Spoofs, Fan Trailers und anderen inhärent reflexiven Formaten auf Internet-Plattformen wie YouTube.44 Die fortschreitende Verflechtung reflexiver Serienvarianten wiederum verlangt nach neuen Hierarchisierungen (deren Beständigkeit wohl davon abhängen wird, ob sie Verbindlichkeiten auch über das Feld der Populärkultur hinaus behaupten können). Einzelne herausgehobene Star-Autoren etwa inszenieren sich in Wertungskontexten, die dem traditionellen Werkdiskurs wirksamer und ernsthafter nachempfunden scheinen als es DCs immer auch selbstironische Fiktion auktorialer Einheit in den 1940er Jahren war. Beispiele hierfür sind die Jubiläumsausgaben von Serienzyklen, die als Graphic Novels präsentiert und mit kanonisierenden Bonus-Materialien ausgestattet werden. So enthält die Neuauflage von Miller und Mazzucchellis Batman: Year One aus dem Jahr 2005 eine Fülle exklusiv präsentierter Peritexte, darunter eine Einleitung des renommierten Batman-Schreibers und Redakteurs Dennis O’Neil, der die Miniserie als »the definitive version of one of popular culture’s enduring stories« bezeichnet. Weitere Materialien sind ein autobiografischer Comic Mazzucchellis über sein Verhältnis zu Batman (inklusive ikonografischer und narrativer Referenzen auf die Ursprungsgeschichte der Figur), Mazzucchellis erster Comic von 1966 (eine Kinderzeichnung), »submission samples«, eine Originalzeichnung für die DC-Werbeanzeige, Mazzucchellis annotierte Kopie von Millers ersten Skripts zusammen mit Figurenentwürfen, erste Coverzeichnungen sowie ein Nachwort von Miller, das dessen originelle Sicht des Batman aus persönlich engagiertem Serienwissen ableitet (»For me, Batman was never funny«). Doch man sollte die bildungskulturellen Ambitionen solcher Selbstinszenierungen nicht überbetonen, denn letztlich bieten sich alle diese Gesten auch zur freien digitalen Aufführung an – und verändern dadurch ihre Bedeutung. Auffallender als das Bemühen einzelner Akteure (Autoren, Texte) um kulturelle Aufwertung ist mithin die Geschwindigkeit, mit der Internet, neue Speichermedien und innovative serielle Formen und Figuren die Funktion kanonischen Wissens und historisierender Metareflexionen selbst transformieren. Mit großer Selbstverständlichkeit etwa finden sich am Ende des Webcomic Batman II mehrere Seiten mit »Artist Profile[s]«, auf denen die Amateur-Autoren über ihre persönliche Beziehung zu Batman reflektieren, sowie eine Sektion »Concept & Developmental Art«, die Sketche, Storyboards und weiteres Zusatzmaterial enthält. Solche Beispiele zeigen, dass sich populärkulturelle Autorbegriffe nicht einfach historisch ablösen oder distinkte Personengruppen identifizieren (professionelle Autoren vs. Amateur-Produzenten). Vielmehr sind es die Autorisierungspraktiken selbst, die sich wandeln, und mit ihnen verändert sich insgesamt die Bedeutung kultureller Autorität. Hierfür Begriffe jenseits der invol44 | Zur gattungsgenetischen Rolle von non- oder semi-autorisierten Video Spoofs von Superhelden-Blockbustern vgl. Stein 2012.

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vierten Selbstbeschreibungen und etablierten Oppositionen zu finden, ist eine der großen Herausforderungen der Serialitätsforschung.

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Distinktion

Lesen, Sehen, Hängenbleiben Zur Integration serieller Narrative im Alltag ihrer Nutzerinnen und Nutzer Regina Bendix, Christine Hämmerling, Kaspar Maase und Mirjam Nast

1961 erschien der erste Heftroman über Perry Rhodan, den amerikanischen Raumpiloten mit deutschen Wurzeln. Fünfzig Jahre später expandiert sein Universum immer noch, mit einer Druckauflage von 80.000. Die Perrypedia, eine Onlineplattform der Serie, berichtet im April 2011: »Momentan dreht sich die Handlung um den Kampf der galaktischen Völker gegen die Frequenzmonarchie in der Milchstraße, Andromeda/Hatorjan und Anthuresta« (Perrypedia, 1.4.2011). 1970 strahlte die ARD »Taxi nach Leipzig« aus. Der Hamburger Kommissar Trimmel war der erste von mittlerweile über hundert oft im Team arbeitenden Ermittlern der deutschen Krimireihe Tatort. Ausgestrahlt wird der Tatort jeweils am Sonntagabend um 20.15 Uhr. Im Durchschnitt schalten über sieben Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer ein, was einem Marktanteil von gut 22 Prozent entspricht.1 Fügt man die Wiederholungen in regionalen Sendern, den Verleih oder Kauf von besonders beliebten Tatort-Folgen auf DVD, den auf der ARD-Webseite digital bereitgestellten jeweils neuesten Tatort sowie seine Adaptionen im Hörfunk hinzu, so lässt sich eine breite, medial diversifizierte Nachfrage erkennen. Ungeachtet der unterschiedlichen Rezipientenzahlen deutet die lange Laufzeit beider Formate auf Qualitäten hin, die für Nutzerinnen und Nutzer aus mittlerweile zwei bis drei Generationen genügend Anziehungskraft ausüben, um die Serien regelmäßig zu lesen und anzuschauen. Während die jeweiligen Genres ebenso wie die narrativen Eigenschaften von Perry Rhodan und Tatort mit Sicherheit zur anhaltenden Popularität beitragen, stehen im Zentrum des vorliegenden Beitrags die Muster, Dynamiken und subjektiven Bedeutungen 1 | Vgl. Das Erste.de – Tatort, 12.7.2011.

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der Aneignung populärer Serien durch Rezipierende. Wir ermitteln zum einen, wie Lesen und Zuschauen in die Tages- und Wochenverläufe eingebunden werden und deren Muster beeinflussen. Zum anderen interessiert uns, wie die Auswahl der Serien und der Umgang mit ihnen als Zeichen für Geschmack und Lebensstil fungieren und wie sie von ihren Nutzerinnen und Nutzern wahrgenommen und bewertet werden. Kurz gefasst: Wir fragen nach Zusammenhängen zwischen Seriennutzung und sozialer Positionierung. Der folgende Beitrag skizziert zuerst den breiteren Rahmen, in dem Serienaneignung kulturwissenschaftlich verortet werden kann: die Befriedigung, die wir aus der Auseinandersetzung mit unterhaltsamen Geschichten ziehen und die aus menschlicher Existenz nicht wegzudenken ist. Um dieses Phänomen zu verstehen, arbeiten wir mit Nutzern und Fans der genannten Serien. Wir stellen einige Aspekte des qualitativ-empirischen Vorgehens vor, um beispielhaft zu zeigen, auf welche Weise alltagsintegrative Tendenzen erhoben werden können und welche Erkenntnisse daraus zu gewinnen sind.

»W IE GEHT ES WEITER ?« ODER : D IE L UST AN FORTGESE T Z TEN E RZ ÄHLUNGEN Einen Großteil des Lebens verbringen wir mit Erwerbs- und Hausarbeit, doch einen weiteren erheblichen Teil verbringen wir mit Geschichten – Fiktionen oder auch Dokumentationen –, die uns beschäftigen und die mit unserem Denken und Fühlen genauso interagieren wie die Ereignisse im erlebten Alltag, vielleicht sogar mehr. Lesend und zuschauend Erzähltes zu rezipieren ist kein passiver Vorgang ohne Folgen. Ist die Erzählung seriell angelegt, so spricht sie etwas in uns an, das nach mehr verlangt und Rezipierende zu erwartungsgeladenen Anhängern oder sogar Fans macht. Dieses Phänomen tritt nicht erst mit den Massenmedien auf: Bereits vor dem 15. Jahrhundert hielt sich Scheherazade in Tausend und eine Nacht durch serielles Erzählen am Leben. Die Neugierde des Königs Šahriyār auf Fortsetzung ihrer Geschichte bedeutete für ihn zugleich einen Ausweg aus dem Wiederholungszwang serieller Brauttötung. Die emotionale Bindung, die zyklisch-serielle Narration in einem Erzählpublikum auslösen kann, erfährt in dieser Rahmenerzählung eine besonders einprägsame Metapher.2 Weltweit und bis in die Gegenwart hinein finden sich solche Rahmenerzählungen, die eine Zuhörerschaft von Erzählreihen und Fortsetzungsgeschichten (literarisch oder visuell) darstellen. Oft bilden sie Zuhörende und Miterzählende ab, die sich – gleich uns, die wir sie dabei beobachten – dem Bann der sich entfaltenden Geschichten nicht entziehen können; damit

2 | Vgl. Mielke 2006.

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bestätigen oder legitimieren sie die Teilhabe an Erzählungen als eine kulturelle Universalie.3 Variierende Wiederholung und damit der inkrementelle Aufbau des Seriellen prägt auch die kindliche Enkulturation in die Welt der Narrationen: Vielleicht ist es ein Lied, das allabendlich den Übergang in den Schlaf versüßt und dem mit der Zeit weitere Strophen beigefügt werden; vielleicht ist es ein Buch, mit dem das portionierte Entfalten von Geschichten, Kapitel um Kapitel, Abend um Abend, eingepflanzt wird. Kleinkindbilderbücher üben mit Vorliebe den Ablauf und die stete Wiederkehr von Tages- und Jahreslauf ein. Größere Kinder sind sich mit erheblichem Stolz bewusst, dass sie den Schritt zu »Kapitelbüchern« bewältigt haben, in denen ihnen komplexere Geschichten portioniert vorgestellt werden, sei es über Kinder aus Bullerbü, Abenteuer von Kinderdetektiven, das Leben mit Pferden oder die Verstrickungen von Protagonisten im Reich der Fantasy, vom Hobbit bis Harry Potter. Ob vorgetragen von Eltern, Geschwistern oder Betreuenden, die Regelmäßigkeit des Unterhaltenwerdens verstetigt den seriellen Durst nach mehr. Die technischen Kommunikationserweiterungen der letzten Jahrzehnte haben die Erzähl- und damit Rezeptionsmöglichkeiten enorm verdichtet. Serielles Erzählen in massenmedialer Form zeitigt partizipatorische Möglichkeiten, deren alltagspraktische Umsetzung ein lohnendes Untersuchungsfeld darstellt. Wir mögen zwar alleine lesen oder schauen, aber es wird uns immer wieder bewusst, dass wir dies mit vielen anderen gemeinsam tun – nicht zuletzt, weil wir massenmedial erfahren, dass dem so ist: Verkaufs- und Zuschauerzahlen, Berichte zu neu entstehenden Fanformationen und Merchandising, das einem neuen Unterhaltungsphänomen unter die Arme greift, bezeugen, dass andere, viele, einem neuen Erzählstrang – sei es einer neuen Gattung Detektiv, Mafioso, sexlüsterner Hausfrau oder schmachtender Vampir – verfallen sind. Welche Komponenten in Textstruktur, Figuren und Handlungsanlage serielle Disposition erzeugen, wird in literatur- und medienwissenschaftlichen Ansätzen untersucht.4 Was die einer Serie inhärente ästhetische Gratifikation im Alltag hervorbringt und wie kulturelle Praktiken rund um Seriengenuss und Serienwissen nicht nur individuellen Geschmack, sondern auch soziale Verortung markieren, ist Thema dieses Beitrags. Es gibt globale narrative Mega-Hits – wie die Western-Serie Bonanza (NBC, 1959-1973) oder das von 1978-1991 erstmals ausgestrahlte Dallas (CBS) –, die Alltagswelten von Chicago bis Fernost berühren. Es gibt die Science-Fiction-Serie Star Trek, die seit 1966 nicht weniger als sechs Serien auf unterschiedlichen Sendern sowie eine Filmreihe generiert hat und bei der der Besuch einer Convention oder ein Blick in eine Handvoll von Fanzines ausreicht, um zu sehen, 3 | Vgl. Antweiler 2011. 4 | Vgl. den Beitrag von Hißnauer/Scherer/Stockinger im vorliegenden Band.

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wie Zuschauer und Zuschauerinnen an der Fortsetzung des Erzähluniversums kreativ beteiligt sind. Die Serien, um die es im Folgenden geht, erscheinen dagegen fast leise, dezent, oder im Fall von Perry Rhodan vielleicht sogar etwas verborgen in ihrer Alltagsverarbeitung. Was sie auszeichnet und für eine Untersuchung besonders geeignet macht, sind einerseits ihre 50- bzw. 40-jährige, mehrere Nutzergenerationen umspannende Laufzeit und andererseits ihre unterschiedlichen Medialitäten, die für die ethnographische Dokumentation reizvolle Vergleichsmöglichkeiten eröffnen. Im Folgenden stellen wir zunächst dar, wie unsere Studie sich in der Forschungslandschaft platziert. Anschließend erläutern wir Ausschnitte aus dem methodischen Vorgehen, mit dem Rezeptionssituationen und Alltagsintegration der untersuchten Serien erhoben werden. Zum Schluss werden Tendenzen der sozialen Positionierung skizziert, die Nutzerinnen und Nutzer wahrnehmen und zur Deutung ihrer eigenen Aktivitäten einsetzen.

D IE U NTERSUCHUNG VON S ERIENNUT ZUNG : F ORSCHUNGSLINIEN Zur Erforschung von Serienpublika. Heftserien sind seit den 1970er Jahren wenig – und wenn, dann vor allem aus kommunikationswissenschaftlicher und mediensoziologischer Perspektive – untersucht worden; das gilt auch für das Genre, dem Perry Rhodan zuzurechnen ist. »Die ›gewöhnliche‹ Leserschaft von Science Fiction ist bislang noch kaum erforscht worden« – an der Gültigkeit der Feststellung von Friedrich (1995: 385) hat sich nichts geändert, und sie lässt sich auf unsere Kenntnis der Publika anderer Serien übertragen. Romanhefte waren für Generationen der Inbegriff populärer Serialität.5 Perry Rhodan ist mit inzwischen rund 2.600 Folgen die erfolgreichste Heftserie der Welt; das seit 1961 geschaffene fiktionale Universum spricht immer noch viele an: Der »Silberband« Laire stand im Mai 2009 auf Platz 10 der Belletristik-Bestsellerliste des Stern.6 Von allen deutschsprachigen Heftserien verfügt Perry Rhodan mit Abstand über die lebhafteste und differenzierteste Fanszene. Zwar kann man vermuten, dass Serienhefte den Höhepunkt ihrer Verbreitung überschritten haben; damit bilden aber gerade die Bemühungen des Verlags, Perry Rhodan in andere, gefragtere Medien zu transponieren, eine fruchtbare Untersuchungskonstellation, um Serialität und Serialisierung in ihrer kulturhistorischen Dimension zu erfassen.

5 | Vgl. Hügel 2003. 6 | Einen analytischen Überblick über das Perry-Rhodan-Universum liefern Bollhöfener/Farin/Spreen 2003.

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Einen globalen soziodemographischen Überblick über die Leserinnen und Leser von Heftromanen in den 1990ern geben die Befunde von Nutz.7 Danach ist die Perry-Rhodan-Leserschaft mehrheitlich männlich (75 Prozent), zwischen 20 und 40 Jahre alt (60 Prozent) und im Vergleich zu den Rezipierenden anderer Heftserien überdurchschnittlich gebildet. Günther hat für ihre qualitativen Studien auch Interviews mit Perry-Rhodan-Leserinnen und -Lesern geführt, die Einblick in deren Rezeptionspraktiken bieten.8 Serialität werde insgesamt entweder als Leseansporn oder als abschreckend wahrgenommen. Das regelmäßige Lesen der Hefte ermögliche parasoziale Beziehungen zu Serienfiguren: Das Kontinuierliche der Fortsetzung sowie eine von der Leserschaft geteilte »Grundidee« erlauben ein emotionales Bezugssystem, das zur Ausprägung von Anhängerschaft und Fansein führt.9 Weitere Aspekte wie Lesebiografien, Medieninteressen und der Literaturbegriff der Leser und Leserinnen wurden allerdings nicht auf Aspekte der Serialität bezogen. Anders die Forschung zu Fernsehserien. Sie ist nicht nur sehr viel weiter entfaltet, dort wurde auch bereits früh thematisiert, dass und wie Rhythmen der Serie und Rhythmen des Alltagslebens einander durchdringen und mit stabilisierendem Effekt harmonisiert werden. Bereits 1994 sprach Hickethier – ohne es weiter auszuführen – in diesem Zusammenhang von »ritueller Nutzung des Angebots« (1994: 57). Etwas früher schon ging Mikos auf dieses Thema ein, ebenfalls unter Verwendung des Ritualbegriffs.10 Er verwies darauf, dass nicht nur der feste Programmplatz von Fernsehserien Menschen dazu bringt, sich an wiederkehrenden Terminen des Wochenablaufs zu kopräsenten oder virtuellen Sehgemeinschaften zusammenzufinden, sondern dass Zuschauer und Zuschauerinnen umgekehrt auch bestimmte Serien(termine) nutzen, um Fixpunkte und Übergänge zwischen Alltagsbereichen zu markieren. Methodologisch bot es sich an, derartigen Fragen mit intensiver Zuschauerforschung und mit ethnographischen Methoden nachzugehen. Weite Teile der Populärkulturforschung, die sich nicht nur dem populären Artefakt, sondern – speziell in Folge der Cultural Studies – Medienpublika zuwenden, basieren inzwischen auf qualitativen Methoden.11 Doch gewannen kontextualisierende Ansätze, die über Erhebungen unter Rezipierenden (vor allem mittels Fragebögen und Interviews, oft kombiniert mit Text- und Diskursanalysen zum populären Angebot und dessen Rezeption) hinausgehen und sich dem populärkulturellen Handeln und dessen Funktionen in größerer Komplexität zuwenden, erst in jün7 | Vgl. Nutz 1991, 1999, Nutz/Schlögell 1991. 8 | Vgl. Günther 1999a, 1999b. 9 | Zu parasozialen Beziehungen vgl. Schramm 2006. 10 | Vgl. Mikos 1993: 35-48, 2000. 11 | Zu Cultural Studies siehe Morley 1980, 1992, Radway 1984, 1988, Ang 1985, 1991, Hermes 1995.

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gerer Zeit an Gewicht.12 Weiterführende Erkenntnisse zum Gebrauch populärer Artefakte sind von Studien zu erwarten, die das methodische Instrumentarium über Zuschauerpost und Interviews hinaus auf zusätzliche ethnographische Zugänge ausweiten (Beobachtung, Fotodokumentation und -befragung, Sachkulturanalyse usw.) und sich auf diese Weise der Sicht und den Bedeutungshorizonten der Akteure nähern. So ist Ethnographie mittlerweile ein in der interdisziplinären Populärkulturforschung fest verankerter Begriff, der häufig zitiert, selten aber in seinen Potentialen entfaltet wird.13 Als Kontexte der Medienrezeption wurden bislang vor allem Familienbeziehungen und Techniknutzung in den Blick genommen.14 Mikos’ Bilanz macht deutlich, dass Anwesenheit im Feld fast ausschließlich begleitend zu Interviews und mit klarem Fokus auf inhaltliche Rezeptionsprozesse stattfindet.15 Bechdolf spricht deswegen einschränkend von »ethnographisch orientierter« (2007) Medienforschung; die amerikanische »media anthropology« nutzt den ethnographischen Zugang dagegen umfänglich.16 Die genannten ethnographischen Ansätze der Medienforschung sind bisher noch nicht auf die Serie Tatort angewendet worden. Die dazu vorliegenden Untersuchungen thematisieren hauptsächlich medienästhetische und medienpsychologische Fragen; sie behandeln Tatort als Indikator gesellschaftlicher Verhältnisse und als aufklärerisch ambitioniertes Diskursmedium zu Themen wie Gewalt oder Migration.17 Speziell zur Rezeption des Tatort liegen eine psychologische Untersuchung zu jugendlichen Rezipierenden bezüglich Rechtsextremismus sowie (kommunikationswissenschaftliche) Qualifikationsarbeiten vor, die allgemeine Bedeutungskonstruktionen oder geschlechtergebundene Lesarten fokussieren.18 Das Fanmedium Tatort-fundus (www.tatort-fundus.de) ist schließlich selbst ein Ort vielschichtiger (Selbst-)Analyse. Ein entfaltetes Verständnis von Serialität als sozialer Praxis, das einschließt, wie unterschiedliche Menschen, Szenen oder Gruppen in verschiedenen Kontexten serielle Produkte nutzen, in ihren Alltag integrieren und mit nicht allein textbezogenen Bedeutungen versehen, ist unseres Erachtens über einen kom12 | Überblicke bei Mikos/Wegener 2005, Bechdolf 2007; spezifisch zur Seriennutzung: Mikos 1993, 2000, Harrington/Bielby 1995, Göttlich/Neumann 2000, Wolling 2004, Schramm/Wirth/Bilandzic 2006. 13 | Vgl. Bird 2003; siehe auch Mikos 2005, Winter 2005. 14 | Vgl. den Überblick bei Moores 1998. 15 | Mikos 2005. Speziell zur Rezeption des Tatort: Buhl 2007. 16 | Zu »media anthropology« siehe Mankekar 1999. 17 | Zum Aufklärungsanspruch siehe Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003, Vogt 2005; Gewalt: Zielinski/Amann 1995; Migration: Ortner 2007, Fuchs 2008. 18 | Rechtsextremismus: Süss 1993; Bedeutungskonstruktionen: Buhl 2007; Gender: Schilter 2000.

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plexen ethnographischen Zugang zu gewinnen.19 Dieser sucht einen direkten und facettenreichen Zugang zum Geschehen und Erleben, nimmt eine dezidiert akteurszentrierte und situativ verankerte Perspektive ein, erfasst anhand konkreter Beispiele und Situationen sowohl die Praktiken als auch die Sichtweisen der Handelnden und stellt sie in weitere kulturelle und gesellschaftliche Kontexte.20 Deutlich intensiver als die Praktiken der »gewöhnlichen« Mediennutzung sind die der Fans untersucht worden. Zwar wird kritisch festgestellt, die Forschung habe bislang keine Begrifflichkeit entwickelt, um Fans klar von anderen Nutzern und Nutzerinnen abzugrenzen.21 Doch gilt als Konsens, dass Fansein sich von sonstigen Formen der Nutzung abhebt, indem es neben der Medienrezeption bestimmte rahmende und ritualisierte Praktiken im Umgang mit dem Gegenstand des Faninteresses und häufig kommunikative Aktivitäten umfasst.22 Wichtige Formen sind das Sammeln von Medien und der Erwerb von Expertenwissen zur Serie, dazu Fan Fiction als produktive Form der Rezeption.23 So unterscheidet Fiske drei Typen der Produktivität von Fans: »semiotic productivity« bei der eigensinnigen Aneignung (die aber auch Nicht-Fans praktizieren), »enunciative productivity« in der Kommunikation des Fanseins nach außen (»fan talk, styling, choice of clothes«) und »textual productivity« in der Schaffung eigener Texte (1992). Seit den 1990er Jahren hat dabei die Bedeutung digitaler Kommunikation für das Fandom außerordentlich zugenommen. Viele Aktivitäten finden in Internetforen, Mailinglisten und Blogs statt; ein Großteil der einschlägigen Texte wird heute nicht mehr in Magazinen abgedruckt, sondern auf Webseiten veröffentlicht.24 Heftromanfans wurden bislang in Kommunikationszusammenhängen wie Fanclubs, Conventions und Leserbriefen untersucht.25 Hierbei handelt es sich 19 | Zu Alltagsintegration vgl. Drotner 1994. 20 | Für einen solchen multiperspektivischen, multimethodischen Ansatz der Ethnographie als differenziertes Verfahren der pluralen Annäherung an das Feld, der eine emische Perspektive einschließt, orientieren wir uns an Hauser-Schäublin (2003) und Schmidt-Lauber (2007b). 21 | Siehe Krischke-Ramaswamy 2007. 22 | Vgl. Göttlich/Krischke-Ramaswamy 2003, Fritzsche 2003, Krischke-Ramaswamy 2007. 23 | Zum Sammeln siehe den Beitrag von Maase/Müller im vorliegenden Band; zu Fan Fiction vgl. Bacon-Smith 1992, Jenkins 1992, 2006a, 2006b. 24 | Siehe Barth/Lehn 1996, Hellekson 2006, Jenkins 2006a, 2006b, Krischke-Ramaswamy 2007, Nast 2009. 25 | Fanclubs: Hallmann 1979; Conventions: Kellner 1983; Leserbriefe: Hallmann 1979, Schemme 1983, Krämer 1990; siehe hierzu auch den Beitrag von Kelleter/Stein im vorliegenden Band.

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um Knotenpunkte der insgesamt für das Science-Fiction-Genre charakteristischen engen Vernetzung von Fanszene und Produktionsseite.26 Schwettmanns umfangreiche Materialsammlung gibt wichtige Einblicke, wie sich diese Prozesse im Serienfeld Perry Rhodan abspielen.27 Auch in dieser Szene finden sich Übergänge zwischen Rezipienten, Heftautoren und anderem Verlagspersonal sowie Analytikern.28 Hier wird die von Bruns eingeführte Figur der »produsers« (2008) – der an der Serie produktiv beteiligten Nutzerinnen und Nutzer – evident. Perry-Rhodan-Fankultur im Internet wurde bisher nur am Rande behandelt. Populärkultur(-praktiken) als Mittel zur Distinktion. Status und Ansehen des Populären im kulturellen Raum ergeben sich nicht daraus, dass bestimmte Produkte und Aneignungsweisen in sich wertvoller wären als andere – weil sie etwa komplexer, anspruchsvoller, von größerer Meisterschaft sind oder höhere Kennerschaft verlangen. Vielmehr sind Anerkennung oder Abwertung kultureller Phänomene sowie ihre Einordnung als populär oder künstlerisch bedeutsam das Resultat performativer, objektvermittelter und diskursiver Praktiken; zu deren Verständnis dient das Konzept der Distinktion nach Bourdieu.29 Dabei verstehen wir Distinktion gleichermaßen als beabsichtigtes Ergebnis individuellen Handelns wie als Effekt, der sich aus der Wahrnehmung und Bewertung kultureller Unterschiede ergibt. Darauf deuten stabile Befunde der Lebensstilforschung zur Beziehung zwischen sozialer Schicht und Kunstgebrauch hin. Sie belegen vor allem zwei Tendenzen: Kunstwerke und Kunstpraktiken dienen ebenso wie Gebrauchsgüter inklusive Populärkulturwaren zur Positionierung im sozialen Raum der Lebensstile, indem sie den »Geschmack« ihrer Nutzerinnen und Nutzer demonstrieren.30 Präferenzen für unterschiedliche Genres, Stile, ästhetische Sprachen sind in diesem Raum hierarchisch angeordnet, Nutzerinnen und Nutzer werden entsprechend klassifiziert. Populäre Serien sind dabei eindeutig »unten« positioniert.31 Solche Bewertungen sind aber umstritten, da konstant in Bewegung. In den letzten Jahrzehnten flexibilisiert sich die überkommene Korrelation zwischen kanonisierter Bildungskultur und legitimen Lebensstilen zusehends. In Deutschland und den USA ist das vor allem für Gruppen mit hohem Bildungsstand untersucht worden; in deren Lebensstil spielen Umgang mit und 26 | Vgl. Del Rey 1980, James 1994. 27 | Vgl. Schwettmann 2006. 28 | Vgl. Stache 1986, Günther 1999b, Galle 2005, Schwettmann 2006. 29 | Vgl. Bourdieu 1982. 30 | Zu Kunstwerken vgl. Lamont/Fournier 1992; zu Gebrauchsgütern: Zerubavel 1991. 31 | Vgl. Vogt 1994.

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Kompetenz betreffend Werke und Praktiken, die der Populärkultur zugeordnet werden, inzwischen eine wachsende Rolle.32 Gebesmair weist mit dem Begriff des »multikulturellen Kapitals« (2001, 2004) darauf hin, dass heute auch durch Populärkultur ein legitimer, Ansehen und Autorität vermittelnder Lebensstil erreicht werden kann, ja, dass die distinguierende Integration von Populärem dafür geradezu notwendig geworden ist. Laut Schulzes Lebensstiluntersuchungen löst sich in Deutschland das »Hochkulturschema« (1992: 142-150) auf; die Jüngeren aller Bildungsschichten formieren im Feld der Populärkultur alltagsästhetische Stilgruppen und Szenen, die sich im Modus der Distinktion auf andere Gruppen beziehen. Die neuere Forschung hat Distinktion auch im Umgang mit populärem Material als verbreitete und vielschichtige Praxis der Produktion von Hierarchien und Kanonisierungen in den Blick genommen. Fiske hat Bourdieus Konzept des »capital culturel« in die Fanforschung eingeführt; anschließende empirische Studien zeigen, dass insbesondere Genre- und Serienwissen sowie Kontakte zu Künstlern und Produzenten, aber auch Kleidung und Auftreten als Mittel dienen, sich von anderen Teilen des Publikums abzusetzen.33 Forschungen zu »subkulturellem Kapital« und zur Kanonbildung in populärer Kultur weisen darauf hin, dass Muster hierarchischer Legitimierung, die die Bildungskultur strukturieren, auch im Bereich des Populären am Werk sind.34 Im Wettbewerb um kulturelle Anerkennung setzen sich hier Akteure mittels einzelner Texte, Genres, Präsentationsformen oder Aneignungsweisen, denen ein bestimmter Rang zugeschrieben wird, »in Szene«. Inwiefern Schemata der Bildungskultur hierdurch verändert bzw. durch neue Wertsetzungen dynamisiert werden, lässt sich anhand unserer Fallstudien exemplarisch überprüfen.

A LLTAGSINTEGR ATION : V ORGEHENSWEISE UND ERSTE B EFUNDE Integration in den Alltag. Bei den beiden untersuchten Serien haben sich Praktiken der Nutzung entwickelt, die stellenweise sehr ähnlich sind. Bedingt durch ästhetische und soziale Faktoren ebenso wie durch die Medien- und Genrespezifik der Serien gibt es jedoch auch starke Kontraste. Eine lang laufende Geschichte, narrative Vielstimmigkeit und visuelle wie mediale Vielfalt ermöglichen unterschiedlichste Einstiegspunkte und Zugriffe auf die Serienwelt Perry 32 | Vgl. Peterson/Simkus 1992, Peterson/Kern 1996, Neuhoff 2001; zur Bedeutung populärkultureller Kompetenzen in Bildungsschichten siehe Frank/Maletzke/MüllerSachse 1991. 33 | Vgl. Fiske 1992 sowie Grabowski 1999, Ganz-Blättler 2000. 34 | Zu subkulturellem Kapital vgl. Thornton 1995, Ritter 2008; zur populärkulturellen Kanonbildung: Hills 2007, Helms/Phleps 2008, Anderson 2008, Kelleter 2010.

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Rhodan. Das Spektrum der Nutzerinnen und Nutzer reicht von solchen, die gelegentlich einzelne Bände lesen, bis zu denen, die ihre Lebenswelt umfassend mit Perry-Stoffen in verschiedenen Medien und mit Fandevotionalien ausstatten. Der wöchentliche Erscheinungsrhythmus der Erstauflage der Serie prägt das Kauf-, aber auch das Lese- bzw. Hörverhalten. Er führt Nutzerinnen und Nutzer einmal in der Woche zum Kiosk, lässt sie gespannt das abonnierte Heft, E-Book oder die neueste Hörbuch-Folge erwarten. Er kann das hastige »Verschlingen« der neuen »Dosis« bewirken oder mit seiner Regelmäßigkeit überfordern, so dass sich die Hefte in der Wohnung stapeln. Neben der Rezeption der unterschiedlichen medialen Angebote bringt die Serie diverse weitere Praktiken hervor, die entweder im privaten Rahmen stattfinden – wie das Anlegen einer Sammlung – oder in die Öffentlichkeit vordringen. Die Mitgliedschaft in einem Fanclub, die Lektüre von Fanmagazinen, die Teilnahme an Clubtreffen, Messen oder Conventions sind gerade unter Anhängerinnen und Anhängern des Science-Fiction-Genres gängige Praktiken und haben auch bei Perry Rhodan eine lange Tradition. In Zeiten digitaler Vernetzung haben sich die Aktivitäten auf diesen Bereich ausgeweitet: Perry-RhodanFans twittern, agieren per Facebook, schreiben eigene Blogs und kommunizieren in Internetforen. Die Fanproduktionen wie auch die Verlagsaktivitäten passen sich dieser Entwicklung an. Auch der Tatort hat mit 40 Jahren Sendezeit eine lange Geschichte, die zu ritualisierten Umgangsweisen im Alltag führt. Für viele ist klar: Ich gucke Tatort am Sonntagabend zusammen mit meinem Partner oder meinen Freunden. Wir haben Spaß am Miträtseln und lassen mit Tatort das Wochenende ausklingen. Alternative Praktiken binden sich an die Dinghaftigkeit der Speichermedien. Während die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer den Krimi im Fernsehprogramm verfolgen, wird bei einigen die Aufnahme programmiert, andere kaufen DVD-Sets oder streamen die Reihe im Internet. Doch der Umgang mit Tatort beschränkt sich nicht auf den Krimiabend. Er setzt sich zwischen den Folgen fort, etwa beim Verabreden zum Tatort-Gucken und der Herausbildung von Sehgemeinschaften. Serienwissen sedimentiert dabei mehr oder weniger unmerklich und in unterschiedlichen Graden. Routiniert ist auch die Nebentätigkeit: das Bügeln, das Essen, das Einschlafen. Regelmäßige Tatort-Zuschauerinnen und -Zuschauer informieren sich vorher im Blatt ihrer Wahl oder in Online-Quellen über die kommende Folge. Manchmal erzählen Freunde oder Freundinnen, dass das Thema der kommenden Folge besonders heikel ist oder der eigene »Heimatkreis« gezeigt wird. Am Montagmorgen bietet der Krimi dann Gesprächsstoff am Arbeitsplatz. Auch Tatort-Rezipierende nutzen das Internet für ihre Fan- und Kritikeraktivitäten. Sie informieren sich über Hintergründe, bewerten einzelne Folgen oder machen Vorschläge für den weiteren Verlauf der Reihe. Hier können sie die

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Titelmusik als Klingelton herunterladen, sich auf Ebay nach Schimanski-Jacken umsehen oder selbst kreativ werden und Fan Fiction schreiben. Das Interview als Zugang zum Feld. Auch Felder, in denen der aktive Umgang mit Serien nicht im Vordergrund steht, interessieren uns mit Blick auf die dort zu beobachtenden Praktiken sozialer Positionierung. Unsere Untersuchung baut auf einem Methodenmix auf, der neben ethnographischen auch literaturwissenschaftliche Zugangsweisen einschließt. So wird es möglich, Ergebnisse, die auf unterschiedlichen Prämissen beruhen und jeweils spezifische Vorstellungen über das Feld beinhalten, zueinander in Beziehung zu setzen. Eine Methode, die für akteurszentrierte Rezeptionsforschungen unerlässlich ist, weil sie u.a. nach den Bedeutungen fragt, die dem eigenen Umgang mit dem seriellen Text zugeschrieben werden, ist das Interview. Im Interview werden Selbstpositionierungen vorgenommen. Kraus beschreibt das »narrative Selbst« als Organisation der erlebten Vielseitigkeit in einem erzählten »Verweisungszusammenhang auf Basis der sozialen Kontexte[,] aus dem heraus es sein Handeln interpretiert« (2000: 159f.). Die Gesprächspartner sind demnach schon durch das Format »narratives Interview« dazu angehalten, sich selbst in einer größeren, auf Schlüssigkeit bedachten Erzählung darzustellen und dabei ihr Handeln einzustufen. Das Interview stellt zum einen eine Kontrastfolie zu Ergebnissen aus anderen Methoden dar und hilft, Aussagen zu kontextualisieren. Zum anderen gewährt es Zugriff auf Bedeutungsfelder, die sich in den Bereich des fühlenden Erlebens einordnen lassen: Wie gehen Leserinnen und Leser, Zuschauerinnen und Zuschauer mit ästhetischen Artefakten um, die Stimmungen in ihnen evozieren? Welche Rolle spielen Serien beim Vermitteln der eigenen Gefühlszustände? Gleichzeitig kann in der durch die Befragten aktiv mitgestalteten Gesprächssituation ein Zugriff auf schwierig zu verbalisierende Sachverhalte wie etwa die ästhetische Rezeption erfolgen. Durch gezieltes Nachfragen zu von Nutzerinnen und Nutzern selbst thematisierten Aspekten, etwa zur Lieblingsfolge, sind die Befragten meist bereit, sich eingehender mit den eigenen Lektüre- und Seherfahrungen zu befassen als bei beliebig durch die Interviewerin ausgewählten Fragen. Sekundäre Vorteile des Interviews bestehen darin, dass wir mit unseren Gewährspersonen in einen Face-to-Face-Kontakt treten, vielleicht auf weitere Handlungsfelder und Kontaktpersonen hingewiesen werden und uns ein Bild vom Schauplatz der Seriennutzung machen können, zumal die Gespräche gewöhnlich bei den Rezipierenden zu Hause stattfinden. Beide Serien werden von einem weiten Personenkreis genutzt. Wir mussten demnach eine Auswahl von Interviewpartnern treffen und im Folgenden klären, wie das einmal aufgebaute Sample im laufenden Projekt erweitert werden kann. Angefangen mit Anfragen bei der Redaktion, Aushängen und der Suche

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im Bekanntenkreis wird nach dem Schneeballprinzip die Gruppe der Befragten erweitert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass verschiedene Altersgruppen, Geschlechter und soziale Milieus in der Auswahl repräsentiert sind und unterschiedliche Rezeptionsformen angesprochen werden. Die Interviews (insgesamt 55) werden nicht in einem Schritt erhoben und im nächsten ausgewertet; vielmehr erfolgt die Auswertung der ersten Interviews bereits, bevor alle Gespräche geführt wurden. Die sukzessive Auswertung im Lauf des Forschungsprozesses erlaubt es, das Sample mit Blick auf neue Forschungsfragen, die aus bisherigen Ergebnissen folgen, zu erweitern.35 Das bedeutet beispielsweise, die besondere Affinität von Akademikerinnen und Akademikern zur Reihe Tatort und von naturwissenschaftlich Ausgebildeten zur Serie Perry Rhodan, die die ersten Interviews nahelegen, durch Ausweitung des Samples auf nicht-akademische bzw. nicht-naturwissenschaftliche Gruppen zu überprüfen. Das qualitative, leitfadengestützte, themenzentrierte Interview mit einem medienbiografischen Einstieg. In der kulturwissenschaftlich-ethnographischen Forschung stellte das Interview lange Zeit die Königsmethode dar, zu der andere Verfahren nur begleitend hinzugezogen wurden. Mittlerweile hat sich diese Position gelockert und einem theorie- und gegenstandsgeleiteten Methodenmix Platz gemacht. Dem qualitativen, leitfadengestützten, themenzentrierten Interview kommt für unser Projekt weiterhin eine prominente Stellung zu, da es Handlungsfelder greifbar macht und Bedeutungskategorien zu erfassen hilft, die sonst im Dunkeln blieben.36 Ansprüche auf »Neutralität« der Interviewenden treten hierbei zurück; vielmehr bemühen wir uns um eine Annäherung an alltägliche Gesprächssituationen, bei der wir uns als Fragende nicht verstecken und den Interviewten Raum zur Mitbestimmung des Gesprächsverlaufs geben.37 Ein Leitfaden hilft, die Gesprächssituation zu strukturieren und einen Vergleich der verschiedenen Interviews einerseits, der beiden unterschiedlichen Serien andererseits anzustellen. Im Mittelpunkt stehen die unterschiedlichen Handlungsfelder der Nutzerinnen und Nutzer sowie die Einbindung der Serien in Alltagsstrukturen. Fragen wurden gesammelt, thematisch gruppiert und anschließend so gefasst, dass sie Raum zum Erzählen bieten, Anschlussfragen ermöglichen und nicht durch Fremdwörter verwirren. Die Fragen sind allesamt vorformuliert, werden aber im Lauf des Gesprächs der Situation angepasst; gegebenenfalls wird auch die Reihenfolge verändert. Wenn die Erzählung des Gegenübers auf einen 35 | Dieses Vorgehen ist am theoretischen Sampling der Grounded Theory orientiert, vgl. Strübing 2008: 30-33. 36 | Vgl. Schmidt-Lauber 2007a. 37 | Vgl. Briggs 1986: 21-26.

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außerhalb der Leitfragen stehenden Komplex hinweist, der mit dem Thema verbunden ist, wird dieser ins Gespräch integriert. Die Interviews beginnen mit einem medienbiografischen Einstieg. Hier wird der Umgang mit unterschiedlichen Medien erfragt, bei zunehmender Fokussierung auf Serien sowie auf das jeweils relevante Medium (Heftroman oder Fernsehen) und das spezifische Genre (Science Fiction oder Krimi). Anschließend wird der individuelle Zugangsweg zur Serie nachvollzogen. In einem zweiten Teil werden Nutzungsgewohnheiten erfasst (Rezeptionshäufigkeit, genutzte Formate, Bezugsformen sowie Arten des Speicherns, Aufbewahrens und Entsorgens). Hieran schließt sich die Thematisierung typischer Nutzungssituationen, der Alltagseinbindung und deren Intensität an. Hier werden der individuelle Umgang mit dem Gesamtwerk, Praktiken des Sammelns, Leihens und Tauschens oder die Nutzung von Sekundärmedien und Zusatzmaterial reflektiert. Ästhetische Aspekte kommen zum Tragen, wenn es um das mehrmalige Lesen oder Schauen geht, um den Realitätsbezug der Story, um eine Bewertung der Serie oder um die Wahrnehmung von Entwicklungen. Zudem interessiert uns die Kommunikation innerhalb des Serienfeldes, ob Face-to-Face, im Internet oder bei Conventions. Aussagen zur sozialen Positionierung finden sich in Erzählpassagen, die durch Fragen nach Vorstellungen vom »typischen Nutzer« bzw. »Fan« der Serie oder nach der Abgrenzung zu anderen Serien des gleichen Genres angeregt werden. Das Interview endet mit einer Aufforderung zur Gesamteinschätzung. Dies bietet den Interviewten Raum, bestimmte Themen zu betonen, zu relativieren oder neu zur Sprache zu bringen.

TENDENZEN DER S ELBSTPOSITIONIERUNG Perry Rhodan. Alle bislang befragten Leserinnen und Leser bezeichnen sich als »Fans« der Serie. In ihren Schilderungen, was Perry-Rhodan-Fans ausmache, zeigt sich häufig eine Tendenz zur Abgrenzung von stereotyp gezeichneten Anderen. Dr. Klaus Weidner, 45-jähriger Redakteur einer Tageszeitung, gibt an, er sei als Geisteswissenschaftler eine Ausnahme unter den Lesern, erklärt allerdings gleichzeitig seine Affinität zur Serie durch sein naturwissenschaftliches Interesse: »Ja, also ich bin sicher ein untypischer Leser. Weil ich halt kein Naturwissenschaftler bin. […] Aber ich habe eine große Affinität zur Naturwissenschaft.«38 Ihre Verbundenheit mit der Serie äußern mehrere Interviewte, indem sie den Unterschied zu anderen Science-Fiction-Rezipierenden betonen. So grenzen sie sich explizit von Star-Trek-Fans ab und charakterisieren sich

38 | Sämtliche Namen von Interviewpartnern wurden pseudonymisiert.

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gegenüber diesen als normal und gemäßigt. Die Perry-Rhodan-Leserin Melanie Werner, 29, Steuerassistentin, erzählt, dass Perry Rhodan diese Art von Fans auch nicht hat. Also nicht großartig. Über das, dass auch kein … also dass der Personenkult einfach nicht so da ist […] Und es gibt auch nicht diese – wie jetzt gerade bei Star Trek dann – diese Kostüme dann oder so was. Ich finde, das hat auch so bisschen … Das ist ein bisschen kindisch.

Perry-Rhodan-Fans, so stellt es sich hier dar, sind nicht diejenigen, die sich »Ohren ankleben« oder »den ganzen Tag in Uniform rumrenn[en]«. In den Aussagen scheint sich ein gängiges Vorurteil gegenüber Science-Fiction-Fans zu spiegeln. Der verbreitete Vorwurf gegenüber Star-Trek-Fans: »get a life!«, wie ihn Jenkins aus den Beschreibungen von Nicht-Fans herausarbeitete, scheint den Befragten durchaus präsent zu sein und als Negativfolie für die Beschreibung des eigenen Fanseins zu dienen.39 Allerdings gebe es auch extreme Perry-Rhodan-Fans, meint Fabian Werner, Ehemann von Melanie Werner und ebenfalls PR-Leser: Es gibt auch krassere Fans. Das spielt sich dann, glaube ich, eher wieder dann in diesen … Ich weiß nicht. Also das Feedback, das die da immer haben, und diese Leserbriefe dann wieder … Also es gibt Leute, die sind ja total in dieser Technik drin von den Raumschiffen. Also die wird da auch immer sehr detailliert manchmal beschrieben, also mich interessiert das gar nicht.

Für alle Befragten ist der Begriff »Fan« eher offen gefasst und nicht auf das aktive, vernetzte »Fandom« beschränkt. Mit dem Fansein verbinden sie vor allem den wöchentlichen Kauf bzw. das regelmäßige Lesen der Serie. Über die Rezeption hinaus spielt für Thomas Bayer, 41, Kunststofftechniker im Fahrzeugbau und selbst langjähriger Fanclub-Aktivist, auch das Vereinsleben, der kommunikative Aspekt des Fandom, eine Rolle: »Wenn wir jetzt ein Treffen haben im Verein … Also am seltensten fällt das Wort Perry Rhodan, denke ich mal. Wir unterhalten uns über alles.« Das Heftromanabenteuer Perry Rhodan stiftet hier Gemeinschaft, die dann durchaus von der Serie entkoppelt stattfinden kann. Tatort. Anders als Perry-Rhodan-Rezipierende bezeichnen sich die Tatort-Zuschauerinnen und -Zuschauer selbst dann, wenn sie die Reihe schon seit Jahren fast allsonntäglich verfolgen, lieber erst einmal nicht als Fans – und wenn, dann eben nur als »kleine«, keine »richtigen« Fans. Dr. Greta Kern und ihr Mann Anton Wechter, sie Ärztin, er Richter, beide etwa 50, überlegen gemeinsam, was sie von Fans unterscheidet. Er sagt: 39 | Vgl. Jenkins 1992: 9-11.

L ESEN , S EHEN , H ÄNGENBLEIBEN Ja Fans … Ich käme jetzt nicht auf die Idee, im Internet im Tatort-Shop, gibt es doch sicherlich, irgendwelche Mützen, T-Shirts, sonst was … Nee, ich mein, man guckt es regelmäßig. Insoweit ist man vielleicht ein kleiner Fan. Man erinnert sich, welcher Kommissar und welche Macke der hat, aber als Fan […] Dann müssten wir auch in so ein Forum rein.

Infolge der hohen Erwartungen an das, was Fanverhalten ausmacht, positionieren die beiden sich außerhalb der Tatort-Fangemeinde. Dem Begriff scheint hier und da zudem etwas Enges, Fanatisches anzuhängen, wovon sich die Befragten distanzieren möchten. Obwohl sich Andrea Zenk, 24, Studentin, zunächst als einen großen Fan des Münsteraner Tatort beschrieb, nimmt sie die Aussage bald wieder zurück, weil ihr der Begriff des Fans nicht behagt: Faaan ist so ein Wort. (Atmet schwer) […] Ich war Hardcore-Fan von Sailormoon. Ich hatte kein Kostüm, das wollte ich noch dazusagen. Aber ansonsten … Nein, von Tatort bin ich kein Fan. Weil Fan hat … ist für mich fanatisch, und das bin ich nicht. Ich gucke es ausgesprochen gerne, ich will es immer gucken. Aber ich bin kein Fan.

Ähnlich geht es Nadja Kelch, einer 22-jährigen Studentin, die sich als Fan von Serien bezeichnet, aber nicht als Fan des Tatorts. Sie erklärt: Also ich bin ein Serien-Fan, aber nicht so einer spezifischen Serie, was auch ein bisschen bescheuert ist, aber … ja. Also ich bin ein Fan davon, Tatort in der Kneipe mit mehreren Menschen zu gucken und das zusammen zu gucken, aber ich bin jetzt kein Fan von Tatort im Spezifischen […] Ich bin ja kein richtiger Fan, sondern nur ein Fan.

Fansein wird nicht nur, wie hier, in Anlehnung an andere Serien gemessen, sondern auch am alltäglichen Fernsehkonsum, etwa von Sabine Kranz, 47, Reinigungskraft: »Ich weiß nicht, ob man dann unbedingt Fan ist. Weil ich so vieles gucke.« Die Möglichkeit, über die gemeinsame Sympathie für die Krimireihe auch Kontakte zu knüpfen, kam den bisherigen Interviewten nicht in den Sinn. Dafür sei die Zuschauergruppe des Tatort zu breit, so Frau Dr. Kern: »Also ich denk, dass ’s was ist, was so auch so ’n bisschen durch die Schichten durchgeht.« Geschmacksneutralität wird dem Tatort dennoch nicht unterstellt. Die Reihe wird von mehreren Interviewten als vergleichsweise hochwertiges Fernsehen betrachtet. Anton Wechter ist der Ansicht, die Reihe sei »eher ’n bisschen anspruchsvoller. Es gibt Leute, die, ich denk’, dann lieber RTL und RTL2 oder so eher sind, was vielleicht etwas flacher ist.« Aufwertung durch die Distanzierung von unbestimmten Anderen kann auch umgekehrt gelingen, indem der eigene Geschmack von dem der gewöhnlichen Tatort-Zuschauerinnen und -Zuschauer abgegrenzt wird. Andrea Zenk stellt sich den »typischen Tatort-Zuschauer« als spießigen Kleinbürger vor:

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»Das urdeutsche Bild ist so: Ältere Herrschaften zuhause in ihrem … in ihrem spießigen Wohnzimmer – Tatort – gucken ARD … sie Hausfrau, er Beamter.« Das Gemeinschaftsgefühl, das der Tatort stiftet, ist demnach eines, das lediglich innerhalb der Sehgemeinschaft stattfindet und dem gemeinsamen TatortSchauen gewöhnlich vorausgeht. Dass sich dabei neue Bekanntschaften ergeben, stellt eher die Ausnahme als die Regel dar. Nutzungssituationen (1): Regelmäßigkeit und Aufhollektüre. Der Tatort und Perry Rhodan unterscheiden sich wesentlich in ihrer Materialität, Vertriebsart und Medialität. In den Interviews werden dennoch Parallelen in der Nutzung deutlich, die sich auf den gemeinsamen Seriencharakter zurückführen lassen. Alle Befragten erwerben ihr Perry-Rhodan-Heft wöchentlich, entweder im Abonnement oder durch Kauf am Kiosk. Die Lesepraktiken variieren jedoch zwischen regelmäßiger und Aufhollektüre. Sabrina Bayer und Melanie Werner, beide Vielleserinnen, die ein weit gefächertes Spektrum an Belletristik rezipieren, lesen wöchentlich ihr Heft. Für Melanie Werner spielt dabei der Aspekt der Vollständigkeit eine Rolle: »Also ich kann das nicht, dass ich mal einen auslasse oder so (lacht).« Auch Sabrina Bayer ist die regelmäßige Lektüre wichtig. Wenn einmal Rückstände aufkommen, »dann muss es wirklich schon ganz dumm laufen«. Ihr Ehemann Thomas Bayer hingegen liest phasenweise sehr wenig und holt später wieder auf: »Ich war jetzt ein paar Wochen krank und da hab ich dann halt das letzte Dreivierteljahr in zwei Wochen oder so …«. Auch die Tatort-Rezeption folgt Routinen, die in ihrer Regelmäßigkeit konservativ, geradezu rückwärtsgewandt anmuten. Dies betrifft besonders die Bindung der Sendung an den Sonntag. Der Krimi wird von allen Interviewten aufmerksam verfolgt und dient gewöhnlich dazu, das Wochenende ausklingen zu lassen. Was bei den älteren Befragten eine Routine mit dem Ehepartner darstellt, bindet sich für die Studentin an den Besuch bei den Eltern. Vergleichbar mit der »Aufhollektüre« der PR-Hefte kann auch der Tatort verschoben rezipiert werden. Das Ehepaar Dr. Kern und Wechter hat sich einen digitalen Receiver besorgt, der erlaubt, den Tatort-Abend erst zu beginnen, nachdem die Tochter ins Bett gebracht wurde. Gleich mehrere Tatorte zu speichern und dann später anzusehen, halten die Befragten gewöhnlich nicht für sinnvoll. Anders sieht das Andrea Zenk, die sich alle DVDs besorgt hat, die es zu den Münsteraner Ermittlern gibt. Damit ist ihr Tatort vom Sonntag und von den Eltern entkoppelt: »Einen Abend hab ich sogar zwei geguckt. Sind ja nur 90 Minuten […] Ich habe eine Woche lang quasi jeden Abend eine Folge Tatort gesehen […] Fand ich gut. War auch kein Overkill oder so.« Von Aufholen oder Regelmäßigkeit kann hier keine Rede sein, sieht man davon ab, dass auch Andrea Zenks programmunabhängiges Tatort-Schauen immer abends und immer in Verbindung mit Essen stattfindet.

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Nutzungssituationen (2): Zusammenhänge mit Arbeit und Freizeit. Der Rhythmus der Heftroman-Lektüre hängt weniger mit einem spezifischen Wochentag als mit den Arbeitszeiten der Leserinnen und Leser zusammen. Klaus Weidner, der auch von Aufhollektüre berichtet, erklärt, dass seine Lesepraxis beruflich bedingt sei: »Ich hab ’n anstrengenden Beruf und ich bin abends oft auch froh, wenn ich keine Buchstaben sehen muss.« Da er Pendler ist, kauft er sein Heft meist an einem Bahnhofskiosk und liest es auf dem Nachhauseweg im Zug. Seine Perry-Rhodan-Lektüre gibt ihm nebenbei, wie er sagt, Auskunft über die eigene gesundheitliche Verfassung: In Zeiten, wo ich ganz wenig Zeit habe, da stapeln die sich auch mal […] Und dann merke ich auch – auch wieder so eine Richtschnur: Wenn da zehn Hefte liegen, sag ich: »Junge, du musst was machen. Das kann jetzt nicht mehr so weitergehen, sonst kriegst du irgendwann mal einen Herzinfarkt.«

Auch die Lektüregewohnheiten Thomas Bayers sind abhängig von seinem Arbeitsrhythmus: »Wenn ich Frühschicht habe, also morgens früh aufstehen muss, lese ich eigentlich fast gar nicht. Ich lese dann immer, wenn ich Spätschicht habe, so zehn nach Hause komme, zwölf ins Bett gehe, dann lese ich noch zwei, drei Stunden.« Obwohl alle Tatort-Interviewten ebenfalls herausstellen, dass ihre Fernsehpraxis eng mit ihrem Arbeitsalltag zusammenhängt, ist die Arbeit nur selten ein Grund, Tatort nicht zu sehen – das ist eher ein Urlaub oder Besuch im Haus. Vielmehr symbolisiert der Sonntagskrimi die Schwelle zur neuen Arbeitswoche, 90 Minuten gesicherte Freizeit, die den Abschluss des Wochenendes positiv markieren. Nutzungssituationen (3): Öffentlichkeit und Privatbereich. Die Einordnung der Serienrezeption zwischen Öffentlichem und Privaten spielt in allen Interviews eine Rolle. Perry-Rhodan-Leseorte sind vielfältig. Gelesen wird in der Bahn, in der Kneipe oder im Biergarten sowie im Bett oder der Badewanne. Melanie Werner erscheint, wie sie sagt, die Lektüre in der Öffentlichkeit problematisch, da der »Trivialliteratur«-Status der Hefte zu einem »Imageproblem« führe. Besonders als Frau werde man hier häufig falsch wahrgenommen: »Also ich lese manchmal auch lieber die Bücher, weil man in Zügen oder so immer doof angeguckt wird, wenn man als Frau dasitzt mit einem Heftroman (lacht): ›Guck mal, die liest Arztromane!‹ (lacht).« Ihr Ehemann liest hingegen häufig, wenn er unterwegs ist, auch im Zug. Bei besonders guten Bänden sind ihm aber eine ungestörte Lektüre und die richtige Atmosphäre dafür wichtig: »Kommt immer darauf an, wie spannend der Roman gerade ist. Also manchmal muss die Stimmung dann stimmen, da kann ich nicht irgendwelche kreischenden Kinder drum herum brauchen. Dann lese ich es dann eher zu Hause.« Wenn Klaus

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Weidner sein Heft zu Hause liest, tut er das vor dem Einschlafen oder in der Badewanne, allerdings lässt sich das Bedürfnis nach Entspannung nur schwer mit der (materiellen) Wertschätzung der Hefte vereinbaren: »Also eine Stunde in der Badewanne ist ja Obergrenze, ne? Da ist es besser, man hat kein so ein gutes dabei, weil dann wellt sich’s auch immer so von den Dämpfen.« Die Tatort-Zuschauerinnen und -Zuschauer ordnen den Krimi gewöhnlich dem Zuhause, dem Privatbereich, zu und verbinden ihn gedanklich wie praktisch mit dem Feierabend: »Passiv, ja, völlig passiv, bis aufs Weinglas-Hochheben« könne man dabei sein, sagt Dr. Gerda Kern. Die Arbeit hinter sich zu lassen, ist auch für Sabine Kranz ein wichtiger Aspekt am Tatort-Sonntag, wobei der Krimi erstaunlicherweise auch einschläfernd wirkt: »Um die Uhrzeit, Viertel nach acht, ist sowieso … Da wird der Feierabend eingeläutet, absolut. Da wird nur noch Fernsehen geguckt.« Nach dem Film heißt es für sie dann: »Aufstehen. Bettfertig machen, in aller Ruhe. Darf keiner mehr reden. Bloooß nicht wieder wachrütteln.« Zwar tun sich gerade unter den jüngeren Zuschauerinnen und Zuschauern einige gerne in Sehgemeinschaften zusammen oder verfolgen den Tatort in einer Kneipe auf Großbildleinwand, doch auch dieser Event hat in seiner Regelmäßigkeit etwas Privates und Bequemes. Für Nadja Kelch hieß es beim Tatort-Public-Viewing nur: »›Ja, Sonntag – Bist du dabei? Alles klar!‹ Und man wusste Bescheid, wo man hin muss, wer dabei ist und so weiter.« Aufbewahrungspraktiken: Sammeln und Speichern. Sammeln ist nicht jedermanns Sache. Dass das Serielle latent zum Sammeln anregt, ist jedoch unbestreitbar: Serien enthalten sowohl das Versprechen der Fortsetzung und damit des Anwachsens eines Sammlungsbestands als auch die inhärente Aufforderung, alle Teile zu kennen und gegebenenfalls auch zu besitzen. Erst die Sammelnden selbst machen dabei durch ihre eigenen Ordnungen die Sammlung zu dem, was sie ist, wobei die Komplettierung einer laufenden Serie zum Kategorisieren und Organisieren anregt.40 In der individuellen Auswahl des Sammlungsbestandes werden unterschiedliche Zugänge zum Sammeln sichtbar.41 Eine Befragung der Sammelnden kann dies verdeutlichen und ist demnach für das adäquate Verständnis einer Sammlung unabdingbar; sie bietet mehr Einblick als eine bloße Besichtigung. Die untersuchten Serien scheinen in sehr unterschiedlichem Maße zum Speichern bzw. Sammeln anzuregen. Dieser Umstand ist serien-, medien- und genrespezifischen Gründen geschuldet, die empirische Nutzungsspuren hinterlassen. Auch innerhalb der Serienpublika ergeben sich zahlreiche Varianten der Aufbewahrung. 40 | Vgl. Muensterberger 1995: 316; siehe auch Wiegmann 2010: 8 und den Beitrag von Maase/Müller im vorliegenden Band. 41 | Vgl. Wiegmann 2010: 8.

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Bei den befragten Perry-Rhodan-Lesern und -Leserinnen, die die aktuellen Hefte der Erstauflage beziehen, zeigt sich eine große Bandbreite im Umgang mit gelesenen Bänden. Melanie und Fabian Werner etwa entsorgen ihre Hefte regelmäßig. Nach der Lektüre lagern sie sie vorübergehend in Kartons im Keller bzw. Hobbyraum, um sie nach einer Weile – wenn auch offenbar schweren Herzens – ins Altpapier zu geben. Eine Sammlung legen sie aus Platzgründen nicht an. Klaus Weidner hingegen archiviert nicht nur seine gelesenen Hefte, sondern besitzt die erste Auflage komplett. Seine Sammlung befindet sich in selbstgebauten Kisten sowie einem zusätzlichen Regal im Wohnzimmer seiner Wohnung. Die einzelnen Hefte bügelt er und bindet sie dann in Ordnern zusammen, die er aus alten Buchdeckeln selbst herstellt. Die Sammlung legt zunächst den Gedanken nahe, sie sei auf Repräsentativität angelegt. So ist Weidner auf Vollständigkeit und auf eine pflegliche Behandlung der Hefte bedacht und verleiht sie nicht an andere Leser: »Die behandeln sie scheiße, die biegen immer die Ränder.« Weidner zeigt seine Sammlung in der Regel jedoch niemandem, da sich keiner dafür interessiere. Die Sammelpraxis bleibt so ausschließlich selbstbezogen. Die Präsenz der geschätzten Hefte hat eine große Bedeutung für ihn und es macht ihm Spaß, sie sich anzusehen und sie zu sortieren. Obwohl er sie selten benutzt, will er sie um sich haben: »Sie können nicht irgendwo anders sein.« Weidner und das Ehepaar Werner gehören zu der Gruppe von Leserinnen und Lesern, die nicht als solche in die Öffentlichkeit treten und sich auch nicht mit anderen vernetzen. Anders verhält es sich bei Thomas und Sabrina Bayer. Die beiden sind langjährige aktive Mitglieder eines Fanclubs, dessen Buchproduktion sie vertreiben. Das Ehepaar lernte sich durch den Club kennen und betont die große Bedeutung des Perry-Rhodan-Fandoms für Privatleben und Freundeskreis. Die Sammlung der beiden befindet sich in zwei großen Regalen, die außer Perry-Rhodan-Medien noch weitere Literatur enthalten. Neben den nach Nummern sortierten Heften in weißen Pappkartons stehen hier Bildbände, andere Veröffentlichungen zur Serie, Modellbausätze für Perry-RhodanRaumschiffe, eine Stofftier-Variante des Mausbibers Gucky, PR-Schnapsfläschchen, PR-Kugelschreiber und PR-Feuerzeuge. Zu der umfassenden Sammlung kommt ein kleines Lager an eigenen Fanclub-Produkten hinzu. Die Fanpraxis durchdringt den gesamten Wohnbereich, von der Postkartencollage im Wohnzimmer über die Sammlung im Hobbyraum und gerahmte Perry-Rhodan-Briefmarken-Sonderdrucke im Hausflur bis hin zum Büroraum für den Club-Vertrieb. Praktiken des Aufbewahrens bzw. Sammelns sind demnach sehr unterschiedlich ausgeprägt. Sie reichen vom bedauerten Entsorgen der Hefte nach der Lektüre über das passionierte Sammeln, das auch handwerkliche Tätigkeiten einschließt, bis zur Gestaltung des eigenen Wohnraums mit Medien und Materialien der Serie.

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Bei der TV-Reihe hingegen zeigen sich deutlich weniger Variationen in den Aufbewahrungsformen. Während der Umgang der Befragten mit Serien insgesamt recht vielfältig ist, lassen die Interviews in puncto Archivierung auf ausgeprägte Gemeinsamkeiten schließen: Der Polizeikrimi verliert für die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer gewöhnlich, ähnlich einer Tageszeitung, nach dem einmaligen Gebrauch seinen Wert. So schaut sich auch Sabine Kranz einen einmal gesehenen Tatort nicht wieder an. »Das muss ich nicht haben. Aber das muss ich generell nicht haben. Weil das ist mir dann auch ein bisschen langweilig.« Obwohl sie und ihr Mann Aufnahmegeräte besitzen, »alles, das volle Programm«, hält sie das Speichern von Tatort-Folgen für unnötig. Die Unlust, den Tatort zu speichern, ist nicht zuletzt mit dem Krimi als einem Genre verbunden, das im Wesentlichen aus einem Rätsel besteht, das, einmal aufgeklärt, seinen Reiz verliert. Auch das Ehepaar Dr. Kern und Wechter, das die Sendung zwar speichert, um sie ungestört sehen zu können, zögert nicht, den gesehenen Film wieder zu löschen. Herr Wechter hat die Erfahrung gemacht, dass die VHS-Kassetten in der Schublade verstaubten. »Und heute, wenn ich weiß, ich möchte unbedingt was sehen, hätte ich die Möglichkeit in eine Videothek zu gehen, glaube ich. Dann würde ich was kriegen. Zumal, ah ja, in Zeiten der Wiederholung bei 30 bis 35 Digital-Kanälen, kommt ja doch immer wieder alles.« Anders als bei einer Erstausgabe von Perry Rhodan denkbar, hinterlässt der Tatort bei seinen Zuschauerinnen und Zuschauern den Eindruck der ständigen Erreichbarkeit, was eine Speicherung unsinnig erscheinen lässt. Ein sich an das Material bindender, sozusagen »auratischer« Wert, der ein vergangenes »Hier und Jetzt« (Benjamin 1936: 12f.) – die Erinnerung an Nutzungssituationen – wiederbeleben könnte, geht dem digital gespeicherten Tatort offenbar ab. Wem sich der Tatort als DVD-würdig, als der materiellen Aufbewahrung wert, darstellt, der attestiert der Reihe auch eine Qualität über die einmalige Krimi-Spannung hinaus. Andrea Zenk vergleicht den Münsteraner Tatort beispielsweise mit US-Serien und erklärt: »Also man kuschelt sich so rein und denkt sich: ›Woah, geil, endlich kann ich wieder das und das gucken‹. Und das ist beim Münsteraner Tatort genauso wie bei den US-Serien für mich. Also ich fühle mich damit wohl.« Dieser zunächst etwas undeutliche Wohlfühl-Wert bindet sich nicht nur an die Reihe selbst, sondern auch an frühere Seh-Erlebnisse: »Und Tatort ist etwas, was ich halt mit meiner Mutter geguckt habe. Das heißt, dass … ich verbind’s auch mit Erinnerungen.« Was Formen der Archivierung betrifft, kommen hier Indikatoren für Geschmack, Distinktion und das Verhältnis von Öffentlichem und Privatem hinzu, die sich weniger an das Ausstellen der DVDs im privaten Raum binden als an deren Kauf. In Andrea Zenks Wohnzimmer hat sich inzwischen eine kleine DVD-Videothek angesammelt, in der auch Serien und Reihen vertreten sind. Der Tatort steht dort »ganz offen« neben allen anderen, erklärt sie, und verweist

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dabei darauf, dass ihr manche Serien ein wenig unangenehm sind: »Doctor’s Diary ist mir eigentlich peinlich. Und das ist ’ne Sache, das ist mir peinlich, dann zu kaufen bei Saturn. Hier, es ist halt meine Wohnung, hier stell ich’s auch hin. Die Leute, die hierher kommen, können das auch gerne sehen.« Den Tatort betrachtet sie nicht als heikel, obwohl ihr spontan eine Situation einfällt, in der das angedeutet wurde: »Also ich habe schon tatsächlich gehört: ›Wie, du hast dir Tatort-DVDs gekauft?!‹ Und dann meinte ich: ›Ja! Gehört für mich dazu. Ist was ganz Normales‹. Also das wär mir übrigens nicht peinlich gewesen, bei Saturn zu kaufen.« Fragen nach Seriennutzung und deren alltagsintegrativen Potentialen werden von den Rezipientinnen und Rezipienten – dies haben die Interviews zu den so unterschiedlich beschaffenen Serien Tatort und Perry Rhodan ergeben – zum Anlass genommen, geschmackliche wie soziale Selbstverortungen vorzunehmen. Gerade die Regelmäßigkeit und Dauer der Auseinandersetzung mit seriellen Erzählungen fördert die verbreitete Prämisse »Du bist, was Du magst«. Geschmacksfragen sind ohne Bezüge auf »die Anderen« nicht zu klären und damit keineswegs rein individuell oder zufällig.

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Das Sammeln populärer Heftserien zwischen Kanon, Archiv und Fanszene Kaspar Maase und Sophie Müller

D IE F R AGESTELLUNG Die Untersuchung populärer Serialität ist für die empirische Kulturforschung nicht zuletzt deshalb reizvoll, weil beide Kernbegriffe – populär und seriell – heuristisch aufgefasst werden können. Es gibt selbstverständlich Arbeitsdefinitionen, die man zur Festlegung eines Untersuchungsfeldes benötigt. Doch letztlich sind beide Konzepte relationaler und praxeologischer Natur: Sie verweisen nicht auf objektive Eigenschaften von Werken oder Dingen, sondern auf einen »historisch sich entfaltenden Interaktionszusammenhang zwischen formalmaterialen Beschaffenheiten und kulturellen Positionierungshandlungen«.1 Das leuchtet auf Anhieb vermutlich eher mit Blick auf das Populäre ein, dessen Wertungsimplikationen vertraut sind. Doch auch die empirische Frage, was von wem in welchem Kontext mit welcher Bedeutung und welchen praktischen Folgen als seriell wahrgenommen und behandelt wird, ist kulturwissenschaftlich von Interesse. Damit ist das grundlegende Erkenntnisinteresse des vorliegenden Beitrags umrissen. Es geht um die Frage, ob und wie von verschiedenen Akteuren in unterschiedlichen Konstellationen Serienhefte gesammelt wurden. Die Praxis des Zusammentragens und geordneten Aufbewahrens ist dabei im Horizont des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft zu betrachten – genauer: im Horizont der Auseinandersetzungen um die Aufnahme in die Kanones des kulturell Wertvollen und in die Archive der materiellen Überlieferung.2 Institutionen und Ergebnisse des Sammelns – Archive, Bibliotheken, Kollektionen – fungieren einerseits als Dispositive, die den physischen wie geistigen Zugang 1 | Aus dem Antragstext zur DFG-Forschergruppe 1091 »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«, siehe auch die Einleitung des vorliegenden Bandes. 2 | Zu Kanones vgl. Arnold 2002, Saul/Schmidt 2007; materielle Archive: Assmann 1988, 1997.

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zu den Objekten der Vergangenheit präformieren und regulieren. Andererseits gelten Archive – so meist der Oberbegriff – als Anordnungen von physischen Monumenten und organisierenden Praktiken, deren Bestände wie Lücken den analytischen Schluss auf zugrundeliegende (meist verborgene und unreflektierte) kulturelle Ordnungen erlauben und erfordern.3 Dabei ist immer auch nach der Allianz von Gedächtnis und Vergessen mit Macht und Herrschaft zu fragen.4 Vor dem Hintergrund dieser Annahmen untersuchen wir vergleichend die Sammelaktivitäten der Deutschen Nationalbibliothek (DNB, sowie ihrer Vorgängerin, der Deutschen Bücherei) und der Szene von Heftsammlern und Sammlerinnen, die meist auch Liebhaber populärer Literaturformate sind. Es geht darum, ob und wie sich die Haltung der kulturellen Eliten Deutschlands, die Heftromane (die so genannten Groschenhefte) bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als Inbegriff der Schund- oder Trivialliteratur stigmatisierten, auf das private und institutionalisierte Sammeln auswirkte.5 Zwar stellten die Initiativen zur Gründung einer Nationalbibliothek explizit den Anspruch auf vollständige Erfassung der deutschen Schrifterzeugnisse heraus – ob er jedoch auch diese Formate einschloss, war bereits in einer Denkschrift, die 1910 am Beginn der Gründung der Deutschen Bücherei in Leipzig stand, umstritten.6 Der Gründungsschrift zufolge nämlich waren »unzweifelhaft wertlose[], ephemere[] oder überflüssige[] Erscheinungen« wie Kochbücher und Kolportageromane nicht sammelwürdig; »minderwertige[] oder After-Literatur« sollte nur in Gestalt einzelner Repräsentanten aufgenommen werden (Ehlermann 1927: 7). Mit Wolfgang Ernst kann man hinter den Formulierungen der Denkschrift die Spannung zwischen zwei Ansprüchen der Deutschen Bücherei erkennen: einerseits das repräsentative kulturelle Gedächtnis der Nation darzustellen, andererseits eine auf verbindlicher Ablieferung gegründete neutrale und umfassende Archivbibliothek zu sein.7 In der Bibliotheksforschung wird die Schwierigkeit einer nationalen Sammlung und Verzeichnung unterhaltender und populärer Literatur erwähnt und beiläufig angemerkt, dass man angesichts umfangreicher vermuteter Lücken in der Erfassung »das hohe Lied der privaten Sammler« anstimmen müsse (Kunze 1970: 569).8 Tatsächlich haben engagierte Liebhaber vor allem in den vergangenen fünfzig Jahren erhebliche Aktivitäten entfaltet, um Heftromane über die – 3 | Vgl. Derrida 1995, Ernst 2002, 2003. 4 | Vgl. Assmann 1997: 70-73. 5 | Zum Begriff der Schund- und Trivialliteratur vgl. Schenda 1976, Jäger 1988, Maase 2002, 2010: 79-111. 6 | Zum Sammelauftrag vgl. Blum 1990, Fabian 1997, Rost 1997. 7 | Vgl. Ernst 2003: 791-841. 8 | Zur Frage der Zensur vgl. auch Jelavich 2002.

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nicht selbstverständliche – physische Sicherung hinaus vielfältig zu erschließen und als Teil des nationalen kulturellen Erbes zu etablieren. Deswegen scheint es aussichtsreich, mit der Frage nach dem Sammeln von Serienheften institutionelle und populärkulturelle Akteure in ihren Praktiken und Selbstverständnissen zu vergleichen. Bei der laufenden Studie, die hier vorgestellt wird, handelt es sich also um eine historisch-ethnographische Untersuchung zum Umgang mit populärer Serialität im Spannungs- und Handlungsfeld zwischen einer bildungskulturell-wissenschaftlich orientierten (d.h. programmatisch auf die Bewahrung und Pflege nationalen Kulturerbes zielenden) Institution einerseits und populärkulturell geprägten Sammelaktivitäten andererseits. Wir fragen, wie beide Seiten im 20. Jahrhundert mit drei Aspekten populär-serieller Literatur umgingen: (1) mit der gesellschaftlich hegemonialen Abwertung und Ausgrenzung als Schund, (2) mit ihrer auf schnellen Verbrauch, Verschleiß und wuchernde Diversifizierung, nicht auf Archiv und Kanon ausgerichteten Positionierung im literarischen Feld und (3) mit den Praktiken von populärkulturellen Verlagen, die – aus der Perspektive der DNB – möglicherweise wenig Rücksicht nahmen auf die Regeln und Modi des Erwerbs, der Verzeichnung, Konservierung und des Zugänglichmachens, die mit Blick auf literarische Werke, auf Bücher und auf »seriöse« Produzenten entwickelt worden waren.9

D AS EMPIRISCHE V ORGEHEN Fokus Nationalbibliothek. In einer Kombination historisch-archivalischer und feldforscherischer Zugriffe untersuchen wir die Sammelpraxis der DNB empirisch nach folgenden Leitfragen: In welchem Maß und in welchen Formen wurden im Untersuchungszeitraum überhaupt Heftserien gesammelt, bibliographisch verzeichnet, konservatorisch gesichert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht? Wurden sie vernachlässigt oder gar ausgeschlossen, dem Verfall überlassen, ausgesondert und dem Publikum vorenthalten? Konkret heißt das: Welche Serien sind in welcher Vollständigkeit gesammelt worden?10 Wie wurden sie in Katalogen und Bücherverzeichnissen erfasst? Wie wurden sie aufbewahrt, konservatorisch behandelt, ausgeliehen und ausgestellt? Was hat die DNB unternommen, um Vollständigkeit der Bestände zu erreichen? Eine weiterführende Frage lautet: Welche Rolle spielten spezifische dingliche Eigenschaften der Serienhefte bei der Aufnahme? Das betrifft etwa die »verlegerischen Peritexte« (Genette 1989: 22-40): Serien und Hefte erschienen oft ohne Autor oder unter Pseudonym; Zählungen fehlten oder waren lücken9 | Zu Verbrauch und Diversifizierung vgl. Klock 2003. 10 | Referenzpunkt sind die Angaben bei Wanjek 1993.

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haft; Neuauflagen wurden teilweise unter veränderten Reihen- und Hefttiteln gedruckt. Angaben über Erscheinungsdatum und Erscheinungsort sowie über Verlage waren unvollständig und unzuverlässig. Die Hefte waren schlecht verarbeitet, das Papier minderwertig. Nicht nur aus Perspektive der zitierten Denkschrift Ehlermanns, sondern häufig auch aus der der Produzenten handelte es sich um ephemere, vergängliche und im schnellen Konsum sich erfüllende Massenprodukte, nicht um literarische Werke. So lieferten vermutlich nicht wenige Verleger ihre Hefte erst gar nicht bei der DNB ab. Wie die DNB mit einem solchen Format umging, das den von Jochum rekonstruierten, auf literarische Werk- und Autorschaftsbegriffe ausgerichteten Regeln und Praktiken der Aufnahme zuwiderzulaufen schien, ist eine bisher nicht gestellte Frage.11 Die Gründungsphase um 1913 bis zum Start der Deutschen Nationalbibliographie 1931 bildet den ersten historischen Fokus der Untersuchung, gestützt vor allem auf die Auswertung archivalischer Quellen sowie des alten Bibliothekskatalogs. Der zweite Abschnitt wird durch das Erscheinen der Science-Fiction-Serie Perry Rhodan im Jahr 1961 markiert; seither kommt wöchentlich eine neue Geschichte heraus, bis heute mehr als 2.600 Folgen. Wir haben diese Serie zum einen gewählt, weil ihr Auftreten in eine Umbruchphase in der kulturellen Wahrnehmung populärer Serialität fällt. Zum anderen ist Perry Rhodan ein ausgezeichnetes Beispiel für jene Form von »konnexionistischer Serialität« (Kelleter/Stein im vorliegenden Band), die mit Neuauflagen und wuchernden Kompilationen in verschiedenen Formaten, mit der Bildung von Heftzyklen und wechselnden Autoren und Autorinnen innerhalb eines Erzählstrangs, im Abspalten von Figuren zu eigenen Serien und mit einem sich unüberschaubar entfaltenden Korpus von Sekundär- und Tertiärtexten aus dem Verlag wie aus dem Netzwerk der Fanaktivitäten der Erfassung und Verzeichnung, dem Aufbewahren und Zugänglichmachen erhebliche Probleme bereitet.12 Perry Rhodan wird inzwischen in verschiedenen Medien, unter anderem als Hörbuch, Hörspiel und E-Book-Datei im Abonnement angeboten – auch dies eine Herausforderung für die bibliothekarische Verzeichnung. Die dritte Sondierung schließlich bezieht sich auf die Gründung der Deutschen Nationalbibliothek 2006 und deren Sammelauftrag, der digitale Publikationsformate einschließt. Zwei Fragen sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse: Was geschieht mit Serienheften bei der Digitalisierung der Bestände? Wie und in welchem Umfang sollen die digitalen Elemente eines Serien-Universums gesammelt, gesichert und zugänglich gemacht werden? Diese Fragen lassen sich ebenfalls exemplarisch an Perry Rhodan untersuchen. 11 | Vgl. Jochum 1995. Zu Werk- und Autorschaftsbegriffen siehe auch Genette 1989: 41-57. 12 | Siehe den Überblick bei Kempen 2003. Zu weiteren Aspekten der Serie und ihrer Nutzung vgl. den Beitrag von Bendix/Hämmerling/Maase/Nast in diesem Band.

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Die quantitativen und qualitativen Befunde werden durch ethnographische Recherche ergänzt. Auf der Basis informeller Gespräche und Beobachtungen sowie einzelner Interviews in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig und Frankfurt a.M. wird die besondere Organisations- und Arbeitskultur der DNB als System von Einstellungen und Handlungsweisen im Umgang mit Serienheften dicht beschrieben.13 Die Arbeitsvorgänge von Erwerb und Aufnahme sind dabei als kulturelle Praktiken zu verstehen.14 Die Forschung nimmt hier mikrologische Qualität an, geht also nahe an Objekte und Praktiken heran, um sie als Spuren tiefer liegender Muster zu lesen und zu deuten.15 Dabei hat auch die für die Ethnographie konstitutive Offenheit für das Feld ihren Platz. In der Reflexion der Erfahrungen der Forscherin mit den Sicht- und Handlungsweisen der Akteure gilt es, deren Perspektiven auf ihre Tätigkeit im Allgemeinen und auf Serienhefte im Besonderen induktiv-hermeneutisch zu erschließen, und zwar über die anfänglich mitgebrachten Hypothesen und Fragen hinaus. Untersuchungsmethode ist zunächst das problemzentrierte Experteninterview.16 Dabei wird ein Schwerpunkt auf die »Rekonstruktion subjektiver Theorien« (Scheele/Groeben 1988) gelegt, in denen wir »para-ethnographisches Wissen« (Beck 2009) über Routinen und ihre Funktionen vermuten.17 Die Beobachtung von Arbeitspraktiken und Arbeitsmitteln sowie informelle Gespräche begleiten die sachlichen Recherchen. Dokumenten- und Objektanalyse sind weitere Methoden, deren einander wechselseitig korrigierende Kombination die Validität von Beobachtung und Interpretation absichern hilft. So ergibt sich eine Variante zwischen teilnehmender und »dabeistehender« (Lindner 1981) Beobachtung.18 Dazu werden Beobachtungsprotokolle verfasst, ein Feldtagebuch geführt und im Forschungsteam besprochen. Längere Blöcke der Feldarbeit alternieren mit intensiven Auswertungsphasen; das ermöglicht ein regelmäßiges Feedback, das in folgende Feldphasen im Sinne einer »diskursiven Datenauswertung« (Götz 2007) einfließt. Fokus Sammlerszene. Sammler und Sammlerinnen von Populärkultur sind Akteure im Feld des kulturellen Gedächtnisses und der literarischen Kanonisierung, und zwar in ihrer Beziehung (vielleicht auch Nicht-Beziehung) zu den heftserienbezogenen Aktivitäten der DNB. Im Verlauf der 1960er Jahre hat sich die Tätigkeit von Fans und Liebhabern schrittweise über das private Sammeln, Tauschen und Kommunizieren hinaus entfaltet. Sammler übernahmen zuneh13 | Zu Organisations- und Arbeitskultur vgl. Götz/Wittel 2000, Götz 2007. 14 | Vgl. Szabo 1998, Götz 2007. 15 | Vgl. Ginzburg 1988. 16 | Vgl. Witzel 1982. 17 | Vgl. auch Flick 1995. 18 | Zu teilnehmender Beobachtung vgl. Schmidt-Lauber 2007.

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mend Aufgaben, die zum Kernbestand der Konstituierung und Archivierung eines nationalen Literaturerbes gehören, und arbeiteten publizistisch, bibliographisch und historiographisch an der Aufnahme von Serien und ihren Autorinnen und Autoren ins kulturelle Gedächtnis. Zugleich betrieben sie damit die soziale Aufwertung der eigenen Sammel- und Erschließungstätigkeit; teilweise geschah und geschieht das in Kooperation mit Heftverlagen.19 Folgende Kanonisierungspraktiken sind erkennbar: Man ediert Heftreihen in kommentierten Reprints, erstellt Bibliographien und Autorenlexika, entschlüsselt Pseudonyme, rekonstruiert die Gesamtwerke von Autoren, organisiert Ausstellungen. In Monographien, Zeitschriften, in Sammelwerken und im Internet erscheint Sekundärliteratur außerhalb der wissenschaftlichen Institutionen zu vielen Aspekten der Serienheftproduktion und -interpretation. Hinzu kommen enzyklopädische Einträge auf Wikipedia. Welche Praktiken, Vorstellungen und Ansprüche von Kanonisierung sind mit solchen Aktivitäten verbunden? Was ist die faktische oder angestrebte Interaktion der beiden kollektiven Akteure (DNB und Sammlerszene) in Bezug auf Heftserien? Beim Blick auf die Liebhaberaktivitäten fällt auf, dass an ein männliches Publikum adressierte Serien bis heute sehr viel mehr Aufmerksamkeit erhalten als weiblich konnotierte Liebes-, Ärzte- oder Heimatromane; auch gibt es nur wenige Sammlerinnen.20 Was also sind die kulturellen Konditionen und Kriterien »alternativer« Kanonisierung? Welche Muster der Legitimierung (Konstruktion von persönlich zurechenbaren Werken und Autorenindividualitäten; Aufwertung durch Kritik und wissenschaftliche Befassung usw.) werden in der Sammlerszene praktiziert? Wir interessieren uns hierbei auch für den Umgang von Sammlern und Sammlerinnen mit akademischen Studien zum Thema Heftroman unter dem Gesichtspunkt Dissens und Kooperation. Dahinter steht die Frage, inwiefern man eine spezifisch populäre Kanonisierung identifizieren kann, auch wenn sich die Akteure an den etablierten Regeln, Praktiken und Terminologien – vielleicht aber weniger an den Verbindlichkeitsansprüchen – bildungskultureller Kanonisierung ausrichten.21 Quellengrundlage sind zum einen die einschlägigen Publikationen der Szene (die auf artikulierte Aufwertungs- und Kanonisierungsdiskurse hin untersucht werden), zum anderen problemzentrierte Experteninterviews mit einzelnen Akteuren, die deren Sicht auf die Position der Heftserien im kulturellen Feld und auf die Aktivitäten der nationalliterarischen Institutionen erschließen.

19 | Vgl. Galle 1998, 2003. 20 | Vgl. Galle 2006. 21 | Analytische Ansätze bei Helms/Phleps 2008. Zum Thema populärkulturelle Kanonisierung siehe auch Kelleter 2010.

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E RSTE E RGEBNISSE Die ersten empirischen Ergebnisse betreffen die Sammelpraxis der Deutschen Bücherei in den ersten beiden Jahrzehnten 1913-31. Zur Rekonstruktion der Sammel- und Verzeichnungspraxis von Heftserien wurden folgende Quellen ausgewertet: • Katalogisate des Alphabetischen Katalogs in Leipzig, des am vollständigsten erhaltenen Zettelkatalogs der Deutschen Bücherei. Ergänzend konnten die Eintragungen im heutigen Internetportalkatalog der DNB (www.dnb.de/) herangezogen werden. • Autopsie einzelner Hefte, um den Zustand des Materials, den Einband und die gegebenenfalls für die Verzeichnung im Katalog relevante Aufmachung der Hefte sowie die Peritexte einzusehen. • Autopsie von Heften im Magazin, ihrer Aufbewahrung und Vorbereitung für die Konservierung. • Archivalische Quellen aus dem Archiv der DNB und dem Sächsischen Staatsarchiv in Leipzig. Hierbei handelt es sich vor allem um Protokolle des Geschäftsführenden Ausschusses und des Verwaltungsrats der Deutschen Bücherei sowie um Quellen aus dem Bestand des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig, die Auskunft über Verordnungen und Praxis der Bibliotheksarbeit geben. Einen deutlichen Befund hat die Auswertung des alten Alphabetischen Katalogs ergeben: Die Deutsche Bücherei sammelte ab 1913 in großem Umfang populäre Heftserien. Von 100 anhand der Sammlerbibliographie von Wanjek repräsentativ ausgewählten Serien, die im Zeitraum zwischen 1913 und 1931 erschienen, sind 87 im alten Katalog aufzufinden.22 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass bis 1935 keine Pflicht zur Ablieferung an die Deutsche Bücherei bestand. Die Bestände der Sammlung sind demnach auf die freiwillige Ablieferung durch die Verlage und die Erwerbungsarbeit der Bibliothek selbst zurückzuführen, die den Anspruch verfolgte, alles zu sammeln, was im deutschen Sprachgebiet erschien. Mit Blick auf den zeitgeschichtlichen Kontext der Debatte um »minderwertige Literatur« lässt sich somit festhalten: Die Deutsche Bücherei sammelte und verzeichnete, zum Teil mit großer Sorgfalt, in ihrer Sammlung deutschsprachiger Literatur dieselben Serien, deren Vertrieb die Militärbehörden im Ersten Weltkrieg als so genannte »Schundliteratur« nach einer »Amtliche[n] 22 | Vgl. Wanjek 1993. Die Auswahl umfasst Serien, die sowohl den untersuchten Zeitraum abdecken als auch die verschiedenen Themenschwerpunkte wie Abenteuerroman, Backfisch- und Jungenstreiche, Detektiv-, Kriegs-, Kriminal-, Liebesroman und Western.

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Liste« verboten.23 Ebenso gilt dies für die Jahre nach 1926, als das so genannte »Schmutz und Schund-Gesetz« erlassen wurde, das den Vertrieb an Minderjährige verbot.24 Die im Kaiserreich und in der Weimarer Republik geführte »Schmutz und Schund«-Debatte wirkte sich somit nicht grundsätzlich auf die Sammelpraxis und die Bewahrungsabsicht der Institution aus. Unter den dreizehn fehlenden Serien konnten keine eindeutigen Übereinstimmungen festgestellt werden, die das Fehlen erklärten; manche sind Serien, die während des Ersten Weltkriegs erschienen, jedoch nicht ausschließlich. Einige Serien sind in der Nationalbibliothek nicht vollständig vorhanden. Auch hier stellt sich die Frage nach den Ursachen für das Fehlen von Heften. Zur näheren Erläuterung seien einige Beispiele genannt. Die Bunte Sammlung interessanter Erzählungen mit insgesamt 120 Bänden ist ab dem 54. Band im Bestand vollständig. Frühere Bände, die vor 1913 erschienen, sind nur vereinzelt aufgenommen worden. Die Erklärung liegt in dem Grundsatz der Deutschen Bücherei, die Literatur erst ab dem 1. Januar 1913 vollständig zu sammeln. Weshalb allerdings von der umfangreichen Serie Horst Kraft der Pfadfinder von 19131919 (insgesamt 313 Bände) 126 Hefte fehlen, konnte nicht geklärt werden.25 Ähnlich verhält es sich mit der Serie Backfischstreiche, die 1915 zu erscheinen begann. Von 200 Bänden fehlen 28 in der Sammlung. Die Gründe können, zumal es sich hier um die Zeit des Ersten Weltkriegs handelt, sehr verschieden sein; es kommen auch Ablieferungsschwierigkeiten der Verlage in Betracht. Als Beispiele komplett vorhandener Serien seien aus der Weimarer Republik die Großstadtromane (11 Bände), Schuld und Sühne (40 Bände) und Kurt Gafrans Reise-Abenteuer (55 Bände) genannt. Auch wenn Lücken zu erkennen sind: Populäre Serienliteratur war aus Sicht der Deutschen Bücherei grundsätzlich sammelwürdig und wurde somit zum Teil eines Archivs, das auch als nationales literarisches Erbe gedacht war. Gegenteilige Stimmen aus dem Vorfeld der Gründung setzten sich nicht durch, wie die Erich Ehlermanns, der Kolportageromane und so genannte minderwertige Literatur nur in Form einzelner Repräsentanten in die Sammlung aufnehmen wollte. Auch während finanzieller Krisenzeiten wurde der umfassende Sammelauftrag in dieser Hinsicht nicht in Frage gestellt. 1920 schränkte die Deutsche Bücherei das Sammeln amtlicher Druckschriften, Hochschulschriften sowie der Vereinsschriften vorübergehend ein, nicht aber das der belletristischen Literatur oder der populären Heftserien, die als Schundliteratur galten.26

23 | Vgl. die Listen im Börsenblatt vom 6.4.1916 und 9.8.1916. 24 | Vgl. die Listen im Börsenblatt ab 17.12.1927. 25 | Die Daten zu Erscheinungsjahr und Serienumfang entsprechen denen des Alphabetischen Katalogs; zum Teil abweichend bei Wanjek 1993. 26 | Zu amtlichen Druckschriften vgl. u.a. Hesse 1962: 41f.

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Seit der Gründung 1913 hatte sich die Deutsche Bücherei intensiv darum bemüht, aus politischen oder sittlichen Gründen von den Behörden konfiszierte oder zu vernichtende Schriften zu sammeln. Wie aus den Protokollen des Geschäftsführenden Ausschusses und des Verwaltungsrats hervorgeht, bat die Bücherei die Justizministerien der Länder hartnäckig, ihr solche Schriften zu überlassen, und wurde dabei von der sächsischen Regierung unterstützt.27 In den juristisch vom regulären Vertrieb ausgeschlossenen Schriften sahen die Verantwortlichen der Deutschen Bücherei ausdrücklich »wichtige Kulturdokumente für die Zukunft [, die] von grossem Wert werden könnten«, so der Vorsitzende des Verwaltungsrats Karl Siegismund, der sich hier auf konfiszierte Literatur im Allgemeinen bezog (Protokoll Verwaltungsrat 2. Sitzung 1914). In einer Diskussion im Geschäftsführenden Ausschuss wurde beispielsweise auch darauf hingewiesen, dass historisch wertvolle Schriften von 1848 sowie unter dem Sozialistengesetz konfiszierte Schriften gänzlich verloren gegangen seien; dies solle sich in Zukunft nicht wiederholen.28 Die prinzipielle Bereitschaft, diskreditierte oder von der zeitgenössischen Wissenschaft ignorierte Literatur aufzunehmen, die später historischen Wert erlangen könnte, ergab für die Bibliothek die praktische Konsequenz, auch große Mengen der populären Serienhefte zu verzeichnen. Die wöchentlich fortlaufend erscheinenden, zum Teil bis in die Hunderte reichenden Hefte einer Serie, die oft anonym oder pseudonym herauskamen, stellten eine ganz neue bibliographische Herausforderung dar. Wie konnte diese »›wildwüchsige‹ Literatur« (Eibl 1998: 63) bei der Einordnung in den Bibliothekskatalog bewältigt werden? Auskunft darüber geben die bibliographischen Details. Der Alphabetische Katalog der Deutschen Bücherei wurde nach den Preußischen Instruktionen für wissenschaftliche Bibliotheken geführt.29 Dementsprechend lassen sich als Einträge im Zettelkatalog vorwiegend die Serientitel (nach den Preußischen Instruktionen: Gesamttitel) und die Namen von Autoren und Autorinnen finden. Durch Verweiskarten sind die Einträge untereinander verbunden. Auf der Karte mit dem Gesamttitel (Abb. 1) stehen entsprechend den Instruktionen die Angaben zum Verlag, Erscheinungsjahr, Größenformat und zu den in der Sammlung vorhandenen Bänden sowie oben rechts die Signatur. Die Angabe zu den einzelnen Bänden konnte – wie im Beispiel – wegen möglicher Korrekturen mit Bleistift eingetragen werden. Der Karte mit dem Serientitel folgen meist weitere Karten, auf denen die Titel der einzelnen Hefte (nach den Preußischen Instruktionen: Sondertitel) aufgelistet sind; das Beispiel Der neue Excentric-Club reicht bis zum 534. Heft (Abb. 2). Hier wurde offensichtlich sehr detailliert verzeichnet. Allerdings zeigen schon die oben genannten Bei27 | Protokoll Geschäftsführender Ausschuss 7. Sitzung 1913. 28 | Protokoll Geschäftsführender Ausschuss 7. Sitzung 1913. 29 | Vgl. Instruktionen 1915.

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spiele, dass häufiger einzelne Serienbände fehlen. Bei solchen Lücken ist noch zu untersuchen, ob sich zeitliche Verdichtungen ergeben. Abb. 1: Karte mit Serientitel: »Backfischstreiche«

Abb. 2: Karte mit Hefttiteln: Verzeichnung des »neuen ExcentricClubs« bis zum 534. Heft

Die Angaben zu den einzelnen Heften sind unterschiedlich. Soweit bekannt, wird der vollständige Name des Autors oder der Autorin genannt; Pseudonyme werden häufig aufgelöst (im Beispiel Band 534 von Gero Terzin zu Georg Lewin); oft sind auch noch Erscheinungsjahr und Seitenzahl des Heftes angegeben. Solche Ergänzungen und Berichtigungen bei der Titelaufnahme waren in den Preußischen Instruktionen für wissenschaftliche Bibliotheken vorgesehen, galten dort jedoch für »minderwertige Unterhaltungsliteratur« nur eingeschränkt

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(Instruktionen 1915: 13f., 20f.); diese wurde allerdings in wissenschaftlichen Bibliotheken ohnehin kaum gesammelt. An der Deutschen Bücherei jedoch, mit ihrem Archivcharakter, wandte man die bibliographischen Gepflogenheiten zu großen Teilen auch auf die umfangreichen populären Heftserien an. Die Bibliothek sah ihre Aufgabe nicht nur darin, die so genannte Schundliteratur überhaupt zu sammeln, sondern gliederte die bezüglich der Notation widerspenstige Literatur meist auch detailliert in ihr Regelsystem ein. Die Preußischen Instruktionen gaben dafür einen gewissen Spielraum vor. Die Auflistung der Sondertitel und das Anlegen von Einzelkarten für die einzelnen Hefte konnten danach auch entfallen. In der Deutschen Bücherei wurde allerdings nur bei wenigen Serien ganz auf die Auflistung verzichtet. Ein Vergleich mit zeitgenössischen Buchhandelsbibliographien hat ergeben, dass diese gelegentlich keine Sondertitel von populären Heftserien angaben.30 Eine Regelhaftigkeit lässt sich bei diesem Vorgehen allerdings nicht ausmachen. In manchen Fällen sind im Alphabetischen Katalog innerhalb derselben Serie bei einigen Heften der Autor oder ein Pseudonym verzeichnet, bei anderen nicht. Dabei ist zu bedenken, dass den oft über mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte laufenden Serien ein häufig wechselndes Personal in der Katalogabteilung zugeteilt war, wie die unterschiedlichen Handschriften auf den Karten belegen. Vertrautheit mit dem unübersichtlichen Material und mit einzelnen Serien konnte vermutlich nur selten entstehen.31 Der Befund einer überwiegend sehr sorgfältigen Verzeichnung bleibt jedoch trotz der beobachteten Unregelmäßigkeiten bestehen. Die Abweichungen beispielsweise bei der Angabe oder NichtAngabe von Seitenzahlen der Einzelhefte oder von Pseudonymen auf derselben Karte hatten keine große Relevanz für die Verzeichnung als Ganzes, wenn man sich das Gesamtbild der detaillierten Verzeichnung vor Augen hält. Es lässt sich darin keine generelle Abwertung der Serien erkennen. Schwerwiegender wäre es, wenn die Karten der Gesamttitel nicht oder nur sehr ungenau angefertigt wären, da sie den Haupteintrag im Katalog bilden. Auffälliger sind Varianzen bei der Vergabe der Signatur. Die Serien sind entweder unter einer Buchsignatur oder einer Seriensignatur verzeichnet. Nach welchen Kriterien eine Heftserie in der Praxis als mehrbändiges »Buch« eingeordnet wurde, ist ungeklärt. Geht man von der Annahme aus, dass die Zeitge30 | Vgl. Christian Gottlob Kayser’s 1911, Hinrichs’ 1913-1916. Die angegebenen Bände der Bibliographien sind die jeweils letzten, bevor beide (von Privatfirmen geführten) Verzeichnisse an den Börsenverein des Deutschen Buchhandels übergingen. 31 | Im Archiv vorhandene Personalakten enthielten keine Informationen über individuelle Entscheidungen der Bibliothekarinnen und Bibliothekare bei der Titelaufnahme. Die Arbeit an den Zugangsbüchern der Bibliothek und am Katalog wurde streng kontrolliert. Die Vertrautheit mit den Preußischen Instruktionen war meist eine Einstellungsvoraussetzung.

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nossen Serialität als wesentliches Merkmal populärer Kultur wahrnahmen, dann kann mit der Kennzeichnung als Buch eine gewisse Aufwertung verbunden sein. Es stellt sich also die Frage, was eine so genannte Groschen- oder Schundserie aus bibliothekarischer Sicht in den Bereich des Buches hinübersetzen ließ. Hier ist die Autopsie der Bestände heranzuziehen. Ein bestimmter Einfluss der Aufmachung und der Peritexte der Hefte auf die Einordnung hat sich allerdings noch nicht erkennen lassen. Es spielten wohl mehrere Faktoren zusammen, so dass die getroffene Entscheidung letztlich nicht immer nachvollziehbar ist. Hinsichtlich der Aufbewahrung und konservatorischen Behandlung ergibt sich, dass alle stichprobenartig bestellten Hefte, ob mit Buch- oder mit Seriensignatur versehen, gebunden waren und einen relativ guten Zustand aufwiesen; manche konnten aufgrund von Konservierungsarbeiten jedoch nicht bestellt werden. Entweder waren sie einzeln oder mehrere Hefte zusammen zu einem Buch gebunden. Am häufigsten war in der Auswahl der Halbgewebeband mit marmoriertem Papier vertreten (Abb. 3). Bei der schon erwähnten Serie Horst Kraft der Pfadfinder wurden so die Hefte 1-26 von der Deutschen Bücherei zu einem Band zusammengefasst und auf dem Rücken sogar mit einer Titelprägung versehen (Abb. 4). Der marmorierte Einband war seit dem 18. Jahrhundert als Bibliothekseinband weit verbreitet.32 Daneben gab es auch einfache graue Pappe, die in unserer Auswahl seltener vorkam. Durch die Zusammenfassung der Hefte in den Bibliothekseinbänden fand eine optische und materielle Angleichung an die anderen Bücher der Bibliothek statt. Diese Art der Aufbewahrung zielte auf die Sicherung der Heftserien und damit auf ihre, zumindest materielle, Überlieferung an die Nachwelt. Abb. 3 und 4: Halbgewebebände

32 | Vgl. Mazal 1997: 24, 27.

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In der Bücherei gab es die Vorschrift, »immer die bessere [d.h. gebundene] Ausgabe [einer Veröffentlichung] einzustellen«.33 Ein auffälliges Beispiel dafür ist das Romanheft Die rote Henni, das bereits vom Verlag gebunden wurde. Auf dem innen im Band eingeklebten Umschlagtitel des Heftes ist der Autor Ernst Friedrich Pinkert angegeben, der für populäre Serien dieser Zeit bekannt ist; ebenso der Leipziger Rekord-Verlag, der in den 1920er Jahren noch einige andere Heftserien herausgab. Die rote Henni erschien in der sechsbändigen Reihe Ein deutscher Zola. Romane der Zeit. Der Verlag wählte für die vorliegende Aus33 | Protokoll Verwaltungsrat 1. Sitzung 1913.

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gabe einen Einband, bei dem man kaum von einem »Heftroman« sprechen würde (Abb. 5). Wie das eingeklebte Umschlagtitelblatt erkennen lässt, gab es dazu auch eine Heftausgabe. Es war in der Bücherei üblich, den Umschlag der broschierten Ausgabe beim Verlag anzufordern, sofern dieser ihn nicht selbst schon eingeklebt hatte, und ihn der gebundenen und damit nobilitierten Ausgabe beizugeben. Soweit möglich, gelangten die Heftserien in einer Form in die Sammlung der Deutschen Bücherei, die ihnen ein höheres Maß an Beständigkeit verlieh und zugleich optisch dem Charakter des seriellen Heftes enthob. Abb. 5: Die rote Henni: Verlagseinband mit Vignette. Die auf den Buchrücken geklebte Markierung oberhalb der Signatur wies auf eine eingeschränkte Benutzung in der Deutschen Bücherei hin.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Serienhefte in der Deutschen Bücherei sorgfältig aufbewahrt wurden. Sie wurden in diesem Punkt von den Angestellten nicht wesentlich anders behandelt als Bücher oder wissenschaftliche Zeitschriften. Dass andere Institutionen nicht so sorgfältig mit den Heften umgingen, zeigt ein Vermerk auf einer Karteikarte zu den Hansa-Romanen. Dort heißt es über einige Hefte der Serie, sie seien »vom Buchbinder verdorben« und würden »antiquarisch gesucht«. Man versuchte von der Bibliothek aus, solche Lücken wieder zu füllen. Eine besondere Behandlung erfuhren die Serien allerdings in der Bibliotheksbenutzung, die sehr eingeschränkt war. Zur Ausleihe von Unterhaltungsschriften bedurfte es einer wissenschaftlichen Begründung.34 Serien, deren Vertrieb offiziell verboten war, waren dem gesonderten Katalog geheim zu haltender Schriften zugeordnet; sie wurden später jedoch in den Alphabetischen Katalog eingegliedert. 34 | Vgl. Benutzungsordnung 1921: 5.

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Die bisherigen Ergebnisse der Auswertung des Katalogs zeigen, dass die Heftserien ihren Weg in die übliche Verzeichnungspraxis der Deutschen Bücherei fanden. Sie wurden der Sammlung der Nationalbibliothek einverleibt und archivarisch gesichert. Das Prinzip der Archivbibliothek mit einheitlichem Ordnungssystem setzte sich offenbar gegenüber einem vorwiegend repräsentativen Verständnis der Sammlung durch. Der Drang nach Ordnung siegte über selektives Verhalten. Manche Unregelmäßigkeiten und Lücken in der Verzeichnung scheinen nicht das Ergebnis einer Nachlässigkeit zu sein, die auf die öffentliche »Schmutz und Schund«-Debatte zurückzuführen wäre; vermutlich hatten sie pragmatische Ursachen, die mit dem Umfang und der Komplexität der Serien oder auch mit außerbibliothekarischen Faktoren zusammenhängen.

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Zwischen Trash-T V und Quality-T V Wertediskurse zu serieller Unterhaltung Brigitte Frizzoni

»Da hat sich das Fernsehen wieder was Schönes ausgedacht: Primatenbraut Daniela Katzenberger grüsst aus der untersten Schublade […].« (Meier 2010: 27) So untertitelt der Schweizer Tages-Anzeiger am 22. Oktober 2010 im Ressort »Kultur & Gesellschaft« eine Bildinszenierung mit Daniela Katzenberger, die sich im rosa Bikini, umgeben von Stöckelschuhen, Handtaschen, Nagellack und allerlei glänzendem Schmuck, aus der untersten Schublade einer Kommode präsentiert. Die Photographie dient als Blickfang für den Artikel »Die neue Selbstbildstörung: Casting-Shows und Reality-TV generieren ›Stars‹ und befriedigen Bedürfnisse von Voyeuren«. Im Artikel findet sich ein Hinweis auf die Publikation eines Interviewbandes mit Medienakteuren, Die Casting-Gesellschaft (Pörksen/Krischke 2010), der als »grossartige Fundgrube an Hintergrundmaterial für TV-Süchtige« angepriesen wird. Simone Meier, eine prominente Stimme im medialen Seriendiskurs der Deutschschweiz, die sich hier zu Reality-TV-Formaten aus der »untersten Schublade« des so genannten »Trash-TV« (Bergermann/Winkler 2000) äußert, schreibt regelmäßig auch über neuere fiktionale TV-Serien wie The Sopranos (HBO, 1999-2007), Lost (ABC, 2004-2010) und Mad Men (AMC, seit 2007), für die sich im medialen wie wissenschaftlichen Diskurs die Bezeichnung Quality-TV durchgesetzt hat.1 Mit den Begriffen Trash-TV und Quality-TV sind die beiden Pole des gegenwärtigen Wertediskurses um populäre Serialität umrissen. Obwohl sich nämlich seit den 1970er Jahren in der Beurteilung von TV-Unterhaltung eine sukzessive Verschiebung von negativen zu positiven Beschreibungen abzeichnet – ein Rehabilitationsdiskurs, der gegenwärtig oft in enthusiastischen Berichterstattungen zu neuen TV-Serien kulminiert – evoziert die Adelung von Qualitätsproduktionen unwei-

1 | Vgl. im vorliegenden Band auch die Beiträge von Fahle, Jahn-Sudmann/Kelleter und Klein. Zum Begriff Quality-TV siehe Feuer/Kerr/Vahimagi 1984, Thompson 1996, McCabe/Akass 2007, Blanchet et al. 2011.

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gerlich eine Differenz zur so genannten Trash-TV-Serie.2 Abwertung und Wertschätzung populärer Serialität, ihre Wahrnehmung als Schund oder Kunst, sind also gleichzeitig präsent und bedingen einander. Diese Dialektik manifestiert sich auch im Titel eines Bestsellers zu populären Unterhaltungsangeboten: Everything Bad Is Good for You (Johnson 2005). Everything? Insbesondere performative Reality-TV-Formate, die direkt in die Alltagswirklichkeit der Akteure eingreifen, werden im medialen Diskurs regelmäßig als Trash abqualifiziert.3 Die eingangs erwähnte »Primatenbraut« Daniela Katzenberger etwa erlangte durch zwei performative Reality-Sendungen – Auf und davon: Mein Auslandstagebuch (VOX, seit 2009) und Goodbye Deutschland! Die Auswanderer (VOX, seit 2007) –  mediale Aufmerksamkeit. Simone Meier schreibt in ihrem Artikel weiter: »Im Seichten kann man nicht ertrinken«, sagte Helmut Thoma, heute 71, einmal, und der muss es ja wissen, denn Helmut Thoma hat 1984 in einer luxemburgischen Autobusgarage RTL erfunden, den Sender fürs »Rammeln, Töten, Lallen«, wie es damals hiess. Er hat dort unter anderem die Nackthäuter-Sendung »Tutti Frutti« ins Leben gerufen, und die war fürs Privatfernsehen ja so was wie der Anfang von allem Übel beziehungsweise Erfolg: Schlichtes für Voyeure. (2010: 27)

»Schlichtes für Voyeure«, »unterste Schublade«: So lauten weitverbreitete Urteile zum Erfolgsrezept des Privatfernsehens. Dabei bezieht sich die Abwertung bezeichnenderweise sowohl auf die Sendungen als auch auf das Zielpublikum, das gleichfalls aus der unteren Schublade zu kommen scheint: eine Einschätzung, die sich in der polemisierenden Beschreibung des Privatfernsehens und seiner Sendeformate als »Uschi« – Unterschichtenfernsehen (Harald Schmidt) – oder als Hartz-IV-Fernsehen wiederfindet. Demgegenüber werden aufwändig produzierte, narrativ komplexe TV-Serien wie Twin Peaks (ABC, 1990-1991) als gehaltvolle Werke wertgeschätzt. Im Lauf der 1990er Jahre setzte sich der Abgrenzungsbegriff Qualitätsfernsehen nämlich explizit für TV-Serien durch, die sich in Reaktion auf die einbrechenden Zuschauerzahlen eines zunehmend dezentralisierten Marktes nicht mehr primär an ein möglichst großes, sondern an ein besonders begehrtes, heißt: zahlungskräftiges, gebildetes und (bisweilen) globales Publikum richteten, für das die Werbeindustrie bereit ist, höchste Anzeigenpreise zu bezahlen.4 Damit ist dem Begriff Quality-TV – wie dem des Hartz-IV-Fernsehens – eine schichtspezifische Zuschreibung inhärent. Der gegenwärtige Rehabilitationsdiskurs zu populärer Serialität aktualisiert aber auch andere Ausschlusskriterien. 2 | Zur Rehabilitierung von Fernsehserien vgl. u.a. Newcomb 1974, 1983, Köhler 2011. 3 | Zum Begriff performativer Reality-Formate vgl. Klaus 2006: 86. 4 | Vgl. Jancovich/Lyons 2003: 3.

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A RGUMENTATIONSMUSTER IM R EHABILITATIONSDISKURS ZU F ERNSEHSERIEN Im Folgenden sollen Aussagen zu Quality-TV exemplarisch auf ihre Ein- und Ausschlusskriterien hin befragt werden. Unter den unterschiedlichen Stimmen im Resonanzraum zu populärer Serialität soll dabei nicht primär die wissenschaftliche Beobachtung, der so genannte Spezialdiskurs, fokussiert werden.5 Einbezogen werden auch Stimmen des Elementardiskurses, d.h. von Laien, Zuschauerinnen, Fans, die sich in Interviews, aber auch via Fan Fiction und Fanvideos, z.B. auf YouTube, zu TV-Serien äußern.6 Die Schlüsselposition kommt aber den Vermittlern zwischen Experten und Laien zu, den Medienschaffenden, Serienproduzentinnen, Drehbuchautoren, Regisseuren sowie den Serien selbst; dieser so genannte Interdiskurs wird entsprechend bevorzugt berücksichtigt.7 Die genannten Diskursebenen stehen in reger Wechselbeziehung und überlappen einander, so dass der Begriff Quality-TV von Wissenschaftlern und Medienschaffenden gleichermaßen verwendet wird und heute auch den Zuschauenden geläufig ist. Er tauchte erstmals in den 1970er Jahren in der Fernsehkritik zu US-amerikanischen Serien auf, gewann in den 1980er Jahren mit dem Start der Polizeiserie Hill Street Blues (NBC, 1981-1987) an Präsenz, wurde im Gefolge von Medienwissenschaftlern aufgegriffen und zirkuliert nun seit Ende der 1990er Jahre für Serien wie Sex and the City (HBO, 1998-2004), Six Feet Under (HBO, 2001-2009), The West Wing (NBC, 1999-2006), The Wire (HBO, 2002-2008) und Breaking Bad (AMC, seit 2007).8 Robert Thompson kondensiert aus übereinstimmenden Aussagen von Zuschauerinnen, Kritikern und Wissenschaftlerinnen einen Katalog von zwölf definitorischen Merkmalen des Quality-TV; Robert Blanchet überträgt sie ins Deutsche.9 Demnach ist Qualitätsfernsehen kein gewöhnliches Fernsehen (1); Qualitätsserien werden von Künstlern gemacht (2), sprechen ein gehobenes Publikum an (3), haben niedrige Einschaltquoten und kämpfen gegen den Widerstand der Sender und des Mainstream-Publikums (4); sie verfügen über ein großes Figurenensemble, präsentieren unterschiedliche Perspektiven und haben multiple Plots (5), entwickeln ein serielles Gedächtnis (6), kreieren neue Genres, indem sie bestehende Genres kombinieren (7), sind literarisch, autorenzentriert, komplexer als andere Serien (8), selbstreflexiv (9), behandeln kontroverse Themen (10),

5 | Zum Begriff des Spezialdiskurses vgl. Link 2007. 6 | Zum Begriff des Elementardiskurses vgl. Waldschmidt et al. 2007. 7 | Zum Begriff des Interdiskurses vgl. Jäger 2004. 8 | Zu ersten medienwissenschaftlichen Verwendungen siehe Feuer/Kerr/Vahimagi 1984. Vgl. auch Thompson 1996: 12, Blanchet 2011: 37. 9 | Vgl. Thompson 1996: 13-15, Blanchet 2011: 44-69.

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versuchen »realistisch« zu sein (11) und werden mit Lobeshymnen und Preisen überhäuft (12). Obwohl selbstbewusste Quality-TV-Serien in großer Zahl erst nach 1996 entstanden sind, erweist sich Thompsons Merkmalskatalog bis heute als produktiv. Zu Beginn der 2010er Jahre wird das Loblied der Qualitätsfernsehserie in Zeitschriften, Wochenzeitungen und Tageszeitungen angestimmt, ganze Hefte widmen sich dem Phänomen, Medienschaffende geben sich als »Serienjunkies« (Anz 1995) zu erkennen und stellen »Meisterwerk[e] der Fernsehkunst« (Freuler 2010b: 75) vor.10 Das erste Dezennium des neuen Jahrtausends wird als »goldene Jahre der US-Fernsehserien« bezeichnet (Zbinden 2010: 54), wobei betont wird, dass die neuen Serien Konventionen brechen, präzisen Einblick in unbekannte Lebenswelten geben und sich auch nicht davor scheuen, brisante Themen und Tabus aufzugreifen, z.B. Tod (Six Feet Under), Verslumung (The Wire), Leihmutterschaft (Brothers and Sisters, ABC, 2006-2011) und Polygamie (Big Love, HBO, 2006-2010).11 Die gegenwärtig zirkulierenden Argumentationen und Zuschreibungen formieren sich also im Wesentlichen immer noch um Thompsons Merkmalskatalog. Sie lassen sich in zwei (kondensierten) Überschriften aus Presseberichten zusammenfassen: »TV-Serien, nicht Filme, sind die Kunstform des 21. Jahrhunderts« (Meier 2009: 34) und »If Charles Dickens were alive today, he would watch The Wire, unless, that is, he was already writing for it« (Kulish 2006).

T V-S ERIEN , NICHT F ILME , SIND DIE K UNSTFORM DES 21. J AHRHUNDERTS Der »Triumph des Fernsehens« wird regelmäßig in Relation zum Kino gefeiert: »Das Kino ist in der Defensive« (Knorr 2007: 28). Serielle TV-Erzählungen seien mittlerweile innovativer als Kinofilme, weil ihre flexiblere, anpassungsfähigere Produktion in Form von Staffeln und Folgen erlaube, sofort zu reagieren, wenn sich ein Erzählstrang als erfolglos erweist.12 Serienproduzenten könnten daher risikofreudiger sein als Filmproduzenten, die eher auf erprobte Muster setzen, wie die »Sequel- und Prequelseuche« erfolgreicher Filme bezeuge (Knorr 2007: 31). In diesem Diskursstrang wird vor allem mit Blick auf die Produktionsebene, d.h. ökonomisch argumentiert. Dass die zunehmend aufwändig produzierten TV-Serien oft auch hohe Produktionskosten erfordern und sich ebenfalls eine Tendenz zur Orientierung an Erfolgsmustern und Spin-offs erkennen lässt, z.B. bei Grey’s Anatomy (ABC, seit 2005) und dessen Ableger Private Practice 10 | Als Themenheft siehe beispielsweise NZZ Folio 2006. 11 | Einblick in Lebenswelten: Freuler 2010a: 61, 2010b: 75. 12 | Vgl. Kramp/Weichert 2007.

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(ABC, seit 2007) oder bei CSI: Crime Scene Investigation (CBS, seit 2000) mit den Ablegern CSI: Miami (CBS, seit 2002) und CSI: NY (CBS, seit 2004) – oder dass eine Serie nach nur zwei Staffeln aus Kostengründen eingestellt werden muss (Rome, HBO/BBC, 2005-2007) – ist eine der Paradoxien in diesem Abgrenzungsdiskurs und verweist auf untertheoretisierte Begriffe serieller Innovationsdynamik.13 Obwohl der Drehbuchautorenstreik 2007 die Experimentierlust zeitweilig zu dämpfen schien, wird im öffentlichen Diskurs auch zu Zeiten der Wirtschaftskrise immer wieder die besondere Innovationskraft neuerer Fernsehserien hervorgehoben.14 Ein 2010 in Stuttgart durchgeführtes Symposium zu Qualitätsserien spricht im Untertitel gar von der »Revolution der Audiovisionen«.15 Über Serienproduzenten bzw. Sendeanstalten kursieren dabei wahre Heldengeschichten: Sie werden als Schrittmacher der seriellen Fernsehunterhaltung gefeiert, die bereit seien, erhebliche Wagnisse einzugehen, Unkonventionelles zu ermöglichen und im wahrsten Sinn des Wortes »liberales Fernsehen« zu produzieren (Feuer 1984: 56).16 Drehbuchautor Tom Fontana erzählte anlässlich des Stuttgarter Symposiums von seinem Spießrutenlauf durch mehrere Sendeanstalten, bis er schließlich bei HBO offene Türen einrannte mit der Idee, eine Gefängnisserie (Oz, 1997-2003) zu schreiben. Die Zugehörigkeit zur richtigen Sendeanstalt – in diesem Fall HBO als mutigem Nischensender – wird damit zu einem eigenen Qualitätsmerkmal. Marktstrategisch geschickt setzt sich der Bezahlsender dann auch mit dem Werbeslogan »It’s not TV. It’s HBO« vom übrigen Fernsehen ab, seine Medienspezifik gleichsam verleugnend.17 Der Vergleich von TV-Serie und Film tut ein Übriges, um fernsehspezifische Bedingungen in den Hintergrund zu rücken. »Galten Fernsehserien bislang vielfach als Inbegriff seichter Unterhaltung, so beanspruchen die neuen Produkte den Vergleich mit Kino-Spielfilmen sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Hinsicht«, heißt es im Ankündigungstext der Tagung »Serielle Formen«, die 2009 in Zürich stattfand. Ein markanter Wandel habe sich in den letzten Jahren in der amerikanischen Fernsehlandschaft vollzogen, der sich »durchaus mit filmhistorischen Umbrüchen wie der Nouvelle Vague« vergleichen lasse.18 Die Fernsehserie wird in diesem zweiten Argumentationsstrang 13 | Zu Erfolgsmustern vgl. Hauser 2007: 28-32. Serialitätstheoretische Innovationsmodelle werden im vorliegenden Band u.a. von Engell, Fahle und Jahn-Sudmann/Kelleter entwickelt. 14 | Zum Drehbuchautorenstreik vgl. Michel Bodmer zit. Stadler 2010; siehe auch Kaminski 2008: 27. 15 | Vgl. Dreher 2010. 16 | Siehe auch Schuler 2007: 37. 17 | Vgl. Schwaab 2010, zit. Köhler 2011: 21. 18 | Siehe Blanchet et al. 2011, Buchrückseite.

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also nicht mehr durch Abgrenzung vom Kino-Spielfilm, sondern im Gegenteil durch Gleichsetzung mit dessen formal-ästhetischer Leistung geadelt und in den filmwissenschaftlichen Kanon integriert. Während die Abgrenzung des Quality-TV vom Trash-TV auf Rezipientenebene deutlich mit schichtspezifischen Argumenten operiert, wird hier auf Ebene der medialen Wertigkeit argumentiert, wonach das Medium Film über dem »Pantoffelkino« steht. Paradoxerweise verdankt sich dabei die Minderwertigkeit des Fernsehens gegenüber dem Film ebenso wie seine gegenwärtig betonte Gleichwertigkeit oder gar Höherwertigkeit vor allem der Serialität televisueller Programmstruktur und Produkte.19 Eine vergleichbare Argumentation prägt den zweiten zentralen Diskursstrang um Qualitätsfernsehserien, der nicht deren filmische, sondern literarische Qualität heraushebt, also wiederum medienhierarchisch operiert. Schon die wechselseitige Annäherung von Film und Fernsehen findet oft über den Verweis auf große Autorenpersönlichkeiten statt: »Was haben Leinwandgrössen wie Barry Levinson, Martin Scorsese, Ridley und Tony Scott, Steven Spielberg oder Neil Jordan gemeinsam? Alle sind sie hochdekorierte Filmemacher, sei es als Regisseur, Drehbuchautor oder als Produzent. Und alle sind sie derzeit in Serie für das Fernsehen tätig.« (Zbinden 2011) Die literarische Variante dieses Autorendiskurses wird durch Kulishs bereits oben wiedergegebenes Zitat aus der New York Times vom 10. September 2006 verdeutlicht (Kulish 2006).

»I F C HARLES D ICKENS WERE ALIVE TODAY, HE WOULD WATCH ›THE W IRE ‹, UNLESS , THAT IS , HE WAS ALRE ADY WRITING FOR IT .« Verleihen im ersten Diskurs bekannte Filmregisseure der Qualitätsserie das Gütesiegel, sind es hier die großen Namen der Literatur, die zum Zweck ästhetischer Distinktion herangezogen werden. Kurz und bündig titelt die Schweizer Weltwoche am 8. Februar 2007 auf der Titelseite: »TV-Serien sind der Shakespeare des 21. Jahrhunderts«. Etwas ausführlicher argumentiert Kulish, wenn er anmerkt, dass innovative Fernsehserien des Pay-TV-Senders HBO genau die richtige Länge besäßen, um sich den Möglichkeiten narrativer Nuancierung anzunähern, die man aus Romanen kennt. Als Solitär, der alles in den Schatten stelle, wird dabei oft die Serie Mad Men gepriesen, als »hinreissende, wunderschöne, tragische, hochliterarische Serie über eine New Yorker Werbeagentur in den 60ern, die daherkommt, als hätte der Schriftsteller Richard Yates (Revolutionary Road) jede einzelne Folge selbst geschrieben« (Meier 2009: 34). Die 19 | Vgl. Hickethier 1991: 12; zur medialen Wertigkeit siehe ausführlicher Köhler 2011: 18-24.

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Serie zeige »beispielhaft, wie das Medium immer mehr Zuschauern die Lektüre eines Romans« ersetze (Freuler 2010: 61). Wo der Abgrenzungs- bzw. Gemeinschaftsdiskurs von Film und Fernsehen auf große Regisseure verweist, können hier Schriftsteller zitiert werden: Der deutsche Autor David Wagner z.B. erachtet das Schauen anspruchsvoller Fernsehserien mittlerweile als gleichrangig zur Lektüre großer Literatur.20 Der französische Autor Philippe Djian wiederum orientiert sich bewusst an der Produktionsweise von Fernsehserien und veröffentlicht seinen Fortsetzungsroman Doggy Bag (2009) in sechs Bänden, die er als Staffeln bezeichnet.21 Auch die Zweitvermarktung von TV-Serien in Form von DVD-Editionen mit kunstvoll gestalteten Boxen führt zu einer veränderten kulturellen Wertung in Richtung Literatur. Fernsehserien werden wie Bücher gesammelt, archiviert, zur Schau gestellt und wiederholt rezipiert.22 Mit der Betonung der Nähe, ja Äquivalenz von TV-Serien und Literatur wird erneut ein langlebiger Wertungsdiskurs aktualisiert, der sich auf den Bildersturm in der Renaissance zurückverfolgen lässt: die generelle Abwertung von Bildmedien gegenüber Schriftmedien.23 Während im ersten Diskursstrang der Film medienhierarchisch über dem Fernsehen steht und TV-Serien aufgrund ihrer Annäherung an filmische Ästhetik wertgeschätzt werden, erlangt das Qualitätsfernsehen im zweiten Diskursstrang seine Qualität erst, wenn es literarische Leistungen vollbringt.24 Der Qualitätsserien-Diskurs wird aber nicht nur über Serien, sondern auch durch Serien geführt, beispielsweise wenn sich ein Patient aus In Treatment (HBO, 2008-2010, Episode 3.3) beklagt, es sei schwierig, Frauen in Bars kennenzulernen, weil sie mittlerweile alle zu Hause sitzen und Mad Men schauen würden. Die mediale Beobachtung populärer Serialität erfolgt somit selbst in serieller Form: Zeitungen schaffen Fortsetzungsformate der Berichterstattung über Serien; es entstehen Serien über die besten Serien. So werden seit 2009 in der Kolumne »Seriensüchtig« im Tages-Anzeiger so genannte »Must-See«Produktionen wie Game of Thrones (HBO, seit 2011) vorgestellt. Dadurch, dass sowohl im medialen als auch im wissenschaftlichen Diskurs immer wieder dieselben Serien als besonders bemerkenswert besprochen werden, findet eine Kanonisierung statt. Zu den Spitzenprodukten gehören u.a. 20 | Vgl. Freuler 2010a: 62. 21 | Vgl. Boedecker 2009: 31. 22 | Siehe Mittell 2011. Der Einfluss solcher Ausstellungen auf die ästhetische Praxis von Qualitätsfernsehserien ist zu bedenken, vgl. Jahn-Sudmann/Kelleter im vorliegenden Band. 23 | Vgl. Rublack 2003; siehe auch Doelker 1999: 16-21. 24 | Zum konfliktreichen Verhältnis einer Serie wie The Wire zu ihren eigenen literarischen Ambitionen siehe aber auch Kelleter 2012.

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Lost, The Wire, The West Wing, The Sopranos, Mad Men. Es fällt auf, dass eher weiblich konnotierte TV-Serien wie Desperate Housewives (ABC, seit 2004), Grey’s Anatomy (ABC, seit 2005) und Sex and the City (HBO, 1998-2004) deutlich seltener erwähnt werden. Die Besetzung von Elitekultur (»high«) – hier die Qualitätsserien – als männlich und Populärkultur (»low«) – dort die übrigen Serien – als weiblich hat ebenfalls eine lange Tradition. Im gegenwärtigen Rehabilitationsdiskurs zu Fernsehserien werden somit neben schichtspezifischen (Hartz IV vs. gebildetes Publikum) und medienspezifischen (Bildmedien vs. Textmedien) auch genderspezifische Ausschlusskriterien (weiblich konnotiert vs. männlich konnotiert) aktualisiert. Während die ästhetischen Qualitäten der neuen TV-Serien im Spezial- und im Interdiskurs rege thematisiert werden, fällt auf, dass sie im Elementardiskurs weit weniger explizit Erwähnung finden. Analysiert man Interviews mit Rezipierenden und insbesondere Fanaktivitäten im Internet, so scheint eher eine Gegenbewegung zum Quality-TV-Diskurs stattzufinden, die abschließend Aufmerksamkeit verdient.

S WEDED T V STAT T Q UALIT Y -T V In über vierzig Interviews, die Studierende der Universität Zürich im Rahmen eines Seminars zu Biografie und Serienrezeption im Jahr 2009 mit 16- bis 59-jährigen Fernsehzuschauern führten, wird interessanterweise kaum auf die Besonderheit der damals aktuell laufenden Quality-TV-Serien eingegangen. Serien scheinen für die Rezipierenden einfach Serien zu sein, egal ob es sich dabei um Lost oder um Marienhof (ARD, 1992-2011) handelt. Was in den Interviews aber auffällt, ist die Wirkmächtigkeit des Schmutz- und Schunddiskurses: Während sich Medienschaffende als Seriensüchtige bzw. Serienkompetente positionieren, vermerken Zuschauer oft, sie könnten ihre Zeit besser nutzen als mit Serienschauen. Verschämt sprechen sie von Sucht und Abhängigkeit und verordnen sich mitunter auch Serienentzug. Auf Publikumsseite lässt sich hier eher ein Schamdiskurs als ein Qualitätsdiskurs beobachten. Zwar kann der selbstverordnete Serienentzug auch als implizite Wertschätzung interpretiert werden – die Serien sind so gut, dass man sich ihnen nicht entziehen kann –, doch dabei scheinen sich die Qualitätsserien nicht von anderen Serien abzuheben. Deutlicher wird die Wahrnehmung einer qualitativen Differenz in Aktivitäten von Fans. Ein Beispiel hierfür sind Lost-Fans, die mittels Lostpedia, einer gemeinschaftlich erstellten digitalen Enzyklopädie nach dem Muster von Wikipedia, versuchen, das mysteriöse Serien-Universum zu enträtseln und dadurch dessen narrative Komplexität zu reduzieren – ein impliziter Kommentar zur

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anspruchsvollen Serienerzählung.25 Dass Komplexitätsreduktion als Indiz für die wahrgenommene Komplexität von Qualitätsserien verstanden werden kann, wird noch evidenter bei einer anderen, neueren Fanaktivität, nämlich der Herstellung von so genannten »sweded TV-shows«. »Geschwedete« Fernsehserien sind kurze Laienfilme, also private Remakes von Serien, deren besonderes stilistisches Merkmal gerade ihre Simplizität ist. Sie werden schnell und spontan gedreht, Spezialeffekte werden mit den einfachsten expressiven Mitteln erzielt und Freunde oder Familienangehörige als Schauspieler mobilisiert.26 Do-it-yourself ist das erkennbar lustvolle Produktionsprinzip; das dilettantisch Handgemachte wird spielerisch betont, der Illusionsbruch gefeiert. Möglich geworden ist diese Fanaktivität durch leicht handhabbare, jederzeit greifbare Handykameras und einfache Schnittprogramme. Schon der Begriff »sweded movie« verweist auf die ironisch-humorvolle Haltung dieser Gattung; er stammt aus dem Film Be Kind Rewind von Michel Gondry (USA/GB 2008), in dem Videos (während der Abwesenheit des Ladenbesitzers) versehentlich durch Entmagnetisierung gelöscht werden. Verzweifelt drehen der Angestellte (Mos Def) und dessen Freund (Jack Black) die Filme mit Unterstützung von Nachbarn nach und preisen sie als besonders wertvolle Produktionen aus Schweden an, worauf die Videos bald Kultstatus erlangen. Außerhalb der Fiktion fordert Jack Black die Zuschauer auf YouTube dazu auf, eigene Filme zu »schweden« und auf die Plattform »Be kind rewind your movie« zu laden. Mittlerweile finden sich auf Spezialwebseiten wie swededcinema. com, swedefest.com und swededmovies.org sowie auf YouTube und anderen Videoplattformen zahlreiche geschwedete Filme. Auch Qualitätsserien werden geschwedet: Grey’s Anatomy wird zu »Grey’s Lobotomy«, Desperate Housewives zu »The Desperate Housewives of Hysteria Lane« und Lost zu »Lost in Sweden« (Season 1-4). Auf spielerische Art wird der Quality-TV-Diskurs hier mit den Mitteln eines dilettantisch inszenierten Trash-TV kommentiert. Zudem wird die im QualityTV-Diskurs feststellbare Kanonisierung von eher männlich besetzten TV-Serien korrigiert. Geschwedet werden nämlich sowohl männlich als auch weiblich konnotierte TV-Serien, ja sogar Produktionen aus der so genannten »untersten Schublade«, z.B. das Reality-Format Super Nanny (RTL, seit 2004), das sich zur »Celebrity Super-Nanny« wandelt. Durch ein »Making Of« (in »Lost in Sweden, Interview«), inszeniert als Aneinanderreihung von stereotypen Aussagen der involvierten Akteure über die Produktion, wird zusätzlich die Selbstbeweihräucherung von Produzenten und Sendeanstalten ironisiert. Kurz, die Kanonisierungen und Wertungen des Quality-TV-Diskurses sind selbst Gegenstand von 25 | Zum Thema Komplexitätsreduktion bei Fernsehserien siehe den Beitrag von Klein im vorliegenden Band. 26 | Vgl. Junkerjürgen 2011.

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Zuschauer- und Fanaktivitäten und können durch diese hinterfragt und modifiziert werden.

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Lost in Sweden, Season 2: www.youtube.com/watch?v=9XiPRQwLVUw&featu re=related (20.9.2011). Lost in Sweden, Season 3: www.youtube.com/watch?v=fDt6kumx838&featu re=related (20.9.2011). Lost in Sweden, Season 4: www. youtube. com/watch?v=BPQNTPZiSOw&featu re=related (20.9.2011). The Desperate Housewives of Hysteria Lane: www.youtube.com/watch?v=Kc8l E3bg0aI&feature=related (20.9.2011).

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Populäre Fernsehserien zwischen nationaler und globaler Identitätsstiftung Knut Hickethier

D IE AUDIOVISUELLEN M EDIEN UND KULTURELLE I DENTITÄTSSTIF TUNG Die Bedeutung der Medien für die kulturelle Identitätsstiftung ist unbestritten. Da keine Gemeinschaft ohne ein Zugehörigkeitsgefühl ihrer Mitglieder auskommt, bedarf es identitätsstiftender Handlungen. Oft erfüllen Kriege, Landnahmen oder revolutionäre Umwälzungen diese Aufgabe. Die nationalen Identitäten seit dem 17. und 18. Jahrhundert, die die dynastischen Hegemonien ablösten, verstanden sich mehr und mehr auch als kulturelle Gebilde mit stark ein- und ausschließendem Charakter. Je größer die Gemeinschaften dabei sind, je weiter gemeinsame reale Aktionen wie Kriege und andere Kämpfe zurückliegen, desto mehr sind die Strategien der Identitätsbildung symbolischer Natur: Sie gründen in Mythen, Geschichtskonstruktionen, großen Erzählungen. Über solche Erzählungen finden translokale Gemeinschaften zusammen und grenzen sich voneinander ab, denn Erzählungen verankern sich im kollektiven Gedächtnis und verfestigen sich in den Vorstellungen von Einzelnen. Ihre Konstruktionen und Muster verselbstständigen und verhärten sich in mindestens dreierlei Gestalt: (a) in verallgemeinerten Wertvorstellungen (etwa vom Auserwähltsein der eigenen Gemeinschaft), (b) in als gemeinsam angenommenen Verhaltensweisen und (c) in für typisch gehaltenen Eigenschaften (z.B. der ewig fleißige, sture und humorlose Deutsche). Dabei sind es nicht nur die Gemeinschaftsmitglieder selbst, die sich aufgrund solcher Vorstellungen definieren, sondern auch fremde Gemeinschaften schreiben der jeweils anderen Eigenschaften und Verhaltensweisen zu, die diese wiederum annehmen oder auch ablehnen kann. Identitäten sind somit Bewusstseinskonstrukte aus Fremd- und Eigenbildern, die sich in einzelnen tatsächlichen Verhaltensweisen und Wertvorstellungen wiederfinden, aber in aller Regel auch ein – oft beharrliches – Eigenleben führen und nicht von allen Gemeinschaftsmitgliedern in gleicher Weise geteilt werden müssen.

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Im Zeitalter zunehmender Globalisierung sind solch kulturelle Nationalidentitäten in Auflösung begriffen. Und das nicht erst seit der Postmoderne: Die deutsche Nationalidentität hat schon im Zweiten Weltkrieg Schaden genommen, bedingt nicht nur durch die folgende Staatenteilung und die antagonistische West- und Ostbindung der Teilstaaten, sondern schon durch den so genannten Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus, die Kriegsniederlage und den Holocaust. Nicht zufällig wird in der Zeitgeschichtsforschung deshalb von zwei Gründungsmythen gesprochen, die für die Bundesrepublik und die DDR stehen und die als negative Mythen charakterisiert werden können: als Mythen des »Nie wieder«, einerseits auf den Holocaust, andererseits auf den Faschismus gerichtet. Mehr noch als diese negativen Gründungsmythen, die in unzähligen medialen Darstellungen variiert und erzählt werden, waren es jedoch die ökonomischen, kulturellen und letztlich auch kommunikativen Veränderungen im Zuge rasanter Modernisierungsprozesse seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die die Frage nach Identitätserhalt aufwarfen. Denn in dem Maße, in dem sich die Frage nach der bundesdeutschen bzw. der DDR-deutschen Teilidentität stellte – in dem Maße auch, in dem Wiederaufbau, veränderte Produktionsstrukturen und Amerikanisierung der Alltagsgewohnheiten tradierte Verhaltensweisen obsolet werden ließen –, wuchs ein Bedarf an Instanzen, die sowohl gemeinschaftliche Traditionen vermitteln als auch die Folgen der Modernisierung kommunikativ begleiten konnten. Kulturelle Identität – dies ist ein Merkmal westlicher Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg – wurde nicht mehr von oben gesetzt; sie wurde und wird innerhalb öffentlicher Diskurse ausgehandelt, entstand und entsteht im Rahmen eines Prozesses gesellschaftlicher Selbstverständigung, bei dem gesellschaftliche Gruppen um Deutungsmacht ringen – sicherlich mit unterschiedlichem Erfolg, aber eben doch in einer auf Pluralität, Kontroverse und Konsensbildung verpflichteten Öffentlichkeit. Eine besondere Rolle spielten und spielen hierbei die audiovisuellen Medien, weil sie in großer Breite und Intensität tendenziell alle Mitglieder der Gesellschaft erreichen und in den Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung einbeziehen können. Das Kino und der Film präsentierten nicht nur Vorstellungen vom Gemeinsamen der Gesellschaft, sondern machten diese Vorstellungen auch in einer ganz neuen Form anschaulich, d.h. sinnlich erlebbar, stets mit dem Gestus, das Gezeigte sei eine Darstellung der Wirklichkeit. Mit dem Tonfilm, der einen hohen Realitätsanschein erzeugte, ließen sich überaus überzeugend Geschichten erzählen und damit nationale Identitäten festigen und teilweise neu definieren. Geschichte selbst wurde in den historischen Biopics, in den Epochenbildern und filmischen Kriegsdarstellungen neu vergegenwärtigt, die vergangenen großen oder weniger großen Zeiten erstanden scheinbar leibhaftig vor den Augen und Ohren der Zuschauer wieder auf. Dabei kann man

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an den filmischen Darstellungen sehr genau erkennen, wie Sichtweisen eingeschrieben wurden, die eine Version des Handelns der Nation vorgeben und an der Konstruktion kollektiver Identität arbeiten sollten. Solche Formen einer nationalen Prägung der gemeinsamen Vergangenheit und damit des gemeinsamen Wegs haben bis in die Gegenwart Bestand. Wenn man sich vergegenwärtigt, in welchem Umfang die Beschäftigung mit NS-Zeit, Holocaust und Zweitem Weltkrieg zunächst im Kinofilm und dann in Fernsehspiel und Fernsehfilm, in Dokudramen und Dokumentarreihen stattfand, und wie die audiovisuellen Medien schließlich auch den Gang der bundesdeutschen Gesellschaft – etwa im Genre der RAF-Filme – nachzeichneten, kann man erahnen, wie stark unsere Vorstellungen von der Bundesrepublik als Staat und Gesellschaft von solchen Bildern und Erzählungen beeinflusst sind. So wie sich kollektive Identitäten im großen Rahmen durch Geschichtsdarstellungen formieren, so können sie auch auf Ebene der Glaubenswahrheiten und eher alltäglichen Sinngebungen und Lebensweisen hervortreten, etwa durch die Reproduktion von Werten wie Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Gleichklang mit der Natur u.a.1 Als Leitmedien gesellschaftlicher Kommunikation erzählen Film und Fernsehen somit immer auch, ja in besonderem Maße Geschichten vom gegenwärtigen Alltag, die unsere Vorstellungen vom Zusammenleben in entscheidender Weise beeinflussen. Es sind Geschichten des täglichen Miteinanders, des erfolgreichen gesellschaftlichen Handelns, von Liebe und Tod, vom menschlichen Werden und Vergehen, die in den Spielfilmen und seit den 1950er Jahren verstärkt in den Fernsehspielen und Fernsehfilmen serieller und nicht serieller Art verhandelt wurden. Film und Fernsehen kehren in ihren fiktionalen Formen immer wieder – seriell eben – zu den kleineren Dimensionen des menschlichen Lebens zurück, präsentieren Verhaltensweisen, wie richtig zu leben sei, wie angemessenes und nicht angemessenes Verhalten aussieht oder wie die Wege zu einem glücklichen Leben aussehen. Sie bieten Orientierung für die verschiedenen Bereiche menschlichen Zusammenlebens und ermöglichen auf diese Weise eine Art »kognitiven Trainings« (Johnson), dessen Insistenz die Frage nach den Auswirkungen des Fernsehens auf unsere realen Verhaltensweisen aufwirft.2 Offenbar haben Film und Fernsehen eine andere Darstellungsmacht als die Schriftmedien; die Effekte ihrer Darstellungen sind in einfachen und teilweise komplexen Handlungsschemata und Mustern zu beobachten: in der Verstärkung von Ursache/Wirkung-Schemata, in der Betonung bestimmter Zeitformen und Zeitdimensionen von Handlungen, in der Etablierung von Standardsituationen

1 | Vgl. Mayer 2002. 2 | Vgl. Podiumsdiskussion auf der Konferenz »Ästhetik und Praxis populärer Serialität« (Universität Göttingen, 6.-8. April 2011).

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und Standardverhaltensweisen und schließlich in der Ausdifferenzierung von Handlungstypen.

D AS F ERNSEHEN UND DIE F ERNSEHSERIE Wie sehr das Fernsehen unsere Vorstellungen von der Welt prägt, kann man schon daran erkennen, welche Bedeutung der Fernsehkonsum im Alltag der Menschen hat: Mit täglich drei Stunden 40 Minuten (im Jahr 2010) für jeden bundesdeutschen Bürger ab drei Jahre im statischen Durchschnitt besetzt es die Wahrnehmungszeit der Menschen in exorbitanter Weise.3 Das Fernsehen ist damit immer noch gesellschaftliches Leitmedium, auch wenn es immer wieder totgesagt wird. Die statistisch erhobene Nutzung des Internet liegt z.B. gegenwärtig bei täglich 43 Minuten. Das ist natürlich individuell unterschiedlich, aber auch bei der als besonders netzaffin geltenden Gruppe der 29- bis 39-Jährigen ist der Fernsehkonsum wie auch bei anderen Altersgruppen angestiegen.4 Das Fernsehen vermittelt Bilder und Vorstellungen von der Welt demnach in einer umfassenden Weise – aber auch in den verschiedensten Darbietungsformen. Kaum ein Bereich menschlichen Lebens bleibt ausgespart. Im televisuellen Programmangebot haben wiederum die fiktionalen Formen einen enormen Anteil. Auch wenn es, verglichen mit Kinofiktionen, keine entsprechend breite kritische Begleitung der Fernsehfiktionen gibt, werden Letztere doch von einem ungleich größeren Publikum gesehen als Spielfilme im Kino. Dabei können als fernsehgenuin jene großen Fiktionen gelten, die der Kinofilm nicht zu bieten hat: die fiktionalen Fernsehserien. Natürlich ist das Fernsehen insgesamt eine seriell geprägte Veranstaltung.5 Die Nachrichtensendungen sind ebenso Serien wie die Dokumentationen und jeder Einzelfilm ist in die Serialität der televisuellen Programmplätze eingefügt. Diese Serialität sichert das Kontinuum der medial vermittelten Welt. Die fiktionalen Fernsehserien aber sind Serien in expliziter Weise, weil sie das Serielle in ihre narrative Binnenstruktur integriert und zu ihrem inneren Gestaltungsprinzip gemacht haben. Die »Größe« dieser großen Fiktionen besteht dabei in mehrfacher Hinsicht. 1. Fernsehserien sind große Erzählungen vom Umfang her. Gegenüber dem einzelnen Fernsehspiel und Fernsehfilm umfassen sie ein Vielfaches an Erzählzeit. Selbst kleinere Produktionsstaffeln von sechs Folgen haben noch bei kurzen Folgendauern von 30 oder 45 Minuten den doppelten bis dreifachen Umfang eines normalen 90-Minuten-Fernsehfilms. So genannte Endlosserien, 3 | Von Eimeren/Ridder 2011: 8. 4 | Ebd. 5 | Vgl. Hickethier 1991.

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also Serien, deren Ende bei Beginn der Serie nicht von vornherein konzipiert wird, kommen mit über 1.370 Folgen wie bei der Lindenstraße (WDR, seit 1985; Stand: Anfang April 2011) oder über 4.700 Folgen wie bei Gute Zeiten, schlechte Zeiten (RTL, seit 1992) auf eine noch viel größere Präsenzdauer innerhalb des Programms. Sie sind dabei zwangsläufig auch nicht nur punktuell im Programm und damit in der Rezeption, sondern über einen längeren Zeitraum: die Lindenstraße z.B. seit mehr als 25 Jahren, GZSZ auch schon fast seit 20 Jahren. Derartige Formate haben damit ganz andere Möglichkeiten als ein Einzelfilm, sich in das Bewusstsein der Zuschauer einzuschreiben. Kennzeichen der damit verbundenen Erzählweise ist das Prinzip von Redundanz und Variation. Jede Folge, präsentiert zu einem festgelegten, fast unveränderbaren Zeitpunkt innerhalb der Woche oder des Tages, konfrontiert den Zuschauer wieder und wieder mit den gleichen oder doch ähnlichen Erzählmustern. Zugleich wird diese innere Wiederholungsform durch abwandelnde Details des Geschehens, der Figurenkonstellation und der Handlungsorte überlagert oder – für ein naives Rezeptionsverhalten – verdeckt. In dieser Wiederholungsform spielen Kausalbeziehungen eine wichtige Rolle, d.h. das Verhältnis von Anstrengung und Erfolg der Figuren, von Beschleunigung und Verkürzung von Vorgängen und Geschehen, von Glück und Unglück, von lebenszeitlicher Erfüllung in verschiedenen Lebensphasen usw.6 2. Fernsehserien sind große Erzählungen aufgrund ihrer inhaltlichen Dimension. Serien erzählen von menschlichen Grundproblemen – den Problemen der Individuen und ihres Zusammenlebens – in einer großen Ballung von Geschehnissen. Die großen, gern als Mythen bezeichneten historischen Erzählungen werden dabei in ihren Kernen aufgegriffen und variiert; in der Regel wird die Fallhöhe des Tragischen dabei reduziert. Die Konflikte werden in ihre Bestandteile zerlegt, sie werden veralltäglicht und damit in neuer Weise auf das Leben der Zuschauer beziehbar gemacht. Kulturgeschichtlich stehen Serien damit in der Entwicklung der Dramatik, die seit dem bürgerlichen Trauerspiel in ähnlicher Weise an der Veralltäglichung des Schicksalhaften gearbeitet hat. Die Folgenstruktur führt dazu, dass die zahlreichen »Verkleinerungen« der großen Geschichten sich durch fortdauernde Präsenz und das kontinuierliche Neu-Zeigen wieder addieren, sich akkumulieren und damit eine neue Prägnanz und Verfestigung erhalten. Damit erheben serielle Großerzählungen auch Anspruch auf fortdauernde Gültigkeit. Sie behaupten implizit, dass die Welt, von der sie erzählen, nicht nur einmalig, quasi als Entwurf eines Autors, besteht, sondern zeitübergreifend existiert und eben gerade deshalb einen bindenden Charakter besitzt. Die Medienwissenschaft hat deshalb schon früh von einer »Parallelwelt« gesprochen – als Welt neben der von Zuschauern als wirklich

6 | Vgl. den Beitrag von Engell im vorliegenden Band.

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und vermeintlich vormedial erfahrenen Welt –, die durch serielle Erzählungen erzeugt werde (Giesenfeld 1994: 5). 3. Fernsehserien sind große Erzählungen hinsichtlich ihrer Autorschaftsverhältnisse. In den ersten Phasen des bundesdeutschen Fernsehens hatten Fernsehserien deutlich ausgestellte Urheber; zumeist wurden hier an erster Stelle die Drehbuchautoren genannt (das unterscheidet Fernsehfilme bis in die 1980er Jahre von Kinofilmen): Heinz Oskar Wuttig z.B. für den Forellenhof (SWF, 1965) oder Wolfgang Menge für die Krimireihe Stahlnetz (NDR, 19581968; hier wurde allerdings immer auch schon Jürgen Roland als Regisseur mit aufgeführt). Das hängt damit zusammen, dass anfangs versucht wurde, über Urheberausweisungen wie beim Kinospielfilm oder Fernsehspiel eine Werkästhetik zu suggerieren. Je größer jedoch das Serienprojekt wurde, desto bedeutsamer wurden die Urheberkollektive und es etablierten sich neue Formen der Autorschaft, bei denen Rahmenerzählungen oder Storylines vorgegeben und in den Details dann von verschiedenen Drehbuchverfassern ausgefüllt wurden. Bei der ersten lang laufenden Serie des deutschen Fernsehens Unsere Nachbarn heute Abend – Familie Schölermann (NWDR, 1954-1960) gab der produzierende Nordwestdeutsche Rundfunk weder die Namen von Autor und Regisseur noch von den Darstellern bekannt. Die dargestellte Serienwelt sollte eben als reale Parallelwelt erscheinen. Indem das Fernsehen Einblick in das Leben dieser Familie gab, wollte es das Leben an sich und die Welt als solche darstellen – und damit zugleich Muster für das Leben der Zuschauer anbieten. Dass an der Serie nichts als »gemacht« erschien, bedeutete eben auch, dass sie sich als Dauereinrichtung präsentierte, die so lange wie das Leben der Figuren zu reichen schien. (Erst als sich die Schauspielerin der Mutter Schölermann in die Schweiz verheiratete, wurde die Serie zur Enttäuschung zahlreicher Zuschauer nach sechs Jahren Laufzeit abgesetzt.) Autorschaft im klassischen Sinn tritt auch heute noch bei den lang laufenden Serien in den Hintergrund: Viele Internet-Serienlexika und Fansites verzichten ganz auf Urheber-Nennungen. Dies entspricht dem mythosähnlichen Charakter der Langzeitserien. Sie verstehen sich als kollektive Erzählungen, hergestellt für lebensbezogene Gemeinschaften, für große Gruppen von Zuschauern, für Serien-Communities.7 4. Fernsehserien sind große Erzählungen aufgrund ihrer großen Publika. Stärker noch als Einzelfilme werden Serien von großen Zuschauermengen gesehen. Es sind häufig, ja fast immer populäre Erzählungen. Fernsehserien erreichen – und dies im Zusammenhang mit der Reichweite des Mediums, die bei

7 | Vgl. auch die Beiträge von Bendix/Hämmerling/Maase/Nast, Hoppeler/Rippl und Kelleter/Stein im vorliegenden Band.

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86 Prozent der Bevölkerung liegt – potentiell fast die gesamte Gesellschaft.8 Sie sind offenbar so verständlich erzählt, dass ihnen große Teile der Bevölkerung ohne Anstrengung folgen können und die Serien dabei so verstehen, dass ihnen das mehr oder weniger kontinuierliche Zuschauen Vergnügen bereitet. Mit Blick auf deutsche Fernsehserien fällt auf, dass wir es im Wesentlichen mit zwei großen Genrekomplexen zu tun haben: Familienserien und Krimiserien. Zusätzlich werden gerne Hybridformen identifiziert (oder gar von einer »Hybridkultur« gesprochen), doch Genres sind ohnehin nie in dem Sinn »rein« gewesen, dass sie nur und ausschließlich Erzählelemente enthalten, die einem Genre allein zuzuordnen sind.9 Gleichwohl lassen sich Grundformen unterscheiden. Dem großen Komplex der Familienserien ist zu eigen, dass sie von den Beziehungen der Menschen innerhalb einer kleineren Gemeinschaft, letztlich im Privaten handeln, die oft durch von außen kommende Ereignisse gefährdet werden, die es zu bewältigen gilt. Die kleine Gemeinschaft kann eine Familie sein, Mann und Frau mit meist mehreren Kindern, wie z.B. in Die Familie Schölermann, oder ein familiärer Kleinbetrieb wie in Die Firma Hesselbach (HR, 1960-1967) oder in Die Unverbesserlichen (NR, 1965-1971), die mit nur sieben Folgen einen legendären Prototyp dieses Serienformats bildet. Die Gefährdungen werden in der Regel abgewehrt, der Zusammenhalt der Gemeinschaft wird aufrechterhalten. Ein solches Muster befolgen auch jüngere Familienserien, die von Patchwork-Familien oder Wohngemeinschaften handeln. Das Prinzip der hier verteidigten »Innenwelt« findet sich natürlich auch in nicht-deutschen Serien, etwa in der amerikanischen Fernsehserie Bonanza (NBC, 1959-1973), bei der die Western-Familie aus einem Vater und seinen drei Söhnen besteht. An diese Familienserien haben in den letzten Jahren weitere Produktionslinien mit einer stärkeren Beteiligung der Zuschauer angeschlossen, die in das Private so stark eingreifen, dass es zu nachhaltigen Veränderungen des vormedialen Alltags einiger Zuschauer kommt.10 Hierzu zählen Serien aus dem so genannten Reality-TV-Bereich wie Raus aus der Schuldenfalle (RTL, seit 2007), Bauer sucht Frau (RTL, seit 2005) oder Super Nanny (RTL, seit 2004), die wie Familienserien an häuslichen Problemlagen ansetzen, sich dabei den Anschein dokumentarischer Alltagsnähe geben, aber unter dem Stichwort der »scripted reality« drehbuchbasiert produziert werden. Das andere Grundmuster ist die Kriminalserie, die das Außen der Gesellschaft, also letztlich den öffentlichen Bereich thematisiert, in den nun – umgekehrt zur Familienserie – die inneren Probleme der Individuen hineinragen, so dass das Private das Öffentliche in seinem Funktionieren stört. In der Kriminalgeschichte geht es immer um das soziale Miteinander, das anfangs irritiert 8 | Von Eimeren/Ridder 2011: 8. 9 | Zu Hybridkultur vgl. Spielmann 2010. 10 | Vgl. auch den Beitrag von Ganz-Blättler im vorliegenden Band.

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und dessen Irritation im Lauf der Serie oder der Serienfolge beseitigt wird. Zu Beginn steht die Verletzung der Regeln – meist ein Mord, damit die Regelverletzung als existentiell gefährlich erscheint. Mit der Feststellung des Täters und der Aufklärung der Tat wird – Sanktionen und Strafen vorausgesetzt – die soziale Ordnung wieder hergestellt. Dieses vom Prinzip her sehr einfache Schema des Whodunit ist von Krimiserien in buchstäblich tausendfacher Variation immer wieder neu verwendet worden und gilt heute für die übergroße Mehrheit der Kriminalserien weiterhin. Den Zuschauer reizen die Durchbrechungen der bürgerlichen Ordnung, die von fiktionalen Tätern begangen werden, aus einsichtigem Grunde; auch er möchte letztlich, wenn auch sicherlich anders, einmal aus den Konventionen und Regelwerken des Sozialen ausbrechen, doch am Ende werden solche Sehnsüchte wieder eingefangen. Auf diesem Grundmuster restituierter Normalität, das sich in die Seherfahrungen der Zuschauer als Gewissheit eingeschrieben hat, bauen zahlreiche Varianten bis zu den komplexen Geschichten einiger HBO-Serien auf, die hiervon aber auch oft bewusst und markiert abweichen. Die Gewissheiten, die Kriminalserien vermitteln, werden von solchen Abweichungen wenig tangiert; die Mainstream-Kultur skandiert immer wieder: Verbrechen lohnen sich nicht, Zuschauer, bleibe im Rahmen des Gegebenen. Es geht somit um das Verschwinden von Störungen, um die Bestätigung von Ordnungen: Darin unterscheiden sich die fiktionalen Serien wenig von anderen Serienformen des Fernsehens, etwa den Daily Talks der 1990er Jahre oder den Gerichtsshows der 2000er Jahre. Bei aller Schrillheit in der Oberfläche geht es auch bei diesen Formaten um letztlich traditionelle Wertsetzungen und um das Einhalten von Normen; in Daily Talkshows werden krass unsoziale Verhaltensweisen nach ausführlicher Darbietung dementsprechend regelmäßig durch Moderator oder Saalpublikum negativ beurteilt. Fernsehserien zeigen letztlich, dass in den Parallelwelten, von denen sie handeln, die gleichen Werte und Normen Geltung besitzen, wie es in der vormedialen Wirklichkeit der Fall sein sollte. Hier greift ein altes Unterhaltungskonzept, das medienübergreifend wirksam ist: Auf der einen Seite das abweichende, normstörende Verhalten, das Aufmerksamkeit weckt, Spannung erzeugt – auf der anderen Seite die dramaturgische Einfriedung des Widerspruchs, die Domestizierung des Ausbruchs, die Aufhebung des emanzipatorischen Verlangens. Ähnliche Strukturen finden sich auch im klassischen Hollywoodfilm, in den Unterhaltungsfilmen des Dritten Reiches oder in den Kinofilmen über bundesdeutsche Geschichte. Der Befund funktionaler Systemstabilisierung ist nicht kritisch gemeint. Im Gegenteil: Der Stabilität des gesellschaftlichen Zusammenlebens haftet in einem demokratischen Gemeinwesen nichts Negatives an. Eine der großen Leistungen des Fernsehens – und das ist hier nicht ironisch gemeint – besteht im Abschöpfen von überflüssiger Zeit. Gerade serielle Fernsehformen eignen

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sich dazu besonders. In den 1990er und frühen 2000er Jahren gab es in der Bundesrepublik Deutschland mit ca. 8 bis 10 Millionen offener und verdeckter Arbeitsloser ein erhebliches Unruhepotenzial – ähnlich groß wie zu Zeiten der großen Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre. In dieser Zeit um die Wende ins 21. Jahrhundert stieg die Fernsehnutzungszeit von ca. zweieinhalb Stunden (1995) auf ca. dreidreiviertel Stunden (2005) täglich.11 Die kommerziellen Programme mit ihren hohen Serienanteilen trieben die Nutzungszeiten in die Höhe. Zahlreiche Zuschauer, die über viel Zeit verfügten, wurden durch das Fernsehen ans Haus gebunden; eine vergleichbare Präsenz von unbeschäftigten Menschen im öffentlichen Raum wie in den 1930er Jahren blieb weitgehend aus. Sicherlich spielten auch andere Faktoren eine Rolle – aber die Funktion des Fernsehens im Sinn einer Befriedung oder gar einer sozialen Sedierung ist nicht zu übersehen.

S ERIEN , I DENTITÄTSFINDUNG UND NATIONALE S INNSTIF TUNG Die Stabilität eines selbstagierenden Systems, das sich durch die mediale Konkurrenz – übrigens nicht nur im kommerziellen Fernsehen – beschleunigt, wird auch durch nicht-inhaltliche Strategien erzeugt, wobei dies nicht von den Medienproduzenten intendiert sein muss, sondern sich als unbeabsichtigter Effekt einstellen kann. Das im Fernsehen Gezeigte erscheint schon durch seine Geformtheit als sinnhaft.12 Und was für das Fernsehen insgesamt gilt, gilt in besonderer Weise für seine Serien. Denn diese bilden einen eigenen Kosmos, eine eigene serielle Realität, die in sich stimmig und demnach sinnvoll erscheint. Dazu gehört die Geschlossenheit der Handlung der Serien in ihren Einzelfolgen. Auch bei den offenen Formen lang laufender Serien sind die einzelnen Folgen immer abgeschlossen, selbst wenn – wie in der Wirklichkeit – das einzelne Geschehen noch kein Ende gefunden hat. Alles, was gezeigt wird, ist durch die Dramaturgie in eine – schon zeitlich präfigurierte – Ordnung gebracht. Die Konflikte der Figuren sind zudem vereinfacht und kausal aufeinander bezogen, häufig wirkt das Prinzip der poetischen Gerechtigkeit, wonach am Ende die Guten belohnt und die Schlechten bestraft werden. Durch das Zeigen einer solchen seriellen Wirklichkeit erhebt die Serie Sinnanspruch in einer letztlich als sinnlos erscheinenden und nur durch kollektive Sinngebung lebbaren Wirklichkeit. Serien bieten deshalb nicht nur Orientierung, nicht nur Verhaltensmodelle, an denen der Zuschauer seine eigenen

11 | Von Eimeren/Ridder 2011: 8. 12 | Vgl. Hickethier 2006.

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Anschauungen überprüfen kann, sondern auch Trost in einem quasireligiösen Sinn.13 Anders als die Informationssendungen, die sich mit den großen politischen Zusammenhängen beschäftigen, wenden sich Serien in der Regel dem Alltag der Individuen zu. Identitätsfindung erfolgt deshalb vor allem auf der Ebene des individuellen Handelns und der lebensweltlichen Orientierung. Fernsehen kann hierbei als eine Agentur verstanden werden, die Tradition und Moderne in ein Verhältnis setzt, dieses Verhältnis konstant neu definiert und damit den Subjekten, also den Rezipienten, Angebote zu ihrer Anpassung an das macht, was das Fernsehen als Gesellschaft darstellt und was die sich wandelnde Gesellschaft als Bild von sich selbst benötigt.14 Die mediale Form stellt sich dabei in aller Regel als eine neue Fassung, als ein Rahmen dar, in dem tradierte Werte neu vermittelt und neu strukturiert werden. In letzter Konsequenz findet hier auf medialer Ebene eine Modernisierung des Verhaltens statt. Es geht nämlich immer um Verhaltensweisen, sowohl um die der Figuren in den Serien als auch um die Verhaltensweisen der Zuschauer. Fernsehserien stellen eine ununterbrochene Kette von Situationen dar, in denen Figuren sich verhalten – unterschiedlich verhalten – und damit den Zuschauern Möglichkeiten vorspielen, Ähnliches zu tun oder zu lassen. Dabei geht es um basale Unterscheidungen wie angemessen/ungemessen, erfolgreich/nicht erfolgreich, sympathisch/unsympathisch usw. Der Zuschauer kann sich natürlich zu den Verhaltensangeboten selbst verhalten, er kann sie zielgerichtet nutzen, kann verschiedene Lesarten einbringen, verschiedene Aneignungen vornehmen, die aber alle ihrerseits schon narrativ vorgeprägt sind.15 Und das alles gilt nicht nur für aktuelle Serien, sondern auch für ältere, deren Neuausstrahlung die Modellierung von Verhaltensweisen in neuen Verständnis- und Aneignungskontexten neu durchspielt. Ein Beispiel aus den Anfängen deutscher Serienunterhaltung, an dem sich die televisuelle Modellierung von Verhaltensweisen besonders deutlich zeigt (weil man die Verhaltensnormierung aus historischer Distanz gut erkennt): Unsere Nachbarn heute Abend – Familie Schölermann. Die Story: Mutter Schölermann kehrt zu Besuch in das alte Mietshaus zurück, in dem sie und ihre Familie einmal gelebt haben. Sie besucht den Freund der Familie, Herrn Federlein: ein Junggeselle, Gesundheitsapostel, der statt Kuchen und Kaffee Tee und Quarkbrot isst und elektrische Hausgeräte ablehnt. Er will sich verheiraten, weil er gelesen hat, Verheiratete leben länger. So hat er auf eine Zeitungsanzeige geantwortet, doch die angeschriebene Dame aus Berlin antwortet nicht. Plötzlich 13 | Vgl. Hickethier 2006. 14 | Vgl. Hickethier 1998: 1f. 15 | Zur alltäglichen Nutzung von Serien vgl. den Beitrag von Bendix/Hämmerling/ Maase/Nast im vorliegenden Band.

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klingelt es: Die Heiratskandidatin ist überraschend und ohne Anmeldung angekommen. Während Frau Schölermann heimlich die Wohnung verlässt (Mehrtüren-Dramaturgie des Schwanks), lässt Federlein die Dame herein, ist aber zögerlich. Sie kommt schließlich ungefragt in seine Wohnung, so hatte er sich das nicht vorgestellt. Sie lässt sich von ihm Feuer für eine Zigarette geben, bittet um einen Cognac, weil ihr, wie sie sagt, »so warm ums Herz wird«, schwärmt von der Küchenrevolution durch die neuen Maschinen, von saftigen Schweinebraten und mehr. Deutlich sind damit die Gegensätze herausgestellt, verschiedene Lebensstile treffen aufeinander, und aus der anvisierten Heirat wird nichts. Die Serienfolge zeigt einen traditionellen Junggesellen und eine emanzipierte junge Frau, die sich nicht an die Konventionen hält, raucht und Alkohol trinkt. Sie ist es, die das Heft in der Hand hält und damit den zeitgemäßen Vorstellungen von Weiblichkeit widerspricht. Ihr Verhalten wird als nicht nachahmenswert herausgestellt, weil sie im Folgenden lächerlich gemacht wird und das konservative Frauenbild der Mutter Schölermann sich bestätigt findet. Aber: Das unkonventionelle Verhalten wird gezeigt und im öffentlichen Raum sichtbar gemacht – der Zuschauer kann selbst beurteilen, was er für angemessen und was er für wünschenswert hält. Kulturelle Identitätsbildung heißt demnach auch, dass die Serie selbst als Modernisierungsagentur auftritt, indem sie neue Verhaltensweisen einspielt und vorhandene Normen potentiell flexibilisiert: Sie zeigt einfach, wie unterschiedlich Verhalten sein kann. Zugleich wird deutlich, dass Serien ein hohes Identifikationspotential auch deshalb liefern, weil sie an bereits vorhandene Erzähltraditionen – vor allem aus dem Kino – anknüpfen: die Familienserien an den Heimatfilm, der wiederum die Volksstück- und Schwanktradition weiterführt. Ein wenig anders, fast paradox, verhält es sich bei den Krimiserien. Anfangs handelte es sich hier eher um Miniserien, die in aller Regel auch nicht in Deutschland spielten, sondern in England, obwohl sie in Deutschland mit deutschen Schauspielern produziert wurden. Das Halstuch (WDR, 1962) nach Francis Durbridge z.B. hatte Einschaltquoten von über 80 Prozent.16 Auch die deutschen Vorabend-Krimis spielten anfangs in England, weil die Geschichten – beeinflusst durch die aus dem Englischen übersetzten und in Deutschland ungemein populären Kriminalromane von Agatha Christie und Edgar Wallace – vom Publikum in England loziert wurden. Soziokulturell ist diese Konstruktion erklärbar: Der Krimi war zwar eine sehr populäre, in den deutschen Fernsehanstalten aber zunächst ungeliebte Form. Die 1960er Jahre brachten dann nationale Krimiformen hervor, sowohl im Fernsehen wie in der Literatur.17 Über diese Neuorientierung wurde das bun16 | Brück/Guder/Viehoff/Wehn 2003: 124f. 17 | Z.B. im Bereich des »neuen deutschen Kriminalromans«, vgl. Hickethier 1985.

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desdeutsche Hier und Jetzt der Krimimilieus identifikationsstiftend. Dazu musste der Kriminalfilm das Studio verlassen, musste sich Schauplätze an Außendrehorten suchen. Zwar hatte die Synchronisierung amerikanischer und britischer Krimigeschichten sowie die Besetzung der Rollen mit deutschen Darstellern schon zu einer kulturellen Hybridform geführt, doch mit gesteigerter Wiedererkennbarkeit der Schauplätze war die Möglichkeit, das Gesehene auf bundesdeutsche Verhältnisse zu projizieren (und zu verallgemeinern), ungleich stärker. Die Verlagerung des Kriminalgeschehens an bekannte Handlungsorte, in mediale Milieus, von denen der Zuschauer zumindest in der Zeitung gelesen oder sonst wie gehört hatte, trug wesentlich zur Identifikation mit den Figuren und ihren Geschichten bei. Dabei musste im Tatort (ARD/ORF/SF, seit 1970) nicht unbedingt der Kölner Dom zu sehen sein, um Wiedererkennbarkeit zu gewährleisten; wichtiger war der Authentizitätsanschein der Umgebungen als deutsche Handlungsorte, die dem Zuschauer vertraut schienen. Ein kontinuierlicher Blick auf bundesdeutsche Verhältnisse stellte sich auch durch den regelmäßigen Sendeplatz im Fernsehprogramm ein, der eine nicht minder regelmäßige mediale Vergewisserung über das Hier und Jetzt der bundesdeutschen Gesellschaft erlaubte.18

S ERIEN UND G LOBALISIERUNG Seriengeschichtlich lässt sich der Zusammenhang von Serienunterhaltung und Globalisierung leicht beschreiben. Ende der 1950er Jahre wurden im bundesdeutschen Fernsehen die ersten amerikanischen Serienfolgen gezeigt, allerdings noch als Einzelsendungen, nicht in Serie. Ab 1962 kam es dann zur wöchentlichen Ausstrahlung von Serien wie 77 Sunset Strip (ABC, 1958-1964), Tennisschläger und Kanonen (I Spy, NBC, 1965-1968), FBI (The F.B.I., ABC, 19651974) u.a., die bald auch festgelegte Programmplätze erhielten. Neben den amerikanischen Serien wurden auch französische und britische Serien gezeigt, zumeist in den Vorabendprogrammen werktags zwischen 18 und 20 Uhr, als Rahmen für die Werbesendungen. Die Importe verengten sich aber schnell auf amerikanische Serien, zumeist Kriminalserien, die dann ebenfalls freitags nach 20.15 Uhr gezeigt wurden, sozusagen als ritueller Einstieg in das Wochenende, denn mit dem Beginn der 40-Stunden-Woche entfiel vielfach auch der Samstag als Arbeitstag. Man kann diese Entwicklung (unter dem Aspekt der kollektiven Identitätsbildung) als zentralen Teil einer Amerikanisierungsstrategie in der bundesdeutschen Fernsehkultur sehen, wozu neben den Serien auch der enorme Einsatz von amerikanischen Kinospielfilmen im deutschen Fernsehen gehört. Aller18 | Vgl. den Beitrag von Hißnauer/Scherer/Stockinger im vorliegenden Band.

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dings ist die Behauptung einer Amerikanisierung durchaus umstritten, und es ließe sich mit Blick auf andere, zumeist westeuropäische Importe auch von einer »Westernisierung« sprechen.19 In jedem Fall ist ersichtlich, dass es – abgesehen von sehr frühen Beispielen – seit den 1980er Jahren kaum gezielte Versuche gegeben hat, neben den amerikanischen Produktionen vermehrt europäische zu zeigen. Dem Gemeinschaftsprojekt Eurocops (ZDF/ORF/SRG/RAI/ A2/Channel 4/TVE, 1988-1993) war kein dauerhafter Erfolg beschieden. Es gibt zu denken, dass sich die diversen Initiativen zur Schaffung einer europäischen Fernsehöffentlichkeit bislang noch nicht mit dem Erzählformat Serie anfreunden konnten. Was in der nichtfiktionalen Unterhaltung mit dem Eurovision Song Contest (EBU, seit 1956) – und im bundesdeutschen Fernsehen z.B. mit Vico Torriani, Catarina Valente, Rudi Carrell, Charles Aznavour u.a. – möglich war, blieb in der fiktionalen Serienunterhaltung weitgehend ungenutzt. Bei der Präsentation amerikanischer Serien wiederum fällt auf, dass diese nicht nur auf Zuschauerseite den eigenen Bedürfnissen gemäß angeeignet wurden, sondern schon im Zuge des Imports Modifikationen erfuhren: Sämtliche Serien wurden und werden in eingedeutschter (synchronisierter) Form ausgestrahlt, was teilweise auch Bearbeitungen umfasst, die den Charakter der Serien veränderte (am markantesten sicherlich im Fall von Rainer Brandts Dialogbüchern für die britisch-amerikanische Koproduktion The Persuaders! [ITV/ ABC 1971], deren Folgen im ZDF 1972-1973, 1984 und 1994 erstausgestrahlt wurden). Man kann deshalb davon sprechen, dass sich – ausgehend von den amerikanischen Serien – eine transnationale Identität abzeichnet, die gerade auch im alltagskulturellen Bereich viele amerikanische Medienwelten den deutschen Zuschauern nahegebracht, aber auch entsprechend »eingedeutscht« hat. Fernsehserien bilden damit einen nicht zu unterschätzenden Motor für die individuelle und kollektive Identitätsbildung, sowohl im nationalen als auch im transnationalen Rahmen, wobei für die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Kulturraums die Fernsehserie als Ort gesellschaftlicher Kommunikation und Selbstthematisierung erst noch entdeckt werden muss.

L ITER ATUR Brück, Ingrid, Andrea Guder, Reinhold Viehoff und Karin Wehn. Der deutsche Fernsehkrimi: Eine Programm- und Produktionsgeschichte von den Anfängen bis heute. Stuttgart: Metzler, 2003. Doering-Manteuffel, Anselm. Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999.

19 | Vgl. Doering-Manteuffel 1999.

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Giesenfeld, Günter. »Serialität als Erzählstrategie in der Literatur«. Endlose Geschichten: Serialität in den Medien. Hg. Günter Giesenfeld, Hildesheim: Olms, 1994. 1-11. Hickethier, Knut. »Die umkämpfte Normalität: Kriminalkommissare in deutschen Fernsehserien und ihre Darsteller«. Der neue deutsche Kriminalroman: Beiträge zu Darstellung, Interpretation und Kritik eines populären Genres. Hg. Klaus Ermert und Wolfgang Gast. Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum, 1985. 189-212. Hickethier, Knut. Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens. Lüneburg: Universität Lüneburg, 1991. Hickethier, Knut (unter Mitarbeit von Peter Hoff). Geschichte des deutschen Fernsehens. Stuttgart: Metzler, 1998. Hickethier, Knut. »Religion und Medien«. Religion in der modernen Lebenswelt: Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven. Hg. Birgit Weyel und Wilhelm Gräb. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006. 61-83. Johnson, Steven. Everything Bad Is Good for You: How Today’s Popular Culture Is Actually Making Us Smarter. New York: Riverhead Books, 2005. Mayer, Thomas. Identitätspolitik: Vom Missbrauch des kulturellen Unterschieds. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002. Spielmann, Yvonne. Hybridkultur. Berlin: Suhrkamp, 2010. Von Eimeren, Birgit und Christa-Maria Ridder. »Trends in der Nutzung und Bewertung der Medien 1970 bis 2010«. Media Perspektiven 1 (2011): 2-15.

Continuity, Fandom und Serialität in anglo-amerikanischen Comic Books Stephanie Hoppeler und Gabriele Rippl

C OMICS , C OMIC B OOKS UND G R APHIC N OVELS : TERMINOLOGISCHE B ESTIMMUNGEN »Comics« wird als Dachbegriff für Comic Books und Graphic Novels verwendet, die mithilfe von Bildsequenzen (die meistens auch Textelemente beinhalten) und unter Verwendung sogenannter »gutters« (McCloud 2007: 66) Geschichten erzählen.1 Trotz dieser medialen Gemeinsamkeiten (Text-Bild-Kombinationen, intermediale Erzählweisen) differieren Comic Books und Graphic Novels aufgrund ihrer Publikationsformate, die mitbestimmen, welche Geschichten überhaupt erzählt werden können. Comic Books, um die es in diesem Beitrag in erster Linie gehen soll, entwickelten sich in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts. Ihr goldenes Zeitalter begann mit dem Erscheinen von Superman auf dem Titelblatt von Action Comics 1 im Juni 1938.2 Charles Hatfield definiert Comic Books als »not just any publication consisting mostly of comics, but specifically the standard-format comics magazine as developed for the U.S. newsstand market in the early 1930s and formularized by the early 1940s« 1 | In den Bildsequenzen wird die statische Natur der einzelnen Bilder bzw. Bild-TextKombinationen aufgehoben, was die Narrativität im Vergleich zu einem Einzelbild erhöht. Zur Frage nach den Zusammenhängen von intermedialem Erzählen und seriellen Publikationsformen vgl. Schüwer 2002 und Wolf 2002; siehe auch Sabin 1993: 5, Mahne 2007: 45, McCloud 2007: 9, Dittmar 2008: 43, Schüwer 2008: 10. Zur ComicForschung allgemein siehe u.a. Sabin 2006, McCloud 2007, Schüwer 2008, Ditschke/ Kroucheva/Stein 2009, Kelleter/Stein 2009, Frahm 2010. 2 | Je nach Quelle wird die Geschichte der Comic Books in fünf Epochen unterteilt: das goldene (1938-ca. 1956), das silberne (ca. 1956-ca. 1970), das bronzene (ca. 1970ca. 1986), das eiserne oder dunkle (ca. 1986-ca. 1998) und schließlich das moderne Zeitalter (ca. seit 1998). Eine der umfassendsten Darstellungen findet sich bei Levitz 2010.

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(2005: 8). Es handelt sich um dünne, meist 24-seitige Magazine der Standardgröße 17,5 x 26 cm, die üblicherweise mehrere Geschichten beinhalten, die sich häufig in Folgen, also seriell, entfalten.3 Wenn bereits publizierte Comic Books zusammengefasst und neu gebunden werden, spricht man von einem Trade Paperback; wenn die Gesamtheit aller Einzelhefte zusammengebunden wird, erhält man eine Graphic Novel. Allerdings benennt der Begriff Graphic Novel zwei unterschiedliche Dinge: Auf der einen Seite versteht man darunter ein abgeschlossenes, gebundenes, Bild und Text kombinierendes Erzählwerk in Buchform. Häufig werden solche Werke auf teurem Papier mit guter Bindung in groß angelegten und prestigeträchtigen Sammelausgaben publiziert, d.h. sie versuchen am bildungskulturellen Kapital von Romanen zu partizipieren.4 Beispiele sind Art Spiegelmans Maus (1972-1991) oder Craig Thompsons Blankets (2003). Auf der anderen Seite verweist der Ausdruck Graphic Novel weniger auf Länge, Publikationsform und Abgeschlossenheit, sondern darauf, dass eine grob zusammenhängende Geschichte erzählt wird. Die über viele Jahrzehnte publizierten Superman-Comics stellen eine Graphic Novel im zweiten Sinn dar, auch wenn sie nicht gesammelt publiziert wurden. The Sandman demonstriert die Unterschiede zwischen Comic Books, Trade Paperbacks und Graphic Novels sehr gut.5 Dieses Werk – von Neil Gaiman in Zusammenarbeit mit verschiedenen Zeichnern wie Dave McKean und Mike Dringenberg zwischen 1989 und 1996 geschaffen – erschien ursprünglich in Form von Comic Books, inklusive Werbeanzeigen und Letter Page.6 Nach einem erfolgreichen Start entschied sich der Verlag DC Comics, die einzelnen Hefte in zehn Bänden neu zugänglich zu machen. So entstanden die Trade Paperbacks Preludes and Nocturnes (Hefte 1-8), The Doll’s House (Hefte 9-16), Dream Country (Hefte 17-20) usw. Zwischen 2006 bis 2008 wurde dann The Absolute Sandman, eine vierbändige Luxusausgabe der gesamten Graphic Novel mit zusätzlichem, bislang unveröffentlichtem Material herausgegeben; Band 5 ist im November 2011 erschienen. Wenn also im Folgenden von Comic Books die Rede ist, dann impliziert das immer auch die mögliche Folgepublikation als Graphic Novel – so wie umgekehrt die Rede von Graphic Novels immer die Möglichkeit vorsieht, dass deren Einzelteile zuvor als Comic Books publiziert wurden.

3 | Vgl. Sadowski 2009: 186. Der Begriff Comic Book ist dabei in zweierlei Hinsicht unzutreffend: Erstens sind Comic Books nicht zwangsläufig humorvoll und zweitens handelt es sich nicht um Bücher, sondern um Hefte (vgl. Wright 2003: xiv). 4 | Zum Themenfeld kultureller Distinktion vgl. Bourdieu 1992, Guillory 1993. 5 | Vgl. Hoppeler/Etter/Rippl 2009. 6 | Seit den 1950er Jahren stellen Verlage meist ein bis zwei Seiten pro Heft zur Verfügung, auf denen Leserbriefe abgedruckt und von Redakteuren oder Herausgebern kommentiert werden (vgl. Levitz 2010: 23).

C ONTINUIT Y , F ANDOM UND S ERIALITÄT

Z U EINER THEORIE SERIELL PUBLIZIERTER C OMIC B OOKS : D AS P HÄNOMEN DER C ONTINUIT Y In der Forschung sind Serialität und Serienformate bisher hauptsächlich in Bezug auf Fernsehserien oder den Feuilleton-Roman des 19. Jahrhunderts analysiert worden, das Erzählen auf Raten in Comic Books ist hingegen noch unvollständig erfasst.7 Insbesondere fehlt es an Analysen eines der schillerndsten und am schwersten fassbaren Phänomene des Comic Books, der so genannten Continuity (auf Deutsch »Beständigkeit«, »Permanenz« oder eben »Kontinuität«). Das mag daran liegen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Continuity-Phänomen eine jahrelange Lektüre der umfangreichen Primärquellen voraussetzt. Es sind fast ausschließlich Fans, die über dieses Wissen verfügen. Die Frage, wie Serialität, Fangewohnheiten und die über Jahrzehnte hinweg gewachsene Comic-Book-Continuity zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen, steht im Zentrum der folgenden Überlegungen. Einer der wenigen Kulturtheoretiker, die sich schon früh mit serieller Ästhetik auseinandersetzten und dabei auch populäre US-amerikanische Comic Books vor Augen hatten, war Umberto Eco.8 In seinem Aufsatz »The Myth of Superman« beschrieb er, wie sich Superheldengeschichten in einem »oneiric climate« (1962: 114) entwickeln, was zur Folge habe, dass Vergangenheit und Zukunft der erzählten Welt schemenhaft und unklar blieben, weshalb ein einzelner narrativer Strang – ein Minimum an Innovation vorausgesetzt – immer wieder aufgenommen und repetiert werden könne. Die Grundlage für serielles Erzählen ist demnach die Dialektik von Wiederholung und Neuerung, von »Innovation und Repetition« (Eco 1985: 161). Auch Gilles Deleuze befasste sich in Différence et Repetition (1968) mit diesem Problem, wenn auch nicht auf narratologischer Ebene, sondern mit Blick auf die Alltagswelt und Psychologie – zwei Bereiche, in denen ebenfalls keine Wiederholung ohne Differenz möglich sei.9 7 | Für Fernsehserien siehe z.B. Ang 1989, Hickethier 1991, 1996, 2003, Oltean 1993, Schneider 1995, Türschmann 2007. Für Feuilleton-Romane: Radway 1984, Vann 1985, Neuschäfer et al. 1986, Hughes/Lund 1991, Lund 1993, Martin 1994, Sutherland 1995, Hayward 1997, Law 2000, Payne 2005. 8 | Wir verstehen Comic Books als Bestandteil der Populärkultur mit Hinsicht auf ihre Nähe zum Groschenroman (publikationstechnisch) und zur Genre-Literatur, z.B. den Fantasy- und Science-Fiction-Gattungen (inhaltlich). Was den Vertrieb betrifft, sind Comic Books jedoch kaum als Massenmedium zu betrachten. Hatfield betont, dass »the comic book, despite its familiarity has long since retreated from mass to niche medium. Since the early fifties, the medium’s commercial peak, the comic book has faded to the margins of popular culture, from which it only occasionally sallies forth to trumpet some minor innovation or unexpected outrage.« (2005: 10-11) 9 | Vgl. Middeke 2004: 85ff.

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Serialitätsforscher wie Eco, Deleuze und andere adressieren somit zum einen serielle Publikationsformen und zum anderen serielle Phänomene auf der Ebene der Charaktere, des Plots (Cliffhanger), des Stils, des Themas, der impliziten Leserschaft und anderer narratologischer Felder.10 Wie andere Serienformate generieren auch Comic Books aufgrund ihrer seriellen Publikationsweise in wöchentlichen oder monatlichen Heften partizipatorische Praktiken.11 Die Pause zwischen den einzelnen Episoden bietet Gelegenheit für Rückmeldungen, Kritik und Vorschläge aus dem Kreis der Fans, die nicht nur eine Kontrollinstanz sind, sondern zu Mit-Autoren und Mit-Autorinnen werden: Die Grenzlinie, die die Einflussbereiche von Erzeugern und Konsumenten definiert, verschwimmt, da Leserwünsche Comic-Autoren nachhaltig lenken und Handlungsstränge zukünftiger Folgen mitprägen können.12 Fans haben einen großen Einfluss auf das serielle Erzählen, wie Analysen der Letter Pages von Comic Books, von Blog-Einträgen und Online-Kommentaren auf den Homepages der Comic-Book-Verlage, aber auch Interviews mit Autoren und Autorinnen zeigen.13 Dabei ist wichtig zu sehen, dass für Comic-BookRezipienten das Entdecken und Verstehen von inter- und intratextuellen sowie inter- und intramedialen Verweisen einen Großteil des Rezeptionsvergnügens ausmacht und die seriellen Formate von nicht intermedial oder seriell publizierten Werken absetzt. Bis vor einigen Jahrzehnten bot die so genannte Letter Page zusammen mit Fan-Conventions die einzige Möglichkeit des Austausches zwischen Fans, doch seit dem Aufkommen des Internets ist der schriftliche und persönliche Dialog um viele Alternativen bereichert worden.14 Die Comic-Fangemeinde gilt als eine der aktivsten überhaupt, was jedoch nicht allein auf die zahlreichen Austauschoptionen zurückzuführen ist, sondern auch mit dem in der Comic-Book-Kultur fest verankerten Phänomen der Continuity zusammenhängt. Je nach Kontext benennt der Begriff Continuity im Englischen, mit leicht unterschiedlicher Intensität, den Zusammenhang einzelner Teile einer Serie. Dabei kann es sich um eine Serie von Szenen (filmische Continuity), eine Serie von Folgen (serielle Continuity) oder um eine Serie von Serien (Comic Book Continuity) handeln. 10 | Vgl. Faulstich 1994, Giesenfeld 1994, Blättler 2003, 2010, Sielke 2007, Middeke 2008, Haselstein 2010. 11 | Zu populärkultureller Partizipation vgl. Fiske 1992, Lewis 1992, Baym 2000, Jenkins 2009, Harris/Alexander 2010 und vor allem Pustz 1999 und Schelly 1999. 12 | Siehe im vorliegenden Band u.a. den Beitrag von Bendix/Hämmerling/Maase/ Nast. 13 | Vgl. in diesem Band den Beitrag von Kelleter/Stein. Beispiele für solche Quellen sind Neil Gaimans Blog oder DCs Vertigo Blog und DCs Comics Message Board. 14 | Bis in die 1990er Jahre hinein finden sich in den Leserbriefen Aufrufe zur Kontaktaufnahme, was durch das Abdrucken von Privatadressen unterstützt wurde.

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In der Filmsprache bedeutet Continuity: »the unique methodology by which a story is dramatized on film« (Miller 1986: 5), die in räumlicher, zeitlicher und logischer Hinsicht einen glatten Übergang von einer Szene zur nächsten gewährleistet.15 Bei der Verbindung individueller Filmszenen handelt es sich um eine relativ lockere Art des Bezugs; plötzliche Schauplatzänderungen sind nicht selten. Aufbauend auf der filmischen Continuity stellt die serielle Continuity eine Steigerung des Intensitätsgrads des inneren Zusammenhangs dar. Diese Form der Continuity ist notwendig, um individuelle Folgen zu verknüpfen. Spezifisch auf Serien angewendet, beschreibt Continuity laut Packard »die Gesamtheit derjenigen Elemente, die intertextuelle Bezüge zwischen den einzelnen Episoden einer Serie herstellen und damit ihren inneren Zusammenhang in der Wahrnehmung der Rezipienten stärken und den Wiedererkennungswert erhöhen sollen« (2004: 168).16 Nicht alle Serien legen Wert auf eine strikte Continuity, aber alle benötigen ein Mindestmaß davon, um grundsätzliche Merkmale zu sichern und neue Folgen für die Rezipienten als Teil der Serie erkennbar zu machen. Zu den grundlegenden Continuity-Elementen gehören somit intradiegetische Aspekte wie Rollenbesetzung und Charakterbeständigkeit sowie extradiegetische Komponenten wie Vorspann oder Titelmusik. Serielle Continuity ist vor allem in Serien mit nicht oder nur fragmentarisch abgeschlossenen Episoden zu finden.17 Bei Serien mit quasi-autonomen Folgen spielt Continuity aber ebenfalls eine Rolle, auch wenn das Verständnis der einzelnen Episoden keines Vorwissens bedarf.18 In Comic Books findet der Begriff Continuity seine zugespitzteste Form; hierbei handelt es sich um den Zusammenhang ganzer Serien.19 Er bezeichnet die Entwicklung einer inhaltlich kohärenten und in sich stimmigen Einheit, bestehend aus zeitgenössischen sowie historischen Charakteren, Ereignissen, 15 | Vgl. auch Bordwell/Thompson 2008: 262. 16 | »[I]ntertextuell« ist im Bezug auf Comic Books und andere multimediale Serien eine eher problematische Wortwahl, da sich die meisten zeitgenössischen Serien nicht auf Texte im engeren Sinn beschränken. Comic Books, Radio- und TV-Serien arbeiten mit mehr als einem Medium und verweisen nicht nur auf andere Texte, sondern auch auf andere Bilder. Auch wenn Packard »intertextuell« im Sinne Kristevas verwendet – »intertextuelle Bezüge« sind bei ihm also Querverbindungen zwischen einzelnen Einheiten beliebiger Medien –, scheint die Formulierung unnötig ausschließend. Man spricht hier besser von intertextuellen und interikonischen/intermedialen Bezügen. 17 | Vgl. Jones 2005: 527, Mielke 2006: 41. 18 | Vgl. Jones ebd., Mielke 2006: 40, Mittell 2006: 29. 19 | Es gibt Beispiele für verlagsinterne Continuity auch in anderen Medien, wie die sechs untereinander verwandten Serien, die unter dem Titel Star Trek zusammengefasst werden, oder die beiden Serien von Joss Whedon, Buffy the Vampire Slayer (WB/UPN, 1997-2003) und Angel (WB, 1999-2004), vgl. auch Ouellette 2006.

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Handlungen und Situationen innerhalb der meisten Publikationen eines Verlags.20 Konkret heißt das, dass eine in der Serie Action Comics stattfindende Begebenheit sich auch auf die Serie Superman und die Serie Adventure Comics auswirken kann. Zusammenhänge können also nicht nur zwischen Szenen und Episoden, sondern auch zwischen den einzelnen Serien eines Verlags bestehen. Das jeweilige Verlags-Universum ist Bestandteil des Multiversums, das sämtliche Charaktere, Welten usw., die im Verlag erscheinen, umfasst – auch solche, die außerhalb der Continuity liegen. Alan Moore und Dave Gibbons’ Watchmen ist ein Beispiel für eine Graphic Novel, die nicht zur Continuity gehört und deshalb zwar Teil des DC Multiversums, nicht aber des DC Universums ist.21 The Sandman hingegen ist fester Bestandteil des DC Universums; im Konzept, das Gaiman 1987 an die Redakteure von DC Comics sandte, hielt er fest: »[The Sandman] takes place in the DC Universe. I’ve created a few new characters […] For the rest I’ve had a wonderful time grabbing DC Characters and shoving them into my storyline.« (2006: 546) Bei Comic-Book-Continuity spielt die Medialität der Serie eine nebensächliche Rolle, d.h. solange eine Serie Teil des jeweiligen Verlags-Universums ist, kann ein Ereignis über Mediengrenzen hinweg in andere Serien hineinwirken. Das Comic-Book-Format ist jedoch immer zentral, da sämtliche Superheldengeschichten von diesem Medium ausgehen.

Z UR E NT WICKLUNG DER C ONTINUIT Y IN C OMIC B OOKS Wendet man sich der Geschichte der Comic Books zu, dann zeigt sich, dass es zunächst ein leichtes Unterfangen war, Continuity zu errichten, denn Ende der 1930er Jahre war kein Charakter rechtlich oder praktisch an seine Schöpfer gebunden und seine Geschichte konnte somit theoretisch endlos fortgesetzt werden.22 Anfang der 1940er Jahre lancierte man dann so genannte »Crossovers«, d.h. Besuche eines Superhelden in einer anderen Serie – dies auch als lukrative Möglichkeit, neue Leser zu gewinnen. Damit war ein bedeutender Schritt zur Vernetzung der einzelnen Geschichten innerhalb eines Verlages und zum Aufbau von Continuity gemacht: Wenn Superman im April gemeinsam mit 20 | Vgl. Locke 2005: 26. Deshalb wird das so entstehende Universum meist nach dem Verlag benannt: DC Universum, Marvel Universum usw. 21 | In dem Brief an DC Comics, mit dem Alan Moore seine Idee für Watchmen beschreibt, nimmt er explizit Stellung hierzu: »we should not even think for a moment which Earth this thing is set on, and make no attempt to tie it in with regular D.C. continuity« (Levitz 2010: 598). 22 | Vgl. im vorliegenden Band Kelleter/Stein. Siehe auch Sabin 2006: 167, Petersen 2010: 105-106, Wright 2003: 7.

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Batman in Gotham Verbrechen bekämpft, kann er unmöglich zeitgleich in Metropolis gegen Lex Luthor antreten. Diese neue Verbindung unter Superhelden brachte also auch Einschränkungen mit sich – und das umso stärker, je dichter das Netz der Superhelden und Superheldinnen wurde und je mehr sich die Fangemeinde, die mit der Letter Page ein Sprachrohr erhielt, in den 1960er Jahren vergrößerte. Unstimmigkeiten und Widersprüche in der Continuity konnten nun konkret und öffentlich bemängelt werden, und zwar von Rezipienten, die durch jahrelangen passionierten Konsum teilweise besser informiert waren als die unter Umständen neu zum Heft hinzugestoßenen Autoren und Künstler. Die regelmäßigen, öffentlichen Meinungsäußerungen der Fans setzen jedoch das serielle Format voraus, da allein dieses einen ständigen gegenseitigen Austausch ermöglicht. Continuity und Serialität stehen also in enger Wechselbeziehung zueinander und sind darüber hinaus mit den Aktivitäten und Distinktionsstrategien der Fangemeinden und Verlage verwoben. Seriell publizierte Werke erschweren potentiell den Ersteinstieg. In diesem Punkt unterscheiden sich Comic Books nicht von Serien in anderen Medien oder mit anderen Inhalten; die Zugänglichkeit einer Serie für neue Rezipienten ist prinzipiell davon abhängig, ob es sich um eine Serie mit abgeschlossenen oder weiterführenden Episoden handelt. Im Fall der Comic Books verschärft die Komplexität der Continuity das Problem. Um ein beliebiges Comic Book zu verstehen, müssen sich neue Leserinnen und Leser nicht nur in die serielle Geschichte einlesen, sondern sich auch mit einem Großteil der Continuity vertraut machen. Für viele Interessierte ist dieser Aufwand entweder zu groß oder finanziell nicht umsetzbar.23 So bleibt die eingeschworene Wissensgemeinschaft meist klein. Laut Jenkins verstehen sich viele Fangemeinden als exklusive SubKulturen, deren kollektive Interessen und Aktivitäten Schutz gegen die Kritik »von außen« bieten und damit identitätsstiftend wirken.24 Hatfield beschreibt die zeitgenössische Comic-Book-Kultur demnach als »a highly specialized if thinly populated consumer culture, one that holds tightly to a romanticized position of marginality and yet courts wider recognition« (2005: xii). Auch Pustz sieht die kulturelle Marginalität von Comic Books als Hauptgrund für die freiwillige, schier hermetische Abgrenzung der Fans:25

23 | Comic Books mit Schlüsselszenarien sind begehrte Sammlerware und nur für enorme Summen erhältlich. Adventure Comics 69 – die Ausgabe, in der die Freundin des ersten Sandmannes Wesley Dodds (anscheinend) stirbt und in der Sanderson Hawkins zum Partner in der Verbrechensbekämpfung avanciert – wird momentan für $ 2.771,81 zum Verkauf angeboten. In Sammlerkreisen gibt es noch weitaus begehrtere Comic Books. 24 | Vgl. Jenkins 2009: 23. 25 | Zum Verhältnis von Serialität und Hermetik siehe auch den Beitrag von Fahle in diesem Band.

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S TEPHANIE H OPPELER UND G ABRIELE R IPPL [T]here are important boundaries between all comic book readers and outsiders, the tens of millions of Americans who do not read comics. This limited access promotes insularity and, to go along with it, a certain amount of postmodern self-referentiality that is the source of part of readers’ pleasure in comic books. Regular readers enjoy a miniseries such as Radioactive Man because it is filled with insider jokes, parody, and allusions to comic book history, a history about which most nonreaders simply do not know. […] For most noncomics readers, though, these pleasures will be unachievable, thereby further alienating them from the medium and eventually making the comic book world even more impenetrable for the casual reader. (1999: 23)

Neuen Lesern und Leserinnen wird der Zugang also nicht nur von den Verlagen, sondern auch vom Distinktionsdenken der Fans erschwert.26 Comic Books, die häufig die Grundlage für Graphic Novels und ihre bildungskulturell inspirierten Abgrenzungsstrategien darstellen, sind somit vielleicht stärker als diese von Elitismus geprägt. In den letzten zehn Jahren gingen die Comic-Book-Verlage aber entspannter mit der Continuity ihrer Produkte um: Geschichten können heute Teil des narrativen Kanons sein oder auch nicht. Seitens der Fans zeichnet sich eine Neigung zur Nachsicht mit Ungereimtheiten und Brüchen ab. Auch in der Primärliteratur scheinen die Versuche, neue Handlungsstränge, Charakterzüge und Geschehnisse in die etablierte Continuity einzuführen, weniger häufig und mit weniger Überzeugungskraft stattzufinden als noch in den 1990er Jahren. Der frühere Präsident von DC Comics, Paul Levitz, stellt fest: In earlier ages of comics, there was either a simple singular version of the canonical history of the characters or very carefully explained story lines that connected the different versions through parallel worlds and other pseudoscientific constructs. But now, the once-revolutionary notion of parallel worlds separated by diverging historic moments had become part of the common practice in genre fiction. (2010: 637)

Mort Weisingers »Imaginary Stories« zeigten in den 1960er Jahren die ersten Versuche, sich von den Zwängen der Continuity zu lösen, um innovative narrative Möglichkeiten zu entwickeln. Neue Leser und Leserinnen sollten einfacheren Zugang zu lang laufenden Serien erhalten und auch eingefleischten Fans sollte hin und wieder komplett Neues, ohne die Bürde einer Jahrzehnte alten Continuity, geboten werden. Lange bestand die einfachste Variante, continuityfreie Szenarien ungestraft zu publizieren, darin, ein Label wie DCs Elseworlds oder Marvels What If? auf die Titelseite zu drucken, was darauf hinwies, dass im Heft Dinge geschehen, die nicht mit den etablierten Normen des Univer26 | So beschwert sich z.B. Jim Dawson, ein lang jähriger Fan, in der Letter Page von The Sandman 22 (Januar 1991) über die Praktiken neuer Fans.

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sums übereinstimmen. Die neueste Entwicklung bricht mit dieser Tradition; ein Hauptgrund ist die zunehmend multimediale Vertreibung von Comic-BookInhalten.27 Dabei scheuen sich Produzenten und Regisseure auch nicht, Continuity-Fakten an ihr jeweiliges Medium anzupassen. Das unaufhörliche Hinund Herschieben von Inhalten (Charakteren, Handlungssträngen, Ereignissen usw.) zwischen Film, TV-Serie, Hörspiel, Buch, Computerspiel und Comic Book hat zur Folge, dass klassische Vorstellungen von Continuity an Bedeutsamkeit verlieren. Die meisten Fans des 21. Jahrhunderts sind offensichtlich bereit, mehrere inkompatible Versionen eines Charakters zu akzeptieren und continuityfreie Szenarien ohne Etikett, Erklärung oder Entschuldigung auszukosten. Seriell publizierte anglo-amerikanische Comic Books konstituieren einen Spezialfall in der zeitgenössischen Comicforschung. Die den Comic Books inhärente Continuity ist für neue Leser und Leserinnen nicht nur ein schwer erkennbares, sondern auch ein schwer erfassbares Phänomen. Obwohl Comic Books häufiger als triviale Unterhaltungslektüre denn als Kulturträger ihrer Zeit wahrgenommen werden, stellen sie eine schier unversiegbare – weil seriell publizierte und folglich auf potentielle Unendlichkeit angelegte – Quelle für die Analyse der Wechselbeziehung zwischen Publikationsmodus, Publikumsbeitrag und narrativer Continuity dar.

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Ausblick

Joy in Repetition Acht Thesen zum Konzept der Serialität und zum Prinzip der Serie Sabine Sielke

Serialität ist ein ebenso folgenreiches wie freudvolles Phänomen. »There’s joy in repetition«, intonierte Megastar und Multitalent Prince auf seinem Album Graffiti Bridge (1990) in einem Song, der mit seiner Emphase des repetitiven Moments einen originellen Blick auf die »Freude am Sex« (Comfort 1972) wirft und seither munter gecovert wurde.1 Auch Umberto Eco hebt in seinem Essay über »Wiederholungskunst« jenes wohltuende Element hervor, das Varianten von Gutbekanntem anhaftet.2 Vielleicht deshalb war mein Hauptseminar »Seriality: from Gertrude Stein to Soap Opera« (Sommersemester 2007, Universität Bonn) so unerwartet ertragreich. Es lockte Kenner von Serien wie Sex and the City (HBO, 1998-2004), The Sopranos (HBO, 1999-2007) und Dexter (Showtime, seit 2006) hinter ihren Bildschirmen hervor und hat eine ganze Reihe – oder eine Serie? – von Magisterarbeiten inspiriert.3 Auch meiner eigenen Forschung ist die Serialität wohl nicht mehr auszutreiben. In der Tat hat sich das Prinzip der Serie in meiner Arbeit von einem Forschungsgegenstand – etwa in Auseinandersetzung mit dem Werk Gertrude Steins oder den fiktiven Serienmördern in Bret Easton Ellis’ American Psycho (1991) und Joyce Carol Oates’ Zombie (1995) – zu einer leitenden Perspektive gewandelt. Ein aktuelles Forschungsprojekt zu den Konzepten »Memory, Mediation, Seriality« hatte ich ursprünglich für zwei getrennte Vorhaben gehalten, die – wie bald deutlich wurde – jedoch zunehmend verwoben schienen, weil Prozesse von Erinnerung und medialer Vermittlung nicht ohne einen Begriff von Serialität fassbar sind. Ich will kurz ausholen, damit verständlich wird, wel-

1 | Siehe u.a. die Coverversionen von Dayna Kurtz und My Brightest Diamond. 2 | Vgl. Eco 1986. 3 | Siehe Sielke/Bosserhoff 2012.

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che Folgen – und ja, auch Freuden – die Auseinandersetzung mit seriellen Prozessen für meine »Erinnerungsarbeit« mit sich gebracht hat. Ausgehend von drei zentralen Begriffen der Literatur- und Kulturwissenschaft (Erinnerung/Gedächtnis, Medialität und Serialität) und dem Werk von drei kanonischen amerikanischen Autoren (Emily Dickinson, Henry James und Gertrude Stein), geht es mir darum, Schnittstellen kultur- und kognitionswissenschaftlicher Methoden und Fragestellungen zu lokalisieren. Worin liegt das – transdisziplinär auszulotende – Potential eines solchen Dialogs über Wechselbeziehungen von Körper und medial vermittelter Welt? Welche kulturwissenschaftlichen Problemstellungen lassen sich an den Berührungspunkten zur Kognitionsforschung verhandeln, und wo erweitern kultur- und kognitionswissenschaftliche Ansätze die Perspektiven der jeweils anderen Disziplin? Da sowohl der Konstruktivismus (der Dimensionen materieller Körperlichkeit und Kognition ausblendet) als auch die aktuelle Hirnforschung (die Bewusstsein und subjektive Erfahrung neurophysiologisch nicht hinreichend erklären kann) das menschliche Subjekt gleichsam als Knotenpunkt und blinden Fleck ihrer Forschung positionieren, stehen Subjektkonzeptionen im Zentrum dieser Fragen. Die Neukonturierung des menschlichen Subjekts ist auch ein Effekt seiner changierenden Position in einer sich stetig wandelnden, komplexen Medienökologie. Meine Analysen fokussieren daher mediale Phänomene und serielle Verfahren der letzten Jahrzehnte (z.B. Literaturverfilmungen, Werbedesign, Computertomografie), die als Formen des Erinnerns, des »Überschreibens« und des Vergessens kanonisierter kultureller Praktiken des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts neue Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozesse vermitteln (statt primär Inhalte des kulturellen Gedächtnisses). Was aber hieße es für die Kulturwissenschaft, das Subjekt als eine Instanz wahrzunehmen, deren Hauptvermögen es ist, diese grundsätzlich fragmentarischen Erfahrungen mediatisierter Welt in Kohärenz zu überführen? Oder doch eher: in Serie zu schalten? Es geht also um die Art und Weise, in der Prozesse der (Re-)Mediation (d.h. kulturelle Praktiken, die literarische Texte in Film, Malerei, Cartoon oder Werbedesign übersetzen), aber auch die Formen individueller und kultureller Erinnerung, die sie in Gang setzen, durch Momente von Serialität geprägt sind.4 Meine (vorläufige) Antwort beinhaltet, Serialität für die Konzeptualisierung dieser grundsätzlich divergenten Phänomene von Erinnerung produktiv zu machen. Serialität, so mein Vorschlag, kann als ein Prinzip operabel werden, mit dem sowohl die Art und Weise, in der unser Gehirn (bzw. Prozesse der Kognition) funktioniert, als auch biologische und kulturelle Evolution erfasst wird. Dies ist zweifelsohne eine steile These. Gleichzeitig betrachte ich Serialität als lediglich eines in einer Reihe von möglichen Konzepten der Perspektivierung – jedoch 4 | Zum Begriff der Remediation vgl. Bolter/Grusin 1999.

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als eines, das die Koordinaten und Parameter kulturwissenschaftlicher Perspektiven substantiell verschiebt. Ich rolle mein Argument daher in einem ersten Schritt von der Erinnerungsforschung her auf, um daraufhin acht Thesen zur Serialität und zum Prinzip der Serie zu entwickeln, die ich – um die Freude an der Wiederholung richtig auszukosten – in einem dritten Teil noch einmal in Kurzform erläutere.

S ERIALITÄT UND E RINNERUNGSFORSCHUNG In den Geistes- und Sozialwissenschaften werden landläufige Vorstellungen darüber, wie Prozesse der Erinnerung ablaufen, derzeit in zweierlei Weise herausgefordert. Aktuelle Perspektiven der Kultur- und Medienwissenschaften haben – inspiriert durch die breite Forschung zur Intermedialität, aber auch durch Ansätze der Systemtheorie – auf überzeugende Weise nahegelegt, dass Medien unser eigentliches Gedächtnis sind. Oder wie Josef Wallmannsberger mit deutlichen Anleihen bei Marshall McLuhan formuliert: »The medium is the memory« (1997: 589). Erinnerungsforschung, wie sie von kultur- und medienwissenschaftlichen Ansätzen betrieben wird, beschreibt mit immer feineren Differenzierungen, auf welche Weise sich Praktiken und Verfahren medialer Vermittlung (»mediation« ebenso wie »remediation«) in unsere primär visuellen Kulturen einschreiben und unsere Wahrnehmung verändern. Wobei »schreiben« die Wirkung von visuellen Vermittlungs- und Translationstechniken nicht wirklich trifft: Obwohl unsere Kulturlandschaft mittlerweile stark visuell ausgestaltet ist, tun wir uns theoretisch immer noch schwer im Umgang mit Bildern; W. J. T. Mitchell monierte bereits 1994, dass unsere Sprache der Bildbeschreibung weiterhin durch die Begrifflichkeit der Semiotik dominiert wird. Die Kognitionswissenschaften wiederum haben in den letzten Jahrzehnten maßgeblich dazu beigetragen, dass Konzepte wie Bewusstsein und Geist »renaturalisiert«, d.h. als zentrale Momente der Biologie des Menschen verstanden werden. Wahrnehmung, Erfahrung, Handlungsfähigkeit (Agency) und Erinnerung seien zuallererst physische Prozesse, betont die Neurophysiologie und bedient sich bei ihrer Forschung Methoden, in denen Fragen medialer Vermittlung randständig, wenn nicht gar unberücksichtigt bleiben. Sogar die Neuroästhetik – ein Forschungsfeld, das versucht, Vorgänge ästhetischer Erfahrung mit den Methoden der Neurophysiologie zu fassen – ist, wie Neurobiologen durchaus eingestehen, »noch weit davon entfernt«, über Messungen der Gehirnakti-

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vität differenzieren zu können, ob wir ein Gesicht im persönlichen Kontakt oder auf einem Fernsehbildschirm wahrnehmen.5 Kurz gesagt: Erinnerungsforschung bewegt sich als zentrales Problemfeld der aktuellen Cultural Studies und der Kognitionswissenschaften methodisch in diametral entgegengesetzte Richtungen. Mehr noch: Das große Prestige, das die Naturwissenschaften im Allgemeinen und die Kognitionsforschung im Besonderen derzeit genießen, hat dazu geführt, dass die vermeintlich übereifrige und abwegige Begriffsarbeit der Kulturwissenschaften nicht nur herausgefordert und unterlaufen, sondern oft sogar in Misskredit gebracht wird. Wenn also Erinnerung in der Tat der Schlüsselbegriff einer Transformation der Wissenschaftskulturen ist, was würde es für unsere Analysen kultureller Praxis bedeuten, wenn kognitive und mediale Prozesse gleichermaßen Berücksichtigung fänden? Ist dies überhaupt machbar? Wenn ja, wie? Und was heißt dies für die Praxis und Theorie transdisziplinärer Arbeit? Grundsätzlich gilt, dass die beschriebene Methodendifferenz maßgebliche Einschränkungen und fundamentale Herausforderungen für die transdisziplinäre Erinnerungsforschung mit sich bringt – eine Forschung, die seit Beginn der 1990er Jahre zunehmend an Ansehen in der Wissenschaftspolitik und Popularität in den Medien gewonnen hat. Sobald man die vermeintlichen Schnittstellen zwischen Kultur- und Kognitionswissenschaften jedoch einer genaueren Inspektion unterzieht, ist man schnell erstaunt über den Grad der Kommunikationsschwierigkeiten und Missverständnisse, die so manchen transdisziplinären Austausch kennzeichnen. Das sollte jedoch nicht überraschen, denn die Untersuchungsobjekte der Kognitions- und Kulturwissenschaften sind so vergleichbar wie Äpfel und Birnen: Sie ähneln sich insofern, dass beide mit dem (unscharfen) Begriff der Erinnerung operieren, dabei jedoch an einer ganzen Reihe divergenter Prozesse und Verfahren arbeiten. Anders formuliert: ein klassischer Fall von Wiederholung und Differenz. Meine These ist daher, dass wir der Konzeptualisierung von Phänomenen der Erinnerung – ganz gleich, ob wir sie als Formen von (Re-)Mediaton oder als kognitive Prozesse betrachten – mit den Begriffen Serialität, »repetition with variation« und mit dem von Gertrude Stein präferierten Terminus der Insistenz näher kommen können. Stein gebührt viel Aufmerksamkeit in diesem Kontext, denn sie ist bekanntlich eine zentrale Figur, wenn es um Fragen der Erinnerung – und, weitaus wichtiger, um die Notwendigkeit des Vergessens –, aber auch um die serielle Ästhetik in Literatur und visueller Kultur geht. 1906 selbst Modell für eines der bekanntesten Portraits Picassos, hat Stein das Prinzip der Serie für ihre Pra5 | So die Antwort der Biologin Margaret Livingstone auf eine diesbezügliche Frage nach ihrem Vortrag »What Art Can Tell Us About the Brain« im Rahmen des Seminars »Cognitive Theory and the Arts«, Harvard Humanities Center, 9. Dezember 2010. Zur Neuroästhetik vgl. u.a. Zeki 1999, Cupchik 2009.

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xis des Schreibens adaptiert – ein Prinzip, das in ihrem eigenen, literarischen Portrait von Picasso aus dem Jahr 1912 dazu dienen sollte, den »Rhythmus« der Person Picassos durch einen prozessualen Stil zu evozieren, ja in einer Art neuem Realismus zu imitieren.6 Und das klang so (und in vorangehenden bzw. folgenden Passagen so ähnlich): This one was one who was working. This one was one being one having something being coming out of him. This one was one going on having something come out of him. This one was one going on working. This one was one whom some were following. This one was one who was working. (1993: 142)

Stein erläutert ihre Schreibpraxis wie folgt: I was doing what the cinema was doing, I was making a continuous succession of the statement of what that person was until I had not many things but one thing. […] I of course did not think of it in terms of the cinema, in fact I doubt whether at that time I had ever seen a cinema but, and I cannot repeat this too often any one is of one’s period and this our period was undoubtedly the period of the cinema and series production. And each of us in our own way are bound to express what the world in which we are living is doing. (1935: 176-77)

Was jedoch heißt es, Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse und ihre Vermittlung durch kulturhistorische Medien (Schrift, Fotografie, Kino usw.) über das Konzept der Serialität zu denken? Ich verstehe Serialität als eine Art Strukturprinzip, wobei der Begriff Struktur eher aus Verlegenheit zum Einsatz kommt, setzt er doch ein Zentrum voraus, einen Ort, der seriell-rekursiven Formationen nicht gegeben ist. Serialität ist vielmehr ein Begriff, der sich dazu eignet, Beziehungen oder Relationen, die oftmals tendenziell räumlich gedacht werden, zu verzeitlichen.7 Man könnte auch sagen, dass ich Serialität als eine Perspektive betrachte, mit der sich Beziehungen von Dingen und Subjekten auf ungewohnte Weise beschreiben lassen. Dabei ist auch der Begriff Beziehung nicht wirklich treffend, weil die Art der Konstellation in seriellen Formationen keiner Beziehung im Sinne einer Relation, eines Kontakts gleicht, sondern einer formalen Ähnlichkeit entspricht. Mehr noch: Wenn wir Formen und Phänomenen der Serialität die Bedeutung geben, die ihnen – allein schon aufgrund ihrer 6 | Zur »literarischen Erfindung der Serialität« bei Stein siehe auch Haselstein 2010. 7 | Ich »insistiere« hier auf der »Tendenz«, denn Raum und Zeit existieren bekanntermaßen nicht getrennt voneinander, was schon in Lessings Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) deutlich wird – einem Text, der Raum und Zeit als Leitdifferenz von visueller Kunst und epischer Dichtung, d.h. narrativen Texten, etabliert und gleichzeitig zur Disposition stellt.

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Präsenz, wenn nicht gar Dominanz in unseren Alltagskulturen – gebührt, wird vielleicht leichter verständlich, warum bestimmte Medienformate, darunter besonders die Fernsehserie, so erfolgreich waren bzw. sind; warum Erinnern und Vergessen nicht voneinander getrennt werden können; und warum Prozesse der Erinnerung eher unseren Sinn für Zukünftiges schärfen als Vergangenem Respekt zollen.

A CHT THESEN ZUM K ONZEP T DER S ERIALITÄT UND ZUM P RINZIP DER S ERIE These 1. »Seriality as We Know It«: Dominante Kulturpraxis, untertheoretisiertes Konzept Im Kontext des vorliegenden Bandes könnte man es sich eigentlich sparen, darauf hinzuweisen, wie zentral serielle Verfahren für die aktuelle kulturelle Praxis sind. Angesichts des nachhaltigen Dünkels gegenüber dem Prinzip der Serie kann es jedoch nicht schaden, dies noch einmal zu wiederholen und in Erinnerung zu rufen. Serialität ist ein zentrales Moment aller Technologien der Reproduktion von der Druckerpresse bis zur digitalen Kultur, ein grundlegendes Verfahren der Literatur und visuellen Kultur – Eco spricht, wie erwähnt, von »Wiederholungskunst«, Christine Blättler von der »Kunst der Serie« –, und als Mittel der Ironie, Parodie und Mimikry eine zentrale Dimension von Rhetorik.8 Damit einher geht, dass serielle Reproduktion Herstellungsprozesse absorbiert und das Medium über den Gebrauchswert stellt, was sich heutzutage u.a. in dem Ausmaß an Kreativität manifestiert, das für die zunehmende Spezialisierung und Kommerzialisierung digitaler Medien aufgewandt wird.9 Gleichzeitig gilt jedoch, dass sämtliche Formen von Serialität noch vergleichsweise untertheoretisiert geblieben sind – wenn man von der Bedeutung vereinzelter Kommentare in den Schriften Steins, den Arbeiten Walter Benjamins, Jean-Paul Sartres und Umberto Ecos oder den Debatten um Facetten von Mimikry bei Luce Irigaray, Homi Bhabha und Judith Butler einmal absieht. Aufgrund der Tatsache, dass die ästhetische Praxis serieller Verfahren – wie z.B. des Formats der Fernsehserie, des Comics und der Graphic Novel – mehr und mehr in den Vordergrund wissenschaftlicher Untersuchungen rückt und dabei auch als Kunst geadelt, appropriiert oder kanonisiert werden kann, proliferieren die Termini Serie und Serialität in gegenwärtigen Forschungsarbeiten. Dabei besteht einerseits die Gefahr, dass die Begriffe sich verausgaben und verbrauchen, bevor wir sie konzeptuell zu fassen bekommen. Andererseits birgt 8 | Vgl. Eco 1986, Blättler 2010. 9 | Zur Priorität des Mediums vgl. Kurthen 1998: 464.

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die intensive Auseinandersetzung mit Formen und Formaten der Serie eine Chance, aus derartigen Analysen weitere Systematisierungen sowie klare Differenzierungen – vor allem der unterschiedlichen Ebenen, auf denen vom Seriellen gesprochen wird – abzuleiten.

These 2. Serialität als Konzept der »Indifferenz« Besondere Bedeutung für die Theoretisierung von Serialität haben meiner Ansicht nach die Überlegungen von Deleuze, der Serialität als eine Kategorie von »Wiederholung und Differenz« gefasst hat.10 Deleuze versteht Wiederholung als eine Manifestation von Prozessen und Phänomenen, die sich nicht generalisieren oder subsumieren lassen, sondern durch ihre Insistenz das Moment einer irreduziblen Eigenheit behaupten. Damit wird Serialität zu einem Konzept, das Beziehungen beschreibbar macht, die nicht entweder auf Identität oder auf Differenz beruhen. In der Tat scheint Wiederholung eher verbunden mit einem Zuwachs an Differenzierung, was sich u.a. an der Proliferation unterschiedlicher Serienformate belegen lässt.11 Eine Deleuzesche Auslegung von Serialität und Serie umschifft daher das Verständnis der Begriffe Identität und Differenz, das die Kulturwissenschaften seit geraumer Zeit beherrscht und dabei etwas arretiert, was sich eigentlich als Prozess gestaltet. Somit kommt Serialität eine zentrale Bedeutung zu, wenn es darum geht, das Verhältnis von Subjekten und Dingen auf in-differente oder gleichgültig-selbstlose Weise zu bestimmen und auf diese Weise einen dominanten Modus der Forschung zu durchbrechen, der mir zu sehr durch eine Agenda der Identity Politics und Identity Practice dominiert scheint. Eine solche Deutung Deleuzes geht einher mit der Problematisierung des Begriffs der Repräsentation und betont stattdessen die Prozessualität, das Werden von Signifikanz, das »becoming«.

These 3. Serialität als Schlüsselbegriff eines grundlegenden Perspektiv wechsels Auch wenn sich Ausdifferenzierungsprozesse der kulturellen Praxis derzeit beschleunigen und auch wenn Diskurse und Formate der Serialität deshalb in den 10 | Vgl. Deleuze 1968. 11 | Luhmann (1996: 93) verweist in diesem Zusammenhang auf die Werbung und unterstreicht, dass die (Kosten-)Intensität, mit der Autos beworben werden – der Autor nennt für das Jahr 1995 die Zahl 2 Milliarden DM pro Jahr, d.h. DM 500 pro verkauftem Auto –, in keinem Verhältnis zum Gewinn stünde, sondern einer scheinbar notwendigen Visibilität des Produkts diene, die wiederum eine extreme Differenzierung zur Folge habe. Zur Proliferation serieller Formen vgl. auch die im vorliegenden Band in der Sektion »Evolution« versammelten Beiträge.

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Vordergrund kulturwissenschaftlicher Debatten rücken, ist es wichtig festzuhalten, dass sich damit keine grundlegende Veränderung kultureller Prozesse, sondern vielmehr – auch als Folge der Postmoderne – ein Perspektivwechsel vollzieht: War unser Augenmerk bislang auf die Ästhetik eines modernistischen »make it new« gerichtet, das (insbesondere in US-amerikanischen Kontexten) eine Serie vermeintlicher Neuanfänge fortsetzt, stehen heute Strategien der technischen Reproduktion wie Mediation, Remediation und Appropriation im Zentrum kulturwissenschaftlicher Analysen. Und dies, so meine These, hat maßgeblich mit der Ästhetik, der Funktionsweise und dem Erfolg neuer und neuester Medientechnologien zu tun – Medientechnologien, die durch ihre breite Verwendung die Strukturen unterschiedlicher Formen von Wissensproduktion mitbestimmen und dabei die Vermittlung kultur- und naturwissenschaftlicher Erkenntnis, aber auch das Wissen, das unsere Alltagskulturen transportieren, zueinander in Analogie setzen. In diesem Zusammenhang kann Deleuzes Verständnis von Wiederholung und Differenz meines Erachtens als Grundlage für ein erweitertes Konzept von Serialität dienen, das auch die Bedeutung serieller Prozesse für die Erinnerungsforschung – sowohl in den Kultur- als auch in den Kognitionswissenschaften – hervorhebt. Dabei ist unbenommen, dass Serialität nur die Art unserer Beschreibung von Prozessen der Erinnerung, nicht aber diese Prozesse selbst fassen kann.

Thesen 4 und 5. Erinnerung als serielles Verfahren oder: »Remembering For ward« Der Begriff der Serialität hat für unser Verständnis von Gedächtnis und Erinnerung besondere Relevanz. Denn es gehört zu den Einsichten der Kognitionswissenschaften, dass, erstens, unser Gedächtnis sozusagen seriell arbeitet; dass, zweitens, Erinnern des Vergessens bedarf; und dass, drittens, Prozesse des Erinnerns vornehmlich der (Herausforderung von) Gegenwart und Zukunft und nicht so sehr dem (Bewahren des) Vergangenen dienen.12 Anders formuliert: Wir erinnern nicht rückwärtsgewandt, sondern mit dem Blick nach vorne. Entsprechend versteht die Kognitionsforschung Erinnerung nicht mehr als eine Art des Speicherns und Abrufens von Lernprozessen und Informationen, sondern als eine Form des ständigen Überschreibens, Updatens, Vergessens und Wiedererinnerns, als Moment der »re-cognition« in neuen Kontexten, als »rep12 | Nach Luhmann ist das Vergessen sogar das primäre Vermögen unseres Gedächtnisses, das »ein ständig mitlaufendes, alle Beobachtungen je aktuell begleitendes Diskriminieren von Vergessen und Erinnern [vollzieht]. Die Hauptleistung liegt dabei im Vergessen, und nur ausnahmsweise wird etwas erinnert.« (1996: 180) Vgl. auch Esposito 2002.

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etition with variation«, als fortgesetzt-prozessuales Umformen von bereits Bekanntem, das nicht primär Vergangenes, sondern die Zukunft ins Visier nimmt. Dabei gibt es einen grundsätzlichen Widerspruch. Einerseits korrespondiert die Einsicht, dass Erinnerungsprozesse sich seriell vollziehen und fortschreiben, mit der Trope des Computers, die – bedingt durch die Dominanz des Information Processing Approach – mehr als 50 Jahre als Meistermetapher der Kommunikations- und Informationssysteme, der Entwicklung lebender Organismen und der Arbeit des menschlichen Geists ihren Dienst geleistet hat. Seit den 1990er Jahren ist dieses Paradigma jedoch dem Konnektionismus (auch Neural Networks Approach oder Parallel Distributed Processing Approach) gewichen, der das Modell seriell operierender Gedächtnisstrukturen durch die Vorstellung eines »simultaneous processing« (Mountcastle 1998: 31) ersetzt und einhergeht mit Begriffen wie Synchronizität, Konnektivität und Reversibilität. »Brains and computers«, so lässt sich bei Vernon Mountcastle lesen, »differ in many ways, particularly in architecture, in the serial-processing mode in computers versus simultaneous processing in brains, and in the properties of their constituent elements: neurons can take on any one of a series of values over a continuum, transistors in digital circuits only a 0 or 1« (1998: 29-30).13 Oder wie Francisco J. Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch es bereits 1991 formulierten: »Connectionist theories provide, with amazing grace, working models for a number of interesting cognitive capacities, such as rapid recognition, associative memory, and categorical generalization« (92). Nicht länger verstanden als ein Abrufen vormals gespeicherter Daten, wird Gedächtnisarbeit zu einem Akt der Konstruktion und Rekontextualisierung, im Zuge dessen das, was wir erinnern, in Beziehung tritt zu dem, sich einfügt in das und rekonstruiert wird durch das, was wir bereits kennen, über Verbindungen oder Synapsen, die in unserem Gehirn bereits existieren und die durch jede kognitive Leistung rekonfiguriert werden. Wenn die Neurowissenschaft derzeit den Konnektionismus und das Bild des Netzes gegenüber seriellen Modellen stark macht, so manifestiert sich dabei auch die Erkenntnis, dass in kognitiven Prozessen immer mehrere Gehirnareale gleichzeitig involviert sind. Mit dem Verwerfen des klassischen Paradigmas, 13 | Das »Ausmaß« der Verbindungen zwischen den Strukturen des Gehirns, insbesondere denen zwischen einzelnen Bereichen der Großhirnrinde, gilt seit den 1990er Jahren als »new fact about large-scale brain anatomy« (Mountcastle 1998: 12). Zur Trope des Netzwerks siehe Schäfer-Wünsche 2010. Der Siegeszug des Netzwerk-Begriffs wird auch dadurch deutlich, dass das Netzwerk in der Evolutionsbiologie das Bild des Stammbaums (»family tree«) abzulösen beginnt. Anders als der Baum, der den Evolutionsprozess zu einem gewissen Grad als linear zeichnet, erlaubt das Netz, die Komplexität der evolutionären Herausbildung von Verwandtschaftsbeziehungen adäquater abzubilden.

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das Gehirne als »serielle Rechenmaschinen« sieht (Engel/König 1998: 157), und der Ablösung der Trope des Computers durch die des Netzes wird offenbar auch das Konzept der Serialität als Modell von Gedächtnisprozessen in Frage gestellt. So stellen Computertechnologien zwar nachhaltig dominante Figuren innerhalb unterschiedlichster Erinnerungsdiskurse bereit, doch bereits die Transmutation der dominanten Metaphern, die das Bewusstsein oder den Geist (»mind«) umschreiben und sich von »mind as computer« über »mind as neural network« zu »mind as brain« bewegt haben, ist selbst als serieller Prozess zu fassen. Das Prinzip der Serie, das hier operiert, unterstreicht, dass die Dislozierung der Computermetapher durch die Trope des Netzwerks keiner – oder nicht allein einer – wissenschaftlichen Kausalität und Logik, sondern immer auch der Serialität jeweils dominanter Technologien folgt.

These 6. Serialität versus Netzwerk: Kontingenz und Rekursion versus Ethik der Inklusion Es ist gleichzeitig aufschlussreich, die Dimensionen zu identifizieren, in denen sich das Prinzip der Serie (im Sinne einer »Kette, Reihe, Folge«, die nicht linear, sondern rekursiv operiert) von der derzeit privilegierten Kategorie des Netzwerks unterscheidet.14 Beiden gemein ist die Absenz eines Zentrums. Während das Netz ein Territorium vermisst und dabei zum Teil entlegene Punkte im Raum miteinander verbindet, vollzieht die Serie eine rekursive (im Gegensatz zu: progressive) zeitliche Ausdehnung, die sich »epische« Formate wie die TVSerie zunutze machen und der Momente des Zurücklassens, Überwindens oder Vergessens eingeschrieben sind – diese Momente sind sogar grundlegend notwendig für die Serie als Affirmation von Eigenheit und Differenz (wenngleich alle hier gewählten Begriffe ein wertendes Moment transportieren, das der Serialität fremd ist). Während das Netz eine Ethik der Inklusion vermittelt (»everything is connected«), befördert die Serie ungerichtete Evolutionsprozesse, die plötzlichem Wandel unterworfen sein können und die ohne Wertmaßstäbe und Werturteile auskommen, wenngleich Offenheit und Wertfreiheit heutzutage selbst als positive Werte gelten. Als eine Form der Mimikry und des »echo-making« prägt Serialität trotz aller sozialen Indifferenz (Gleichgültigkeit), die ihr anhaftet, intersubjektive Prozesse. Zahlreiche aktuelle Studien der experimentalen Sozialpsychologie etwa betrachten menschliche Mimikry – eine oft unbewusste Tendenz von Menschen, das Verhalten ihres Gegenübers und ihrer Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen nachzuahmen – als fundamentale Kultur-

14 | Zur Rekursivität von Serien siehe die Einleitung des vorliegenden Bandes.

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technik sozialen Zusammenhalts und als eine Strategie, (potentielle) Gegner für sich einzunehmen bzw. zu manipulieren.15

These 7. Serialität als zentraler Operationsmechanismus der Massenmedien Von noch grundsätzlicherer Bedeutung für die Frage nach Erinnerung als einem Prozess der Kognition und (Re-)Mediation ist die Tatsache, dass Serialität ein zentraler Mechanismus der Massenmedien und konstitutiv für deren Funktionieren ist. Selbst wenn man sich systemtheoretischen Perspektiven nicht ganz verschreiben möchte, so kann man doch zustimmen, dass Formen von Erinnerung ohne die weite Verbreitung und seriellen Operationen der Massenmedien heutzutage nicht denkbar sind und dass umgekehrt diese Operationen auch für den Erhalt ihres Systems und ihrer Mechanismen Verantwortung tragen. Insbesondere Nachrichtenformate sind auf die kontinuierliche Transformation von Information in Nicht-Information angewiesen, um auf diese Weise stets aufs Neue Effekte von Novität und Irritation zu erzeugen: »Gedächtnis ist dabei nicht zu verstehen als Speicher für vergangene Zustände oder Ereignisse«, schreibt Luhmann. »Damit können die Medien und auch andere kognitive Systeme sich nicht belasten. […] Gedächtnis konstruiert Wiederholungen, also Redundanz, mit fortgesetzter Offenheit für Aktuelles, mit ständig erneuerter Irritabilität.« (1996: 75-76) Luhmann gebraucht den Begriff der Serialität nicht, jedoch scheint er seiner Theorie der Massenmedien implizit, deren unermüdlich antriebsstarke Ausgestaltung der Gesellschaft mit der Arbeit verglichen wird, die unser Gehirn alltäglich leistet. Wenn Luhmann anmerkt, die Medien richteten die Gesellschaft »endogen unruhig ein […] wie ein Gehirn« (ebd. 175), bringt er somit eine Analogie ins Spiel, die nicht notwendigerweise als ein Plädoyer für die Similarität zweier selbstreproduzierender Systeme ausgelegt werden muss. Die Anwendung des Begriffes der Selbstreproduktion sowohl auf Technologien als auch auf Körper schaltet die Operationsmechanismen von Gehirnen und Medien nicht zwingend gleich. Vielmehr legt dieser Abgleich nahe, dass wir auch die Beziehung von Kultur und Kognition, Medien und Erinnerung über die Begriffe Wiederholung und Differenz fassen und in Serie schalten können.

These 8. Serialität als Prinzip von Evolution und Emergenz Gestalten wir den konzeptionellen Brückenschlag zwischen Medien und Gehirn bzw. Geist über das Prinzip der Serie – d.h. setzen wir unser kulturwis15 | Vgl. u.a. Lakin et al. 2003, van Baaren et al. 2009, Chartrand/van Baaren 2009, Metzger 2009.

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senschaftliches Verständnis von Medien (als Formen der Erinnerung) und die kognitionswissenschaftliche Interpretation spezifischer Aktivitäten unseres Gehirns (als Formen von Gedächtnis) über den Begriff der Serie ins Verhältnis –, so tritt das Konzept Serialität erneut in anderer Gestalt, nämlich als ein Prinzip der Evolution und ihrer Theorie in den Vordergrund. Bekanntermaßen haben Darwins Einsichten in den evolutionären Prozess, dem lebende Organismen unterworfen sind, unser Subjektverständnis grundlegend verändert. Interessant ist, dass Darwin seine Theorien, so das Argument Philipp Sarasins, zu genau jener Zeit entwickelte, in der an verschiedenen Orten der Welt parallel mit allerlei Kunstgriffen und fotografischen Spielereien an den frühen Technologien des Mediums Film gearbeitet und herumexperimentiert wurde. Zwischen beiden Revolutionen besteht eine Verbindung: Anders nämlich als viele seiner Kollegen, die sich vorrangig mit der biologischen Klassifizierung von Organismen beschäftigten, betrachtete Darwin das Konzept der Spezies als fragwürdig, da jede Art immer auch teilhat an einem anhaltenden und zu einem gewissen Grad kontingenten Entwicklungsprozess, so dass ihre Eigenheit ein temporäres, transitorisches Phänomen ist.16 In der Tat bestand Darwins Genie darin, in den individuellen Lebensformen, die ihm im Süden Amerikas begegneten, eine Entwicklung oder besser: eine Bewegung zu erkennen. Sarasin spricht in diesem Kontext gar von einer »halluzinatorischen Erfahrung« und regt an, dass die Beobachtungen des Biologen mit der Erfindung optischer Techniken, die ihre Wirkung durch eine »Ausbeutung« des Nachbildeffekts entfalten, und mit der Emergenz von bewegten Bilder koinzidieren (2009: 53). Indem Darwin den Fokus auf das »große (bewegte) Bild« richtete, konnte er erkennen, dass der Homo sapiens keine von Gotteshand als »Mensch« erschaffene Kreatur war, sondern einen langen Entwicklungsprozess innerhalb des Tierreichs durchlaufen hatte. Die Synchronizität von Mediengeschichte und Evolutionstheorie erlaubt uns, die Beziehung zwischen (kultureller) Evolution und unserem Verständnis des menschlichen Subjekts als einem seriellen Phänomen (oder transitorischen Intersubjekt) zu überdenken und gleichzeitig die Bedeutung einer Temporalität herauszustellen, die nicht linear und progressiv, sondern als beständige Rekursion verläuft.

»N OW ACTIVELY REPE AT AT ALL« ODER : J OY IN R EPE TITION »Now actively repeat at all, now actively repeat at all, now actively repeat at all«, insistierte Gertrude Stein in ihrem Gedicht »If I Told Him: A Completed Portrait of Picasso« (1923), einer Art Update ihres früheren, weiter oben zitierten Portraits des Künstlers (1993: 464). Ganz im Sinn einer aktiven Wiederholung 16 | Vgl. Sarasin 2009: 36-50.

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– mit Variation, versteht sich – insistiere ich mit der folgenden Kurzfassung meiner Thesen noch einmal auf der Bedeutung des Konzepts der Serialität und des Prinzips der Serie für unser Verständnis von Prozessen der Erinnerung, (Re-)Mediation und Intersubjektivität. 1. Mehr Praxis als Theorie: Serialität ist ein Konzept, das zunehmend an Bedeutung gewinnt, aber untertheoretisiert geblieben ist. Weitere Systematisierungen und Theoriebildungen sind erforderlich und lassen sich aus der Analyse von Ästhetik und Praxis serieller Formen ableiten. 2. Serialität als Konzept von Indifferenz: Das Konzept der Serialität erlaubt Beziehungen (im Sinne von »relation« und »kinship«) zu fassen, die nicht entweder auf Identität oder auf Differenz beruhen, und problematisiert dabei auch den in den Kultur- wie Kognitionswissenschaften umkämpften Begriff der Repräsentation. Es umreißt eine Gegenposition zu dominanten Perspektiven der Kulturwissenschaften und stellt Ansätze in Frage, die (wertend) festschreiben, was sich eigentlich als (gleichgültiger) Prozess und als Erfahrung gestaltet. 3. Serialität als Schlüsselbegriff eines grundlegenden Perspektivwechsels: Serialität ist kein reines Gegenwartsphänomen; ihre zunehmende Relevanz in der kulturund medienwissenschaftlichen Forschung markiert vielmehr einen fundamentalen Perspektivwechsel, der nicht nur eine Revision der Moderne und ihrer paradigmatischen Ästhetiken, Formen und Funktionen, sondern eine Herausforderung auch für unser Denken in Epochen zur Folge hat. 4. Erinnerung als serielles Verfahren: Das Konzept der Serialität eignet sich, Prozesse von Erinnern und Vergessen in der kulturellen Praxis und in Kognitionsprozessen zu umschreiben. In beiden Kontexten findet Erinnern als ein Schreiben und Aktualisieren statt – sei es durch Medienwechsel, z.B. in der Romanverfilmung, oder durch Auflösen und Neubildung von Synapsen – und lässt sich somit als serielles Verfahren (vs. »storage and retrieval«) fassen. 5. »Remembering Forward«: Das Konzept der Serialität trägt damit auch der Tatsache Rechnung, dass Erinnerung nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft im Blick hat. Erinnerung ist nicht die Inventarisierung vergangener Erfahrungen, sondern eine Art, Informationen zu verarbeiten, die dem Handeln und somit der Voraussicht dient. 6. Serialität versus Netzwerk: Kontingenz und Rekursion versus Ethik der Inklusion. Die Indifferenz der Serie steht in Kontrast zur Ethik des Netzwerks: Mit ihrer Betonung alles Prozesshaften privilegiert sie Zeit- über Raumkonstellationen, Rekursivität über Konnektivität und stellt der starken Metapher des Netzwerks

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die metonymische Dynamik von Echo, Mimikry und Anpassung gegenüber. Auch Sozialität und Kommunikation sind im Prinzip der Serie nicht mehr primär ethisch, sondern operativ und durch eine ungerichtete und bisweilen sprunghafte Bewegung motiviert. 7. Serialität als zentraler Operationsmechanismus der Massenmedien bildet einen konzeptionellen Rahmen, in dem auch naturwissenschaftliche Projekte, ihre Methoden und ihre Kommunikationsstrategien zu verorten sind. Dies gilt insbesondere für die Kognitionswissenschaften, die auf eine breite, populärwissenschaftliche Rezeption ihrer Forschung zielen und in der Vermittlung auf Wiederholung, Redundanz und serielle Novität setzen. 8. Serialität als Prinzip von Evolution und Emergenz: Das Prinzip der Serie ist das Prinzip der Evolution und ihrer Theorie. Ebenso wie Darwin den Artenbegriff für problematisch hielt, weil er nur den entwicklungsgeschichtlich kurzen Moment eines temporären, transitorischen Prozesses, einer Bewegung beleuchtet – eine Skepsis, die das gültige Menschenbild grundsätzlich veränderte –, impliziert das Phänomen der Serie ein gewandeltes Subjektverständnis und macht das Subjekt als Intersubjekt – heißt: als serielles Phänomen – fassbar. Postscriptum: Aus den Thesen 1-8 folgt: Serialitätsforschung hat Zukunft. Postpostscriptum: to be continued …

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Autorinnen und Autoren

Regina Bendix, Professorin für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen; Sprecherin der DFG-Forschergruppe »Die Konstituierung von Cultural Property«; Leiterin eines Teilprojektes in der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographien: Backstage Domains (1989), In Search of Authenticity (1997). Forschungsschwerpunkte: Kultur zwischen Wirtschaft und Politik; kulturanthropologische Kommunikations- und Erzählforschung; Wissens- und Wissenschaftsgeschichte. Shane Denson, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leibniz Universität Hannover; Post-Doc in der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Publikationen zum Kino der 1910er Jahre, zu Frankenstein- und Tarzan-Filmen, Comics, Televangelism und Technikphilosophie. Forschungsschwerpunkte: amerikanische Populärkultur; Film; digitale Spiele; phänomenologische und nicht-anthropozentrische Medientheorien. Heinrich Detering, Professor für Neuere deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen; 2009 Leibniz-Preis der DFG; seit 2011 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Monographien u.a.: »Juden, Frauen und Litteraten«: Thomas Mann (2005), Bertolt Brecht und Laotse (2008), Bob Dylan (³2009), Der Antichrist und der Gekreuzigte: Nietzsches letzte Texte (³2010), Hans Christian Andersen (2011); Gedichte, zuletzt Wrist (²2009). Zurzeit Arbeit an Studien zu Thomas Mann und zu Elvis Presley. Lorenz Engell, Professor für Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar; Co-Direktor des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM Weimar – Käte Hamburger Kolleg). Monographien u.a.: Playtime: Münchener Film-Vorlesungen (2010), Fernsehtheorie zur Einführung (2012). Forschungsschwerpunkte: die Theorie des Szenenbilds als

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»handelndes Feld«; Geschichte und Theorie kinematographischer Motive; Philosophie der Serialität. Oliver Fahle, Professor für Filmwissenschaft mit dem Schwerpunkt Filmtheorie und Filmästhetik an der Ruhr-Universität Bochum. Monographien: Jenseits des Bildes: Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre (2000), Bilder der Zweiten Moderne (2005). Forschungsschwerpunkte: Film-, Fernseh- und Bildtheorie; Film-, Fernseh- und Bildästhetik. Brigitte Frizzoni, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Geschäftsführerin am Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich. Monographie: Verhandlungen mit Mordsfrauen: Geschlechterpositionierungen im »Frauenkrimi« (2009); Mit-Hg.: Unterhaltung: Konzepte – Formen – Wirkungen (2006). Forschungsschwerpunkte: Populäre Lesestoffe; Filme und Fernsehserien. Ursula Ganz-Blättler, Lehrbeauftragte für Soziologie der Kommunikation und Unterhaltung an der Universität St. Gallen; Dokumentarfilmerin. Monographien: Andacht und Abenteuer: Berichte europäischer Jerusalem- und SantiagoPilger, 1320-1520 (³2000); SF DRS: Werden und Wandel einer Institution (1998), »Signs of Time: Cumulative Narrative in Broadcast Network Television« (2008, Typoscript). Forschungsschwerpunkte: nachhaltige Erzählungen in der populären Kultur; Kultphänomene der Moderne; audiovisuelle und internetbasierte Erzählnetzwerke. Christine Hämmerling, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Georg-August-Universität Göttingen; Doktorandin in der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographie: »Today is a Holiday«: Freizeitbilder in der Fernsehwerbung (2012). Forschungsschwerpunkte: visuelle Anthropologie; Konsum- und Werbeforschung; Minderheiten in Europa. Knut Hickethier, Professor (em.) für Medienwissenschaft an der Universität Hamburg. Monographien: Geschichte des deutschen Fernsehens (1998), Film- und Fernsehanalyse (42007); Einführung in die Medienwissenschaft (²2010); Mit-Hg.: Filmgenres: Kriminalfilm (2006), Die schönen und die nützlichen Künste: Literatur, Technik und Medien seit der Aufklärung (2007). Forschungsschwerpunkte: Medienanalyse; Fernsehtheorie und Fernsehgeschichte; Filmgeschichte und Filmtheorie. Christian Hißnauer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen; Post-Doc in der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographie: Fernseh-

A UTORINNEN UND A UTOREN

dokumentarismus: Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen (2011). Forschungsschwerpunkte: Fernsehgeschichte; Theorie, Geschichte und Ästhetik des Fernsehdokumentarismus. Stephanie Hoppeler, Assistentin und Dozentin am Institut für Englische Sprachen und Literaturen an der Universität Bern; Doktorandin im SNF-Projekt »Seriality and Intermediality in Graphic Novels«. Forschungsschwerpunkte: Serialität in Comic Books und Graphic Novels; Fanpraktiken; Intermedialität; Gender Studies; amerikanischer Modernismus und Postmodernismus. Hans-Otto Hügel, Professor (em.) für Populäre Kultur an der Stiftung Universität Hildesheim. Monographien u.a.: Untersuchungsrichter, Diebsfänger, Detektive: Theorie und Geschichte der deutschen Detektiverzählung im 19. Jahrhundert (1978), Lob des Mainstreams (2007); Hg.: Handbuch Populäre Kultur (2003). Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie von Unterhaltung und populärer Kultur; Literatur-Ausstellungen. Andreas Jahn-Sudmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Medienwissenschaft im Englischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen; PostDoc in der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographien: Dogma 95: Die Abkehr vom Zwang des Möglichen (2001); Der Widerspenstigen Zähmung? Zur Politik der Repräsentation im gegenwärtigen US-amerikanischen Independent-Film (2006). Forschungsschwerpunkte: Medientheorie und -geschichte; Medienästhetik; Fernsehwissenschaft; Game Studies; Serienforschung. Frank Kelleter, Professor für Nordamerikastudien an der Georg-August-Universität Göttingen; Sprecher der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität« und Leiter zweier Teilprojekte. Monographien: Die Moderne und der Tod (1997), Con/Tradition (2000), Amerikanische Aufklärung (2002). Forschungsschwerpunkte: amerikanische Medien und Populärkultur; amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte (insb. 17./18. sowie 20./21. Jh.); religiöse Kommunikation; Kultur- und Wissenschaftstheorien. Thomas Klein, Leiter des DFG-Projekts »Western Global: Interkulturelle Transformationen des amerikanischen Genres par excellence« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Mitglied des DFG-Forschungsnetzwerks »Erfahrungsraum Kino«. Monographie: Ernst und Spiel: Grenzgänge zwischen Bühne und Leben im Film (2004); Mit-Hg.: Crossing Frontiers: Intercultural Perspectives on the Western (2012). Forschungsschwerpunkte: Serialität; Genres (interkulturell-transmedial); die offene Form in den Medien; Schauspielen/Darstellen im digitalen Zeitalter.

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Kaspar Maase, Professor am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen; Leiter von zwei Teilprojekten in der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographien u.a.: Was macht Populärkultur politisch? (2010), Das Recht der Gewöhnlichkeit (2011), Die Kinder der Massenkultur (2012). Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Populärkultur; Jugendmedienschutz; Ästhetisierung des Alltags. Ruth Mayer, Professorin für American Studies an der Leibniz Universität Hannover; Leiterin eines Teilprojektes in der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographien: Selbsterkenntnis, Körperfühlen (1997), Artificial Africas (2002), Diaspora (2005); Mit-Hg.: Chinatowns in a Transnational World. Forschungsschwerpunkte: amerikanische Medien und Populärkultur; Kultur- und Wissenschaftstheorien; chinesisch-amerikanischer Kulturkontakt; Globalisierungs- und Diasporaforschung. Jason Mittell, Professor für American Studies und Film & Media Culture am Middlebury College, Vermont; Fellow am Lichtenberg-Kolleg Göttingen für die DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographien: Genre and Television: From Cop Shows to Cartoons in American Culture (2004), Television and American Culture (2009), Complex Television (in Vorbereitung). Forschungsschwerpunkte: amerikanische Fernsehgeschichte; Narratologie; Animationsfilm; neue Medien und Digital Humanities. Sophie Müller, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen; Doktorandin in der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Forschungsschwerpunkte: Erinnerungskultur; Buch- und Bibliotheksgeschichte des 19. und 20. Jh.; Fachgeschichte der »Volkskunde«; Kulturtheorien. Mirjam Nast, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen; Doktorandin in der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Forschungsschwerpunkte: Rezeptions- und Fanforschung; Serienforschung; populäre Lesestoffe; Theorien der Autorschaft und Autorenpraktiken in der Populärliteratur; Genretheorie. Gabriele Rippl, Professorin für Literaturen in englischer Sprache an der Universität Bern; Leiterin des SNF-Projektes »Seriality and Intermediality in Graphic Novels«. Monographien: Lebenstexte: Literarische Selbststilisierung englischer Frauen in der frühen Neuzeit (1998), Beschreibungs-Kunst: Zur intermedialen Poetik angloamerikanischer Ikontexte 1880-2000 (2005). Forschungsschwerpunkte: an-

A UTORINNEN UND A UTOREN

gloamerikanische Literatur des 17. sowie 19./20. Jh.; (Inter-)Medialitätstheorien; historische Anthropologie der Medien; Ekphrasis; Literatur- und Kulturtheorie. Stefan Scherer, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie; Fellow in der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographien: Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne (1993), Witzige Spielgemälde: Tieck und das Drama der Romantik (2003), Einführung in die Dramen-Analyse (2010). Forschungsschwerpunkte: Mediensozialgeschichte der literarischen Form; Gattungstheorie; Dramatologie; Literatur- und Kulturzeitschriften; »Synthetische Moderne« (1925-1955). Sabine Sielke, Professorin für Literatur und Kultur Nordamerikas und Leiterin des Nordamerikastudienprogramm, des German-Canadian Centre und des Forum Frauen- und Geschlechterstudien an der Universität Bonn. Monographien: Reading Rape (2002), Fashioning the Female Subject (1997); zwölf (Mit-)Herausgeberschaften. Forschungsschwerpunkte: Lyrik und Poetik; Moderne und Postmoderne; Literatur- und Kulturtheorie; Gender und African American Studies; Kunst und Populärkultur; Schnittstellen von Kultur- und Naturwissenschaft. Daniel Stein, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Nordamerikastudien, Georg-August-Universität Göttingen; Post-Doc in der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographie: Music Is My Life: Louis Armstrong, Autobiography, and American Jazz (2012); Mit-Hg. u.a.: Comics: Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums (2009). Forschungsschwerpunkte: amerikanische Medien und Populärkultur; amerikanische Gegenwartsliteratur; afroamerikanische Literatur und Kultur; Autobiographie; Comics. Claudia Stockinger, Professorin für Neuere deutsche Literatur und Mediengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen; Leiterin eines Teilprojektes in der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Monographien: Das dramatische Werk Friedrich de la Motte Fouqués (2000), Das 19. Jahrhundert: Zeitalter des Realismus (2010). Forschungsschwerpunkte: deutsche Medien und Populärkultur; deutsche Literatur- und Kulturgeschichte (insb. 19.-21. Jh.); Literatur und Religion; Intertextualitätsforschung; Theorien der Kanonbildung und Autorschaft; Polemiologie.

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Kultur- und Medientheorie Sabine Fabo, Melanie Kurz (Hg.) Vielen Dank für Ihren Einkauf Konsumkultur aus Sicht von Design, Kunst und Medien November 2012, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2170-9

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien November 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung September 2012, ca. 170 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0

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Kultur- und Medientheorie Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Oktober 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Ramón Reichert Die Macht der Vielen Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2127-3

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Kultur- und Medientheorie Thomas Brandstetter, Thomas Hübel, Anton Tantner (Hg.) Vor Google Eine Mediengeschichte der Suchmaschine im analogen Zeitalter November 2012, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1875-4

Uta Daur (Hg.) Authentizität und Wiederholung Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes September 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1924-9

Özkan Ezli, Andreas Langenohl, Valentin Rauer, Claudia Marion Voigtmann (Hg.) Die Integrationsdebatte zwischen Assimilation und Diversität Grenzziehungen in Theorie, Kunst und Gesellschaft

Markus Leibenath, Stefan Heiland, Heiderose Kilper, Sabine Tzschaschel (Hg.) Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften September 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1994-2

Claudia Mareis, Matthias Held, Gesche Joost (Hg.) Wer gestaltet die Gestaltung? Praxis, Theorie und Geschichte des partizipatorischen Designs Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2038-2

Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.) Raum Wissen Medien Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs

Dezember 2012, ca. 260 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1888-4

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Urs Hangartner, Felix Keller, Dorothea Oechslin (Hg.) Wissen durch Bilder Sachcomics als Medien von Bildung und Information

Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft

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Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien September 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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