Zum höchsten Dasein: Goethes Faust im Lichte der Schopenhauerschen Philosophie 9783110837094, 9783110093964

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Zum höchsten Dasein: Goethes Faust im Lichte der Schopenhauerschen Philosophie
 9783110837094, 9783110093964

Table of contents :
INHALT
VORWORT
I. Zur Einführung und Verständigung
1. Vom Verhältnis der Philosophie zur Poesie
2. Goethe und Schopenhauer
II. Durchführung der Grundgedanken der Dichtung
3. Physische und moralische Weltordnung
4. Das Ewig-Menschliche
5. Der »Faustische« Mensch
6. Der Erlösungsgedanke
7. Der Mensch, von seinem Genius geleitet
III. Abschluß
8. »Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan«
Nachweis der Zitate und Anmerkungen

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ZUM H Ö C H S T E N

DASEIN

E i n jeglicher muß seinen Helden wählen, Dem er die Wege zum Olymp hinauf Sich nacharbeitet.

Goethe

#

ZUM HÖCHSTEN DASEIN G o e t h e s Schopenhauer

F a u s t

im

sehen

L i c h t e

d e r

P h i l o s o p h i e

VON KONRAD P F E I F F E R

1 949 W A L T E R DE G R U Y T E R & CO - B E R L I N

D R I T T E AUFLAGE

Archiv-Nr. 42 4 1 4 9 • G e d r u c k t bei W a l t e r d e G r u y t e r & Co Berlin W J.

35, vormals G . J. Göschen'sehe

Verlagshandlung

G u t t e n t a g , V e r l a g s b u c h h a n d l u n g • G e o r g R e i m e r • Karl J. T r ü b n e r • Veit & Comp • P r i n t e d i n G e r m a n y

DEN MANEN 1749

GOETHES

28. August

1949

INHALT Vorwort I.

1

Zur Einführung und Verständigung 1. Vom Verhältnis der Philosophie zur Poesie 2. Goethe und Schopenhauer

II.

9 19

Durchführung der Grundgedanken der Dichtung 5. Physische und moralische Weltordnung

29

4. Das Ewig-Menschliche

36

5. Der »Faustische« Mensch

48

6. Der Erlösungsgedanke

68

7. Der Mensch, von seinem Genius geleitet

86

III. Abschluß 8. »Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan« Nachweis der Zitate und Anmerkungen

97 103

VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE D i e vorliegende Arbeit hat nicht den Zweck, den unzähligen Fausterklärungen eine neue i m Stile der f r ü h e r e n hinzuzufügen, sondern sie stellt den meines Wissens bisher noch nicht gemachten Versuch dar, unter Verzicht auf alle Kontroversen, allegorischen D e u t u n g e n u n d philologischen Mikrologien, wie ü b e r h a u p t auf Angabe des Inhalts, durch eine philosophisch-methodische D u r c h f ü h r u n g der Grundgedanken der Dichtung tiefer in diese hineinzuleuchten und so das Verständnis u n d den G e n u ß derselben zu erhöhen. D a ß Goethes Faust einer philosophischen Behandlung fähig und bedürftig ist, hatte schon Schiller erkannt. In seinem Brief an Goethe vom 22. Juni 1797 schrieb er, daß die Anforderungen an den Faust zugleich philosophisch und poetisch seien und daß die Natur des Gegenstandes eine philosophische Behandlung notwendig mache. Das war freilich dem Dichter gegenüber zu viel verlangt, d e n n niemand kann Dichter u n d Philosoph zugleich sein. Aber es zeigt, daß die Möglichkeit, sich philosophisch Rechenschaft zu geben von dem, was der Dichter ahnungsvoll schaute, vorhanden sein m u ß und daß das Bedürfnis hierzu von jeher lebendig gewesen ist. Indessen gehen die bisherigen Fausterklärungen, soweit sie ü b e r h a u p t in diesem Sinne in philosophischer Behandlung des Gegenstandes zu dem Ideengehalt der D i c h t u n g h i n f ü h r e n , nicht auf eine einheitliche philo1

1

sophisch-systematische Weltanschauung zurück, weshalb ein recht eigentlich tieferes Verständnis der Dichtung doch wieder nicht erreicht wird. Diesen Fehler galt es zu vermeiden. Ich habe deshalb meiner Arbeit die Philosophie Schopenhauers zugrunde gelegt, die allein hierfür in Frage kommt. Nur ihr Rahmen ist weit genug, um Goethes Dichtung in sich aufzunehmen, denn er ist weltumfassend. »Das ist«, nach Nietzsches Worten, »Schopenhauers Größe, daß er dem Bilde des Lebens als einem Ganzen sich gegenüberstellt, um es als Ganzes zu deuten«. Und weil Schopenhauers Philosophie, als die Entfaltung eines einzigen Gedankens, nicht in Schlußketten aufgebaut ist, sondern weil ihre Einheitlichkeit in durchaus einzigartiger Weise sich als eine organische charakterisiert, so wird allererst durch sie eine in sich ebenfalls völlig einheitliche Darlegung und Deutung der in der Faustdichtung beschlossen liegenden Menschheitsprobleme möglich. Und noch ein weiteres. In dieser Philosophie haben wir kein ersonnenes Gedankensystem vor uns, sondern es sind in ihr, ebenso wie in Goethes Dichtung, alle seelischen Kräfte lebendig, deren der Mensch fähig ist: vernunftmäßiges Denken und künstlerisch-philosophische Intuition, dämonisches Getriebensein und religiöse Sehnsucht, Lebensdrang und Erlösungsbedürfnis. Ja, ein spezifisch »Faustischer« Zug wohnt ihr — und ihr allein — inne: »Vermesse dich, die Pforten aufzureißen, vor denen Jeder gern vorüberschleicht« — dieses Wort gilt gleichermaßen von dem Helden der Dichtung wie von Schopenhauer, dessen Wahrheitsmut und Unerschrockenheit, beides selbst von seinen Gegnern nicht bestritten, ihn in die tiefsten Tiefen alles o

Geschehens hinabsehen u n d dort zwar alle Schönheiten der Welt, aber auch das Tragische, ja Furchtbare, das »schreckliche Gesicht« erblicken ließen, m i t dem die sie hervorbringend« Kraft unausweichlich behaftet ist. Und keiner von ihnen ist, wie mancher andere, in diesen Abgründen versunken, Faust nicht und Schopenhauer nicht, sondern sie haben beide die Brücke hinüber gefunden, Faust, als dramatischer Held, im praktischen Handeln, Schopenhauer, als Philosoph, im theoretischen Erkennen. D a ß f ü r meinen Zweck ein bloßes Parallelisieren einzelner Stellen aus d e m Faust mit einzelnen Stellen aus Schopenhauers Werken nicht in Frage kam, erscheint selbstverständlich, auch w e n n Schopenhauer in seiner Kritik des i h m von seinem Schüler u n d Anhänger David Asher gewidmeten Buches »Arthur Schopenhauer als Interpret des Goetheschen Faust« das nicht schon selber gerügt hätte (Brief an Asher vom 9. März 1859). D e n n hierdurch wäre nicht n u r der notwendige Einheitspunkt verloren gegangen, sondern die Dichtung wäre auch zerpflückt und damit ihrer Schönheit beraubt worden. Jene methodische D u r c h f ü h r u n g der Grundgedanken, wie sie übrigens Schopenhauer selbst in der genannten Kritik zur H e r b e i f ü h r u n g einer richtigeren Auffassung des Faust gefordert hat, ist vielmehr der einzige Weg, auf d e m eine Synthese poetischer Schönheit u n d philosophischer Klarheit gegeben werden kann — in einem durch die überwältigende Geschlossenheit des sich darbietenden philosophischen Weltbildes vertieften Schauen u n d Erleben der Dichtung: »Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit D e r Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit.« 3

Die Schopenhauersche Philosophie selbst freilich kann und darf bei diesem Zweck nur im Umriß erscheinen, zumal überall möglichste Faßlichkeit und Allgemeinverständlichkeit angestrebt und deshalb nur das unbedingt Nötige, dieses allerdings mit der erforderlichen wissenschaftlichen Genauigkeit und Gründlichkeit, geboten ist. Aber auch so schon erwächst dem Leser, und ihr selbst, der Vorteil, daß sie — zum ersten Mal — zu einer der bedeutsamsten und lebenswahrsten Gestalten der Weltlitteratur, dem Urbild aller einem hohen Ziele nachgehenden Menschen, in unmittelbare Beziehung gesetzt ist. So kann ihr wirklicher Lebenswert am besten offenbart werden — besonders freilich dem, der selbst, wie Faust, »zum höchsten Dasein immerfort zu streben« sich zum Ziel gesetzt hat. Denn allerdings wohnt tief im Innern eines jeden zu wirklichem Leben erwachten Menschen das Streben, sein Dasein auf eine immer höhere Stufe zu erheben, und wenn der so unendlich reiche Gedankeninhalt der Faustdichtung auf einen einzigen Grundgedanken zurückgeführt werden soll, so ist dies ganz gewiß eben der Gedanke des zur höchsten Stufe strebenden Menschen. In diesem Sinne also ist der Titel des vorliegenden Buches zugleich als Hinweis auf eben jenen allumfassenden Grundgedanken der Dichtung, die es philosophisch erklären will, zu verstehen. — Und in dem gleichen Sinne ist auch die im Schlußkapitel gegebene Andeutung einer Synthese Goethescher und Schopenhauerscher Weltanschauung aufzufassen. Dies war freilich im Rahmen einer Fausterklärung nur im Anschluß an die entsprechenden Worte aus dem Faust - es sind dies die letzten Verse der Dichtung - möglich, indessen ist damit, ungeachtet der 4

sich auftuenden Fülle schwerer und tiefer Probleme, derjenige Blickpunkt gewonnen, von dem aus diese beiden Lehrer der Menschheit gleicherweise begriffen werden können — als Lehrer auf dem Wege zum höchsten Dasein. Halle a. d. Saale, im September 1937. Konrad Pfeiffer

VORWORT ZUR ZWEITEN

AUFLAGE

D i e s e zweite Auflage unterscheidet sich von der ersten inhaltlich zwar nur durch wenige unwesentliche Zusätze, sowie durch den beigegebenen Nachweis der SchopenhauerZitate am Schluß, aber sie erscheint dank der Großzügigkeit des Verlages und der Fürsorge der Druckerei in einem ganz neuen, ungemein schönen Gewände, wie man es von einem »wissenschaftlichen« Buche nicht erwartet. Aber ist denn alle Wissenschaft so trocken, daß sie nur in einem sachlich-glanzlosen Kleide vor uns stehen darf? Die hier gebotene jedenfalls nicht! Denn dieses Buch will ja nichts anderes, als Goethes Faust ins Licht der Schopenhauerschen Philosophie setzen; und da ich hierbei die Schönheit der Goetheschen Dichtung nicht angetastet und somit die Höhe, auf die sie uns führt, nicht verlassen habe, da ich ferner andrerseits bemüht gewesen bin, neben der Tiefgriindigkeit und Klarheit Schopenhauers auch die Pracht seiner Sprache zu zeigen, so ist die Meinung gewiß berechtigt, daß, angesichts alles dessen, diese Studie nicht durchaus nur in wissenschaftlich-strenger Gewandung sich darbieten müsse. 5

So möge denn dieses Büchlein zu seiner zweiten Reise sich aufmachen, aber nicht ohne daß ich denen, die es so ausgestattet seinen Weg nehmen lassen, auch an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank sage. Halle a. d. Saale, am 22. Februar 1941. Konrad Pfeiffer

VORWORT ZUR D R I T T E N

AUFLAGE

D ieses kleine Werk ist jahrelang i m Buchhandel vergriffen gewesen und, wie ich Grund habe anzunehmen, auch vermißt worden. Trotzdem hat es des Anstoßes des bevorstehenden 200. Geburtstages Goethes bedurft, u m es neu erscheinen zu lassen. Die jetzige Auflage unterscheidet sich in nichts von der vorigen, da ich keinerlei Anlaß zu Streichungen, Zusätzen oder gar eigentlichen Umänderungen gefunden habe. Ich

hatte die beiden

ersten Auflagen den Manen

Schopenhauers gewidmet, zu dessen 150. Geburtstag das Buch zum erstenmal erschienen ist. Wenn ich nun diese

dritte Auflage den Manen Goethes widme,

so

möchte ich dabei der Hoffnung Ausdruck geben, daß das deutsche Volk allezeit, nicht bloß bei besonderen Anlässen, sich dieser Beiden \md seiner anderen großen Geister erinnern und sich niemals von ihnen abwenden möge. Halle a. d. Saale, i m Goethejahr 1949. Konrad Pfeiffer

6

ZUR

EINFÜHRUNG UND

VERSTÄNDIGUNG

W e n n ich nicht sinnen oder dichten soll, So ist das Leben mir kein Leben mehr.

Goethe

VOM V E R H Ä L T N I S DER P H I L O S O P H I E ZUR POESIE

Zwischen Poesie und Philosophie ist die schönste Eintracht, so wie zwischen Erfahrung und Wissenschaft. Schopenhauer

D er im Vorwort erwähnte Brief Schillers an Goethe ist in dem Briefwechsel der beiden Dichter über die Fortführung der Faustdichtung die Antwort auf die Bitte Goethes an den Freund, »ihm die Forderungen, die er an das Ganze machen würde, vorzulegen und so ihm seine eigenen Träume, als ein wahrer Prophet, zu erzählen und zu deuten«. Hier ist das Verhältnis der Philosophie zur Poesie von Goethe selbst gekennzeichnet als die prophetisch-philosophische Deutung des nur wie im Traume, im ahnenden 9

Instinkt, Gefühlten. Aber das Problem ist damit - echt poetisch! — nur knapp angedeutet, nicht gelöst. Um eine wirkliche Lösung herbeizuführen, bedarf es eines tieferen Eindringens und hierbei zugleich einer Verständigung über das Wesen der Philosophie, die wegen des Mißbrauchs, ja Unfugs, den man mit ihr getrieben, gerade heutzutage ganz besonders in Mißkredit geraten ist. Erstlich: sie schließen sich n i c h t aus, diese beiden neben der Religion — höchsten Leistungen des menschlichen Geistes, die Kunst und die Philosophie, wie der philosophisch Ungebildete wohl Einzunehmen pflegt, indem er zwar in der Kunst das blühende Leben vor sich sieht, unter Philosophie aber nichts anderes versteht, als ein zweckloses Vergleichen von Begriffen mit Begriffen, und Erklären von Worten mit Worten. Sie gehören vielmehr zusammen, insofern sie aus der selben Quelle entspringen, auch ein gemeinsames Ziel haben, und nur, wie wir noch sehen werden, in ihrer Richtung auseinandergehen. Freilich erst seit Schopenhauer selbst, der insofern eine neue Ära der Philosophie begründet hat. Noch Kant hat die Philosophie als eine Wissenschaft aus Begriffen bezeichnet, Schopenhauer aber trennte von der begrifflichen Erkenntnis scharf die anschauliche. In der Anschauung wies er die ursprüngliche Erkenntnisweise nach und zeigte, daß die Begriffe aus der Anschauung erst abgezogen sind. Es muß möglich sein, von jedem Begriff auf die ihm zugrunde liegenden Anschauungen zurückzugehen, und wo diese fehlen, haben wir, so sagt er, überhaupt keine Begriffe, sondern bloße Worte im Kopfe gehabt. Frühere Systeme folgerten Satz aus Satz und brachten 10

durch diese bloß begrifflich-logische Methode ihre Konsequenz zustande, während die bei Schopenhauer, und gerade bei ihm, vorhandene strenge Konsequenz in der Regel nicht auf diesem Wege, sondern vielmehr dadurch gewonnen ist, daß seinen Philosophemen die intuitive Erkenntnis, nämlich die anschauliche Auffassung der realen Welt in allen ihren Erscheinungen, zugrunde liegt. So sind die E r g e b n i s s e der Schopenhauer'schen Philosophie zwar, wie die jeder anderen, in Begriffen niedergelegt — denn die Begriffe sind, nach seinem eigenen Vergleich, dem Philosophen das Material, wie dem Bildner der Marmor —, aber diese Ergebnisse sind nicht aus Begriffen herausgesponnen, sondern aus der lebendigen Anschauung der uns umgebenden Welt. Sehr richtig hat er deshalb weiter darauf hingewiesen, daß, wo Satz aus Satz gefolgert wird, notwendigerweise der eigentliche Gehalt des ganzen Systems schon in den allerersten Sätzen vorhanden sein muß, wodurch dann das Übrige, als daraus abgeleitet, schwerlich anders als monoton und langweilig ausfallen kann, weil es eben nur entwickelt und wiederholt, was in den Grund-Sätzen schon ausgesagt war. Hier liegt, nebenbei gesagt, die Lösung des Geheimnisses der eigentümlichen Wirkung der Schopenhauerschen Philosophie auf jeden Kopf, der sie gefaßt hat: Schopenhauer ist, mag er nun Probleme der Naturphilosophie, der Ästhetik, der Ethik, ja selbst der »trockenen« Erkenntnistheorie behandeln, nie leer und langweilig, sondern immer lebensnahe und lebenswahr. Und hier, in diesem unmittelbaren Schöpfen aus dem Leben, liegt nun auch die Verwandtschaft der Kunst und der Philosophie - der echten, nicht der hohlen Begriffs11

und Wortspielereien früherer und jetziger Zeit: ihr Ausgangspunkt ist der gleiche, nämlich die anschauliche Auffassung der Welt. Wie der Philosoph das, was ihm in der anschaulichen Betrachtung der Welt sich offenbart, wiederholt, und zwar, wie wir sahen, in Begriffen, so wiederholt auch der Künstler seine Schauungen, und zwar, je nachdem sein Stoff ist, als Bildner, Dichter oder Musiker. Was aber offenbart sich dem Philosophen und dem Künstler, um von ihm wiederholt und dargestellt zu werden? Es sind »die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt«.* Und welches ist der Zweck und das Ziel dieser Wiederholung der ewigen Ideen durch die Philosophie und die Kunst? Es ist »die Lösung des Problems des Daseins« 1 , geboren aus eben dieser anschaulichen Erkenntnis des wahren Wesens der Dinge, des Lebens, der ganzen Welt. Freilich ist es nur die klarste und tiefste Anschauung, die solcherweise den Urgrund des Daseins erhellt und die — in Verbindung mit der notwendigen Gestaltungskraft — nur dem Genie eigentümlich ist; eine flache, auch dem bloßen Talent oder gar dem Normalmenschen mögliche Anschauung tut's nicht! Deshalb auch haben die genialen, die »ewigen« Ideen schauenden und wiedergebenden Leistungen der e c h t e n Kunst und der e c h t e n Philosophie Ewigkeitswert, indessen die Erzeugnisse der »mit den M i t t e l n der Kunst willkürlich spielenden Pfuscherei« 2 und ebenso die aus bloßen Wortzusammensetzungen bestehenden Possen der So* Ein für alle Mal sei hier gesagt, daß in Anführungsstriche, ohne weitere Angabe des Autors, eingeschlossene Worte den Schopenhauerschen Originaltext darstellen.

12

phistik mit dem Zeitalter verschwänden, das daran Gefallen finden konnte: Was glänzt,

ist für

den Augenblick

Das Echte bleibt der Nachwelt

geboren;

unverloren.

*

In dieser tiefen, bis auf das Wesen der Welt hinabreichenden Anschauung also haben wir die von Schopenhauer so oft betonte, freilich erst von ihm selbst aufgedeckte Identität der Urerkenntnis der künstlerischen und der philosophischen Konzeption vor uns. Dies ist der gemeinsame Ausgangspunkt von Kunst und Philosophie und ihr gemeinsames Ziel. Der Weg aber ist nicht der gleiche. Mit anderen Worten: der Künstler, oder, wie wir von jetzt ab, da wir es ja nur mit der Dichtkunst zu tun haben, sagen wollen, der Dichter enthüllt uns das Ewige ebenso wie der Philosoph, die Weisheit dieser beiden ist die gleiche, aber jeder spricht eine andere Sprache, der Dichter »die naive und kindliche Sprache der Anschauung« 3 , der Philosoph, dessen Material, wie wir schon sahen, die Begriffe sind, »die abstrakte und ernste Sprache der Reflexion« 4 . Denn die Philosophie ist ebensosehr wie der Kunst auch der Wissenschaft verwandt, weil alles Niederlegen in Begriffen ein Wissen ist; sie ist »eigentlich ein Mittleres von Kunst und Wissenschaft, oder vielmehr etwas, das beide vereinigt« 5 . Daher ist die Antwort, welche die Philosophie auf die Frage nach dem vielverschlungenen Rätsel der Welt zu geben hat, wenn auch aus der selben Quelle geschöpft, und inhaltlich die gleiche, so doch ihrer Form nach eine von der Antwort der Kunst verschiedene. Der Dichter wendet sich an das * Die behandelten Stellen aus dem Faust sind in ÄurüV-Schrift wiedergegeben. 13

Gefühl, er gibt deshalb auch nur ein gefühltes Bewußtsein dessen, was er, selber ohne abstraktes Wissen, in gleichsam instinktivem Ahnen als bloß gefühlte Gewißheit geschaut hat. Der Philosoph dagegen erhebt seine Schauungen aus dem Gebiet des bloßen Fühlens in das der Wissenschaft, d. h. des deutlichen abstrakten Wissens, er gibt deshalb allererst eine wirklich klare Erkenntnis der Dinge. So haben wir oft das deutliche Gefühl einer Wahrheit, können es aber nicht zum abstrakten Bewußtsein derselben bringen ; denn nur von der Höhe der begrifflich-philosophischen Abstraktion aus erkennt man das Allgemeine und versichert sich zugleich des Erkannten als eines festen und bleibenden Besitzes, während die künstlerische Intuition bèi einem einzelnen Fall, nämlich bei eben dem im Augenblick intuitiv erkannten, stehen bleibt, weshalb »der aus den Leistungen und Werken der Kunst hervorgehende Besitz nur ein stets neu zu erzeugender ist« 6 . Deshalb sagt Schopenhauer, daß das Kunstwerk »immer nur ein Fragment gibt, ein Beispiel statt der Regel, nicht das Ganze, als welches immer nur in der Allgemeinheit des Begriffes gegeben werden kann« 7 . Wörtlich ebenso sagte Goethe, nur ohne sich der Begründung und der Tragweite dieses Ausspruchs bewußt zu sein, daß der Faust »für immer ein Fragment bleiben müsse«. — Was ist das Leben? Das ist die Frage, die der Dichter ganz ebenso zu beantworten unternimmt wie der Philosoph. Der Dichter beantwortet sie mittels eines konkreten Falles und beispielsweise, der Philosoph will das in eben diesem Falle sich aussprechende innere Wesen der Dinge im ganzen und allgemeinen erkennen lehren, seine

14

Antwort ist deshalb eine bleibende, weil für die Reflexion und in abstrakter Form gegeben. Dies darf jedoch nicht mißverstanden werden. Zwar zeigt uns der Dichter immer nur das Einzelne, aber er schildert es genau in seiner Individualität und zeigt uns eben hierdurch das ganze menschliche Dasein. Er ruft das Einzelne zur allgemeinen Wo es in herrlichen

Akkorden

Weihe,

schlägt.

Denn der Dichter hat es »zwar scheinbar mit dem Einzelnen, in Wahrheit aber mit dem, was überall und zu allen Zeiten ist, zu tun« 8 . So erklärt es sich denn auch — und das trifft für keine Dichtung mehr zu als für Goethes Faust —, daß Sentenzen, besonders der dramatischen Dichter, sich im praktischen Leben so häufig anwenden lassen. Auf diesem Verhältnis von Kunst und Philosophie beruht es, nebenbei gesagt, daß Schopenhauer der Poesie eine viel größere Bedeutung für die Erkenntnis des Wesens der Menschheit beigemessen hat als der Geschichte, welche mehr » d i e Menschen als d e n Menschen«9 kennen lehre.— Wer diesen Ausführungen bis hierher gefolgt ist, wird nun alsbald erkennen, warum eine in solchem Sinne zu gebende Fausterklärung die Dichtung, wie im Vorwort gesagt ist, nicht zerstört, sondern sie vielmehr gänzlich unangetastet läßt, ja, darüber hinaus, durch Vermittlung eines tieferen Verständnisses, ihren Genuß zu erhöhen imstande ist: die abstrakt-philosophische Erkenntnis drängt sich ja nicht an die Stelle der vom Dichter intuitivpoetisch behandelten Menschheitsfragen und des eben hierdurch gegebenen Kunstgenusses; vielmehr stehen Philosophie und Kunst in einem gegenseitig sich erläuternden Verhältnis. Auch hierauf hat zuerst Schopen15

hauer hingewiesen. Schon in seinen allerersten Aufzeichnungen, in denen er sich über die Verwandtschaft seiner Philosophie mit der Kunst klar wurde, heißt es: »Wenn auch einst die Philosophie zur höchsten Vollendung gediehen sein wird, so wird sie doch nie, bei der Erkenntnis des Wesens der Welt, die andern Künste entbehrlich machen ; vielmehr wird sie ihrer stets als eines notwendigen Kommentars bedürfen. Umgekehrt ist auch sie der Kommentar der übrigen Künste, aber nur für die Vernunft, als abstrakter Ausdruck des Inhalts aller andern Künste, und sonach des Wesens der Welt« 10 . Das letztere bedarf einer Erläuterung: Wie der Künstler selbst aus tiefster Anschauung geschöpft und dazu das Leben zutiefst kennen gelernt und erfahren haben muß, so ist auch zum Nachempfinden des Kunstwerks, worin eben dessen Genuß besteht, eigene Erfahrung, Fähigkeit und Bildung erforderlich, und hierdurch wiederum wird die Phantasie, die zum Genuß des Kunstwerks ebenfalls unerläßlich ist, wenn auch freilich nicht ersetzt, so doch angeregt und beflügelt. Aus eigenen Mitteln also muß jeder dazu beitragen, die im Kunstwerk verborgene Weisheit zutage zu fördern. Erst dann hat er es wirklich »verstanden« und dadurch wiederum sich dessen Genuß eröffnet. Denn die eigene Erfahrung ist »gleichsam das Wörterbuch der Sprache« 11 , welche die Poesie redet. Wer also jene vom Dichter gegebene Weisheit sich philosophisch hat deuten lassen, wer dadurch selbst angeregt worden ist, auf den Grund der Dinge zu schauen und des gegebenen Problems in dessen ganzer Bedeutung sich bewußt zu werden, der bringt zum »Verständnis« der Dichtung ungleich mehr mit, als wer ganz allein auf sich selbst gestellt an sie herantritt. In sol16

chem Sinne also ist die Philosophie, diese »Erkenntnis vom eigentlichen Wesen dieser Welt, in der wir sind und die in uns ist, der Kommentar der Künste«12. Denn auch die Kunst zeigt uns das Wesen der Welt und gibt uns Antwort auf jene Frage »Was ist das Leben?«. Und wie das Licht der philosophischen Erkenntnis »nachher auch alles Einzelne, das Jedem im Leben vorkommen mag, beleuchtet und ihm dessen innere Bedeutung aufschließt« 13 , so ist es auch der Schlüssel zum Verständnis des Kunstwerks, das ja eben auch nichts anderes als das Leben zu schildern unternimmt. So ist der Philosoph der »wahre Prophet«, dazu berufen, des Dichters »Träume zu deuten«: Dieses eingangs des vorliegenden Kapitels zitierte tiefsinnige, aber nicht ohne weiteres verständliche Wort aus jenem Briefe Goethes hat nunmehr — durch Schopenhauer seine Sinnerklärung gefunden. Nun wird man auch den sonst vielleicht naheliegenden Einwand nicht mehr erheben, daß doch Goethe selbst, sich oft dagegen ausgesprochen habe, ein Kunstwerk mit dem Verstände zergliedern, es »erklären« zu wollen. Hat er doch, und zwar gerade über seinen Faust, gesagt: »Da kommen sie und fragen, welche Ideen ich in meinem Faust zu verkörpern gesucht. Als ob ich das selbst wüßte und aussprechen könnte!« Aus dem in diesem Kapitel Gesagten ergibt sich, wie Goethe diese und ähnliche Worte gemeint hat—nämlich, daß man nicht etwa denken solle, das Kunstwerk sei aus nüchternen Begriffen hervorgegangen, die es »zu verkörpern gesucht« habe und die sich nun herausfinden und angeben ließen. Und hiermit hat Goethe vollkommen recht. Denn das echte Kuristwerk ist, wie wir gesehen haben, aus der Anschauung geschöpft, 2

17

nicht aus dem Begriff. Daß aber diese Anschauung sehr wohl auch mit dem Begriff, als dem Mittel der Philosophie, a n g e g e b e n u n d v e r d e u t l i c h t werden kann, das ist etwas ganz anderes und ist auch von Goethe durchaus anerkannt worden, eben in jenem Brief ein Schiller. Und genau den gleichen Unterschied macht auch Schopenhauer. Denn wenn er die Wirkung des u n e c h t e n , aus bloßen B e g r i f f e n hervorgegangenen Kunstwerks dahin kennzeichnet, daß wir »Ekel und Unwillen empfinden, wenn wir, durch alle die reichen Kunstmittel hindurch, den deutlichen, begrenzten, kalten, nüchternen Begriff durchschimmern und am Ende hervortreten sehen, welcher der Kern dieses Werkes war« 1 4 , so ist das ebenfalls etwas ganz und gar anderes als die Übertragung des Gedankeninhalts eines e c h t e n , aus der A n s c h a u u n g geschöpften Kunstwerks in die abstrakte Sprache der Philosophie. Und ebenso wie Goethe, in dem genannten Briefe, sogar seinen Wunsch nach solcher »Deutung seiner Träume« geäußert hat, so hat auch Schopenhauer es zwar nicht gerade ausgesprochen, aber doch wohl im stillen gewünscht, ja vielleicht von einer späteren Zeit auch erwartet, daß seine alles-umfassende Philosophie auch einmal zur Deutung des Meisterwerkes Goethes herangezogen und er somit der »wahre Prophet« des Dichterfürsten werde, dem er sich durch jenes unsichtbare und doch so feste Band verbunden gefühlt hat, das alle großen Geister umschließt.

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GOETHE UND SCHOPENHAUER

D a s wahre Große hebt uns über uns selbst hinaus und leuchtet uns vor wie ein Stern. Goethe Ziur Ergänzung der im vorigen Kapitel gewonnenen Erkenntnisse vom Verhältnis der Philosophie zur Poesie sollen nunmehr noch einige Bemerkungen über das Verhältnis und die Wesensart der beiden uns hier beschäftigenden Geister folgen, von denen jeder in seiner Weise das Weltganze auf sich wirken ließ, um es alsdann, äußerlich verschieden, innerlich gleichartig, darzustellen. Innerhalb des gegebenen Rahmens ist indessen hierbei möglichste Kürze vonnöten, und eine Syn- oder Antithese Goethe-Schopenhauer, deren Problematik viel zu 2*

19

tief liegt, als daß sie in wenigen Blättern gegeben werden könnte, ist keinesfalls beabsichtigt. Deshalb soll hier nur das Wesentlichste über folgende Fragen gegeben werden: Wie haben sie über einander geurteilt und wie haben sie von sich selbst, von dem Genius in ihnen und von ihrem Lebenswerk gesprochen? — Goethe und Schopenhauer waren sich im Winter 1813/14 bei Gelegenheit der Studien Goethes über die Farben näher getreten. Der damals im 65. Lebensjahr stehende Dichter war erfreut, in dem jungen Doktor der Philosophie, dessen soeben erst erschienene

Doktor-

dissertation ihn interessiert hatte, einen zwar um fast 40 Jahre jüngeren, aber desto gelehrigeren Schüler zu finden. Bald jedoch zeigte sich die Verschiedenheit der Geistesrichtung der beiden aufs deutlichste. Schopenhauer hat uns hierüber in den ergänzenden Bemerkungen zu seiner Farbenlehre eine kurze, aber sehr anschauliche Notiz hinterlassen, die nicht bloß Goethes Eigenart, sondern — mutatis mutandis — überhaupt die jedes künstlerisch gerichteten, d. h. A n s c h a u l i c h k e i t suchenden Kopfes in seiner Gegensätzlichkeit zum philosophischen, d. h. nach B e s t i m m t h e i t

strebenden Kopf überaas

treffend kennzeichnet. Es heißt dort: »Goethes Trieb war, alles rein objektiv aufzufassen und wiederzugeben: damit aber war er dann sich bewußt, das Seinige getan zu haben, und vermochte gar nicht, darüber hinauszugehen. Daher kommt es, daß wir in seiner Farbenlehre bisweilen eine bloße Beschreibung finden, wo wir eine Erklärung erwarten. So schien ihm denn auch hier eine richtige und vollständige Darlegung des objektiven Hergangs der Sache das letzte Erreichbare. Demgemäß ist die allgemeinste

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und oberste Wahrheit seiner ganzen Farbenlehre eine ausgesprochene objektive Tatsache, die er selbst ganz richtig Urphänomen benennt. Damit hielt er alles für getan: ein richtiges »so ist's« war ihm überall das letzte Ziel; ohne daß ihn nach einem »so muß es sein« verlangt hätte. Konnte er doch sogar spotten: »Der Philosoph, der tritt herein, Und beweist euch, es müßt' so sein.« Dafür nun freilich war er ein Poet und kein Philosoph, d. h. von dem Streben nach den letzten Gründen und dem innersten Zusammenhang der Dinge nicht beseelt, oder besessen; wie mein will« l . Goethe hatte sich, nach seinen eigenen Worten, bei dem genannten Urphänomen beruhigt, indem er glaubte, an den »Grenzen der Menschheit« zu stehen. Schopenhauer aber, obwohl zeitlebens der entschiedenste Verfechter der Goetheschen Farbenlehre, wie er sich selbst nannte, hat den Nachweis geliefert, daß es nicht die Grenzen der Menschheit gewesen sind. Er erklärte »jene Beschränkung auf das rein Faktische in Goethes Geiste«2 als gerade mit seinen höchsten Fähigkeiten zusammenhängend, nämlich mit der »erstaunlichen Objektivität seines Geistes, welche seinen Dichtungen überall den Stempel des Genies aufdrückt« 3 . Die nähere von Schopenhauer selbst gegebene Ausführung und Begründung dieses Satzes kann hier indessen als entbehrlich wegbleiben, es genügt die Feststellung, daß die Grenzen der Menschheit einen Schritt über den schauenden Dichter hinaus, bei der Systematik des Philosophen, liegen. So hat also — und zwar vermöge jener Identität der Urerkenntnis der künstlerischen und der philosophischen 21

Konzeption — der Philosoph den Dichter vollkommen verstanden. Überhaupt hat Schopenhauer von allem Anfang an, da er als junger Mann den Dichterfürsten häufig in dem Salon seiner Mutter, der Schriftstellerin Johanna Schopenhauer, sah, Goethes Bedeutung in vollem Umfange erfaßt, ja er hat an diesem Vorbild das Wesen des Genies erschaut und Genialität — unter Verwendung eines Zitats aus dem Faust I — definiert als die Fähigkeit, sich rein einschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren, d. h. sein Interesse, seine Zwecke ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrig zu bleiben: und dieses nicht auf Augenblicke, sondern so anhaltend und mit so viel Besonnenheit, als nötig ist, um das Aufgefaßte durch überlegte Kunst zu wiederholen und »was in schwankender Erscheinung schwebt, zu befestigen mit dauernden Gedanken« 4 . Ja, noch mehr. An der Persönlichkeit Goethes, der ihm »keinEinzelner, sondern der Einzige« 5 war, wurde er sich des eigenen Wesens und der eigenen Bedeutung bewußt. Eine Sympathie ganz eigentümlicher und besonderer Art hat ihn deshalb lebenslang mit Goethe verbunden, auch als der persönliche und briefliche Verkehr längst aufgehört hatte, und noch in seinen späteren Lebensjahren, nach des Dichters Tode, hat er keine Gelegenheit versäumt, für »Goethes geweihte Person« 6 einzutreten. Daß Schopenhauer seinerseits das gleiche Verständnis gefunden hätte, kann füglich nicht verlangt werden. Goethe war schon zu alt und in Sachen der Philosophie kein Meister, es war ihm deshalb nicht möglich, Schopenhauers Bedeutung in vollem Umfange zu erfassen. Aber 22

in menschlicher Beziehung hat er ihn besser verstanden als mancher ändere, denn sein Urteil über Schopenhauers Persönlichkeit ist das richtigste, das -wir aus jener Zeit besitzen. Er nannte ihn einen meist verkannten, aber auch schwer zu erkennenden jungen Mann, ein Urteil, das auch noch von dem alten Weisen von Frankfurt gilt; ja selbst unserer Zeit noch ist er, obwohl sein Name seither im Lichte des Weltruhms steht, der meist Verkannte, weil in der Tat nur schwer Erkennbare. In sachlicher Beziehung wissen wir freilich nur, daß ihn Goethe als einen »bedeutenden Kopf« bezeichnet hat, und in den Tag- und Jahresbüchem findet sich unter 1816 eine Notiz, die, ebenfalls auf jene gemeinsamen Studien über die Farben zurückweisend, als Gegenstück zu den oben wiedergegebenen Äußerungen Schopenhauers über Goethe dem Leser nicht vorenthalten werden soll. Sie lautet: »Dr. Schopenhauer trat als wohlwollender Freund an meine Seite. Wir verhandelten manches übereinstimmend miteinander, doch ließ sich zuletzt eine gewisse Scheidung nicht vermeiden, wie wenn zwei Freunde, die bisher miteinander gegangen, sich die Hand geben, der eine jedoch nach Norden, der andere nach Süden will, da sie denn sehr schnell einander aus dem Gesichte kommen.« Von Interesse ist auch eine Überlieferung des Hauses Frommann in Jena, das den Familien Goethe und Schopenhauer nahe befreundet war. Danach habe Goethe zu den am Teetisch über Schopenhauer, der »in mürrischer Absonderung am Fenster stand«, kichernden Mädchen gesagt: »Kinderchen, laßt mir den dort in Ruhe, der wächst uns allen noch einmal über den Kopf« 7 . Nach diesen wechselseitigen Zeugnissen seien noch

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einige kurze, aber inhaltsreiche Selbstzeugnisse mitgeteilt, die in ihrer Ähnlichkeit auffallen. Der junge Goethe sagte von sich: »Als Bestätigung meiner Selbständigkeit fand ich mein produktives Talent, es verließ mich seit einigen Jahren keinen Augenblick, in jeder Zeit konnte man von mir fordern, was man wollte, ich war stets bereit und fertig.« Und bei Schopenhauer heißt es: »Wann, als ich noch in den Blütejahren meines Geistes und im Kulminationspunkte seiner Kräfte stand, durch günstige Umstände die Stunde herbeigeführt wurde, wo das Gehirn die höchste Spannung hatte; so mochte mein Auge treffen auf welchen Gegenstand es wollte, — er redete Offenbarungen zu mir und es entspann sich eine Reihe von Gedanken, welche wert waren, aufgeschrieben zu werden und es wurden« 8 . Und wenn Schopenhauer fortfährt: »Aber im Fortgang des Lebens, zumal in den Jahren der abnehmenden Kräfte, sind jene Stunden immer seltener geworden: denn das Plektron sind zwar die Objekte, aber die Lyra ist der Geist«, so stimmt, wiederum sehr auffallend, hiermit überein, was Goethe in späteren Lebensjahren an sich feststellen mußte. Er sagte: »Jetzt, am zweiten Teil meines Faust kann ich nur in den frühen Stunden des Tages arbeiten, wo ich mich vom Schlaf erquickt und gestärkt fühle und die Fratzen des täglichen Lebens mich noch nicht verwirrt haben« — es war das die Zeit, wo der Altmeister, wie der Direktor im Vorspiel zum Faust es von seinem Dichter fordert, »die Poesie kommandierte«, worin er sich allerdings vollständig von Schopenhauer unterschied, der stets an dem Grundsatz festgehalten hat, seine Philosopheme, aus denen er nachmals seine Werke aufbaute und fortlaufend speiste, nur 24

dann schriftlich zu fixieren, wenn sie in den Momenten der genialen Kontemplation »in ihm sich darstellten«, wo er sie dann gleichsam »als bloßer Zuschauer und Zeuge aufgeschrieben und zu seinem Werke benutzt hat« 9 . Noch wichtiger, weil, trotz gar manchem Trennenden, die dennoch vorhandene Zusammengehörigkeit Goethes und Schopenhauers recht deutlich zeigend, sind die folgenden ganz kurzen, aber desto prägnanteren und tief in ihr ureigentliches Wesen hinableuchtenden Aussprüche, die zudem ein jeder von ihnen mit seinem Herzblut geschrieben hat. Im Tasso, dieser Selbstdarstellung des jungen Goethe, in welchem das dem Genie wesentliche Leiden treffender als sonst irgendwo in der Poesie geschildert ist, heißt es: »Der Lorbeerkranz ist, wo er dir erscheint, ein Zeichen mehr des Leidens als des Glücks.« Und Schopenhauer, erst 25 Jahre alt, aber doch schon zutiefst vom Genius heimgesucht, schreibt, von der Erkenntnis des wesentlichen Märtyrertums des Genies schmerzlich ergriffen, und doch voll Stolz im Hochgefühl seiner ihm allmählich aufgehenden Sendung, einen wesentlichen Gedanken seines späteren, berühmten Kapitels vom Genie schon damals vorwegnehmend: »Ein Lorbeerkranz ist eine mit Blättern bekleidete Dornenkrone« 10 . Wenn irgendwo, so würde bei aller Problematik, die eine Synthese Goethe-Schopenhauer mit sich brächte, eine solche in diesem Punkte hier ihre stärkste Stütze haben, denn Schopenhauers Ausspruch: »Die Genies sind doch eigentlich nur die Kreuzträger der Menschheit« 11 wäre Goethe aus der Seele gesprochen gewesen. Zum Schluß sei noch des Abschieds gedacht, den beide in ebenso charakteristischer Weise von ihrem Lebenswerk 25

genommen. Kurz vor seinem Tode hat Goethe, nachdem er den Faust endlich vollendet und die Blätter, auf denen er den Rest der Dichtung niedergeschrieben, versiegelt hatte, und sich am Ende seiner Sendung sali, zu Eckermanfi wie folgt sich geäußert: »Mein ferneres Leben kann ich nunmehr als ein reines Geschenk ansehen, und es ist jetzt im Grunde gaüz einerlei, ob und was ich etwa noch tue.« Und in dem letzten Manuskriptbuch Schopenhauers findet sich der Entwurf der beabsichtigten neuen Vorrede zu seinem Hauptwerk, und da heißt es: »Nun wohl, jetzt ist es ja überstanden, das Abendrot meines Lebens wird das Morgenrot meines Ruhmes, und ich sage in Shakespeares Worten: Ihr Herren, guten Morgen, löscht die Fackeln aus! Der Wölfe Raubzeug ist gewesen; seht den milden Tag. Vor Phöbus' Wagen schreitet er einher, Den noch schlaftrunknen Ost mit Grau besprenkelnd« 12 . Abgeklärter konnte sich der auf sein an Wirkung, Beifall und Ehren beispielloses Leben zurückblickende deutsche Dichter, dem nur noch Homer und Shakespeare an die Seite gesetzt werden können, nicht äußern, und ergreifender konnte der deutsche Philosoph, mit dem, seinem innersten Wesen nach, nur Plato, und hinsichtlich seiner Bedeutung für die Philosophie außer diesem nur noch Kant vergleichbar ist, das Heroische seines Lebenslaufes uns nicht fühlen lassen. Die unvergänglichen Schätze aber, welche diese beiden, Goethe und Schopenhauer, der ganzen Menschheit hinterlassen haben, sind ebenso unvergängliche Zeugen der Blüte der deutschen Kultur und der deutschen Sprache. 26

DURCHFÜHRUNG DER GRUNDGEDANKEN DER DICHTUNG

D e r Mut keine Frage auf dem Herzen zu behalten ist es, der den Philosophen macht. Schopenhauer an Goethe

PHYSISCHE UND MORALISCHE WELTORDNUNG

W a s hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und n ä h m e doch Schaden an seiner Seele?

Matth. 16, 26

» D a ß die Welt bloß eine physische, keine moralische, Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamentale I r r t u m , die eigentliche Perversität der Gesinnung.« 1 . So schrieb Schopenhauer in seinem letzten Werk, einen Hauptgedanken seiner Ethik gewissermaßen in einen einzigen prägnanten Satz zusammenfassend. Und in der T a t : die vielleicht wichtigste Frage im ganzen menschlichen Leben, deren Entscheidung, je nachdem sich der Mensch auf den einen oder den anderen Standp u n k t gestellt hat, alsdann alles und jedes in seinem Da29

sein durchdringt und sein Handeln leitet, wie sehr oder wie wenig ihm das auch zum Bewußtsein kommen mag, ist die Frage, ob unser Leben sich in unserem physischen Sein erschöpft, oder ob dahinter noch ein anderes, metaphysisches, Sein verborgen ist und welcher Art dies sein möge. Seit den ältesten Zeiten hat diese Frage den denkenden Menschengeist beschäftigt, und von jeher hat mein eine metaphysische Weltordnung geahnt und hat gefühlt, daß deren Tendenz eine moralische sein müsse: die Dichter und Denker aller Zeiten sind sich hierüber einig. Es ist das die unleugbare Tatsache des moralischen Bewußtseins. Jenes Ahnen und Fühlen aber zu philosophischer Klarheit erhoben zu haben, war dem Genius Schopenhauers vorbehalten, während jene Frage niemals poetisch schöner beantwortet worden ist als in Goethes Faust. Und wenn Schopenhauer mit Recht als einer der größten Ethiker gilt, und wenn andrerseits die Faustdichtung so recht eigentlich der ganzen Menschheit angehört, so hauptsächlich deshalb, weil der Dichter sowohl als der Denker jene Frage im Sinne der Existenz einer ewigen moralisch-metaphysischen Weltordnung entscheidet, welche die vor uns liegende physische Welt durchwaltet. Während Faust sein Schicksal auf der Erde erfüllen muß, spielt der Prolog im Himmel, und der Herr selbst erscheint. Hierdurch wird die ganze Dichtung in eine höhere Sphäre, eben die moralisch-metaphysische, erhoben, das Zeitliche wird zum Ewigen in Beziehung gesetzt, und das Irdische erlangt eine überirdische, »göttliche« Bedeutung, — dieses Wort natürlich nicht im theologisch-dogmatischen, sondern im sittlich-religiösen Sinne genommen. Und dem Prolog entspricht Faustens Him-

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melfahrt am Schluß der Dichtung. So erscheint das dazwischen liegende Leben des Helden, dessen Erdenweg ihn durch alle Phasen menschlicher Entwicklung hindurchführt, nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zu einem höheren Zweck: Neben das, zunächst ja nur allein sichtbare, bloß physische Dasein tritt etwas Höheres, unsichtbar, aber doch fühlbar — die metaphysisch-moralische Bedeutung des Lebens. Nun sind Glück und Leid, Irrtum und Schuld, Höhen und Tiefen" des Lebens nicht mehr sinnlos, alle Erscheinungen desselben haben vielmehr einen Sinn erhalten: die Welt weist auf einen über sie selbst hinaus liegenden Zweck hin, nämlich von Irrtum und strebendem Bemühen zur Erlösung: Dies ist der Sinn jener am Anfang und am Ende der Dichtung stehenden und diese so gleichsam einschließenden Worte des Herrn: Es irrt der Mensch,

so lang er

strebt,

und des Gesanges der Engel bei Faustens Grablegung: Wer immer

strebend

Den können wir

sich

bemüht,

erlösen.

Und von diesem Gesichtspunkt aus sind die Läuterungsstufen des den ganzen Kreis der Schöpfung ausschreitenden Helden aufzufassen. Wenn uns nun aber der Dichter ein bloßes Gefühl vermittelt, eben das Gefühl einer moralischen Bedeutung der Welt und des Lebens, einer geheimnisvollen Verbindung des Vergängliciien mit dem Ewigen, so verlangen wir vom Philosophen mehr, nämlich eine wirkliche Einsicht in dieses Problem, das seit Sokrates ein Hauptproblem aller Philosophie gewesen ist. 31

Schopenhauers ganzes System ist getragen von dem Grundgedanken des Willens zum Leben als dem Wesen der Welt. Als diesen »Willen« nämlich hat Schopenhauer Kants » D i n g an sich«, d. i. jenes Etwas, das in allen Dingen erscheint, enträtselt. Kant hatte jenes Ding an sich für unerkennbar gehalten, weil zwischen diesem und uns als unübersteigliche Mauer die Erkenntnisformen unseres Intellekts, nämlich Zeit, R a u m und Kausalität, liegen, das Ding ein sich aber zeit-, räum- und kausalitätslos ist. 2 Schopenhauer aber, jenen Gegensatz von Ding an sich und Erscheinung durchaus beibehaltend, besann sich dennoch darauf, daß wir der Welt ja nicht bloß, wie Kant vermeinte, e r k e n n e n d

gegenüber-

stehen, sondern daß sie von uns, die wir selbst ein Teil von ihr sind, auch unmittelbar e r l e b t wird: » D i e letzten Grundgeheimnisse trägt der Mensch in seinem Innern, und dieses ist ihm am unmittelbarsten zugänglich ; daher er nur hier den Schlüssel zum Rätsel der Welt zu finden und das Wesen aller Dinge ein Einem Faden zu erfassen hoffen darf.« 3 Dieser Schlüssel ist der Schopenhauersche Willensbegriff: Was die Welt im Innersten

zusammenhält,

ist eben dieser Wille zum Leben, jener Drang zum Dasein und Wohlsein, jenes Streben nach Selbsterhaltung, wie es jeder als unmittelbares Erlebnis in der eigenen Brust kennt. Nur freilich muß man diesen Begriff richtig verstehen. Man erachte

sich deshalb nicht der kleinen

Mühe

überhoben, sich dieses Verständnis anzueignen, halte es vielmehr mit Richard Wagner, der von dem unermeßlichen Glück sprach, einer Belehrung über den »Willen« i m Sinne Schopenhauers teilhaftig geworden zu sein. 52

Schopenhauers »Wille« ist nicht nur das vom Erkennen geleitete bewußte Wollen, sondern vor allem das unbewußte Streben, alles, was mein unter dem Begriff des Gefühls zusammenfaßt, also alles Begehren, Wünschen, Verlangen, Sehnen, Hoffen, Lieben usw.; ebenso alles Nichtwollen, Widerstreben, Fliehen, Fürchten, Hassen, Trauern, Schmerzleiden: alles in allem also der Drang zum Leben, das elementare Lebensgefühl, unser eigentliches und ursprüngliches Wesen, das nichts kennt als sein »Befriedigt« oder »Nicht-befriedigt« 4 . Diese Begriffsbestimmung weicht also vom Sprachgebrauch ab 8 , ist aber dennoch begründet. Denn »Alles was das eigene Wohl und Wehe, Lust und Unlust, unmittelbar ausmacht, ist offenbar nur Affektion . . . des Wollens und Nichtwollens, ist eben das, was, wenn es nach außen wirkt, sich als eigentlicher Willensakt darstellt.« 6 Schopenhauer versteht unter Wille aber nicht nur den Willen, wie er solchergestalt im M e n s c h e n erscheint, sondern er erkannte, daß a l l e in der Natur treibenden und wirkenden Kräfte ihrem Wesen nach identisch sind mit jenem Willen in uns. E i n und der selbe » W i l l e « ist es, der allen Erscheinungen der Welt zugrunde liegt — von der Schwerkraft bis zu den menschlichen Wünschen und Bestrebungen —, aus dem die Welt und alles, was in ihr ist, sich begreifen und ableiten läßt. Es ist dies eine Analogie ohnegleichen und doch nur das — wenn auch freilich im höchsten Grade —, was Plato vom Philosophen verlangte, nämlich das Erkennen des Identischen in den verschiedensten Erscheinungen. Denn jenes physisch unerklärliche, Schwerkraft genannte, beständige Streben der Materie ist nichts anderes als die unterste Stufe der selben, an sich bewußtlosen 5

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Kraft, die in der menschlichen Brust als ein ganz ebensolches, durchaus wesensgleiches »Streben« erscheint und hier, von der E r k e n n t n i s beleuchtet, ihr Wesen entschleiernd sich als »Wille« kundgibt. Und ebenso verhält es sich mit allen Kräften der anorganischen und allen Gestalten der organischen Welt, d. h. also mit allen Erscheinungen der ganzen Natur. Dieses »Ein und Alles« des Schopenhauerschen »Willens« ist der auf nichts weiter zurückführbare philosophisch-abstrakte Ausdruck des von Goethe in den verschiedensten Formen ausgesprochenen Gedankens der Allbeseelung, wie ihn auch Faust ausspricht:

Wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem andern wirkt und lebt! Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen Und sich die goldnen Eimer reichen! So sind also die Naturkräfte, die »Himmelskräfte«, als »Wille« enträtselt, während man vor Schopenhauer umgekehrt den Willen für eine Art Kraft gehalten hatte, ohne daß freilich hiermit auch nur das mindeste erklärt gewesen wäre. Aber die Geisterwelt ist nicht verschlossen; dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot! — nämlich Sinn und Herz desjenigen, der, dieser Einsicht sich verschließend, etwa fortfahren wollte, Worte mit Worten zu erklären, anstatt die Welt aus demjenigen zu begreifen, was uns am intimsten bekannt und zugleich aus nichts anderem mehr abzuleiten ist, nämlich aus dem »Willen« in unserer eigenen Brust. Und dieser Willensbegriff ist nun auch der Schlüssel zum Verständnis der moralisch-metaphysischen Bedeutung des Lebens, die also, obwohl die Krone des Systems, 34

doch unmittelbar aus dessen Grundgedanken erwächst. Eine Metaphysik nämlich, die das Wesen der Welt in den »Willen« setzt, ist schon selbst ursprünglich ethisch, nämlich aus dem Stoff der Ethik, eben dem Willen, konstruiert: denn die Ethik hat es mit der Gesinnung, dem guten oder bösen Willen, zu tun. Hierdurch also ist »die Kraft, welche das Phänomen der Welt hervorbringt, mithin die Beschaffenheit derselben bestimmt«7, — nämlich eben jener Wille, aus dem alle menschlichen Handlungen hervorgehen, und dessen metaphysische Wurzel wir erkannt haben, — »in Verbindimg gesetzt mit der Moralität der Gesinnung, und dadurch eine moralische Weltordnung als Grundlage der physischen nachgewiesen« 8 . Das schon von Sokrates aufgeworfene Problem ist gelöst. In dieser philosophischen Erkenntnis Hegt das größte Verdienst des Ethikers Schopenhauer — die schönste poetische Darstellung des selben Gedankens aber ist die Verbindung des herrlichen Hymnus der drei Erzengel auf die kosmische Ordnung des Weltalls mit der Erscheinung des Herrn, als des Herrn der s i t t l i c h e n Ordnung, im Prolog zu Goethes Faust.



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*

DAS EWIG-MENSCHLICHE

D e r Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. Hiob 14, 1. 2 » A u s der Nacht der Bewußtlosigkeit zum Leben erwacht findet der Wille 1 sich als Individuum, in einer endund grenzenlosen Welt, unter zahllosen Individuen, alle strebend, leidend, irrend; und wie durch einen bangen Traum eilt er zurück zur alten Bewußtlosigkeit. — Bis dahin jedoch sind seine Wünsche grenzenlos, seine Ansprüche unerschöpflich, und jeder befriedigte Wunsch gebiert einen neuen. Keine auf der Welt mögliche Befriedigung könnte hinreichen, sein Verlangen zu stillen, seinem Begehren ein endliches Ziel zu setzen und den bodenlosen Abgrund seines Herzens auszufüllen.« 2 56

Dies ist das Bild des Menschen und auch das Bild Faustens, und als Prototyp dieses Bildes sehen wir ihn gleich zu Beginn des ersten Monologs und finden wir ihn immer wieder im ganzen Verlauf seiner Entwicklung — strebend, leidend, irrend, unerschöpflich in der grenzenlosen Unmäßigkeit seiner Ansprüche, bis er schließlich, von seinen Irrtümern zurückgekommen und der Gottheit versöhnt, in den Himmel aufgenommen wird. Nun ist zwar sofort klar, daß wir hier keinen der gewöhnlichen Menschen vor uns haben, die nur materieller Zwecke fähig sind, nach denen allein sie, über ihren Wert irrend, streben und bei deren Verfehlung allein sie leiden, Menschen, deren Maßlosigkeit, anders als die Faustens, in dem Streben nach Anhäufung und Genuß der gewöhnlichen Glücksgüter besteht: von solchen Menschen ist in Goethes Meisterwerk keine Rede, selbst Wagner ist keiner von jenen »Philistern«, jenen »Menschen ohne geistige Bedürfnisse«, die »immerfort auf das ernstlichste beschäftigt sind mit einer Realität, die keine ist« 3 . Faust ist vielmehr eine ungewöhnlich hoch stehende Persönlichkeit. Als Mensch aber, d. h. seinem Grundwesen nach, trägt er alle Züge jenes Schopenhauerschen Bildes des Menschen, wiewohl, seiner edleren Natur entsprechend, durchweg veredelt. So sind seine Irrtümer, in die er in seinem Streben verfallen ist, »geniale Irrtümer« 4 , denn sie entstammen einer an sich tiefen Auffassung der Natur; sein Streben selbst ist höherer Art, sogar noch da, wo es ihn im Drang nach Erkenntnis zum Frevel gegen die Gottheit und im Drang nach Lebensgenuß in Schuld gegen die Menschen führt, und sein Leiden ist zwar gesteigert, weil, je höher das Streben eines Menschen ist, 37

auch sein Schmerz bei der Vergeblichkeit dieses Strebens desto tiefer geht, aber er ist edler als die wilden Schmerzen der gewöhnlichen Menschen. Nicht als vorübergehende Stimmung, sondern immer wieder von neuem und eindringlich und klar kommt es Faust zum Bewußtsein, daß der »strebende« Mensch auch der »leidende« ist; er weiß, daß überall die Menschen sich gequält, er kennt den ewigen Gesang, Der jedem an die Ohren klingt, Den, unser ganzes Leben lang, Uns heiser jede Stunde singt, jenes: Entbehren sollst du! sollst entbehren! Und selbst der Himmelsgesang des Chors der Jünger klagt: Ach! an der Erde Brust Sind wir zum Leide da. Auch Lynceus, der Türmer, der soeben noch von der Schönheit der Welt gesungen, kann sich dieser anderen Seite des Daseins nicht verschließen: Nicht allein mich zu ergetzen, Bin ich hier so hoch gestellt; Welch ein greuliches Entsetzen Droht mir aus der finstern Welt! Es ist dasselbe Entsetzen, welches Faust erschüttert, als die vier grauen Weiber, der Mangel, die Schuld, die Sorge und die Not, ihn noch kurz vor seinem Tode hedrängen — es ist des Erdgeistes schreckliches Gesicht. So ist also die untrennbare Verbundenheit des Erdenlebens mit dem Leiden ein Grundgedanke der Dichtung, und Goethes Faust wäre nicht das Menschheitsbuch geworden, welches es ist, wenn der Dichter dies hätte wegleugnen oder beschönigen wollen, anstatt es in voller Deutlichkeit und Wahrhaftigkeit darzustellen. Die philosophische Betrachtung aber, der wir hier nachgehen, hat n u n m e h r die Gründe, die letzterkennbaren, aus nichts weiter mehr abzuleitenden Gründe für diesen Tatbestand aufzuzeigen. 38

Wenn im Willen zum Leben der Kern der Welt und des Menschenherzens liegt, so muß die gesuchte Erklärung aus dem Grundwesen dieses Willens herzuleiten sein. Und so ist es in der Tat. Denn auf der All-Einheit jenes Urwillens beruht zwar alle Harmonie in der Natur, nämlich die innere Verwandtschaft aller Naturerscheinungen, dieser Urwille selbst aber ist bereits in seinen untersten Stufen mit sich selbst entzweit, im Kampf mit sich selbst begriffen, und zwar seinem innersten Wesen nach. Man betrachte das Wesen der Schwerkraft: ihr Streben geht dahin, alle existierende Materie in einen Klumpen zu vereinigen: dann aber »würde im Innern desselben die Schwere, zum Mittelpunkte strebend, noch immer mit der Undurchdringlichkeit, als Starrheit oder Elastizität, kämpfen« 6 . Durch die gesamte Natur läßt sich dieser Kampf und Streit verfolgen, ja, sie besteht überhaupt nur durch ihn. Dies wiederum läßt sich bereits an den untersten Naturkräften, auf denen das ganze Weltgebäude beruht, nachweisen. Ist doch unser Sonnensystem nur möglich durch den fortwährenden Kampf zwischen Zentripetal- und Zentrifugalkraft, indem die Sonne infolge ihrer Anziehungskraft, die der Eigenbewegung der Planeten beständig entgegenwirkt, diese zwingt, sie zu umkreisen, während die Planeten bei ungehemmter Anziehungskraft der Sonne in diese hineinstürzen und verbrennen, bei ungehemmter Eigenbewegung aber in den Weltraum enteilen und den Kältetod sterben würden. Den entsprechenden Kampf zeigt ganz ebenso die Chemie, das organische Leben, die Pflanzenwelt und die Tierwelt, »welche die Pflanzenwelt zu ihrer Nahrung hat, und in welcher selbst wieder jedes Tier die Beute und Nahrung 39

eines anderen wird, . . . indem jedes Tier sein Dasein n u r durch die beständige A u f h e b u n g eines f r e m d e n erhalten kann« 6 . Und nicht anders steht es m i t d e m Menschengeschlecht. Dies ist die Selbstentzweiung, der Kampf des all-einen Willens zum Leben mit sich selbst — an sich selber m u ß er zehren, »weil außer ihm gar nichts vorhanden und er ein hungriger Wille ist« 7 : Denn alles, was entsteht, Ist wert, daß es zugrunde

geht.

Zugleich aber gewahren wir die Abwesenheit eines letzten Zieles alles Wollens: Ewiges Werden, ewiger Fluß der Dinge, wie schon Heraklit ihn lehrte, gehört zur Offenbarung des Wesens des Willens zum Leben, »der ein endloses Streben ist« 8 . Jener ewige Kampf

der

Schwere mit der Undurchdringlichkeit hält uns ganz deutlich vor Augen, daß das Streben der Materie stets n u r gehemmt, nie u n d n i m m e r erfüllt oder befriedigt werden kann. Ganz ebenso aber verhält es sich mit allem Streben aller Erscheinungen dieses Willens zum Leben, in der ganzen Natur, bis zu d e m Streben, Wünschen u n d Wollen in der Menschenbrust. Ein letztes Ziel des Wollens, eine letzte endgültige Befriedigung ist nicht möglich auch dann nicht, wenn alle Wünsche erfüllt w ä r e n : Und im Genuß verschmacht'

ich nach

Begierde.

So gehört zum Wesen jenes Urwillens, daß er vermöge des inneren Widerstreites mit sich selbst stets gehemmt, u n d vermöge der Endlosigkeit seines Strebens, der Abwesenheit eines letzten Zieles ewig unbefriedigt ist. »Glücklich genug«, sagt deshalb Schopenhauer, »wenn noch etwas zu wünschen und zu streben übrig blieb, da40

mit das Spiel des steten Überganges vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch, dessen rascher Gang Glück, der langsame Leiden heißt, unterhalten werde, und nicht in jenes Stocken gerate, das sich als furchtbare, lebenserstarrende Langeweile, mattes Sehnen ohne bestimmtes Objekt, ertötender languor zeigt« 9 . Und daher sagt Faust noch kurz vor dem Ende seines langen, an inneren und äußeren Erfahrungen so reichen Lebens, eben weil er von dem unwandelbaren Kern des menschlichen Wesens, vom Ewig-Menschlichen, spricht: Im Weiterschreiten find' er Qual und Glück, Er! unbefriedigt jeden Augenblick! Freilich stehen diese Worte noch vor seiner letzten Erkenntnis, nach welcher der wahre Sinn des Lebens auf dem Wege des egoistischen Glücksstrebens überhaupt nicht zu erfassen ist. Hiervon jedoch ist erst später, bei den dem Erlösungsgedanken dienenden Erörterungen, zu sprechen. Inzwischen können wir nunmehr feststellen, daß der philosophische Unterbau für jenen Grundgedanken der Dichtung, daß Leben und Leiden untrennbar zusammengehören, jetzt gewonnen ist. Denn weit entfernt, etwas Zufälliges zu sein, ist vielmehr alles Leiden ja nichts anderes als gehemmtes, vereiteltes, unbefriedigtes Streben — alles Streben aber ist seinem Wesen nach ein »Wollen«, und dieses wiederum ist vermöge jener ursprünglichen inneren Selbstentzweiung n o t w e n d i g stets gehemmt, nie befriedigt, an sich selbst zehrend und ohne Ziel. Dies ist die Tragik des Weltgeschehens, wie sie sich jedem tiefer denkenden Geiste seit Anbeginn der Menschheit offenbart hat, bis Schopenhauer die philosophische Erklärung 41

gab: So eben offenbart sich der Wille zum Leben. Nur freilich mußman auch bei dieser ganzen Betrachtung wieder in den verschiedenen E r s c h e i n u n g s f o r m e n

die

Identität des P r i n z i p s , im Einzelnen das Allgemeine zu erkennen fähig sein. Diese »pessimistische« Grundansicht Schopenhauers gründet sich, wie soeben dargelegt, nicht auf Zufälliges, auf Unwesentliches, auf Einzelnes, sondern auf das Notwendige, das Wesentliche und Allgemeine, nämlich auf das ewige und unveränderliche Grundwesen der Welt und damit des Menschen, und ist somit p h i l o s o p h i s c h e r Pessimismus. Dieser ist also an und f ü r sich nichts weiter als die aus der vorurteilslosen und auch absichtslosen Betrachtung der Natur gewonnene nüchterne Feststellung eines T a t b e s t a n d e s und steht dadurch im Gegensatz zum S t i m m u n g s p e s s i m i s m u s , der aus Unzufriedenheit über versagte Glücksgüter entsteht, auf die eine rein optimistische, d. h. die Tragik und die Leiden der Welt wegleugnende oder beschönigende Weltansicht Anspruch zu haben glaubt. Der Unterschied wird gerade in Goethes Meisterwerk besonders klar. So sind jene tiefen Einsichten Faustens ins Ungewisse MenschenLos etwas ganz anderes als der aus einer düsteren, aber vorübergehenden Stimmung sich ihm entringende Fluch gegen alles, was ihm bisher heilig war. Stimmungspessimismus als Weltanschauung ist auch trostlos und unheilbar; Faust dagegen gesundet. Die Einsichten in die Tragik des Weltgeschehens drücken ihn nicht nieder, und selbst über das Gefühl seiner schweren Schuld wird er Herr, und seine Seele wird immer mehr geläutert. Tief symbolisch erfolgt diese geistige Genesung beim Herannahen der Sonne a m Anfang des zwei42

ten Teiles. Denn »das Licht ist das Erfreulichste der Dinge: es ist das Symbol alles Guten und Heilbringenden geworden . . . Die Abwesenheit des Lichtes macht uns unmittelbar traurig; seine Wiederkehr beglückt.« 10 Und wie die Erzengel im Prolog die Mächtigkeit und die Pracht der Natur besingen, so ist es jetzt, wiederum höchst symbolisch, Ariel, jener himmlische Bote der liebenden Natur aus dem Walpurgisnachtstraum, der mit Hilfe des Chors der Elfen Faustens Innres reinigt vom erlebten Graus. Das bedeutet im Sinne des Schopenhauerschen philosophischen Pessimismus, daß die Schönheiten der Welt durchaus anerkannt werden und ihren Wert behalten, wohingegen die Schwarzseherei des Stimmungspessimisten jeden Genuß, den Natur und Kunst gewähren mag, vergällt. Daher die Mahnung, die selbst der Teufel nicht ungesagt läßt: Hör' auf, mit deinem Gram zu spielen, Der wie ein Geier dir am Leben frißt. Ja, man kann sagen, daß unter allen Philosophen keiner, so sehr wie der »Pessimist« Schopenhauer die Kunst verherrlicht, keiner so sehr wie er »durch die zu ihrem Anschauen einladende, ja sich aufdringende Fülle der schönen Natur« 1 1 sich gehoben und gestärkt gefühlt hat: »Ihr gelingt es, so oft sie mit einem Male unserem Blicke sich auftut, fast immer, uns, wenn auch nur auf Augenblicke, in den Zustand des reinen Erkennens zu versetzen. Darum wird auch der von Leidenschaften, oder Not und Sorge Gequälte durch einen einzigen freien Blick in die Natur so plötzlich erquickt, erheitert und aufgerichtet« 12 . So gilt Faustens erster Gruß beim Beginn seiner neuen Laufbahn, deren Ziel es auch jetzt ist, zum höchsten Dasein 43

immerfort zu streben, heiligen Licht:

der Natur, dem Licht, dem

Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig, Ätherische Dämmerung milde zu begrüßen. Daß hierin kein Widerspruch zu Schopenhauers in der Verneinung jenes unheiligen Lebenswillens liegendem Erlösungsgedanken liegt, die ästhetische Betrachtung vielmehr eine Vorstufe der Erlösung ist, wird später noch klarzustellen sein 1 3 . Denn allerdings einer Erlösung bedarf es aus dieser Tragik des Weltgeschehens, und hier findet der Schopenhauersche Pessimismus seine positive Ergänzung und erweist sich zugleich als die einzig mögliche Grundlage für jede heroisch-kämpferische Lebensauffassung. Schopenhauer hat jene Tragik nicht aufgezeigt und vom Leiden der Welt nicht gesprochen, u m sich in schwächlichen Klagen darüber zu ergehen, oder u m unfruchtbare Anklagen gegen den Weltlauf zu erheben — das hat er vielmehr mit ausdrücklichen Worten und überzeugender Begründung verworfen —, sondern er hat in durchaus positiver Weise den Weg aus diesem Zustand des Leidens heraus gewiesen — und die Faustdichtung geht den selben Weg. Es ist der Weg der Selbstverleugnung, der Überwindung des »egoistischen«, als »Drang zum Dasein and Wohlsein« auftretenden Lebenswillens durch selbstloses Tun, zu dem Faust a m Schlüsse seines Lebens gelangt. Hierzu aber gehört Kampf, nämlich der heroische Kampf gegen sich selbst. Denn das Leben auch des besten Menschen ist doch nur »ein steter, langer, rastloser Kampf ohne Sieg; Vollendung, Ruhe, höchste unerschütterliche Einigkeit mit sich selbst ist nicht zu finden : das Höchste, wozu der Mensch es bringt, ist, daß er 44

den Arm nicht sinken läßt, sondern kämpft und kämpft bis £in den letzten Atemzug« 1 4 . Es ist dies der Kampf gegen eben jenen, das Wesen des Menschen darstellenden egoistischen Lebenswillen, und hier zeigt sich — überraschend und beglückend - in voller Deutlichkeit die Großartigkeit jenes Gedankens der Verbindung der physischen mit der metaphysisch-moralischen Weltordnung:

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, Die eine will sich von der andern trennen; Die eine hält, in derber Liebeslust, Sich an die Welt mit klammernden Organen; Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust Zu den Gefilden hoher Ahnen — Das heißt im Sinne jenes den Dust der physischen Welt überfliegenden und die Gefilde der Metaphysik erreichenden Gedankens Schopenhauers nichts anderes, als daß das in der Brust eines jeden Menschen sich abspielende »gewaltsame« Erlebnis ein Kampf ist, ein Kampf gegen sich selbst, gegen jenes bloß physische gemeine Leben wollen, gegen jenes gemeine Streben nach »Dasein und Wohlsein«, nach dem gewöhnlichen Menschenglück auf dieser Erde, ein Kampf, u m den höheren metaphysisch-moralischen Zweck des Lebens durchzusetzen, ein Kampf also, dessen Sinn innere Läuterung ist: Dann hat die Welt in der Tat eine moralische Bedeutung, dann stellt sie, und mit ihr das menschliche Leben, sich recht eigentlich als das Mittel zu einem höheren Zweck dar, das Leben hat einen Sinn, und zwar den höchsten, den man ihm beilegen kann: Da ist's der Mühe wert, ein Mensch zu sein. Der Preis der Mühe und des Kampfes aber ist es, »sich 45

emporzuschwingen zu einem bessern, uns unbegreiflichen Dasein« 1 5 . — Aber noch ein zweiter Schatten liegt auf jenem eingangs dieses Kapitels gezeichneten Bilde des Menschen: seinem Leben und Streben ist nicht bloß das Leiden notwendig eingewebt, sondern auch der Irrtum - »strebend, leidend, irrend«; ja, diese Seite des Lebens ist im Faust noch stärker betont als die des Leidens, wie besonders das folgende Kapitel zeigen wird. Eindringlicher jedenfalls hat noch keiner das Schicksal dieserhalb Eingeklagt als Faust, da er in der Ostemacht dem grinsenden Totenschädel gegenüber in die fast verzweifelten Worte ausbricht:

Was grinsest du mir, hohler Schädel, her? Als daß dein Hirn, wie meines einst verwirret Den leichten Tag gesucht und in der Dämmrung schwer, Mit Lust nach Wahrheit, jämmerlich geirret. Warum aber irrt der Mensch, solang er strebt? Warum muß er im Dunkel der Lebensrätsel verharren, ohne fähig zu sein, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen? Die zunächst allgemein-biologische Erklärung 1 6 ist hier leicht zu geben: » I m H e r z e n steckt der Mensch, nicht im Kopf.« 1 7 Das Herz, der gute oder böse W i l l e , ist der ewige Teil, der Kopf nur der zeitige; oder, mit anderen Worten: der Wille zum Leben ist das Primäre, der Intellekt hingegen das Sekundäre, denn er ist nur dazu bestimmt, die Leuchte und der Lenker der Schritte des Willens zu sein, d. h. der Mensch bedarf, wie auf der Stufenleiter der Naturwesen bereits das Tier, des Intellekts, eben um zu l e b e n . Deshalb aber sind es nur rein praktische Zwecke, für die der Intellekt von der Natur bestimmt ist, und schon da versagt er, wegen der wesentlichen Unvollkommenheit 46

aller Dinge dieser Welt, nur allzu oft — wieviel mehr erst, wenn er, über seine natürliche Bestimmung hinaus, » m i t L u s t nach Wahrheit« strebend, das Wesen der Welt auffassen will! Nein, er ist nichts weiter als das Licht der Natur, wie die alten christlichen Mystiker ihn nannten, d. h. n u r zur Erhaltung des Individuums hervorgebracht und also »zur Ergründung des Rätsels der Welt wenig geeignet« 1 8 . Jedoch auch aus dieser Not der bloß natürlichen Bestimmung unseres Intellekts gibt es einen Ausweg: der Mensch soll sich einerseits an die Gedanken der Weisen halten, die, niedergelegt in den Werken der Kunst und Philosophie, der Menschheit »gewissermaßen eine von einem (und sei es noch so wenig) höhern Wesen ausgehende Offenbarung« 1 9 bedeuten, und er soll andrerseits sich bescheiden, soll das innere Toben stillen lernen durch die klare Erkenntnis der Schranken des menschlichen Intellekts überhaupt, selbst des Intellekts jener Weisen. D e n n wenn, wie es bei bevorzugten Geistern und zur guten Stunde wohl der Fall ist, der Intellekt jenes zur bloßen Erhaltung des Individuums biologisch notwendige Maß einmal übersteigt, wenn jenes bloße Licht der Natur zum Himmelslicht werden will, da stößt der Intellekt auch dann » a n unauflösliche Probleme wie an die Mauer unsers Kerkers« 2 0 . Immer ist es nur ein Schein

lichtsder

des

Himmels-

uns gegeben ist.

Über diese Schranken, zum Höchsten strebend, sich dennoch hinwegsetzen, ja die Schranken der Individualität überhaupt sprengen zu wollen, das ist das Kennzeichen des »Faustischen« Menschen, zu dessen Charakterisierung und philosophischer Vertiefung wir uns nunmehr wenden. 47

DER »FAUSTISCHE« MENSCH

Vieles Gewalt'ge lebt, und. nichts Ist gewaltiger als der Mensch. Sophokles » W a h r l i c h , die uneigennützigste Aufrichtigkeit des Strebens, der unwiderstehliche Drang nach Enträtselung des Daseins, der Ernst des Tiefsinns, der in das Innerste der Wesen einzudringen sich anstrengt, und die echte Begeisterung für die Wahrheit, — dies sind die ersten und unerläßlichen Bedingungen zu dem Wagestücke, von neuem hinzutreten vor die uralte Sphinx, mit dem abermaligen Versuch, ihr ewiges Rätsel zu lösen, auf die Gefahr, hinabzustürzen, zu so vielen Vorangegangenen, in den finstern Abgrund der Vergessenheit«. 1 48

Nur wer bei diesen Worten Schopenhauers im Innersten ergriffen wird, nur wer das Gefühl hat, daß sie auch für ihn geschrieben sind, nur der, dessen G e m ü t tief gen u g ist, u m solcherart von den Rätseln des Lebens wirklich beunruhigt zu werden, nur wer die Not der Seele, die Sehnsucht, über sich und das enge Menschenleben hinauszuwachsen, kennt — n u r der wird einen Menschen wie Faust begreifen, der noch Nachts, im engen Zimmer un-

ruhig auf

seinem Sessel am Pulte sich bewegend, nur

Eines heranwünscht, daß die Seelenkraft ihm aufgehe, uiie

spricht ein Geist zum andern Geist: denn das ist das Kennzeichen des Faustischen Menschen. Aber es ist nicht das einzige. Denn zu d e m auf das Höchste gerichteten Streben des Faustischen Menschen tritt die Maßlosigkeit dieses Strebens:

Vom Himmel fordert

er die schönsten Sterne,

Und von der Erde jede höchste Lust, Und alle Näh und alle Ferne Befriedigt

nicht die tiefbewegte Brust, —

so charakterisiert Mephistopheles i m Prolog den Helden der folgenden Tragödie, und der Herr widerspricht d e m nicht. So können jene Worte Schopenhauers als Ausgangspunkt f ü r das T h e m a dieses Kapitels dienen, denn sie veranschaulichen zwar nicht diese Maßlosigkeit, wohl aber, worauf es zunächst ankommt, den Typus des vom metaphysischen Bedürfnis erfüllten, ja getriebenen Menschen. » D a s metaphysische Bedürfnis des Menschen« 2 — so nannte Schopenhauer jene Ahnung, daß hinter dem Physischen der Welt irgendwie ein Metaphysisches stecken m u ß 3 , und das aus dieser Ahnung sich immer wieder neu •

49

erzeugende Streben, einen Lichtstrahl aus jener anderen Ordnung der D i n g e zu erhaschen. Stark und unvertilgbar nannte Schopenhauer dieses Bedürfnis, weil jeder über die sich ihm unwillkürlich und unwiderstehlich aufdrängenden Lebensrätsel »eine Meinung haben muß,wie jeder a m Horizont einen Punkt haben muß, wo der Himmel die Erde abschließt« 4 . Nach diesem Punkte a m Horizont hat Faust, wie wir ihn a m Anfang des Dramas finden, bisher vergeblich gesucht: Obwohl er alle Wissenschaften studiert hat, ist er doch so klug als wie zuvor. W a r u m ? Diese Frage, die der Poet nicht anders als poetisch und deshalb ohne abstrakte Allgemeingültigkeit beantworten kann und will, soll uns zunächst kurz beschäftigen. D e r Horizont aller Wissenschaften weicht desto weiter zurück, je mehr wir uns mit ihnen beschäftigen, je weiter wir in sie eindringen, und keine Wissenschaft hat ein letztes Ziel, einen endlichen Ruhepunkt. Jede von ihnen läßt immer etwas unerklärt, nämlich das, was sie gerade auf ihrem Felde schon voraussetzt. Dieses ist - nach den von Schopenhauer selbst gegebenen Beispielen — in der Mathematik R a u m und Zeit; in der Mechanik, Physik und Chemie die Materie, die Qualitäten, die ursprünglichen Kräfte, die Naturgesetze; in der Botanik und Zoologie die Verschiedenheit der Species und das Leben selbst. Wer also von den Wissenschaften die letzte Befriedigung erhofft, »gleicht Einem, der auf der Fläche dem Horizont entgegenläuft in der Hoffnung, endlich die Wolken [d. h. die horizontale Linie selbst!] zu berühren« 5 . Aber wo die Wissenschaften aufhören, da fängt die Philosophie an. Diese fragt nicht, wie alle Wissenschaften es tun, nach

50

dem W a r u m , sondern ihre Frage lautet: W a s ist das alles? Das W a r u m nämlich, das auch in der Philosophie nicht ausgeschaltet werden kann, ist diesem Was untergeordnet. Ihr Problem ist mithin eben gerade das, was die Wissenschaften schon voraussetzen, also namentlich jene Frage nach d e m L e b e n selbst und seinem Wesen - und diese Frage ist es auch, die Faust jetzt beschäftigt. Zwar hat er auch Philosophie getrieben, aber auf d e m Wege der Wissenschaft; er suchte auch bei ihr nach d e m W a r u m , anstatt das Was zu betrachten, »strebte nach der Ferne, statt das überall Nahe zu ergreifen« 6 . Jetzt aber will er,

von allem Wissensqualm

entladen, auf ganz neue, anders-

artige Weise d e m K e r n , d e m W e s e n der Welt näherkommen, will erkennen,

Innersten zusammenhält.

gesamten

was die Welt

im

Deshalb hat Schopenhauer, je-

nes Gleichnis fortführend, die künstlerisch geartete Intuition der Philosophie 7 mit der senkrechten L i n i e verglichen, welche jene horizontale Linie, der die Wissenschaft nachgeht, in jedem Punkte schneiden und verlassen k a n n :

»Jeder

Punkt jener ersten

horizontalen

Linie gilt bei ihr [der senkrechten] so viel als die ganze unendliche L ä n g e derselben: sie durchschneidet sie« 8 . Denn die Betrachtungsart der Philosophie ist überall und an jedem Punkte a m Ziel, weil die Frage nach d e m Was, richtig beantwortet, überall die letztmögliche Erklärung gibt, ohne, wie die Wissenschaft, auf ein ferneres Ziel, d. Ii. anf weiter zurückliegende Gründe und schließlich auf jenes Etwas zu verweisen, welches die Wissenschaft eben schon voraussetzt, aber als unerklärlich stehen lassen muß 9 . Wenn also Faust in seinem verzweifelten Zustande sich

der Magie ergeben hat, so heißt das nichts anderes, als daß 5]

er sich den Rätseln der Welt, die sich der wissenschaftlichen Erforschung verschlossen haben, jetzt auf dem Wege der Intuition, des unmittelbaren Schauens nähern will. Wir erinnern uns nun aus Kapitel 1, daß diese anschauliche Erkenntnis die Urerkenntnis ist. Sie ist die Quelle aller tieferen Erkenntnis, aller Weisheit und Wahrheit. Wie töricht, dem Anblick der realen Welt sich zu entziehen ! Grau, teurer Freund, ist alle Theorie Und grün des Lebens goldner Baum. Das Anschauliche, das Reale, in seiner Ursprünglichkeit und Kraft, das ist »der natürliche Gegenstand des denkenden Geistes und vermag am leichtesten, ihn tief zu erregen« 10 . Diese tiefe Erregung, die Faust beim intuitiven Eindringen in die Natur — symbolisiert im Aufschlagen des Zeichens des Makrokosmos — befällt, ist dichterisch niemals so überwältigend dargestellt worden wie im ersten Monolog Faustens. Das Aufgehen der eigenen Seelenkraft, die ihm die Kräfte der Natur rings um ihn htr enthüllt; die Wonne, die in diesem Blick auf einmal ihm durch alle Sinne f l i e ß t , hatte Goethe nämlich an sich selbst erlebt. Wir wissen, daß der junge Dichter durch Anhäufung von Wissen und namentlich durch chemische Experimente in den Kern der Natur — in Goethes Sprache: in das Wesen der Gottheit — einzudringen hoffte, bis ihm klar wurde, daß mit Hebeln und mit Schrauben der Natur ihr Geheimnis nicht abzuzwingen, sondern daß es eben jener i n t u i tiven Betrachtung der Welt vorbehalten ist, die ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt zu schauen und so der Lösung des Pro52

blems des Daseins näher zu kommen. Und wie Goethe in den Geistesstürmen jener Jahre in der K u n s t die Rätsel des Lebens sich lösen sah, so sehen wir jetzt Faust, in der aus der gleichen Quelle, nämlich der Intuition, fließenden p h i l o s o p h i s c h e n Betrachtung der Welt seinen Erkenntnisdrang stillen. Aber »Philosophie ist kein Algebra-Exempel«! Es darf dabei »nicht so kaltblütig hergehn, daß nicht am Ende der ganze Mensch, mit Herz und Kopf, zur Aktion käme und durch und durch erschüttert w ü r d e « 1 1 . So ist in Faustens Erkenntnisdrang nicht bloßes verstandesmäßiges Erkennen- und Begreifenwollen

des

Weltzusammen-

hanges, sondern zugleich ein inneres Er leben wollen des höchsten Wertes lebendig. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn er ausruft:

Bin ich ein Gott? Mir wird so licht! Ich schau' in diesen reinen Zügen Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen. Daß Faust hierbei nicht an einen Gott i m theologischdogmatischen Sinne denkt, ist selbstverständlich:

Nenn's Glück! Herz!

Liebe!

Ich habe keinen Namen

Gott!

dafür!

Das unbekannte Wesen der Welt ist es vielmehr, welches Goethe-Faust » G o t t « nennt, und dieses will Faust gleicherweise erkennen und erleben und so, ganz und gar intuitiv sich verhaltend, des höchsten geistigen und des höchsten sittlichen Wertes teilhaft werden. Dies also ist Faustens Erkenntnistrieb. Und hiermit stehen wir vor einem weiteren Grundgedanken der Dicht u n g : Jedem Ut es eingeboren, daß sein Gefühl hinauf und

55

vorwärts dringt — hinauf und vorwärts — aber nicht über die d e m Menschen gesetzten Schranken hinaus. Hier nun beginnt das Bild des Faustischen Menschen sich zu vervollständigen. Denn jetzt zeigt sich jene Maßlosigkeit, durch die das an sich edle und aufs Höchste gerichtete Streben eines seltenen Menschen zu Frevel und — in dem später zu behandelnden »Lebenstrieb« - zu schwerer Schuld führt. K a u m hat Faust die Fesseln abgeworfen, die seinem Geiste die w i s s e n s c h a f t l i c h e

Weltbetrachtung auf-

erlegt hatte, so will er jetzt aller Fesseln ledig sein, denen er a l s M e n s c h unterworfen ist. E r will die Lebensrätsel lösen und sei es auch - bei seinem Entschluß zum Selbstmord — u m den Preis des Lebens selbst. Zwar verliert er, als echter tragischer Held, hierdurch nicht unsere Sympathien, aber sein Beginnen ist frevelhaft. Obwohl ein sterblicher Mensch, ein Individuum, will er diese seine Individualität abstreifen, — D e m u t und Ehrfurcht vor dem Geheimnisvollen fehlen ihm völlig, und das Gefühl der Ohnmacht des Menschen gegenüber den Naturgewalten und dem Schicksal, das Bewußtsein der menschlichen Unzulänglichkeit und Unvollkommenheit in jeder Beziehung ist i h m unbekannt. An die Stelle der bedingungslosen Hingabe an die Gottheit, wie sie die großen religiösen

Persönlichkeiten kennzeichnet, ist der An-

spruch getreten, mehr als Cherub zu sein, ja, zum Eben-

bild der Gottheit selbst zu werden. Und die Strafe folgt diesem Frevel auf dem Fuße: Gebieterisch weist der Erdgeist Faust in seine Schranken zurück.

Du gleichst dem Geist, den du begreifst! Nicht mir! 54

Welcher Art sind diese Schranken? Es sind die des menschlichen Erkennens überhaupt. Die Schranken der wissenschaftlichen Erkenntnis lernten wir soeben kennen. Sie bestanden darin, daß keine Wissenschaft jemals einen wirklichen Abschluß haben kann und daß bei der der Wissenschaft eigentümlichen Frage nach dem Warum immer ein letztes unerklärliches Etwas stehen bleibt. Hierüber hinaus ging, wie wir sahen, das philosophisch-metaphysische Erkennen: Es gibt eine Erklärung für jenes Etwas nämlich durch die der Philosophie mögliche Beantwortung der Frage nach dem Was aller Erscheinungen 12 . Aber eben nur dieser »Erscheinungen«, nicht — und hier liegt die Grenze menschlicher Erkenntnis — des »Dinges an sich«, welches in diesen Erscheinungen sich darstellt. Wir können die Dinge in keinem Betracht erkennen, wie sie sin sich sind, sondern einzig und allein in ihren Erscheinungen. Denn zwischen den Dingen und uns stehen die Erkenntnisformen unseres Intellekts. Über diese Kluft führt keine Brücke: »Welche Fackel wir auch anzünden und welchen Raum sie auch erleuchten mag; stets wird unser Horizont von tiefer Nacht umgrenzt bleiben. Denn die letzte Lösung des Rätsels der Welt müßte notwendig bloß von den Dingen an sich, nicht mehr von den Erscheinungen reden. Aber gerade auf diese allein sind alle unsere Erkenntnisformen angelegt: daher müssen wir uns alles durch eine Nebeneinander, Nacheinander und Kausalitätsverhältnisse13 faßlich machen. Aber diese Formen haben bloß in Beziehung auf die Erscheinung Sinn und Bedeutung: die Dinge an sich selbst und ihre möglichen Verhältnisse lassen sich durch jene Formen nicht erfassen. Daher muß die wirkliche positive Lösung 55

des Rätsels der Welt etwas sein, das der. menschliche Intellekt zu fassen und zu denken völlig unfähig ist; so daß wenn ein Wesen höherer Art käme und sich alle M ü h e gäbe, es uns beizubringen, wir von seinen Eröffnungen durchaus nichts würden verstehen k ö n n e n « 1 4 . Hiermit ist die sogenannte »Vernunft-Anschauung«, jenes gänzlich imaginäre Vermögen, welches unmittelbar erkennen soll, was niemand wissen kann, als für die Philosophie völlig unbrauchbar verworfen. Es gibt keine Vernunft, welche nicht denkt, sondern metaphysische Erkenntnisse unmittelbar vernimmt, an der man »gleichsam ein in die übernatürliche Welt sich öffnendes Fensterlein« 1 5 hätte und mit der m a n »gleichsam mit vier Pferden einfahren kann in das unserer Erkenntnis gänzlich und a u f immer abgesperrte Gebiet jenseits der Möglichkeit aller E r f a h r u n g « 1 6 : Den Göttern gleich ich nicht! Läßt sich aber andrerseits für den Faustischen Menschen

etwas Tröstlicheres denken als diese Einsicht?

Hätte nämlich der Erdgeist Faust nicht zurückgestoßen, sondern sich ihm enthüllt, so würde dieser doch von seinen Eröffnungen durchaus nichts haben verstehen könn e n : Und noch m e h r : » W ü r d e eine vollkommene und erschöpfende metaphysische Einsicht uns nicht zu aller physischen, zu allem unsern T u n und Treiben unfähig machen, vielleicht uns f ü r immer in ein erstarrendes Entsetzen versenken, wie den, der ein Gespenst gesehn?« 1 7 U m so größer freilich ist die Tragik Faustens, der hiervon nicht nur nichts weiß, sondern nunmehr auf eine gänzlich andere Weise sein Ziel erreichen will. Konnte er kein G o t t werden, so will er jetzt ein M e n s c h sein, i m vollsten Sinne dieses Wortes. Strebte er in seinem Er56

kenntnistrieb über diese Welt und das Leben h i n a u s , so will er nunmehr mitten in das Leben, in die Welt h i n e i n sich stürzen — in dem jetzt erwachenden »Lebenstrieb«, dem er, der Maßlosigkeit seines Wesens getreu, schrankenlos sich hinzugeben beschließt, um sein eigen Selbst zu dem Selbst der ganzen Menschheit zu erweitern. Und wenn er früher, in seinem Erkenntnistrieb, bis zum Entschluß des Selbstmordes gelangt war, so kömmt er jetzt, im Lebenstrieb, bis zum Bunde mit dem Teufel. Aber ebenso wie seine Maßlosigkeit die gleiche geblieben ist,so ist auch sein letztes Ziel das gleiche: Was dieserGeist, der ungebändigt immer vorwärts dringt, durch sein Streben nach Gottähnlichkeit nicht erreichen konnte, nämlich e r k e n n e n d jene Synthese des höchsten geistigen und sittlichen Wertes in sich zu verwirklichen, das will er jetzt im L e b e n s t r i e b durch volles M e n s c h sein erzwingen. Faust ändert aber hiermit n u r die Richtung seines Strebens, denn Erkenntnis- und Lebenstrieb sind in ihm von allem Anfang an untrennbar verbunden. So findet sich eine Andeutung jener Änderung der Richtung bereits im ersten Monolog. Im Beschauen des Zeichens des Makrokosmos, als ihm das Schauspiel des reich u m ihn pulsierenden Lebens intuitiv aufgeht, wird er von der Sehnsucht erfaßt, nicht nur zu schauen, sondern auch von den Quellen alles Lebens, an denen Himmel und Erde hängt, selbst zu trinken: Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur! Wo faß' ich dich, unendliche Natur? Aber erst nach dem Bunde mit dem Teufel schlägt er diese neue Richtung entschieden ein. Jetzt heißt es: 57

Damit du, losgebunden, Erfahrest,

frei,

was das Leben sei!

Und so ruft er:

Des Denkens Faden ist zerrissen. Mir ekelt lange vor allem

Wissen.

Laß in den Tiefen der Sinnlichkeit Uns glühende Leidenschaften

stillen!

Das bedeutet nun aber, wie gesagt, nicht, daß Faustens ganzes Wesen sieh verändert habe, daß er sein früheres Ziel vergessen und z u m Ersatz dafür in Sinnenlust und gottlosem Rausch aufgehen wolle. Nein, als typischer Mensch, als Übermensch, der er jetzt sein will, erwartet er der Erde Wohl und Weh und schmerzlichsten

Ge-

nuß, u n d sein Ziel — mit meinem Geist das Höchst' und Tiefste greifen — bleibt das selbe. Aber wie Goethe selbst, besonders nach der Leipziger Zeit, glühend danach strebte, Sinnenfreudigkeit und Gottsuchen zu vereinigen, wie er sich damals sogar d e m Teufel verschrieben hätte, wenn er durch ihn zu Gott, d. h. zu jenem höchsten Werterlebnis, hätte gelangen können, so denkt auch Faust. Ganz deutlich ergibt sich das aus den auf jenes Wort, welches »des Denkens zerrissenen Faden« in so entschiedenen Gegensatz zu den » T i e f e n der Sinnlichkeit« stellt, unmittelbar folgenden Aussprüchen. Faust erklärt sich zwar geheilt vom W i s s e n s d r a n g , aber nicht zurückgekommen vom D r a n g nach jenem Werterlebnis in letztmöglichem Erkennen und Erleben, sondern er hält diese Synthese durchaus aufrecht:

Was bin ich denn, wenn es nicht möglich ist, Der

Menschheit

Nach der sich alle

58

Krone

zu

Sinne

dringen?

erringen,

Nur ist eben an Stelle des früheren Betrachtens des Lebens als eines »Schauspiels« jetzt der Entschluß des sinnlichen »Erfassens« des Lebens getreten. Das Mittel hat gewechselt, aber das Ziel ist das selbe: Vergebens haV ich

alle Schätze Des Menschengeists

auf mich herbeigerafft —

in jenem jetzt überwundenen Betrachten — Ich bin nicht

um ein Haar

breit höher, Bin dem Unendlichen

nicht

näher — also will ich dessen jetzt auf andere Weise teilhaft werden. Jetzt »fordert er von der Erde jede höchste L u s t « , aber nicht u m ihrer selbst willen, sondern er erstrebt immer das gleiche Ziel, wenn auch mit einem ganz anderen Mittel": in Lebens- und Sinnenlust höchstes geistiges und sittliches Werterlebnis. So hofft er, selbst im Treiben des positiven Bösen der Lösung der Welträtsel näherzukommen: In der Walpurgisnacht, zur Höhe des Brockens deutend, ruft er: Dort strömt die Menge zu dem

Bösen; Da muß sich manches Rätsel lösen, und die Wette mit dem Teufel hat nur dann einen Sinn, wenn die Gelüste, die der Teufel allein zu bieten hat, nämlich die der Sinnlichkeit, in einem G e g e n s a t z zu Faustens innerer S t i m m u n g und seinem eigentlichen Ziel stehen — und das ist eben das nach wie vor in ihm lebendige hohe Stre ben, jener Urquell,

von d e m bereits der Herr selbst im

Prolog spricht. Dieser Urquell muß also jetzt, da der Teufel versucht, Faust davon »abzuziehen«, noch fließen. Diese Klarstellung erscheint nötig, weil, soweit ich sehe, alle Faustkommentatoren

einen scharfen

Tren-

nungsstrich zwischen Faustens früherem »Erkenntnis trieb« und jetzigem »Lebenstrieb« ziehen, wobei aber nicht gesagt wird, oder jedenfalls unklar bleibt, ob Faustens Charakter trotzdem der gleiche geblieben ist, oder 59

ob an die Stelle seines früheren Erkennenwollens jetzt ein ganz anderes Ziel, das des bloßen Genießenwollens, tritt. Und doch kommt es gerade hierauf ausschlaggebend an. Denn ein Faust, der alles frühere hohe Streben aufgegeben hätte, um in den Genüssen der Sinnlichkeit u m d e r e n selbst w i l l e n unterzutauchen, und der nur gelegentlich aus diesem Taumel erwachte, würde nicht nur in sich selbst von lebensunwahrer Inkonsequenz des Charakters sein, sondern auch jeder Sympathie, wie sie dem tragischen Helden entgegengebracht werden muß, verlustig gehen. Es ist also irreführend, von einem Gegensatz zu sprechen, ohne ausdrücklich hinzuzufügen, daß derselbe nur relativ ist, nämlich nur in den verschiedenen Mitteln liegt, bei Gleichheit des Zieles. Ja, noch mehr: der wichtigste Grundgedanke der Dichtung wird verdunkelt, wenn diese Gleichheit des Zieles nicht klar vor Augen liegt, nämlich der Gedanke, daß durch Eindringen in die Welt jene Synthese des höchsten geistigen und sittlichen Wertes niemals erreicht werden kann, niemals der Gottheit näher zu kommen ist. Nun aber, so wird man einwenden, war dies doch des Pantheisten Goethe recht eigentlicher Glaube I Mag sein, aber nicht des Dichters der Gretchentragödie. Hat er doch selbst gesagt, daß er »bei den mannigfaltigsten Richtungen seines Wesens nicht an e i n e r Denkweise genug haben könne«: »Als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eines so entschieden wie das andere. Bedarf es eines Gottes für meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch, so ist auch dafür schon gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, daß die Organe aller 60

Wesen zusammen es n u r erfassen mögen« 1 8 . Nun, in der Gretchentragödie sind die himmlischen u n d irdischen Dinge weder vom Standpunkt des Theismus, noch des Polytheismus, noch des Pantheismus aus erfaßt, sondern der Menschheit

ganzer Jammer,

der hier in kürze-

ster Frist sich abspielt, u n d in unerbittlicher u n d furchtbarer Folgerichtigkeit sich darstellt, ist schlechterdings n u r vom Standpunkt des P e i n d ä m o n i s m u s aus erklärlich. Dies will auch Schiller ausdrücken, wenn er in jen e m Briefe an Goethe von dem »verunglückten Bestreben, das Göttliche u n d Physische im Menschen zu vereinigen«, schrieb — »verunglückt«, weil beides sich ausschließt. D e n n die Natur ist dämonisch, nicht göttlich. Das h a t schon Aristoteles gesagt 19 , u n d Schopenhauer hat es bewiesen, indem er den Weltgrund als unselig, u n heilig aufzeigte 2 0 . Das Eindringen in diesen Weltgrund kann also niemals zur »Gottheit« f ü h r e n . Dieser Gedanke wird gerade im Faust in der eindringlichsten Weise dargelegt. D e n n nicht an ART flachen Unbedeutendheit

der oberflächlichen Lebenslust der Zech-

gesellen in Auerbachs Keller, nicht an den derben Späßen u n d d e m wilden Leben in der Hexenküche

läßt der Dich-

ter seinen Helden — u n d uns — »erkennen, was das Leben sei«, sondern er f ü h r t ihn unmittelbar in die Tiefe jenes Weltgrundes hinab, z u m »Brennpunkt • des Willens zum L e b e n « — in der Liebe zu Gretchen. D e n n in der T a t : » D e r Brennpunkt dieses Willens«, d. h. die Konzentration u n d der höchste Ausdruck desselben ist der Geschlechtstrieb und seine Befriedigung, der Generationsakt. I n i h m »spricht das innere Wesen der Welt sich a m deutlichsten aus« 2 1 . I n diesen Lebenswillen, in dieses 61

innerste Wesen der Welt wollte Faust hinabsteigen, um es sinnlich zu erleben, um es am unmittelbarsten zu erkennen, und er hat den direkten Weg dahin eingeschlagen. Denn »wenn man mich fragt, wo denn die intimste Erkenntnis jenes innern Wesens der Welt, jenes Dinges an sich, das ich den Willen zum Leben genannt habe, zu erlangen sei, oder wo jenes Wesen am deutlichsten ins Bewußtsein tritt, oder wo es die reinste Offenbarung seiner selbst erlangt, — so muß ich hinweisen auf die Wollust im Akt der Kopulation. Das ist es! Das ist das wahre Wesen und der Kern aller Dinge« 22 . Ist dies nun aber dasjenige, was Faust wirklich suchte, jene Synthese von höchstem geistigem und sittlichem Werterlebnis:3 Nein, es ist ein Wahn! Aber ein Wahn von einer ganz und gar eigentümlichen Art. In der Geschlechtsliebe23 nämlich tritt der Lebenswille des Einzelnen »in erhöhter Potenz« auf, als »Wille der Gattung« 2 4 . Nicht mehr um das i n d i v i d u e l l e Wohl und Wehe handelt es sich hier, nicht um die i n d i v i d u e l l e n Lebensinteressen, die doch in allen anderen Angelegenheiten das Ausschlaggebende sind, sondern um das Wohl und Wehe der G a t t u n g . Deren Zwecke betreibt der Liebende, nicht seine eigenen. Aber er glaubt, nur seinen egoistischen, auf dem Drang zu persönlichem Wohlsein beruhenden Interessen nachzugehen! Dieses Wahnes jedoch bedarf die Natur. Denn wenn das Individuum im Interesse der Gattung tätig sein und sogar Opfer bringen soll, so »kann, in solchem Fall, die Natur ihren Zweck nur dadurch erreichen, daß sie dem Individuum einen gewissen W7ahn einpflanzt, vermöge dessen ihm als ein Gut für sich selbst erscheint, was in Wahrheit bloß eines für 62

die Gattung ist, so daß dasselbe dieser dient, während es sich selber zu dienen wähnt« 2 5 . Dieser Lebenswille in erhöhter Potenz ist es auch, der gerade in einem Menschen wie Faust, dessen ganzes Wesen der »Unendlichkeit« zustrebt, die Illusion erwecken muß, n u n endlich, vermöge i r d i s c h e r Sinenlust, dem Ü b e r i r d i s c h e n , dem Ewigen nahe zu sein, u m es lebendig in sich aufzunehmen. D e n n »das Pathetische und Erhabene« der Liebesangelegenheiten, »das Transscendente ihrer Entzückungen« 2 6 , welches seinen Grund in eben jenem über das Individuum hinausgehenden »transscendenten« Willen der Gattung hat, scheint in der T a t nicht der E r d e anzugehören, sondern cLer Inbegriff

von allen

Himmeln zu sein. Verhält sich doch der Wunsch nach dem Glück der Liebe zu allen übrigen Wünschen, »wie sich die Gattung verhält zum Individuum, also wie ein Unendliches zu einem Endlichen« 2 7 . » D i e Gattung allein hat unendliches Leben und ist daher unendlicher Wünsche, unendlicher Befriedigung und unendlicher

Schmerzen

fähig. Diese aber sind hier in der engen Brust eines Sterblichen eingekerkert: kein Wunder daher, wenn eine solche bersten zu wollen scheint und keinen Ausdruck finden kann für die sie erfüllende Ahnung unendlicher Wonne oder unendlichen W e h e s . « 2 8 Faust will die Fesseln der Individualität sprengen, um in die Region des Uberirdischen vorzudringen. In dieser »transscendenten«,

Entzückung,

überirdischen,

in Liebestraum

zer-

fließend, glaubt er sich diesem Ziele endlich n a h e ; was Wunder, daß er auf den Gedanken geraten muß, dasjenige, was ihn so tief und einzigartig bewegen kann, müsse »göttlicher« Natur sein! Aber die Liebesleiden63

schaft bleibt auch in ihren höchsten und »erhabensten« Graden ihrem Wesen nach immer die selbe, weil aus dem selben Urgrund der Dinge, jenem Urwillen, entsprungen, der aber, wie schon gezeigt worden ist, durchaus nicht »göttlich«, sondern »dämonisch« ist. Diese kompromißlose Konsequenz des unbestechlichen Denkers Schopenhauer gilt es festzuhalten: die Liebe Faustens zu Gretchen ist nicht der Weg zu jenem ersehnten höchsten Werterlebnis; und nicht der nach dem Höchsten strebende, aber irrende Faust hat Recht, sondern der kalt rechnende, aber, worauf es hier allein ankommt, nüchterne und illusionslose Mephistopheles.

Wenn ich empfinde Für das Gefühl, für das Gewühl Nach Namen suche, keinen finde, Dann durch die Welt mit allen Sinnen schweife, Nach allen höchsten Worten greife, Und diese Glut, von der ich brenne, Unendlich, ewig, ewig nenne, Ist das ein teuflisch Lügenspiel? — so ruft Faust in der festen Überzeugung, daß ein wahrhaft g ö t t l i c h e s Spiel in ihm lebendig sei. Aber Mephistopheles antwortet: Ich haV doch recht! Und später, jenes Pathetische der Liebesangelegenheiten und Transscendente ihrer Entzückungen als etwas nur allzu Irdisches und zugleich als bloße Illusion enthüllend:

Ein überirdisches Vergnügen! In Nacht und Tau auf den Gebirgen liegen Und Erd' und Himmel wonniglich umfassen, Zu einer Gottheit sich anschwellen lassen, 64

Der Erde Mark mit Ahnungsdrang Alle sechs Tagewerk'

durchwühlen,

im Busen fühlen,

In stolzer Kraft ich weiß nicht was genießen, Bald liebewonniglich in alles Verschwunden ganz der

überfließen,

Erdensohn,

Und dann die hohe Intuition — (Mit einer

Gebärde)

Ich darf nicht sagen wie — zu schließen. Vielleicht

ist

nirgends

anschaulicher,

eindringlicher

und überzeugender als hier jenes verunglückte Bestreben, das Physische mit dem Göttlichen zu vereinigen, poetisch dargestellt worden. Wir aber wissen, warum dieses Bestreben, obwohl i m tiefsten Grunde jeder »Faustischen« Seele wurzelnd, verunglücken m u ß t e — weil diese Vereinigung unmöglich ist: die Natur ist dämonisch, nicht göttlich. Wer aber möchte deshalb den Stab über Faust brechen? Ist nicht jeder, der etwas »Faustisches« in sich hat, in dem gleichen Fall? Ist es nicht gerade das Zeichen edelsten Menschentums, ins volle Menschenleben

hinein-

zugreifen, dabei aber doch »fast beständig den, wenn auch undeutlich dämmernden Horizont der Unendlichkeit« 2 9 sich zu bewahren, d. h. dasjenige, was Schopenhauer »das bessre Bewußtsein«' 3 0 genannt hat, doch in sich lebendig zu erhalten? Und ist dieses Gefühl nicht gerade im Liebeserlebnis a m lebendigsten: Brust an Brust und Seel' in

Seele drängen?

— Dieses Problem, das ergreifendste der

ganzen Faustdichtung, hat schon in einer der ersten-Niederschriften des zur philosophischen Besonnenheit erwachenden jugendlichen Schopenhauer seine aus tiefstem eigenen Erleben geschöpfte, ungemein

ausdrucksvolle

Formulierung gefunden in folgenden Worten: » D a s bessre 5

65

Bewußtsein ist vom empirischen durch eine Grenze ohne Breite, eine mathematische Linie, getrennt: das wollen wir meistens nicht einsehn und glauben vielmehr, es sei eine physische, auf der sich wandeln ließe, mitten zwischen zwei Gebieten, und von der man nach beiden sehn könnte: d. h. wir wollen den Himmel verdienen und dabei die Blumen der Erde pflücken. Das geht aber nicht: wie wir das eine Gebiet betreten, haben wir auch gleich das andre verlassen und verleugnet: zu vermitteln und zu verbinden ist nichts, nur zu wählen für jeden Augenblick.« 8 1 Was Faust gewählt hat, ist bekannt, und ebenso, was er damit eingerichtet hat: Gretchen hat er ins Verderben, und sich selbst hat er in Schuld gestürzt. Und doch ist das geschehen auf dem Wege, der ihn den Göttern

nah und näher bringen sollte! Freilich gilt gerade hier jenes Wort des Herrn aus dem Prolog: Ein guter Mensch in seinem, dunklen Drange Ist sich des rechten Weges wohl bewußt. Denn ungewarnt ist Faust auf diesem Wege nicht geblieben ! Eine innere Stimme sagt ihm, daß es der Teufel ist, den er, als etwas ganz und gar Widergöttliches, auf diesem Wege sich erheben sieht:

Er facht in meiner Brust ein wildes Feuer Nach jenem schönen Bild geschäftig

an.

Und er fühlt es, dieses Feuer ist das Feuer der H ö l l e :

Sie, ihren Frieden mußt' ich untergraben! Du, Hölle, mußtest dieses Opfer haben! Er, der als Gottsucher ausgegangen war, empfindet sich jetzt, da er in der bevorstehenden Liebesnacht in jenen66

Weltgrund hinabzusteigen i m Begriffe ist, ganz richtig als den

Gottverhaßten.

D a ß Faust diese innere S t i m m e in sich erstickt, ist seine tragische Schuld. Wir aber wollen uns n u n philosophisch Rechenschaft geben über den » r e c h t e n W e g « , d. h. den W e g , der zur Erlösung führt.



67

DER ERLÖSUNGSGEDANKE

W e r weiß denn, ob das Leben nicht ein Sterben ist, Und Sterben Leben? Euripides » D ie Hauptsache des menschlichen Lebens ist sein ethischer, für die Ewigkeit geltender Wert.« 1 Dieser Satz Schopenhauers, der, wie alle seine Philosopheme, nicht aphorismenhaft-zusammenhanglos ausgesprochen, sondern systematisch begründet ist, indem er auf jener moralisch-metaphysischen Weltordnung beruht, die ihrerseits wiederum ebenfalls im System begründet ist, gehört an die Spitze der nun folgenden Untersuchung. Denn er zeigt, daß Faust, soweit wir sein Leben bisher betrachtet haben, demselben, ungeachtet 68

seines hohen und edlen Strebens, doch noch keinen eigentlichen W e r t , keinen für die E w i g k e i t geltenden Wert, hat geben können, daß, allen seinen tiefen Einsichten und Erkenntnissen zum Trotz, ihm die Hauptsache doch noch unbekannt geblieben ist: sein Leben entbehrte bisher der e t h i s c h e n Tendenz, allen seinen Handlungen fehlte die Beziehung auf jene über das irdische Leben hinausreichende moralisch-metaphysische Ordnung der Dinge. Welches ist nun aber das Kriterium einer Handlung von ethischem Wert? Wir müssen es uns hier versagen, den Einzelheiten der Schopenhauerschen Ethik nachzugehen, da dies für unseren Zweck nicht erforderlich ist. Es genügt vielmehr die Einsicht in folgenden Gedankengang: Der »Egoismus«, d. h. jener Drang zum Dasein und Wohlsein, hat sich als die notwendige Erscheinungsform der Bejahung des Willens zum Leben erwiesen 2 . Ein Ich und ein Egoismus — in diesem Sinne! — sind eins. »Alles für mich, und nichts für die Andern, ist der Wahlspruch des Egoismus« 3 . Es gibt nun aber auch Handlungen, die aus dieser egoistischen Bejahung des Willens heraus nicht erklärlich sind, da sie rein sind von allen egoistischen Motiven, insofern sie nicht, wie die Handlungen des Egoismus, eigenes Wohl bezwecken, sondern fremdes. Es sind dies die Handlungen freiwilliger Gerechtigkeit und reiner Menschenliebe, die Schopenhauer deshalb die Kardinaltugenden genannt hat. Deren Wahlspruch lautet, nach Schopenhauers lateinischer, hier ins Deutsche übertragener Formulierung: Verletze niemanden [Gerechtigkeit], sondern hilf allen, soviel du kannst [Menschenliebe]. Diesen Handlungen also, und nur 69

ihnen allein, kommt moralischer Wert zu: »Egoismus und moralischer Wert einer Handlung schließen einander schlechthin aus« 4 , und der beste Mensch ist derjenige, welcher den geringsten Unterschied zwischen sich und andern macht. Zur weiteren Beglaubigung dessen berief sich Schopenhauer auf jenes »ganz innere Merkmal«, daß nur Handlungen ohne egoistische Motivation »eine gewisse Zufriedenheit mit uns selbst zurücklassen, welche man den Beifall des Gewissens nennt« 6 . Das Wesen dieser Kardinaltugenden ist mithin dasjenige, was das Neue Testament als Selbstverleugnung bezeichnet, denn unser eigentliches Selbst ist ja eben nichts anderes als jener egoistische, d. h. sich bejahende Wille zum Leben. Jede Handlung der Selbstverleugnung, jede »tugendhafte« Handlung, weist also auf jenes Gebiet hin, welches, als etwas Wesensverschiedenes, h i n t e r diesem sich bejahenden Willen liegt und, in eben jenen tugendhaften Handlungen, in die Sphäre der Bejahung des Willens, d. i. in unsere sichtbare Welt, eintritt: Dieses Gebiet ist das der Verneinung des Willens 8 , wie es in Schopenhauers nicht schönfärbender, sondern — für den in der Bejahung Befangenen — hart klingender, aber redlicher Sprache heißt. Zu dieser Verneinung, d. h. zur Erlösung zu kommen, muß also der Zweck unseres Lebens sein, wenn anders wir einer Erlösung aus den Leiden der Welt, die ja mit dem sich bejahenden Willen zum Leben untrennbar verbunden sind, überhaupt bedürfen. Sind doch die Übel in der Welt nichts Zufälliges, denn dann wäre unser Dasein das Zweckwidrigste auf der Welt. Nein, die Übel, von denen die Welt erfüllt ist, sind die n o t w e n d i g e Folge ihres inneren Wesens, jenes von Grund aus unseligen, 70

sich bejahenden Willens zum Leben, der also, »weil unsere Welt keine andere sein kann, so lange unser Wille der selbe ist« 7 , von Grund aus verneint werden muß. Auf dem Wege dahin aber liegen die moralischen Tugenden, weil in ihnen der Mensch frei von egoistisch-bejahenden Motiven handelt. Sie sind ein Übergang, eine Stufe von der Bejahung zu jenem letzten Zweck, der Verneinung, der Erlösung. »Zwischen diesen Beiden also liegt das Moralische: es begleitet den Menschen als eine Leuchte auf seinem Wege von der Bejahung zur Verneinung des Willens.« 8 Dies ist in kurzen Worten der Sinn der in der »Verneinung des Willens« gipfelnden Schopenhauerschen Ethik. Da sie ebenso oft mißverstanden wird wie sein Pessimismus, sei noch besonders gesagt, daß Schopenhauer, worauf er selbst wiederholt hingewiesen hat, niemals eine Forderung stellt; denn das ist Sache der Religion, nicht der Philosophie. Seine Ethik also schreibt nichts vor, sie beschreibt nur, nämlich eben jenes Phänomen der tugendhaften Handlungen, und erklärt dieses aus dem Mitleid, dieses aber wiederum aus derjenigen ganz intuitiven Erkenntnis, nach welcher das ewige Wesen, das im Andern — und ebenso in den Tieren — lebt, das gleiche ist, welches mich selbst beseelt. Ein und dasselbe Wesen ist es, »welches in allem, was Leben hat, da ist, und aus allen Augen, die das Sonnenlicht sehen, mit unergründlicher Bedeutsamkeit hervorleuchtet«9. Wir sehen hier die Bedeutung jenes All-Einheits-Gedankens10 für die Ethik. E i n Wesen ist es, das allen Erscheinungen zugrunde liegt, und die Einsicht in diese metaphysische Einheit aller Wesen, folglich auch aller leidenden, ist es, die 71

das Mitleid hervorruft. Nur wer aus diesem, wie gesagt ganz intuitiven, Einheitsbewußtsein heraus handelt* handelt moralisch wertvoll. Denn jetzt liegt ihm alles Wohl und Wehe des Andern ganz ebenso nahe wie vordem nur sein eigenes. Deshalb sagt Schopenhauer: »Werke der Liebe üben ist unausbleibliches Symptom jener Erkenntnis«11. Es ist die Erkenntnis, daß unser wahres Selbst nicht bloß in der eigenen Person, dieser einzelnen Erscheinung, da ist, sondern in allem, was lebt; es ist die Erkenntnis, welche die indischen Religionen durch die Formel: Tat twam asi = »Dies bist du« ausdrücken, und welche angesichts des Leidens der Welt »als Mitleid hervorbricht, auf welcher daher alle echte, d. h. uneigennützige Tugend beruht und deren realer Ausdruck jede gute Tat ist« 12 . Deshalb auch konnte Schopenhauer weiterhin sagen, daß die Ethik — freilich nur die von ihm selbst aufgestellte — die leichteste aller Wissenschaften sei, da ihr oberster Grundsatz unabhängig von aller Bildung und Gelehrsamkeit einem jeden unmittelbar »im Herzen wurzle« 13 . Demnach »trifft die praktische Weisheit, das Rechttun und Wohltun, im Resultat genau zusammen mit der tiefsten Lehre der am weitesten gelangten theoretischen Weisheit; und der praktische Philosoph, d. h. der Gerechte, der Wohltätige, der Edelmütige, spricht durch die Tat nur die selbe Erkenntnis aus, welche das Ergebnis des größten Tiefsinns und der mühseligsten Forschung des theoretischen Philosophen ist. Indessen steht die moralische Trefflichkeit höher denn alle theoretische Weisheit, als welche immer nur Stückwerk ist und auf dem langsamen Wege der Schlüsse zu dem Ziele gelangt, welches jene mit Einem Schlage erreicht; und der moralisch Edle, wenn ihm auch 72

noch so sehr die intellektuelle Trefflichkeit abgeht, legt durch sein Handeln die tiefste Erkenntnis, die höchste Weisheit an den Tag, und beschämt den Genialsten und Gelehrtesten, wenn dieser durch sein Tun verrät, daß jene große Wahrheit ihm doch im Herzen fremd geblieben ist« 14 . Betrachten wir das Leben Faustens unter diesem ethischen — Gesichtspunkt, so müssen wir, wie schon erwähnt, ehrlicherweise sagen, daß auch ihm jene große Wahrheit, jene Hauptsache des menschlichen Lebens, lange Zeit im Herzen fremd geblieben ist. Alles Streben dieses Geistes, der Götterleben genießen wollte, ging nach Glück, alle seine Handlungen hatten zum letzten Zweck sein eigenes Wohl, nicht das der anderen — bis er dann endlich — fast am Schlüsse seines Lebens — das bedeutsame Wort findet: Genießen macht gemein. Der Irrtum, daß das Glück der Zweck des Lebens sei, beginnt von ihm zu weichen. Jetzt bekennt er: Ich bin nur durch die Welt gerannt. Ein jed' Gelüst e r g r i f f ich bei den Haaren . . . Ich habe nur begehrt und nur vollbracht, Und abermals gewünscht . . . Schopenhauer nannte diesen Irrtum den einzig angeborenen Irrtum — angeboren, weil er mit unserem Dasein selbst zusammenfällt: »Sind wir doch eben nur Wille zum Leben; die successive Befriedigung alles unsers Wollens aber ist was man durch den Begriff des Glückes denkt« 15 . Keinen Rückfall in das frühere Glücksstreben dagegen bedeutet es, wenn Faust unmittelbar vor seinem Tode in die Worte ausbricht: 73

Im Vorgefühl von solchem hohen Glück Genieß ich jetzt den höchsten

Augenblick,

auf Grund deren der Teufel seine Wette als für Faust verloren ansieht. Denn nur scheinbar hat Faust die Wette verloren, in Wirklichkeit hat er sie gewonnen: Das Glück, von dessen Genuß er spricht, ist ja kein egoistisches Glück, sondern er meint i m Gegenteil das vorhin erwähnte >: ganz innere Merkmal der Zufriedenheit mit sich selbst, den Beifall des Gewissens«. Dies aber ist das Gegenteil von jener Grundlage der Wette, wonach Faust diese verloren haben sollte, wenn er beruhigt je sich auf ein

Faulbett legen würde, womit das jenen Strebens nach oben, nach »höchstem Dasein« bare Verharren in Sinnenlust gemeint ist, in die der Teufel denn auch Faust zu führen unternommen hatte. Und ebensowenig — dies sei der Vollständigkeit halber hier gesagt — bedeutet andrerseits das oft so genannte Diesseitigkeitsbekenntnis Faustens i m Wechselgespräch mit der Sorge eine Absage an das metaphysische Streben seiner früheren Jahre. Jenes höchste Werterlebnis, das Faust damals so brennend herbeiwünschte, ist damit nicht als etwas ganz und gar Verfehltes gekennzeichnet, sondern Faust hat jetzt erkannt, daß es gilt, p r a k t i s c h e Metaphysik zu treiben, wenn anders eine sittliche Vervollk o m m n u n g eintreten soll. In diesem Sinne sagt Schopenhauer : »Gerecht, edel, menschenfreundlich sein ist nichts anderes, als meine Metaphysik in Handlungen übersetzen.« 1 8 Wenn es also heißt:

Der Erdenkreis

ist mir genug bekannt.

Nach drüben ist die Aussicht uns 74

verrannt;

Tor! wer dorthin die Augen blinzelnd Sich über Wolken seinesgleichen

richtet,

dichtet;

Er stehe fest und sehe hier sich um; Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm; Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen; Was er erkennt, läßt sich ergreifen — so bedeutet das nicht den Verzicht auf alle geistigen Bedürfnisse, worin nach Schopenhauer das Wesen des Philistertums besteht, sondern es ist dies der Ausdruck der i m L a u f e der Dichtung immer weiter, wenn auch nicht durchweg gradlinig, fortschreitenden L ä u t e r u n g des Helden, hier also der Eintritt der Erkenntnis, daß das Leben nicht bloß erkannt und erlebt, sondern daß, was »erkannt«, auch »ergriffen« werden kann und s o l l - e t h i s c h ergriffen, denn diese Woite stehen n a c h jenem Ausspruch »Genießen macht gemein«, dessen Sinn soeben angegeben wurde, und stehen v o r dem Bekenntnis zum » G e meindrang«, dessen Bedeutung als selbstlose, also e t h i s c h gerichtete Tätigkeit f ü r den Mitmenschen alsbald zu zeigen sein wird. Auch ist zu beachten, daß Faust unmittelbar nach jenen Worten erblindet, aber nicht nachläßt, an die Vollendung eines Werkes zu denken, das jetzt n u r noch den anderen, nicht m e h r . i h m selbst zugute kommt. Wer aber in solchem Unglück so denkt und handelt, der »verleugnet sich selbst«, ist also auf d e m Wege zur E r l ö s u n g begriffen, und das in seinem Innern leuchtende Licht ist nichts anderes, als jene Leuchte des M o r a l i s c h e n , das den Menschen auf seinem Wege von der Bejahung zur Verneinung des Willens begleitet 1 7 . Dieser ganze Zusammenhang ist wohl zu beachten, und jenes »Diesseitigkeitsbekenntnis« darf nicht aus ihm herausgerissen wer75

den. Hieran ändert sich nichts durch die Tatsache, daß Faust jene Worte innerhalb seiner Sphäre als Herrscher, als Strandfürst, ausspricht, denn hierauf kommt es gar nicht a n : Nicht mehr u m bloßes Machtbedürfnis und Tatendurst, wie dies dem Faust der ersten Akte des zweiten Teils eigen war, handelt es sich hier, sondern um die Ausübung der Macht im Interesse der a n d e r e n , des

freien Volks auf freiem

Grund. Das eben ist ja die immer

weiter fortschreitende L ä u t e r u n g Faustens, und darin eben besteht ja sein neuer und letzter Sieg über den T e u fel, daß er dessen Anerbieten eines üppigen Herrscherlebens, eines Schlosses zur Lust in

allerliebst-geselliger

Einsamkeit bei aller schönsten Frauen mit einem verächtlichen: Schlecht und modern!

zurückweist, indem er seine

Macht als Herrscher nicht im eigenen, sondern im f r e m den Interesse, also in selbstsloser, e t h i s c h gerichteter Tendenz, ausüben will, nicht u m des »gemeinen Genießens« willen. — Dies also ist die wichtigste, durch die allmähliche Lösung der Verbindung mit dem Teufel vom Dichter wohl vorbereitete, "Wendung im Leben Faustens: die Hinwendung zum Ethischen, wodurch die Dichtung allererst ihren wahrhaft allumfassenden Inhalt erhält. Und hiermit stehen wir jetzt vor einem neuen Grundgedanken, dem Erlösungsgedanken, und die Einheit des Ganzen als eines Werkes mit tief sittlicher Tendenz wird offenbar — das dramatisch bewegte Bild des z u m höchsten Dasein strebenden Menschen ist der Hauptgedanke, in welchem die einzelnen Grundgedanken der Dichtung

sich

zu-

sammenschließen. Die Tat ist alles. Unsere T a t e n gehören der Ewigkeit, und in ihnen zeigt es sich, ob wir der 76

Erlösung näher kommen. Nicht freilich solche Taten, wie die Stunde sie bringt, die bloße Beschäftigung, das bloße ephemere Tätigsein im Abhaspeln des uns zugemessenen Pensums — das wäre wiederum eine durchaus philiströse Auffassung — sondern, nach Goethes eigenen Worten, »eine immer höhere und reinere Tätigkeit Faustens bis ans Ende«, d. h. in Schopenhauers Sprache die m o r a l i s c h b e d e u t s a m e n Taten der uneigennützigen Gerechtigkeit und der reinen Menschenliebe - und jeder, der immer und überall in diesem Sinne handelt, hat vollauf zu tun, denn er hat nichts Geringeres zu leisten, als sein natürlich-egoistisches Ich zu bekämpfen, sein eigenes Wohl, sein »Glück« zurückzustellen hinter dem Wohl der anderen. In diesem Sinne hat Schopenhauer den Weltüberwinder für einen größeren Heroen erklärt als den Welteroberer. »Unser Tun, nicht unser Erkennen gehört der Ewigkeit an.« 1 8 Selbst nicht jenes Erkennen, wie es Faust bisher, besonders im ersten Teil der Dichtung, erstrebte. Zwar hoch war sein Ziel, nämlich das All zu begreifen, aber er erstrebte dieses Ziel nur, um sein eigenes Verhältnis zu diesem All zu erkennen, also um seiner selbst, um des »Genießens« willen, und von ruhiger Verehrung des Unerförschlichen sowohl, als auch von frommer Versenkung in das »Göttliche«, wie dies das Kennzeichen des religiösen Genies ist, zeigt er sich in seiner Maßlosigkeit weit entfernt. Aber auch der Besitz der Helena, worin das menschliche Streben nach Verbindung mit dem Schönen, dem Ideal-Schönen des antiken Griechentums, allegorisch dargestellt ist, weist keinen eigentlichen ethischen Gehalt auf, wenn auch eine gewisse Läuterung hinsichtlich des Maßlosen seiner Natur bei Faust 77

eingetreten ist; denn er ist ja nicht bei der bloßen ästhetischen Kontemplation stehen geblieben19, sondern er hat sich mit Helena vermählt und reinstes Liebesglück mit ihr »genossen«: Nicht versagt Heimlicher Übermütiges

sich die

Freuden

Majestät

. . .

Offenbarsein.

Und doch! Ein nicht abzuweisendes Gefühl sagt uns, daß Faustens ganzes Wesen, seine ganze Persönlichkeit, der in allem und trotz allem immer der »Horizont der Unendlichkeit« gegenwärtig gewesen, doch nicht in jedem Betracht bedeutungslos und, trotz mangelnder ethischer Tendenz, doch nicht ohne irgend welchen Wert sein kann. Wie könnte auch sonst die Faustdichtung, wenn es ganz allein auf den ethischen Gehalt, der, wie gesagt, erst am Schluß sich kundgibt, ankäme, zu den größten, und bedeutsamsten Dichtungen der Weltlitteratur gehören? Die Erklärung, so fühlen wir, muß darin liegen, daß Faust ja nicht das gemeine Menschenglück erstrebt, sondern zu den Wenigen gehört, deren Glück ganz wo anders liegt. Aber wie vereinbart sich dies mit jener »Hauptsache« des menschlichen Lebens, jenem allein für die Ewigkeit geltenden ethischen Wert? Befragen wir unseren Philosophen nach der Lösung, so antwortet er uns: Ein Mensch wie Faust ist »nicht der Magd Sohn, sondern der Freien« 80 . Der gewöhnliche Mensch besitzt nur so viel Verstandeskräfte, als zu den Zwecken seines Wollens erforderlich ist, es ist an ihm »nichts als der sündige Wille, mit so viel Intellekt, als erfordert ist, seine Schritte zu lenken« 21 ; bei ihm kommt es also lediglich auf die R i c h t u n g dieses seines Wollens an: sein Leben hat eine aus78

schließlich moralische Bedeutung. »Hingegen das Erkennen des Geistreichen, Genialen wird von seinem Willen nicht ganz erfüllt und eingenommen, sondern geht darüber hinaus. Sein Leben hat keine bloß moralische, sondern auch einö theoretische Tendenz« 22 . Das bedeutet: Jene moralische Tendenz ist und bleibt das Wesentliche, das jedem Leben Eigentümliche, und nur derjenige hat die »Erlösung« zu erwarten, der in der Richtung des Moralischen fortschreitet. Bis dahin jedoch behält ein Leben, welches im Sinne Schopenhauers auch eine theoretisch-intellektuelle Tendenz hat, ebenfalls seinen Wert, und zwar eben um dieser selbst, unabhängig von der moralischen, willen. Denn die über jene bloßen Zwecke des Willens hinausgehende Intelligenz, das »willensfreie« Erkennen, wie es besonders den Faust des ersten Teiles der Dichtung kennzeichnet, und aus dem alle Leistungen des höheren Menschentums hervorgehen, kann nicht wertlos sein. Überhaupt »adeln intellektuelle Bestrebungen unser Geschlecht« 23 . Hier liegt auch der Grund dafür, daß der geniale Mensch, »dessen wohlbenutzte Stunde Jahrhunderten Früchte bringt« 24 , eine andere sittliche Beurteilung für sich in Anspruch nehmen kann, als wie sie für den Durchschnittsmenschen angemessen ist. Denn auch ohne jene moralische Selbstverleugnung trägt das Leben des Genialen den Charakter der Entsagung, und wenn es kein anderes Kreuz wäre, so wäre es das der geistigen Vereinsamung, die das Los aller hervorragenden Geister ist. Und obwohl Faust nicht eigentlich als Genie bezeichnet werden kann, so ist "doch, besonders im ersten Teil der Dichtung, seine Anlage hierzu aufgezeigt, und daraus erklärt 79

es sich, daß der Dichter ihn nach der schweren Schuld, die er auf sich geladen, so rasch 'gesunden läßt — Entfernt des Vorwurfs glühend bittre Pfeile — und daß das Fehlen einer eigentlichen Reue ihn nicht u m unsere Sympathien bringt: Das Leben eines Menschen wie Faust hat eben »keine bloß moralische Tendenz«, er führt neben seinem persönlichen Leben noch ein intellektuelles, welches besonderen Gesetzen untersteht. Ist Faust erlöst? Nein; jene eingangs dieses Kapitels gegebene Feststellung, wonach die Erlösung nur durch völlige »Verneinung« eintritt, muß zu dieser Antwort führen. Jedoch ist er auf dem Wege dahin bis zu jener Stufe des Übergangs, den moralischen Tugenden, gekommen, indem er, wie gezeigt worden ist, auf dem Boden der Moral sich haltend, nicht mehr im S e l b s t g e n u ß , sondern in der S e l b s t b e s c h r ä n k u n g — Am farbigen Abglanz haben wir das Leben — in der selbstlosen Tätigkeit für a n d e r e , für das Gemeinwohl, seinen letzten Lebenszweck erkannte und danach handelte: Denn dies ist der Sinn des nicht gerade glücklich gewählten Wortes Gemeindrang. Aber die Laufbahn Faustens ist mit seinem Tode nicht abgeschlossen; ist doch nach Goethes Glauben, dem er hier den deutlichsten Ausdruck gegeben hat, die Aufwärtsentwicklung des Menschen mit dem irdischen Tode nicht zu Ende: Uns bleibt ein Erdenrest Zu tragen peinlich, und Die ewige Liebe nur Vermag's zu scheiden 80

— so heißt es a m Anfang und a m Ende des Gesanges der

vollendeteren Engel, mit dem diese - auf dem Wege der Vollendung selber schon zu höherer Stufe gelangt — auf eine gleichsam überirdische L ä u t e r u n g , eine allmähliche Abscheidung des Erdenrestes hindeuten. Auch die vier Stufen des Pater

profundus,

ecstaticus,

Seraphicus

und

Doctor Marianus

weisen auf eine solche fortschreitende

Läuterung in anderen Lebensläufen hin, und daß diesen eine m o r a l i s c h e Tendenz innewohnt, ergibt sich aus den Worten der seligen Knaben, die auf die weiteren Aufgaben Faustens in jenen höheren Sphären, d. h. in einem neuen, moralisch vollkommeneren Leben, hinweisen:

Er überwächst uns schon An mächtigen

Gliedern;

Wird treuer Pflege Reichlich

Lohn

erwidern.

So wird also Faust, wie jeder Mensch, der das letzte Ziel des Lebens auf dieser Erde noch nicht erlangt hat, in einem anderen, späteren Leben dann doch noch zur Verneinung und Erlösung kommen. Mit dieser Auffassung ist von d e m Dichter »das Myster i u m der Palingenesie« gestreift, die auch mit Schopenhauers » L e h r e v o m metaphysischen Bestände des Willens, bei der bloß physischen Beschaffenheit und dieser entsprechenden Vergänglichkeit des Intellekts, in großer Übereinstimmung steht« 2 6 . Nach dieser Lehre geht das Sterbende zwar unter, aber es bleibt ein Keim übrig, aus d e m ein neues Wesen hervorgeht. Dieser Kein ist nichts anderes als eben jener in dem betreffenden Individuum in Erscheinung getretene Wille, jenes Unzerstörbare, welches auch im Tode beharrt und in einer neuen Geburt, »die 6

81

Gestalt eines neuenWesens annehmend, einen neuen Intellekt erhält« 2 6 , dessen es ja zum L e b e n bedarf. Die Palingenesie ist somit anzusehen als eine »Zersetzung und Neubildung des Induviduums« 2 7 . Gretchen dagegen ist erlöst, freilich nicht auf dem sanften Wege des nur e r k a n n t e n , . f r e m d e n Leidens, welches- als M i t l e i d die Quelle aller Tugend wird, sondern auf d e m anderen, schrecklichen Wege des

empfunde-

n e n , e i g e n e n Leidens, der durch B r e c h u n g des Willens zur Erlösung führt. Das Leiden ihres Lebens ist der Läuterungsprozeß, durch welchen sie geheiligt worden ist und nun wirklich das Leben nicht mehr will. Du sollst

leben: Mit diesen Worten will Faust sie dem Leben wiedergeben. Sie aber w i l l nicht mehr leben, w i l l nicht gerettet sein, obwohl sie das Bild der bevorstehenden Hinrichtung vor sich sieht:

Gericht Gottes! Dir hab' ich mich übergeben! Die Verneinung des Willens zum L e b e n ist eingetreten und damit die Erlösung. Dies verkündet die Stimme von

oben: Ist gerettet! Schopenhauer hat deshalb Gretchens Leidensgeschichte geradezu ein vollkommenes Musterbild dieses zweiten Weges genannt, der zur Verneinung und damit zur Erlösung führt. — Die Erörterungen über den Erlösungsgedanken

im

Faust dürfen nicht abschließen, ohne daß wir noch einer Person des Dramas gedenken, deren wesentliche Bedeutung bisher noch nicht behandelt ist: des Teufels, der im R a h m e n des Ganzen hier seine Stelle finden muß. Er ist der Urheber des Übels und der Repräsentant des Bösen. In ersterer Beziehung wird er charakterisiert durch das Wort des Herrn im Prolog: 82

Des Menschen

Tätigkeit

kann allzuleicht

erschlaffen,

Er liebt sich bald die unbedingte Drum

geV ich gern

Der reizt und

Ruh;

ihm den Gesellen

zu,

wirkt

und muß als Teufel

schaffen.

Diesem »Erschlaffen« vorzubeugen, dem die Menschheit sonst ausgesetzt wäre, dienen also die Übel der Welt, die der Teufel »wirkt und schafft«. In diesem Sinne sagt Schopenhauer: »Der Teufel ist im Christentum eine höchst nötige Person, als Gegengewicht zur Allgüte, Allweisheit und Allmacht Gottes, als bei welcher gar nicht abzusehn ist, woher denn die überwiegenden, zahllosen und grenzenlosen Übel der Welt kommen sollten, wenn nicht der Teufel da ist, sie auf seine Rechnung zu nehmen« 28 . Und ferner: »Arbeit, Plage, Mühe und Not ist allerdings, ihr ganzes Leben hindurch, das Los fast aller Menschen. Aber, wenn alle Wünsche, kaum entstanden, auch schon erfüllt wären; womit sollte dann das menschliche Leben ausgefüllt, womit die Zeit zugebracht werden ? Man versetze dies Geschlecht in ein Schlaraffenland, wo alles von selbst wüchse und die Tauben gebraten herumflögen, auch jeder seine Heißgeliebte alsbald fände, und ohne Schwierigkeit erhielte. Da werden die Menschen zum Teil vor langer Weile sterben, oder sich aufhängen, zum Teil aber einander bekriegen, würgen, und morden, und so sich mehr Leiden verursachen, als jetzt die Natur ihnen auflegt« 2 9 . Schon hier zeigt sich, daß dem Übel eine heilsame Kraft innewohnt, wodurch die Selbstcharakteristik des Teufels ihre Bestätigung findet, wenn er sich als 6*

83

einen Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute schafft, bezeichnet; denn auch das Böse ist als ein » Ü b e l « im weiteren Sinne dieses Wortes anzusehen. — Noch mehr tritt dieser Gedanke hervor bei der Betrachtung des wirklichen »Bösen« selbst, insbesondere der Lüge, als des eigentlichen Elements des Teufels 3 0 , wie Mephistopheles, dieser Lügengeist, selber von sich sagt. Denn wer hat letzten Endes Gretchen ins Verderben gestürzt? Der TeufelI Aber Gretchen ist e r l ö s t ! Und wer wollte Faust zugrunde richten? Der Teufelt Aber gerade im Kampf mit dem Teufel u m den Ausgang der Wette mit ihm vollzieht sich Faustens Hinwendung zum Ethischen, also zu dem Wege, der über die moralischen Tugenden ebenfalls zur E r l ö s u n g führt! So wohnt also dem »Bösen« eine das » G u t e « — diese beiden Worte im weitesten Sinne genommen — schaffende Kraft inne. Die philosophische Fundierung dieses weiteren und für die Dichtung durchaus wesentlichen Gedankens ist auf der Grundlage der Schopenhauerschen Philosophie mit wenigen Worten zu geben. Sie besteht in der »Heilsordn u n g « , in welche diese Philosophie, die mit »Pessimismus« im landläufigen

Sinne wirklich gar nichts

zu

tun

hat , ausmündet. Das Leiden, sei es das nur erkannte, sei 31

es das selbst empfundene, ist es, welches uns in seiner absoluten Unausweichlichkeit von jenem »einzig angeborenen Irrtum« heilt und so jene innere Wandlung hervorbringt, die uns im Läuterungsprozeß des Lebens zur Heiligung und Erlösung führt: »Das Leiden ist allerdings zunächst Zweck des Lebens, gleich als ob es das Werk eines Teufels wäre, dieser Zweck aber ist nicht der letzte, 84

e r ist selbst Mittel, ist Gnadenmittel, . . . angeordnet zu unserem wahren u n d letzten Besten« 3 2 . Deshalb also waren alle Leiden, denen Faust unterworfen gewesen ist, nicht

sinnlos,

wünscht

sondern

der pater

unentbehrlich,

ecstaticus

und

diese Leiden

deshalb geradezu

sehnsüchtig herbei: Pfeile, durchdringet Lanzen,

bezwinget

mich, mich,

Keulen, zerschmettert Blitze, durchwettert Daß ja das Alles

mich, mich;

Nichtige

verflüchtige,

Glänze der Ewiger Liebe

Dauerstern, Kern.

85

DER MENSCH, VON SEINEM GENIUS GELEITET

Ein

guter

Genius

wird

dem Menschen beigesellt Bei seiner Geburt, der ihn in den Geheimnissen Des Lebens leitet. Menander » w ie der Wanderer erst, wenn er auf einer Höhe angekommen ist, den zurückgelegten Weg, mit allen seinen Wendungen und Krümmungen,

im

Zusammenhang

überblickt und erkennt; so erkennen wir erst am Ende einer Periode unsers Lebens, oder gar des ganzen, den wahren Zusammenhang unserer Taten, Leistungen und Werke, die genaue Konsequenz und Verkettung, ja, auch den Wert derselben . . . Erst aus dem Ganzen in seinem Zusammenhang leuchtet nachher unser Charakter und unsere Fähigkeiten hervor: und im Einzelnen sehen wir

86

dann, wie wir, als wäre es durch Inspiration geschehn, den einzig richtigen Weg, unter tausend Abwegen, eingeschlagen haben, — von unserm Genius geleitet« 1 . Mit dieser schon im Altertum allgemein verbreiteten Vorstellung von einem jedem Menschen beigegebenen und ihn in seinem Lebenslauf auf dem richtigen Wege leitenden, individuellen Genius geht Schopenhauer über den Gedanken der generellen Heilsordnung, mit der das vorige Kapitel schloß, weit hinaus. Denn hierbei handelt es sich nicht mehr, wie dort, um eine philosophische Lehre, sondern um einen gefühlsmäßig motivierten Glauben — den selben Glauben, dem die Faustdichtung in ebenso großartiger wie schlichter Weise dadurch Ausdruck verleiht, daß im Prolog der Herr selbst erscheint und Faustens Rettung vor den Mächten der Finsternis beschließt, indem er ihn durch alle Phasen seines Lebens hindurchzuführen verspricht: »Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient, So wercC ich ihn bald in die Klarheit führen. Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt, Daß Blüt' und Frucht die künfi'gen Jahre zieren. Hiermit stehen wir nun freilich außerhalb der Philosophie, im Gebiet des Religiösen, worunter nach der geläuterten Auffassung der Religionspsychologie der letzten hundert Jahre nicht ein historisch-dogmatischer, sondern der seelische Tatbestand des Bewußtseins der eine tiefe Bescheidenheit und Demut hervorrufenden Abhängigkeit von Natur- und Schicksalsgewalten und der schmerzlich empfundenen Unzulänglichkeit unseres moralischen und intellektuellen Ich zu verstehen ist. 87

Aber ist für diesen religiösen Gedanken in einer philosophischen Fausterklärung überhaupt Raum? Gewiß, denn auch das Religiöse ist Gegenstand der philosophischen Forschung; zwar nicht im Sinne einer Verschmelzung von Religion und Philosophie, wohl aber im Sinne einer philosophischen Deutung religiöser Phänomene, wobei freilich diese dem Philosophen aus ureigenster Innenerfahrung bekannt sein müssen. Allerdings, nicht jede Philosophie vermag dies; dem Materialismus und Positivismus beispielsweise, überhaupt der Diesseitigkeitsphilosophie in jeder Form, ist jenes Gebiet schlechterdings verschlossen. Nicht so der Schopenhauerschen Philosophie, denn diese kennt jenes Gebiet und erkennt es auch an. Zwar ist sie durchaus Rationalismus, und Schopenhauer hat sich, nach seinen eigenen Worten, gehütet, das Gebiet des irrationalen Illuminismus und seiner ihm eigentümlichen inneren Erleuchtung, intellektualen Anschauung, unmittelbar erkennenden Vernunft, Unifikation und dgl. »auch nur mit Einem Schritte zu betreten« 2 . Indessen, so heißt es weiter, »mag oft genug dem Rationalismus ein versteckter Illuminismus zugrunde liegen, auf welchen dann der Philosoph, wie auf einen versteckten Kompaß, hinsieht, während er eingeständlich seinen Weg nur nach den Sternen, d. h. den äußerlich und klar vorliegenden Objekten, richtet und nur diese in Rechnung bringt. Dies ist zulässig, weil er nicht unternimmt, die unmitteilbare Erkenntnis mitzuteilen, sondern seine Mitteilungen rein objektiv und rationell bleiben. Dies mag der Fall gewesen sein mit Piaton, Spinoza, Malebranche und manchem Andern: es geht niemanden etwas an: denn es sind die Geheimnisse ihrer 88

Brust« 3 . »Und manchem Andern« — damit ist unmißverständlich auf das eigene, im obigen, wohlverstandenen Sinne »religiöse« Erleben hingedeutet, und so verstanden, sind und bleiben die Gebiete des Religiösen und der Philosophie zwar prinzipiell getrennt, aber es sind nicht alle Brücken abgebrochen: »Das tiefbewegte Gemüt des wirklichen Philosophen« 4 ist es, welches die Verbindung herstellt, indem philosophisches Erkennen aus religiösem Erleben in entscheidenden Punkten Antriebe erhält. Deshalb also ist die Schopenhauersche Philosophie wie nichts anderes zu philosophischer Deutung religiöser Gedanken, ja, darüber hinaus, zu einer gewissen Fundierung derselben im Sinne einer im Rahmen und mit den Mitteln der Philosophie gegebenen philosophischen Selbstkritik religiös empfindender Gemüter geeignet. Denn es gibt ein tief im Bewußtsein nicht aller, aber doch gar mancher Menschen wohnendes Streben — ein »religiös« motiviertes Streben - nach gefühlsmäßiger Ergänzung philosophischer Einsichten, ein Streben, das sich aber selber unter deren Kontrolle stellt, indem es sich mit klar erkannter und wohlbegründeter philosophischer Wahrheit nicht in Widerspruch setzt, vielmehr gleicherweise die Forderungen des ahnenden Herzens wie die des denkenden Kopfes befriedigen möchte. Der Mensch kann die Welträtsel niemals lösen und er weiß das, und in der KantSchopenhauerschen Philosophie ist auch der Grund dieses Unvermögens unwidersprechlich nachgewiesen 6 ; aber eben gerade deshalb sieht er, sobald ihm nur unsere so unsagbar rätselhafte und geheimnisvolle Existenz zum Bewußtsein gekommen ist und er überhaupt religiös in dem oben dargelegten Sinne empfindet, sich immer wieder ge89

trieben, diesen letzten Geheimnissen gefühlsmäßig sich zu nähern, um zu einem wenigstens gefühlsmäßigen Ahnen als Ergänzung des verstandesmäßig Erkannten zu gelangen. Bleibt hierbei die soeben gekennzeichnete Selbstkritik bestehen, so haben wir in einer so gearteten Religiosität eine auch vor dem Forum der echten Philosophie gerechtfertigte Bewußtseinshaltung vor uns. — Und von diesem Standpunkt aus müssen wir auch den Gedanken einer über dem Leben jedes einzelnen Menschen waltenden Vorsehung verstehen. Schopenhauer hat diesem Gedanken mehrfach Ausdruck gegeben und ihm, in erweiterter und vertiefter Form, eine besondere Abhandlung, die berühmte »Transscendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen« gewidmet. Wie nach den bisherigen Ausführungen nicht besonders betont zu werden braucht, handelt es sich daselbst nicht um klar erkannte philosophische Wahrheiten, sondern der irrationale Hintergrund bleibt sichtbar und wird auch von Schopenhauer selbst durch Betonung der durchgängigen Problematik immer wieder hervorgehoben. In dem hier gegebenen Rahmen den ganzen Tiefsinn dieser Abhandlung dem Leser darzulegen, ist nicht möglich, aber auch für unseren Zweck nicht erforderlich. Der Kern der Untersuchung ist der Glaube, daß dem Zufall, wie dieser sich im Leben überall kund tut, eine Absicht unterzulegen sei, indem der Lauf der Dinge, so sehr dieser sich auch als zufällig darstellt, dennoch im Grunde auf einer tief verborgenen Notwendigkeit beruht, so daß also die Notwendigkeit alles Geschehenden — alles was geschieht, vom Größten bis zum Kleinsten, geschieht notwendig! — keine 90

blinde sei, vielmehr das metaphysisch-moralische Postulat einer i m tiefsten G r u n d e der Dinge liegenden letzten Einheit der Notwendigkeit und Zufälligkeit sich uns aufdränge, so daß »gar Mancher hierdurch zu der A n n a h m e getrieben wird, daß eine geheime u n d unerklärliche Macht alle W e n d u n g e n u n d Windungen unseres Lebenslaufes, zwar sehr oft gegen unsere einstweilige Absicht, jedoch so, wie es . . . u n s e r m eigentlichen wahren Besten förderlich ist, leitet« 6 . Das Allerseltsamste aber ist, daß, wie aus d e m weiteren Fortgang der Untersuchung sich ergibt, diese geheime u n d unerklärliche Macht wir selbst sein müssen. Denn was das Phänomen der ganzen Welt darstellt u n d erfüllt, ist der Wille, der auch in jedem Einzelnen lebt und strebt. Deshalb »können wir es uns, ganz im allgemeinen, als möglich denken, daß, auf analoge Weise, wie Jeder der heimliche Theaterdirektor seiner T r ä u m e ist, so auch jenes Schicksal, welches unsern wirklichen Lebenslauf beherrscht, irgendwie zuletzt von jenem Willen ausgehe, der unser eigener ist, welcher jedoch hier, wo er als Schicksal aufträte, von einer Region aus wirkte, die weit ü b e r unser vorstellendes, individuelles Bewußtsein hinausliegt« 7 . I m Faust ist dies — allegorisch — die Region des Himmels. Wollen wir aber wissen, was Schopenhauer unter » u n s e r m eigentlichen wahren Besten« versteht, zu dem dieser unser als Schicksal sich darstellender Wille, unser leitender Genius, uns f ü h r t , so müssen wir uns erinnern, daß nach seiner Philosophie das letzte Ziel des Lebens die Erlösung ist, und deshalb, nach der Heilsordnung, jedem Lebenslauf Unglück u n d Leiden unausbleiblich eingewebt sind, »wiewohl in sehr ungleichem Maße u n d n u r selten i m überfüllten, nämlich in den tra91

gischen Ausgängen« 8 : Tragisch ist das Schicksal Gretchens ausgegangen, während Faust von seinem Genius auf jenem sanfteren Wege 9 geleitet wurde. Nun ist genügend Helligkeit gewonnen, um jenes Wort des Herrn im Prolog in seiner wirklichen Bedeutung erkennen zu können, eine Helligkeit, die zwar nicht dem strahlenden Licht gleich kommt, in welchem klare philosophische Erkenntnisse stehen, die aber doch vor bloßem Mystizismus bewahrt, in den eine nur dogmatisch orientierte religiöse Vorstellung dieser Art notwendig ausläuft.. Denn bei allem, was Schopenhauer zu diesem so bedeutungsvollen Gedanken — in gewisser Beziehung dem bedeutungsvollsten Grundgedanken der ganzen Dichtung — zu sagen hat, handelt es sich in letzter Instanz um Denken, nicht um bloßes, überhaupt ohne jedes Licht der Erkenntnis auskommendes Glauben. Zugleich aber zeigt sich das Tröstliche dieses Gedankens. Oder kann es wohl für den Zuschauer oder Leser des Faust etwas Beruhigenderes und Erhebenderes geben, als die ihm gleich zu Beginn des Stückes gegebene Gewißheit, daß der Held desselben, hier der Vertreter der ganzen Menschheit, durch alle Fährlichkeiten, die sich ihm entgegenstellen werden, wenn auch unter Leiden, sicher hindurchkommen, daß er zwar irren und auf falschem Wege streben10, ja in tiefe Schuld geraten, aber doch »zu seinem wahren Besten« geleitet werden wird? Und wenn alsdann die Betrachtung vom Schicksal des Helden auf der Bühne zum eigenen Schicksal übergreift, sollte es da nicht möglich sein,diesemmitder gleichen Gewißheit entgegenzusehen, es mit der gleichen Ruhe entgegenzunehmen, als ob der Betrachter auch hier bloßer Zuschauer sei ? Aber das 92

ist wohl nur dem religiösen Genie vorbehalten. Wer sich indessen als solches nicht bezeichnen darf, sondern immer wieder von Zweifeln sich erfaßt sieht, der wird diese Zweifel jedenfalls desto mehr überwinden, je klarer ihm jener Gedanke einer schicksalsmäßigen Führung vor Augen steht, je mehr er diesen Gedanken aus dem Gebiete bloßen Fühlens in das Gebiet der philosophischen Besonnenheit hinüberzubringen vermag, wiewohl es ganz gewiß Menschen gibt, die auch im absolut Irrationalen völlige religiöse Gewißheit finden, sei es, daß sie auf die Möglichkeit jener Kontrolle durch philosophisches Denken gar nicht verfallen, oder aber eine solche ganz bewußt ablehnen. Und noch ein weiteres: Jener Gedanke ist nicht nur tröstlich, sondern er wird seine Macht auch darin zeigen, daß jeder, der ihn recht erfaßt hat, seinem Genius, der als innere Stimme, wie das Dämonium des Sokrates, ins Bewußtsein fällt, nachgeben wird, wodurch dann jene »Erziehung des Schicksals« eintritt, deren »vorzügliche und edle Menschen bald inne werden«,- um sich »bildsam and dankbar in dieselbe einzufügen« 11 . Und noch ein letztes : Wer sich von seinem Genius geleitet weiß und demnach die Planmäßigkeit seines Lebenslaufes und dessen individuelle Angemessenheit zu seinem Charakter erkennt, der wird keineswegs etwa, was bemerkt zu werden verdient, in moralische Passivität verfallen, sondern er wird im Gegenteil an der Entwicklung seiner Persönlichkeit arbeiten, wird somit eine immer deutlichere Entfaltung derselben wahrnehmen und so in der Treue gegen sich selbst gestärkt und gefestigt werden, und zwar desto mehr, je mehr er seinen Lebenslauf 93

in einer bestimmten Richtung fortschreiten sieht und je mehr er sich selbst, eben im Fortschreiten in dieser Richtung, auf dem »einzig richtigen Wege« fühlt. Diese Treue gegen sich selbst, auf Grund des sichersten Gefühls einer höheren Führung, haben uns Goethe und Schopenhauer, jeder auf seine Weise, vorgelebt, und der letzte Ausdruck hiervon ist das Rild des Olympiers, unter welchem der Dichter der Nachwelt erscheint, und die in düsterer, ja tragischer Größe aufragende Gestalt des Philosophen, die dennoch ein jeder, dessen Blick eindringend genug ist, um das Innerste zu erfassen, in einem verklärenden Lichte vor sich stehen sieht.

94

ABSCHLUSS

Liebe, Liebe leitet nur Zu dem Vater der Natur, Liebe nur, die Geister. Schiller

»DAS

EWIG-WEIBLICHE

ZIEHT

U N S HINAN«. Versuch

einer D e u t u n g

Selig durch die Liebe Götter — durch die Liebe Menschen Göttern gleich! Liebe macht den Himmel Himmlischer - die Erde Zu dem Himmelreich. Schiller w ir erinnern uns aus dem bisher Gesagten, daß der all-eine widergöttliche Wille zum Leben im Stande seiner B e j a h u n g es ist, der die vor uns liegende physische Welt des Egoismus beseelt, daß es ein »verunglücktes Bestreben« ist, das Physische mit dem Göttlichen zu vereinigen, d. h. durch Eindringen in die Natur zur Erlösung kommen, des Göttlichen teilhaft werden zu wollen, daß dies vielmehr nur durch V e r l e u g n u n g des eigenen Selbst möglich ist; daß alle Handlungen dieser Selbstverleugnung als ein Durchbruch des »hinter« der Natur liegen7

97

deh Reiches der V e r n e i n u n g des Willens in unsere sichtbare Welt aufzufassen und nur so überhaupt zu verstehen sind und deshalb als sichere Zeugen einer metaphysisch-moralischen Weltordnung gelten dürfen. Soweit die philosophische Forschung und Erklärung der in der Faustdichtung beschlossen liegenden Menschheitsprobleme. Aber wir erinnern uns weiter, daß gerade die Schopenhauersche Philosophie über ihre eigenen Erkenntnisse und Ergebnisse hinaus »religiösem« Ahnen den Weg nicht versperrt, ja, daß ihr Schöpfer selbst, wenn auch unter strengster Beobachtung der Grenze und ohne Vorgeben einer »intellektualen Anschauung«, einem solchen Ahnen Raum gelassen und gelegentlich auch Worte geliehen hat. Als ein derartig religiös motivierter Gedanke sei hier ein Ausspruch Schopenhauers wiedergegeben, der sich in seinem letzten Werke, in den ergänzenden Bemerkungen zu seiner Ethik, findet. Nachdem der Philosoph nochmals einen Blick auf dieses Sansara geworfen hat, d. h., nach Indischer Weisheit, auf diese Welt des Verlangens, der Geburt, des Schmerzes, des Alterns, der Krankheit, und des Todes, auf den ganzen Jammer und das sündliche Treiben der Menschenwelt, fährt er fort: »Dennoch treten in ihr, wiewohl sehr sporadisch, aber doch stets von neuem uns überraschend, Erscheinungen der Redlichkeit, der Güte, ja des Edelmuts, und ebenso auch des großen Verstandes, des denkenden Geistes, ja, des Genies auf. Nie gehn diese ganz aus: sie schimmern uns, wie einzelne glänzende Punkte, aus der großen dunklen Masse entgegen. Wir müssen sie als ein Unterpfand nehmen, daß ein gutes und erlösendes Prinzip in diesem Sansara steckt, 98

welches zum Durchbruch kommen und das Ganze erfüllen und befreien k a n n « 1 . Gibt man sich diesem Gedanken des Philosophen, ihn weiter verfolgend, hin, faßt man dieses, freilich in der Unendlichkeit liegende, und somit dem Gebiet der Mystik angehörende Ziel ins Auge, so tritt der Schluß der Faustdichtung damit in seltsame Übereinstimmung: D e r unselige, dem Leiden und der Sünde verfallene Wille ist infolge völligen Durchbruchs jenes nun alles erfüllenden guten und erlösenden Prinzips befreit: D a n n muß diese Befreiung vor allem jenen »Brennpunkt des Lebenswillens«, die geschlechtliche Liebe, ergreifen, diese zu

heilige

r Liebeslust umwandeln, zur Menschenliebe, deren

Äußerungen ja nur der Ausdruck jenes erlösenden Prinzips sind. Dieses Geheimnis zu schauen, ist der Sinn der Bitte des Doctor Marianus an die Himmelskönigin:

Plötzlich mildert sich die Glut, Wie du uns befriedest; und weiter:

Wer zerreißt aus eigner

Kraft

Der Gelüste Ketten? Und dies ist der Sinn seiner Anbetung:

Blicket auf zum Alle reuig

Retterblick,

Zarten,

Euch zu seligem Geschick Dankend

umzuarten.

Dann ist die Welt ewigen Liebens

Offenbarung,

wie der

Pater Seraphicus den seligen Knaben verheißt. Aber ohne Mystik zu reden: Ist es denn gar so abwegig, jenem Gedanken, der bei aller Transscendenz doch echt 7»

99

Schopenhauerisch ist, weiter nachzuhängen? Jene Äußerungen der Menschenliebe, die täglich vor unseren Augen sich ereignen, jene Phänomene der V e r n e i n u n g , — erwachsen sie nicht gerade auch auf dem Boden jenes Brennpunktes des sich b e j a h e n d e n unheiligen Lebenswillens selber, als Gefühle und Handlungen der Hingabe, des Wohlwollens, der Opferbereitschaft, der tätigen Hilfe, m i t Einem W o r t : der M e n s c h e n l i e b e , die sich so oft in untrennbarer Verbindung mit der

geschlechtlichen

Liebe und aus deren Grund entsprossen findet? H a t nicht auch Schopenhauer, wenngleich in einem ganz anderen Zusammenhange 2 , so doch diesmal ganz ohne religiösen Einschlag, selbst hervorgehoben, daß wir — wegen des »Kontrastes mit der Lage des Andern« - »desto empfänglicher f ü r das Mitleid« sind, auf d e m alles das ja beruht, »je glücklicher« wir uns fühlen, d. h. je m e h r der uns beseelende Wille, jener »Drang zum Dasein u n d Wohlsein«, also auch dessen intimste u n d stärkste Ausstrahlung, das Liebesgefühl, befriedigt ist? Der Brennpunkt der Lebensbejahung als Wegbereiter, als Beförderungsmittel der Selbstverleugnung t 3 Und gibt nicht die in der Liebesvereinigung selbst liegende Hingabe einen Fingerzeig dafür, daß das an sich durchaus i m Egoismus, i m » D r a n g zum Dasein u n d Wohlsein«, wurzelnde Liebeserlebnis dennoch die Tendenz in sich schließt, den Menschen das Selbstische in sich überwinden zu lassen? Ja, noch mehr! Geschlechtsliebe u n d Menschenliebe haben, wie es Schopenhauers genialem Blick zu entdecken vorbehalten war, »ganz in der Tiefe eine gemeinschaftliche Wurzel. In beiden nämlich handelt durch das Individuum sein jenseits der Erscheinung u n d der Individualität lie-

100

gendes metaphysisches Substrat, der Wille zum Leben, einmal als Geist der Gattung, indem er sie zu perpetuieren und ihren Typus rein zu halten strebt, im anderen Fall, indem er auch hier sich über die Individualität erhebt und in verschiedenen Individuen seine eigene Identität erkennend, eines für das andere sorgen läßt.« 4 — Und nicht nur das Herz macht die Liebe weit, — auch der Geist wird beflügelt! Denn wenn auch, wie wir uns weiter erinnern, jenes »Pathetische und Erhabene der Liebesangelegenheiten, das Transscendente ihrer Entzückungen und Schmerzen« ein Wahn ist, — werden nicht durch diesen Wahn, sei es in den »Entzückungen« bei erfüllter, sei es in den »Schmerzen« bei unerfüllter Liebe, alle Kräfte der Phantasie zur Entfaltung gebracht und erhöht, bis zur genialen Begeisterung, in der ästhetischen Kontemplation, die, wir wir wissen, die Vorstufe der E r l ö s u n g ist? Will es nicht wirklich scheinen, also ob der sich bejahende Wille gerade aus seinem Brennpunkt heraus jene »Erscheinungen der Güte, des Edelmuts, des denkenden Geistes, ja, des Genies«, also auf die Erlösung gerichtete Kräfte, hervortreibe ? Ist Schopenhauers ahnender Gedanke vom endlichen Sieg des guten und erlösenden Prinzips gar so abwegig? — Dann aber erscheint jener Mangel der deutschen Sprache, die, anders als die alten Sprachen, nur Ein Wort, das Wort Liebe, für jene an sich grundverschiedenen Begriffe der Geschlechtsliebe und der Menschenliebe besitzt, als höchste Weisheit: Liebe als Liebe des Mannes zum Weibe, auf deren Grund die »erlösende« Liebe des Menschen zum Menschen erwächst. Von diesem Gesichtspunkt aus sind die aus einer höheren Region kom101

menden und ebendahin weisenden Ein Gretchen gerichteten Worte der Mater dolorosa zu verstehen:

Komm! hebe dich zu höhern

Sphären,

Wenn er dich ahnet, folgt er nach. Das will besagen: das »erlösende Prinzip« ist da und ist gegenwärtig; die Frage ist nur, wie wir ihm »nachfolg e n « , seiner teilhaft werden, wie wir, in Faustisch-strebendem Bemühen, uns mit ihm einigen, d e m »Unendlichen näher« kommen, die »Gottheit« in uns aufnehmen und so an seinem » D u r c h b r u c h « und endlichen Siege mit arbeiten können. D i e beiden hohen Geister, die uns bis hierher begleitet und geführt haben, geben uns auf diese Frage die gleiche Antwort: dem Dichter ergab sich diese aus einer Intuition ohne gleichen, dem Philosophen als Resultat der tiefsinnigsten Forschung. D i e Antwort lautet: Durch den Geist der Selbstverleugnung in allen Dingen, den Geist der selbstlosen Liebe. Und so erschließt sich der gewiß tiefste Sinn jener so oft und so verschieden gedeuteten letzten Verse der Faustdichtung :

Das Ewig-Weibliche

zieht uns hinan.

Das Ewig-Weibliche als die Liebe in dem soeben gegebenen Sinne - sie zieht uns hinan zu den höheren Sphären, von denen aus jenes gute und erlösende Prinzip zum Durchbruch kommen und das Ganze erfüllen und befreien kann, d. h., da wir n u n einmal das nur im Gleich-

nis zu Erfassende, das Unzulängliche,

das

Unbeschreib-

liche, solange wir diesem Sansara, dieser Erde, angehören, auch in der Sprache dieser Erde ausdrücken müssen, — hinan z u m h ö c h s t e n 102

Dasein.

NACHWEIS DER ZITATE UND ANMERKUNGEN Schopenhauer, auf dem die vorliegende Arbeit beruht, ist ohne jedesmalige Namensnennung, lediglich nach Band und Seitenzahl zitiert, und zwar die Sämtlichen Werke nach der Ausgabe von Hübscher bei Brockhaus, Leipzig, 1937 bis 1939, der Handschriftliche Nachlaß dagegen nach der Reclamschen Ausgabe. Es bedeutet die römische Ziffer den betreffenden Band der Sämtlichen Werke, die arabische den des Handschriftlichen Nachlasses; die hinter dem Komma stehende Ziffer gibt in beiden Fällen die Seitenzahl an.

Zum Kapitel: VOM V E R H Ä L T N I S D E R P H I L O S O P H I E ZUR P O E S I E 2 III, 466. s III, 463. II, 217 u. III, 463. 4 Ebenda. — Die Poesie braucht zwar auch schon die Begriffe, a b e r nur als M i t t e l ; sie will die Repräsentanten dieser Begriffe, die ja aus der Anschauung herstammen müssen, durch dieselben »herbeirufen, damit der Hörer [oder Leser] die Welt a n s c h a u e in derjenigen Ordnung, Zusammenstellung und von derjenigen Seite, die der Dichter will: und so a n g e s c h a u t ist sie dann kein 6 4, 43. Rätsel mehr.« (4, 31.) « 111,465. 1

' III, 464. 11 II, 288.

8 12

III, 487. 2, 10.

II, 288. 2, 10.

9 13

4, 42 III, 466. 10

14

103

Z u m Kapitel: G O E T H E UND S C H O P E N H A U E R 1

2

VI, 192 8

219. vember

I 2 , 3.

3

VI, 192.

* II,

Brief Schopenhauers an Goethe vom 11. No6

1815.

Schopenhauers Gutachten

G o e t h e d e n k m a l in F r a n k f u r t a. M., 1837. Frommann, (Jena 10

Arthur

1872), Seite 11

4, 277.

Schopenhauer. 8

5.

Drei

zum 7

Hm.

Vorlesungen 9

VI, 57.

4, 349

Z u Frauenstädt. Vgl. Schopenhauers

Gespräche i m 20. J a h r b u c h 12

schaft, 1933 S. 108.

der

Schopenhauer-Gesell-

Viel L ä r m e n u m nichts,

V, 3. Dieses Zitat sollte Schopenhauers Stellung zu den sog. Nachkantischen Philosophen u n d seine eigene Bed e u t u n g f ü r die Philosophie veranschaulichen.

Z u m Kapitel: PHYSISCHE UND MORALISCHE WELTORDNUNG 1 4

2

VI, 214.

4, 193.

6

S. Seite 106 oben A. 13.

3

III, 198.

I n dieser Abweichung liegt eine schwere

Klippe, an der viele schon a m E i n g a n g in Schopenhauers Gedankenbau scheitern. Die Abweichung war aber f ü r Schopenhauer unvermeidlich, w e n n anders er das philosophisch Wesentliche festhalten u n d bezeichnen 6

I I I , 225.

104

7

I I I , 677.

8 Ebenda.

wollte.

Z u m Kapitel: DAS E W I G - M E N S C H L I C H E 1

D . h . der Wille z u m L e b e n , s. voriges

2

I I I , 657.

6

I I , 175.

10

3 7

IV 1 , 44.

8

VI, 342. 11

I I , 235.

4

V, 365 f.

I I , 195. 12

I I , 232. 14

S. 107 A n m . 19.

3, 118f.

Kapitel.

6

II, 195.

9

II, 196. 13

Ebenda.

15

16

III, 721 f.

E r k l ä r u n g findet in der i m nächsten Kapitel

Vgl.

Diese insbes.

S. 55 f. gegebenen erkenntnistheoretischen ihre Ergän17

zung.

18

III, 270. 20

Anmerkung.

I I I , 152.

19

VI, 80,

I I I , 737.

Z u m Kapitel: DER »FAUSTISCHE« MENSCH 1

2

V, 176.

Verbindung

der

I I I , 175

ff. 4

physischen W e l t o r d n u n g . 6

4,27f.

7

3'S. Kap. 3 über die

moralisch-metaphysischen 4, 49 f.

6

der 4,27.

S. Seite 12 f. über die I n t u i t i o n als die ge-

meinsame Quelle von Kunst u n d Philosophie. 9

mit

8

4, 27.

M i t diesem Verhältnis der Philosophie zur W i s s e n -

s c h a f t vergl. das in Kap. 1 bzw. S. 88ff. dargelegte Verhältnis d e r Philosophie zur K u n s t u n d zur R e l i g i o n . 10

VI, 527.

11

VI, 9.

12

Vgl. S. 51. Dieses »Was«

ist der »Wille zum L e b e n « , u n d m i t diesem Schlüssel sind alle Erscheinungen

der Welt zu erklären, freilich

auch n u r mit i h m , weshalb ein eigentliches W e l t v e r s t ä n d n i s n u r durch die Schopenhauersche Philosophie 105

13

zu erreichen ist, s. S. 33 f.

Das Nebeneinander

liegt i m Raum, das Nacheinander in der Zeit: Raum, Zeit u n d Kausalität kommen nicht dem Ding an sich zu, sondern sind die Erkenntnisformen unseres Intellekts; sie stammen nicht, wie alle anderen Erkenntnisse, aus der Erfahrung, sondern sind vielmehr die Bedingungen 14

der Möglichkeit aller Erfahrung.

Zur Aufklä-

r u n g eines scheinbaren Widerspruchs zu dem Seite 32 Gesagten sei ausdrücklich erwähnt, daß »auch die innere W a h r n e h m u n g , welche wir von unserem eigenen Willen haben, noch keineswegs eine erschöpfende und adäquate Erkenntnis des Dinges an sich liefert«, wenngleich »die W a h r n e h m u n g , in der wir die Regungen und Akte des eigenen Willens erkennen, . . . der Punkt ist, wo das Ding an sich a m unmittelbarsten in die Erscheinung 16

tritt«. (III, 220f.) 17

18

VI, 94.

I 1 , 123.

16

Kapitel, insbes. Seite 38 247.

19 20

cpOcris 8at|io;icc &AA' oO 6=Ta krriv. 23

II, XXVIIf.

Brief an Jakobi (1813). 21

ff.

*H

S. voriges 22

III, 654.

4,

I m Gegensatz zur M e n s c h e n l i e b e . Die

sonst unvergleichlich ausdrucksreiche deutsche Sprache hat f ü r diese diametralen Gegensätze n u r das eine Wort Liebe, während die lateinische und die griechische sehr wohl zwischen amor u n d Caritas, sowie zwischen Epcos und dydarr) unterscheiden. Andererseits wiederum liegt in jenem »Ich liebe dich«, welches die Verbindung der geschlechtlichen Liebe und der Menschenliebe bedeutet, 24

eine wirkliche Weisheit. 616.

26

632.

29

106

III, 612. III, 157.

27 30

25

III, 612.

28

III, 619. 4, 222.

31

III, III,

4, 220.

Zum Kapitel: DER ERLÖSUNGSGEDANKE 2 S. Kap. 3 u. 4, insbes. Seite 33 u. II, 435 2 4 IV 2 , 206. 6 IV 2 , 38 ff. » IV , 197. 6 Dieser Ausdruck, obwohl dem Mißverstehen 204. und deshalb der Anfeindung ausgesetzt, kann nicht entbehrt werden, weil er allein das W e s e n t l i c h e gegen7 III, über den Handlungen des Egoismus bezeichnet. 9 10 694. s HI, 698. IV2, 162. S. 1

1 1 II, 441. 1 2 IV 2 , Kap. 3, insbes. Seite 34. 1 3 IV 2 , 230. 1 4 IV 2 , 270. 1 5 III, 271. 1 6 1 7 1 8 729. III, 690. S. Seite 71. VI, 94. 19 Hierin würde nach Schopenhauer allerdings eine Vorstufe der Erlösung liegen, weil wir in der ästhetischen Kontemplation zum »reinen Subjekt des Erkennens« werden, uns über unsere Individualität erheben, indem all unser Wollen, wenigstens für Augenblicke, aus dem Bewußtsein schwindet und wir uns so selbst entäußern, also »eigentlich aus dem Leben heraustreten, um es von a u ß e n zu betrachten, gleich Zuschauern in den Logen«. 20 4, 103. Vgl. Galater 4, 31. 2 1 4, (VI, 305.) 22 4, 103. 23 VI, 690. 2 4 4, 109 114. 2 8 VI, 293 f. VI, 294. Vgl. das Seite 46 f. über 27 VI, die sekundäre Natur des Intellekts Gesagte. 294. Die Palingenesie steht im Gegensatz zur Metempsychose, die den Übergang der gesamten sog. Seele, d. h. der Verbindung von Wille und Intellekt in dem betreffenden Individuum, in einen andern Leib annimmt. 28 VI, 392. 29 VI, 311. 30 Hierunter ist nicht etwa, wie man angesichts des Heillosen jenes Urwillens

25

107

(s. Seite 39 ff.) annehmen könnte, der bloße Egoismus als die Erscheinungsform dieses Urwillens zu verstehen: » D a r a u s macht man noch keinen T e u f e l ; sondern hierzu gehört die positive Bosheit, welcher das Leiden Anderer Selbstzweck ist«. (Brief an Rainer v. 29. 1. 1860.) Mit anderen Worten: »Teuflisch« ist das L a s t e r . Dieses ist nicht bloß die B e j a h u n g unserer »egoistischen« Existenz, sondern eine V e r n e i n u n g ist hinzugekommen, »eine förmliche Negation des Ewigen, eine gänzliche Verläugnung und Vernichtung desselben in uns«. (3, 80 Anm.) Das ist der Sinn des Wortes des Teufels: Ich bin

der Geist, der stets verneint!

31

S. S. 42.

32

4, 351.

Zum Kapitel: D E R MENSCH, VON GENIUS 1

V, 441.

151. 7 10 11

V, 232.

GELEITET

VI, 11.

2 6

SEINEM

3

Ebenda.

S. Seite 46 f. und 55 f. 8

V, 236.

9

4 6

V,

V, 222

S. Seite 80ff., bes. S. 82.

»Strebend, leidend, irrend«, s. Kapitel 4 a m Anfang. V, 440.

Z u m Kapitel: »DAS E W I G - W E I B L I C H E Z I E H T UNS H I N A N « 1

VI. 233

2

IV, 2 212.

3

Ein Widerspruch

zu d e m auf Seite 62—64 über die dämonische Natur der geschlechtlichen Liebe Gesagten ist hiermit nicht 108

gegeben. Denn man kann sehr wohl, an der Erkenntnis jenes dämonischen Charakters der aus der Tiefe unserer sündigen — weil egoistischen — Natur kommenden geschlechtlichen Liebe festhalten und muß doch anerkennen, daß der Zustand der Befriedigung des Wollens, insbesondere eben jenes geschlechtlichen Triebes, den »Kontrast« mit der Lage des leidenden Mitmenschen erkennen und so für die Stimme des Mitleids »empfänglicher« 4 4, 302. werden läßt.

109

Eine interessante

Neuerscheinung zum

Goethejahr

1949

PROF. WERNER DANCKERT

QOETHE Die Urelemente seiner Weltschau Oktav, etwa 500 Seiten Ganzleinen ca. DM 20.—

Bei der Uberfülle von Goethe-Deutungen, die das objektivierte Werk des großen Dichters erfassen wollen, oder solcher Interpretationen, bei denen das Schwergewicht auf dem Biographischen liegt, gewinnt die Danckert'sdie Darstellung ganz besondere Bedeutung, denn sie will das Wesen Goethes von seinen URERLEBNISSEN her zu ergründen versuchen.

V e r l a g W a l t e r de G r u y t e r & C o Berlin W 3 5

ERNST GRUMACH

Q O E T H E V7ND DIE A N T I K E Eine Sammlung Mit einem Nachwort von Wolfgang Schadewaldt. 2 Bde. Etwa 1000 Seiten. Mit vielen Tafeln geb. je Bd. ca. DM 15.—

Diese urkundliche Quellensammlung bringt in acht umfassenden Kapiteln zum ersten Mal eine systematisch und chronologisch geordnete Darstellung von Goethes Aussprüchen zur griechisch-römischen Well: Land, Mensch, Sprache, Dichtung, Kunst, Glaube, Wissen und Goethes Verhältnis zur Altertumswissenschaft seiner Zeit. Sie eröffnet damit für alle an Goethe und der Antike interessierten Forscher und Liebhaber erstmalig einen mühelosen Zugang zu dem Quellenmaterial und gibt ein geschlossenes Bild von der für Goethes gesamtes Schaffen so entscheidenden Begegnung mit der Antike.

V e r l a g W a l t e r de G r u y t e r & Co Berlin W 3 5

Kürzlich erschien: PROF. DR. KURT LEVINSTEIN

QOETHES

FAV/ST

und die Vollendung des Menschen Oktav 132 Seiten DM 3.80

Diese Faustdeutung wendet sich nicht nur an den Lehrer der Schule, sondern auch an die Dozenten der Volkshochschulen und Pädagogischen Fakultäten der Universitäten, vor allem atier an jedem Leser jeglicher Bildungsstufe, dem es bei der Durcharbeitung des umfangreichen und oft nicht ohne weiteres verständlichen Werkes zur Seite stehen soll.

HANS BÖHM

QOETHE Grundzüge seines Lebens und Werkes Dritte Auflage. Mit 8 Bildern 1944. Oktav. VIII. 280 Seiten. DM 4.50

Diese Biographie führt den Leser über das Leben Goethes zu seinen Werken. Zugedacht ist es zunächst denen, die im Berufsleben keine Möglichkeit finden, aus zahllosen Tatsachen, Untersuchungen und Darstellungen sich selber das Bild des Dichters zusammenzusetzen. Sodann möchte die kleine Biographie den jungen Menschen zum größten Bildner- und Denkergeist unseres Volkes leiten.

V e r l a g W a l t e r de G r u y t e r & Co Berlin W 35