Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit: Poetisch-politische Imaginationen 9783110773217, 9783110770933

Doomsdays and worlds without people or with dramatically transformed populations create an arsenal of motifs in early dy

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Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit: Poetisch-politische Imaginationen
 9783110773217, 9783110770933

Table of contents :
Dank
Inhalt
Zur Einleitung: Einige Stimmen zum Themenfeld um den Zukunftsroman
I Problemkonfigurationen
Die Zeit der Katastrophe
Die Zukunft im Zukunftsroman
„Gefallen gegen die Gegenwart“
II Themen
Von kommenden Kriegen
Synthese statt Technokratie
„Unnützes Weiberfleisch können die Motoren nicht tragen“
Sprache(n) der Zukunft im Spiegel von Zukunftsromanen
III Transformationen
Fiktionalisierung und Narrativierung technischer und politischer Diskurse in Hans Dominiks Roman Die Spur des Dschingis-Khan
Planetarische Zukünfte
Von Baumstämmen und Steinen
Zurück voran
IV Anhang
Verzeichnis der zitierten Zukunftsromane und anderer zeitgenössischer Literatur
Autorinnen und Autoren

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Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit

Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit

Poetisch-politische Imaginationen Herausgegeben von Kristin Platt und Monika Schmitz-Emans

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung.

ISBN 978-3-11-077093-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077321-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077329-3 Library of Congress Control Number: 2022940043 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Ausschnitte aus Hermann Oberth: Die Rakete zu den Planetenräumen, München und Berlin 1923 (Reprint 2013) und Hermann Oberth: Zeichnung, in: Die Rakete. Zeitschrift des Vereins für Raumschiffahrt e.V., Breslau 1922. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Dank Die Beiträge, die mit dem vorliegenden Band vorgestellt werden, gingen insbesondere aus der intensiven gemeinsamen Arbeit einer Projektgruppe hervor, die sich im Rahmen des von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Projekts „Der verdichtete Raum. Sprache, Text und weltanschauliches Wissen in deutschsprachigen Zukunftsromanen der 1920er und 1930er Jahre“ zusammenfinden durfte. Zu den Aufgaben des Projekts gehörte die Erarbeitung interdisziplinär orientierter, literatur- und geschichtswissenschaftlicher Beiträge zur Literatur der Zwischenkriegszeit, die stark wissenstheoretische Bezüge zu integrieren anstrebten: Die Forschungsarbeiten suchten an repräsentativ analysierten Texten typische Formen, Muster und Entwicklungen der Zukunftsnarrative aufzuzeigen. Auf der Basis poetologischer, literaturhistorischer, diskurs- und wissenstheoretischer Ansätze wurde ein Forschungsbeitrag zum Verständnis des literarischen und öffentlichen Wissens der 1920er Jahre entwickelt. Dabei konnte gerade über Forschungsfragen zu Utopiekonzepten und Zeitstrukturen der Blick auf die Weltanschauungen der 1920er Jahre erweitert werden. Dass sich die unterschiedlichen Fäden, die durch die gemeinsame Arbeit aufgenommen wurden, im vorliegenden Band wieder verknüpfen, ist eine besondere Freude. Eine gleichfalls große Freude betraf die Möglichkeit, die Arbeit an den literarischen Figuren und narrativen Strukturen der literarischen Zukunftserzählungen gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen vertiefen zu können, die mit ihren Beiträgen die Tagung „Mars, Jupiter, Jena: Zur politischen Poetik des Zukunftsromans“ (April 2018) bereicherten. Sehr herzlich dürfen wir hier daher danken: An erster Stelle den Beiträgerinnen und Beiträgern des Bandes für die Bereitschaft, ihre Überlegungen mit den unseren in einen Diskussionszusammenhang zu stellen. Der wichtigste Dank gilt jedoch der Fritz Thyssen Stiftung für die Förderung des Projekts und auch der vorliegenden Ergebnispublikation. Insbesondere aber für das Vertrauen, das wir durch die Stiftung erfahren durften, und das hohe Interesse an den Projektarbeiten selbst. Liebe Frau Dr. Bienbeck, lieber Herr Dr. Suder, wir sind sehr dankbar, dass uns die Förderung des Projekts eine so intensive und reiche Arbeitsphase ermöglicht hat. Dank gilt daher den Mitgliedern der Projektgruppe: PD Dr. Monika Bednarczuk, Dr. Medardus Brehl, Prof. Dr. Mihran Dabag, Prof. Dr. Peter Goßens, Prof. Dr. Lucian Hölscher, Anna-Lena Rehmer, Fynn-Adrian Richter, Dr. Lasse Wichert.

https://doi.org/10.1515/9783110773217-001

VI

Dank

Für das sorgsame Lektorat der im Band versammelten Studien gilt der Dank Cara Eisberg und Niklas Rauchfuß. Die redaktionelle Betreuung hat Medardus Brehl professionell übernommen. Für seine Arbeit sei ihm herzlich gedankt. Die Herausgeberinnen

Inhalt Kristin Platt / Monika Schmitz-Emans Zur Einleitung: Einige Stimmen zum Themenfeld um den Zukunftsroman

I Problemkonfigurationen Kristin Platt Die Zeit der Katastrophe

25

Lucian Hölscher Die Zukunft im Zukunftsroman

71

Medardus Brehl „Gefallen gegen die Gegenwart“ (Anti‐)Modernismus, politische Abgrenzungen und alte Feinde in 89 politischen Zukunftsromanen des Jahres 1924

II Themen Lasse Wichert Von kommenden Kriegen Deutsche Zukunftskriegsromane der Zwischenkriegszeit Gijs Altena Synthese statt Technokratie Der „Toekomstroman“ der Zwischenkriegszeit

125

167

Dina Brandt „Unnützes Weiberfleisch können die Motoren nicht tragen“ Geschlecht und Sexualität im deutschen Zukunftsroman der 1920er und 1930er Jahre 181 Monika Schmitz-Emans Sprache(n) der Zukunft im Spiegel von Zukunftsromanen

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1

VIII

Inhalt

III Transformationen Hans Esselborn Fiktionalisierung und Narrativierung technischer und politischer Diskurse in Hans Dominiks Roman Die Spur des Dschingis-Khan 263 Stefan Willer Planetarische Zukünfte Kellermanns Der Tunnel und Döblins Berge Meere und 283 Giganten Fynn-Adrian Richter Von Baumstämmen und Steinen Zur Poiesis von Alfred Döblins Berge Meere und Giganten ausgehend 305 von einer „Natur-Epiphanie“ Uwe-K. Ketelsen Zurück voran Die poetische Imagination einer völkischen Zukunft: Friedrich Grieses Roman Die Weißköpfe (1939) 325

IV Anhang Verzeichnis der zitierten Zukunftsromane und anderer zeitgenössischer Literatur 341 Autorinnen und Autoren

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Kristin Platt / Monika Schmitz-Emans

Zur Einleitung: Einige Stimmen zum Themenfeld um den Zukunftsroman Vorstellungen und Gedankenexperimente… Unsere Vorstellungen haben wir leichter und bequemer zur Hand, als die physikalischen Tatsachen. Wir experimentieren mit den Gedanken sozusagen mit geringeren Kosten. So dürfen wir uns also nicht wundern, daß das Gedankenexperiment vielfach dem physischen Experiment vorausgeht, und dasselbe vorbereitet. (Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum)¹

… über die Zukunft … Zukunftsvorstellungen sind […] Zwitter zwischen Realität und Fiktion. Sie können weder als bloße Erfindungen noch im einfachen Sinn als historische Realitäten betrachtet werden. Einerseits sind sie zwar beides zugleich, nämlich mentale Gegebenheiten, die unser Denken und Handeln auch dann beeinflussen, wenn sie nicht eintreten. Und als solche sind sie natürlich historiographisch ebenso ernst zu nehmen wie andere historische Fakten auch. Andererseits unterscheiden sie sich aber auch von beiden: von bloßen Erfindungen, wie sie in Romanen vorkommen, schon allein dadurch, dass sich der Gegenstand ihrer Imagination im Rückblick durchaus als reales Ereignis bzw. Zustand herausstellen kann – dann nämlich, wenn sich die Erwartung oder Voraussage als zutreffend erweist. […] Von vergangenen Ereignissen und Zuständen andererseits trennt sie nicht nur der Zeitpunkt, sondern auch die gesamte logische Konzeption der Geschichte: In der Vergangenheit gilt nämlich die eindeutige Alternative, dass sich etwas entweder ereignet hat oder nicht. Die Vergangenheit lässt sich in faktische und fiktive Ereignisse unterteilen. Die zukünftige Welt so zu ordnen wäre dagegen sinnlos […]. (Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft)²

… als Zeitreisen … „[…] Sie haben Unrecht, wenn Sie sagen, wir können uns in der Zeit nicht hin und her bewegen. Wenn ich mich zum Beispiel eines Ereignisses sehr lebhaft erinnere, gehe ich zum Moment seines Geschehens zurück: ich werde geistesabwesend, wie Sie sagen. Ich springe auf einen Moment zurück. Natürlich haben wir kein Mittel, irgendwie längere Zeit dahinterzubleiben, so wenig ein Wilder oder ein Tier Mittel hat, sechs Fuß über dem Boden zu bleiben. Aber ein zivilisierter Mensch ist in dieser Hinsicht besser dran als der Wilde. Er kann im Ballon gegen die Schwerkraft steigen, und warum sollte er nicht hoffen, daß er einmal werde imstande sein, seine Fahrt die Zeitdimension entlang zu unterbrechen oder zu be-

 Mach, Ernst: Erkenntnis und Irrtum, Leipzig 1917 (zuerst 1905), S. 186.  Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Göttingen 2016, S. 7 f. https://doi.org/10.1515/9783110773217-002

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schleunigen oder sogar umzukehren und in entgegengesetzter Richtung zu wandern?“ (so der Zeitreisende zu einem Skeptiker in H. G. Wells: „Die Zeitmaschine“)³

… und als Modellierungen von Zeit und Geschichte Führt die Bahn des kühnen Menschengeistes immer weiter sonnenan und wird es ihm gelingen, in raschem Vordringen die tiefen Geheimnisse des Welträthsels zu lösen und dazustehen als Herr der Natur? Oder gleicht das Geschick der Menschheit der auf- und niedergehenden Welle, und hebt nur der kurze Augenblick einiger Jahrhunderte uns empor, um uns wieder sinken zu lassen? Oder reißt vielleicht eine unerwartete Katastrophe die Menschheit bald für immer in die Tiefe? Wer vermag diese Fragen zu beantworten? Die Wissenschaft kann es nicht wagen, so lange nicht die berühmte Weltformel des Laplace gefunden ist, die alle Probleme der Vergangenheit und Zukunft löst und den Mechanismus der Welt durchschauen läßt […]. Und doch giebt es ein Zaubermittel, diese Formel zu anticipiren, mit einem Schlage über die in Raum und Zeit mit Masse und Kraft sich abarbeitende Wirklichkeit sich zu erheben und den Schleier der Zukunft zu lüften, das ist die Idee. Die Dichtung hat das Vorrecht, in die Zukunft zu sehen.Wenn aber das, was sie uns erzählt, uns wirklich Vertrauen erwecken soll, so muß sie die Wirklichkeit zu Rathe ziehen und eng an die Erfahrung sich anschließen. Aus dem Verlaufe der Culturgeschichte und dem gegenwärtigen Standpunkte der Wissenschaft kann man mancherlei Schlüsse auf die Zukunft ziehen, und die Analogie bietet sich der Phantasie als Bundesgenossin. (Kurd Laßwitz: Vorbemerkung zu „Bis zum Nullpunkt des Seins. Erzählung aus dem Jahre 2371“)⁴

1 Zukunftserzählungen, Fiktionen, Fiktionspakte Literarische Erzählungen über die Zukunft bedürfen in besonderem Maße jener Art von impliziter Übereinkunft zwischen dem Text und seinen Lesern, die man „Fiktionspakt“ genannt hat:⁵ Um sich auf die dargestellte fiktionale Welt einlas-

 Wells, H. G.: Die Zeitmaschine. Eine Erfindung, Zürich 1974 (zuerst engl. 1895), S. 5 f.  Laßwitz, Kurd: Bis zum Nullpunkt des Seins. Erzählung aus dem Jahre 2371 [1871], in: ders.: Bilder aus der Zukunft. Zwei Erzählungen aus dem vierundzwanzigsten und neununddreissigsten Jahrhundert, Breslau 1878, S. 22.  Vgl. Eco, Umberto: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München 1994 (zuerst ital.), Kapitel 4: „Mögliche Wälder“, S. 101– 127, hier insb. S. 103 – 106. Die gelingende Rezeption literarischer (und anderer künstlerischer) Fiktionen als Fiktionen begründet Eco im Rekurs auf S. T. Coleridge mit Fiktionsverträgen, was unter anderem die Differenzierung zwischen Fiktionen und absichtsvollen Täuschungen beziehungsweise Lügen möglich macht. Vgl. Coleridge, Samuel Taylor: Biographia Litteraria or Biographical Sketches of my Literary Life and Opinions, London 1971 (zuerst 1817). – Zum Begriffsfeld rund um „Fiktion“, zu dem auch der „Fiktionspakt“ gehört: Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft, Berlin 2001. Thematisch affin

Zur Einleitung: Einige Stimmen zum Themenfeld um den Zukunftsroman

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sen zu können, muss der Leser seine Vorbehalte gegenüber der Glaubwürdigkeit des im Roman Geschilderten zurückstellen, muss also hinnehmen, was ihm über die intradiegetische Welt mitgeteilt wird. Wenn dies auch zwangsläufig manches Mal mit einer Einklammerung ansonsten geläufigen (und insofern ‚gültigen‘) Weltwissens erkauft wird, also mit einem temporären Verzicht auf dessen spezifische Orientierungsfunktionen einhergeht, so gibt es kompensatorisch doch auch Gewinne zu verbuchen: Die romaninterne fiktionale Welt unterliegt in manchem besonderen Spielregeln, die zu entdecken und zu verstehen ebenfalls ein Erkenntnisgewinn sein kann – eben weil es um Modellvorstellungen geht, die einer eigenen, aber immerhin doch einer sie zusammenhaltenden Logik folgen, weil es um Gesetzlichkeiten und Spielregeln geht. Die in der Poetik des Aristoteles fallende Bemerkung, die Darstellung „möglicher Welten“ sei „philosophischer“ als die Darstellung der wirklichen Welt,⁶ deutet schon in diese Richtung: Was als „mögliche Welt“ funktionieren und überzeugen soll, muss einer Ratio unterliegen. Und diese zu erschließen heißt, nach dieser Ratio zu suchen. Sich auf Fiktionales einzulassen, kann schon darum eine intellektuelle Horizonterweiterung bedeuten. Fiktionen verhalten sich zumindest affin zu Gedankenexperimenten – wenn denn nicht Gedankenexperimente ohnehin als eine Spielform des Fingierens zu betrachten sind. Je wichtiger Fiktionspakte als Pakte über das Sich-Einlassen auf Fiktionen für den verstehenden und interpretierenden Umgang mit fiktionalen Welten sind, je mehr an Phantasie und Durchhaltevermögen der Leser hier in den Pakt als Basis der Kommunikation mit dem Text investieren muss, desto größer der Gewinn an Spielraum für Gedanken- und Vorstellungsexperimente – für die Entfaltung von Denkmöglichem und für Vorstellungsinhalte, die jenseits realer Erfahrungsmöglichkeiten liegen. Fiktionspakte als Pakte über das Sich-Einlassen auf Erfundenes erzwingen keineswegs eine Abwendung vom Nichtfiktionalen, vom Tatsächlichen, seinen Erscheinungen, Regeln und Logiken. Im Gegenteil: Fiktionales profiliert sich vor dem Hintergrund dessen, was als Nichtfiktionales bekannt ist, was als „wirklich“ gilt, also unter Orientierung an dem, was wir über diese Wirklichkeit wissen. Fiktionale Welten bieten in ihrer Ausstattung Mischungen aus solchen Gegenständen, Ereignissen und Regeln, die erfunden sind, und solchen, die wir als Teile unserer Wirklichkeit kennen – wäre es anders, so würde man die Funktionsweise der fiktionalen Welten gar nicht begreifen. Umberto Eco, der in seinen poetologischen Reflexionen über Fiktionen deren Bedeutung für Prozesse literarischer auch: Walton, Kendall L.: Mimesis as Make-Believe. On the foundations of the representational arts, Cambridge MA 1990.  Aristoteles: Poetik, Kap. 9. Vgl. dazu Fuhrmann, Manfred: Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973; Aristoteles: Poetik, hrsg. von Hellmut Flashar, Berlin 2007.

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Kommunikation erörtert hat, macht zugleich deutlich, dass sich das Verstehen von Texten über romaninterne Welten – und damit das Verstehen dieser Welten selbst – auf ein allgemeines Weltwissen stützt, das reale und fiktionale Welten umgreift.⁷ Nichts ist dabei „historischer“ (im Sinn der Prägung durch eine bestimmte geschichtliche Zeitphase, ihre Handlungsweisen, ihre Kenntnisse, ihre Diskurse, ihre Imaginationen) als die Zukunftswelten, die sich die Mitglieder historischer Gesellschaften ausmalen: Solche Welten und die Geschichten, die in ihnen spielen, gehen nicht einfach nur aus Ausflügen der Imagination in die Zukunft hervor, die sich für die Dauer des Ausflugs von der eigenen Gegenwartswelt verabschiedet. Sie sind vielmehr Ausdruck spezifischer Interessen, Anliegen, Probleme, Denk- und Anschauungsweisen ihrer jeweils eigenen Entstehungszeit, maßgeblich (wenn auch auf unterschiedliche Weisen) beeinflusst durch deren historische, kulturelle und diskursive Rahmenbedingungen. In Zukunftsdarstellungen manifestieren sich Ideale und Schreckbilder, Befürchtungen und Hoffnungen ihrer jeweiligen historischen Entstehungsepoche, insbesondere aber auch – auf einer anderen, allgemeineren und abstrakteren Ebene – Vorstellungen ihrer jeweiligen Entstehungszeit über Zeit und Geschichte. Dass sich der Leser im Sinne zukunftsromanspezifischer Fiktionspakte auf die dargestellten Welten einlassen muss, bedeutet gewiss nicht, dass er das Weltbild des jeweiligen Autors teilen beziehungsweise bekräftigen müsste. Er muss sich – wie alle Leser fiktionaler Texte – einer Spielregel unterwerfen („so, wie das hier erzählt wird, ist das in dieser Welt“).Wer einen Zukunftsroman zu lesen beginnt und nach kurzer Zeit den Pakt mit der Bemerkung aufkündigt, das sei doch bodenlose Phantasterei und keine Darstellung einer vorstellbaren Zukunft, wird den Roman vielleicht trotzdem weiterlesen – aber nicht als einen Zukunfts-Roman. Zukunft, die in der Form antizipierter Projektionen begegnet, wird durch die Konstruktion historischer Verweisungszusammenhänge zur ‚gewissen‘ oder sogar ‚sicheren‘ Zukunft. Das Lesen narrativ konstruierter Zukunftsbetrachtungen führt Vergangenheit und Zukunft zusammen, wobei die Gegenwart eng zu werden scheint, die Präsenz der Gegenwartszeit kontrahiert ist. Das auf die Zukunft gerichtete Leseverfahren und die in die Zukunft gerichtete Entwicklung der Erzählhandlung folgen einer Projektionszeit, die zumeist zwar linear bleibt, aber sich dadurch auszeichnet, dass sie den Leser nicht zurücklässt, sondern ihn datumsgenau im Geschehen mitnimmt. Für die politischen Romane der 1920er und

 Eco, Umberto: Im Wald der Fiktionen (Anm. 5), S. 112: „Die fiktiven Welten sind Parasiten der wirklichen Welt“. Vgl. zum Thema auch: Eco, Umberto: Kant und das Schnabeltier, München/ Wien 2000 (zuerst ital. 1997).

Zur Einleitung: Einige Stimmen zum Themenfeld um den Zukunftsroman

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30er Jahre scheint die Zusammenführung von Vergangenheit und Zukunft die Möglichkeit zu eröffnen, die Gegenwart in ihren Norm- und Wertsetzungen, ihren Strukturen und Erfahrungsräumen grundsätzlich zu hinterfragen – in den Romanhandlungen dann auch durchaus ähnlich grundsätzlich zu annullieren. Bedrohungs- und Weltuntergangssituationen erscheinen, aus der Zukunft betrachtet, nicht als Warnung vor einer möglichen Entwicklung, sondern als Gewissheit. Dabei machen bereits diese ersten Überlegungen deutlich, dass das ZukunftSchreiben die Kohärenz von Erzählhandlungen nicht nur auf einer Arbeit an Zeiten, das heißt den narrativen Logiken oder Chrono-Logiken, basieren muss,⁸ sondern auch auf der Frage, wie der Leser in die Zukunft mitgenommen werden kann beziehungsweise welcher Leser zukunftsfähig ist, sowie nicht zuletzt auf der Auflösung der Präsenz der Gegenwart.

2 Zukunftsfiktionen und ihre Zeiten, mögliche Welten und Geschichtsmodelle Nehmen Zukunftsvorstellungen die Gestalt erzählter Geschichten an, so überlagern einander verschiedene Dimensionen von Zeit (respektive verschiedene „Zeiten“) auf manchmal komplexe Weise: Primärgegenstand ist erstens eine imaginierte Zukunft, die dann in den Geschichten oft eine eigene Vergangenheit in Form einer fingierten Vorgeschichte zugeordnet bekommt. Bestimmend für Themen und Darstellungsweisen ist (begonnen bei Motiven, Plots, Ausdruckweisen) zweitens auch die Gegenwart der Autoren, von deren Standpunkt her das Erzählte als „Zukunftsgeschichte“ erscheint – also die Entstehungszeit der Romane. Diese spielen drittens oft zumindest implizit auch auf die historische Vergangenheit an, rufen sie womöglich als eine Vergangenheit in Erinnerung, die sie mit der dargestellten fingierten Zukunft teilen. Eben diese Gegenwartszeit ist dann aber viertens aus der Perspektive späterer Leser schon wieder zu einem Stück „Geschichte“ geworden – was im Text, etwa im Vorwort, unter Umständen sogar thematisiert werden kann, etwa wenn eine Erzählerinstanz sich an die eigene Nachwelt wendet. Aus einigem Abstand zur jeweiligen Entstehungszeit gelesene Zukunftsgeschichten spielen in jedem Fall in einer ‚vergangenen‘ Zukunft. Manchmal hat dann das Datum der Lektüre das der dargestellten „zukünftigen“ Ereignisse bereits hinter sich gelassen, die Gegenwart (der Leser) also die Zukunft (der imaginierenden Autoren) überholt.  Siehe dazu auch die Beiträge in: Zeiten erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen, hrsg. von Antonius Weixler und Lukas Werner, Berlin/Boston MA 2015.

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Wenn es um Zukunftsromane geht, sind besondere Fiktionspakte zu schließen: Etwas, das einerseits der Fiktion zufolge künftig erst geschehen wird, ist andererseits offenbar aber doch schon beschrieben worden und liegt nun als Text vor unseren Augen: Die geschilderte Zukunft hätte demnach vor der Gegenwart stattgefunden. Eine Auflösung dieses Paradoxes im Sinne des Fiktionspakts könnte hier etwa darin bestehen, sich vorzustellen, man selbst lese den Erzählerbericht von einem noch späteren, noch ‚zukünftigeren‘ Standort aus. Wer sich darauf einlässt, versetzt in gewissem Sinn sich selbst in die Zukunft – in eine Zeit, die seiner eigenen Gegenwart zeitlich so fernliegt, dass die erzählte fiktionale Zukunftsgeschichte ‚schon erzählt worden‘ sein kann. Das mit Zukunftsromanen verbundene Denkexperiment schließt also Selbstversuche ein, auch wenn diese normalerweise wenig riskant verlaufen. Hinsichtlich des Schwerpunkts der Studien des vorliegenden Bandes an jedoch lassen sich die Beobachtungen an die Überlegung anknüpfen, die Arnold Gehlen an die bildende Kunst herangetragen hatte: Spätestens mit dem Ersten Weltkrieg waren die konkreten, „inneren und äußeren“ Lebensbedingungen für die Kunst zur Herausforderung geworden. Die 1920er Jahre seien „nicht die Zeit des Neuerschließens, sondern des Aufarbeitens“ gewesen.⁹ Es war Engagement verlangt worden, das Aufzeigen von Wegen. Stehen wir nicht „an einer Wendung der Zeit […], daß ein neuer Menschentyp sich bildet und daß der Weg in eine gänzlich veränderte und bessere Zukunft beschrieben werden kann?“, so die Frage, die 1929 an Gottfried Benn gestellt wurde,¹⁰ der in einem in der Neuen Bücherschau gedruckten Beitrag (noch) eine scharfe Abwehr der Aufforderung zur engagierten Kunst vorbrachte: Schriftsteller, deren Arbeit auf empirische Einrichtungen der Zivilisation gerichtet ist, treten damit auf die Seite derer über, die die Welt realistisch empfinden, für materiell gestaltet halten und dreidimensional in Wirkung fühlen, sie treten über zu den Technikern und Kriegern, den Armen und Beinen, die die Grenzen verrücken und Drähte über die Erde ziehen, sie begeben sich in das Milieu der flächenhaften und zufälligen Veränderungen, während doch der Dichter prinzipiell eine andere Art von Erfahrung besitzt und andere

 Gehlen, Arnold: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt am Main/Bonn 1960, S. 205.  Benn, Gottfried: Können Dichter die Welt ändern?, in: Neue Bücherschau vom 9. Juli 1929. Nachgedruckt (nicht textidentisch) unter anderem in: Was will Literatur? Aufsätze, Manifeste und Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller zu Wirkungsabsichten und Wirkungsmöglichkeiten der Literatur. Bd. 2: 1918 – 1973, hrsg. von Josef Billen und Helmut H. Koch, Paderborn 1975, S. 58 – 65; sowie in: Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. 7: Vermischte Schriften, hrsg. von Dieter Wellershoff, Wiesbaden 1968, S. 1669 – 1678.

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Zusammenfassungen anstrebt als praktisch wirksame und dem sogenannten Aufstieg dienende.¹¹

Ist die Arbeit am Werden oder gar Wachsen zum ‚Techniker‘ und ‚Krieger‘ nicht möglicherweise doch einer der thematischen Hauptstränge der utopischen Entwürfe der deutschsprachigen Texte nach dem Weltkrieg? Gehlen führt in der Erörterung der Veränderungen für die moderne Kunst die Überlegung der „Möglichkeiten“ ein: die Beziehungen zwischen Angepasstheit und Selbstständigkeit, moralischer Nachprüfbarkeit und Unbestimmtheit, Zugänglichkeit und Entziehen hätten sich verändert, wobei in der deutschen Kunst „etwas von beengter Spannung“ hervorgetreten sei.¹² Eine der wesentlichsten Veränderungen habe aber in der Erkenntnis bestanden, dass das ästhetische Erleben, das Sehen und Erkennen, die Beziehung zwischen Kunst und der Wirklichkeit der Außenwelt festhalte und „außerkünstlerische“ Regeln nicht nur über Bedeutungen oder Themen, sondern auch über Bildformen und Darstellungsweisen bestimmen. Es geht bei aller Rückbindung von Fiktionen an Erfahrungsweltwissen nun tatsächlich nicht immer nur um harmlose futuristische „Parasiten der wirklichen Welt“ (Umberto Eco, siehe oben), wenn Fiktionspakte die Phantasie der Leser mobilisieren: Manche Geschichten eröffnen Spielräume für eine Darstellung von Grenzwertigem, von Kaum-Vorstellbarem, allenfalls So-gerade-noch-Vorstellbarem. Dies gilt etwa für Vorstellungen von einer Unbewohnbarwerdung oder gar Zerstörung der Erde, von einer völligen Metamorphose von Lebewesen und Lebensformen, von einer Welt, in der die Menschheit untergeht, drastisch degeneriert oder schon verschwunden ist. Nicht alle Zukunftsromane nutzen solche Potentiale, aber manche – nicht wenige – zeigen, dass es geht, dass sich unter der gesetzten Voraussetzung, „Zukünftiges“ zu erzählen, die Grenzen des Vorstellbaren stark strapazieren, womöglich ein Stück ausdehnen lassen, dass die „Parasiten der wirklichen Welt“ neue Mutationen durchlaufen. Beispiele des Zukunftsromans seit H. G. Wells deuten darauf hin, dass diese Romangattung besonders dazu disponiert ist, Grenzwertiges in die Vorstellung der Leser einziehen zu lassen, diese dabei nicht einfach nur zu verblüffen und zu schockieren, sondern dazu zu verführen, sich auf dieses Grenzwertige einzulassen – seltener auf Zustände unwahrscheinlichen Glücks als auf Schreckensbilder, auf Katastrophen, auf Untergänge. Eine wichtige Bedeutungsdimension von Zukunftsromanen besteht in ihrer (zumindest impliziten) Konzeptualisierung von „Geschichte“. Dies kann sich im

 Ebd.  Gehlen: Zeit-Bilder (Anm. 9), S. 195.

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Sinn einer Affirmation gängiger Vorstellungsmuster manifestieren, die als solche gar nicht ausdrücklich thematisiert werden, aber auch als Gegenentwurf – oder auch im Zeichen einer unaufgelösten Spannung zwischen unterschiedlichen Konzeptualisierungen von „Geschichte“, etwa zwischen Geschichte als „Fortschrittsgeschichte“ und „Verfalls“- und „Untergangs“-Narrativen, zwischen Modellierungen einer sinnvollen, zielgerichteten Geschichte und Modellierungen eines sinnlosen Mäanderns der Ereignisketten. Die Spannung zwischen diskrepanten Modellen, die der Zukunftsroman erzeugen kann, kann dabei gewollt sein – oder das Resultat konzeptioneller Pannen. In diesen Geschichtsmodellen kondensiert sich das, was die Zukunftsfiktionen mit ihrer jeweiligen Entstehungszeit, mit der „Gegenwart“ der Autoren verbindet. Denn so unähnlich die zeitlich fernen Welten dieser Gegenwartswelt auch sein mögen – ihre innere Logik und ihre thematische Profilierung, das, was sie an Ideen über Geschichte und deren Gestaltbarkeit transportieren – all dies, sind Produkte eben jener „Gegenwart“. Und mit deren übrigen Hervorbringungen und Diskursen altern sie dann gegebenenfalls auch. Bei der Identifikation derjenigen Modelle von und Diskurse über Geschichte, die in Zukunftsromanen aufgegriffen und narrativiert werden, bieten geschichts-, diskurs- und kulturwissenschaftliche Ansätze wichtige Hilfestellungen. Sie eröffnen ergiebige Perspektiven, lassen auf nützliche begriffliche Instrumentarien zugreifen, wenn es gilt, die impliziten oder expliziten Geschichtskonzeptionen zu erfassen, die Zukunftsromanen eingeschrieben sind: Bildet ein vormodernes oder ein modernes Konzept von Geschichte den Bezugsrahmen der erzählten Ereignisse und die Basis der Erzählweise selbst? Rekurriert der Text auf ein traditionelles Geschichtsmodell (wobei das des geschichtlichen „Fortschritts“ mittlerweile zur „Tradition“ gehört) – oder lässt er das Geschichtskonzept der Moderne hinter sich? Überlagern sich im Text womöglich disparate Konzepte und Modelle von Geschichte, so dass ihm von vornherein unaufhebbare Ambivalenzen eingeschrieben sind? In den letzten Jahren sind in der Forschung über „Zeit“ eine Vielzahl von Anknüpfungen gerade an philosophische Studien vorgestellt worden, wobei die Beiträge des vorliegenden Bandes an die Beobachtung anschließen, dass „Zeitlichkeit“ eine Bedingung menschlicher Kultur ist, die nicht als einfache Re-Präsentation eines generellen Phänomens irdischen Lebens verstanden werden kann, sondern die Präsentation und Vergegenwärtigung kultureller Verfahren der Bestimmung von Ordnungen, Sein oder Person reflektiert. Die Einsicht in die Wechselwirkungen zwischen Bewusstsein und Vorbewusstsein, die Einsicht, dass Erfahrung stets ein gerichtetes Bewusstsein von etwas ist, geht dabei vor allem auf die phänomenologischen Grundlegungen von Edmund Husserl zurück. In seinen Vorlesungen zum Zeitbewusstsein führt er die Idee der „Zeitobjekte“ ein, die als

Zur Einleitung: Einige Stimmen zum Themenfeld um den Zukunftsroman

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Figuren „nicht nur Einheiten in der Zeit sind, sondern die Zeitextension auch in sich enthalten“.¹³ In diesen Figuren wird eine Einheit der Zeit, das heißt eine Einheit von Vergangenem und Moment empfunden, doch sind diese Zeitobjekte nicht nur erfahrungsbestimmt, sondern sie unterliegen auch der Zeitgestalt der Gegenwart, der Einschreibung von Gestalthaftigkeit, die selbst eine zeitabhängige Dauer hat. Die Zeitobjekte ermöglichen, einen Moment als Präsenz oder Gegenwart zu erfahren, trotzdem haben Geschehen eine Dauer, die die Zeitobjekte überoder unterschreitet. Mittels der Begriffe der Protention und Retention führt Husserl die Überlegung ein, dass Zeiterfahrung mit dem Wissen über Objekte, mit Antizipationen von Dauer und den Positionen in Geschehen in Wechselwirkungen steht. In den Deutungen von Gegenwart sind dabei stets Deutungen des Vergangenen und Erwartungen des Zukünftigen präsent. Eine weitere wichtige Perspektive, die in den nachfolgenden Analysen von Zukunftsromanen in den Blick rückt, ist die Beobachtung der textlichen Konstruktion sozialer Zeiten, das heißt die Idee, dass in dem Fortwirken von Vergangenheit in der Zukunft nicht nur ein Echo oder ein Nachwirken deutlich wird. In Anknüpfung vor allem an Henri Bergson lässt sich der Gedanke aufnehmen, dass Handeln auf Konventionen, Gewohnheiten, der Einschätzung von Potentialitäten und Bewegungen basiert, in denen „Vergangenheit“ präsent gemacht wird.¹⁴ Gegenwart sei zugleich „Empfindung und Bewegung“,¹⁵ weil sie von der Wahrnehmung des eigenen Körpers im Raum ausgeht. Dadurch erscheint Gegenwart als etwas „Bestimmtes“, das sich von der Vergangenheit deutlich unterscheidet. Doch ist der Moment des Ortes immer auch ein Moment des „Werdens“ und damit stets nur eine Aktualität von Gegenwart.¹⁶ Der Augenblick ist zugleich unmöglich, weil der sich bewegende Körper im Moment der Bestimmung bereits wieder ein anderer ist, Augenblick und Dauer nicht vereinbar sind, zugleich ist allein der Augenblick möglich, weil er die Bestimmung von Gegenwart erlaubt als Moment, in dem der Körper zugleich noch in der Vergangenheit, aber auch in der Zukunft steht.¹⁷ Für Bergson verliert die Vergangenheit in der Gegenwart nicht zunehmend an Bedeutung, sondern sie gewinnt gerade Kontur.¹⁸

 Husserl, Edmund: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Berlin/ Boston MA 2012 (zuerst 1928), S. 384.  Siehe Bergson, Henri: Dauer und Gleichzeitigkeit. Über Einsteins Relativitätstheorie [1922], Hamburg 2015; ders.: Zeit und Freiheit. Versuch über das dem Bewußtsein unmittelbar Gegebene [1889], Hamburg 2016.  Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis [1896], Hamburg 2015, S. 177.  Ebd., S. 178.  Ebd., S. 93.  Bergson, Henri: Philosophie der Dauer. Textauswahl von Gilles Deleuze, Hamburg 2013, S. 59.

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Insofern gibt es für ihn zwei Zeiten, ebenso wie zwei verschiedene Ich-Personen: jeweils eine räumliche und eine soziale. Das soziale Ich in seiner sozialen Raumund Zeit-Vorstellung entsteht dabei erst durch Reflexion, durch „Messung unzugänglicher Zustände“,¹⁹ durch Setzung von Kategorien und Regeln. Die Aporien der Zeitbestimmungen sind also nicht nur eine Bedingung, die man hinnehmen muss, wenn man Zeitbewusstsein beschreiben will. Sie zeigen, dass mit der Frage nach der Zeit nicht Zeit, sondern ‚Wissensräume‘ erschlossen werden. Gerade diese Erkenntnis hatte Émile Durkheim vertieft, indem er ausarbeitete, dass „Zeit“ nicht nur eine soziale oder kollektive Vorstellung ist, die Rückschlüsse auf Interpretationen von Gegenwart eröffnet, sondern dass sozialen Kollektiven bestimmte Temporalitäten eigen sind.²⁰ Über die Beanspruchung einer eigenen, beschleunigten Zeit, einer machbaren Zeit sowie einer Zeit, die nicht nur messbar ist, sondern die man veranlassen oder herbeiführen kann, hat sich die Moderne ein Charakteristikum zugeschrieben, das eben nicht als Orientierung, sondern sogar als Identitätsaspekt wirkt.²¹ Postmoderne Theorien gründen dabei gerade auf der Idee einer Vervielfältigung von Temporalitäten.²² Bemerkenswerterweise zeigen die in diesem Band versammelten Studien, dass sich auch die Zwischenkriegszeit über ein eigenes Zeitbewusstsein charakterisieren lässt: Es ist die Idee der überstürzenden Zeit, die Figur der Zeit, die sich vom Menschen fortentwickelt und diesen mit dem Eindruck der Entfremdung zurückgelassen hat. Insofern ist es nicht nur ein vermutetes Spannungsverhältnis zwischen „objektiver“ und „narrativer“ Zeit, zwischen zeithistorischen Formen eines Zeitbewusstseins und den Zeitfiguren der Romane, das in den Untersuchungen interessiert. Die Studien widmen sich vor allem den textlichen Praktiken, mit denen unterschiedliche Vorstellungen von „Zeit“ und „Zukunft“ in Bezug gesetzt werden. Welche Funktion kommt dem Körper des Protagonisten zu, welche Funktion übernehmen Affekte im Überschreiten von Zeiten, welche Temporalität hat „Zukunft“? Die „Zukunft“ in dem Sinn, den wir mit diesem Begriff verbinden, scheint – wie Vertreter der Geschichtswissenschaft, der Kultur- und Diskursgeschichte

 Bergson: Zeit und Freiheit (Anm. 14), S. 202.  Siehe dazu auch Bergman, Werner: The Problem of Time in Sociology. An overview of the literature on the state of theory and research on the „Sociology of Time“, 1900 – 82, in: Time and Society Jg. 1 (1), 1992, S. 81– 134.  Siehe dazu Platt, Kristin: Gehen lernen in Zeitverschiebungen, in: Fehlfarben der Postmoderne.Weiter-Denken mit Zygmunt Bauman, hrsg. von Kristin Platt, Weilerswist 2020, S. 204– 262, insb. S. 211.  Winders, James A.: „Narratime“. Postmodern temporality and narrative, in: Issues in Integrative Studies 11, 1993, S. 27– 43.

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deutlich gemacht haben – erst in der Neuzeit entdeckt beziehungsweise konzipiert worden zu sein.²³ Das Ende der Geschichte, so impliziert dieser neuzeitliche Zukunftsbegriff, steht noch nicht fest; es gibt keinen determinierten Plan, kein gesetztes „Ziel“ von Geschichte. Und das Ende liegt aus neuzeitlicher Sicht deutlich ferner, als in früheren Zeiten im Zeichen des Glaubens an ein nahendes Endgericht angenommen worden war; es gibt einen Spielraum der Zukunft, den die Menschheit nutzen kann. Bedingt durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse (in Astronomie, Paläontologie, Biologie, Geologie et cetera) bezieht sich seit dem späten 18. Jahrhundert die Vorstellung von „Geschichte“ auf gegenüber früheren Epochen stark erweiterte Zeithorizonte. An die Stelle einer seit der Schöpfung vergangenen auf 4.000 bis 6.000 Jahre kalkulierten Weltgeschichte tritt als Horizont die Erdgeschichte, deren Alter sich zunehmend als weitaus größer erweist; komplementär zu diesen viel größeren Dimensionierungen des Vergangenen entwickelt man entsprechend langfristigere Zukunftsvorstellungen. H. G. Wells, der in seinem Zukunftsroman The Time Machine (1895) eine über extrem lange Zeitspannen gehende Zukunftsreise beschreibt, orientiert sich bei der Erfindung dieser Zukunft erkennbar am zeitgenössischen Wissen über die Vergangenheit des Planeten Erde. In seiner (deutlich später verfassten) History of the World (1926) fasst er den allgemeinen Wissensstand seiner Zeit zusammen und betont die starke Expansion nicht nur des Wissens, sondern auch der von diesem erforschten Erd-Zeit.²⁴

 Vgl. dazu Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft (Anm. 2), hier insb. S. 10 f.  „Die Geschichte unserer Welt ist eine Geschichte, die man noch nicht genau kennt. Vor etwa 200 Jahren wußte die Geschichtswissenschaft nur von den letzten drei Jahrtausenden zu erzählen. Was vorher geschehen war, galt als Legende oder Vermutung. In einem großen Teil der zivilisierten Welt glaubte und lehrte man, daß die Erde plötzlich, im Jahr 4004 v. Chr., erschaffen worden sei; allerdings waren die Forscher darüber uneins, ob sich dies im Frühjahr oder im Herbst jenes Jahres ereignet habe. Diese phantastisch-pedantische Irrmeinung gründete sich auf eine zu wörtliche Auslegung der hebräischen Bibel und auf damit verbundene recht willkürliche theologische Annahmen. Solche Ideen sind von den Religionslehrern längst aufgegeben worden, und man weiß heute auf der ganzen Erde, daß das Weltall, in dem wir leben, allem Anschein nach seit einer ungeheuren Zeitperiode, möglicherweise sogar seit endloser Zeit besteht. Gewiß kann dieser Anschein trügen, wie etwa ein Zimmer durch einander gegenübergestellte Spiegel den Eindruck der Endlosigkeit erwecken kann. Der Gedanke jedoch, daß die Welt, in der wir leben, erst seit sechs- oder siebentausend Jahren bestehe, kann zweifellos als endgültig überholt angesehen werden“. (Anfang, Beginn des Kapitels „Die Welt im Raum“, S. 7) – Wells, H. G.: Die Geschichte unserer Welt. Vom Neanderthaler (!) bis zum Zweiten Weltkrieg. Das Buch, im engl. Original 1922 unter dem Titel A Short History of the World erschienen, behandelt – anders als vom Titel der deutschen Übersetzung suggeriert – zuletzt die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, also nicht den Zweiten Weltkrieg. Wells’ Darstellung beginnt dafür auch nicht beim Neandertaler, sondern mit der mutmaßlichen Entstehung der Erde.

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Mit der neuzeitlichen Erweiterung des Zeithorizonts von geschichtlicher Erfahrung verbunden ist ein neues Interesse an der Gestaltung von Zukunft, die dabei ja als prinzipiell verlaufs- und ergebnisoffen erscheint. Auf diesem Fundament gründen neuzeitliche Entwürfe von Zukünftigem und modernes Zukunftsdenken. Dabei durchläuft dieses Zukunftsdenken wechselnde Phasen der Intensität und der konkreten Ausrichtung, je nach aktuellen Rahmenbedingungen und Anlässen. Insbesondere besteht ein durchgängig virulenter Spannungsbezug zwischen positiven und negativen Zukunftserwartungen, zwischen Phasen eines dominierenden Zukunftsoptimismus oder -pessimismus, zwischen Aufbruchs- und Untergangsstimmungen. Dass Zukunft in der Neuzeit unter dem Aspekt ihrer Gestaltbarkeit interpretiert wird, zeigt sich keineswegs nur an Spekulationen, Wissensdiskursen und Zukunftsfiktionen; es hat vor allem auch tiefgreifende politische und gesellschaftliche, ökonomische und militärische Folgen: Politisch-soziale Innovationen und Umbrüche werden denkbar, scheinen manchmal sogar die eigentliche Aufgabe der Menschheit darzustellen.²⁵ Das 19. Jahrhundert, als eine Ära zahlreicher und profunder wissenschaftlicher und technischer Entdeckungen, ist eine Epoche des Wandels und der Verwandlungen (Osterhammel), geprägt durch die Fortschrittsidee, den Glauben an Innovationen, eine starke Zukunftsorientierung – eine Grundausrichtung, die auch noch im 20. und 21. Jahrhundert als prägende Kraft keineswegs obsolet geworden ist. Als Personifikation des Selbstverständnisses einer zukunftsorientierten technischen Moderne erscheint der Figurentypus des Erfinders, Ingenieurs, Technikers. Und das literarische Genre, das passend zu all dem im 19. Jahrhundert sein Profil annimmt, ist der Zukunftsroman.²⁶ Unbeschadet der nachhaltig wirksamen Orientierung auf Zukunft und auf einen unterstellten „Fortschritt“ bringen sich aber seit dem späteren 19. Jahrhundert auch andere Tendenzen zur Geltung: Degenerations- und Regressionsgeschichten, Geschichten fehlgeleiteter Gestaltungsphantasien und Weltunterwerfungsprojekte. Technikoptimismus und Technikkritik sind zwei Hauptpole, zwischen denen sich die Handlungen vieler Zukunftsromane situieren. Eine andere thematisch oft bestimmende Polarität ist die zwischen optimistischer und pessimistischer Entwicklung sozialer Organisationsformen, Staaten, Gesell-

 Mit solcher (Selbst‐)Verpflichtung auf eine noch zu schaffende Zukunft verbunden ist vielfach eine Bereitschaft, die Gegenwart um der Zukunft willen auch unter schwierigen und leidvollen Bedingungen zu ertragen. Man bringt im Namen der Zukunft Opfer in der Gegenwart, nimmt Entbehrungen auf sich, kämpft für zeitliche Fernziele. Aus diesem Stoff lassen sich Helden für Romane machen, auch für Zukunftsromane.  Vgl. dazu Hölscher: Entdeckung der Zukunft (Anm. 2), insb. das Kapitel: „Der Aufschwung des Zukunftsromans“, S. 141– 149.

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schaften. Als die schrecklichsten Geschichten über den Zukunftsgestaltungswillen menschlicher Subjekte (Einzelner oder ganzer Kollektive) erscheinen im dystopischen Zukunftsroman nicht etwa Darstellungen von gescheiterten Projekten, sondern Geschichten über realisierte Pläne. Schon die erfolgreiche Landgewinnung, der erfolgreiche Flug ins All, die erfolgreiche Entwicklung neuer Maschinen und Technologien kann langfristig verheerende Folgen haben. Womöglich noch schlimmer wirken sich perfektionierte Staatsmaschinen aus, wie man sie sich als mögliche politische Systeme der Zukunft vorstellt, konsequent effizienzorientierte kapitalistische Systeme etwa oder perfekte totalitäre Überwachungsstaaten. Denn sie nehmen Einfluss nicht nur auf das physische Leben der Menschen, sondern auf deren Ethiken, deren Sozialverhalten, auf das, was man das „Humane“ nennt. Ansatzweise zeichnet sich in Romanen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts manchmal ein Bewusstsein von der Macht des Menschen über die Erde als Lebensraum ab, die eben auch die Macht zur Zerstörung dieses Biotops impliziert – ein brisanter Anlass für Gedanken- und Erzählexperimente in einem Grenzbereich des Vorstellbaren. Viele Zukunftsromane erzählen seitdem Geschichten von der Zerstörung der Erde und dem Untergang menschlicher Lebensräume. Hatte sich seit Beginn der Neuzeit und mit fortschreitendem paläontologischem Wissen die Zeitspanne der Menschheitsgeschichte, mit der man kalkulierte, deutlich erweitert, so scheint sich nun eine Verkürzung abzuzeichnen. Das Motiv des Weltuntergangs gewinnt neue Bedeutungsdimensionen – nicht mehr im Sinn eines von göttlichen oder schicksalhaften Mächten gesetzten und insofern sinnhaften Endes, verbunden mit einem Endgericht und seinen Offenbarungen, sondern als ein Ende, das aus Fehlern resultiert, aus Fehlkalkulationen, aus Selbstüberhebungen planender Rationalität –, und dieses Ende wäre dann zwar möglicherweise inzwischen vorhersehbar, aber nicht-gewollt, nicht-intentional und insofern sinnlos.

3 Zukunftsromane zwischen Bemächtigungs- und Entmächtigungsszenarien Im 20. Jahrhundert wird der Zukunftsroman zum wichtigen Austragungsort der Konkurrenz differenter Geschichtserwartungen – auch der literarisch eher weniger ambitionierte, zu Unterhaltungs- oder Propagandazwecken geschriebene Roman, der gängige Modelle übernimmt und unausgesprochen affirmiert. Zukunftsromane strapazieren als fiktionale „Parasiten der wirklichen Welt“ die mit den Lesern geschlossenen Fiktionspakte in unterschiedlicher Intensität. Dass

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viele von ihnen einen Akzent auf Technik und Erfindungen legen, bestätigt den anhaltenden Einfluss eines neuzeitlich-modernen Geschichtskonzepts, demzufolge „Geschichte“ im Wesentlichen eine Gestaltung der Welt durch den planenden, konstruierenden Menschen ist. Die häufigen Heroisierungen von Erfinder-, Forscher- und Entdeckerfiguren, von Technikern und Ingenieuren bekräftigen die Leitidee des Menschen als des Subjekts, des ‚Machers‘ von historischen Welten besonders. Geschichte, so die modernistische Implikation, ist dabei nicht nur etwas ‚Gemachtes‘, sie ist gemachter ‚Fortschritt‘. Szenarien zukünftiger Entmächtigung des Menschen anlässlich von plötzlichen oder auch schleichenden Zerstörungs- und Dissoziationsprozessen, von natürlichen und zivilisatorischen Katastrophen bilden ein gewichtiges Pendant zu solchen modernistisch grundierten Fortschrittsnarrativen. Differenziert werden muss bei den Zerstörungs- und Untergangsimaginationen zwischen verschiedenen Grundtypen (und entsprechenden Begründungsmodellen): Einerseits können gerade die Bemächtigungspraktiken des Menschen über die Welt, insbesondere über die natürlichen Lebensräume, als Ursache des unausweichlichen, vielleicht bereits nahenden Endes der Menschengeschichte erscheinen. In ökologischen Desastern bestätigt sich dann beispielsweise auf finstere Weise die Macht des Menschen, der allerdings in Ausübung dieser Macht seinen Zielsetzungen und letztlich sich selbst die Grundlage entzieht. Andererseits kann das Ende der menschlichen Geschichte in deren eigenen Rahmenbedingungen liegen, in der Wandelbarkeit, der Endlichkeit, dem ephemeren Charakter aller Dinge. Endzeit- und Letzte-Welt-Geschichten wie W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn und mehrere Texte Christoph Ransmayrs oszillieren in ihren Modellierungen dargestellter Untergänge, die die Zukunft der Menschheit vorwegnehmen; ökokritische Tendenzen sind von prägender Bedeutung, aber ihr kritisches Potential steht in Konflikt zu eher fatalistischen Perspektiven.²⁷ Ransmayr hat in einem Interview, das unter dem Titel Bericht am Feuer publiziert wurde,²⁸ die Dimensionen, in denen aus dem Horizont heutigen Wissens über Geschichte nachzudenken wäre, angedeutet: Man sollte […] Bezüge herstellen zwischen den ungeheuerlichen Zeiträumen, in denen sich das Drama der Materie ereignet, und dem meteoritenhaften Erscheinen und Verschwinden organischer Existenz.Wir sollten uns bewußtmachen, wie kostbar diese flüchtige Existenz ist

 Vgl. Sebald, W. G.: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Frankfurt am Main 1992; Ransmayr, Christoph: Atlas eines ängstlichen Mannes, Frankfurt am Main 2012.  Vgl. Bericht am Feuer. Gespräche, E-Mails und Telefonate zum Werk von Christoph Ransmayr, hrsg. von Insa Wilke, Frankfurt am Main 2014, S. 22– 23.

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[…]. Die Frage: ‚Wie lange wird es dauern?‘ hat dann keine besondere Bedeutung mehr, jedenfalls nicht für mich.²⁹

Weltuntergänge und untergehende Welten, Welten ohne Menschen, mit entmachteten oder physiologisch transformierten menschlichen Populationen bilden schon in den ersten Jahrzehnten des Zukunftsromans ein Motivarsenal, das sich komplementär zu dem der futuristischen Weltverbesserung entfaltet. Manche Projekte scheinen zunächst ein Fortschrittsnarrativ zu bestätigen, um dann Untergangsnarrative zu illustrieren: Geschichten von Landgewinnung, neuen Verkehrswegen, Planeteneroberungszügen, gründlichen Durchrationalisierungen der sozialen Welt, des sozialen und individuellen Lebens. Die entsprechenden Umkippeffekte von Planungs- und Machbarkeitseuphorien in ihren Implikationen nachzuvollziehen, ist eine Herausforderung eigener Art. Dabei verorten die Schriftsteller des Zukunftsromans der Zwischenkriegszeit ihre Werke dezidiert im Schnittfeld von Literatur, Text und Gesellschaft. Sie entwerfen sich als Schriftsteller eines neuen Genres und verstehen ihre Werke nicht selten als ‚Zeitdiagnose‘. Höchst konkret geht es um Voraussagen, die an der politischen und sozialen Wirklichkeit geprüft werden wollen, wörtlich um „Weltschöpfungen“, die sich selbst anbieten als Reflexionsmedien dessen, was gesellschaftliche Diagnose in den 1920er Jahren in besonderer Weise bestimmt: die Forderung, Zukunft zu gestalten. So formuliert Hans Dominik im Vorwort zu seinem Roman Die Macht der Drei in der Ausgabe aus dem Jahr 1935: Doch vielleicht schenkt man diesen Erfahrungen vergangener Generationen […] heute ein wenig leichter Glauben, wenn [der Autor] es unternimmt, in romanhafter Form jene großen Möglichkeiten zu schildern, die nach seiner Überzeugung das Antlitz der Erde und die Lebensformen der Menschheit in den kommenden Jahrzehnten von Grund aus umgestalten werden.³⁰

Die sogenannte „Zwischenkriegszeit“ fordert und fasziniert derzeit vielleicht vor allem durch die eindrucksvolle Ausstattung der Serie Babylon Berlin und die in der Serie vermittelte Atmosphäre einer Art Unruhe. Doch ist das „Zwischen“ der

 In kritischer Distanzierung spezifisch von der Idee einer dichterischen „Unsterblichkeit“ relativiert Ransmayr insbesondere den damit verbundenen, bei Ovid (in den Metamorphosen) formulierten Anspruch auf dauerhafte Gültigkeit menschlicher Leistungen. „Wer vom ‚Bleiben‘ spricht, meint also vielleicht eine Reihe von Generationen und den engen Zeitraum, in dem sich unsere Gattung gerade noch im Reich der Materie halten können wird“; Bericht am Feuer (Anm. 28), S. 22 f.  Dominik, Hans: Die Macht der Drei. Vorwort zum 116. bis 120. Tausend, Berlin 1935 (zuerst 1922).

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1920er Jahre keine Zuschreibung aus späterem Blickwinkel, sondern es beschreibt auch eine konkrete zeitgenössische Zeitwahrnehmung. Dabei entsprach es dem zeitgenössischen Eindruck, sich „nach“ dem Einschnitt der Erfahrung des Ersten Weltkriegs (beziehungsweise seines unrühmlichen Endes) zu befinden, aber „vor“ erwarteten entscheidenden Veränderungen zu stehen. Wenn die 1920er Jahre heute gerne als ‚überstürzend‘ oder ‚hektisch‘ beschrieben werden, sind sie zeitgenössisch ein spannungsvolles ‚Erwarten‘. „Wir leben heute ‚zwischen den Zeiten‘“, notierte der Kulturphilosoph Oswald Spengler in der 1933 veröffentlichten Schrift Jahre der Entscheidung. ³¹ Die Zukunftsbetrachtung gewinnt in der politischen Zeitdiagnose eine nicht nur sinnstiftende, sondern auch mobilisierende Wirksamkeit. Sie ist nur möglich, wenn sie an Wissenskonstruktionen anschließt, die verstanden werden; sie wird nur verstanden, wenn sie das kulturelle Wissen, in dem sie entsteht, nicht auflöst; sie wird vor allem gelesen, wenn von ihr eine Antwort erwartet wird, die den Leser mitnimmt im Überschreiten der Zeitschwellen. Die deutschsprachigen Romane gehen dabei Wege, die sich von dem wandernden Zeitreisenden von H. G. Wells überraschend unterscheiden. Dies betrifft nicht nur die Beobachtung, dass es für die wenigsten Protagonisten Wege gibt, die zurückführen. Vor allem werden die Erfahrungsräume der Gegenwart stillgestellt, da sich die einzelnen Protagonisten aus den krisenhaften Situationen lösen müssen, um Handlungsfähigkeit zu gewinnen. Die Befreiung aus der Gegenwart, die ja nicht selten auch mit ihrer Zerstörung einhergeht, befreit das Individuum. Dabei wird weniger verschwenderisch mit Zeitfiguren, Zeitsprüngen oder Verfremdungen von Zeit umgegangen, als es in heutigen Zukunftsromanen üblich ist. Eher zeigt sich eine Sorge, dass der Mensch in der Zeit verloren gehen könne. So werden die Emanzipationsprozesse der Protagonisten selten über eine Loslösung auch von der Vergangenheit beschrieben. Die Raumschiffe, die zum Mars fliegen, werden von Menschen geflogen, die erinnern können und in der Erinnerung eine Wissensressource sehen. Auch wenn die Gegenwart durchaus entleert werden kann, behält doch Vergangenheit eine Bedeutung. Für den bedrohten Menschen, der sich neu erfinden muss, scheint eine Hoffnung in der Gewissheit der Erinnerungsfähigkeit zu bestehen, oder jedenfalls in dem Gedanken, dass die eigenen Erfahrungen in Erinnerungen eingehen werden, die für nächste Generationen eine leitende Orientierung sein könnten. Zukunft wird in den Romanen der Zwischenkriegszeit nicht bereist oder gar erobert, sie wird eher ‚etabliert‘ oder ‚instantiiert‘.

 Spengler, Oswald: Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1933, S. 17.

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4 Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit In der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg entstehen zahlreiche Zukunftsromane; man kann sie gerade in ihrer Vielzahl als Indikatoren eines zeitspezifischen Orientierungsbedarfs werten. Die Beiträge des vorliegenden Bandes über Zukunftsromane konzentrieren sich auf diese Phase. Ein Schwerpunkt liegt auf deutschen Zukunftsromanen, aber auch Werke anderer Sprachräume werden einbezogen. Eine erste Gruppe von Beiträgen (Teil I) gilt Problemkonfigurationen und Herausforderungen, in deren Zeichen Zukunftsromane entstehen und auf die sie – teils direkt, teils indirekt – zurückverweisen: Erörtert werden Modelle von Zeitlichkeit und Geschichtsverläufen, insbesondere unter dem Doppelaspekt von Kontinuität und Diskontinuität, Stetigkeit und Bruch. Im Kontext der Auseinandersetzung mit differierenden Geschichtserwartungen und konfligierenden Zeitregimes geht es nicht zuletzt um Auseinandersetzungen mit dem Selbstverständnis der Moderne und der planenden Rationalität. Kristin Platts Beitrag Die Zeit der Katastrophe beleuchtet die Denkfigur der Katastrophe als eines Einbruchs, der nicht nur das Geschehen in der Zeit, sondern die Zeit selbst betrifft. Er widmet sich damit einem Thema, das sich gerade in Zukunftsromanen in zahlreichen Varianten und im Rekurs auf implizite Modellierungen von Geschichte entfaltet. Als Zusammenbrüche nicht nur materieller Konstruktionen und physischer Lebensräume, sondern auch kultureller, sozialer und politischer Ordnungen sind gerade Katastrophen in Grenzbereichen des Vorstellbaren, manchmal sogar des Denkbaren situiert; dies lässt ihre Darstellung in fiktionalen wie in nichtfiktionalen Texten zur besonderen Herausforderung werden – eine Herausforderung, die sich im Fall zukünftiger Katastrophen noch verstärken kann. Der Beitrag widmet sich im Rekurs auf geschichtstheoretische und poetologische Ansätze der Frage, wie mit dieser Herausforderung umgegangen werden kann. Als einen „Zwitter zwischen Literatur und Geschichte“ erörtert Lucian Hölscher den Zukunftsroman, beleuchtet seine besondere Situierung zwischen sprachlich-fiktionalem Gebilde und einem Ensemble von außersprachlichen Referenzen, zwischen Gegenwartbindung und Erschließung der Zukunft als „Spielort“. Ein Beispiel, Axel Alexanders Zukunftsroman Die Schlacht über Berlin (1932), sowie eine rezente Kontroverse über die Identität oder Nicht-Identität der Zeit von Erzählungen und der erlebten Zeit (Mark Currie 2013 / Gregory Currie 2009) werden zu Anknüpfungspunkten der Reflexion über die Beziehungen zwischen erzählter Zukunft und faktualer Zukunft respektive narrativen Zukunftsfiktionen und zukünftiger Geschichte.

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Medardus Brehl rückt innerhalb der zahlreichen in den 1920er Jahre entstandenen Zukunftsromane die Produktion des Jahre 1924 in den Fokus. Seine Studie ‚Gefallen gegen die Gegenwart‘. (Anti‐)Modernismus, politische Abgrenzungen und alte Feinde in politischen Zukunftsromanen des Jahres 1924 analysiert ausgewählte Romane jenes Jahres im Zeichen der Frage nach impliziten Geschichtsmodellen, aber auch der Frage nach den jeweils suggerierten Möglichkeiten, Künftiges vorauszusehen. Die untersuchten Romane illustrieren unter anderem exemplarisch, wie Darstellungen von Zukünftigem auf gesellschaftliche Probleme der Gegenwart reagieren und daraus ihre politische Dimension beziehen. Diese kann sich unter anderem darin konkretisieren, dass Modernisierungstendenzen und antimodernistische Pendants durch Figuren und Erzähler einer vergleichenden Bewertung unterzogen werden. In einer zweiten Beitragsgruppe (II) rücken übergreifende Themen des Zukunftsromans in den Blick, die (innerhalb des breiten Spektrums von Zukunftsromanen der Beobachtungszeit) schon darum eine besonders signifikante Rolle spielen, weil sie das Selbstverständnis dieses Romantypus in seiner Positionierung zwischen historischer Gegenwart und imaginierter Zukunft betreffen. In Zukunftsvisionen porträtiert wird (wie eine thematisch orientierte Lektüre entsprechender Romane bestätigt) indirekt, manchmal verschlüsselt, die historische Gegenwart der Autoren und des anvisierten Publikums. Offen oder verschlüsselt nehmen die Texte Bezug auf soziale, kulturelle, politische, technische und ökonomische Realitäten, aber auch auf Befürchtungen und Hoffnungen, Leitbilder und deren Negative. Ihre Vernetzung durch gemeinsame, zeit- und gattungstypische Themen schafft eine ergiebige Basis für Werkvergleiche. Lasse Wichert analysiert und vergleicht Zukunftsromane, die die Kriegsthematik ins Zentrum stellen (Von kommenden Kriegen. Deutsche Zukunftskriegsromane der Zwischenkriegszeit). Plausibilisiert wird im Ausgang der behandelten Romane im Anschluss an Überlegungen Walter Benjamins und Reinhardt Kosellecks eine These von allgemeinerer Tragweite: der engen Korrespondenz zwischen einem Erfahrungsraum des Ersten Weltkrieges und dem Erwartungshorizont eines kommenden Krieges. Dabei wird herausgearbeitet, dass die politische Tendenz der Romane weder für die Prognose eines kommenden Kriegs noch für die Bewertung dieser Prognose von entscheidender Bedeutung ist, dieser vielmehr meist als unausweichlich gilt. Gijs Altena konzentriert sich ebenfalls auf ein aussagekräftiges Teilkorpus der Beobachtungszeit, indem er Tendenzen und Erscheinungsformen des niederländischen Zukunftsromans Revue passieren lässt (Synthese statt Technokratie. Der ‚Toekomstroman‘ der Zwischenkriegszeit). Dies gibt unter anderem Anlass zum Vergleich mit deutschen Zukunftsromanen. Als charakteristisch für die niederländische Spielform des Genres arbeitet Altena heraus, dass sich hier eher die

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Angst vor den Folgen zunehmender Technisierung artikuliert als deren Affirmation. Die in Zukunftsromanen erfolgende Gegenüberstellung technischer Rationalität und anderer, etwa religiöser Orientierungsprinzipien stimuliert dabei aber tendenziell eher zu Harmonisierungsversuchen als zu weiteren Polarisierungen. Dina Brandts Studie zu Geschlecht und Sexualität im deutschen Zukunftsroman der 20er und 30er Jahre gilt der Darstellung von Frauen und von Geschlechterbeziehungen in Zukunftsromanen der Beobachtungszeit, und damit einem anderen latent politischen Thema. Aus der Perspektive einer gegenwärtigen Kritik an Rollenmustern und Stereotypen formuliert, fällt ihre Diagnose ernüchternd aus: Obwohl der Zukunftsroman theoretisch Gelegenheiten geboten hätte (oder hätte bieten können), visionär auch neue Frauenrollen und neue Arten sozialer Beziehungen zwischen Mann und Frau narrativ durchzuspielen, bleiben Frauen in emanzipatorischen Positionen, etwa in technischen Berufen, auch in Zukunftsromanen eher die Ausnahme. Die Frage, in welchen Sprachen sich die Angehörigen zukünftiger Gesellschaften mit denen gegenwärtiger Gesellschaften verständigen, mag zwar seltsam erscheinen, wenn man die Zeitverschiebung zwischen beiden in Betracht zieht, die einer direkten und synchronen Kommunikation ohnehin entgegensteht. Sie wird dennoch manchmal brisant, etwa wenn es um eine temporale Fernkommunikation geht, wenn also etwa aus der Gegenwart Botschaften an die Zukunft gesendet oder Zukunftsbotschaften entschlüsselt werden sollen, oder wenn den Erdbewohnern Bewohner anderer Welten, futuristischer Kulturen entgegentreten. Der Beitrag von Monika Schmitz-Emans (Sprache(n) der Zukunft im Spiegel von Zukunftsromanen) gilt Beispielen europäischer Zukunftsgeschichten, die Schnittstellen zwischen Zukunftsimaginationen und Reflexionen über Sprache respektive über verbale Kommunikation bilden, wie sie gerade im Beobachtungszeitraum Philosophen und Schriftsteller nachhaltig beschäftigten. Eine dritte Gruppe von Beiträgen (III) widmet sich exemplarischen Zukunftsromanen des Beobachtungszeitraums und arbeitet an diesen die Transformation zeitspezifischer Themen in fiktionale Fabeln heraus, verdeutlicht also an konkreten Fällen das, was man die „Gegenwartshaltigkeit“ des Zukunftsromans nennen könnte. Hans Esselborns Studie gilt einem Roman Hans Dominiks, eines der meistgelesenen Repräsentanten des Zukunftsromans der Zwischenkriegszeit (Fiktionalisierung und Narrativierung technischer und politischer Diskurse in Hans Dominiks Roman Die Spur des Dschinghis-Khan). Dargelegt wird, wie zeitgenössische wissenschaftliche Entdeckungen, Theorien und Hypothesen sich im Roman, seinen Figuren und seiner Handlung niederschlagen. Dies gilt hier erstens für die wissenschaftliche Erforschung von Radioaktivität und Atomenergie, die bei Dominik auf für Laien verständliche Weise narrativ vermittelt wird, sowie zweitens

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für zeittypische Rassediskurse auf der Basis eines sozialdarwinistischen Theorienansatzes. Dient der erstere Motivkomplex vor allem der Profilierung von Repräsentanten einer mit Zukunft assoziierten technischen Intelligenz, so beeinflusst der letztere Diskurs die Figurenbeziehungen im Roman und deutet auf soziopolitische Leitvorstellungen hin. Mit seinem Beitrag zu zwei Romanen über gigantische Bauprojekte künftiger Gesellschaften bietet Stefan Willer eine Analyse, die sich einem weiteren wichtigen Thema des Zukunftsromans zuwendet, wie es gerade in der Beobachtungszeit zur Entfaltung kommt, nämlich der technikbasierten Umgestaltung der Erde (Planetarische Zukünfte. Kellermanns Der Tunnel und Döblins Berge Meere und Giganten). Vor dem Hintergrund einer die einzelnen europäischen Länder verbindenden Faszination durch Zukunftsbilder und -themen gestalten Kellermann und Döblin Projekte und Szenarien von globaler Dimensionierung.Willers Befund zufolge sucht die Zukunftsmenschheit bei Döblin sogar den Anschluss an eine planetarische Zeit, während sich bei Kellermann das Geschehen noch in irdischen Dimensionierungen abspielt. Beide Romane verorten sich in einem Spannungsfeld zwischen utopischen und dystopischen Optionen. Dabei dominiert allerdings, wie Willer betont, die Akzentuierung des Scheiterns und damit eine dystopische Tendenz. Eine Interpretation zu Döblins berühmtem, die 1920er Jahre prägnant repräsentierendem und zugleich exzeptionellem Zukunftsroman bietet auch FynnAdrian Richters Studie; der Akzent liegt dabei auf den Korrespondenzen zwischen Döblins Schreibweise und deren Gegenständen, zwischen eigenwilliger Stilistik und Thematik (Von Baumstämmen und Steinen. Zur Poiesis von Alfred Döblins Berge Meere und Giganten ausgehend von einer „Natur-Epiphanie“). Döblins eigene Bemerkungen zu seinem Roman und dessen Genese werden als poetologische Reflexionen interpretiert, die zugleich auf thematische Schwerpunktsetzungen des Romans hindeuten. Uwe-K. Ketelsens Abhandlung geht an einem Beispiel des Romanautors Friedrich Griese der Frage nach den Beziehungen zwischen Zukunftsroman und völkischem Roman nach (Die poetische Imagination einer völkischen Zukunft: Friedrich Grieses Roman Die Weißköpfe (1939)). Das insgesamt diffuse Feld völkischer Diskurse ist antimodernistisch geprägt; es unterhält Affinitäten zu phantastischen Heilslehren, Mythen und Schicksalsvorstellungen. In den Weißköpfen wird eine Familiengeschichte erzählt, deren Verlauf und Präsentationsweise, wie Ketelsen herausarbeitet, mit der Idee eines innovativen Gestaltens von Zukunft, also mit einem modernen Konzept von Geschichte, unvereinbar ist. Auch eine solche Modellierung zukünftiger Lebensweisen, deren Regeln und Verläufe in der Vergangenheit bereits angelegt sind und keine Spielräume für individuelle oder innova-

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torische Gestaltung zulassen, gehört zu den Facetten des Zukunftsromans der Zwischenkriegszeit – gleichsam als Pendant der modernistischen Spielformen. Die Möglichkeiten und Grenzen einer Gestaltung von Zukunft, seit der Neuzeit als Aufgabe der historischen Gesellschaften, manchmal auch einzelner Akteure begriffen, sind – wie die behandelten Beispiele unter verschiedenen, dabei komplementären Akzentuierungen bestätigen – ein politisches Thema. Zukunftsromane sind flexible Medien der Imagination und der ‚gedankenexperimentellen‘ Ausgestaltung zukünftiger Welten, Gesellschaften und Lebensformen, und dies sowohl auf der Ebene konkreter Inhalte (Gegenstände, Praktiken, Projekte, Konflikte, Regeln) wie auch auf der Ebene der Modellierung von Geschichte und der Konzeptualisierung von Zeit. Ob modernistisch oder antimodernistisch, technikfreundlich oder technikkritisch, utopisch oder dystopisch geprägt, ob hinsichtlich eines favorisierten Zeitregimes entschieden oder unschlüssig: Zukunftsromane bilden Anschlussstellen zwischen fiktionalem Erzählen, geschichtstheoretischen Modellvorstellungen und politischen Diskursen. Der jeweils einzelne Zukunftsroman bietet nicht nur Anlass, über solche Anschlussstellen und damit über seine eigenen politischen Implikationen und Potentiale nachzudenken, sondern lädt auch dazu ein, sich im Rahmen von Fiktionspakten an Denkspielen zu beteiligen. Bei der Lektüre älterer Zukunftsromane werden diese dann vielleicht anders ablaufen, als es einmal vorgesehen war.

I Problemkonfigurationen

Kristin Platt

Die Zeit der Katastrophe Ein Geschehen, das wir als Katastrophe bezeichnen, konfrontiert uns nicht nur mit dem Endlichen von Existenz. Es bricht mit dem Endlichen in das Unendliche ein. Eine Katastrophe denken wir über bildliche Figuren von Zerstörungen, die sich schichten, die Natürliches und Künstliches, Materielles und Immaterielles in eine Trümmerlandschaft transformieren. Die Zeit der Katastrophe ist überstürzend und zugleich unendlich langsam. Sie kündigt sich an und kommt doch plötzlich. Sie ist laut und trägt doch in sich die unheimliche Stille des Zentrums des Sturms. Gerade Naturmetaphern scheint im Reden über Katastrophen eine wichtige Rolle zuzukommen. So werden politische Ereignisse in Bilder von „Wellen“ oder „Strudel“, in die Metaphern der Lichtlosigkeit oder des Dunkels übersetzt. Mit den Verweisen auf Naturereignisse wie Fluten, Stürme, Erdbeben, Lawinenunglücke oder Vulkanausbrüche lassen sich Aspekte der Überwältigung und des Unbegreiflichen assoziieren. Vor allem Flutwellen „drohen“, „brechen herein“, sie „spielen“ mit Fahrzeugen, Häusern und Menschen. Dürren „fressen“ Land und verursachen „Verwüstungen“. Feuer „brechen aus“, „lodern“, „schließen ein“, „verzehren“. Das Leben in Vulkannähe ist ein Leben „auf dem Pulverfass“. Die Sprachbilder der „Zeitenwende“ oder des „Endes der Geschichte“ verbinden mit mythischen und religiösen Überlieferungen. Die Figuren des „Zusammenbruchs“ oder des „gebrochenen Rückgrats“ verweisen zudem auf die Vorstellung zerstückelter Ganzheiten, insbesondere auf die Zerstörung der Einheit von Körper und Körperlichkeit, von Individuum und seinem sozialen Umfeld. Hat die Katastrophe eine eigene Zeit? Als Zukunft kann eine Katastrophe über eine Erzählung ängstlicher Erwartung, rationaler Planung oder auch sehnsuchtsvoller Überwindung von Gegenwart begegnen. Es wird eine bestimmte sequentielle Kumulation von Geschehen und Protagonisten vermutet, die im Angesicht der Ereignisse vor schweren Entscheidungen stehen. Erzählungen über Katastrophen lassen sich als kulturelle Narrative erkennen, was allein bereits dadurch deutlich wird, dass die vielleicht bekannteste Erzählung einer zukünftigen Katastrophe in der Apokalypse gesehen werden kann. Neben der Form der Erzählung einer Katastrophe sind auch die Verfahren der Erzählung von Zukunft vertraut. Aleida Assmann folgend haben sich unter den zeitlichen Verfahren (a) das Brechen der Zeit, das heißt eine „Neubestimmung und Aufwertung von Gegenwart und Zukunft auf Kosten einer

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Entwertung und Abspaltung von Vergangenheit“, durchgesetzt;¹ ferner (b) das Setzen eines radikalen Bruchs und die Fiktion eines Anfangs; (c) eine Entwertung der Vergangenheit zugunsten der Stärkung von Gegenwart und Zukunft; (d) die Erfindung des Historischen, die es ermöglicht, trotz Trennung der Vergangenheit von der Gegenwart die Ideen von Ursprung und Entwicklung aufrechtzuhalten; (e) nicht zuletzt der Aspekt der Beschleunigung, der „in den Diskursen über Zeit und Moderne so präsent und prominent [sei], dass man das moderne Zeitregime immer wieder auf dieses eine Merkmal reduziert hat“.² Assmann nutzt zur Typisierung dieser narrativen Verfahren den Begriff der „Zeitregime“ – der sicherlich eher nach Strukturen als nach Wissensmustern klingt. Jedoch leisten diese Verfahren und ihre sprachlichen Figuren unter der Herstellung von Abläufen auch die Positionierung von Sinn. Die Verfahren der Erzählung der Katastrophe, also das ‚Wie‘, dienen einer Konstruktion und Modifizierung von Ordnungen. Erfahrung, Erzählung und Funktion führen eng ineinander. Unter Berücksichtigung, dass moderne Verständnisse von Sein und Gegenwart bestimmte Figuren des Zeitlichen integrieren – wie jene, dass der Fortschritt stehen geblieben sei, die Gegenwart zu schnell verlaufe, dass Zeit und Gegenwart sowie Zeit und Zukunft nicht mehr synchron seien –, lassen sich auch Wechselwirkungen zwischen den Erzählungen einer Katastrophe und narrativen Figuren der Bewältigung der Moderne untersuchen. Mit dem Bericht der Katastrophe wird von der drohenden Gefahr und den menschlichen Versuchen berichtet, das letztlich nicht zu Verhindernde aufzuhalten, von dem Fremdwerden von Gegenwart und Zukunft, aber auch davon, dass man die Katastrophe ahnen, sehen und erzählen kann, weil man sie kennt. Denn in der Erzählung der Katastrophe ist stets ein Stück Vertrautes. Die Katastrophe ist vielleicht gar nicht aufgrund einer bestimmten zeitlichen Figuration zu erkennen, sondern aufgrund eines in der Moderne durchgesetzten Wirkungswechsels: In den konstanten Zeitvorstellungen der Vormoderne hatten Krisen und Katastrophen die Menschen herausgefordert, Wandel zu erkennen. Sie machten die Macht des Außerweltlichen deutlich, zeigten Friktionen in Gesellschaften und ließen Zweifel an Rechts- und Glaubenssystemen zu Wort kommen. Mit den Katastrophen der Moderne begegnete nicht mehr die unsichtbare Macht der Götter oder der Natur, sondern der wirkende Mensch selbst. Seine Planungen, Ressourcen, das Prognostische und Imaginäre, seine Beherrschung von Gegenwart werden durch die Katastrophe geprüft und an eine Grenze von Erfahrung, Planbarkeit und Gegenmaßnahmen geführt. In der

 Assmann, Aleida: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, S. 132.  Ebd., S. 150 ff., 160 ff., 83 f., 192.

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Katastrophe ringt der Mensch unmittelbar mit einer Zeit, die seine Lebenszeit überschreitet, sowie mit der Frage, ob er es bereits selbst ist oder doch erst die nachfolgenden Generationen, die die Schäden tragen werden. Risikoerkennung, Unglücksprophezeiung und die riskante Zerstörung von Ordnung sind Motive, die von der Erzählung der Katastrophe umfasst werden.³ Dabei offenbaren sich in der Moderne die Folgen, nicht mehr die Katastrophe, auch wenn die Folgen nur ungenau zu kalkulieren sind. Das Eintreten der Katastrophe ist letztlich gewiss, die Prozesse bekannt. Die Katastrophe, die als ein Schlüsselmotiv der Literatur der 1920er Jahre auftritt, wird nicht gefürchtet, sondern erwartet. Sie steht im gesellschaftlichen Nahhorizont und wird sogar ersehnt – wo der katastrophische Bruch verhindern soll, dass sich die Gegenwart in eine nicht gewünschte Richtung weiterentwickelt. In den Romanen, die im Nachfolgenden kurz angesprochen werden, spiegelt sich zudem die Sicherheit, dass die Katastrophe, auch wenn sie Raum-Zeit-Figuren beeinflusst, grundsätzlich beschreibbar sein wird. Sie könnte den einen oder anderen überwältigen, doch werde nur sie in der Lage sein, die Überwältigung durch die lähmende Gegenwart zu durchbrechen. Oder suchen die Romanhandlungen genau dies sicherzustellen, das heißt über die (literarische) Auslösung, Verstärkung und Beschleunigung von Geschehnissen zu betonen, dass man von der kommenden Katastrophe nicht überwältigt wird, sondern ihren Phasen und Wellen wird folgen können, so dass Handlungsfähigkeit bestehen bleibt und damit jene Zukunftsfähigkeit, die durch den Eintritt der Katastrophe eröffnet wird? Die Überzeugung von der unaufschiebbar kommenden Katastrophe und der Möglichkeit, dass sie neue politische und soziale Räume betretbar macht, ist auf intrusiven Reflexionen hinsichtlich der Bedeutung historischen Geschehens basiert. Walter Benjamin hat in Zentralpark (1939/40), einer intensiven, Fragment gebliebenen Auseinandersetzung, die sich zu einem Buch über Charles Baudelaire schließen sollte, darüber reflektiert, warum wir an die Wiederkehr von historischem Geschehen glauben. Denn wenn wir den Gedanken einer Wiederkehr, das heißt einer Abfolge von Geschichte, von Krisen und Katastrophen bestätigen, wird dies paradox begleitet von der Überzeugung, dass diese Katastrophe keinen Ort und nicht die kleinste Frist im eigenen Leben habe. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft macht das historische Geschehen selbst zum Massenartikel. […] Der Gedanke der ewigen Wiederkunft hatte seinen Glanz davon, daß mit einer

 Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt am Main 2014, S. 27.

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Wiederkunft von Verhältnissen in kleineren Fristen, als sie die Ewigkeit zur Verfügung stellte, nicht unter allen Umständen mehr zu rechnen war.⁴

Der Glaube an die Wiederkehr oder Wiederholbarkeit bei zeitgleicher Überzeugtheit von dem eigenen Außerhalb (und Verschontwerden) ist auf einer zweifachen Abwehr gegründet: nicht nur der Abwehr eines Denkens, selbst von Katastrophe und Tod betroffen werden zu können, sondern auch der Abwehr der eigenen Beteiligung am Zustandekommen der Katastrophe, die für Benjamin das wesentliche Fundament für Begriff und Denken von Fortschritt darstellt.⁵ Die Katastrophe ist „nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene“.⁶ Damit führt Benjamin ein weiteres Paradox ein: denn das Denken der Wiederholbarkeit der Katastrophe legt diese sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft – und befindet sich doch in ihrer Gegenwart: „die Hölle ist nichts, was uns bevorstünde – sondern dieses Leben hier“.⁷ Katastrophen sind sowohl physische als auch soziale Prozesse, sie zeigen in der Geschichte auf den Zusammenbruch politischer Ordnungen und kultureller Entwicklungen. In der Zwischenkriegszeit ist dieses Erzählschema von der Erfahrung des Weltkriegs bestimmt (politisch von dem Argument des „Schmachfriedens“ von Versailles), aber auch von dem Vertrauen darauf, dass Katastrophen zwar kulturelle Entwicklungen zerstören, die Geschichte jedoch auch neuen Kulturen Raum geben kann. In seinem Theaterstück Lusitania (1920) lässt Alfred Döblin die beim Schiffsuntergang Ertrunkenen an Land kommen – und beten. Ein Stern fragt überrascht, was sie denn tun würden. Eines der Meergeschöpfe, von denen die Menschen unter Wasser gezogen worden sind, erklärt an der Stelle der wandelnden Toten, dass eine Katastrophe stattgefunden habe. Meergeschöpf Menschen. Der große Donnerer war bei ihnen. Wir haben ihn gehört. Sein Wagen ist gerasselt. Er ist durchs Meer gefahren. Ganze Inseln sind verschwunden. Er hat getobt und geknallt. Er war hier. Erster Stern Und hat sie nicht mitgenommen? Meergeschöpf Vielleicht war sein Wagen voll.⁸

 Benjamin, Walter: Zentralpark [1939], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1.2: Abhandlungen, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991 (zuerst 1974), S. 655 – 690, hier S. 663.  Ebd., S. 683: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren“.  Ebd.  Ebd.  Döblin, Alfred: Lusitania [1929], in: ders: Die Stücke, hrsg. von Manfred Beyer, Berlin 1981, S. 70.

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Diejenigen, die noch nicht vom Tod mitgenommen wurden oder als eine Art Wiederkehrer an Land starben, sind seltsam indifferent geworden gegenüber Kälte oder Wärme,⁹ sie vereinigen in sich, verletzt zu sein und andere verletzt zu haben.¹⁰ Sie verleugnen die Realität der Folgen des Schiffsuntergangs: „Die Lusitania – ist – nicht – untergegangen“, sagen sie am Schluss des Stückes (beim Fallen des Vorhangs), womit Döblin klar auf die Leugnung der Weltkriegserfahrung Bezug nimmt.

1 Eine Eigenzeit der Katastrophe Edgar Neville (1899 – 1967), spanischer Diplomat, Schriftsteller und Filmemacher insbesondere während der Franco-Ära, beschreibt in der Kurzgeschichte Die letzten Menschen (1932) ein weltumfassendes Sterben, das das Handeln der Menschen zum Erliegen bringt. Die Katastrophe war so unvermeidlich, daß die Menschen sie ohne Gezeter hinnahmen; aber die Lebensart hatte sich verändert, hatte sich der Wirklichkeit angepaßt. Man traf keine Verabredungen mehr, man sagte nicht mehr „auf morgen“. Die Menschen lebten für den Tag, für die Stunde und beschäftigten sich nur noch damit, möglichst gut zu sterben, auf der rechten Seite zu sterben.¹¹

Es sterben nicht mehr Individuen, sondern eine Gattung. Es bleiben keine Leichname übrig, nur Körper. Die Landschaften selbst verändern sich aufgrund des Sterbens der Menschen. Durch die Straßen wanderten letzte Worte und fanden kein Gehör mehr. Schatten von Körpern, die ihren Herrn verloren hatten, suchten einen neuen und trafen den Tod am hellen Mittag.¹²

In dieser zum Stillstand gebrachten Welt klingelt ein Wecker bei einer französischen Kabaretttänzerin.

 Ebd., S. 66.  Ebd., S. 63.  Neville, Edgar: Die letzten Menschen, in: Der Querschnitt Bd. 12 (9), 1932, S. 650 – 654, hier S. 650.  Ebd., S. 651.

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Nur die Uhren gingen noch, da sie für viele Jahre aufgezogen waren, und ihr Ticktack stand als Gedankenstrich hinter dem Wort „Leben“. Sie schlugen sinnlos die Stunden und maßen eine Zeit, die niemandem mehr gehörte. Die Sekunden waren der Pulsschlag der Erde.¹³

Legt man zugrunde, dass in zeitlichen Figuren temporale und kausale Folgen verknüpft sind, dann ist es wenig aufsehenerregend, zu beobachten, dass in der Beschreibung einer Katastrophe die katastrophische Zeit im Gegensatz zur „Normalzeit“ erfahren wird: Die Beschreibung einer Katastrophe wird auf dem Resümee eines Bruchs basiert, das Vorher und Nachher der Erzählung erscheint um diesen Einschnitt geordnet. Weniger beachtet ist zumeist, dass gerade der empfundene Widerspruch zur Normalzeit auch als Aspekt der Sinnzuschreibung an eine Katastrophe dient. Die Grammatik der Erzählung der Katastrophe ist zugleich ein symbolischer Aspekt der Einschreibung von Deutung. Michael M. Bachtin hatte mit der Beobachtung von „Chronotopoi“ darauf aufmerksam gemacht, dass Sinnbildungen, um erfahren werden zu können, eine zeitlich-räumliche Ausdrucksform annehmen müssen, das heißt, dass die Zuschreibung von Sinn an eine Erfahrung grundsätzlich auf der Konstruktion raumzeitlicher Ordnungen basiert werde.¹⁴ Jede Sinnbildung müsse eine Zeichenform annehmen, „die wir hören und sehen können“,¹⁵ die also eine zeitlich interpretierbare Ausdehnung im Raum hat, welche dann körperlich erfahrbar wird. Bachtin erläuterte, dass Erzählungen grundsätzlich, also nicht nur das literarische Narrativ, aus einer Ordnung von Ereignissen und Sprechakten, Umwelt- und Personenbeschreibungen bestünden, die sich zu einer (chronotopischen) Ordnung schließen. Diese Beobachtung verführte wiederholt dazu, Bachtin auf generalisierten Ebenen weiterzudenken – wobei häufig auf ein Fehlen analytischer Präzision und Tiefe aufmerksam gemacht wurde.¹⁶ Die rekonstruierende Übertragung der Beobachtung von Zeit-Raum-Beziehungen vom Text auf soziales oder historisches Geschehen zeigt jedoch eigentlich auf das (generalisierbare) Phänomen, dass Narrative zunächst in Ordnungen übersetzen, in Differenzierungen und Modi von Entität, wobei sich das Funktionale erst im Referenzverhältnis öffnet. Die chronotopische Figur verweist nicht auf die Bedeutung von Zeit in Sprache, sondern auf sprachliche Verfahren, über zeitliche Verortungen eine Positionierung von Selbst und Handlungsräumen zu vollziehen.

 Ebd.  Bachtin, Michail M.: Chronotopos, Frankfurt am Main 2008 (zuerst russ. 1975), S. 196.  Ebd.  Bemong, Nele / Borghart, Pieter: Bakhtin’s Theory of the Literary Chronotope. Reflections, applications, perspectives, in: Bakhtin’s Theory of the Literary Chronotope. Reflections, applications, perspectives, hrsg. von Nele Bemong et al., Gent 2010, S. 3 – 16, hier S. 5.

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Chronotopoi sind als sprachliche Figuren von Beziehungen zu verstehen, die sich unterscheiden in Bezug auf das jeweilige Tempo einer Zeit, ferner hinsichtlich des jeweiligen Verhältnisses zwischen Mensch und Objekt sowie zwischen Privatem und Öffentlichem. Die literarischen Chronotopoi können, wie Bachtin betonte, mit „realen historischen“ Chronotopoi jeweiliger Epochen in Beziehung gesetzt werden. Die raum-zeitliche Ordnungsstruktur, die der Weltauffassung einer bestimmten Epoche zugrunde liegt, werde dabei jedoch nicht gespiegelt, sie determiniert die narrativen Figuren nicht. Literarisch angeeignet werden immer nur bestimmte – unter den jeweiligen historischen Bedingungen zugängliche – Aspekte des Chronotopos, und es bildeten sich lediglich bestimmte Formen der künstlerischen Widerspiegelung des realen Chronotopos heraus.¹⁷

Zwischen der darstellenden und der dargestellten Welt verlaufe daher zwar eine Grenze,¹⁸ jedoch würden die Chronotopoi selbst die Dialoge der Zeit-Raum-Beziehungen innerhalb und außerhalb eines Werks aufzeigen.¹⁹ Ihre Bedeutung sei gestalterisch. Sie verdichten und konkretisieren die Kennzeichen der Zeit und materialisieren die Zeit im Raum.²⁰ Fraglos bleibt unter Einbezug des Bachtinschen Topos offen, welche grammatischen Merkmale die Zukunft selbst hat und ob sie zum Beispiel tatsächlich die Vergangenheit als Erinnerung autorisieren muss, um verstanden werden zu können. Bachtin hat die topischen Figuren nicht in narrative Sequenzen aufgelöst, sondern gezeigt, dass sich Erzählungen der Chronotopoi eher bedienen, um Positionen von Autor und Protagonisten bestimmen zu können. Erst im Chronotopos gewinnt „Zeit“ an Sichtbarkeit, da sich erst durch chronotopische Figuren die Möglichkeit öffnet, Zeit in narrativen Formen zu repräsentierten. „Chronotopos“ ist somit die zeitliche Erfassung eines Raumes sowie ebenso eine Materialisierung der Zeit im Raum. Dynamiken der Zeit und Weiten oder Engen des Raumes bedingen sich nicht, sie fügen sich zu bestimmten wahrnehmbaren Figuren allein zusammen. Nicht Bedingungsverhältnisse, sondern die Relationalität von Wechselbeziehungen ergeben somit ein zeit-räumliches Verhältnis. Chronotopisch sind jene vermittelnden (sprachlichen) Merkmale, mit denen ursprüngliche räumliche Bedeutungen auf zeitliche Beziehungen übertragen werden.

 Bachtin: Chronotopos (Anm. 14), S. 8.  Ebd., S. 191.  Ebd., S. 196.  Ebd., S. 188. Mit dieser Voraussetzung schließt Bachtins Zeitvorstellung insbesondere an Bergson an.

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Durch welche Ordnungsmuster, welche sprachlichen Figuren und welche Funktionen wäre eine Eigenzeit der Katastrophe charakterisiert? Merklich steht in den Beschreibungen von Katastrophen die Rede von entfesselten Kräften und die Idee entfesselter Überwältigung im Vordergrund, obwohl die Entfesselung einen zeitlichen Moment beschreibt, nicht aber das Bild der Zerstörung. Der Blick auf die Zerstörung weist hingegen keine Rhythmen mehr auf: Ruinen sind die paradigmatische Figur einer entrhythmisierten Zeit. Die Entfesselung ist laut, um die Ruine ist es hingegen leise – es ist bisher wenig beachtet worden, dass Bachtin die Studie raum-zeitlicher Figuren mit der Beobachtung ergänzt hat, dass Zeit, wenn sie sprachlich sichtbar gemacht wird, auch über sensorische Prozesse charakterisiert wird. Stimmungen nicht als Gegenstand, sondern als „Medium“ zu erkennen, dies hat Mieke Bal eingefordert, um zu zeigen, dass Affekte erlauben, imaginative Projektionen hervorzurufen, die kulturell geteilt werden können. „Stimmungen“ ermöglichen den affektiven Einschluss in ein gesellschaftliches Wissen.²¹ Im Rahmen einer Analyse zu darstellender Kunst führte Bal vor, dass die ästhetische Darstellung einer Katastrophe auf einer Rücknahme von Handlungselementen und einer betont affektiven Inszenierung beruht.²² Die darstellende wie die sprachliche Repräsentation der Katastrophe reflektiert mit affektbetonten Figuren das katastrophische Geschehen selbst, denn die „Diskrepanz“ zwischen Stimmung und Handeln ist ein zentraler Aspekt der Wahrnehmung einer Katastrophe: Die Erfahrung eigener Handlungsfähigkeit steht neben der Erfahrung einer Dichte von unterschiedlichen Affekten, darunter Schock und Furcht, Erstarrung und Panik. Wenn der Raum, der Ort der Katastrophe, in der Zeit liegt, lassen sich Strategien der Temporalisierung als Strategien der Versprachlichung von überwältigenden Erfahrungen lesen? Welche temporalen Figuren würden einem zerstörten Ort oder einem verletzten Selbst eine Sinnzuschreibung ermöglichen?²³ Wenn diese Fragen unter Fokussierung der Charakteristika des utopischen Erzählens erörtert werden, dann fordern zwei auf den ersten Blick unterschiedliche Lesarten heraus: die von Wilhelm Voßkamp herausgearbeitete Feststellung, dass Utopien

 Bal, Mieke: Einleitung. Affekt als kulturelle Kraft, in: Affekte. Analysen ästhetisch-medialer Prozesse. Mit einer Einleitung von Mieke Bal, hrsg. von Antje Krause-Wahl, Heike Oehlschlägel und Serjoscha Wiemer, Bielefeld 2006, S. 7– 19, hier u. a. S. 17 f.  Ebd., S. 18 f.  Siehe dazu Platt, Kristin: Temporal figures in autobiographical recounts, z. Zt. im Druck.

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versuchen, die Zeit anzuhalten,²⁴ gegenüber der von Gilles Deleuze und Félix Guattari herausgearbeiteten Nähe der Utopie zur „unendlichen Bewegung“.²⁵ Voßkamp lenkt den Blick auf Detemporalisierungsstrategien. Die sprachlichen Figuren und Muster strebten eine Entzeitlichung an, da utopische Erzählungen auf verstetigten Ordnungen beruhen.²⁶ Die Zeit der Vergangenheit sei ebenso virtuell wie die Zeit der Zukunft.²⁷ Die literarische Utopie hat dabei keinen eigentlichen Verlauf. Sie hat einen Beginn, den Voßkamp als einem Stiftungsakt ähnlich versteht. Literarische Utopien seien jedoch insbesondere „geprägt durch ein bestimmtes Ensemble institutionalisierter Diskurselemente und dominanter Text- und Leseerwartung“.²⁸ Gerade aufgrund dieser besonderen Bedingung, dass der utopische Text von der Leseerwartung und damit von gesellschaftlichen Konventionen, Normen und Ordnungen abhängig ist, seien Utopien auffallend bildbasiert.²⁹ Im Bild lassen sich Stillstände konzentrieren; das Bild macht es möglich, indem es sich außerhalb einer Zeitlinie stellt, sowohl auf die Vergangenheit als auch auf eine erwartete Zukunft sowie nicht zuletzt auf die Gegenwart des Lesers bezogen zu werden. Die Gesellschaft einer Utopie stellt sich daher in besonderer Weise als rational geordnete dar.³⁰ Deleuze und Guattari arbeiten gerade mit Verweis auf die Beziehung zu Katastrophen ein Verhältnis einer Deterritorialisierung heraus: Im Denken von Sein zeige sich eine Loslösung vom Raum des Territoriums, der Erde. Der erzählte Raum sei relativ zu den Figuren des Denkens, das heißt, er verbindet sich mit den immanenten Bestimmungen des Seins und Werdens.³¹ Begriffe sichern die Ordnung in Raum und Zeit. Diese sind „nicht paradigmatisch, sondern syntagmatisch; nicht projektiv, sondern konnektiv; nicht hierarchisch, sondern vizinal; nicht referentiell, sondern konsistent“.³² Mit der Zuschreibung einer syntagmatischen Funktion weisen Deleuze und Guattari den Begriffen die Fähigkeit zu, Abfolgen, also Zeitverläufe zu schaffen. Zugleich gewähren sie die Konsistenz oder Dauer von Denkfiguren. Begriffe sind selbst nicht räumlich (hierarchisch) geordnet, sondern weisen Nachbarschaften auf, Nähen oder Berührungen. Mit  Voßkamp, Wilhelm: Entzeitlichung, Utopien und Institutionen, in: Temporalität und Form, hrsg. von Wolfgang Lange et al., Heidelberg 2004, S. 21– 37, hier S. 21.  Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main 2018 (7. Aufl., zuerst 2000; Qu’est-ce que la philosophie?, Paris 1991), S. 115.  Voßkamp: Entzeitlichung (Anm. 24), S. 21.  Ebd., S. 23.  Ebd., S. 24.  Ebd.  Ebd., S. 27.  Deleuze / Guattari: Was ist Philosophie? (Anm. 25), S. 97 f., 101 f.  Ebd., S. 104.

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diesen Überlegungen suchen Deleuze und Guattari die Unmöglichkeit zu verdeutlichen, Subjekt und Objekt des Denkens zu unterscheiden. Das Denken gestaltet Räume, es ist deterritorialisierend, aber nicht ohne ein Verfahren der Reterritorialisierung, womit kein Verhältnis zwischen Präsenz und Repräsentation angesprochen ist. Beide Verfahren gehen dem Denken, wenn man so will, voraus. Sie formieren Räume, in denen sich Denken entwickelt. Auch der Begriff selbst „ist nicht Objekt, sondern Territorium. Er hat kein Objekt, sondern ein Territorium“.³³ Dies bedeutet, dass es einen Begriff in der Vergangenheit noch nicht gab und in der Zukunft nicht geben wird. In der Benutzung des Begriffs wird die Gegenwart gestaltet und eine Konnektivitätsannahme zu Vergangenheit und Zukunft formuliert. Man kann mit Deleuze und Guattari durchaus weiterdenken, dass die Existenzannahme auch deshalb so mächtig ist, da sich die Erfahrung der Existenz über Begriffe eines eigenen Werdens versichern muss, das sich mit konstitutiven Annahmen zu seiner Umwelt in Beziehung setzt und sich nicht damit abfinden kann, nur unklare Abgrenzungen von Vergangenheit und Zukunft zu haben. In der Existenz ist „weder Anfang noch Ende, sondern nur Mitte“.³⁴ Daher sei auch der Begriff der Utopie eher irreführend, denn in ihm schreibe sich das Ich in Ideale oder Motivationen ein. Das eigentliche Werden entziehe sich jedoch dem Begriff oder dem Begrifflichen.³⁵ Gegenwart sei nicht zeitlich, sondern, wie oben ausgeführt, ein Wechselverhältnis zwischen De- und Reterritorialisierung: „Was sich gerade ereignet, das ist nicht, was zu Ende kommt, aber ebensowenig, was beginnt“.³⁶ Die Bewegung aber, gegen „die Vergangenheit […] und dadurch auf die Gegenwart und hoffentlich zugunsten einer Zukunft“ zu wirken, hat mit der Erfahrung des Unendlichen der Zeit zu tun, die wir in jetztzeitiges Werden übersetzen: „Das heißt nicht, daß das Aktuelle noch die – womöglich – utopische Vorahnung einer Zukunft unserer Geschichte sei; es ist vielmehr das Jetzt unseres Werdens“.³⁷ Die Feststellungen einer Enttemporalisierung und einer Deterritorialisierung ergänzen sich in Bezug auf die Feststellung sprachlicher Strategien und interaktiver Verfahren von zukünftig erwarteten Ereignissen, denn das Erzählen von Zukunftsutopien verlangt keineswegs eine Antizipation zukünftiger Ereignisse, sondern eine Auflösung und eine Reinterpretation von Gegenwart. Konkret betreffen die Kernthemen der in den 1920er und 1930er Jahren formulierten Fragen an „Zukunft“ nicht (nur) Utopien zukünftiger natürlicher, so    

Ebd., S. 117. Ebd., S. 128. Ebd., S. 129. Ebd. Ebd., S. 130.

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zialer, kultureller oder politischer Ordnungen, sondern den Raum der Existenz. Der Weltraum wird als Herausforderung verstanden, nach den Gesetzen des Lebens zu fragen. Zukunft als Herausforderung, Vergangenheit nicht zu wiederholen. „Aber auch alle erworbenen Vorstellungen und Begriffe von Schöpfung oder Entwicklung, von Vitalismus oder Mechanismus, von Monismus und Pantheismus“ müssten nun herausgelassen werden, resümiert Siegmund Kublin bereits in einer Schrift aus dem Jahr 1903. Der Autor, der sich selbst als „Autodidakt“ bezeichnete, führte einen regen Schriftverkehr mit den herausragenden Wissenschaftlern seiner Zeit, darunter mit Ernst Haeckel.³⁸ Keineswegs sei der Mensch das Maß der Dinge, so Kublin. Auch Zeit sei nicht etwas wie ein Takt des Lebens. Zeit, die sich definieren lasse als Verständnis der Abstände zwischen den „von uns wahrnehmbaren Geschehniss[en]“, sei nur ein Begriff und keine Wirklichkeit.³⁹ „Ebensowenig gibt es einen Raum; weder einen kosmischen noch irdischen“, ergänzt Kublin, um gegen Mensch, Zeit und Raum ein bestimmtes Gesetz von Materie oder Anziehung zu setzen. Berechenbare Ereignis-Wirkungs-Zusammenhänge verneint Kublin ebenso wie die menschliche Möglichkeit, den Weltraum zu verstehen. Der Weltraum, so argumentiert er gegen die Generation seiner Zeit, sei das größte und absolut Andere.⁴⁰ Der Weltraum ist das „unendlich Eine“,⁴¹ aber auch das Unbewegte. Eine Bewegung in dieses Unendliche einzuschreiben sei nicht zuletzt der sich selbst überschätzende Versuch des Menschen, dieses Unendliche Gesetzen zu unterwerfen. Warum es unmöglich sei, „zukünftige Ereignisse zu berechnen“, werde zumeist mit zwei Aspekten begründet, dies überlegt der Kulturhistoriker Max Kemmerich in einer Studie aus dem Jahr 1921: Mit der Willensfreiheit menschlichen Handelns und der Singularität der historischen Ereignisse.⁴² Zwar sei tatsächlich jedes Ereignis individuell, aber keines singulär, denn Ereignisse stellten keine „unteilbare Einheit“ dar, sondern eine „Resultante von verschiedenen Faktoren“.⁴³ Während damit das erste Argument gegen die Berechenbarkeit widerlegt sei, lasse sich auch das zweite relativieren, denn der Mensch sei kein Einzelwesen: „Wir verwechseln eben die psychologische Freiheit, das heißt die Abhängigkeit unserer Handlungen ganz ausschließlich von unserem Willen,

 Kublin, Siegmund: Weltraum, Erdplanet und Lebewesen, eine dualistisch-kausale Welterklärung, Dresden 1903, S. 1.  Ebd., S. 3.  Ebd., S. 61.  Ebd.  Kemmerich, Max: Die Berechnung der Geschichte und Deutschlands Zukunft, Diessen vor München 1921, S. 3.  Ebd., S. 4.

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mit der metaphysischen Freiheit“.⁴⁴ Die Berechenbarkeit der Zukunft habe dabei nichts mit dem „zeitlichen Fernsehen“ zu tun, der Prophetie.⁴⁵ Sie beruhe hingegen auf empirischen Methoden⁴⁶ – weniger auf phänomenologischen, wie Oswald Spengler sie angewandt hätte⁴⁷ –, sowie auf dem Bemühen, Ursachen für bestimmte Entwicklungen festzustellen.⁴⁸ Kemmerich verankert seine Überlegungen auf der Basis einer explizit formulierten Frage an die Geschicke Deutschlands: „Welche Schlüsse ergeben sich nun aus den vorgenannten Systemen auf Deutschlands Zukunft?“.⁴⁹ Kemmerich diagnostiziert eine noch weitere, zwanzig Jahre dauernde Revolutionsperiode, die im Jahr 1913 begonnen habe⁵⁰ und zwischendurch in ein „terroristisches Stadium“ eintreten werde.⁵¹ Kein allmähliches oder gar gleichmäßiges Übergehen in neue gesellschaftliche Verhältnisse, sondern Wechsel zwischen Revolutionen und Restaurationen werden die Entwicklungen bestimmen.⁵² Gemacht werden diese Entwicklungen von politischen Eliten, einer willensstarken Minorität, die bereit ist, für ihre politischen Ideale zu sterben. Die große Masse ist stets politisch insofern neutral, als sie höchstens an Biertischen schimpft und die Faust in der Tasche ballt. Aber das genügt nicht, um Geschichte zu machen.⁵³

Eine Wechselbeziehung zwischen Anarchie und Ordnung, politisch Handelnden und Masse lasse sich feststellen,⁵⁴ während „die Motive und Personen sich erst nachträglich einfinden“.⁵⁵ Daher sei der Historiker, der geschichtswissenschaftliche, „gewissenhafte Sammler von Materialien und Bearbeiter von Klostergeschichten zwar als Handlanger geschätzt“, doch die Zukunft gehöre anderen Perspektiven und anderen Forscherfiguren.⁵⁶

            

Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Ebd. Ebd., S. 10. Ebd., S. 12. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17 f. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. Ebd., S. 22. Ebd., S. 26. Ebd., S. 27.

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Denn nur wer den Geist der Geschichte erfassen, Prognosen für die Zukunft stellen kann, wird in späteren Zeiten auf Geltung Anspruch erheben dürfen.⁵⁷

Die 1914 begonnene Periode des Krieges sei daher „noch lange nicht beendet“.Vor dem Hintergrund der skizzierten Entwicklungsgesetze sei festzuhalten: Wir stehen vor zwei Jahrzehnten, die mit Blut und Schrecken angefüllt sein werden. Hand in Hand mit den inneren Kriegen werden wir auch solche mit den Nachbarn führen und zwar siegreiche, da ein Volk in seiner Mutationsperiode stets eine ganz ungeheure Expansionskraft entwickelt.⁵⁸

Die zweifellos unbekannte Schrift führt Figuren zusammen, die sich für die Zeit als auffallend festhalten lassen, darunter insbesondere der Gedanke des verlängerten Krieges, die Orientierung an Ordnungsentwürfen sowie der in einen generationalen Entwurf integrierte Imperativ.⁵⁹ Bemerkenswert ist, dass der Text nicht nur eine bestimmte Generation erklärt, sondern sich auch selbst einschreibt in diese Generation. Der Autor diskutiert nicht nur mit Spengler oder Ludendorff, sondern imaginiert sich explizit als Teil einer Denk- und Handlungsgemeinschaft. Werner Chomton, der im Ersten Weltkrieg zunächst unter anderem bei der Infanterie und seit 1916 als Flieger bei der Luftwaffe gedient hat,⁶⁰ notiert im Nachwort zu seinem Roman Weltbrand von Morgen (1934): So will das vorliegende Buch nichts anderes sein als ein Versuch, aus den Gesetzen, nach denen die Vergangenheit ihre Bilder schuf, nach denen die Gegenwart arbeitet, ein Zukunftsbild in groben Umrissen zu geben, wie es sein könnte. Es soll und kann keine „Prophezeiung“ kommender historischer Ereignisse, es soll auch keine militärische oder geopolitische Studie sein. Dies sei berufenerer Feder überlassen. Es ist nur ein Bild. So wie ein besinnliches, und nicht nur zur bloßen Dekoration herabgewürdigtes Bild den Beschauer zur Sammlung, Einkehr und Mahnung zwingt, so soll das Buch versuchen, den Leser durch die geschilderten Ereignisse an die Forderungen und Notwendigkeiten der Zukunft heranzuführen. Einer Zukunft, die den Entscheidungskampf zwischen den Völkern weißer Rasse und den Asiaten bringen wird. […] Nur wer die stärkere Seele mobilisieren kann, wird die stärkeren Heere haben.⁶¹

 Ebd.  Ebd., S. 28.  Vgl. zu den letzten beiden Ideen auch Platt, Kristin: Der Körper im Zwischenraum von literarischen Zukunftsvorstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Zwischen Raum und Zeit. Zwischenräumliche Praktiken in den Kulturwissenschaften, hrsg. von Muriel González Athenas und Monika Frohnapfel-Leis, Berlin u. a. 2022, S. 299 – 430.  Seine Erinnerungen verfasste er in: Chomton, Werner: Soldat in den Wolken, Stuttgart 1933.  Chomton, Werner: Weltbrand von Morgen. Ein Zukunftsbild, Stuttgart 1934.

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Die Handlung des Romans lässt sich tatsächlich als Bild, genauer als Schlachtengemälde beschreiben. Die Protagonisten bleiben eher farblos; sie erfüllen Rollen, nicht Schicksale, und werden im Roman gezielt als typisierte Subjekte, nicht als Individuen eingesetzt. Bemerkenswert ist möglicherweise, mit welcher Präzision Chomton Bodenkrieg, Luftkrieg und Seekrieg – der Japaner, Mongolen, Europäer, Chinesen, Russen… – miteinander verschränkt, bis auf der gesamten Welt die japanischen Banner wehen: „Die Tore zu einer neuen Epoche der Weltgeschichte sind aufgetan“.⁶² Übrig bleiben nach den entscheidenden Schlachten „zwei weiße Menschen, verloren in den Wasserweiten des asiatischen Meeres, aus der Schlacht weggespült an eine namenlose Küste, vergessen von der Zeit“.⁶³ Diese beiden Menschen erfüllen auf den ersten Blick die Rolle der Tänzerin in Nevilles Erzählung, das heißt die Rolle des „letzten Menschen“, der zum anthropologischen Zeugen der Katastrophe wird.⁶⁴ Der Flieger und der Funker, die sich auf einen Küstenstreifen gerettet haben, sterben „Hand in Hand“ unter einer „im Morgenwind sich wiegenden Palme“, dies, nicht ohne zuvor einen Gruß an die in der Heimat noch Kämpfenden zu formulieren: „Werdet ihr allein den Weg finden, der euch zusammenführt? […] Ihr werdet stark sein, wenn ihr stark sein wollt“.⁶⁵

Die Protagonisten sehen nicht auf den Untergang, nicht auf die Sünden der Menschen oder ein Strafgericht: Sie erfüllen hingegen die Rolle der tragischen Helden, durch deren Opfer sich eine neue Zukunft öffnet – auch wenn die Zukunft hier nur angedeutet, das heißt nur geöffnet wird. Die Helden erfüllen also keine Prophezeiungen, sie öffnen die Dämme, damit sich die Zukunft einen Raum suchen kann. Der Roman konstituiert detailliert die Räume der Schlachten, unterstrichen durch Illustrationen, die an die Karten aus geopolitischen Studien der damaligen Zeit erinnern. Die Darstellung des Kriegsgeschehens, das dynamisch und sich überstürzend beschrieben ist (zweifellos auch mit Begeisterung für die militärischen Vorgänge), wird kontrastiert durch Szenen, in denen die Zeit angehalten wird. In diesen Zwischenszenen, so insbesondere ausführlich-umständlichen Diskussionen, wird betont, dass der Kampf, der Krieg unendlich sei, das Werden eines Volkes aber außerhalb des Kampfes sich vollziehe:

   

Ebd., S. 156. Ebd., S. 157. Horn: Zukunft als Katastrophe (Anm. 3), S. 28 f. Chomton: Weltbrand von Morgen (Anm. 61), S. 157.

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Wenn ein Volk aus seinen uralten ewigen Wurzeln neu entsteht, dann ist das ein zutiefst aufwühlender Vorgang des Werdens, der ein Kampf ist, ungleich erschütternder als ein Krieg. […] Nicht aus der Fülle und nicht aus der Sattheit kommt die Kraft eines Volkes, sondern aus dem ewigen Kampf um die Reinhaltung seines Wesens. Eine dem materiellen Genießen und dem zersetzenden Denken zugewandte Vergangenheit brachte uns an den Rand des Untergangs. Verschüttet lag die deutsche Seele unter den Trümmern abgelegter Daseinsformen.⁶⁶

Die Kräfte, über die dieses Werden gestaltet wird, sind national-militärische Tugenden. Am höchsten gilt das Opfer. Im Roman wird eine Stadt durch konventionelle und moderne Waffen in Schutt und Asche gelegt, die Menschen durch Bomben, Brand und das eingesetzte Giftgas getötet. Nicht das Unmögliche, die falsch eingeschätzten Nebenfolgen bestimmen das Geschehen. Chomtons Krieg ist ein Krieg der durch Planung gestalteten Möglichkeiten und ihrer zielstrebigen Ausfüllung. Mit pfeifenden, jaulenden und zischenden Tönen kommt es herab, mit ohrenbetäubendem Krachen krepieren die alles zerschmetternden Brisanzbomben, mit dumpfem Ton fahren die Gasbomben und die großen entsetzlichen Gastorpedos auseinander, klatschend und spritzend die Brandgeschosse. In wenigen Minuten liegen ganze Häuserreihen in Schutt, brechen Hallen und Lagerhäuser in wirbelndem Brand zusammen, explodieren Gasometer und Öltanks.⁶⁷

Detailliert beschreibt der Text die Zerstörung der Stadt Naphtadar, die brennenden Trümmer, den Park, „zerhackt, wie von Riesenhand umgelegt“, wiederholte Explosionen. Und noch immer wühlt der rasende Tod in der gemordeten Stadt. Noch immer regnet der Himmel Verderben.⁶⁸

Das mit dem Sprachbild des Himmels als apokalyptisch ausgegebene Bild ist genau dies nicht: apokalyptisch. Die Zerstörungen lassen Werte und Kommunikation bestehen; Menschen können weiterhin auf dem ihren persönlichen Rollen wesentlichen Handeln und Verhalten aufbauen. Der Fokus der Sequenz liegt auf einer Gruppe, die in einem Fahrstuhl steckenbleibt: eine Krankenschwester und vier schwerstverletzte Soldaten – einem wurden die Beine amputiert, ein zweiter hat einen Lungendurchschuss. Keiner der vier eingeschlossenen Verwundeten benimmt sich höflich oder der Situation angemessen. Und doch legt „Schwester

 Ebd., S. 96.  Ebd., S. 54.  Ebd., S. 55.

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Maria“ die vier Gasmasken, die sie einem Schrank im Fahrstuhl entnimmt, den Männern an. Dann sinkt sie mit schwindenden Sinnen an den Betten ihrer Schützlinge nieder. Versinkt in Tiefen, aus denen es keine Rückkehr mehr gibt.⁶⁹

Es fällt fraglos nicht schwer, den Roman im engen Umfeld deutschnationalen Denkens zu verorten. Beachtet werden muss jedoch, dass er nicht Ideologeme in eine literarische Erzählung überführen, sondern eine Zeitdeutung anbieten möchte. So diskutiert Chomton in seinem Nachwort: Die Kette, durch die wir den Schuß unserer Fäden hin- und herlaufen lassen, ist an einem Ende an der Vergangenheit befestigt, das andere Ende wird von der Zukunft gehalten.⁷⁰

Der literarische Blick in die Zukunft wird konkret der Aufgabe unterstellt, die Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft neu zu orientieren und die Kräfte zu suchen, die geschichtsgestaltend sein können. Chomton benennt diese neuen Kräfte explizit – und damit ist vielleicht die am meisten verbindende Figur der Zukunftsromane formuliert: Generationen. Chomtons Generationen sind dabei nicht biologisch charakterisiert, sondern politisch; sie werden als Schicksalsgemeinschaft verdeutlicht. Zudem arbeitet er mit dem Bild der Generationen nicht, um etwas wie einen Zusammenhang des Lebens zu betonen. Eher geht es ihm um die Darstellung selbsttätiger Entschlüsse, einer ausgewählten Gruppe beizutreten. Die Generation, die die Zukunft bestimmt, wird durch Mitgliedschaft und Handlungsbereitschaft konstituiert. Sie wird zu einer politischen und kulturellen Entität nicht vor dem Hintergrund einer sozialen Lebensidee, der Idee der Generationenfolgen, sondern auf der Basis der Herausforderung, dass es um die Existenz selbst gehe. So wird der Krieg als Rahmen entworfen, der die Zeiten verbindet und die Zeit wieder in einen normalisierten Verlauf rückt. Die Katastrophe wird in diesem Rahmen als eine narrative Figur deutlich, der einerseits eine gewisse kulturzerstörende und kultur„reinigende“ Kraft eigen ist, die andererseits die Sicherung von Zivilisation verspricht, weil sie die temporal gedachte Zukunft einholt. Die nicht schicksalhafte, aber auch nicht prophetisch offenbarte Zukunft liegt in keiner utopischen Ferne, ihr Ort ist die nahe Gegenwart.

 Ebd., S. 60.  Ebd., S. 158.

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2 Die Katastrophe als Herausforderung Der Weltkrieg hatte extreme Zerstörungen in Europa hinterlassen und eine hohe Zahl von Opfern gefordert, er hatte die politischen Ordnungen zutiefst verändert und Wissenschaft, Kunst und Literatur in „Deutungskämpfe“ geworfen.⁷¹ Alfred Döblin stellt in einem im Juni 1918 erschienenen Aufsatz fest, dass man Zeit trotzdem nicht notwendig wahrnehmen müsse: „Die wenigsten Menschen erleben ihre Zeit, das muß hart festgestellt werden, die meisten Menschen sind geschäftlich tätig und haben keine Zeit für ihre Zeit“.⁷² Zwar seien politische oder künstlerische Bewegungen im Prinzip spürbar, auch wenn man nicht zwingend von ihnen betroffen werde. Sie sähen verschiedene Rollen vor (als Träger oder Macher, andere ließen sich mittreiben, wieder andere würden „weggeschwemmt“) sowie unterschiedliche Erfahrungen (als Reinigung, Stärkung oder Richtung).⁷³ Das Tempo menschlichen Denkens, von „Zeitströmungen“ und „Geisteswellen“,⁷⁴ zeige, so Döblin, dass der Mensch sich als Herrscher über die Zeit setzen kann. Kulturelle Bewegungen sind für ihn nicht Zeugen einer Zeit, sondern repräsentieren soziale Tempi, die gegen die Zeit gerichtet sind.⁷⁵ Ein „wirklich umwälzendes Geschehen“ könnten solche Bewegungen nicht verursachen. Ob schnell oder langsam, mitschwemmend oder zurücklassend, werden sie nicht in die Zeit des Menschen selbst eingreifen. Das Tempo des Menschen – ein Organismus wächst, entfaltet sich, altert aus sich heraus, rücksichtslos, keine Zeit hält damit, mit dieser Sonderbarkeit, Schritt.⁷⁶

– enthalte unterschiedliche Strömungen und Materien: Wir haben Fältelungen in uns, die auf die Eiszeit zurückgehen, andere, die mit Christi Geburt datieren, andere; wir stammen durch Vater und Mutter von sehr weit her, die kreuz und quer ab, das sind Dutzende Quellen, aere perennius.⁷⁷

 Honold, Alexander: Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs, Berlin 2015, u. a. ab S. 273.  Döblin, Alfred: Von der Freiheit eines Dichtermenschen [1918], in: ders.: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur, Frankfurt am Main 2013 (zuerst in: Die neue Rundschau Jg. 29 (1), 1918, S. 843 – 850), S. 126 – 135, hier S. 131.  Ebd., S. 128 f.  Ebd., S. 127.  Ebd., S. 130.  Ebd.  Ebd., S. 131.

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Doch würden das „dunkle Triebwerk von Erinnerungen und Instinkten“ sowie die „Gewalten älterer Zeiten“⁷⁸ die Gegenwart eher unmittelbar berühren. Wo sie die Erfahrung auslösen, in der falschen Zeit geboren zu sein,⁷⁹ stärkten sie nicht die Hoffnung auf die Macht der Bewegung, mit dem Ziel, die Zeit verändern zu können, sondern ließen die Erwartung erwachsen, die eigene Lebenszeit zu verlängern. Sie schufen den Gedanken, dass im Mitgehen mit der Bewegung etwas vom eigenen Selbst auch über die eigene Lebenszeit hinaus bestehen bleibe. Dann wird sich, was ich produziere, vergeblich umsehen nach einer Bewegung, die schon längst guten Morgen gesagt hat […]. Es wird anders sein als in früheren Zeiten, aber es wird auch sein.⁸⁰

Es ist vielleicht auf den ersten Blick sogar irritierend, dass Döblins Reflexion die Mächtigkeit gesellschaftlicher Bewegungen negiert und ihnen auch die geschichtsbeeinflussende Bedeutung nimmt. Weder Emotionen von Ernüchterung noch eine explizit werdende Starre nehmen konkret auf die Kriegserfahrung Bezug – und doch lässt sich der so scheinbar entpolitisierte Blick auf die Menschenzeit nicht ohne den noch deutungsoffenen Krieg lesen. Die militärische Kapitulation steht noch bevor. Döblin gibt einer Zeitdiagnose Raum, die nichts Materielles hat und keinen Raum, sondern die reduziert ist auf Erwartung und Existenz. Ähnliches kann auch auf Döblins 1919 geschriebenes Drama Lusitania bezogen werden.⁸¹ In seiner literarischen Dramatisierung macht Döblin das Ereignis des im Mai 1915 durch ein deutsches U-Boot versenkten britischen Passagierdampfers eher unsichtbar. Die Szenen werden von unterschiedlichen Sprechern bestimmt, so treten unter anderem Zwischendeckler und Deckoffiziere auf, die Meergeschöpfe und die (eigentlich toten) Schiffbrüchigen, ein Kapitänsleutnant, ein Nihilist, ein Akrobat, einige Bürger, Sterne und die Nacht. Die Protagonisten zeigen keine emotionalen Identifikationen mit dem Unglück; der Untergang wird nicht zum traumatischen Bruch in den Selbstverständnissen der Personen, er wird nicht zum Moment der Bewährung, nicht zur Szene des Scheiterns.⁸² Trotzdem kann die Lusitania als „exemplarischer Modellfall der modernen Welt“ verstanden und ähnlich Thomas Manns Sanatorium im Zauberberg als „ein Stück

 Ebd., S. 131 f.  Ebd., S. 133.  Ebd., S. 135.  Vgl. dazu Döblin-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Sabina Becker, Stuttgart 2016, hier: Büchel, Johanna: Lusitania, S. 216 – 218.  Döblin: Lusitania (Anm. 8).

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Welttheater auf begrenztem Raum“ gelesen werden, wie Alexander Honold betont.⁸³ Allerdings verdoppelt Döblin die Situation des Theaters, denn auch die Protagonisten des Dramas bleiben dem eigentlichen Ereignis fremd: Sie lassen sich nicht in ihren Beobachterpositionen erschüttern, beschleunigen ihre Handlungen nicht. Während sich die Protagonisten in ihren Wortwechseln verstricken, ist das Schiff von Meergeschöpfen eingenommen, die die Menschen in den Tod ziehen. Auf dem Meeresboden realisieren die Menschen zwar, dass sie ertrunken sind, und ringen mit der Frage, ob sie dieses Schicksal annehmen oder sich diesem entgegenstellen sollen. Als entmenschlichte, nicht empfinden könnende Masse kommen sie schließlich aus dem Meer zurück. Auf den ersten Blick spiegelt sich das historisch-politische Ereignis kaum in dem Drama, das sich auf der Basis unterschiedlicher Stilmittel aus dem Verlauf eines historischen Geschehens heraushebt. Es geht Döblin nicht um die historische Katastrophe, die sich als Tragödie ereignet, sondern um ein Ereignis, das den Menschen zurück integriert in einen Horizont von materieller und mythischer Existenz und sich erst nach dem Sterben der Menschen als Katastrophe ereignet. So schließt der Dreiakter mit dem Satz „Die Lusitania – ist – nicht – untergegangen“.⁸⁴ Aber auch bereits die 1915 verfasste Erzählung Die Schlacht! Die Schlacht!, mit der Döblin auf die Situation des Schlachtfelds Bezug nimmt, folgt den Mitteln der Auflösung oder der Überführung des Raumes sowie der entfremdenden Enttemporalisierung von Zeit.⁸⁵ Der Protagonist Armand Mercier, ein französischer Bergmann, der seinen Freund in den Stellungen und den Linien der Schlacht sucht, führt den Leser durch eine irritierende Geographie: Linker Stiefel: „Wo liegt Frankreich?“ rechter Stiefel: „Wo liegt Frankreich?“ linker Stiefel: „Wo liegt Frankreich?“ rechter Stiefel: „Alles Wurscht“, linker Stiefel: „Alles Wurscht“, rechter Stiefel. Pässe, Pässe. Man kommt nicht durch. Runter vom Wagen. Dicke Menschenhaufen aus dem Dorf. Alle rückwärts nach Bagolles, nach Petit-Bagolles, nach Bordigaux.⁸⁶

Je näher er der Schlacht selbst kommt, umso mehr wird aus der Vermutung die beunruhigende Gewissheit, den Freund gerade dort zu finden – an einem Ort, an dem keine Existenz mehr möglich ist: Rot und röter loht von rechts der Himmel. Niedergebrochen blickt durch Tränen Armand Mercier auf den Himmel, stumm geradeaus bewegt sich die Kolonne. Seine Augen bleiben

 Honold: Einsatz der Dichtung (Anm. 71), S. 506 f.  Döblin: Lusitania (Anm. 8), S. 71.  Döblin, Alfred: Die Schlacht! Die Schlacht! [1915], in: ders.: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Frankfurt am Main 2014 (2. Aufl.; zuerst 2013), S. 136 – 154.  Ebd., S. 137 f.

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gefangen an der Röte, die hochdrängt, fast im Halbkreis des Horizontes. Mit Befremden, Bitternis und Abscheu betrachtet Armand den Flammenschein, die Chaussee, den vorüberziehenden Wald. Auf die linke Chausseeseite herüber biegt sein Zug, hält an. Und da rattert es vorbei, vom Dorf herunter, die hochtürmigen Transportautos, die strohgefütterten Wagen, die offenen ungeschützten Bretterwagen mit den Verwundeten, den zerschossenen Soldatenleibern, die angeblafft sind von den aufbäumenden Granaten, die stöhnenden, über deren Köpfe Mauerwerk gepoltert ist, die japsenden, halb erstickt aus den Giftdämpfen der Schützengräben gezogen, ausgestreckte Leiber in nicht endender Reihe hintereinander, in weiße Verbände geschlagen, durch die das Blut sickert, eine träumende delirierende Schar, der furchtbar drängenden Macht drüben aus den Zähnen gedreht.⁸⁷

Armand nimmt unterschiedliche Rollen an, um Gewissheit über den an Typhus verstorbenen Freund zu erhalten, wird in Wirren mal für einen Spion gehalten; die Geräusche der Schlacht werden zur neuen und einzigen Orientierung. Dabei interessiert sich Döblin nicht für das Militärische oder Technische, er blickt hingegen auf das biologische Leben. Auch das Schlachtfeld selbst atmet, lebt; es bildet mit den Menschen eine Einheit von Kampf und Sterben: Da schmettern die ersten Lagen aus den Feldhaubitzenbatterien von drüben. Und dies ist der Moment des Sturms. Die hohläugigen Männer aus den Gräben sind alle herausgestiegen, ihre starren Mäntel haben sie abgeworfen. Überall sind sie in die graue Dämmerung heraufgestiegen, immer mehr quellen herauf Sie haben an der freien Luft die steifen Grimassen von Sterbenden und Besinnungslosen. Sie sind wie Katzen, die in den Sumpf springen und ertrinken, vor Durst, vor Durst. Sie rennen gegen das schwingende leere Feld in einer blutroten Wildheit. Aber das ist nicht still, das Feld, das schweigt, atmet, wartet.⁸⁸

Am Schluss der Erzählung wird eine Stellung verloren: Die Menschen werden in der Situation des Zusammenbruchs der Linie eins mit der Erde. Platzender Vulkan eines Schrapnells. Noch ein Schrapnell. Sie rennen zurück. Klappern der Gewehrkugeln. Die deutschen Signaltrompeten. […] Maschinengewehre zurück! Reserven zurück! Keine Gewehre, keine Mützen. Sie kommen ja zurück! Sie springen in die Löcher. Die Preußen. Armand hat Erde zwischen den Zähnen und einen weißen Mund. […] Der Wald bis an den Bahndamm verloren.⁸⁹

Obwohl Döblin den Leser auf eine Reise in die Schlacht mitnimmt, zeichnet er keine Bilder des Stellungskrieges, sondern führt in die Verwandlung der Menschen in etwas wie eine Schlachtmasse ein. Mit der Verweigerung, Helden oder

 Ebd., S. 143.  Ebd., S. 152.  Ebd., S. 153 f.

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überhaupt Individuen zu beschreiben, der Schilderung vorbestimmter und sich dann erfüllender Tode, einer Bewegung, die sich durch irritierte Sensorik, Geographie und Temporalität zeigt, lässt sich Döblins Erzählung zwar neben Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920) stellen. Doch wesentlich stärker als Jünger beschreibt er die Irritation durch das Kriegsgeschehen und die Auflösung von Handlungsfähigkeit und Identität. Es ließe sich fragen, ob gerade die politischen Legenden, die gestaltet wurden, um den Versailler Vertrag zum Zeichen eines Schandfriedens zu erklären, ein Deutungsangebot formulierten, das ermöglichte, den Krieg in die bindenden (nicht die zerstörenden) Kräfte von Geschichte einzuordnen. Der von Döblin dramatisierte Untergang der Lusitania verweigert sich konsequent einer politischen Lesart und einer Einordnung in politisches Mächte- und Kriegsgeschehen. Döblin enthebt die Handlung, indem er sie in die Hände der Meerweiber legt, einer Synchronisierung mit der Gegenwart. Mit der Beschreibung der sich entziehenden Menschen, die nicht einmal sicher sind, ob sie die Katastrophe geträumt haben, ob die Katastrophe sich bereits ereignet hat oder sich noch ereignen wird,⁹⁰ lässt er nicht zu, dass der zeitgenössische Zuschauer seine eigene Gegenwart „erkennt“. In seinem 1925 erschienenen Roman Pestilenz, der als erster Band einer Apokalypse-Trilogie erscheinen sollte,⁹¹ beschreibt Hanns Lerch (1895 – ?) einen Unterschied zwischen Katastrophe und Weltuntergang. Und wehrt sich die Erde unserer, so nennen wir das Katastrophe, genest sie von uns, ist es vielleicht ein Weltuntergang, der das gute Recht der Erde wäre, wie die Desinfektionsmittel unser gutes Recht gegen die [Mikroben] da.⁹²

Die biologische und die politische Welt stehen der Menschheit als grundsätzlich Anderes gegenüber. Die Katastrophe, eine Pestepidemie, trifft Deutschland zu einer Zeit, als es „wieder stark“ ist, nur wissen wir das noch nicht, weil wir das äußere Gewand nur sehen, das Parteihader zu einem Bettlerfetzen macht! Der deutsche Mensch ist wieder gesund.⁹³

Der Roman, der das Schicksal in die Hände der Ärzte legt – und der von ihnen begehrten Frauen –, beschreibt die Epidemie als Krieg. In einem Gespräch zwischen den Protagonisten Dr. Zehr und Dr. Boas wird das zivilisatorische Wirken    

Döblin: Lusitania (Anm. 8), S. 39. Der zweite Band und der dritte Band, „Hunger“ und „Krieg“, sind nicht mehr erschienen. Lerch, Hanns: Pestilenz. Eine Vision, Dresden-Wachwitz 1925, S. 101. Ebd., S. 110.

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der Medizin erörtert. Durch die Entwicklung von Sera, unterstützt auch durch Chemiker, die künstliche Nahrungsmittel erfunden hätten, suchen die Ärzte zu einem „Gleichgewicht“ beizutragen: Da es aber ein ehernes Gesetz der Natur ist, nur soviel Individuen zu schaffen, als existieren können, beschwört ihr eine Katastrophe.⁹⁴

In Überheblichkeit habe man diese Nebenfolgen des wissenschaftlichen Fortschritts nicht gesehen. „[…] Rechnen Sie sich doch die Vermehrungsziffer der Menschheit aus, überlegen Sie andererseits, wieviel bewohnbare Gebiete die Landfläche des Erdballes aufweist, denken Sie besonders an das rapide Wachstum mancher Menschenrassen, der gelben und der schwarzen vornehmlich! Es werden keine hundert Jahre vergehen, dann hockt die Menschheit in sechzigstöckigen Wolkenkratzern aufeinander. Und wenn die nicht mehr ausreichen…“ „Gibt es einen Krieg und der schafft Luft.“⁹⁵

Die Figur des Dr. Zehr widerspricht dieser letzten Überlegung. Denn ein Krieg werde nicht ausreichen, die Erde und die Menschen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Erst ein Massensterben, „das aller Sera und Desinfektionsmittel und superklugen Theorien spottet“, werde die „Überheblichkeit“ der Ärzte beweisen⁹⁶ und der biologischen Natur zu ihrem Ausdruck verhelfen. Das Problem, das durch den Kollegen aufgeworfen wurde, ist global. Und auch die Pestepidemie, die ausbricht, wirkt weltweit. Doch das Ringen gegen die Epidemie im weiteren Verlauf des Romans ist keineswegs global: Es schafft keine globalen politischen Solidaritäten, sondern ist eine nationale (deutsche) Angelegenheit. Man spürt Ambivalenz. Wer leben soll, wer sterben, ist noch nicht wirklich entschieden. Der Tod durch die Epidemie ist keineswegs lautlos. Er führt zu Plünderungen, Massenhysterien, Sexorgien, Raub oder Mord. Das Leben, das als nacktes Leben noch vor dem Sterben sich zeigt, ist roh. Leben, leben, bis das eigene Blut die Glieder besudelt… .⁹⁷

   

Ebd., S. 125. Ebd. Ebd., S. 101 f. Ebd., S. 229.

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Der vorangehend zitierte Dialog ist eine vorweggenommene Legitimation für die Epidemie. Dinge sind und bleiben eher wertlos. Um die Zukunft zu sichern, muss die mögliche Zukunft verhindert werden. Im aufopfernden schlaflosem Ringen sucht Dr. Boas nach einem Heilmittel, das er letztlich in der Form von Goldchlorid findet. Deutschland erhandelt auf politischer Bühne für das Heilmittel die „Freiheit für unser Volk und allen Deutschen das Recht, in einem Staate zusammengehören zu dürfen“. Der Roman schließt mit der Erinnerung an alle, die nicht umsonst gestorben seien, und dem Blick von Dr. Boas und seiner Senta in die Sonne und die Zukunft – in der Ärzte weiterhin in politischer Verantwortung stehen werden. Dort aber scheint in goldenen Buchstaben ein leuchtendes Wort zu stehen: PFLICHT!⁹⁸

In Lerchs Roman werden keine Probleme einer notwendigen Zeitbewältigung thematisiert, es zeichnen sich keine Fragen an das Verhältnis zwischen erzählter Zeit und romanbezogener Ereigniszeit ab. Erzählzeit und erzählte Zeit fügen sich nicht nur ineinander, sie bleiben auch im Fortgang der Seuche bestehen, die sich an einen Tagesrhythmus hält. Beschleunigt wird die Zahl der Toten, nicht das Sterben. Der Mensch ist hier nicht Teil einer Zeit, er ist ihr Repräsentant. Die Katastrophe selbst ist nicht beängstigend. Sie ist eine Herausforderung, von der die Zukunft abhängig ist. Sie ist weder Wunschtraum noch Angstraum.⁹⁹ Der verursachte Schaden, das heißt die verursachten Toten, sind verzichtbar. Ihrem Verlust, ihrem Tod haftet keine Tragik an.

 Ebd., S. 255 (Hervorhebung im Original).  Vgl. dazu Horn: Zukunft als Katastrophe (Anm. 3), S. 12.

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3 Gewissheit Über das Nachzeichnen einer Geschichte der Reflexion auf Geschehnisse und Erfahrungen als „Katastrophe“ lässt sich beobachten, dass zwischen 1900 und 1930 Veränderungen im Wissen und in der öffentlichen Wahrnehmung erfolgten, die sich in Bezug auf das Denken von Gesetzmäßigkeiten der Katastrophe diskutieren lassen, in Bezug auf Erwartungen beziehungsweise eine Figur von Gewissheit, nicht zuletzt in Bezug auf den Ort – der aus der Zukunft in die Gegenwart geholt wird. Dabei ist die Figur der Katastrophe vereinzelt auch bereits vor dem Ersten Weltkrieg als geschichtliches Deutungsmuster zu finden. Doch erst in Reaktion auf den als schmachvoll rezipierten Friedensschluss wird die „Deutsche Katastrophe“ zu einem Kernbegriff wissenschaftlicher wie literarischer Diskurse und zu einer Figur, die in sich auch eine bestimmte Zeitfigur aufnimmt. Die Zeit der Gegenwart wird bereits mit der Jahrhundertwende als unruhig empfunden: Die Erfahrung der Moderne wird zunächst konkret auf eine Zeitfigur bezogen. Unsere Zeit geht mit eiligen Schritten. Auf allen Gebieten wird fieberhaft gearbeitet, als gelte es das Menschheitswerk für einen bestimmten Termin fertigzustellen. Und das Werk, daran gearbeitet wird, scheint alle Merkmale des gedeihlichen Fortgangs an sich zu tragen. Ist das die Ursache des unruhigen, raschen Herzschlags der Zeit?¹⁰⁰

Dies notierte der protestantische Religionsphilosoph Friedrich Daab, der eine Wahrnehmung von Unruhe beschrieb, die er als Wahrnehmung eines Fehlens von Einheit charakterisierte: Es fehlt im Grunde ein einheitliches Werk, das gefördert wird. Es ist alles ein Tasten und Haschen. Auf allen Gebieten des Lebens, bei aller Arbeit und allem scheinbaren Fortschritt ein Unbefriedigtsein und darum ein Suchen.¹⁰¹

Einzelne Katastrophen erschütterten die Welt nach der Jahrhundertwende nachhaltig: das Erdbeben und der Brand von San Francisco (1906), der Untergang der General Slocum (1904), der Untergang der Titanic (1912). Diese Ereignisse verstärkten die Ambivalenz der Wahrnehmung der durch die technischen Entwicklungen „beschleunigten“ Zeit und dem Eindruck des „Anhaltens“ der Zeit in der

 Daab, Friedrich: Die Sehnsucht nach Persönlichkeit, in: Das Suchen der Zeit. Blätter deutscher Zukunft. Bd. 1, hrsg. von dems. und Hans Wegener, Düsseldorf/Leipzig 1903, S. 4– 33, hier S. 4.  Ebd., S. 5.

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Tragik. Sie verstärken eine Zeitdeutung, die gerade in dieser Ambivalenz die Wirklichkeit der eigenen Erfahrungen sieht. Die Deutung von Moderne hatte nun zu einem neuen Verständnis von Zeit geführt. Ferdinand Tönnies sieht in der Katastrophe eine Zeitspanne, in der die gesellschaftlichen Gewalten nicht nur in ihrer Ambivalenz, sondern auch in ihrer Konkurrenz erkennbar würden.¹⁰² Für Ernst Troeltsch entstehen politische Katastrophen dann, wenn individualisierte Einflüsse Ordnungen zerstören.¹⁰³ Friedrich Pollock interpretiert die Katastrophe als „Krise“.¹⁰⁴ Max Horkheimer geht von der historischen Betrachtung aus, dass im Mittelalter ein Scheitern und persönliche Armut als Unglück, nicht als Schuld gesehen worden sei,¹⁰⁵ sich erst seit der Frühen Neuzeit der Gedanke der Krise und Katastrophe als Effekt individuellen Handelns oder Scheiterns durchgesetzt habe, wobei er auf der Grundlage dieser Beobachtung nach der Veränderung der Idee göttlicher hin zur menschlichen (politischen) Ordnung fragt. Die Vorstellung einer dem Wesen nach harmonischen Ordnung, die durch Krisen und Katastrophen erschüttert werde, aber trotzdem bestehen blieb, sei mit traditionell religiösen Vorstellungen im Zusammenhang zu sehen – und zu relativieren. Umwälzungen gehörten nicht zuletzt zum Verlauf von Erkenntnis. Oswald Spengler hatte aus seinen Studien zur antiken Geschichte den Gedanken einer Katastrophe als „Wende zweier Zeitalter zwischen Weltschöpfung und Weltuntergang“ abgeleitet.¹⁰⁶ Er erläuterte in Der Untergang des Abendlandes, dass das Symbolische eines jeweiligen Ereignisses vor dem Hintergrund des politischen Umwälzungscharakters die weltgeschichtliche Bedeutung bedinge. Als Symbole „gleichzeitiger“ Zeitwenden entsprechen also die Erstürmung der Bastille, Valmy, Austerlitz, Waterloo und der Aufschwung Preußens den antiken Tatsachen der Schlachten von Chäronea und Gaugamela, dem Zug nach Indien und dem römischen Sieg bei Sentinum, und man begreift, daß in Kriegen und politischen Katastrophen, dem Grundstoff

 Tönnies, Ferdinand: Einführung in die Soziologie, Stuttgart 1931, S. 110: „In schwankender Zeit, wenn die normale Staatsgewalt unsicher ist, tritt es naturgemäß um so stärker in die Erscheinung, daß andere Gewalten wetteifern, auf diese zu ihren Gunsten zu wirken; dies ist es, was insbesondere in Deutschland in den ersten Jahren nach einer schweren Katastrophe in die Erscheinung trat“.  Troeltsch, Ernst: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hrsg. von Hans Baron, Tübingen 1925.  Pollock, Friedrich: Bemerkungen zur Wirtschaftskrise, in: Zeitschrift für Sozialforschung Jg. 2 (3), 1933, S. 321– 354, hier S. 322.  Horkheimer, Max: Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie, in: Zeitschrift für Sozialforschung Jg. 4 (1), 1935, S. 1– 25, hier S. 19.  Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit, München 1923 (zuerst Wien 1918), S. 24.

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unserer Geschichtsschreibung, der Sieg nicht das Wesentliche eines Kampfes und der Friede nicht das Ziel einer Umwälzung ist.¹⁰⁷

Festzuhalten ist mit diesen kurzen Blicken in zeitgenössische wissenschaftliche Studien, dass sich ein Verständnis von Krisen und Umwälzungen zeigt, die als politische „Katastrophe“ erörtert werden, wobei das Bild der Katastrophe kaum allein als Rückwirkung auf die Gewalterfahrungen des Ersten Weltkriegs in seiner für den Einzelnen überwältigenden Gewalt zu verstehen ist. Vor die Erfahrungen von Gewalt, Tod und Verlust im Ersten Weltkrieg schieben sich im sozialpolitischen und historischen Denken der Friedensschluss und die Belastungen durch die Reparationspflicht. Die Zeitdiagnose der „Katastrophe“ spricht eine Erschütterung an, welche die deutsche Gesellschaft getroffen hat, darüber hinaus aber auch in die Weltgeschichte und Weltpolitik reicht, deren Richtungen und Sinn als in Frage gestellt empfunden werden. Die Verklammerung der Bilder und Interpretationen der zeitgenössischen, als Katastrophe interpretierten Lage mit Figuren von Zeit macht „die“ Katastrophe zum generalisierten Deutungsmuster. Katastrophen fragen nach Sinngebung. Zum einen ist die „Katastrophe“ eine Figur, die die Erzählung einer Zerstörung konzentriert, zum anderen fokussiert bereits der Begriff die Frage nach kulturellen Bedeutungen. Bemerkenswerterweise wurde mit der Wende zum 19. Jahrhundert nicht nur durchgesetzt, dass es sich bei Katastrophen keineswegs um zufällige Ereignisse, sondern um regelhafte Vorkommnisse in der zivilisatorischen Geschichte der Menschheit handelt. Zudem war dem Gedanken bereits Form gegeben worden, dass es sich bei Katastrophen stets um Verweise¹⁰⁸ auf andere, zumeist mit der Katastrophe erst sichtbar werdende Ursachen, diese nicht selten auch politischen Charakters, handelt. Das Erdbeben figuriert nicht mehr als Metapher für politische Umwälzungen, sondern repräsentiert diese ganz konkret. Die einerseits politisierte Erzählung der Naturphänomene und andererseits naturalisierte Erzählung der Formen menschlicher Gemeinschaft¹⁰⁹ finden in der Vorstellung zusammen, dass sich aus den Gesetzen der Naturphänomene die Gesetze der Geschichte konkret ableiten lassen. Dies ist keineswegs allein in den Erörterungen von Oswald Spengler zu erkennen, für den Kriege und Katastrophen das zentrale Bewegungsmoment der Geschichte ausmachten:

 Ebd., S. 198.  Briese definiert einen „Verweisungscharakter“, in: Briese, Olaf: Die Macht der Metaphern. Blitz, Erdbeben und Kometen im Gefüge der Aufklärung, Stuttgart/Weimar 1998, S. 91.  Ebd., S. 96.

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Und in allen Versammlungen und Zeitungen hallt das Wort Krise wider als der Ausdruck für eine vorübergehende Störung des Behagens, mit dem man sich über die Tatsache belügt, daß es sich um eine Katastrophe von unabsehbaren Ausmaßen handelt, die normale Form, in der sich die großen Wendungen der Geschichte vollziehen. Denn wir leben in einer gewaltigen Zeit. Es ist die größte, welche die Kultur des Abendlandes je erlebt hat und erleben wird […].¹¹⁰

Mit der Schwerpunktsetzung auf die Bedeutung für Zeit und Geschichte traten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ästhetischen Merkmalszuschreibungen an die Katastrophe zurück. Die Bereitschaft, die Katastrophe als zugehörig zur Geschichte zu erkennen, hatte sich zur Gewissheit entwickelt, dass Katastrophen regelhaft der Geschichte zugrunde liegen, sowie dann zur Erwartung, dass die eigentliche Katastrophe in der nahen Zukunft warte. Dies wird sicherlich besonders deutlich in der Einsetzung der Katastrophe als Muster für eine eskalierende Politik sowie dann als Muster für das Verstehen von Revolutionen. Erich Mühsam notiert in einem Tagebucheintrag als Reflexion zur politischen Lage in Russland aus dem Jahr 1922: Die Not ist gräßlich in dem Lande. Die furchtbaren Naturkatastrophen – alle Plagen Ägyptens scheinen sich potenziert über dieses arme, herrliche Land ergossen zu haben, das allein aller Menschheitszukunft den rechten Weg gewiesen hat. Sonnenbrand und Frost, Heuschrecken und Seuchen – alles ist auf einmal gekommen, und Millionen Menschen verhungern und verkommen, vertieren und verzweifeln. Die wundervolle Hingabe einzelner, die Opferfreudigkeit des gesamten revolutionären Weltproletariats zur Rettung des schöpferischsten Volkes aller Geschichte vermag leider sehr wenig Hilfe zu bringen, da der Weltkapitalismus darüber einig ist, daß man lieber ganze Nationen verelenden und im Kannibalismus versinken lassen soll, als eine Handbewegung zu ihrer Rettung zu tun, die sich nicht verzinst. […] Fürchterlich zeigt sich daran, was die deutsche Arbeiterschaft gesündigt hat, als sie die Revolution, kaum begonnen, preisgab. Sie hat die Zukunft der Gegenwart nicht geopfert, sondern verraten.¹¹¹

Neben der Katastrophe, die sich in Geschichte und Politik zunächst vom Schicksal zum generellen Bruch wandelt, die einen neuen Erfahrungsraum öffnet und den Menschen zugleich erschüttert, aber auch direkt anspricht (der Mensch wird durch die Sozialität der Katastrophe vom Objekt zum Subjekt), und die im 20. Jahrhundert zur Gewissheit wird, gibt es eine Vorstellung von der Katastrophe, die dem Gedanken

 Spengler, Oswald: Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1933, S. 11.  Mühsam, Erich: Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 16. Februar 1922 [1922], in: ders. Tagebücher. Bd. 10: 1922, hrsg. von Chris Hirte und Conrad Piens, Berlin 2016, S. 77– 80, hier S. 79 f.

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der Zerstörung treu bleibt und dem Bild der Ruine.¹¹² Erdbeben verursachen Umwälzungen, aber auch Erinnerungszeichen. Die Ruinen, die die Katastrophen hinterlassen, stehen seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr für die Zerstörungskraft der Katastrophe selbst, sondern für die Frage, ob die Menschen in der Katastrophe ihre Moralität bewahren konnten (oder vielleicht wiedergewonnen haben). Die Ruine, erörtert Georg Simmel, wirke häufig tragisch […], weil die Zerstörung hier nichts sinnlos von außen Kommendes ist, sondern die Realisierung einer in der tiefsten Existenzschicht des Zerstörten angelegten Richtung.¹¹³

Simmel fragt in seinem Essay nach der Relation von „Formen“: Mit der Feststellung, dass es in der Moderne zu einem „Frieden“ zwischen „dem Willen des Geistes und der Notwendigkeit der Kultur“ gekommen sei, sucht er die „Balance“ zwischen Materie und Geistigkeit zu verstehen – und grundlegend zu dekonstruieren. Denn jene „Balance“ beweise die Handlungsfähigkeit des Menschen, doch dort, wo ein Gebäude zerfalle, werde erkennbar, dass die Materie ihre eigene Lebendigkeit bewahrt habe. Aber nur solange das Werk in seiner Vollendung besteht, fügen sich die Notwendigkeiten der Materie in die Freiheit des Geistes, drückt die Lebendigkeit des Geistes sich in den bloß lastenden und tragenden Kräften jener restlos aus.¹¹⁴

Was sich mit der Ruine zeigen lasse, sei eine Widersprüchlichkeit in der menschlichen Leidenschaft, Kultur zu schaffen. Weder Schicksal oder „heimliche Gerechtigkeit“ noch ein Zusammengehören von Aufbau und Einstürzen bestimmten die soziale Bedeutung der Ruine. Die Ruine stehe für das einstmalige Geschaffene, das Mögliche des Menschen, und doch auch für die Bereitschaft, dieses Werk zerfallen zu lassen. Sie stehe dafür, dass der Mensch eine Verbindung zwischen seinen Vorstellungen und der Natur schaffen kann –,

 Das Thema der „Ruine“ konnte hier nur angedeutet werden; diese Vernachlässigung betrifft vor allem die Studien Walter Benjamins. Siehe dazu unter anderem: Ruinenbilder, hrsg. von Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl, München 2002. Emde, Christian J.: Walter Benjamins Ruinen der Geschichte, in: Ruinenbilder, hrsg. von Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl, München 2002, S. 61– 87. Ruinen des Denkens – Denken in Ruinen, hrsg. von Norbert Bolz und Willem van Reijen, Frankfurt am Main 1996. Buck-Morss, Susan: The Dialectics of Seeing: Walter Benjamin and the Arcades-Project, Cambridge MA 1989.  Simmel, Georg: Die Ruine, in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, Leipzig 1911, S. 137– 146, hier S. 142.  Ebd., S. 138.

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Anders ausgedrückt, ist es der Reiz der Ruine, dass hier ein Menschenwerk ganz wie ein Naturprodukt empfunden wird.¹¹⁵

– doch darüber hinaus auch bereit sei, sein eigenes Werk der Vernichtung zu übergeben.¹¹⁶ Für Simmel liegt der „ästhetische Wert“ der Ruine gar nicht in der menschlichen Fähigkeit, die Natur als Kultur einzuholen, sondern in dem Aufzeigen eines Antagonismus in menschlicher Kultur. Der ästhetische Wert werde dabei letztlich von der Festlegung des Werts einer jeweiligen Ruine in Geschichte oder Kultur bestimmt. Der ästhetische Wert der Ruine vereint die Unausgeglichenheit, das ewige Werden der gegen sich selbst ringenden Seele mit der formalen Befriedigtheit, der festen Umgrenztheit des Kunstwerks. Deshalb fällt, wo von der Ruine nicht mehr genug übrig ist, um die aufwärts führende Tendenz fühlbar zu machen, ihr metaphysisch-ästhetischer Reiz fort. Die Säulenstümpfe des Forum Romanum sind einfach häßlich und weiter nichts, während eine etwa bis zur Hälfte abgebröckelte Säule ein Maximum von Reiz entwickeln mag.¹¹⁷

Hartmut Böhme hatte diese Überlegungen in seiner Studie zu Die Ästhetik der Ruinen aufgenommen, um zu betonen, dass Ruinen als kulturelle Figuren zunächst erst entdeckt werden mussten.¹¹⁸ Die Ruine sei nicht das Relikt der Katastrophe, sie gilt vielmehr als Relikt der Bedeutungen des Zerstörten und hat erst mit der Überzeugung, dass Zerstörungen auch wiederaufgebaut werden können, eine Kodifizierung als ästhetische Figur gefunden. Die Ruine verweist auf die Zeitlichkeit menschlicher Existenz, auf das menschliche Streben, seine zeitliche Existenz durch Kultur zu überwinden, und die Möglichkeit der Aufhebung von Zeit in Erinnerung und Erzählung. Als Referenz löst die Ruine die Räumlichkeit des einstmaligen Lebens auf und ersetzt diese durch symbolische Bilder.¹¹⁹ Die Ruine markiert einen bestimmten Moment der Zerstörung, die Dauer einer Gewaltpolitik oder den Verlauf der Zerstörungen und Verletzungen; reduziert aber auch auf ein statisches (und ruhiges) Muster, das zu der überwältigenden, lauten Eskala-

 Ebd., S. 140.  Ebd., S. 142 ff.  Ebd., S. 144.  Böhme, Hartmut: Die Ästhetik der Ruinen, in: Der Schein des Schönen, hrsg. von Dietmar Kamper und Christoph Wulf, Göttingen 1989, S. 287– 304.  Diese zeigten besonders eindrücklich die Fotografien von Chris Schwarz, vgl.: Webber, Jonathan / Schwarz, Chris: Rediscovering Traces of Memory. The Jewish heritage of Polish Galicia, Oxford/Bloomington IN u. a. 2009.

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tion des katastrophischen Ereignisses im Widerspruch steht.¹²⁰ Die Erinnerung an ein Gewaltereignis anhand des Zugriffs über eine Ruine reduziert die Komplexität des Gewaltelements;¹²¹ sie imaginiert, dass die Nachfolgen sichtbar und mit der Sichtbarkeit vermessbar seien; zudem in den Trümmern eine Zerstörung und Gewalt zurück in die Geschichte integriert wird und zu ihrem Frieden finden kann. Während man nicht generalisiert davon sprechen kann, dass die Ruine ein Schlüsselbild der Katastrophe ist, ist sie vielleicht doch eines für bestimmte, mit der Katastrophe verbundene Verweisungszusammenhänge. Bemerkenswert ist, dass in Diskurserzählungen, mit denen ein bestimmtes Relikt oder bestimmte Ruinen mit dem Ereignis einer Katastrophe verbunden werden, die Ruinen nicht materiell existieren müssen. Der „Untergang der Stadt Rom“ hat ebenso nur fiktive Ruinen wie das Erdbeben von Lissabon. Den Ruinen der Katastrophe scheint ihre diskursive Schlüsselfunktion nicht bedingend durch eine besondere Form oder Struktur ihrer Gestalt zuzukommen, sondern da sie sich als ein Element einordnen lassen in narrativierbare Ensembles von Zerstörung und Geschichte, welche sich zu Dispositiven im Sinne Foucaults¹²² schließen. Im Narrativ der Katastrophe markieren Ruinen die Transzendenzen und Erfahrungsbegrenzungen.¹²³ Ihre Bedeutung gewinnen sie als „Kollektivsymbole“; erkennbar werden sie „in der sozialen Reaktion“, im möglichen „Einfluss“ auf kollektive Wahrnehmung, Orientierung und kollektives Handeln.¹²⁴ Die Katastrophe ist das vom Menschen nicht Verhinderbare oder nicht Verhinderte, das Unvorhersehbare, Überwältigende. Katastrophen stellen jedoch die Geschichte nur kurz still. Die Reintegration der Katastrophen in die Entwicklung sozialer und politischer Gemeinschaften vollzog sich in enger Wechselwirkung zur Entstehung eines modernen Wissens. Das seit dem 18. Jahrhundert in die Auffassungen von Katastrophen integrierte astronomische, geophysikalische und medizinische Wissen, ergänzt durch unterschiedliches Spezialwissen, das von der Ent-

 So auch Meiner, Carsten / Veel, Kristin: Introduction, in: The Cultural Life of Catastrophes and Crisis, hrsg. von dens., Berlin/Boston 2012, S. 1– 12, hier S. 1.  Vgl. dazu auch die Überlegungen von Veena Das zu „Feeling of Pastness“ in: Life and Words. Violence and the descent into the ordinary, Berkeley CA u. a. 2007, S. 97 ff.  Foucault, Michel: Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräch mit Angehörigen des Dêpartement de Psychanalyse der Universität Paris VIII in Vincennes, in: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 118 – 175, hier S. 119.  Soeffner, Hans-Georg: Protosoziologische Überlegungen zur Soziologie des Symbols und des Rituals, in: Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften, hrsg. von Rudolf Schlögl, Bernhard Giesen und Jürgen Osterhammel, Konstanz 2004, S. 41– 72, hier S. 55.  So Hans-Georg Soeffner im Anschluss an Karl Jaspers; ebd., S. 59 (die Zitate sind im Original kursiv).

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stehung des Versicherungswesens bis zur Organisation von Katastrophenschutz und Katastrophenhilfe in unserer Gegenwart reicht, löste die Unsicherheit darüber, welche Bedeutung Katastrophen in der Geschichte haben, zunehmend auf. In geschichtsphilosophischen und kulturpolitischen Schriften der Zwischenkriegszeit (über die man noch immer streitet, ob man sie als Wegbereiter der nationalsozialistischen Gesellschaftsutopie verstehen darf ¹²⁵) findet sich eine Katastrophe, die Politik und Kultur betrifft.¹²⁶ Die Bedeutung dieser Figur liegt aber nicht nur darin, auf der Basis eines linearen Geschichts- und Entwicklungsdenkens ein Gleichgewicht dadurch zurückzuerlangen, dass man versucht, die prognostizierten Prozesse zu verlangsamen oder sie durch eine radikale Beschleunigung einzuholen. Die appellative Rede von der Katastrophe macht auch den Gedanken möglich, dass die konflikthaften Prozesse erst befriedet werden, wenn ein durch die Katastrophe verursachter Bruch den Entwicklungsverlauf durchschlägt. Der Krisenbegriff und ein jeweils zeitgenössischer Eindruck einer Krisenerfahrung seien, so hatte Koselleck notiert, ebenso zur Zeitdiagnose wie „zum Dauerbegriff für ‚Geschichte‘ schlechthin“ geworden.¹²⁷ Krise und Katastrophe sind als „strukturelle Signatur der Neuzeit“¹²⁸ zu verstehen, wo ein politischer Verlauf als nicht mehr korrigierbar gilt, eine Krisenerfahrung als allgemein angenommen wird und allein noch ein prognostiziertes Unheil jenen Umbruch verursachen kann, der die Menschen zurück in den angemessenen Lauf der Zeit führen wird. Geht dieses Deutungsnarrativ nahtlos über in die politische Erzählung der 1930er Jahre von der Katastrophe, die notwendig ist, um auf bedeutende Umwälzungen antworten zu können? Arthur Moeller van den Bruck erörtert in seiner Studie Das Dritte Reich (1923): Es wäre Tragödie, es wäre Katastrophe, es wäre unser Untergang, wenn unsere Probleme in einer neuen deutschen Problematik stecken blieben, die diesmal praktisch sein würde, wirtschaftspolitisch eine Problematik unserer gehemmten, eingezwängten, niedergehaltenen Kräfte, denen die Bewegungsfreiheit fehlt. Aber wenn uns gelingt, diese Probleme durch alle Wirrungen hin zu einer Lösung zu bringen, die wirklich ist, die bleibend ist, die überdauernd ist, dann wird von ihnen, von dem Beispiele einer neuen Staats- und Wirt-

 Vgl. dazu auch Vollnhans, Clemens: Praeceptor Germaniae. Spenglers politische Publizistik, in: Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus. Aspekte einer politisierten Kultur, hrsg. von Walter Schmitz und dems., Dresden 2005, S. 117– 137.  Koselleck, Reinhart: Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1: A – D, hrsg. von Otto Brunner,Werner Conze und dems., Stuttgart 1972, S. xiii – xxvii, hier S. xviii.  Koselleck, Reinhart: Krise, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 3: H – Me, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze und dems., Stuttgart 1982, S. 617– 650, hier S. 627.  Ebd.

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schaftsordnung aus, die wir aufrichten, eine ungeheure Werbekraft auch auf andere Völker ausgehen, eine Werbekraft, gegen die unsere Gegner am Ende völlig machtlos sind.¹²⁹

In den Werken des konservativen Publizisten Moeller van den Bruck ebenso wie in den kulturmorphologischen Schriften von Oswald Spengler ist die Katastrophe nicht Unfall, Resultat oder Zwischenspiel, sondern selbst eine geschichtliche Figur. Auch für Spengler dient die Einschreibung verschiedener historischer Tempi als ein zentrales Analyseargument: Eine „Bewegungstendenz“ sei erst mit der Neuzeit auf abendländischem Boden entstanden und habe sich der orientalischen, eher statischen Zeit entgegen entwickelt.¹³⁰ So seien Kriege und Katastrophen der „Grundstoff unserer Geschichtsschreibung“. Zwar gelten die „Erstürmung der Bastille, Valmy, Austerlitz, Waterloo und der Aufschwung Preußens“, bereits die antiken „Schlachten von Chäronea und Gaugamela“, der „Zug nach Indien“ oder der römische „Sieg bei Sentinum“ als Symbole von Zeitenwenden. Doch seien es nicht diese einzelnen Geschehen gewesen, die solche Zeitenwenden verursacht hätten.¹³¹ Zeitenwenden ließen sich hingegen beschreiben durch übergreifende Brüche zwischen Natur und Geschichte, dadurch bedingte jeweilige Neudefinitionen von Vergangenheit und Zukunft sowie durch die Ablösung von Generationen. Politische Zeitenwenden würden dort gestaltet, wo Geschichte sich von „widerfahrenem“ zum „gewollten Schicksal“ wandelt,¹³² wo die Fragen der Politik als geklärt gelten, wo eine Art zu leben sich entwickelt, die „keine Rätsel mehr kennt“, und sich eine soziale Verräumlichung zeigt, in der eine Entfernung vom Boden nicht mehr kompensiert werden müsse.¹³³

 Moeller-van den Bruck, [Arthur]: Das Dritte Reich, Hamburg 1931 (3. Aufl.; zuerst 1923), S. 77.  „Das orientalische Bild war ruhend, eine geschlossene, im Gleichgewicht verharrende Antithese, mit einer einmaligen göttlichen Aktion als Mitte. Von einer ganz neuen Art Mensch aufgenommen und getragen, wurde es nun plötzlich […] in Gestalt einer Linie fortgesponnen, die von Homer oder Adam […] über Jerusalem, Rom, Florenz und Paris hinauf oder hinab führte, je nach dem persönlichen Geschmack des Historikers, Denkers oder Künstlers, der das dreiteilige Bild mit schrankenloser Freiheit interpretierte“; in: Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Bd. 1 (Anm. 106), S. 25.  Ebd., S. 198.  Ebd., S. 176.  „Diese Bevölkerungen haben keine Seele mehr. Sie können deshalb keine eigne Geschichte mehr haben. Sie können höchstens in der Geschichte einer fremden Kultur die Bedeutung eines Objektes erhalten […] Was auf dem Boden alter Zivilisationen überhaupt noch geschichtsartig wirkt, ist also nie der Gang der Ereignisse, insofern der Mensch dieses Bodens selbst in ihnen mitspielt, sondern insofern andre es tun“; in: Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes.

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Zwar seien Krisen und Katastrophen in jede Kultur eingeschrieben, daher würden sie nicht selbst politische Brüche oder historische Epochenbrüche verursachen. Der katastrophische Umbruch werde aber insbesondere dort herausgefordert, wo eine Entfremdung der Politik diagnostiziert wird von den dynastischen Verhältnissen und dem Schicksal Einzelner, eine Entfernung des Rechts von den sozialen Verhältnissen, eine Differenz zwischen den politischen Grenzen und dem notwendigen Raum des kulturellen und geschichtlichen Lebensschicksals.¹³⁴ Unübersehbar spielen in Spenglers Verständnis der historisch-sozialen Krisen und seiner Prophezeiung einer kulturellen Katastrophe auch biologische und psychologische Krisenvorstellungen hinein. Beide Vorstellungen stärken das von ihm präsentierte Bild, dass kulturelle Verarmung sowie soziale und kulturelle Überfremdung das Risiko eines Entwicklungsstillstands hervorrufen – der allein noch durch die drohende Katastrophe in eine andere Richtung umgebrochen werden könne. Die Figur der Katastrophe dient ihm nicht als Form, eine Lesbarkeit der Zeit bereitzustellen. Sie ist nicht Diagnose, sondern eine Wissensstrategie, die die Loslösung aus der Gegenwart eröffnet. Dabei korrespondiert die Katastrophe kaum mit ihrer Zeit, hingegen führt sie Zeitbrüche in die Narrationen ein, um Orte und Zeit der Gegenwart verlassen zu können. Der Einführung der Figur der Katastrophe in eine Gegenwartserzählung ist stets auch dieses Element einer Bewegung in die Zukunft eigen: Zwar beinhaltet die Katastrophe auch Bilder von Trümmern, aber sie ist keine Erinnerungserzählung. Das Ergebnis der Katastrophe ist nicht ein Gedächtnis, sondern eine katastrophische Zukunft.

4 Die Katastrophe als Wissensfigur Hans Dominik (1872– 1945), dessen Romane bis in die 1970er Jahre populär waren, nutzte als Eingangsmoment seiner Romane und dynamisierendes Moment der Erzählung häufig die Beschreibung einer menschlichen Naivität gegenüber der zerstörerischen Wirkung von Katastrophen. In den Romanhandlungen werden Passivität und Irrglaube in Bezug auf die Schicksalhaftigkeit der gesellschaftlichen Entwicklungen gegenüber der Handlungsmacht Einzelner aufgewogen. Die alles bedrohende, das Erbe von Generationen vernichtende und doch auch eine neue Zukunft versprechende Katastrophe, die Dominik in den Blick nahm, war für

Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. 2: Welthistorische Perspektiven, München 1922 (31.–42. Aufl., zuerst 1922), S. 60 f.  Ebd., u. a. S. 415, 465, 475, 494.

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ihn nicht als Ereignis natürlicher Ursachen denkbar, sondern allein als Geschehen, das über das menschliche Eingreifen in die Natur geschehen werde. Im Roman Atlantis (1925), der im Jahr 2000 spielt, wird das Weltgeschehen von drei Machtblöcken bestimmt: dem europäischen Staatenbund, einem afrikanischen Kaiserreich und einem amerikanischen Reichsverbund. Der afrikanische Kaiser Augustus lässt am Tschadsee einen tiefen Schacht in die Erde bohren, um Karbid zu fördern und die afrikanische Wirtschaft zu stärken. Zeitgleich verfolgt eine amerikanische Minengesellschaft die Verbreiterung des Panamakanals durch Sprengungen. Ein Krieg droht. Zugleich droht Unglück (trotz der europäischen Warnungen) durch die Sprengungen. Die Katastrophe geschieht: Eine Landbrücke bricht zusammen, der Golfstrom wird umgeleitet. Die kippende Kraft der hier im tropischen Gebiet übermächtigen Flutwelle war die Ursache der Katastrophe nach der Meinung der einen. Der plastische Simauntergrund, vom wegtreibenden Amerika-Kontinent gezerrt, die Atlantisscholle einsaugend in gigantischem Erdbeben, verschlingend, so lautete die Meinung der anderen. Eine dritte Meinung noch, an die Apokalypse in der Bibel anknüpfend, daß ein Mondgestirn der Erde niederstürzend Atlantis begrub oder ein neu eingefangener Mond, die Erdachse aus ihrer Lage drängend, die Katastrophe durch stürzende Meeresfluten bedingte.¹³⁵

Der Roman zeigt eine Gesellschaft, die sich durch Blindheit gegenüber den Nebenfolgen des technischen Fortschritts, durch ein Festhalten an überkommenen Sozialstrukturen und einen Verlust von Werten selbst in den Untergang führt. Keine Lösung, die befriedigen, sichere Antwort geben konnte auf das, was jetzt zu erwarten stand. […] Ein Fiebertaumel hatte die ganze Welt ergriffen. Unaufhörlich kamen Meldungen und Bilder der Berichterstatter von den Azoren. Ihre Flugschiffe kreisten in immer größer werdendem Schwarm über dem Atlantik. Sie hielten sich niedrig, die Kamera so nahe als möglich auf das Objekt gerichtet. Sahen nicht das einsame Flugzeug, das hoch, weit über ihnen, an des Äthers Grenze, still in Riesenkreisen dahinzog.¹³⁶

In Nordeuropa kommt es zu einer Panik, eine neue Völkerwanderung Richtung Süden beginnt. Kaiser Augustus versucht, um sein Ziel der Rassengleichheit zu erreichen, Südafrika zu bewegen, möglichst viele Nordeuropäer aufzunehmen. Währenddessen nimmt die Katastrophe jedoch ihren weiteren Verlauf. Eine Region in der Nähe von Spitzbergen hebt sich weiter aus dem Meer, ebenfalls eine Region in der Nähe Rügens: Dies aber sind Ergebnisse einer Wunderwaffe, ge Dominik, Hans: Atlantis, Leipzig 1925, S. 311.  Ebd.

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steuert durch einen hypnotischen Charakter, durch teleenergetische Konzentration. Verursacht durch die Landverschiebungen und das Nebeneinander ökologischer und sozialer Zusammenbrüche entsteht auf altem Land ein neues Land: Atlantis. Auf diesem Atlantis wird ein „Neu-Hamburg“ gegründet: Und zwischen dem neuen Atlantis und der Neuen Welt das breite, blaue Wasser des Golfstroms … Die Welt, wie sie einst war, als älteste Sage begann … […] Atlantis! Der Schrei ging durch die ganze Welt. Neues Land! Neues Leben! Hin zu ihm! Kaum konnten die Schiffe die Massen fassen, die herandrängten zu dem Land, das der Menschheit neu geboren. Neuland für Millionen. Neue Stätten für die Menschheit! Wer als erster kam, war ihr Besitzer. Herrenloses Land, das da lag, keiner Weltmacht untertänig. Frei … Beute der ersten, die da kamen, die Hand darauf legten, die Flagge hißten. […] Ein neuer Mensch, den es drängte zu neuem Leben, […] Vom alten Land zum neuen Atlantis!¹³⁷

Das neue Land gibt einen neuen Raum frei, damit auch die Chance für einen neuen Menschen – es ist hier sicherlich ein Anklang an koloniale Visionen zu entdecken, die nun in die Zukunft verlegt werden. Dabei ist das Siedlertum bei Dominik weder technikfremd, noch von der Idee des Rückzugs in eine Idylle charakterisiert. Hier ist fraglos eher ein Anklang an bevölkerungspolitische Ideen zu sehen. Die Vernichtung der Gegenwart ermöglicht die Chance, deutschsprachige Kultur und Zukunft wieder zu vereinen, durch den neuen Raum auch die Zeit zurückzugewinnen. Die Gewissheit der Katastrophe wird auch in einem narrativen Essay des österreichischen Schriftstellers Ludwig Bauer (1876 – 1935) deutlich gemacht: Wenn heute zwangsweise nach Deutschland alles Gold der Erde gebracht würde, so könnte auch dies nicht helfen; […] Banktechnik und Darlehen verschieben nur allenfalls ein wenig das Datum der Katastrophe.¹³⁸

Zwar diskutiert Bauer unterschiedliche Ursachen, doch ob eher eine Weltkatastrophe oder doch Ursachen deutscher Politik in den Untergang führen werden, sei letztlich unwesentlich. Die Katastrophe wird in den Zukunftsromanen nicht als literarische Metapher eingeführt, noch dienen die Beschreibungen als Allegorie. Die Erzählungen markieren eine Erwartung, die in den literarischen Werken aufgenommen und gezielt unterstützt wird. Beschrieben wird die Unruhe im

 Ebd., S. 315 ff.  Bauer, Ludwig: Morgen wieder Krieg. Untersuchung der Gegenwart. Blick in die Zukunft, Berlin 1932, S. 1 f.

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Warten auf das kaum aufschiebbare, auf jeden Fall sicher eintretende und nahe Epochenereignis. Dabei ist es die Wechselbeziehung zwischen der neuen Zeitvorstellung, die von der Idee einer historischen Einheit der Welt gelöst ist und damit nicht mehr auf ein geschichtliches Werden, sondern die menschliche Schaffenskraft verweist, und dem Denken eines Zusammenhangs zwischen zeitlichen und sozialen Dynamiken, die in der Zwischenkriegszeit ein Vertiefung findet.

(a) abgewiesene Zeit Der überraschenderweise bis heute eher unbekannt gebliebene expressionistische Schriftsteller Franz Jung (1888 – 1963) gibt der Zeit in seinem Roman Der Sprung aus der Welt (1918) einen überwältigenden Charakter. Jung beginnt den Roman mit der Schilderung des Tempos der Eisenbahn, deren besonderen Rhythmus er beschreibt und in einen Vergleich zur Naturgewalt (Flut) setzt, um den Einfluss dieses neuen Rhythmus auf Erfahrungen und Gefühle darstellen zu können. Auch die veränderte Wahrnehmung von Selbst wird auf der Feststellung des neuen Rhythmus basiert. In den Gegensatz zur Eisenbahn setzt er die Bewegung einer Spinne, die zur Metapher wird für den in der neuen Zeit verlorenen Menschen. Draußen rollt unabänderlich die verdammte Bahn. Verzweiflung schwillt. Die Flut. Die Verzweiflung. Unzweifelhaft die Flut. Die ungeheure Flut. Die Verzweiflung – Eine Spinne läuft die Kante runter. Merkwürdig schmale, entsetzliche Spinne, Lebewesen wie alle –, die Menschen, ein guter Mensch, eine liebe gute Spinne. Das Hirn pfeift. Eingeklammert. […] Die Bahn rollt. Draußen schweben Bäume, Blüten, gleitende Sehnsucht in starrer Schwere der Akazien. […] unter die Räder! Solange die Bahn rollt! In jener winzigen Entspannung, die das Grauen allein ist, die Angst flattert […] Die Flut steigt. […] Im Blut die Fanfaren meines jüngsten Gerichts. (Bahn kreist, Blut rollt, Hirn kantert eine Spinne.)¹³⁹

Rhythmus und Geschwindigkeit der Bahn, die zur Kraft wird und das Sein überwältigt, werden als Zeit erfahren. Diese schreibt sich in die Menschen ein, integriert sie jedoch nicht, sondern macht sie fremd. „Es war schon geschehen“,¹⁴⁰ so durchbricht Jung im Roman eine Sequenz, um zu verdeutlichen, dass Erinnerungen und Handeln in einer angenommenen Gegenwart nicht mehr zum Eindruck einer inneren Dauer oder verstehbarer Abläufe synchronisiert werden können. „Eine große Spanne Zeit glitt von ihm ab“, so beschreibt der Autor in der  Jung, Franz: Der Sprung aus der Welt. Ein Roman, Berlin 1918, S. 7 f.  Ebd., S. 98.

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Folge einen Gang des Protagonisten zu seinen Eltern, der keine Versöhnung mit einer Erinnerung sein wird.¹⁴¹ Um die Darstellung von Zeit als Erlebnisaspekt deutlich zu machen, hebt Jung sie explizit von der dargestellten Zeit ab und fügt auf einer einzelnen Seite in die Romanhandlung eine „Erläuterung“ ein: Wenn der Vorsatz einer Nebeneinander-Darstellung, denn zu einer Gesamtbehandlung in Gleichzeitigkeit reicht das Gleichgewicht unserer Einführung bei weitem noch nicht, durchgeführt werden soll, so muß jetzt der Verfasser sozusagen noch einmal von vorn anfangen.Wenn auch nicht ganz von vorn, etwa in der Mitte des so eben Dargestellten setzt das Nachfolgende ein. Es vermischt sich durchaus nicht, greift keinesfalls, wie so mancher jetzt denken mag, ineinanderüber – wo das geschieht, wird der Leser besonders aufmerksam gemacht werden, für den Fall, daß er es nicht schon an einer zunehmenden Unruhe im Stil merkt. Um auch das gleich vorwegzunehmen: in einem weiteren Abschnitt wird eine weitere gleichfalls gleichzeitige Geschehnisreihe für sich abgeschlossen als besonderer Tatbestand hervorgeholt, ausgebreitet und später wieder eingewickelt werden.¹⁴²

(b) verkürzte Zeit Während Jung eine Ausdehnung von Zeit gegenüber der Beschleunigung thematisiert, ist die auffallendste Figur der Zukunftsromane eine Verkürzung. Dem zeitgenössischen Prozess der „Verkürzung“ von Zeit wird in den Romanen zum Teil hochspannend Raum gegeben. In dem Roman Die Macht der Drei (1922) von Hans Dominik geht es erneut um eine Wunderwaffe (eine Strahlenwaffe), diese ist in den Händen der Guten. Ferner um telekinetische Energie, die sowohl in der Macht des Guten wie des Bösen ist. Die Guten begegnen mit einer Gruppe von drei generational sich ergänzenden Männern: Ein junger Deutscher mit geheimnisvoller Identität, Sylvester Bursfeld oder „Logg Sar“, steht im Zentrum des Romans. Er ist Sohn eines deutschen Ingenieurs und einer blonden Kurdin. Die Eltern hatten sich während der Beschäftigung des Vaters bei mesopotamischen Bahn- und Bewässerungsbauten kennengelernt und geheiratet. Sylvester, in der Wüste geboren und als Waise in Tibet aufgewachsen, wird begleitet von einem älteren schwedischen Freund, Erik Truwor, sowie einem telekinetisch begabten Inder, Soma Atma. Der Gegenspieler, der das Böse in seinem Handeln, aber auch bereits in seiner physischen Gestaltung verkörpert (hier ist durchaus ein antijüdisches Stereotyp nachgezeichnet), begegnet mit Doktor Edward Glossin. In den Beziehungen dieser vier Personen entscheidet sich das Schicksal der Welt.

 Ebd., S. 99.  Ebd., S. 44.

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Dominik beschreibt eine politische und ökonomische Weltkrise und einen Weltkrieg, in dem er Armeen unterschiedlicher Staaten gegeneinander antreten lässt. Das Schicksal ging seinen Weg. Der Krieg war ausgebrochen. Englische und amerikanische Luftstreitkräfte waren an den verschiedensten Punkten der Welt zusammengeraten. Die große englische Schlachtflotte hatte ihren Hafen verlassen, um die amerikanische Ostküste anzugreifen. Die amerikanische Flotte war ihr entgegengefahren. Nur noch vierundzwanzig Stunden, und es kam zu einer gewaltigen Schlacht mitten im Atlantik.¹⁴³

Während des Weltkrieges haben sich die drei Freunde, die mit einer Strahlenwaffe gen Norden geflohen sind, aufgrund einer Fehleinstellung der Waffe unglücklich selbst in einem Eisberg eingeschlossen. Während der Krieg tobt, arbeitet Sylvester im Eisberg pausenlos an der Befreiung der Drei und der Neukalibrierung der Waffe. Die physische Erschöpfung der Protagonisten wird als Metapher für die tobende Schlacht gesetzt. Die Menschheit da draußen wollte Kampf und Mord. […] Die vollkommene Stille, die hier in den Regionen des ewigen Eises herrschte, wurde nur durch das leise Ticken der Funkenschreiber unterbrochen.¹⁴⁴

Der Einsatz der Strahlenwaffe schließlich verursacht eine neue Gewalt, beendet aber den Krieg und öffnet die Chance für eine neue Politik, frei von Diktatoren und totalistischen Gesellschaften. Dominik versucht, was literarisch letztlich vielleicht nicht überzeugend gelingt, der Geschwindigkeit des Schlachtgeschehens das gewaltvolle, aber eigentlich langsame Zerschmelzen der Kriegsschiffe durch die Strahlenwaffe entgegenzusetzen. Da zog es in einer unendlichen Linie heran. Panzer und Panzerkreuzer, Torpedoboote und Torpedojäger, Flugtaucher und Unterseepanzer. Es rauschte durch die See, deren Wogen sich vor dem Bug der kompakten Masse aufbäumten und in stiebendem Schaum zerflockten. Es kam mit einer Geschwindigkeit von vielen Seemeilen in der Stunde durch die Fluten dahergerast. Die schweren Panzer standen halb schief, den Bug hoch über den Wogen, das Heck so tief in der See, daß das Wasser dahinter einen Berg bildete. Es war ein seltsames und ein grauenvolles Schauspiel. Diese Schiffe fuhren nicht mit eigener Kraft. Sie fuhren überhaupt nicht, wie Schiffe zu fahren pflegen. In regelmäßigem Abstand und in Formationen. Ihre eisernen Körper hingen zusammen, wie etwa eine Gruppe von Pfahlmuscheln, die ein Fischer vom Grunde losgerissen hat und durch das Wasser schleift. An den Seitenwänden des ersten schweren Panzers klebten, aus dem Wasser gehoben, drei Torpedoboote, wie die jungen Muscheln an den Schalen der alten. Der zweite Panzer haftete,

 Dominik, Hans: Die Macht der Drei, Berlin 1935 (zuerst 1922), S. 290.  Ebd., S. 292.

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um ein Drittel seiner Länge nach Backbord vorgeschoben, am ersten Schlachtschiff. So folgte sich die ganze gewaltige Schlachtflotte, zu einem einzigen, regellosen Block verquirlt, von einer unsichtbaren, unwiderstehlichen Gewalt durch die Fluten gerissen.¹⁴⁵

In der Katastrophe werden Elemente von Sinnverlust, Zerstörung und Gewalt narrativiert¹⁴⁶ – zugleich jedoch auch Wiederbeginn und positive Umwälzung. (c) Entgrenzung In den Zukunftsromanen begegnen nicht selten unverhältnismäßig und exzessiv entgrenzte Gewaltgeschehen, deren Narrativierungen allerdings kaum den Blick auf die Opfer zulassen, sondern die Ordnungen von Kultur und Gesellschaft in den Vordergrund rücken. Die Katastrophe kommt dabei nie überraschend, sie wird als Ereignis entworfen, dass das soziale und historische Wissen kaum mit Schock oder Sprachlosigkeit herausfordert. Nicht die Katastrophe ist die Herausforderung, sondern die Frage, wie eine Ordnung für Kultur und Gesellschaft gestaltet werden kann. Das Eintreten der Katastrophe bricht keine Handlungssicherheit. Sie erschöpft, aber setzt letztlich neue Handlungsmöglichkeiten frei. Besonders bemerkenswert ist, dass Grenzüberschreitungen als Risikofaktor für Unsicherheit und Katastrophen gelten, doch in den Romanen der Zwischenkriegszeit es die Grenzüberschreitung ist, die die Katastrophe gerade synchronisieren kann. Darum ließen sich geschichtliche Katastrophen nur bejahen, weil sie die Menschen wieder bis zur Voraussetzungslosigkeit aufwühlten und zu neuem Leben frei machten, und wenn schon alles wiederzukehren schien, so kehrt es doch anders wieder. Darin liegt unsere Freiheit vor der Geschichte, die keine festgelegte Vergangenheit bleiben kann, solange wir sie schöpferisch und geistig als unseren Weg in die Zukunft sehen.¹⁴⁷

Die Katastrophe wird, wie bei Spengler, „als Wende zweier Zeitalter zwischen Weltschöpfung und Weltuntergang“¹⁴⁸ denkbar. Wo Spengler erläutert, „daß in Kriegen und politischen Katastrophen, […] der Sieg nicht das Wesentliche eines Kampfes und der Friede nicht das Ziel einer Umwälzung ist“,¹⁴⁹ wird die Katastrophe zu einer „normale[n] Form, in der sich die großen Wendungen der Ge-

 Ebd., S. 303 f.  Walter, François: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 2010 (zuerst: Catastrophes. Une histoire culturelle XVIe – XXIe siècle, Paris 2008), S. 195.  Schwarz, Hans:Vorwort, in: Moeller van den Bruck[, Arthur]: Das Dritte Reich, Hamburg 1931 (3. Aufl.; zuerst 1923), S. xv.  Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Bd. 1 (Anm. 106), S. 25.  Ebd., S. 207.

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schichte vollziehen“.¹⁵⁰ Die Katastrophe ist eine integrierte Figur der politischen und moralischen Ordnungsvorstellungen. Sie fragt nicht nach dem Wirklichen, sondern fordert Verwirklichung. In den Zukunftsromanen der Zwischenkriegszeit begegnet die „Katastrophe“ in der Form von Technik- und Naturunglücken, insbesondere aber in der Form entgrenzter Kriege. Aufmerksamkeit verlangt, dass die Zerstörungen und Gewalt, so in den Romanen von Hans Dominik, als nicht zu verhindernde Entwicklung erscheinen – durch die es erst möglich sein wird, soziale Veränderungen zu erreichen. (d) Gestaltung Die „Katastrophe“ geschieht in den literarischen Werken keineswegs im Sinn einer utopischen Drohung, sondern sie wird als unausweichlicher Moment der Gegenwart entworfen. Erst nach der Katastrophe ist wieder „Geschichte“ möglich und eine Synchronisierung von Mensch, Kultur, Gesellschaft und Politik. Die Katastrophe ist nicht Möglichkeit, sondern Gewissheit. An die Seite der Eisenbahn, die während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in besonderer Weise für ein neues Drama stand, herausgefordert durch den Menschen selbst, reihten sich seit der Jahrhundertwende neue Feuer, Brände, Brückeneinstürze, Fluten, nicht zuletzt Schiffsunglücke, die als Katastrophe rezipiert wurden. 1903 fordert ein Feuer in der Metro Station Couronnes 84 Tote. 1910 tritt die Seine über die Ufer und setzt Paris unter Wasser. Erdbeben, Feuer, Überschwemmungen erscheinen nicht als Resultat menschlicher zivilisatorischer Eingriffe, sondern als Spiegel der politischen und sozialen Fehlentwicklungen. Sie verdeutlichen eine Gewalt, die gegen Kultur antritt und Identität vernichtet – letztlich aber einen Weg in die Zukunft freimacht. In Zeitungsberichten und dann auch zeitgenössischen literarischen Verarbeitungen wird auf die Konflikte zwischen der Entdeckung der Verletzlichkeit der neuen technischen Errungenschaften und den modernen weltanschaulichen Versprechen aufmerksam gemacht: Die Versprechen hatten die Partizipation in eine neue soziale und politische Ordnung, die Entdeckung der Institutionen, den Glauben an den technischen Fortschritt, das Vertrauen auf einen Zirkel der Zivilisierung beinhaltet.¹⁵¹ Die Katastrophe hatte trotzdem nicht mehr unterschiedslos betroffen, sondern gezeigt, dass die Versprechen der Modernität nicht mehr für alle galten. Die

 Ebd., S. 24 f.  Siehe dazu zum Beispiel: Sonntag, Lincoln: The Holocaust [1906], in: The Holocaust and Other Poems, Boston MA 1914, S. 10.

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Katastrophe, die zu Beginn des Jahrhunderts als apokalyptische Warnung erzählbar wird, ist nun Gewissheit, aber nicht mehr allgemeines Schicksal. Die Katastrophe trat nunmehr in bestimmten Abständen regelmäßig auf, bildete den Gegenstand von Voraussagen und nahm in den Statistiken einen immer größeren Raum ein. Täglich explodierten Maschinen, flogen Häuser in die Luft, stürzten vollbeladene Güterzüge auf einen Boulevard, rissen ganze Gebäudekomplexe nieder, erschlugen mehrere hundert Fußgänger, brachen durch den aufgerissenen Boden und zermalmten zwei oder drei Etagen, Werkstätten und Docks, in denen vielköpfige Schichtbelegschaften arbeiteten.¹⁵²

Wesentliche Veränderungen lassen sich mit dem Ersten Weltkrieg erkennen. Die Veränderungen, die mit dem Ersten Weltkrieg einhergehen, verschoben die Figur der Katastrophe nicht nur in den Rahmen von Politik und Geschichte, sondern veränderten auch gravierend die Stellung von Betroffenen, Zeugen und Zuschauern. Einerseits rückten die Zerstörungen selbst neu in den Blick. Nicht mehr der Bericht der Zuschauer und Davongekommenen oder die Namen der Toten bezeugen die Schrecklichkeit einer Katastrophe, sondern die Trümmer. Der Ruhm des Kriegers ersetzt das Bild des Opfers. Andererseits beginnt eine Reflexion von „Daseinsfragen“, die sich an Figuren von Katastrophe, Endzeit, Untergang oder Verfall entlanghangelt und die ihre politische, kulturelle und soziale Gültigkeit nicht als warnende Vision formuliert, sondern als direkte Mahnung zur politischen Gestaltung. Der Schriftsteller und Philosoph Karl Blüher, ein frühes Mitglied der Wandervogelbewegung, drückt dies so aus: Es ist keine Frage, daß der germanische Mensch durch die furchtbare Katastrophe seiner geschichtsverfallenen Abkömmlinge lebendiger geworden ist und sich sucht. Die Ausrottung jener wertvollsten Schicht, der preußischen Herrscherkaste, muß in den Übriggebliebenen den Willen zum Dasein steigern, aber zugleich den Willen zur Läuterung dieses Daseins. […] Also, meine Herren Germanen, Sie haben die Wahl : Entweder, Sie spielen weiter Tacitus Germania, Sie gebärden sich weiter „völkisch“, „deutsch“, Sie finden weiter Ihr blondes Aussehen unbeschreiblich schön, und stürzen mit tödlicher Sicherheit in den Abgrund der völligen Belanglosigkeit für die deutsche Kultur, so wie in Rubens Höllensturz die Verdammten. Oder aber, Sie entsagen mutig der ganzen Germantik, und werden von Stunde an je nach Begabung wirkliche Mitarbeiter am Werke des Reiches.¹⁵³

Was in den Zukunftsromanen der Zwischenkriegszeit zur Sprache kommt, ist bestimmt kein Interesse an einer Kulturgeschichte von Unglücken. In den Hin-

 France, Anatole: Die Insel der Pinguine, München 1908 (zuerst frz. 1908).  Blüher, Hans: Deutsches Reich, Judentum und Sozialismus. Eine Rede an die Freideutsche Jugend, Prien 1920, S. 15.

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tergrund tritt die Thematisierung von Katastrophen als Nebenfolge technischer Entwicklung. Formuliert wird hingegen ein Interesse am Verlauf von Geschichte, einer Geschichte, die unmittelbar von der Katastrophe gezeichnet ist oder gezeichnet sein wird – und: deren unmittelbare Aufgabe und deren Verlauf gerade durch die Katastrophe offenbart wird. Die Katastrophe ist nicht entgrenzende Herausforderung, sondern enthält, dies unverschlüsselt und verständlich, konkrete Handlungsanweisungen. Während Zeitvorstellungen von der Geschichte gelöst werden, damit die letztere neu gestaltet werden kann, finden auch die beiden Figuren von Katastrophe und Geschichte eine neue Verknüpfung. (e) Verschiebung Alfred Döblin bezeichnet in einem 1946 verfassten Rückblick die deutschsprachige Literatur der 1930er Jahre als an einem utopischen Machtanspruch orientiert. Utopie unterscheidet er von Religion und (Zwangs‐)Ideologie aufgrund eines bestimmten Verhältnisses zu Zeiten und Geschichte. Die Katastrophe soll zwar die Zukunft retten, sie steht jedoch nicht eigentlich bevor, sondern soll sich über die Vergangenheit senken. In dem Moment, in dem sie eintritt, liegt sie hinter dem Romangeschehen. Der utopische Machtanspruch ist auf die Erde gerichtet; die Welt soll nicht überwunden, sondern endgültig und radikal verändert werden. Es soll das Gegenteil von einer Sintflut erfolgen, aber die Neuerung soll über die ganze Vergangenheit wie eine Sintflut kommen.¹⁵⁴

Döblin stellt heraus, dass die „Utopisten“, und in diese Generation schließt er die Schriftsteller ein, von der Realität ihres Handelns überzeugt gewesen seien und sich als die „großen tätigen Realisten“ imaginiert hätten.¹⁵⁵ Was also ist eine Utopie? Es ist ein menschlicher Plan, die Geschichte zu unterbrechen, um aus der Geschichte herauszuspringen und zu einer stabilen Vervollkommnung zu gelangen.¹⁵⁶

Zur Wissensbasis dieser Selbstermächtigung habe die Überzeugung gehört, dass es einen Machtkörper brauche, die Zukunftsideen des 19. und 20. Jahrhunderts zu verwirklichen.¹⁵⁷ Ferner sei die Denkfigur wirksam geworden, dass ein „Saltomortale“ notwendig werden müsse: in die Geschichte „hinein“ zu springen, sie zu

 Döblin, Alfred: Die deutsche Utopie von 1933 und die Literatur [1946], in: ders.: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur, Frankfurt am Main 2013, S. 369 – 405, hier S. 370.  Ebd.  Ebd., S. 369.  Ebd., S. 374.

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verändern, um eine neue Geschichte beginnen zu können.¹⁵⁸ In der utopischen Überzeugung der literarischen Generation der 1930er Jahre hätten sich feudale deutsche Geschichtsträume und Ressentiments mit der Idee des entscheidenden Moments getroffen, aber auch mit der realen Bereitschaft der Einzelnen, ihre Privatheit aufzugeben für die politischen Ziele der Nationalsozialisten. Döblin führt einen weiteren Aspekt an, indem er auf den Eindruck einer „Verschachtelung“ von Zeiten aufmerksam macht. Es liegt eine Verschachtelung, ein Ineinanderschieben von Zeiten, von geschichtlichen Perioden vor. Dies hat einen allgemeinen Grund. Das Denken, die Probleme, die Ausdrucksformen sind viel zäher, langsamer und daher älter als die gleichzeitigen technischen und ökonomischen Einrichtungen einer Zeit.¹⁵⁹

Döblin erörtert für diese Zeit der 1930er Jahre eine Situation, in der in den zahllosen technischen und sozialen Neuerungen eine Unruhe gespürt wird und ein „Ineinanderschieben“ als Eindruck entsteht, unter dem sich eine Gruppe von Schriftstellern, die sich die Rolle der tätig Handelnden zuschreiben, als unbeweglich zeigt, festhaltend an der Idee der Restitution von Vergangenheit.¹⁶⁰ Im „Zukunftsgewitter um 1933“ habe diese Gruppe der Schriftsteller dem Ziel, „das utopische Reich einer nordischen Herrenrasse“ zu errichten, kaum standgehalten.¹⁶¹

5 Schlussbetrachtung Die Katastrophe steht als kulturelles Bild, narratives Muster und narrativierbare Sequenz für Leitdifferenzen von Kultur und Natur, für Ungleichgewichte zwischen Ordnung und Sein sowie für das Scheitern von Synchronisierungsversuchen. In der Katastrophe hat sich – in der Gegenwart – eine Entwicklung aus der Vergangenheit gegen eine erwartete Zukunft verschworen, und zwar so, dass die Messinstrumente versagen. Gerade ein Orientierungsverlust subjektiver Zeit sowie das Versagen der Messinstrumente stehen konkret für die durch die Katastrophe verursachte menschliche, soziale und kulturelle Unordnung. Im Verständnis der „Katastrophe“ der Zwischenkriegszeit begegnen nicht überkommene Bedeutungsmuster, unsichere Handlungsrahmen und religiöse

 Ebd.  Ebd., S. 379 f.  Ebd., S. 381.  Döblin differenziert diese dem NS nahe Gruppe als „feudalistische Gruppe“ von einer „humanistisch bürgerlichen“ und einer „progressiven“ Gruppe.

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oder traditionelle Sinngehalte, sondern Versuche, technische Möglichkeiten und politische Handlungsräume zu testen. Die Integration der Figur der „Katastrophe“ in die wissenschaftliche Betrachtung hatte dort begonnen, wo die Katastrophe als ein historischer und sozialer Aspekt gesellschaftlicher Entwicklung erkannt wurde und dabei nicht die Risiken, sondern die Entscheidungslagen als Moment aufgedeckt worden sind, der etwas über jeweilige Definitionen von Kontinuität und Vulnerabilität aussagt, über soziale, ökonomische, kulturelle oder naturbedingte Bedingungen. In den Romanen geschieht dies über die Nachverfolgung einer auffallend basalen Vorstellung von Gesellschaft: Menschen formen als Individuen eine politische Entität, die durch eine bestimmte moralische Ordnung charakterisiert ist, wobei diese Ordnung eine Entwicklung durchlaufen hat und im Vergleich zu anderen Ordnungen (zur kosmischen Ordnung, politischen Ordnung, Völkerordnung, Raumordnung) betrachtet werden kann. In die Widersprüche, die zwischen moralischen und sozialen Ordnungen festgestellt werden, tritt dann die Katastrophe ein.¹⁶² Die Stärke endzeitlicher Narrationen ist zweifellos nicht zu verstehen ohne eine Erörterung der geschichtlichen Erwartung, aber auch nicht ohne Berücksichtigung, dass mit der Apokalypse die Enthüllung oder Aufdeckung von Verhältnissen verbunden wird. Die Katastrophe kann durch politische oder soziale Bewegungen ausgelöst werden, aber sie folgt letztlich einem eigenen Rhythmus, einer eigenen Zeit, und ist dadurch in der Lage, Handlungsräume zu eröffnen, die sich in der Kontinuität von Entwicklungen nicht unbedingt eröffnet hätten. Die Katastrophe selbst hat unterschiedliche Zeiten – vor allem durchbricht sie die konventionalisierte Normalzeit. Sie ist schneller oder langsamer, nicht selten jedoch beides zugleich. Als Metapher erlaubt sie eine Normalisierung des Denkens des Außergewöhnlichen und Entgrenzten. Dabei deutet die Katastrophe im Gegensatz zum Muster der Krise nicht auf die potenzielle Vulnerabilität von Gesellschaften. Hingegen deutet sie auf differente Kräfte, die den Handlungsraum der Menschen eingeengt haben (Sozialisten, Kommunisten, Juden, Finanzmagnaten, Journalisten …), und verspricht, dass nach den zu erbringenden Opfern eine Freiheit neuer Qualität lockt.

 Charles Taylor hat diesen Aspekt der Ordnung als einen der wesentlichen politischen Veränderungen von der Vormoderne in die Moderne benannt: dass in der Auflösung der unterschiedlichen vormodernen, zumeist hierarchischen Ordnungen von kulturellen und sozialen Lebenswelten eine Idealisierung des Gedankens naturrechtlich basierter Ordnungen entstanden sei. Taylor, Charles: Modern Social Imaginaries, in: Public Culture Jg. 14 (1), 2002, S. 91– 124, hier S. 95.

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Die in den Romanen narrativierten Katastrophen sind eng integriert in Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen öffentlichen und politischen Diagnosen. Überlieferte kulturelle Erzählungen werden sogar bewusst widerlegt, so insbesondere die Apokalypse. Denn im Gegensatz zum kulturellen Wissen über Katastrophen wird die neue Katastrophe nicht willkürlich jeden Beliebigen treffen, obwohl sie viele Opfer fordern wird. In der Zeit nach dem Weltkrieg gilt die Katastrophe als Muster einer gerichteten Umwälzung. Als Deutungsmuster gesellschaftlicher Gegenwart dient sie im Gegensatz zur Krise nicht als Spiegel von Verhältnissen, sondern sie ist Vorhersage – und Handlungsaufforderung. Damit ist die „Katastrophe“ selbst als kulturelles Modell oder Skript zu verstehen und insofern auch als ein eigenständiges narratives Schema, das von sozialen Gruppen intersubjektiv verstanden und repräsentiert werden kann. Als „kulturelles Modell“ erklärt die Katastrophe eine bestimmte Beziehung zwischen den Menschen und ihrer Umwelt sowie die Veränderungen beider. Die Erzählung der Katastrophe integriert Aussagen über Zeit(en), Raum, kulturelle Vergegenständlichungen sowie soziale und kulturelle Erfahrungen. Sie enthält hier zudem einen unübersehbaren Imperativ. Neben der Katastrophe, die sich in Geschichte und Politik zunächst vom Schicksal zum generellen Bruch wandelt, die einen neuen Erfahrungsraum öffnet und den Menschen erschüttert, aber zugleich auch eine Sozialität anspricht (der Mensch wird durch die Katastrophe vom Objekt zum Subjekt), jener Katastrophe also, die im 20. Jahrhundert zur Gewissheit wird, gibt es eine Vorstellung von überwältigenden Ereignissen, die dem Gedanken der Zerstörung treu bleibt und dem Bild der Ruine.¹⁶³ Gerade vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die Zukunftsromane nicht in Ruinen enden, die beschriebenen Gewaltakte also keine Ruinen, sondern soziale Revolutionen (und letztlich Frieden) hinterlassen. In den Romanhandlungen begegnet die Katastrophe nicht als das vom Menschen nicht Verhinderbare oder nicht Verhinderte, sie ist nicht das Unvorhersehbare, nicht das Überwältigende. Sie stellt die Geschichte nicht still, sondern beschleunigt sogar den geschichtlichen Verlauf, indem sie krisenhafte Entwicklungen dynamisiert. Es ist daher nicht nur eine neue Erzählung des Katastrophischen erkennbar, sondern es zeigt sich vor allem eine Reintegration in den übergreifenden menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsverlauf sozialer und politischer Gemeinschaften. Die Figur der Katastrophe ist eng an Vorstellungen vermittelbarer und benennbarer Zeit gebunden. In der Zwischenkriegszeit wird sie selbst zu einer sozialen Zeitkategorie. Mit dem Begriff der „sozialen Zeitkategorie“ lässt sich eine

 Siehe Anm. 112.

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Figur eines sozialen Zeitverständnisses kennzeichnen, das in einer Wechselbeziehung steht mit und dadurch schließen lässt auf ein jeweiliges gesellschaftliches Zeitbewusstsein, dies insofern, da davon ausgegangen werden kann, dass in der Figur eines Zeitverständnisses bestimmte kulturelle Figuren und geschichtliche Figuren in eine Korrespondenz gebracht werden.¹⁶⁴ Was sich für die 1920er Jahre feststellen lässt, dies sind Zeitfiguren, in denen die subjektive Erfahrung einer „Hast“ zum Ausdruck gebracht wird, die gesellschaftliche Idee von Entfremdung sowie von politischen Verhältnissen, die über den Einzelnen hinwegrauschen, ferner die Idee, dass Zeit veränderbar ist, dass man Zeit zurückholen kann und Zeit zurückholen muss, um die politischen Verhältnisse neu in ein Synchronisationsverhältnis zu setzen. In der Zwischenkriegszeit ist die „Katastrophe“ erzählbar. In den Zukunftsromanen wird eine Sprache für die Katastrophe entwickelt. Die kommende Katastrophe wird nicht überwältigen, aber sie wird töten. Die kommende Katastrophe ist literarisch eine raum-zeitliche Figur, die die Dauer der Krise der Zeit durchschlägt. Sie ist bedingt und ersehnt, sie erfüllt die Erwartung von Gewalt und Zerstörung, die keine Gräber brauchen wird, weil sie eine neue Zeitrechnung einläutet, die in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit blicken wird.

 Hitzler, Ronald: Zeit-Rahmen. Temporale Konstitution und kommunikative Konstruktion, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie Jg. 12, 1987, S. 23 – 33.

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Die Zukunft im Zukunftsroman

Zukunftsromane sind Zwitter zwischen Literatur und Geschichte: Sie spielen in einer fiktiven Welt der Zukunft, beziehen sich aber auf eine historische Wirklichkeit, deren außersprachliche Existenz sie zugleich konstruieren und voraussetzen. Dies gilt zwar auch für andere literarische Gattungen, aber Zukunftsromanen ist dieser Anspruch schon in ihre Bezeichnung eingeschrieben. Denn als „Romane“ weisen sie sich als Exemplare einer Gattung ohne Anspruch auf außersprachliche Referenzialität aus, ihrem Spielort in der Zukunft nach dagegen als Schilderungen einer Wirklichkeit, der auch wir als Verfasser und Leser solcher Romane in unserer je eigenen Gegenwart angehören. Sie eignen sich deshalb in besonderer Weise für einen Dialog zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft. Dieser Dialog soll hier am Beispiel eines Zukunftsromans geführt werden, in dem sich drei Zeitebenen verschränken: der Zeitpunkt der (fiktiven) Handlung, der Zeitpunkt der Abfassung des Romans und der Zeitpunkt seiner späteren, besonders seiner heutigen Lektüre im Jahr 2020. Die Frage ist, wie sich diese drei Zeitebenen im Text und außerhalb desselben aufeinander beziehen. Dabei kommt unvermeidlich auch ein altes narratologisches Problem zur Sprache: das Verhältnis zwischen literarischer Fiktion und historischer Wirklichkeit. Beide Ebenen greifen nämlich im Zukunftsroman ständig ineinander und beeinflussen ihre jeweilige Botschaft an die Leser. Dafür soll der Zukunftsroman Die Schlacht über Berlin von Axel Alexander als Beispiel dienen: Verfasst im Herbst 1932, kurz vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, erzählt der nationalsozialistische Frontflieger eine einfache Geschichte, nämlich den Angriff russischer Bombengeschwader auf das Deutsche Reich und dessen erfolgreiche Abwehr durch die deutsche Reichswehr¹: Auf Anordnung Stalins greifen die sowjetischen Luftgeschwader in mehreren Wellen das Deutsche Reich an, werden jedoch über Berlin unter schweren beiderseitigen Verlusten abgeschlagen und ziehen sich schließlich ganz aus Deutschland zurück. Im Vorwort sowie in den mitabgedruckten „Stimmen über die Weltlage“ und einer ausführlichen Einleitung legt Alexander deutlich das Motiv seiner Erzählung dar: die Warnung vor den Gefahren eines kommenden Luftkriegs, auf die er das Deut Über Axel Alexander ist bislang wenig mehr bekannt, als dass es sich bei diesem Namen um ein Pseudonym handelt, hinter dem sich Alexander Thomas, der Verfasser eines anderen Romans aus demselben Jahr mit dem Titel Deutschland – Freiwild? Der Luftschutzroman von Bomben, Geld und Liebe, versteckt. Alexander war offenbar schon im Ersten Weltkrieg Kampfpilot und daher mit der rasanten Entwicklung der Luftwaffe wohl vertraut. https://doi.org/10.1515/9783110773217-004

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sche Reich schlecht vorbereitet sieht. Die fiktionale Ausmalung eines kommenden Luftkriegs steht so offen im Dienst der politischen Aufklärung und beansprucht für sich die Fähigkeit zur Voraussage der wahrscheinlichen Umstände und Mittel, mit denen ein bald bevorstehender Luftkrieg geführt werden würde: So sieht der Luftkrieg aus! Über alle Verträge hinweg wird er Furcht und Schrecken weit im Hinterland und Zentrum der beteiligten Nationen verbreiten.²

Abb. 1: Coverabbildung zu Alexander, Axel: Die Schlacht über Berlin, Berlin 1933.

Eine erste Vorstellung von den Auswirkungen eines Luftkriegs vermittelt schon das Umschlagbild der Originalausgabe des Zukunftsromans. Auf ihm sieht man hinter roten Schriftzügen vor dem Berliner Reichstagsgebäude Granateneinschläge und abgestürzte Flugzeuge, Gasschwaden um das Brandenburger Tor

 Alexander, Axel (Pseudonym von Alexander Thomas): Die Schlacht über Berlin, Berlin 1933, S. 8.

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und Flaklichter vor dem nächtlichen Himmel, an dem eine größere Anzahl an Kampfflugzeugen ihre tödliche Last abwirft.

1 Die Binnenzeit der Erzählung An Alexanders Beispiel wird der eigentümliche Wirklichkeitsanspruch von Zukunftsromanen deutlich, die die Dimension der Zukunft nutzen, um ihre eigene Gegenwart näher zu beleuchten. Alexanders Roman eignet sich für eine solche Analyse besonders deshalb, weil er eine einfache Temporalstruktur aufweist. Denn er spielt zu einem klar datierten Zeitpunkt in naher Zukunft, genau am 1. Mai, dem internationalen Feiertag der siegreichen Arbeiterklasse, des Jahres 1945. Zwei Tage später ist die Schlacht um Berlin auch schon wieder vorbei, der Angriff der russischen Luftflotte abgewehrt. Ein neuer Dreibund, bestehend aus Deutschland, England und Italien übernimmt die Macht in Europa. Das Datum stellt die Ereignisse in eine klare Kontinuität zur Vergangenheit und Gegenwart des Autors, gibt sich also als realistische Verlängerung einer geschichtlichen Entwicklung, die schon deutlich früher, spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkriegs begonnen hat. Der darauf folgende Versailler Vertrag, von den politisch rechten Zeitgenossen auch als „Schandfriede“ bezeichnet, hatte eine politische Ausgangslage geschaffen, unter der Deutschland und mit ihm die gesamte zivilisierte Welt, wie Alexander richtig voraussagte, auch 1945 noch leiden würden. Denn dieser Vertrag beschränkte das deutsche Heer auf 100.000 Mann und schwächte damit dessen Verteidigungspotenzial gegenüber dem russischen Feind, auf das die westliche Staatengemeinschaft nun so dringend angewiesen war. Die Bedrohung durch die bolschewistische Weltrevolution ist die Langzeitperspektive, die den Roman und mit ihm die Vergangenheit und Zukunft Europas in der außer-fiktionalen Wirklichkeit durchzieht. Sie ist für die Zeitgenossen eine reale Gefahr, die auch aus heutiger Perspektive nicht einfach als fiktiv abgetan werden kann, da es möglicherweise überhaupt nur die Angst vor ihr und die Gegenmaßnahmen waren, die ihre Realisierung verhinderten.³ Der Roman erscheint deshalb passagenweise eher wie ein Planspiel, in dem eine bestimmte politische Konstellation durchgespielt und die numerischen und psychologischen Faktoren gegeneinander abgewogen werden, die Einfluss auf den Ausgang des Kampfes haben könnten. Trotz der einfachen chronologischen Abfolge der Ereignisse ist die Geschichte allerdings doppeldeutig: einerseits fiktional in ihrem Entwurf einer Zukunft, die

 Vgl. Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Göttingen 2016 (zuerst 1999), S. 283 ff.

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noch nicht eingetreten ist, andererseits aber auch realistisch in ihrem Rückgriff auf historische Ereignisse, die schon vorliegen. Die Jahreszahlen stellen sie in eine historische Kontinuität, die aus der Vergangenheit in die Zukunft reicht, doch löst dies nicht die fiktional-realistische Doppeldeutigkeit des Narrativs auf, sondern verstärkt sie im Gegenteil im Vorgriff auf Ereignisse, Konstellationen und Akteure, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht bekannt sein konnten. Ebenso wie die Zukunft als realistische Verlängerung dessen, was bislang geschah, kann deshalb auch die Vergangenheit als fiktive Projektion einer erdachten Zukunft in die Vergangenheit gelesen werden. Die klare zeitliche Verbindung, welche hier zwischen Vergangenheit und Zukunft, fiktionaler Erzählung und politischer Erfahrung der Zeitgenossen hergestellt wird, ist bei Zukunftsromanen keine Selbstverständlichkeit. Zukunftsromane spielen zwar per definitionem in der Zukunft, doch fehlt in ihnen oft nicht nur ein genaues Jahr, in dem der Roman spielt, vielmehr wird häufig auch kein direkter Bezug zur Gegenwart genommen, die der Autor, und mit ihm auch seine zeitgenössischen Leser, kennen. Hinweise darauf, dass Romane in der Zukunft spielen, bauen zwar ein zeitliches Koordinatensystem auf, das der Verfasser und die Leser des Romans mit dessen Personal teilen – aber solche Hinweise können auch nur in technischen Neuerungen oder in fernen Erinnerungen an eine vergangene Zeit bestehen, in der sich der Leser wiedererkennen mag. Die Grenzen des Zukunftsromans zur Science-Fiction und zu utopischen Erzählungen, die in einer anderen Welt spielen oder nur bestimmte Lebensumstände mit der Lebenswelt der Leser nicht teilen, sind daher fließend.⁴ Im vorliegenden Fall ist dies anders: Nicht nur die Zukünftigkeit des Romangeschehens, auch der zeitliche Abstand zur Gegenwart sind klar und eindeutig benannt. Die Temporalstruktur des Romans ist auch deshalb einfach, weil der Roman die Geschehnisse im Wesentlichen chronologisch in der Reihenfolge ihres Auftretens erzählt. Teilweise springt die Handlung zwar zwischen verschiedenen Orten hin und her: vom Hauptquartier der russischen Luftstreitkräfte zur Führungskabine des kommandierenden russischen Luftwaffengenerals während des Angriffs, von der Regierungszentrale in Berlin, wo sich der Reichskanzler mit seinen Ministern und Generälen berät, zum Luftraum über der Stadt, auf die die Bombenteppiche der Russen fallen, zu den Hauptquartieren der Verbündeten in London und Rom, die sich nach anfänglichem Zögern schließlich zur Unterstützung der deutschen Luftwaffe entschließen, dann wieder zurück aufs Schlachtfeld, auf dem sich Stunde um Stunde deutlicher die Verteidiger gegen die

 Stableford, Brian M. / Langford, David / Clute, John: Scientific Romance, in: The Encyclopedia of Science Fiction, hrsg. von John Clute und Peter Nicholls, London 1993.

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Angreifer durchsetzen, um diese schließlich völlig zu besiegen, bis hin wieder ins russische Hautquartier, wo der „große Diktator“ – im Roman ist in ihm Stalin zu erkennen – schließlich seine Niederlage eingesteht und einem Frieden zustimmt, der Deutschland wieder in den Grenzen vor dem Ersten Weltkrieg restituiert – ohne doch auf seine langfristigen Pläne einer kommunistischen Weltrevolution zu verzichten. Aber all dies geschieht in genauer zeitlicher Reihenfolge, unterbrochen nur durch gelegentliche Rückblenden in die 1920er und 1930er Jahre, die das Zukunftsgeschehen in der schon bekannten Ausgangslage verankern und so als realistisch sichern. Formal gesehen handelt es sich also um eine doppelte Zeitreihe, deren eine, vom Autor aus gesehen,Vergangenheit und Zukunft miteinander verbindet, während die andere, die eigentliche erzählte Zeit, nur drei Tage in der Zukunft umfasst. Allein bei dieser zweiten Zeitreihe folgt die Erzählung dann auch dem vertrauten fiktionalen Spannungsbogen, der so tut, als sei das Kommende noch offen, während der Ausgang der Erzählung in Wahrheit deren Verlauf von Anfang an steuert.

2 Die Zeit der Akteure Ebenso einfach wie die lineare Zeitfigur⁵ der Erzählung ist auch die Zusammenstellung des Personals, der Handlungsträger: Zunächst gibt es die beiden Hauptpersonen, den russischen General Iwanowitsch Lugowoj, der im Auftrag Stalins den russischen Angriff leitet, und den Kommandeur der deutschen Luftabwehr, General von Bruck: der eine ein schon älterer Mann, der während der Kämpfe umkommt, der andere ein jugendlicher Held, dem noch eine große Zukunft bevorsteht. Auch sie sind in übergreifende Zeitfiguren eingebunden, die man als „Lebenszyklus“ und deren Verhältnis zueinander man als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ bezeichnen kann.⁶ Denn in ihnen bildet sich der Altersunterschied der beiden Nationen ab: Das alternde Russland begegnet einem jugendlichen Deutschland. Die Helden sind fiktiv, aber ihre geschichtliche Realität als Typus wird verbürgt durch ihre Auftraggeber im Hintergrund, die fest in

 Zum Begriff der „Zeitfigur“ vgl. Hölscher, Lucian: Zeitgärten. Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit, Göttingen 2020. Unter „Zeitfiguren“ werden hier historische Verlaufsmodelle wie „Fortschritt und Niedergang“, „lineare“ und „zirkuläre“ Zeit, „Konjunkturen“ und „Lebenskurven“ verstanden, in denen der zeitliche Ablauf der Dinge eine bestimmte Richtung einschlägt und sich zu einer typologisch bestimmbaren Gestalt verdichtet.  Vgl. zu diesem Topos Landwehr, Achim: Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, in: Historische Zeitschrift 295 (1), 2012, S. 1– 34.

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der bekannten Geschichte verankert sind: auf der einen Seite Stalin, der kommunistische Diktator, auf der anderen Seite der deutsche Reichskanzler, der, obwohl ohne Namen, doch auch schon für den zeitgenössischen Leser klar mit Adolf Hitler identifizierbar war. Daneben gibt es weitere weniger wichtige Personen, aber auch wichtige Kollektiv-Akteure: vor allem das deutsche Volk, das, zur Volksgemeinschaft zusammengeschmiedet, eine bedeutende Rolle im Roman spielt. Seine Jugendlichkeit findet ihren Ausdruck in der Jugendlichkeit des führenden Protagonisten General von Bruck. Das deutsche Volk hat eine lange Vergangenheit, ist dem Leser also bestens vertraut. Es hat aber in jüngerer Zeit eine Schwächephase der Zerrissenheit durchlaufen, von der es sich erst durch den jüngsten nationalen Wiederaufbau wieder erholt. Hier liegt eine akteursgebundene Zeitfigur vor, die für den Roman von größter Bedeutung ist. Denn von der Einmütigkeit, moralischen Kraft und Widerstandsfähigkeit des deutschen Volks hängt alles ab, nicht nur das Schicksal Deutschlands, sondern das der ganzen zivilisierten Welt. Allein Deutschland kann, unterstützt von den zivilisierten Völkern des Westens, die Gefahr der bolschewistischen Barbarei und damit den Machtverlust der Kulturvölker gegenüber den barbarischen Völkern des Ostens (hinter den Russen droht schon die heraufziehende Macht der „gelben Rasse“) aufhalten. In der Lebenskurve des deutschen Volkes zeichnet sich also die der europäischen und Weltkultur insgesamt ab. So entfaltet sich der Zukunftsroman in den alternativen Zeitfiguren „Aufstieg“ und „Niedergang“, wie bei den Protagonisten der Handlung so auch bei den Völkern, für die sie stehen und kämpfen, und auch beim Schicksal der Weltkultur insgesamt, die auf der Kippe zwischen Zivilisation und Naturgewalt, Kultur und Barbarei steht. Die Zeitfiguren stützen sich zwar hauptsächlich auf die Vergangenheit, beziehen aber auch die erwartete Zukunft und damit Ereignisse mit ein, die noch gar nicht stattgefunden haben und vielleicht überhaupt ausbleiben werden. Ohne solche Antizipationen könnten diese Zeitfiguren gar nicht bestehen, sie bilden eine notwendige Ergänzung zum Verständnis dessen, was in der Vergangenheit und Gegenwart schon vorliegt. Damit gewinnt das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Erfahrung und Erwartung, von Faktizität und Fiktionalität eine neue Bedeutung.

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3 Das Zusammenspiel der Zeit- und Wirklichkeitsebenen In Zukunftsromanen treffen ebenso wie in der Geschichte unterschiedliche Zeitebenen mit unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen zusammen. So scheinen in historischen Diskursen etwa Zukunft und Gegenwart oft einen unterschiedlichen Wirklichkeitsstatus zu haben: Was in der Gegenwart geschieht, erscheint Historikern gewiss und real; was in der Zukunft geschehen wird, dagegen ungewiss und daher bestenfalls möglich. Auf dieser Unterscheidung beruht die begriffliche Unterscheidung von fiktiven und realen Ereignissen, welche in der Geschichtsebenso wie in der Literaturwissenschaft eine so wichtige, allerdings teilweise unterschiedliche Rolle spielt⁷: In der Vergangenheit sind Historiker gewohnt, zwischen Fiktivität und Faktizität zu unterscheiden, in der Zukunft dagegen ist eine solche Unterscheidung, modernem Zeitverständnis zufolge, nicht leicht und eindeutig möglich, weil sich dort noch nicht herausgestellt hat, ob etwas, das für die Zukunft erwartet, auch tatsächlich eintreffen wird. Auch in der Literatur, wie hier im Zukunftsroman, ist dieser Unterschied wohl vertraut. Doch gehen die Leser in ihr davon aus, dass die dargestellte Offenheit der Zukunft vom Autor einer literarischen Fiktion nur fingiert wird, das heißt, dass der Autor durchaus schon im Voraus weiß, worauf seine Geschichte zielt, dies dem Leser um des Spannungsbogens willen nur nicht gleich anfangs verrät. Wie aber verhält es sich mit der Unterscheidung von Fiktivität und Faktizität in der Gegenwart? Die „Gegenwart“ ist ein vieldeutiger Begriff und ein komplexes Gebilde,⁸ deshalb ist es nützlich, sich die Verschränkung von Zeit- und Wirklichkeitsebene in der „jeweiligen Gegenwart“ zunächst am Modell des Alltagsbewusstseins klarzumachen. Für dieses gilt: Auch und gerade das Allerrealste, das, was wir gegenwärtig erleben, erweist sich bei näherem Hinsehen oft als zweifelhaft: Was, so kann man sich fragen, gehört zum Beispiel zu einem Ereignis, etwa einem Autounfall, bei dem wir uns verletzt haben, dazu und was nicht: neben dem Zusammenstoß auch die Ängste, die er ausgelöst hat und die sich bei

 Zu diesen Konzepten vgl. Klein, Christian / Martínez, Matías: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart 2009, S. 1 ff.  Hermann Heimpel unterscheidet vier Bedeutungen: die „jeweilige Gegenwart“: das Heute zwischen gestern und morgen; die „dauernde Gegenwart“: die Aufhebung der Zeit über gestern und morgen hinweg; die „einmalige Gegenwart“: das Zu-sich-kommen in der Zeit, also das Absehen von Gestern und Morgen; „unsere Gegenwart“ als Zeit der Entscheidung. Vgl. Heimpel, Hermann: Der Mensch in seiner Gegenwart. Sieben historische Essays, Göttingen 1954, S. 9.

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späterer Gelegenheit erneuern können; oder auch die Folgen, die uns vielleicht an der Ausübung unseres Berufs hindern, aber auch neue Möglichkeiten eröffnen können; oder die Begleitumstände, die in das Leben anderer Menschen eingreifen? Jedes gegenwärtige Geschehen ist zunächst einmal überkomplex. Um als Ereignis abgrenzbar zu sein, muss es in Kontexte gestellt werden. Große Bedeutung kommt dabei zukünftigen und vergangenen Ereignissen zu, die dem Autounfall als Ursachen oder Folgen zugerechnet werden. Denn was in der Gegenwart geschieht, vereindeutigt sich erst im Zuge des weiteren Verlaufs der Dinge (oder wenn wir wissen, woher sie kommen). Dann nämlich stellt sich heraus, was von dem, was gegenwärtig geschieht oder vormals geschah, für die Zukunft bedeutsam ist. Dann erst werden wir die richtige Auswahl treffen, um die richtige Verkettung zwischen vergangenen, gegenwärtigen und jetzt noch zukünftigen Ereignissen vornehmen zu können. Kurzum: Es gibt zwar nichts Realeres als das, was wir selbst miterlebt haben; aber was dies ist, was wir da erleben, stellt sich oft erst im Nachhinein heraus. So werden die Zukunft und Vergangenheit schon im Alltag in die Gegenwart hineingezogen. Als weiteres Beispiel sei hier an die noch nahe Flüchtlingsdebatte im Anschluss an die Zuwanderung von Immigranten aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Deutschland im Jahr 2015 erinnert: Manche haben ihr später ursächlich die Gewalttaten einzelner Immigranten, andere als Folge den durch sie mitgebrachten Reichtum an neuen kulturellen Impulsen zugerechnet. Ein wichtiges Motiv für die Öffnung der Grenzen war aber auch schon vor all diesen neuen Erfahrungen die statistisch seit langem sich abzeichnende Abnahme und Überalterung der deutschen Bevölkerung, die für die Wirtschaft in einem wachsenden Mangel an Facharbeitskräften spürbar geworden war: Von einem zukünftigen Zeitpunkt in 10 bis 15 Jahren aus gesehen, konnte es so scheinen, dass man dann in Deutschland sehr dankbar sein werde für die Einwanderung vieler junger und zum Teil gut ausgebildeter Fachkräfte. Das Ereignis der Einwanderung stellte sich deshalb schon im Herbst 2015 als sehr unterschiedlich dar, eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen Ereignis und Deutung war niemals möglich. Diese Sachlage eröffnet nun auch neue Perspektiven auf den Einfluss, den faktuale wie fiktionale Erzählungen auf die Feststellung von Tatbeständen haben. Denn in beiden Textsorten werden Taten, etwa Verbrechen oder kulturelle Leistungen, unter Umständen erst dadurch zu Ereignissen, dass sie von Immigranten begangen beziehungsweise vollbracht worden sind. Erst dadurch, dass Fakten narrativ zueinander in Verbindung gesetzt werden (und in diesem Sinne könnte auch eine Statistik als Narration verstanden werden), werden sie zu Fakten, ganz egal, ob sie als historische Tatsachen oder als literarische Fiktionen vorgestellt werden. Die Narrationstheorie hat auf die Wichtigkeit von Kontextmarkierungen, von sogenannten „Fiktionssignalen“, für die Identifizierung von fiktionalen Tex-

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ten hingewiesen.⁹ Dasselbe gilt jedoch auch für die Identifizierung von historischen Fakten: Auch sie gewinnen ihre Gestalt erst durch Kontextmarkierungen, das heißt durch Signale dafür, dass es sich um ein historisch tatsächliches Geschehen handelt.

4 Zukünftige Vergangenheiten Was bedeutet dies nun für Zukunftsromane? Der Zukunftsroman ist im Wesentlichen dadurch bestimmt, dass er in der Zukunft spielt, und zwar in der Zukunft des Verfassers und seines zeitgenössischen Lesers. Das heißt, die Zukunft, von der in Zukunftsromanen die Rede ist, ist nicht nur eine rein fiktionale Zeitdimension romanimmanenter Subjekte, sondern spricht zugleich auch die faktuale Zukunft des Autors und seiner Leser an. Sie besetzt genau jene Stelle im Alltagsbewusstsein der Leser, die noch offen ist, solange sie nicht durch spätere Ereignisse widerlegt wird. Ohne diesen Anspruch, sich zumindest realisieren zu können, würde der Zukunftsroman seine Intention verfehlen. In Zukunftsromanen kommt es so im Bereich der Gegenwartsbestimmung zu einer eigentümlichen Berührung zwischen literarischen Fiktionen und alltäglichen Praktiken der historischen Orientierung. Obwohl niemand, weder der Autor noch seine zeitgenössischen Leser, wissen kann, ob das, was im Zukunftsroman als Zukunft entworfen ist, tatsächlich eintreten wird, spielt die in ihm artikulierte Erwartung (wie jede andere Erwartung auch) eine erhebliche Rolle bei der Bestimmung dessen, was Leser wie Autor als ihre derzeitige Gegenwart wahrnehmen. Denn dort wird im Vorgriff auf eine vorgestellte, fiktionale Zukunft eine gegenwärtige Lage im Modus der Vergangenheit, also in der Form des Futur II, als etwas zukünftig schon Abgeschlossenes geschildert.¹⁰ Die in ihre eigene Zukunft und Vergangenheit nicht eingebettete Gegenwart, die, da sie zu überkomplex ist, als unbestimmt erscheinen müsste, gewinnt im zeitlichen Durchgang von der Vergangenheit in die Zukunft eine Kohärenz und Gewissheit, die sie ansonsten nicht hätte.

 Martínez, Matías / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 2016 (10. Aufl.; zuerst 1999), S. 15.  Hölscher, Lucian: Future Pasts. About a form of thought in modern society, in: Sustainability Science Jg. 14 (4), 2019, S. 899 – 904; Welzer, Harald: Vergangene Zukünfte und zukünftige Vergangenheiten. Einige Anmerkungen aus der Gedächtnisforschung, in: Erzählte Zukunft. Zur interund intragenerationellen Aushandlung von Erwartungen, hrsg. von Jens Kroh und Sophie Neuenkirch, Göttingen 2011, S. 19 – 26.

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All dies gilt allerdings ebenso für unser alltägliches Leben: Im Vorgriff auf mögliche Folgen entscheiden wir, was wir heute tun wollen. Und deshalb unterscheiden sich literarische Erzählungen in diesem Punkt kaum von der Praxis alltäglicher Orientierungen in der Alltagswirklichkeit, mit der Menschen konfrontiert sind: Wie im Alltag gewinnen auch in literarischen Erzählungen die Ereignisse ihre Bedeutung von ihrem Ausgang und Ende her, werden vom Ende her ausgewählt und diskursiv aneinandergereiht. Die erzählten Ereignisse sind deshalb nicht einfach nur als ‚fiktional‘ zu bezeichnen, sondern folgen der Logik alltäglicher Reflexionen über das, was die Zukunft bringen könnte und wie man sich deshalb jetzt in der Gegenwart schon entscheiden sollte. Bleiben wir noch einen Augenblick bei dieser von der Zukunft beeinflussten Gegenwartsbestimmtheit. Sie gilt nämlich auch umgekehrt: Ebenso wie die Gegenwart ihre Bestimmtheit erst von der Zukunft (und Vergangenheit) her gewinnt, verleiht auch die in der antizipierten Retrospektive gewonnene Gegenwartsgewissheit dem vorgestellten Zukunftsgeschehen einen Schein von Sicherheit oder Faktizität, die es angesichts der Offenheit der Zukunft eigentlich gar nicht haben dürfte. Als Voraussetzung einer zukünftigen Vergangenheit, in der wir unsere eigene Gegenwart wiedererkennen, partizipiert die vorgestellte Zukunft nämlich an der Gewissheit, die die Gegenwart, von einer vorgestellten Zukunft aus gesehen, gewonnen hat. Ein literarischer Trick, möchte man sagen, aber einer, der nicht nur in der Literatur verwendet wird, sondern auch im alltäglichen Leben an der Tagesordnung ist. Denn lesen wir nicht tatsächlich jeden Morgen die Zeitung im Blick auf mögliche Zukünfte, die wir schon im Kopf haben und in die sich die dort gelesenen Fakten mehr oder weniger gut einordnen lassen? Erst im imaginierten Rückblick aus einer imaginierten Zukunft, könnte man sagen, gewinnen die gegenwärtigen Dinge ihren Sinn. Das schließt nicht aus, dass es dann doch ganz anders kommt, aber es erlaubt uns, uns zu orientieren, vernünftig zu handeln. Halten wir also fest: Es gibt einen Konvergenzpunkt zwischen der retrospektiven Anlage fiktionaler Erzählungen und der antizipierenden Retrospektive historischer Gegenwartsvergewisserungen. So kann es dazu kommen, dass der fiktionale Zukunftsentwurf in Zukunftsromanen genau jene Stelle besetzt, die das antizipierende Bewusstsein historischer Erzählungen in der Zukunft offenlässt. So dienen Zukunftsromane wie historische Prognosen der Gegenwartsbestimmung, indem sie ein Bild der Gegenwart aus der Perspektive einer vorgestellten Zukunft entwerfen. Das tat auch unser Autor Axel Alexander alias Alexander Thomas, wie er polizeilich gemeldet war, als er 1933 Die Schlacht um Berlin im Jahr 1945 entwarf: Die nationale Erhebung, die er als Sympathisant der Nationalsozialisten gerade miterlebte, selbst die bald einsetzende grausame Einschränkung individueller Freiheiten und Besitztümer erschienen ihm sinnvoll und gerechtfertigt,

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wenn sie als notwendige Vorbereitung auf eine existenzielle Herausforderung des ganzen Volks begriffen wurden.

5 Die Zeitlichkeit von Erzählungen im Streit der Curries In den Literaturwissenschaften gibt es einen Streit über die Zeitlichkeit von Erzählungen: Ist die Zeit der Erzählung, wie der englische Literaturwissenschaftler Mark Currie behauptet, dieselbe Zeit, in der wir als deren Leser in einer Welt außerhalb der Erzählung leben?¹¹ Sein Namensvetter, der englische Philosoph Gregory Currie, bestreitet dies mit Verweis auf den fiktionalen Charakter jeder Erzählung, die, wie er argumentiert, eben nicht in der wirklichen Welt spiele, sondern in einer fiktionalen Welt, die ihre eigenen fiktionalen Zeitstrukturen aufweise.¹² Mark Currie dagegen verweist auf die formale Natur jeder Zeitlichkeit, ob innerhalb oder außerhalb von fiktionalen Texten, und schreibt der Erzählung sogar einen Modellcharakter für die Konstruktion von Zeitlichkeit zu. Man kann diese Streitfrage nicht diskutieren, ohne klarzustellen, was man mit den Begriffen ‚Fiktionalität‘ und ‚Fiktivität‘ meint: Ohne tiefer in diese schwierige Materie einzusteigen,¹³ sei dazu hier nur so viel festgehalten: ‚Fiktional‘ ist nicht gleichbedeutend mit ‚fiktiv‘, die Begriffe spannen einen unterschiedlichen Wirklichkeitsraum aus. ‚Fiktional‘ wird in der Literaturwissenschaft ein literarisches Universum genannt, das keinen, auch keinen negativen Bezug zu einer außersprachlichen Realität nimmt. ‚Fiktiv‘ dagegen heißt „nicht-real“, der Begriff richtet sich auf eine außersprachliche Wirklichkeit und steht im Gegensatz zu „real“.Die Begriffe ‚Fiktionalität‘ einerseits, ‚Faktizität‘ und ‚Fiktivität‘ andererseits liegen auf zwei verschiedenen Ebenen: ‚Fiktional‘ ist jede Erzählung, ganz gleich ob sie von Dingen handelt, die es auch „in Wirklichkeit“, das heißt außerhalb der Erzählung, gibt oder nicht. ‚Fiktiv‘ hingegen sind die erzählten Ereignisse nur dann, wenn ihnen keine faktischen Ereignisse außerhalb der Erzählung entsprechen. Das nimmt ihnen nichts von ihrer psychologischen, literarischen, philosophischen oder sonstigen Wahrheit, im Gegenteil: Gemessen an ihrer literarischen Botschaft kann die Historisierung von Literatur nur deren unmittelbare Aussage schmälern. Die Frage nach der Entsprechung von Erzäh-

 Currie, Mark: About Time. Narrative, fiction and the philosophy of time, Edinburgh 2007; ders.: The Unexpected. Narrative temporality and the philosophy of surprise, Edinburgh 2013.  Currie, Gregory: The Nature of Fiction, London 2009.  Martínez / Scheffel: Erzähltheorie (Anm. 9), S. 14 f.

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lungen und ihrem Gegenstand außerhalb ihrer selbst wird auf der Ebene der Fiktionalität gar nicht gestellt. Hier geht es nur darum, wie die Erzählung in sich funktioniert. Im Kontext konstruktivistischer Wirklichkeitstheorien musste der Begriff ‚fiktional‘ allerdings auch dazu herhalten, die außersprachliche Wirklichkeit selbst als fiktional in dem Sinne zu begreifen, dass sie „hergestellt“, „konstruiert“ ist. Da behaupten Kulturwissenschaftler, von einer Wirklichkeit jenseits der Praktiken, mit denen wir sie „herstellen“, könnten wir genauso wenig wissen wie Kant vom „Ding an sich“.¹⁴ Umgekehrt neigen allerdings auch manche Mentalitätshistoriker dazu, Fiktionen, etwa literarische Werke, als Realitäten zu begreifen, die es ebenso als historische Fakten zu würdigen gelte wie die nicht medial vermittelte Realität. Es macht jedoch keinen Sinn, die Begriffe des ‚Fiktionalen‘ und des ‚Fiktiven‘ beziehungsweise des ‚Realen‘ ineinander aufzulösen. Beide Positionen bergen zwar wichtige Erkenntnisse, die in den Geschichts- und Kulturwissenschaften der letzten Jahrzehnte breit diskutiert worden sind. Aber sie können die grundsätzliche Unterscheidung zwischen ‚Fiktionalität‘ und ‚Realität‘ beziehungsweise ‚Fiktivität‘ nicht aufheben oder einebnen.¹⁵ Für die Kontroverse, die zwischen den beiden Curries darüber entbrannt ist, besagt dies: Konstruktivistisch betrachtet entsteht Zeit nur dort, wo Ereignisse sich erstrecken,Veränderungen stattfinden, Akteure miteinander kommunizieren. Und das gilt in der Tat gleichermaßen für Erzählungen wie für die außersprachliche Wirklichkeit, in der sie geschrieben und gelesen werden. Insofern hat Mark Currie Recht. Jedoch besteht ein entscheidender Unterschied zwischen einer fiktiven und einer realen Zeitlichkeit: Die Zeit der literarischen Erzählung ist immer begrenzt, sie ist definiert durch deren Anlage. Die Zeit der Geschichte dagegen ist prinzipiell offen, unbegrenzt, sie schließt auch uns selbst als Leser und Verfasser von literarischen Erzählungen mit ein. Ein Beispiel mag erläutern, was gemeint ist: Wir mögen die Odyssee als einen in sich geschlossenen zeitlichen Kosmos erleben. Dieser reicht vom Sieg der Griechen über die Trojaner bis zur Rückkehr des Odysseus nach Ithaka zehn Jahre später, weiß aber auch unter anderem von einem Leben der Verstorbenen im Hades und einer Vorzeit, in der es Götter und Heroen gab. Um welche zehn Jahre es sich im historischen Weltkalender handelt, wissen wir nicht, und wir müssen es auch nicht wissen, um die Geschichte von den Fahrten des Odysseus zu verstehen.  So vor allem in der von Hayden White angestoßenen Debatte über die „Fiktion des Faktischen“, vgl. White, Hayden: Auch Klio dichtet. Die Fiktion des Faktischen, Stuttgart 1986; ders.: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1987.  Vgl. Hölscher, Lucian: Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003, S. 30 ff.

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Sobald wir die Odyssee jedoch in die geschichtliche Welt des archaischen Griechenland einbetten, beginnt diese Geschichte mit anderen Fakten zu kommunizieren, die wir aus anderen historischen Quellen kennen. Der zeitlichen Beziehung der Odyssee zu anderen Welten, auch zu unserer eigenen Gegenwart und Zukunft, sind dann keine Grenzen mehr gesetzt. Wir beginnen die Odyssee zu historisieren, was uns zwar neue Erkenntnisse erschließt, aber den literarischen Gehalt dieses Stücks Weltliteratur nicht berührt. Was bedeutet dies für die Frage nach der Zeitlichkeit von Zukunftsromanen? Rein als literarische Werke genommen spannt auch Die Schlacht über Berlin einen temporalen Horizont auf, der, wie weit er auch chronologisch ausgreifen mag, in sich geschlossen ist. Axel Alexander entfaltet in ihm die Gefahr des Bolschewismus, eine Welt außerhalb dieser Gefahr gibt es nicht. Anders, wenn wir den Roman als historische Prognose lesen, eine Lesart, die vom Autor, gewissermaßen unter seinem bürgerlichen Namen Alexander Thomas, vermutlich auch intendiert war: Dann öffnet sich der Roman zu einer historisch-gesellschaftlichen Umgebung hin, in der er zu einer Wirklichkeitswahrnehmung unter anderen wird; einer Umgebung, in der neue, im Roman selbst nicht thematisierte Erfahrungen dessen Aussagekraft überschatten können und rückwärtige Lektüren möglich werden, die die Aussage des Romans in völlig neuem Licht erscheinen lassen.

6 Die zeitliche Verschiebung der Lektüren Damit kommt eine weitere Zeitebene in unsere Analyse hinein: die der späteren und heutigen Lektüren literarischer Texte. Bislang haben wir den Zukunftsroman im Wesentlichen nur aus der Perspektive des Autors und seiner zeitgenössischen Leserschaft betrachtet, und dies auch nur im Blick auf die im Roman selbst entworfene Zukunft. Literarische Fiktionalisierung und historische Prognostik hielten sich hier in ihrer doppeldeutigen Verschränkung die Waage. Denn beide konnten die von ihnen gezeichnete Zukunft nur glaubwürdig darstellen, weil diese, mit fiktionalen Vorstellungen gefüllt, historisch gesehen noch offen war. Diese Doppeldeutigkeit zerbricht jedoch mit dem Fortschritt der historischen Zeit. Zukunftsromane geben dann neue, für den Historiker nicht minder aufschlussreiche Lektüren frei. So stellt sich etwa die Gegenwart des Autors, in der er seinen Roman schrieb, retrospektiv im Vergleich zu den teils ähnlichen, teils aber auch ganz anderen Ereignissen und Erfahrungen späterer Zeiten oft ganz anders dar, als sie vormals im Spiegel der im Roman entworfenen Zukunft erschien: So war zum Beispiel der Autor Axel Alexander 1932 gefesselt von der Vorstellung einer unausweichlichen Konfrontation mit dem Bolschewismus, genauer gesagt, von weiteren Krie-

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gen, die ihn seine eigene Gegenwart als extrem spannungsgeladen erleben ließ. Und dies dürfen wir nun im Vorgriff auf andere Zukunftsromane auch gleich verallgemeinern: Wie groß die Leidenserfahrung des gerade vergangenen Weltkriegs auch gewesen sein mag – keinen Zweifel ließen die Zukunftsromanciers der 1920er Jahre daran, dass neue, womöglich noch größere Kriege und Bürgerkriege bevorstanden.¹⁶ Das wirkte sich auch auf andere Bereiche des damaligen Lebens aus: Die nationale Gemeinschaft wurde als zerrissen, die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen als fragil empfunden. Härte und Disziplin waren die wichtigsten menschlichen Tugenden im „Kampf ums Dasein“. Männer gaben den Ton an, die vielfach behauptete Weichheit der Frauen galt nur als emotionaler Ausgleich für die Ruhephasen des Kampfes.¹⁷ All dies lässt sich heute allerdings nur beobachten im Bewusstsein einer Differenz zu unserer eigenen Gegenwart, die sich andere gesellschaftliche Strukturen und Werte zurechnet. Insofern bilden Zukunftsromane eine wichtige Quelle für die Mentalitätsgeschichte, die solche differierenden Einstellungen und Stimmungen im historischen Wandel registriert. Doch auch die vom Zukunftsroman geschilderte Zukunft können wir heute nicht mehr genauso lesen wie ein zeitgenössischer Leser. Denn wir wissen heute, was tatsächlich geschah, das verändert den Status des Erzählten: Was damals noch als mögliche Zukunft verstanden werden konnte, erweist sich heute, historisch gesehen, als Illusion und Irrtum. Konkret: Alle historischen Lektüren des hier zur Betrachtung stehenden Zukunftsromans vollziehen sich vor dem Hintergrund unseres heutigen geschichtlichen Wissens. Das beginnt schon mit der Jahreszahl 1945: Im Roman bezeichnete sie das Jahr des entscheidenden Siegs über den Bolschewismus, in Wirklichkeit aber das Jahr der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, einer Niederlage, die die Ausbreitung des Bolschewismus in einem bislang unvorstellbaren Maß beförderte. Im Roman war es ein kurzer, aus deutscher Sicht siegreicher Krieg, in Wirklichkeit hingegen ein verlustreicher, sechs Jahre dauernder Krieg, der für Deutschland mit einer vernichtenden moralischen Niederlage genau derjenigen Kräfte endete, von denen im Roman eigentlich die moralische Erneuerung ausgehen sollte. Der historische Vergleich zwischen Fiktion und Realität führt allerdings nicht nur zur Beobachtung von Differenzen. Vieles antizipierte der Roman auch sehr richtig: Tatsächlich war Stalin 1945 noch am Leben und verfolgte das Ziel einer kommunistischen Weltrevolution. So kam es auch zum Krieg zwischen Russland  Vgl. dazu auch Hölscher, Lucian: Die verschobene Revolution. Zur Generierung historischer Zeit in der deutschen Sozialdemokratie vor 1933, in: Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, hrsg. von Wolfgang Hardtwig, München 2003, S. 219 – 233.  Theweleit, Klaus: Männerphantasien, Berlin 2019 (zuerst 1977).

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und Deutschland, zur Zerstörung Berlins aus der Luft, zur Vernichtung großer Bevölkerungsmassen, zur Totalität der Kriegsführung, zur terroristischen Herrschaft in der Sowjetunion und anderem mehr. Auffallender sind für den heutigen Leser allerdings die Differenzen: die Annahme einer polnischen Eroberung Ostpreußens im Jahre 1940, die Rolle Deutschlands als Angegriffener, die Hoffnung, die Westmächte würden an der Seite Deutschlands gegen Russland ziehen; auch innenpolitisch die Verkennung des terroristischen Regimes in Deutschland, die weitgehend ausgebliebene moralische Stärke des führenden Militäradels und anderes mehr.

7 Die nachträgliche Zersetzung der Zukunft Auf den ersten, vom historischen Vergleich gelenkten Blick muss die heutige Lektüre von Alexanders Roman Die Schlacht über Berlin mit einer vernichtenden Bilanz enden: Sowohl darin, worin er irrte, als auch in dem, was er zutreffend antizipierte, hat er den Charme der fiktionalen Offenheit verloren, dem sich der zeitgenössische Leser noch bei seiner Lektüre hingeben konnte. Fatal für seine Akzeptanz war, dass gerade die Umsetzung dessen, wozu der Roman aufrief, in die Katastrophe führte. An die Stelle der fiktionalen Offenheit sind die vielen neuen historischen Hintergründe getreten, vor denen der Roman in den folgenden Jahrzehnten und bis heute gelesen werden muss. Hier kommt die dritte der eingangs genannten Zeitebenen ins Spiel: die Zeit der späteren und der gegenwärtigen Lektüren. Anders als die beiden ersten Zeitebenen – die der Zeit, in der der Roman verfasst wurde, und die des damaligen Zukunftsentwurfs – wandert die dritte Zeitebene mit den Lektüren aufeinanderfolgender Zeiten mit. Die verschiedenen Lektüren späterer Zeitpunkte treten wie Silhouetten einer Gebirgskette bei zunehmender Entfernung hintereinander, beeinflussen sich und lösen einander ab. Was einst als tatsächliche Gegenwart und mögliche Zukunft erfahren wurde, tritt in den Raum vergangener Wirklichkeitswahrnehmungen zurück und zersetzt sich unter dem Eindruck neuer Erfahrungen in die strenge Alternative von Bestätigung und Widerlegung.¹⁸ Auf der anderen Seite kann ein literarisches Werk im Wandel der Zeiten allerdings auch eine überzeitliche, gewissermaßen mythologische Lektüre freigeben, die sich von den zeitgenössischen Bedingungen seiner Entstehung löst. Von der historisch-prognostischen Lektüre trennt sich damit die literarische Lektüre, die einen überzeitlichen Gehalt im zeitlich gebundenen Handlungsverlauf aus-

 Vgl. hierzu Hölscher: Entdeckung der Zukunft (Anm. 3), S. 7 ff.

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macht. Einen solchen Gehalt gab zwar auch schon die zeitgenössische Lektüre frei, aber erst in der retrospektiven Lektüre distanziert sich dieser von den historisierenden Lektüren einer späteren Zeit. Ein gut dokumentiertes Beispiel hierfür bieten die biblischen Erwartungen eines kommenden Gottesreiches, die in gewandelter Form auch die Zeit ihrer Entstehung überlebt haben. Die sogenannte Parusieverzögerung, also die Tatsache, dass Jesu Wiederkehr zum Letzten Gericht über mittlerweile 2000 Jahre ausblieb, konnte ihnen nichts anhaben, im Gegenteil: Sie begründete eine Zeitfigur des nahen Endes der Welt, die bis heute immer wieder abrufbar ist, wenn die Dinge so aussehen, als ob das Ende nahe bevorsteht.¹⁹ Zahlreiche andere Beispiele für die Transformation historisch bedingter Erfahrungen in überzeitliche Mythen finden sich aber auch in griechischen Mythen wie der Geschichte von Ödipus, Elektra oder von Amphitryon, die in immer neuen Bearbeitungen und Versionen bis heute aussagekräftig bleiben. Für die Zukunftsromane bildet Thomas Mores Erzählung von Utopia, der glücklichen Insel jenseits des Meeres, den gattungsstiftenden Prototyp. Darin allerdings war noch von keiner Zukunft die Rede, in die sich die gegenwärtige Welt einst verwandeln würde. Sie trat erst mit Louis-Sébastien Merciers Zukunftsroman von 1771 L’an 2440 in den Horizont der geschichtlichen Entfaltung der Welt. Fassen wir zusammen: Die vorstehende Erörterung des Zukunftskonzepts in Alexanders Schlacht über Berlin hat zweierlei gezeigt: (1) Die fiktionale Zukunft des Zukunftsromans und die faktuale Zukunft derjenigen, die sie entwerfen beziehungsweise lesen, hängen eng zusammen. Die fiktionale Zukunft besetzt nämlich genau jenen Ort, den die historische Prognostik offenhält. Sobald sich zu einem späteren Zeitpunkt zeigt, welche Zukunftsvorstellungen sich erfüllt haben und welche widerlegt worden sind, zerbricht der Pakt zwischen Fiktion und Realität, der jedem Zukunftsroman zugrunde liegt.Was sich historisch gesehen als Illusion erweist, kann allerdings literarisch gesehen eine überzeitliche Aussage enthalten, die durch keine geschichtliche Erfahrung grundsätzlich widerlegt werden kann. (2) Literarische Erzählungen berühren sich häufig mit Gegenwartsorientierungen im Alltag darin, dass das Geschehen erzählerisch von seinem Ausgang her entworfen wird. Literarische Erzählungen imitieren darin das Alltagsbewusstsein, dass sie im Gang der Erzählung die Zukunft als offen und unvorhersehbar darstellen. Tatsächlich dient die retrospektive Betrachtung der eigenen Gegenwart im Alltag allerdings einem ganz anderen Zweck, nämlich der Reduktion einer

 Hölscher, Lucian: Weltgericht oder Revolution, Stuttgart 1989, S. 46 – 60.

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überkomplexen gegenwärtigen Lage auf das Planspiel einer denkbaren Zukunft, die, wenn sie einträte, das Bild einer überschaubaren Gegenwart mit klaren Handlungsoptionen freigäbe.

Medardus Brehl

„Gefallen gegen die Gegenwart“

(Anti‐)Modernismus, politische Abgrenzungen und alte Feinde in politischen Zukunftsromanen des Jahres 1924 In einem der zahlreichen Gespräche zwischen den beiden zentralen Protagonisten des Romans Und wieder wandert Behemoth. Roman einer Spätzeit von Egmont Colerus, erschienen 1924 im Atlantischen Verlag, findet sich eine Passage, die in bemerkenswerter Weise die Bedeutung eines Nachdenkens über Vergangenheit und Zukunft für das Verständnis von Gegenwart konzipiert. Auf die von seinem Freund und Gegenspieler, dem Architekten, Künstler und Dichter Zarathustra Orley, gestellte Frage, wie er sich die Zukunft vorstelle, antwortet hier der Unternehmer, Maschinenmonopolist, „Trillionär“¹ und Herr über die Elektrizitäts-, Licht- und Finanzwirtschaft der westlichen Hemisphäre Roger Herckenau: „Sie rufen mich zu Rätseldeutungen auf, Zarathustra Orley, denen ich mich nicht gewachsen fühle. Ja, Sie verlangen von mir Prophezeiungen. Darauf kann ich Ihnen nur antworten, daß es meiner Ansicht nach nur ein wahres Wissen um die Gegenwart gibt! Geschichte und Utopien sind bunte Verkleidungen des Augenblicks, noch öfters Zerrbilder der heutig lebendigen Kräfte. […] Daher liebe ich nur jene Art zeitloser, das heißt bewußt gegenwartsverbundener Geschichte, die weder eine Erzählung des Vergangenen noch eine sogenannte Prophezeiung ist. Ein Sehen, das die heute schon vorhandenen Ansätze, die noch verborgenen Keime zum Ende spinnt oder sich in Vergangenes, das uns ähnlich war, verhüllt, um Gegenwärtiges farbenglühender zu sagen. Dann ist ein Seher in meinem Sinne nicht ein Mensch, der die Zukunft, die wirklich einmal werdende Zukunft sieht oder die wahre Vergangenheit durchleuchtet, sondern er ist ein Seher, ein Sehender der Gegenwart in ihren verborgensten Anzeichen. Ob die Zukunft aber diese Ansätze entwickeln wird, ob die Vergangenheit diese von uns hineingelegten Ähnlichkeiten aufwies, kann niemand sagen“.²

Ein gesichertes Wissen über Vergangenheit und Zukunft, so Herckenau, der sich in seiner Erörterung der Zuweisung einer Rolle als Prophet entzieht, sei unmöglich. „Wahres Wissen“, ein Wissen, das als tatsächlich und wahrhaftig gelten könne, sei nur das gegenwärtige Wissen um die Gegenwart. Jede Interpretation von Vergangenem, auch wenn sie zu einer Gegenwart hinführe, jede Prognose hinsichtlich einer möglichen Zukunft, die aus dieser Gegenwart hervorgehe, sei letztlich nur eine Ausdeutung, oftmals nur eine verzerrende Interpretation (ein „Zerrbild“) der Gegenwart. Aber im Bewusstsein um diese Bedingung, in einem  Colerus, Egmont: Wieder wandert Behemoth. Roman einer Spätzeit, Berlin u. a. 1924, S. 8.  Ebd., S. 83. https://doi.org/10.1515/9783110773217-005

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bewussten Erzählen „zeitloser, […] gegenwartbezogener Geschichte“, könne die „Gegenwart in ihren verborgensten Anzeichen“ durchleuchtet und zu einem tieferen Verständnis, einem Durchschauen dieser Gegenwart selbst beigetragen werden. Im Spiegel einer möglichen Zukunft gewännen für den Seher somit die Potentiale, die Probleme und Gefährdungen der Gegenwart schärfere Konturen. Daher könne ein solches, gewissermaßen parabel- oder gleichnishaftes Erzählen von Vergangenheit und Zukunft schließlich auch die Notwendigkeit zu veränderndem Handeln in der Gegenwart offenbaren. Denn das Bild eines zukünftigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen Niedergangs bedeute nicht, dass dieser Niedergang tatsächlich zwangsläufig eintreten müsse: „Auch das klarste Gefühl des werdenden Abends [beweist] noch nicht den wirklichen Einbruch der Dämmerung. Außer, wenn wir alle an den Abend glauben und zur Ruhe gehen, anstatt zu handeln!“³ – so Herckenau weiter. Zur Gegenwart und den aus ihr womöglich folgenden Entwicklungen, die in Zukunftsszenarien entworfen werden, so die Logik der Argumentation, gibt es eine Alternative – und es gibt Handlungsoptionen. Die Beschäftigung mit möglichen Zukünften, die sich aus den Konstellationen einer Gegenwart plausibel ableiten lassen, eröffnet Erkenntnisse über Gefahren und Potentiale, die in der Gegenwart liegen und die bekämpft oder genutzt werden können. Die in dieser kurzen Passage vorgestellten Überlegungen können durchaus als programmatisch für so etwas wie eine politische Signatur der Poetik des Zukunftsromans der 1920er Jahre gelesen werden. Betrachtet man den Zukunftsroman zunächst allgemein in einer gattungspoetischen Perspektive,⁴ so lässt sich als poetisches Minimum feststellen, dass die Spezifik des Zukunftsromans darin besteht, eine Handlung/Fabel/Story zu entwerfen, die sich nachzeitig zur Gegenwart des Entstehungs- und auch angenommenen Rezeptionszeitpunktes des Textes verhält. Die in der Fabel entworfene zukünftige Wirklichkeit steht dabei in einem gewissermaßen ‚historischen‘ Verhältnis zur erfahrenen Wirklichkeit der zeitgenössischen Rezipienten, sie erscheint also als das Ergebnis von – technischen, sozialen, kulturellen, politischen et cetera – Entwicklungen, die als realistisch und plausibel aus der erfahrenen Gegenwart des Produzenten und der zeitgenössischen Rezipienten ableitbar entworfen werden. Aus dieser Konstellation – der Schilderung einer zukünftigen Zeit, die signifikant von erfahrener Gegenwart abweicht, aufgrund plausibler Entwicklungen aber mit dieser Gegenwart entwicklungslogisch verbunden erscheint – gewinnt der Zukunftsroman nicht

 Ebd.  Vgl. hierzu die grundlegenden Ausführungen bei Brandt, Dina: Der deutsche Zukunftsroman 1918 – 1945. Gattungstypologie und sozialgeschichtliche Verortung, Tübingen 2007, S. 5 ff.

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zuletzt auch sein Spannungspotential und seine Faszination für den Rezipienten: Denn bei der Lektüre eines Zukunftsromans wird die erfahrene Gegenwart des zeitgenössischen Lesers als Rezeptionsfolie stets vorausgesetzt,⁵ da nur vor dieser Folie die Veränderungen in der Zukunft und gegebenenfalls die Entwicklungen, die zu diesen Veränderungen geführt haben, überhaupt als solche lesbar werden.⁶ In der Perspektive einer strukturalistischen Poetologie lässt sich das poetische Grundmuster des Zukunftsromans wie folgt fassen: Die erfahrene Wirklichkeit der zeitgenössischen Rezipienten und die im Roman geschilderte zukünftige Welt stehen zueinander im Verhältnis von automatisierter Folie und Novum. ⁷ Die Qualität dieses Verhältnisses, der jeweilige Grad der Verfremdung, anders gesagt: der signifikanten Differenz von erfahrener Wirklichkeit als automatisierter Folie und geschildeter zukünftiger Welt als Novum wird im Folgenden mit dem Begriff der Differenzqualität gefasst. Das poetische Grundmuster des Zukunftsromans gewinnt dann eine ausdrücklich „politische“ Qualität, wenn die Schilderung einer zukünftigen Welt (das Novum) nicht vornehmlich als ein Verfahren der Erzeugung von Spannung oder Faszination beim Rezipienten dient, sondern die geschilderte Zukunft in ein explizites Spannungsverhältnis zur erfahrenen Gegenwart der zeitgenössischen Rezipienten (der automatisierten Folie) gestellt wird, wenn die Schilderungen zukünftiger, aus gegenwärtigen politischen Konstellationen als plausibel, wenn nicht gar als wahrscheinlich hervorgegangener Zustände vor allem der politischen Gegenwartsreflexion dienen, somit ein Bild der Gegenwart reflexiv strukturieren, nicht zuletzt mit einer Aufforderung zur Veränderung gegenwärtiger Verhältnisse einhergehend, um bestimmte Entwicklungen als zu befördern oder  Dies korrespondiert auf der Ebene der poetischen Programmatik mit der wissenstheoretischen Feststellung Benjamin Bühlers und Stefan Willers, dass ein „Zukunftswissen“ stets von „den erkenntnistheoretischen Bedingungen und Möglichkeiten der Gegenwart“ gerahmt und limitiert sei; vgl. Bühler, Benjamin / Willer, Stefan: Einleitung, in: Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, hrsg. von dens., Paderborn 2016, S. 17.  Vgl. hierzu Darko, Suvin: Poetik der Science Fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung, Frankfurt am Main 1979. Zentral für die Poetik der Science-Fiction, so Darko, sei die Konstituierung einer maximal von der den Leser umgebenden empirischen Wirklichkeit abweichenden, jedoch nicht phantastischen Zukunftswirklichkeit, eines „Novums“, dessen Funktion in einer „erkenntnisbezogenen Verfremdung“ bestehe; vgl. ebd., S. 24. Dieser Effekt der „erkenntnisbezogenen Verfremdung“ durch das Novum setzte dabei „die Existenz der empirischen Wirklichkeit des Autors offen oder stillschweigend voraus, da man sie bloß als Differenz, als auf die eine oder andere Art abgewandelte empirische Wirklichkeit beurteilen und verstehen kann“; ebd., S. 101. Vgl. hierzu auch Esselborn, Hans: Die Erfindung der Zukunft in der Literatur. Vom technisch-utopischen Zukunftsroman zur deutschen Science Fiction, Würzburg 2019, S. 41 ff.  Link, Jürgen: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis, München (5. Aufl.) 1993 (zuerst 1974), S. 98.

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zu verhindern herauszustellen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die jeweilige Qualität der Differenz zwischen den in den politischen Zukunftsromanen entworfenen Szenarien und der erfahrenen Wirklichkeit der zeitgenössischen Rezipienten in einem Korrespondenzverhältnis zu den in den Romanen verhandelten politischen Problemen steht, wobei nicht zuletzt auch spezifische Handlungsräume und -optionen für die Figuren konturiert werden. Verhandeln also die Zukunftsromane der 1920er und 1930er Jahre, die im Zentrum dieses Sammelwerks stehen, tatsächlich vor allem (politische und gesellschaftliche) Probleme ihrer Entstehungszeit im Modus der Imagination ihrer möglichen Folgen in der nahen oder fernen Zukunft? Zu bestätigen scheint dies die Inschrift auf dem Grabstein des Protagonisten Heinrich Maurer in Egon Freys Roman Schakal. Ein Kampf um die Zukunft. ⁸ Heinrich Maurer hatte nach einem langen Prozess der Irrungen, Verunsicherungen und Verführungen durch den mit unübersehbar antisemitischen Signierungen versehenen Händler „Erwin Schakal aus Lemberg“,⁹ der in der Romanhandlung alles und jeden zur Ware zu machen und im Strom des Umsatzes zu verwerten sucht, in einem Akt der Selbstermächtigung seinen Widersacher getötet, um anschließend bei seiner Festnahme selbst den Tod zu finden. „In memoriam Heinrich Maurer. Gefallen gegen die Gegenwart“, so lautet die Grabinschrift.¹⁰ Geht man nun davon aus, dass politische Zukunftsromane zuvorderst die „Gegenwart in ihren verborgensten Anzeichen“,¹¹ somit gleichsam in ihrer historischen, zukunftsbildenden Potentialität zu schildern suchen, dann stellt sich vor allem die Frage, wie sie dies jeweils tun: Auf welche Weise wird die poetische Grundstruktur des Zukunftsromans also jeweils genutzt, um eine bestimmte politische Aussage zu formulieren und welche Probleme der Gegenwart werden im Modus ihrer möglichen zukünftigen Auswirkungen/Folgen verhandelt? Welche Typen von Protagonisten werden in den Romanen eingeführt und inwiefern erscheinen diese tatsächlich als politische Akteure? Welche Typen von Gegenspielern, welche Feinde werden entworfen, die einer positiven Entwicklung entgegenstehen oder eine negative Entwicklung befördern? Wie sind die Personenkonstellationen insgesamt in den Romanen jeweils zu charakterisieren? Welche Interventionsmöglichkeiten oder Handlungsaufforderungen werden explizit geschildert beziehungsweise lassen sich aus den Entwürfen jeweils ableiten? Und nicht zuletzt: Welche Zukunftsszenarien werden zur Diskussion der in den Romanen jeweils thematisierten oder zu lösenden politischen Probleme geschildert?  Frey, Egon: Schakal. Ein Kampf um die Zukunft. Roman, Hamburg 1924.  Ebd., S. 9.  Ebd., S. 258.  Colerus: Wieder wandert Behemoth (Anm. 1), S. 83.

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In welcher Weise werden diese Zukunftsszenarien dabei an die politische Situation ihrer Entstehungszeit zurückgebunden und wie ist die Differenz zu qualifizieren, die diese Zukunftsszenarien zur erfahrenen Wirklichkeit der Rezipienten aufweisen? Diesen Fragen soll im Folgenden entlang kursorischer Lektüren von vier ausgewählten politischen Zukunftsromanen des Jahres 1924 nachgegangen werden. Die Begrenzung der Betrachtung auf Romane, die sämtlich im selben Jahr erschienen sind, folgt dem Gedanken, dass die jeweils formulierten Zukunftsentwürfe auf einem weitgehend ähnlichen Stand des Wissens um die politischen Entwicklungen in Deutschland und Europa basieren, vor dem Hintergrund dieser gemeinsamen Wissensfolie „plausibel“ ableitbare Zukünfte entwerfen und gegebenenfalls implizit/explizit Aufforderungen zum verändernden Eingreifen in den Lauf der Geschichte formulieren. Das Erscheinungsjahr 1924 wurde dabei aus zwei Gründen für die Eingrenzung der zu untersuchenden Texte ausgewählt: Zum einen ist das Jahr 1924 mit Blick auf die Gesamtzahl der in den 1920er und 1930er Jahren publizierten Zukunftsromane ein besonders reiches: nahezu dreißig Romane, die dem Genre des Zukunftsromans in einem engen Sinne zuzurechnen sind, wurden in diesem Jahr veröffentlicht.¹² Zum anderen markiert das Jahr 1924 die Schnittstelle zwischen den unruhigen und fragilen Entstehungsjahren der Weimarer Republik und dem (relativ) ruhigen Jahrfünft vor der Weltwirtschaftskrise.

1 Revanche oder Revision – Krieg oder Frieden Explizit im Kontext des Zeitgeschehens der erfahrenen Wirklichkeit seiner möglichen Rezipienten im Erscheinungsjahr 1924 verortet sich der als Band 1 der „Neue[n] Romanreihe“ Freiheit und Kultur des Berliner Verlags Fritz Kater erschienene Roman Revanche für Versailles! Eine Vision ¹³ des ehemaligen preußischen Offiziers Arthur Zapp.¹⁴ Während der appellativ formulierte Titel Revanche  Darunter befindet sich mit Alfred Döblins Berge Meere und Giganten (Berlin 1924) auch der einzige „Zukunftsroman“ der 1920er und 1930er Jahre, der es in den Kanon der deutschen Literaturgeschichte geschafft hat. Da dieser Text in mehreren Beiträgen des vorliegenden Bandes besprochen wird und er zudem nicht dem engeren „Beuteschema“ dieses Artikels entspricht, wird er in diesem Aufsatz nicht diskutiert werden.  Zapp, Arthur: Revanche für Versailles! Eine Vision, Berlin 1924.  Arthur Zapp (1852– 1925) hatte als Freiwilliger am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 teilgenommen und danach als Offizier in der Preußischen Armee gedient. Nach seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst und einem längeren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten, wo er als Sprachlehrer und Mitarbeiter der deutschsprachigen New Yorker Staatszeitung gearbeitet hatte, trat er ab Mitte der 1880er Jahre mit zahlreichen, teils auch durchaus erfolgreichen Romanen und

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für Versailles! unmittelbar die Vorstellung evozieren mag, der Text gehöre in das Feld virulenter revanchistischer Diskurse der deutschen Rechtkonservativen oder Völkischen, markiert der von dem anarchosyndikalistischen Gewerkschafter und zeitweiligem Vorsitzenden der Berliner Geschäftskommission der Freien Arbeiter Union (FAU) in Berlin Fritz Kater (1861– 1945) gegründete Verlag, in dem der Roman erschien, einen links-pazifistischen Diskurszusammenhang. Gerade in dieses Spannungsfeld – zwischen völkisch-rechtskonservativem Revanchismus und pazifistischer Vision – schreibt sich der Roman, wie im Folgenden deutlich werden wird, tatsächlich auf bemerkenswerte Weise ein. In einer dem eigentlichen Romantext vorausgeschickten Vorbemerkung nimmt der Verfasser eine konkrete Einordnung seines Textes in die politische Situation der Jahre 1923/24 vor und formuliert sein grundsätzlich politisches Anliegen. Die „Arbeit“, so Zapp, sei „noch vor den Verhandlungen über das Dawes Gutachten in London“,¹⁵ die am 14. Januar 1924 begannen und mit denen die Reparationszahlungen Deutschlands an die Alliierten geregelt werden sollten, abgeschlossen worden. Die „Vorbemerkung“ selbst ist auf den 2. Oktober 1924 datiert und blickt somit bereits auf den Abschluss des Dawes-Gutachtens, seine Unterzeichnung am 16. August 1924 und sein Inkrafttreten am 1. September 1924 zurück. Dieses Inkrafttreten des Dawes-Plans, so Zapp, werde in manchen Kreisen der deutschen Bevölkerung zwar als ein wichtiger Schritt in Richtung einer Sicherung des Friedens aufgenommen, „von den Nationalisten aber als eine Bekräftigung der Deutschland auferlegten unerträglichen Lasten des sogenannten Friedens von Versailles angesehen“.¹⁶ Die Gefahr eines neuen Krieges sei daher keineswegs gebannt – und der Grund hierfür besteht für Zapp zweifelsfrei in der andauernden Besetzung deutscher Städte durch das französische Militär und die Gültigkeit der Versailler Ordnung. Dies führe dazu, dass einflussreiche Kräfte in Deutschland der Überzeugung seien, nur ein neuer, siegreicher Krieg könne das Reich „die ihm gebührende Stellung in Europa und in der Welt“¹⁷ zurückgewinnen lassen. Die möglichen Folgen dieser Situation wolle er in seiner „Vision“ schildern.

Erzählungen hervor, wobei er in seinen späteren Jahren insbesondere – wie aus einer in Revanche für Versailles! abgedruckten Werbeseite des Hamburger Gebrüder Enoch Verlags hervorgeht – das Genre des „sozial-erotischen Roman[s]“ pflegte. Zapp war ein äußert produktiver Schreiber, seine Publikationsliste umfasst allein für den Zeitraum zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und seinem Tod im Jahr 1925 mehr als 30 Einzelveröffentlichungen. Revanche für Versailles! ist dabei augenscheinlich der einzige explizit politische Roman Zapps.  Zapp: Revanche für Versailles! (Anm. 13), S. 5.  Ebd.  Ebd., S. 6.

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Der Roman wird somit deutlich in einem dezidiert politischen Diskursfeld verortet und folgt einer appellativen und interventionalistischen Agenda: Auch wenn der Text „in Romanform verfaßt“ sei, entbehre er doch „des eigentlichen Charakters einer Erzählung […]. Politik ist das treibende Agens, nicht die Liebe oder sonstige Aeußerungen rein menschlicher Gefühle“.¹⁸ Explizit nimmt der Verfasser somit für seinen Text den Charakter eines Programms einer an der Gegenwart engagierten politischen Aussage in Anspruch, die entlang einer im weitesten Sinne romanhaft entworfenen „Vision“ ihrer möglichen nächsten Zukunft formuliert wird. Der zeitliche Zukunftshorizont dieser „Vision“ kann somit als überaus eng charakterisiert werden: Er umfasst nur wenige Monate nach der erfahrenen politischen Gegenwart seiner potenziellen Leser im Jahr 1924. Schilderungen technischer, institutioneller, gesellschaftlicher oder politischer Innovationen oder Novitäten, wie sie für viele Zukunftsromane der 1920er Jahre typisch sind, fehlen in diesem Roman. Die Wirklichkeit der Zukunft des Romans ist in hohem Maße und ganz offen mit Jetztzeit aufgeladen, so dass die Differenzqualität von Novum und automatisierter Folie gering ausfällt. Für das Emplotment, die Story, das Personal der „Handlung“, die Figurenkonstellation und die Figurenzeichnung hat dieses Programm dann auch weitreichende Folgen. Eine Handlung im eigentlichen Sinne sucht der Leser im Roman vergeblich (insofern ist Zapps einleitende Feststellung, sein Text entbehre „des eigentlichen Charakters einer Erzählung“, durchaus zutreffend). Geschildert werden vielmehr nur wenig miteinander verbundene Szenen, in denen Figuren teils in Dialogen, häufiger in ausufernden „Reden“ ihre Sicht auf die gegenwärtige politische Situation Deutschlands darlegen und Schlüsse für eine mögliche Zukunft ziehen. Eine Vermittlung oder Annäherung von Ansichten und Positionen findet dabei nicht statt: Die Figuren reden nicht miteinander, sondern gegeneinander. Der Unvermittelbarkeit der Ansichten entspricht die Zeichnung des „Personals“ der Erzählung, das nicht aus entwicklungsfähigen oder sich entwickelnden Charakteren gestaltet ist, sondern aus statischen Typen: Die Mutter, die angesichts der Situation Deutschlands nach Kriegsende an der Sinnhaftigkeit des ‚Opfertodes‘ ihres Ehemannes und ihrer Söhne (ver)zweifelt; der dem Kaiserreich nachtrauernde und den preußischen Militarismus romantisierende Gymnasiallehrer; der jugendliche, völkisch-revanchistische und antisemitische Extremist; der Chemiker, der an einer neuen Giftgasformel für den nächsten Krieg arbeitet; der Offizier; der Sozialdemokrat; der Pazifist. Die Beziehungen dieser Figurentypen zueinander werden – wenn nicht ausschließlich, so doch zuvorderst – von ihren politischen Ansichten bestimmt, die wirkmächtig alle sozialen, auch fa-

 Ebd., S. 5.

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milialen Beziehungsgefüge und Bindungen überlagern. Protagonisten, die die Story zusammenhalten würden, gibt es nicht – die einzige Figur, die eine solche Funktion ansatzweise erfüllen könnte (der Pazifist Walter Bredow), hat erst nach einem guten Drittel des Textes (53 von 154 Seiten) einen ersten Auftritt und verschwindet bereits nach dem zweiten Drittel (S. 107) wieder, und zwar endgültig, aus der Handlung. Betrachtet man den aus einer auktorialen Perspektive erzählten Text hinsichtlich der Entwicklung der Story – oder zutreffender vielleicht: seines Arguments –, so lässt sich eine Struktur von vier größeren Sequenzen erkennen: Eine erste Sequenz, die den Charakter einer Exposition hat, zeigt in verschiedenen Szenen die Situation Deutschlands nach dem Ende des Weltkriegs, dem Friedensschluss von Versailles und den ersten Jahren der Republik. Das Ruhrgebiet ist von französischen Truppen besetzt, es herrschen Inflation und wirtschaftliche Not. Und es ist Wahlkampf. In kurzen Dialogen schildern die Figurentypen Verunsicherung, Sorgen, Not, Enttäuschung, aber auch mit der Erfahrung und den Ergebnissen des Ersten Weltkriegs verbundene Hoffnungen, mögliche Chancen und Ziele. Gezeichnet wird dabei das Bild einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft, in der konträrere politische Positionen unversöhnlich gegeneinanderstehen, aber auch das Gesellschaftsbild selbst auf dem Spiel steht. Einigkeit besteht über alle Unversöhnlichkeit hinweg allerdings dahingehend, dass mit dem Vertrag von Versailles eine Lage geschaffen worden sei, die einer unbedingten Revision bedürfe. Die angestrebten Wege zu einer solchen Revision differieren jedoch erheblich: Niederlage, „Schandfriede“, wirtschaftliche Not, Reparationsforderungen, Ruhrbesetzung und Inflation haben Deutschland und die deutsche Geschichte für die einen ins Unrecht gesetzt, die nun darauf hinarbeiten, dieses Unrecht in einem neuen, noch fürchterlicheren Krieg zu tilgen; für die anderen hat die Erfahrung des Krieges, haben die Verluste und Verletzungen deutlich gemacht, dass man in Europa gemeinsam auf einer neuen Grundlage der Vernunft und der Verständigung für einen nachhaltigen Frieden sorgen müsse und die Versailler Ordnung daher einvernehmlich zu revidieren sei. In einer zweiten Sequenz wird dieses Tableau enggeführt, indem die für die deutsche Gesellschaft entworfene Situation in den Auseinandersetzungen innerhalb einer Familie gespiegelt wird. Hier treffen sich der liberaldemokratische Fabrikbesitzer Bredow und sein linkssozialistisch eingestellter älterer Sohn Walter, der als Frontsoldat den Krieg miterlebte, sich zum Pazifisten gewandelt hat und nun für die pazifistische „Kulturpartei“ – „populär ‚Niewiederkriegspartei‘ genannt“¹⁹ – für den Reichstag kandidiert, mit dessen jüngerem Bruder Herbert,

 Ebd., S. 58.

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der, nun Student, den Krieg nur aus Lektüren und den Erzählungen von Gymnasiallehrern kannte, sich der radikalen deutsch-völkischen Bewegung angeschlossen hat und dem antisemitischen Jugendbund „Sonnenwende“ angehört. Im Zentrum dieser zweiten Sequenz steht eine in den Roman eingelassene umfangreiche, mit 46 Textseiten beinahe ein Drittel des Romans umfassende Rede Walter Bredows auf einer Wahlkampfveranstaltung der „Kulturpartei“, die letztlich von Mitgliedern des völkischen Jugendbundes „Sonnenwende“ gestürmt wird, wobei Walter Bredow von seinem jüngeren Bruder erschossen wird. Eine dritte Sequenz des Romans entwirft dann die möglichen Folgen einer solchen hier geschilderten Situation unversöhnlicher Gegensätze in der Gesellschaft: Die Entstehung negativer Mehrheiten im Parlament durch eine Pulverisierung der demokratischen Parteien der Mitte; die Regierungsübernahme durch ein von Wirtschaftsliberalen und konservativen Monarchisten gestärktes deutschvölkisches Bündnis, das eine offen revanchistisch-konfrontative Politik gegen Frankreich führt; die Eskalation in einem verheerenden, weltweit geführten Krieg von ungeahnten Ausmaßen, der als Luftkrieg mit neuartigen Gas-, Brand- und Sprengbomben sowie biologischen Kampfstoffen (etwa Krankheitserregern) vor allem gegen Städte und Zivilisten geführt wird. Dieser neue Krieg bringt dann jedoch zunächst gerade keine Lösung der „deutschen Probleme“ – führt aber schließlich, und dies markiert die vierte Sequenz der Erzählung, auf allen Seiten zu der Einsicht, dass Politik in Europa und der Welt auf eine neue Basis gestellt werden müsse, auf die Basis von Pazifismus, Vernunft, Deeskalation, Verständigung: Heute […] war Internationalismus die Losung, und wehe dem, der gewagt hätte, Antimilitarismus und Internationalismus wie ehedem als etwas Minderwertiges, Verächtliches, als Vaterlandsverrat zu verketzern! […] Allenthalben hatte sich unter den europäischen Völkern die Ueberzeugung Bahn gebrochen, daß Europa nur mit gemeinschaftlicher Anstrengung und mit dem innigsten, von keinem gegenseitigen Uebelwollen beeinträchtigten Zusammenarbeiten gerettet werden konnte… .²⁰

Als Konsequenz dieser „Ueberzeugung“ entwirft der Text die Abschaffung der „Geheimdiplomatie“ und die Regierungsübernahme durch einen supranationalen „europäischen Kongress“²¹, mit einem aus einem Engländer, einem Deutschen und einem Franzosen bestehenden Präsidium an der Spitze, das auf Grundlage einer gemeinschaftlichen Revision der Versailler Ordnung, die auch das Deutsche

 Ebd., S. 152 f.  Ebd.

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Reich in Würde und Recht als politischen Akteur wieder einsetzt, nun eine nachhaltige Friedensordnung für Europa schafft. Wenn man den Roman in seinem Argument also in den Blick nimmt, scheinen die linkspazifistischen Aspekte dieser Zukunftsvision zu dominieren. Dies betont auch Peter S. Fisher in seiner Studie Fantasy and Politics, der den Romantitel Revanche für Versailles! als „ironisch“²² interpretiert und hervorhebt, dass Zapps Roman jedem Revanchismus und Revisionismus eine gründliche Absage erteile.²³ Auch identifiziert Fisher die politischen Positionen des von seinem völkischen Bruder ermordeten „Niewiederkriegspartei“-Protagonisten Walter Bredow mit denen des Autors.²⁴ Sicherlich ist Fishers Interpretation insofern zuzustimmen, als der Titel des Romans die völkisch-nationalistische Linie der Diskurse um eine Revision des Versailler Vertrags akzentuiert und sich von den Protagonisten dieses Diskurses distanziert, da deren radikal-unversöhnliche, aggressiv-revanchistische Politik in der Argumentation des Romans notwendig in einen neuerlichen Krieg führt – gegen den der Verfasser sich mit seinem Text zu engagieren sucht. Andererseits bleibt in Zapps Roman die Forderung nach einer Revision von Versailles legitim und avanciert zur notwendigen Basis, zur conditio sine qua non einer nachhaltigen Friedensordnung. Dies ist das eigentliche Argument der – zumindest für das Personal des Romans – zunächst ja gar nicht so friedlichen Zukunftsvision des Arthur Zapp: Den zukünftigen verheerenden Krieg zu verhindern, der angesichts der tiefen Spaltung der deutschen Gesellschaft droht, weil national-völkische Kräfte sich ein berechtigtes Anliegen zu Nutze machen und –

 Fisher, Peter S.: Fantasy and Politics. Visions of the future in the Weimar Republic, Madison WC 1991, S. 163.  Ebd., S. 163 ff. Ganz ähnlich auch Jost Hermand, der Zapps Roman für gänzlich frei von chauvinistisch-imperialistischen oder revisionistischen Absichten hält und ihm einen „zutiefst liberalen Charakter“ zuschreibt; vgl. Hermand, Jost: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Weinheim 1995 (zuerst: Frankfurt am Main 1988), S. 355 f. Hermand bietet dabei in seinem knappen Referat des Romans übrigens eine erstaunliche Fehllektüre an, die die Story des Romans verfälscht und mit dem Argument des interpretierten Textes überhaupt nicht korrespondiert. So stellt er etwa fest, dass es in Zapps Roman der „Kulturpartei“ respektive „Niewiederkriegspartei“ nach einem „zweiten Weltkrieg […], der von den deutschen Rechtsradikalen vom Zaun gebrochen wird“, gelänge, „die Deutschen zum Verzicht auf ihre nationale Selbstständigkeit zu bewegen und einem Vereinigten Europa beizutreten“ (ebd., S. 356). Tatsächlich führt im Roman eine – aufgrund der offensichtlichen Nicht-Gewinnbarkeit des neuen, dezidiert gegen die Zivilbevölkerung geführten Krieges – in allen Staaten gleichermaßen gewonnene Einsicht in die Notwendigkeit einer neuen, antimilitaristisch-pazifistischen Friedensordnung dazu, dass man einen supranationalen Kongress installiert – der a) die Versailler Ordnung revidiert, b) das Deutsche Reich rehabilitiert und damit c) überhaupt erst die Grundlagen für einen dauerhaften Frieden schafft.  Fisher: Fantasy and Politics (Anm. 22), S. 168.

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es für ihre politischen Zwecke radikalisierend – missbrauchen. Dabei muss offenbleiben, ob Zapp tatsächlich der Meinung war, es bedürfe der Schrecken eines Zweiten Weltkriegs, damit die Menschheit endlich zur Besinnung käme.²⁵ Der Roman jedenfalls folgt einer anderen Agenda: Der drohende Krieg als Folge gegenwärtiger politischer Konstellationen wird geschildert – nicht, um den Krieg der Zukunft vorzubereiten oder ihn als unvermeidbar zu entwerfen.²⁶ Er wird als drohende Möglichkeit entworfen, um ein Handeln in der Gegenwart anzumahnen, das einen neuerlichen Krieg nicht als Zwischenschritt zu einer Friedensordnung benötigt, sondern ihn als das behandelt, was er im Roman qua Genre noch ist: eine dystopische Fiktion.

2 Ein Hinterweltler aus dem Hinterwald Während in Zapps „Vision“ der Versailler Nachkriegsordnung nur ein kurzer Bestand prognostiziert und im Falle einer Nicht-Revision sowie der Fortdauer der Besatzung deutscher Regionen ein unmittelbar bevorstehender Zweiter Weltkrieg erwartet wird, hat diese Versailler Ordnung in Rudolf Lämmels²⁷ unter dem Pseudonym „Heinrich Inführ“ im Jenaer Granula Verlag publiziertem Roman ALIS. Die neue deutsche Kolonie. Das Ende von Versailles. Ein technischer Zukunftsroman (1924) bereits seit beinahe einem Menschenalter Bestand. Als eine

 So argumentiert etwa Fisher; vgl. ebd., S. 170.  Eine Perspektive, „die den kommenden ‚totalen Krieg‘ für unvermeidbar erklärt“, hat Andy Hahnemann als eine zentrale Signatur zahlreicher (geo)politischer Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit typisiert; vgl. Hahnemann, Andy: Texturen des Globalen. Geopolitik und populäre Literatur der Zwischenkriegszeit 1918 – 1939, Heidelberg 2009, S. 203 – 206, hier S. 204. Vgl. auch: Wichert, Lasse: Von kommenden Kriegen. Deutsche Zukunftskriegsromane der Zwischenkriegszeit (im vorliegenden Band).  Rudolf Lämmel (1879 – 1962) wurde in Wien geboren, studierte Pädagogik und Mathematik in Zürich. Er arbeitete als Lehrer und Reformpädagoge (rhythmische Gymnastik) in Zürich, Kassel, der Odenwaldschule in Heppenheim und in Dornburg an der Saale. Aufgrund des Gesetzes zur Wiedereinführung des Berufsbeamtentums verließ Lämmel Deutschland 1933 wieder in Richtung Schweiz, wo er in Zürich als Studienrat für Mathematik arbeitete. Lämmel war ein äußerst produktiver Publizist, der zahlreiche populärwissenschaftliche Schriften zu Physik und Relativitätstheorie, zu mathematischen Fragen und zum naturwissenschaftlichen Weltbild, zu Psychologie und Psychoanalyse, zur Rassentheorie, Reformpädagogik und zum modernen Tanz veröffentlichte, aber auch Biografien über Isaac Newton und Galileo Galilei schrieb. ALIS ist sein einziger Roman. Ausführlich zu Lämmels Leben und Wirken: Näf, Martin: „Die Wirkung ins Grösste ist uns versagt“. Rudolf Lämmel, 1879 bis 1962 – Reformpädagoge, Erwachsenenbildner, Aufklärer, o. J. (http://www.martinnaef.ch/die-wirkung-ins-groesste-ist-uns-versagt-rudolf-laem mel-1879-bis-1962-reformpaedagoge-erwachsenenbildner-aufklaerer.html [Zugriff: 01.09. 2020]).

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‚Friedensordnung‘ hat sie sich dabei allerdings auch in diesem Zukunftsentwurf nicht erwiesen: „Noch ist kein Menschenalter verflossen seit dem Weltkrieg. Die Nationen stehen sich schroffer als je gegenüber, es gibt keinen Frieden in der Welt“.²⁸ Mit den drei Untertiteln des Romans werden gleich mehrere in den frühen 1920er Jahren virulente Diskursfelder angesprochen, wobei die zwei ersten Untertitel politische Diskursfelder und entsprechende literarische Gattungen konnotieren: das Feld kolonialrevisionistischer Diskurse und den in den 1920er Jahren tatsächlich boomenden Kolonialroman sowie das Feld der Revision der Versailler Ordnung und die politisch-agitatorische Publizistik.²⁹ Der dritte Untertitel ordnet den Roman dann schließlich recht apodiktisch dem Genre des „technischen Zukunftsromans“ zu. Bei der Lektüre des Romans wird allerdings schnell deutlich, dass es vor allem politische Aspekte sind, die das Argument des Romans bestimmen. Die Momente technischer Innovationen und der kolonialen Landnahme erweisen sich zwar ebenfalls als bedeutsam für die spezifische Entwicklung der Story, haben insgesamt jedoch eher illustrativen Charakter und dienen der Signierung der Differenzqualität der erfahrenen Lebenswelt der zeitgenössischen Rezipienten um die Mitte der 1920er Jahre und der erzählten Wirklichkeit. Die Welt, die politische, wirtschaftliche und technische Wirklichkeit, die der Roman entwirft, hat sich dabei in dem knappen „Menschenalter“ seit Ende des Kriegs gegenüber der erfahrbaren Wirklichkeit der Entstehungszeit deutlich verändert: Die USA sind mit Kanada zu einer „pan-amerikanischen Union des Nordkontinents“³⁰ fusioniert, die jedoch international wenig Einfluss hat, da sie politisch gelähmt wird durch die Konkurrenz zwischen evangelikalen Kreisen auf der einen Seite, „rassenfanatisch[en], über alle Maßen negerfeindlich[en]“³¹,

 Inführ, Heinrich (Pseudonym von Rudolf Lämmel): ALIS. Die neue deutsche Kolonie. Das Ende von Versailles. Technischer Zukunftsroman, Jena 1924, S. 204.  Vgl. zur Gattungsgeschichte des Kolonialromans immer noch grundlegend: Warmbold, Joachim: „Ein Stückchen neudeutsche Erd“. Deutsche Kolonial-Literatur. Aspekte ihrer Geschichte, Eigenart und Wirkung, dargestellt am Beispiel Afrikas, Frankfurt am Main 1982. Zur politischen Publizistik und agitatorischen Literatur in der Frühphase der Weimarer Republik zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Hitlerputsch vgl. als Überblick das Kapitel „Krisenjahre“ in: Kiesel, Helmut: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933, München 2017, S. 330 – 494.  Inführ: ALIS (Anm. 28), S. 36.  Ebd. Eine hier scheinbar vorsichtig mitschwingende Rassismuskritik ändert nichts daran, dass das den Roman durchgehend bestimmende anti-französische Ressentiment mit explizit rassistischen Argumenten grundiert ist, was etwa anhand des folgenden Zitats deutlich wird: „In diesen Jahren kamen in Frankreich die ersten Mischlinge ins öffentliche Leben. Die Armee begann

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durch die eng vernetzte Geheimorganisation der „Blaumasken“ in die Gesellschaft hineinwirkenden Gruppierungen auf der anderen Seite. Großbritannien ist zu einer europäischen Macht von minderer Bedeutung zurückgesunken. Zur alleinigen militärischen und politischen Führungsmacht der westlichen Welt ist das insgeheim mit den „Blaumasken“ verbündete Frankreich aufgestiegen, das diese Vormachtstellung rigoros ausnutzt, um die eigenen wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen ohne Rücksicht durchzusetzen. So werden das Rheinland und das Ruhrgebiet nach wie vor von französischen Truppen besetzt gehalten und auch weitere Städte des Deutschen Reichs, in dem Deutschland und Österreich inzwischen vereint sind,³² stehen unter der Drohung, besetzt zu werden, wenn Reparationszahlungen nicht geleistet werden (können). „Politik“ manifestiert sich in dieser Zeit dabei vor allem als Strategie der militärischen Drohung und propagandistischen Setzung von „Fakten“, die über ein ausgedehntes Nachrichtennetz in die Weltöffentlichkeit „gekabelt“ werden. Entworfen wird somit eine

sich mit halbschwarzen Soldaten zu füllen. Niemand war mehr französisch gesinnt als diese Kinder eines künftigen 100-Millionenvolkes, wie Frankreich stolz verkündete. Namentlich in die akademischen Berufe strömten die Mischlinge, bei denen oft nur das krause Haar und die wulstigen Lippen auf die Herkunft wiesen, mit Vorliebe. Diese Männer und Frauen, deren Großväter noch am Senegal die Leute der Nachbarstämme aufgegessen hatten, waren teilweise sehr intelligente Menschen, denen eine eigene Regsamkeit innewohnte. Aber es fehlte ihnen jeglicher innere moralische Halt und die seelische Ruhe. Sie waren, französischer als die meisten Franzosen, entschlossen, Deutschland noch weiter als bis zum Rhein hin zu gallisieren. Diese Gefahr stand vor den Augen der Gebildeten in Deutschland. Was konnte das immer noch waffenlose Deutschland gegen eine solche Bedrohung unternehmen?“; ebd., S. 213. Dass diese Passage eng an Diskursmuster der zeitgenössischen Kampagne gegen die sogenannte „Schwarze Schmach“ anschließt, ist offensichtlich. Zur Kampagne gegen die „Schwarze Schmach“ vgl. Wigger, Iris: Die „Schwarze Schmach am Rhein“. Rassistische Diskriminierung zwischen Geschlecht, Klasse, Nation und Rasse, Münster 2007.  Die Vereinigung Deutschlands und Österreichs gehört bereits, wie bei der Lektüre des Textes durchgehend deutlich wird, zur politischen Ausgangssituation des Romans und steht nicht erst, wie Jost Hermand in seiner Lektüre des Romans behauptet, als Ergebnis der Handlung am Ende des Romans; vgl. Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich (Anm. 23), S. 129 f., hier S. 130. Zudem blickt der Erzähler an einer Stelle auch explizit aus der Gegenwart der Romanhandlung auf eine vom Völkerbund sanktionierte Vereinigung Deutschlands und Österreich zurück: „Im Deutschen Reichstag saßen um jene Zeit – mochte auch früher oft so gewesen sein – fast lauter studierte Herren. Meist Juristen, nicht wenige Mediziner. Die klugen Leute hatten schon die Vereinigung Oesterreichs mit Deutschland, diese Erfüllung eines jahrhundertealten Traums des deutschen Volkes, für gefährlich gehalten. Damals war aber zum erstenmal Frankreich im Völkerbund völlig isoliert geblieben, da nicht ein einziger Staat sich der Vereinigung zu widersetzen wünschte. Und diese Vereinigung war das Ergebnis einer Volksinitiative gewesen, nicht der Abschluß einer Regierungsaktion oder einer parlamentarischen Anstrengung“; vgl. Inführ: ALIS (Anm. 28), S. 211.

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Zukunft, die mitunter deutliche Veränderungen gegenüber der erfahrenen Lebenswirklichkeit der Rezipienten des Jahres 1924 aufweist. Die politische Situation Deutschlands jedoch hat sich – abgesehen von der Vereinigung mit Österreich – innerhalb eines Lebensalters wenig verändert. Die Differenzqualität von erzählter zukünftiger Wirklichkeit zur erfahrbaren Wirklichkeit des Jahres 1924 ist somit zwar erheblich größer, als es in Zapps Roman der Fall war, sie ist dabei aber in signifikanter und für den zeitgenössischen Leser leicht wiederzuerkennender Weise an dessen politische Lebenswirklichkeit verwiesen beziehungsweise rückgebunden. Die diachrone Differenz zwischen erzählter zukünftiger Wirklichkeit und der Wirklichkeit zum Publikationszeitpunkt des Romans wird somit zugleich transponiert zu einer mit Blick auf die geschilderte Zukunft synchronen Differenz zwischen einer technisch und teils auch geopolitisch veränderten Wirklichkeit einerseits und andererseits einer politischen Lage, in der die Gegenwart der Jahre 1923/24 stabil fortwirkt. Erzählt wird – ähnlich wie in Zapps „Vision“ – aus einer auktorialen Erzählperspektive die Geschichte der Überwindung dieser seit Ende des Weltkriegs offenbar stabilen politischen Konstellation, das heißt die Brechung der französischen Vorherrschaft und die Re-Etablierung des Deutschen Reichs als gleichberechtigter Macht in einer völkerbundlich sanktionierten neuen Weltordnung. Eine besondere Situation Deutschlands, das aufgrund seiner geopolitischen Mittellage schicksalhaft in den Kampf um Raum und Existenz gezwungen sei, wird gleich mit den ersten Sätzen des Romans akzentuiert: Ueberall, wo die deutsche Erde zu Ende geht und die Dörfer eines anderen Volkes anheben, da wogt seit Jahrhunderten der Kampf um die Scholle zwischen den Nationen. Still oder laut – der Kampf findet meist ein Echo in allen deutschen Ländern.³³

Die Schuld an der Eskalation dieses schicksalhaften, seit dem späten 18. Jahrhundert andauernden Existenzkampfes wird dem französischen Nachbarn zugeschrieben, der „eine niederträchtig gemeine Revolution gehabt und nachher Europa ein Vierteljahrhundert in Blut getaucht“ habe, während „Deutschlands Fürsten […] von ihren Thronen gegangen“ seien, „als es Zeit war, und niemand [in Deutschland] das Bedürfnis gehabt [habe], die Revolution durch Mord und Schändung zu feiern“³⁴ – so der im Zentrum der Handlung stehende, aus der im Roman als die „vergessenen Lande“³⁵ bezeichneten Steiermark stammende In-

 Inführ: ALIS (Anm. 28), S. 7.  Ebd., S. 13.  Ebd., S. 7.

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genieur³⁶ Peter Hartberger. Dieser wird durch ein besonderes „Weltgefühl“ charakterisiert, das ihn die verborgene Wahrheit der Dinge und der Verläufe der Zeit erschauen lässt. Für die Entwicklung der Story von großer Bedeutung ist seine Gabe, „Metalle auf weite Entfernungen durch Geruch und Gefühl“ zu erkennen, aber auch die Fähigkeit, Geschichte und historische Konstellationen zu durchschauen und deutend zu erfassen.³⁷ In politischer Hinsicht ist dieser Historiokinetiker³⁸ Hartberger, der sich selbst als „national gesinnt, aber nicht nationalistisch“³⁹ beschreibt, davon überzeugt, dass die notwendige Rehabilitation Deutschlands von zwei Aspekten abhänge: einer „technischen Großleistung“⁴⁰ und dem Erwerb einer neuen Kolonie, die Deutschland, das man nach Kriegsende seiner rechtmäßigen Kolonialbesitzungen beraubt habe, neuen Reichtum verschaffe. Allerdings sei eine solche Kolonie, so Hartbergers Überzeugung, nur noch auf dem Grund der Meere zu finden, da die Welt unter den anderen Mächten vollständig verteilt sei.⁴¹ Diese Überzeugung ist ihm Antrieb, „sich vom Bann der vergessenen Lande los[zulösen], um etwas Großes für das deutsche Volk zu leisten“.⁴² In Berlin, wo er erfolglos die Promotion anstrebt, lernt er die deutschamerikanische Komponistin Ria Wimpffen kennen, Tochter eines erfolgreichen amerikanischen Unternehmers, die beschrieben wird als eine „lebendige Bejahung der Frage, ob deutsches Blut und amerikanisches Wesen eine glückliche Kombination ergebe“.⁴³ Ria überzeugt Hartberger davon, mit ihr in die PanAmerikanische Union zu reisen. Während der Überfahrt erspürt Hartberger auf dem Grund des Atlantiks das Metall der versunkenen Stadt Atlantis und beschließt gemeinsam mit Ria Wimpffen, die Insel zu heben und für Deutschland als Kolonie in Besitz zu nehmen. Unterstützt werden die beiden dabei von einem  Zur Bedeutung der Figur des ‚Ingenieurs‘ in Utopie- und Zukunftsdebatten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts siehe: Leucht, Robert: Die Figur des Ingenieurs im Kontext. Utopien und Utopiedebatten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Jg. 36 (2), 2011, S. 283 – 312; ders.: Dynamiken politischer Imagination. Die deutsche Utopie von Stifter bis Döblin in ihren internationalen Kontexten, Berlin u. a. 2016, S. 249 – 322; Brandt: Der deutsche Zukunftsroman (Anm. 4), S. 221– 278; vgl. in diesem Zusammenhang ferner auch Hahn, Robert: Der Erfinder als Erlöser. Führerfiguren im völkischen Zukunftsroman, in: Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Hans Esselborn, Würzburg 2003, S. 29 – 47.  Inführ: ALIS (Anm. 28), S. 9.  Für diesen Begriff ebenso wie für zahlreiche Anregungen und Hinweise danke ich Kristin Platt.  Inführ: ALIS (Anm. 28), S. 185.  Ebd., S. 13.  Ebd., S. 69.  Ebd., S. 13.  Ebd., S. 25.

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Team ganz unterschiedlicher Personen, zu dem unter anderem folgende Figuren gehören: Rias Vater, der die nötigen Finanzen zur Verfügung stellt; der geniale, aus Galizien in die Panamerikanische Union ausgewanderte jüdische Physiker und Psychologe Max Erichson – anhand seiner Beschreibung im Roman leicht als eine Chimäre aus Albert Einstein und Sigmund Freud zu dechiffrieren⁴⁴ –, der für die Entdeckung der „Nukleotidenschwärme“ den Nobelpreis erhalten hatte; sowie die russisch-jüdische Tänzerin Vera Garwin, die im Rahmen einer weltweiten Tanztournee eine von Ria Wimpffen entworfene Choreographie präsentiert, mit der für die berechtigten Ansprüche Deutschlands auf die Kolonie Atlantis und auf Rehabilitation des Reichs geworben wird.⁴⁵ Dieses Projekt, in dem Wirtschaft, Wissenschaft und Künste im Verbund für die Verwirklichung der in der Logik des Textes in jeder Hinsicht gerechtfertigten Ansprüche Deutschlands zusammenarbeiten, wird mit Hilfe einer ganzen Reihe technisch-phantastischer Innovationen verwirklicht: tauchglockenartige Anzüge, „Spharoskope“ genannt, die den Ingenieuren ermöglichen, auf dem Grund des Meeres zu arbeiten und die dort lagernden Reichtümer zu heben; eine nach der Idee Hartbergers von Erichson entwickelte Nukleotidenstrahlkanone, die weiches Metall erhärten oder hartes Metall erweichen kann und mit deren Hilfe die herannahende Kriegsflotte Frankreichs, das ebenfalls Ansprüche auf das entdeckte Atlantis erhebt, manövrierunfähig gemacht wird; ein holografisches Projektionssystem, mit dem die Tanzaufführungen Vera Garwins in Echtzeit in zahlreiche Konzerthäuser auf dem

 Lämmel/Inführ hat sich sowohl mit Einstein wie auch mit Freud intensiv beschäftigt; vgl. dazu Näf: Rudolf Lämmel, 1879 bis 1962 (Anm. 27), unpg. Einstein hatte er während seines Studiums kennengelernt und widmete dessen Relativitätstheorie später mehrere populärwissenschaftliche Schriften, so unter anderem Lämmel, Rudolf: Wege zur Relativitätstheorie, Stuttgart 1921; ders.: Die Grundlagen der Relativitätstheorie. Populärwissenschaftlich dargestellt, Berlin/Heidelberg 1921. Außerdem ließ er Einsteins Relativitätstheorie mit der Idee der „Nukleotidenschwärme“ Eingang in ALIS finden. Mit Freuds Thesen hat Lämmel sich bereits seit den 1910er Jahren in seinen Überlegungen zum modernen Tanz, dem er eine therapeutische Wirkung beimaß, auseinandergesetzt, später dann vor allem auch in seinen Schriften zur Massenerziehung und Berufsberatung, vgl.: Lämmel, Rudolf: Der moderne Tanz. Eine allgemeinverständliche Einführung in das Gebiet der rhythmischen Gymnastik und des Neuen Tanzes, Berlin o. J. [1928]; ders.: Intelligenzprüfung und Psychologische Berufsberatung, Zürich 1922; ders.: Die Erziehung der Massen. Grundlagen der Staatspädagogik, Jena 1923.  Das Ende der aus sechs Tänzen bestehenden Choreographie, deren letztes Bild das „deutsche Leid“ zeige („Ein geschlagenes Volk; vom Sieger gedemütigt; an tausend Stellen gequält, von Negern bewacht, von fremden Beamten gepeinigt. Wie sieht es in den Herzen der Millionen aus? Wie gehen Frauen, Mütter, Töchter des Landes umher?“; Inführ: ALIS (Anm. 28), S. 135), wird wie folgt beschrieben: „Die zwölf weiblichen Gestalten verharrten regungslos, wie im Gebete, Vera Garwin stand in der Mitte und sagte, ihre Blicke ins Publikum sendend: Help Germany!“; ebd., S. 148.

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Globus übertragen werden können, so dass es für die Zuschauer nicht zu unterscheiden ist, ob sie tatsächlich gerade die Live-Performance sehen oder eine holografische Übertragung. Die Story wird über zahlreiche kleinschrittige Episoden entwickelt, verläuft insgesamt jedoch erstaunlich gradlinig, das Projekt kann ohne Rückschläge verwirklicht werden, so dass am Ende tatsächlich Atlantis gehoben und als deutsche Kolonie etabliert wird – allerdings unter der Kontrolle der von Hartberger und seinen Mitstreitern gegründeten „ALIS“⁴⁶ (Atlantis Limited Indep. Soc.) verbleibt, die dafür Sorge trägt, dass Deutschland, in das durch „Hakenkreuz und Sowjetstern eine Verbitterung“ hineingetragen worden sei, mit der verglichen „jede tiefe Rassenabneigung zwischen weiß und gelb, ja sogar zwischen weiß und schwarz völlig verblaßt“,⁴⁷ mit seinem neuen Reichtum verantwortungsvoll umzugehen lernt. Auch in diesem Roman steht zum Schluss eine Revision der Versailler Ordnung durch den Völkerbund, getragen von allen Mitgliedsstaaten mit Ausnahme Frankreichs und Belgiens, die sich aber – aufgrund der Nukleotidenstrahlkanone militärisch handlungsunfähig – in die neue Weltordnung fügen müssen. Das Ruhrgebiet und die Rheinlande werden von Frankreich geräumt, das vom Völkerbund zudem zur Abrüstung gezwungen wird. Im remilitarisierten Deutschen Reich selbst wird unter Zustimmung aller Parteien „mit Ausnahme der äußersten Gruppen“ schließlich Peter Hartberger, der zuvor bereits „Diktator“ der souveränen Atlantis-Gesellschaft ALIS geworden war, als „technischer Diktator“⁴⁸ des Deutschen Reichs eingesetzt. Interessanter als die eigentliche Story, die insgesamt weitgehend frei von überraschenden Wendungen entwickelt wird, sind die politischen Markierungen, die im Text vorgenommen werden – zum Beispiel über die Schilderung einzelner Charaktere. So wird mit Peter Hartberger ein aus der ländlichen Peripherie – der Steiermark – stammender Protagonist eingeführt, der zwar fern und weitgehend unberührt von Technik und Politik aufgewachsen ist, dem aber gerade aufgrund dieser Herkunft besondere Gaben zugeschrieben werden: Die Fähigkeit zum Erfühlen von Metall ist dabei zwar für die Entwicklung der Story von zentraler Bedeutung (da nur so Atlantis gefunden werden kann), aber wichtiger ist seine Fähigkeit, historische Konstellationen zu durchschauen, zu deuten und Schlussfolgerungen abzuleiten. Mit dieser dem Protagonisten zugeschriebenen Fähigkeit des Durchschauens der Oberfläche und Erkennens des Wesens der Dinge schließt der Roman sich eng an rechtsnationale Führerkonzeptionen der

 Ebd., S. 217.  Ebd., S. 261.  Ebd., S. 292.

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frühen 1920er Jahre an, in denen politischen Erlöserfiguren explizit seherische Fähigkeiten zugeschrieben wurden.⁴⁹ Der Publizist und Kritiker Carl Christian Bry (Pseudonym von Carl Decke, 1892– 1926) hatte in seinem polemischen Essay Verkappte Religionen ⁵⁰ – erschienen 1924 – eine solche Vorstellung als ein weitverbreitetes Muster der politischen Kultur Deutschlands beschrieben. Bry bezeichnet die Anhänger „Verkappter Religionen“ ironisierend als „Hinterweltler“: Verkappte Religion […] sagt: Hinter deinem gewöhnlichen Leben und hinter der gewöhnlichen Welt liegt etwas bisher Verborgenes, zwar seit langem Geahntes aber für uns nie Verwirklichtes, eine noch nie realisierte Möglichkeit, der wir beikommen können und jetzt beikommen wollen und beizukommen gerade im Begriff sind. Der Anhänger der verkappten Religion glaubt an etwas hinter der Welt. Man kann ihn kurzweg den Hinterweltler nennen. Der Fromme glaubt an ein unvorstellbares Reich jenseits der Wolken, der Hinterweltler an eine neue Wirklichkeit hinter der Tapete. Während dem Frommen Diesseits und Jenseits streng getrennte Reiche sind, ist der Hinterweltler bis in den Kern seiner Seele davon durchdrungen, daß die gewöhnliche Welt und die Hinterwelt in den lebhaftesten wirklichen Beziehungen stehen und daß eines Tages dasjenige, was heute noch Hinterwelt ist, die Welt besiegt und durchdrungen haben wird. An diesem Siege zu arbeiten, die Hinterwelt zur Welt zu machen, ist der Inhalt seines Glaubens.⁵¹

Die Fähigkeit, die „Hinterwelt“ zu erblicken, sowie eine daraus abgeleitete Technik des Sehens und der Wahrnehmung (als eine spezifische Ästhetik) werden bereits in der Hitler-Literatur der frühen 1920er Jahre entworfen. In dem ebenfalls 1924, somit noch vor der Publikation des ersten Bandes von Mein Kampf erschienenen Volksbuch vom Hitler ⁵² des Laienpredigers und Schriftstellers Georg Schott (1882– 1962) wird Adolf Hitler explizit eine „Meisterschaft im Durchschauen der Dinge“,⁵³ die Gabe des ‚Erschauens‘ einer tatsächlichen Hinterwelt zugeschrieben. Aufgrund dieser Gabe sehe der „prophetische Mensch“⁵⁴ Adolf Hitler die „Wirklichkeit, wie sie ist“⁵⁵ – oder zugespitzt: „So sieht es Adolf Hitler.

 Vgl. Linse, Ulrich: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983, hier insbesondere das systematische Kapitel „Propheten der Krise“, S. 28 – 67.  Bry, Carl Christian (Pseudonym von Carl Decke): Verkappte Religionen, Gotha/Stuttgart 1924.  Ebd., S. 16 f.  Schott, Georg: Das Volksbuch vom Hitler, München 1924. Diese Erstauflage erschien im Münchener Hermann A. Wichmann Verlag. Eine zweite Auflage erschien 1933 im Franz Eher Verlag. Bis 1942 folgten zahlreiche Nachauflagen (insgesamt erschienen 14 Auflagen mit einer Gesamtauflagenzahl von 90.000 Exemplaren).  Ebd., S. 42.  Ebd., S. 37 ff.  Ebd., S. 42.

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So ist es“⁵⁶ – und gewinne so Deutungsmacht über Geschichte, Gegenwart und Zukunft.⁵⁷ Diese Fähigkeit ist dann laut Schott die grundlegende Voraussetzung für Anspruch und Anrecht auf politische Führerschaft: Denn, so Schott das Türmerlied des Lynkeus aus Goethes Faust II ⁵⁸ als Referenz herbeizitierend, „nur wer ‚Seher‘ ist ‚zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt‘, der hat ein Urteil darüber, wo […] die Grenzen des ‚Möglichen‘ und ‚Erreichbaren‘ sind“.⁵⁹ In Inführs Die neue Kolonie wird nun eine eben solche seherische Gabe dem Protagonisten Peter Hartberger zugeschrieben. Abgeleitet wird diese Gabe unmittelbar aus dessen Herkunft aus den weit ab von den großen Zentren gelegenen „vergessenen Landen“ und aus seiner Sozialisation im Dorf: Der Dorfmensch ist das Ewige. Trotz elektrischer Beleuchtung und maschineller Landwirtschaft, trotzdem der Bürgermeister sogar ein Kleinflugzeug hatte – das Dorf ist urwüchsig, die Menschen darin naturnahe und naturwahr. Im Dorf ist der Mensch gleich Tieren und Pflanzen ein Stück sprießender Erde. Er steht auch mit der Welt in weit näherem Kontakt als der Städter, denn er sieht die Sterne öfter, viel öfter als der Mensch der Stadt. Auch mit der Sonne ist sein Leben unmittelbar verbunden. Der Städter ist, ohne die Vollendung zu sein, eine Abschlußform der Menschengestaltung; der Dörfler ist die gesunde, lebensfähige Form.⁶⁰

Auf dem Dorf – so die den verbreiteten antiurbanistischen Mustern jener Zeit folgende Argumentation – sei „Modernisierung“ allein ein Aspekt der Technik, ein Oberflächenphänomen und Mittel der Alltagserleichterung. Das eigentliche Leben, Moral und Werte, soziale Strukturen und die Beziehung zu den Dingen, bleibe dabei von allen Momenten der Moderne unberührt, der Blick des Menschen

 Ebd., S. 43.  Schott umschreibt diese prophetische „Zusammenschau“ von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie folgt: „Ein Verfolgen der Linien, der Kräfte, die im heute sich auswirken in die Ferne, wo der kurzsichtige Blick der Menge nichts mehr sieht. Die Ahnung der Gewalten, die im weiteren Verlauf die Katastrophe heraufführen werden und die Bereitstellung der Gegenstände, die eingesetzt werden müssen. Das Wissen um den Zustand, der eintreten wird, wenn erst das Volk in seiner ganzen, hellen Verzweiflung dasteht und nicht aus und ein weiß und wie man dann, wenn alle den Kopf verloren haben, diese zitternden, verstörten Kinder wieder zur Vernunft und Besinnung bringen, wie man sie wieder tapfer machen muß. Alles Dinge, die ein anderer gar nicht vorsieht. Der daran denkt und der das kann, das ist der Mensch der Zukunftsprophetie. Heute: Adolf Hitler“; ebd., S. 45.  Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 7.1, hrsg. von Karl Eibl, Frankfurt am Main 1987, S. 436.  Schott: Volksbuch vom Hitler (Anm. 52), S. 22.  Inführ: ALIS (Anm. 28), S. 169.

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unverstellt. Hinterweltlertum und Hinterwäldlertum scheinen hier fest miteinander verkoppelt. Dies charakterisiert eben auch den Protagonisten des Romans: Trotz seiner Erfahrung in Berlin, New York, München und zahlreichen anderen Städten, trotz des Umgangs mit weltgewandten Städtern, Nobelpreisträgern und in den großen Theatern der Welt auftretenden kosmopolitischen Künstlerinnen bleibt Peter Hartberger im Roman ein „Dorfmensch“, merkwürdig statisch in seinen Ansichten und Handlungsmaximen. Peter Hartberger ist „ewig“ und „naturwahr“ und daher – gerade weil er aus dem Dorf kommt, mit den Dingen zutiefst verbunden ist, diese zu erschauen weiß und sich trotz seines Ingenieurberufs im Kern von Modernisierung und Technik unberührt zeigt – nachgerade zum Führer in einer technisierten Welt, zum „technischen Diktator“ ‚geboren‘.⁶¹ Die weiteren, sich allerdings ebenfalls kaum entwickelnden Figuren des Romans werden dieser tiefgründigen Erscheinung als geradezu oberflächliche Wesen zugeordnet. Besonders deutlich wird dies an der Zeichnung von Hartbergers „jüdischen“ Mitstreitern, der Tänzerin Vera Gerwin und dem Wissenschaftler Max Erichsen, denen teils offen antisemitisch konnotierte Wesenszüge zugeschrieben werden, wobei eine „jüdische“ und eine „germanische Intelligenz“ einander explizit entgegengesetzt werden: Während etwa die jüdische Tänzerin Vera Garwin davon überzeugt ist, dass die Kunst vor allem den Künstler erlösen solle und der Rezipient, der sich auf diese Kunst einlasse, an der Erlösung vielleicht teilhaben könne, sie daher „allein der künstlerische Stolz und die ungebändigte Freude am Schönen dazu drängte, auf Massen zu wirken“, ist die germano-amerikanische Komponistin Ria Wimpffen grundsätzlich darauf „bedacht, diese Wirkung einem großen humanitären Zwecke unterzuordnen“.⁶² Ähnlich wie Vera Garwin und Ria Wimpffen einander entgegengestellt sind als Repräsentantinnen einerseits eines selbstreferenziellen „jüdischen“ und andererseits eines

 An der Figur Peter Hartbergers sowie den politischen Positionen, die über die Figur im Roman transportiert werden, wird übrigens deutlich, dass Lesarten zu kurz greifen, die jene häufig in deutschen Zukunftsromanen anzutreffenden Ingenieursfiguren als Repräsentationen technokratischer Diskurse generalisieren. So wird Dina Brandts Feststellung, „daß das technokratische Denken viel eher die Grundlage für die deutschen Zukunftsromane bildete als die Vorstellungen der konservativen Rechten oder gar der Nationalsozialisten“ (Brandt: Der deutsche Zukunftsroman (Anm. 4), S. 221), in ALIS gerade nicht bestätigt. Hier erscheint die Technik selbst keineswegs als Faktor, von dem die Lösung der deutschen Probleme oder gar eine Erlösung erwartet wird, sondern vielmehr vor allem als Werkzeug, das der Um- und Durchsetzung einer politischen Vision dienlich ist. Die Vision selbst wird dabei ebenso als von der Technik unberührt entworfen wie der Visionär: ‚Ingenieur‘ ist Hartbergers Beruf. Seine Berufung aber ist es, als Diktator die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Geschicke des deutschen Reiches zu lenken.  Inführ: ALIS (Anm. 28), S. 29.

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humanitären Zwecken dienenden „germanischen“ Kunstverständnisses, werden auch der entwurzelte jüdische Wissenschaftler Max Erichson, dessen „grüblerischer Geist“ dem „Zeitalter der Maschinen“ analog sei, als modernistisch-technokratischer Verstandesmensch und der erdverbundene deutsche Sinnesmensch Peter Hartberger, „der junge Mann mit dem eigentümlich träumerischen Blick“,⁶³ gegeneinander positioniert. So wird Erichson, der sich selbst als Säkularist und Atheist begreift, ein „typisch jüdische[r] Verstand“ zugeschrieben – „bohrend, klügelnd, durchdringend“⁶⁴ –, wobei sein Denken vom Erzähler gewissermaßen stammesgeschichtlich abgeleitet und kontextualisiert wird: Das Judentum, in früheren Jahrtausenden kräftig schaffend, geistig produktiv, stolz und klug, hat sich seither im Zustand des Mittelalters befunden. Die Unfruchtbarkeit des Denkens, die Enge des Weltbildes, die Intoleranz und die Unterschätzung des Körperlichen waren die gleichen Symptome, wie sie die europäischen Christen des Mittelalters zeigten. Grundsätzlich genügte die Erkenntnis dieses Zustandes, ihn zu überwinden. Der Einzelne kann Schranken durchbrechen – er muß diese Schranken nur sehen. Diese Stunde der Erlösung durch bloße Erkenntnis schlug den Juden viel später als den abendländischen Christen. Seit sie der Menschheit eine neue Moral gegeben hatten, waren sie für die ganze Entwicklung Europas verschollen, bis sie im Zeitalter der Maschinen in den abendländischen Kulturkreis eintraten und durch die Eigenart ihres grüblerischen Geistes das Denken der Zeit befruchtete.⁶⁵

Im Rahmen des Projekts der Hebung von Atlantis und der Rehabilitierung Deutschlands erscheinen die künstlerischen, technischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten dieser jüdischen Figuren nützlich, wobei ihnen jedoch eine ausschließlich instrumentelle Funktion zukommt. Ohnehin ist es vor allem der Erlöser aus der Steiermark, der denkt und die Aktionen seiner instrumentellen Gehilfen mit seinen Visionen lenkt, dabei aber selten selbst tätig wird. Die politischen Ansichten, die diesem „Visionär“ im Roman zugeschrieben werden, stammen recht offensichtlich aus dem Fundus rechtsnational-revanchistischer Kreise der frühen Weimarer Republik: Deutschland sei Frankreich kulturell weit überlegen⁶⁶; die Kriegsschuld liege allein bei Frankreich, das Europa mit der Revolution 1789 in eine tiefe, seit der Herrschaft Napoleon Bonapartes dauerhafte politische Krise gestürzt habe; Frankreich habe

 Ebd., S. 35.  Ebd., S. 61.  Ebd., S. 61 f.  Ebd., S. 12: „Frankreich hatte die Albigenser zu Tausenden wie Vieh geschlachtet, es hatte die Hugenotten meuchlings gemordet – und Deutschland hatte seinen herrlichen Luther gehabt, seinen Melanchton. Deutschland hatte seinen Schiller, seinen Goethe – was haben die Franzosen Gleichwertiges gehabt? – fragte Peter; und er zögerte nicht, sich zu sagen ‚nichts Gleichwertiges‘“.

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ebenso wenig ein Recht auf die Rheinlande wie auf das Elsass; es habe zudem kein Recht auf deutsche Reparationsleistungen, es dürfe solche Leistungen nicht durch die Besetzung deutscher Städte erzwingen, sondern müsse vielmehr alle bisher erhaltenen Entschädigungszahlungen zurückerstatten; Deutschland bedürfe neuer Kolonien und müsse das Recht haben, eine große Armee zu unterhalten; die parlamentarische Demokratie sei dem deutschen Wesen nicht gemäß. Insgesamt kennzeichnet den Text eine ausgesprochene Politikverdrossenheit, eine dezidiert anti-politische Haltung und – ganz anders als ins Zapps „Vision“ – eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Demokratie und Parlamentarismus. Deutsche „Politiker“ – beispielsweise der leicht als Gustav Stresemann zu dechiffrierende amtierende Kanzler „Dr. Straßmann“ – handeln zögerlich und vernachlässigen deutsche Interessen aus Furcht, in Konflikt mit dem übermächtigen Nachbarn Frankreich zu geraten. Parlamente bedeuten, so der Protagonist Hartberger, „Zeitverschwendung durch unfruchtbare Debatten“; dass sie, wie Ria Wimpffen ergänzt, aufgrund „ihrer unfruchtbaren Politisiererei in allen Ländern wenig angesehen sind, hat seine Richtigkeit. […] Die Parlamente sind ja doch eben ein treuer Spiegel der menschlichen Seele. Die Unvollkommenheit der menschlichen Seelen ist in den Parlamenten der Nationen getreu abgebildet […]“.⁶⁷

Produktiver sei, so der Protagonist des Romans weiter, dagegen eine Art Wahldiktatur, in der das Volk, gleich einer Aktiengesellschaft, einen „Aufsichtsrat“ und einen „Präsidenten“ wähle, denen dann „ganz unbeschränkt während einer Amtsdauer“⁶⁸ die Regierungsgeschäfte übertragen würden. Dies sei „jenes Gemisch von Demokratie und Tyrannei, das allein kräftiges Gedeihen ermöglicht“.⁶⁹ Eine solche Konstellation zur Erlösung Deutschlands entwirft der Roman, wenn Peter Hartberger schließlich, wie bereits erwähnt, mit den Stimmen der demokratischen Parteien des sich damit selbst entmachtenden Reichstags zum „technischen Diktator“ ernannt wird, der „zehn Jahre lang die […] Entwicklung Deutschlands unabhängig von Parlament und Regierung als selbstständiges kulturelles Unternehmen leiten“ solle.⁷⁰  Ebd., S. 141.  Ebd., S. 143.  Ebd.  Ebd., S. 292. An anderer Stelle verkündet der Protagonist: „Ich muss den Weg finden, auf dem die Verteilung von Glück gefahrlos möglich ist. Ein Weg, der mir heute klar geworden ist, scheint die Diktatur zu sein. Wie der Vater den Kindern gebietet und nach freiem Ermessen, seinem Herzen und seinem Verstande folgend, alles verteilt, so soll der Diktator verteilen, was an Reichtum vorhanden“; ebd., S. 105.

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Die Romane von Zapp und Inführ nehmen unmittelbar und wenig verfremdet die politische Situation Deutschlands in den Jahren 1923/24 in den Blick und entwerfen für eine letztlich recht analoge Lösung der diagnostizierten Probleme (Revision der Versailler Ordnung, Rehabilitierung des Deutschen Reiches) unterschiedliche Szenarien. In Zapps pazifistischer Vision wird ein grundsätzliches Vertrauen in den Parlamentarismus deutlich und er appelliert an politische Vernunft und Einsicht zur Schaffung einer nachhaltigen Friedensordnung – der entfesselte Krieg erscheint als das Ergebnis eines unvernünftig-ungezügelten Revanchismus nicht-demokratischer Kräfte. Dagegen stehen bei Inführ Unversöhnlichkeit und nationale Interessen sowie der ewige Kampf um die Scholle im Zentrum, ein Kampf, den die deutsche Seite nur durch militärische Stärke sowie die Überwindung eines schwächlichen Parlamentarismus und unentschlossener Berufspolitiker durch einen in seinem Wesen von allen Modernismen unberührten handlungsmächtigen Diktator bestehen könne, der gerade nicht der politischen Klasse entstamme, dessen Entscheidungen nicht von Taktik, Kalkül und den Grenzen des Machbaren bestimmt werden, sondern der einer historischen Vision folgt wie auch der Maxime des für die deutsche Nation existenziell Notwendigen – das sich allein ihm offenbart, weil er es zu erschauen weiß. Doch es sind nicht die Handlungsmomente selbst, die sich in den Vordergrund schieben, sondern die sich den Romanhandlungen eigentlich entziehenden Figuren, die als Träger von Ideen konzipiert sind und gerade dadurch, dass sie von der eigentlichen Romanhandlung unberührt bleiben, die Macht zur Gestaltung von Zukunft erlangen.

3 Ein Land, in dem es Abend wird? Einen weniger konkreten Bezug auf die politischen Konstellationen der Jahre 1923/ 24 zeigt ein anderer „politischer“ Zukunftsroman des Jahres 1924 – der dennoch einen deutlichen Appell zur politisch verändernden Intervention formuliert. So ist die etwa einhundert Jahre nach dem Erscheinen von Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes,⁷¹ das – neben zahlreichen Rekursen auf Friedrich Nietzsche – gleich einem Palimpsest unter dem Text liegt, verortete „Spätzeit“, die im Untertitel des bereits eingangs erwähnten, ebenfalls auktorial erzählten Ro-

 Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie des Weltgeschehens. 2 Bde., Bd. 1: Wien 1918 / Bd. 2: München 1921.

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mans Wieder wandert Behemoth von Egmont Colerus⁷² angesprochen ist, eine Zeit der Dekadenz und der Stase. Die Welt ist offiziell entmilitarisiert; „Politik“ erscheint zuvorderst als eine Verwaltung des Status Quo; die Reichen und Schönen Europas haben sich in eine vom Architekten, Künstler und Dichter Zarathustra Orley entworfene Porzellanstadt am Mittelmeer zurückgezogen, wo sie die Leere ihres Daseins mit Luxus und einem bizarren Sex- und Blutkult, der sich in orgiastischen Ritualen entlädt, zu kompensieren suchen; Kreativität und Produktivität haben sich erschöpft, Kunst ist zum Kunsthandwerk erstarrt, Wirtschaft zur reinen Geld- und Finanzwirtschaft geworden: „Vielleicht ist das Abendland“, so fragt Zarathustra Orley, „wirklich ein Land, in dem es Abend wird?“⁷³ Gezeichnet mit dem „furchtbare[n] Stigma des Übermenschlichen […], so daß sein Name eher ein Befehl als ein Zufall war“⁷⁴, und – darin ein ungleicher Zwilling des Historiokinetikers aus der Steiermark in Inführs ALIS – mit der seherischen Fähigkeit einer Deutung der Zeiten begabt, beantwortet Orley diese Frage für sich mit einem deutlichen „Ja“ und fügt sich in das Schicksal des Geschichtsverlaufs. In „drei Gesichten“ erschaut er den Aufstieg, die Blüte und die gegenwärtige Saturierung des Abendlandes als Stadien seines eigenen künstlerischen Schaffens.⁷⁵ Er erahnt zudem die herannahende Apokalypse – die Rückkehr des biblischen Untiers Behemoth, das in der Staatsphilosophie von Thomas Hobbes als Gegenfigur zum Leviathan den Unstaat, die politische Nicht-Ordnung, Chaos, Gewalt, Krieg und Tod symbolisiert⁷⁶ – und das Heraufziehen eines neuen Stadiums der Kultur in einer anderen Zeit, in der Asien zur führenden Weltregion aufsteigt.

 Egmont Colerus von Geldern (1888– 1939), österreichischer Schriftsteller, arbeitete nach einem Jurastudium und Militärdienst von 1921 bis 1938 als Beamter des Österreichischen Bundesamts für Statistik. Politisch rechtsstehend hatte Colerus früh große Sympathien für den Nationalsozialismus und befürwortete den „Anschluss Österreichs“ an das Deutsche Reich. Seine Bemühungen um Aufnahme in die NSDAP blieben allerdings erfolglos. Seinem Antrag auf Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer im gleichen Jahr wurde dagegen stattgegeben. Colerus war ein überaus produktiver Schriftseller, der Romane (vor allem politische Zeitromane und historische Romane), Erzählungen, Dramen, aber auch populärwissenschaftliche Bücher über Themen der Mathematik schrieb. Er gehört zu den auflagenstärksten und vielübersetzten Autoren der 1920er und 1930er Jahre, dessen Bücher eine Gesamtauflage von nahezu 700.000 Exemplaren erreichten. Interessanterweise ist er in der Literaturgeschichtsschreibung dennoch vollständig vergessen – selbst in den großen, seit den 1970er Jahren gestarteten Projekten einer Sozialgeschichte der Literatur (Hansers Sozialgeschichte der Literatur und Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte) findet er in den Bänden zur Weimarer Republik und zum Dritten Reich keine Erwähnung.  Colerus: Wieder wandert Behemoth (Anm. 1), S. 39.  Ebd., S. 6.  Ebd., S. 7.  Hobbes, Thomas: Behemoth oder: Das lange Parlament, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. von Peter Schröder, Hamburg 2015.

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Sein Freund und Gegenspieler, der Finanzmogul Roger Herckenau, ist dagegen nicht bereit, sich in dieses Geschichtsschicksal zu fügen, sondern folgt seiner bereits eingangs zitierten Maxime, dass „auch das klarste Gefühl des werdenden Abends noch nicht den wirklichen Einbruch der Dämmerung“⁷⁷ beweise – wenn man nicht in den Niedergang einwillige, sondern sich ihm entgegenstelle. Allerdings besteht Herckenaus Strategie nicht in einer Rückkehr zu einer Produktivität der Wirtschaft, einer Rückkehr zum ‚schaffenden Kapital‘, sondern in einer weiteren Forcierung der selbstreferenziellen Tendenzen der Finanzwirtschaft und ihrer endgültigen Ablösung von Produkten und materiellen Werten. So ist das Bild der Zukunft, das er sieht, ein ganz anderes als die Vision des Zarathustra Orley: „Der Abgott dieser Spießbürger [„klotzige Unternehmer“, „Arbeiter“, „Bauern“, „Rentner“] ist aber das Geld, kurz das goldene Kalb in echter achtzehnkarätiger, punzierter Ausfertigung. Uns aber – denn ich bekenne mich stolz zu den Gegnern dieser Heiden! – uns ist das Gold nichts, sondern der Spannungszustand, die Potentialdifferenz der Wirtschaft alles. Wir sagen und rechnen Geld, damit die anderen uns verstehen, wir denken aber in Verflechtungen und Differenzen, in Spannungen und Bewegungen. Geld- und Warenströme, niemals rastend, bindend, lösend, kreisend zerstäubt, umschichtend, geballt, Kulturen schaffend und zerstörend: so sehe ich das Bild!“.⁷⁸

Seine Strategie, dem Niedergang des Abendlandes entgegenzuwirken, besteht in der Beendigung der „staatsrechtliche[n] Komödie“ und dem Übergang „zum weltwirtschaftlichen, überstaatlichen Imperium“: „Wir Geldcäsaren werden beginnen, nicht nur tatsächlich und versteckt, sondern formell und offen die politische Macht zu übernehmen“.⁷⁹ Allerdings, so das Argument des Romans, muss ein Versuch, die Krise mit einer Forcierung ihrer Ursachen zu bekämpfen, zum Scheitern verurteilt sein: Japan, der einzige Staat, der, wie der Leser bald erfährt, dem Abkommen zur Entmilitarisierung nicht nachgekommen ist und im Verborgenen einen ungeheuren militärischen Apparat erhalten und erweitert hat, eröffnet einen Kampf um die Weltherrschaft. Zugleich beginnen die Berg- und Stahlarbeiter, deren Führer, ein Slawe namens Dimitri Balkovics, zur Unterstützung afrikanische Kolonialvölker mobilisiert hat, einen gewaltsamen Umsturz in der westlichen Hemisphäre, um die Dominanz der Geld- und Finanzwirtschaft zu beenden und eine Rückkehr der Wirtschaft zur Produktivität zu ermöglichen. So versinkt das „Abendland“ in Gewalt, dies nicht zuletzt auch, weil sich die afrikanischen Völker der Kontrolle der Arbeiterführer entziehen und gleich den „Asiaten“ mordend und

 Colerus: Wieder wandert Behemoth (Anm. 1), S. 83.  Ebd., S. 51.  Ebd., S. 49.

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brandschatzend durch Europa ziehen und es verwüsten. Die für die Dekadenz der westlichen Kultur stehende Porzellanstadt wird zerstört, die beiden Protagonisten Orley und Hergenau getötet: Die erschöpften Eliten Europas, die als unkreative Kunsthandwerker und unproduktive, selbstreferenziell-raffende, die Politik heimlich beherrschende Finanzwirtschaftler im Roman antisemitisch konnotiert sind, haben ausgespielt und verdienen, so die Logik des Textes, den Tod. Am Ende des Romans regiert tatsächlich das Untier Behemoth auf Erden, insofern als diese in Krieg, Zerstörung und Chaos versinkt – doch dem Weltherrschaftsanspruch der „Asiaten“ stellt sich eine deutsch-russische Koalition aus Arbeiterschaft und preußisch-nationalen Generälen entgegen: In Rußland und Deutschland ist plötzlich seit einigen Tagen ein neuer Geist erwacht, der an nationaler Opferfreude hinter [der Vaterlandstreue der Japaner] nicht zurücksteht. Die Generäle Preußens und Dimitri Balkovics stehen bereits an der Spitze furchtbarer Heere!⁸⁰

Der in einem teils hypertrophen, spätexpressionistischem Stil geschriebene Roman, der von einer zukünftigen Wirklichkeit erzählt, die eine erhebliche Differenzqualität zur konkreten politisch-gesellschaftlichen Gegenwart seines Publikationszeitpunktes aufweist, liest sich als eine romanhafte Parabel über die mit Versatzstücken der Übermenschen- und Willen-zur Macht-Philosophie Nietzsches verpaarte Kulturmorphologie Oswald Spenglers – dies nicht zuletzt auch in der rettenden Vision einer Synthese von Preußentum und Sozialismus einerseits, einer deutsch-russischen Symbiose, wie sie von vielen Protagonisten der Konservativen Revolution erträumt wurde, andererseits. Nicht zuletzt schließt der Text mit der zwar nicht offen ausgesprochenen, aber leicht zu dechiffrierenden Schilderung eines aufgrund seiner „Verjudung“ vom Untergang bedrohten Europa zudem auch deutlich an völkisch-nationale Gegenwartsdiagnosen der frühen 1920er Jahre an. Doch präsentiert der Roman nicht ein politisch-weltanschauliches Gemälde seiner Zeit, stellt seine Protagonisten explizit nicht in einen Zeitstrom hinein, sondern nimmt sie aus Handlung und Entwicklung heraus, um die Entwicklungsverläufe von Vergangenem, Gegenwart und Zukunft zu öffnen, an denen die in den Protagonisten des Romans portraitierten Eliten aufgrund ihrer lähmenden Saturiertheit jedoch keinen Anteil mehr haben. So gilt die Aufmerksamkeit des Romans letztlich nicht Entwicklungen, sondern eher Differenzen, sie gilt nicht einem Einführen in zukünftige Zeiten oder einem Zurückgewinn entfremdeter Gegenwart. Das Interesse gilt vielmehr der Entfremdung der handelnden Figuren von Geschichte und historischen Notwendigkeiten – sowie dem

 Ebd., S. 342.

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Appell zum Aufbrechen dieser Entfremdungen, um frei zu werden für zukünftiges Handeln.

4 Von Händlern und Handelnden Die Colerus’ Behemoth-Roman letztlich bestimmende Konstruktion einer zur Rettung des Abendlandes notwendigen Überwindung beziehungsweise Elimination eines als zerstörerisch entworfenen „jüdischen Prinzips“, das sich in einer unkreativen künstlerischen Oberflächlichkeit, vor allem aber in unproduktiver Geld- und Finanzwirtschaft manifestiere, findet sich in zugespitzter Form auch in dem Roman Schakal. Ein Kampf um die Zukunft von Egon Frey.⁸¹

 Es ist vielleicht erstaunlich festzustellen, dass der Verfasser dieses Romans, in dem das antisemitische Argument insbesondere in der Zeichnung der Figuren überaus präsent und zudem in die argumentative Tiefenstruktur des Romans konstitutiv eingelagert ist, einem jüdischen Elternhaus entstammt. Egon Frey (1892– 1972) wurde als Sohn eines Arztes in eine jüdisch-liberale Familie in Wien geboren, ließ sich allerdings im Alter von 18 Jahren evangelisch taufen und brach zunächst recht radikal mit Elternhaus und jüdischer Gemeinde in Wien, so dass das – teils eng an Werner Sombarts Schriften Die Juden und das Wirtschaftsleben (Leipzig 1911) und Händler und Helden. Patriotische Besinnungen (Leipzig 1915) angelehnte – Argument des Romans vermutlich nicht zuletzt auch als Moment der Selbstpositionierung, der Abgrenzung vom Judentum einerseits und der Einschreibung in nationale deutsch-österreichische Kontexte andererseits gelesen werden kann. Frey, der nach dem Studium der Medizin in Wien und Freiburg im Breisgau ab 1924 als Arzt in Reichenau und Wien arbeitete, verließ 1938 nach dem „Anschluss Österreichs“ Wien und ging zunächst nach Frankreich, dann über London nach New York, wo er erneut als Arzt praktizierte. Über politische Aktivitäten Freys ist nichts bekannt. Er stand, wie aus dem Katalog seines Nachlasses hervorgeht, offenbar in losem Briefkontakt unter anderem zu Hans Habe, Ernst Jü nger, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Alma Seidler. Neben dem Roman Schakal sind nur wenige weitere Publikationen Freys nachgewiesen, so der 1919 im Wiener Gerold-Verlag publizierte Gedichtband Rechenschaft, ein 1922 unter dem Titel Der Zensor erschienener Band mit Erzählungen, der ebenso wie der Schakal im Verlagshaus Gebrüder Enoch publiziert wurde, sowie schließlich ein weiterer Gedichtband Werktagslied, erschienen 1968 im Europäischen Verlag Wien. In einem im Londoner Exil 1940 verfassten Gedicht mit dem Titel Die Juden entwirft Frey übrigens ein völlig anderes Bild vom Judentum, als er es 1924 in Schakal präsentiert hatte: „Sie sind ein fester Faden / Im bunten Völkertuch, / Kein fressend fremder Schaden, / Kein eingewebter Fluch. // […] // Kein fressend fremder Schaden, / Kein eingewebter Fluch, / Ein Faden, nur ein Faden / Im bunten Völkertuch. // Ein Faden ist Gefüge / Zu festigen bereit / Und darum ist es Lüge, / Daß er die Welt entzweit“. Frey, Egon: Die Juden, in: ders.: Werktagslied. Gedichte, Wien 1968, S. 41. Zu den biographischen Eckdaten Freys vgl. Zohn, Harry: Österreichische Juden in der Literatur, in: Geschichte der Juden in Österreich. Ein Gedenkbuch, hrsg. von Hugo Gold, Tel-Aviv 1971, S. 143 – 153, hier S. 145.

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Im Feld der Zukunftsromane der 1920er Jahre ist Freys Schakal insofern ein Sonderfall, als die insgesamt zeitlich nur äußerst vage verortete Handlung des aus drei jeweils in unterschiedlichen Erzählsituationen gehaltenen Abschnitten bestehenden Romans gar nicht notwendig zu einem vom Erscheinungsjahr 1924 aus betrachtet als zukünftig signierten Zeitpunkt stattfindet – sondern vielleicht sogar eher in dessen Vergangenheit? Jedenfalls erscheint der zeitliche Abstand der Erzählhandlung zu den frühen 1920er Jahren auf den ersten Blick relativ gering, deutet doch nichts auf eine längst vergangene Epoche oder eine entfernte Zukunft hin – dennoch wirkt die Handlung merkwürdig entrückt: Rund 80 Prozent der Erzählung handeln in der Phase eines nicht näher bestimmten Krieges auf dem Balkan, der sich anhand der Erzählung und der beschriebenen Ereignisse allerdings weder als einer der Balkankriege 1912/13 noch als der Erste Weltkrieg dechiffrieren lässt. Geschildert wird dieser große Abschnitt in einer Ich-Erzählsituation aus der Perspektive des österreichischen Soldaten Heinrich Maurer, der über seine Gespräche und Auseinandersetzungen mit dem Händler Erwin Schakal über dessen Zukunftsvision einer Weltherrschaft der Kaufleute berichtet, über Schakals Versuche, Maurer ebenfalls zum Händler zu machen, und Maurers letztlich vergebliche Bemühungen, sich den verführerischen Angeboten Schakals zu entziehen. Ein zweiter, nun in einer auktorialen Erzählsituation gehaltener Abschnitt ist einige Jahre später irgendwo im ländlichen Österreich situiert und berichtet von der Begegnung des an der Gegenwart verzweifelten Maurer mit Gottharda, einer fern von der Zivilisation moderner Städte lebenden älteren Frau, die Maurer in langen Gesprächen wieder Mut finden und den Entschluss zu einer geschichtsgestaltenden Tat fassen lässt. Der letzte Teil des Romans wird in einer personalen Erzählsituation mit Gottharda als Reflektorfigur dargestellt und berichtet vom Verschwinden Maurers sowie dem Auffinden seiner in der Zeit zwischen der Handlung der ersten und der zweiten Erzählsequenz angefertigten Aufzeichnungen durch Gottharda. Erst hier erfährt der Leser, dass er mit dem ersten Teil des Romans eben diese Aufzeichnungen gelesen hat. Schließlich berichtet dieser letzte Teil von Maurers Reise nach Lemberg, wo er, wie Gottharda aus einer Zeitung erfährt, Schakal tötet und auch selbst den Tod findet. Durch die Wahl und die Veränderung der Erzählsituationen weist Freys Schakal verglichen mit den drei zuvor untersuchten, durchgehend auktorial erzählten Romanen eine deutlich komplexere, hinsichtlich der Anlage der zentralen Figur wie auch der Leserführung beziehungsweise Steuerung der Rezeptionshaltung folgenreiche Struktur auf. So wird durch die Wahl der Ich-Erzählsituation im ersten Teil des Romans der Prozess einer Beschäftigung mit der politischen und gesellschaftlichen Situation, die eben nicht von außen, also von einem in die Handlung nicht involvierten auktorialen Erzähler geschildert wird, sowie die Erkenntnis einer historischen Krise „in“ den Protagonisten selbst hineinverlegt.

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Während die Protagonisten der zuvor untersuchten Romane weitgehend statisch angelegt waren, macht der Protagonist dieses Textes also eine signifikante Veränderung, eine Entwicklung durch. Der Leser, durch die gewählte Ich-Erzählsituation offen zur Identifikation mit dem Protagonisten Heinrich Maurer eingeladen, wird dabei im Rezeptionsprozess in den Entwicklungs- und Erkenntnisprozess Maurers einbezogen. Durch die Änderung der Erzählsituationen und die damit einhergehende Verschiebung der Perspektive verändert sich auch die Position des Lesers: Partizipiert er im ersten Teil an der Entwicklung des Protagonisten, wird er im zweiten, auktorial erzählten Abschnitt zum Rezipienten einer Geschichtserzählung und zu einem zunächst distanzierten und unbeteiligten Beobachter von Maurers persönlicher Krise. Im dritten, in einer personalen Erzählsituation gehaltenen Teil schließlich wird der Leser durch die sich stark in den Protagonisten einfühlende und sich mit seiner radikalen Entscheidung, eine Lösung oder Überwindung der „Krise“ zu suchen, identifizierende Reflektorfigur wieder deutlich näher an die Handlung herangerückt und tatsächlich zur Reflexion des Geschehens und der diesem Geschehen als zugrundeliegend entworfenen gesellschaftlichen und politischen Konstellation aufgerufen. Tagespolitik spielt dabei, anders als in den Texten von Zapp und Inführ, keine Rolle. Dies gilt ebenso für die konkrete Situation Deutschlands im ersten Drittel der 1920er Jahre: Sie wird weder erwähnt noch angedeutet. Auch eine ins Parabelhafte verschobene, metaphorisch überformte, politisch-historische oder kulturmorphologisch gerahmte, schicksalhafte Situation sowie ihre Implikationen für eine mögliche Zukunft, wie Colerus sie entwirft, finden sich in Freys SchakalRoman nicht. Die Differenzqualität von erfahrener Wirklichkeit der frühen 1920er Jahre und der im Roman entworfenen Wirklichkeit kann somit vielleicht am ehesten als absolut beschrieben werden, insofern als in der Erzählung keinerlei Bezüge auf konkrete historische oder gegenwärtige Problemlagen oder eine politische Situation hergestellt werden, die einen Horizont zeitlicher Distanz andeuten würden oder erschließen ließen, und die Handlung zudem weder explizit in der Vergangenheit noch in der Gegenwart oder in der Zukunft des Jahres 1924 verortet wird.⁸² Der Kampf um die Zukunft, der hier entworfen wird, ist ein Kampf zwischen zwei einander antagonistisch entgegenstehenden, gewissermaßen zeitlosen Prinzipien. Dieser Kampf wird dabei nicht als ein historischer entworfen, sondern als ein existenzieller – sein Ausgang wird darüber entscheiden, ob die Geschichte (wieder) in Gang gesetzt wird oder sich in den oberflächlichen Strömen der Zeiten endgültig verliert. Insofern ist der geschilderte Antagonismus

 Legt man die eingangs formulierten Kriterien eines poetologischen Minimums des Zukunftsromans streng an, so müsste man eigentlich eingestehen, dass Schakal gar keiner ist.

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dabei gerade nicht ein Ergebnis politischer Konfliktlagen oder Auseinandersetzungen, die verhandelbar wären.Vielmehr konstituiert dieser Antagonismus hier, ganz im Sinne Carl Schmitts,⁸³ überhaupt erst das Feld des Politischen, in dem die zentralen Figuren – der Protagonist Heinrich Maurer und sein Antagonist Erwin Schakal – einander in unversöhnlicher Feindschaft gegenüberstehen. Die Polarität der Figuren wird dabei bereits durch ihre Namen akzentuiert: Dem ehrlichen Handwerker und Baumeister „Maurer“ steht der landläufig als verschlagen, als feiger Aasfresser geltende, pejorativ konnotierte Wildhund „Schakal“ gegenüber. Dieser bereits über die Namen konnotierte Antagonismus wird dann in der Typisierung der Figuren konkret: In Heinrich Maurer begegnet dem Leser der bereits aus den Romanen von Inführ und Colerus bekannte, in die Tiefe der Erscheinungen sehende Mensch, ein Sehender des Eigentlichen und der Wahrheit hinter den grellen, Fehldeutungen provozierenden Oberflächen, eine Figur, die das historische Schicksal inkorporiert hat und im Text das germanischromantische Bild personifiziert. In Erwin Schakal dagegen wird der Topos des modernen Händlers präsentiert, er wird als Spieler und Schacherer geschildert, dem die Ware als solche nur Mittel zum Zweck ist, da ihr Wert erst durch einen beschleunigten Umsatz erzeugt werde („Masse ist nichts, Bewegung ist alles.Ware ist nichts, Umsatz ist alles, ruft der neue Kaufmann. Und je heftiger der Umsatz, desto höher ist der Wert“⁸⁴), dem aber jedes Ding und jeder Mensch zur Ware wird. Umsatz und die Zirkulation im ewigen Kreislauf sind ihm Selbstzweck: „Irgendwo liegt die Ware. Freilich – sie muß auch erzeugt worden sein, recht rasch und mit gesparter Kraft, durch Fabrikarbeiter unter Leitung eines Technikers. Und sie muss auch verbraucht werden, weil die Menschen sich kleiden und nähren müssen. Aber das ist Nebensache, ist ein notwendiges Übel, die notwendige Verlustquelle des Lebens. Doch der Kern, das wahre Leben, liegt in der Mitte zwischen Erzeugung und Verbrauch. Da sitzt der Kaufmann, der große Kaufmann, der Geldmann, der Bankmann und schafft diesen Kern. Er schiebt die Ware hin und her, bloß auf dem Papier oder gar nur in Gedanken, wirft Zahlen in rasendem, kaum übersehbarem Wettbewerb kreuz und quer, verzehnfacht, vertausendfacht den Wert der Ware, saugt aus ihr das wahre Wesen, die wahre Seele, die höchst neueste, verfeinerte Form der Lust, die Lust der Zukunft: den Gewinn – den ins Unendliche steigerbaren Gewinn“.⁸⁵

Die Auseinandersetzung zwischen den Prinzipien des sehenden Schicksalsträgers einerseits und des spielenden Händlers andererseits verläuft dabei in der Entwicklung des Arguments der Romanhandlung für den Schicksalsträger eher  Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1996 (4. Nachdruck der Ausgabe von 1963), S. 26.  Frey: Schakal (Anm. 8), S. 93.  Ebd., S. 93 f.

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unvorteilhaft. Zwar bemüht Maurer sich, den Verführungen des Erwin Schakal, dessen Versuchen, ihn zu korrumpieren und ihn in das Spiel des Handels hinüberzuziehen, zu widersetzen, doch spinnt der Kaufmann aus Lemberg weitreichende Netzwerke, in denen sich Maurer zunehmend verstrickt. Die Welt des modernen, Werk und Leben durch Umsatz ersetzenden Handels ist bereits allgegenwärtig und der jüdische Händler scheint alles zu bestimmen. Ein Rückzug in vormoderne, romantische Zeiten verspricht kurzfristig Erfolg, erweist sich aber als Irrweg: So wird Maurer zu einem Posten abkommandiert, der von einer Gruppe ehemaliger Kameraden inmitten der Wildnis Albaniens gehalten wird, und findet dort das romantische Ritteridyll einer egalitär-solidarischen Tafelrundengemeinschaft vor, in der die Mitglieder, die sich Phantasienamen gegeben haben, schöpferisch-kreativ und selbstlos miteinander und mit ihrer Umwelt leben, in die sie sich ohne Kontakt zur modernen Zivilisation zurückgezogen haben. Allerdings muss Maurer erfahren, dass der Besuch bei seinen alten Kameraden von Schakal eingefädelt wurde, um freie Hand dafür zu erhalten, eine serbische Frau, in die Maurer sich verliebt und für die zu sorgen er versprochen hatte, in die Prostitution zu verkaufen. Die Tafelrunde selbst wird, kurz nach Maurers Abreise, von wilden Skipetaren zerstört, sämtliche ihrer Mitglieder werden getötet. So scheint der Triumph des Kaufmanns Schakal, der Sieg des Prinzips der Verwertung und verdinglichenden Inwertsetzung der Welt durch den Handel unaufhaltsam – was schließlich auch Maurer resignierend zugesteht: Auch der Seher ist samt seinem Schicksal, samt seinem tiefen Blick in das Walten der Sterne rettungslos dem weltklugen Spieler in die Hand gegeben, der das Schicksal nicht versteht, aber benützt, und der dem Schicksal auch nicht erliegen wird. Denn seiner Seele fehlen die Organe, an denen es ihn erfassen und zu Boden reißen kann.⁸⁶

Während also der das Schicksal tragende Seher zur Spielfigur im Kalkül des Händlers werden kann, ist der spielende Händler an kein historisches Schicksal mehr gebunden, er ist ausschließlich gegenwärtig, reine Oberfläche ohne jede seelische Tiefe – und gerade deshalb ist er für den Seher, den Hinterweltler, der an ein wirkliches Wesen hinter der Oberfläche glaubt, an das Schicksalhafte, das im Verlaufe der Geschichte verborgen liegt, nicht zu durchschauen. Verzweifelt und gebrochen zieht Maurer sich schließlich zurück – wobei Schakal ihn noch einmal dazu auffordert, selbst ein Spieler zu werden und Handel zu treiben: „Schreib’ mir nur, sobald es so weit ist, daß auch du handeln mußt. […] Bist du also einmal so weit, dann schreibe mir: Lieber Schakal! Die Krise, die du vorausgesagt hast, ist eingetroffen.

 Ebd., S. 197.

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Auch Heinrich Maurer muß handeln. Ich komme zu Dir. – Und du wirst jederzeit gut aufgenommen werden“.⁸⁷

Tatsächlich kommt Maurer nach einer Phase der Resignation und Mutlosigkeit, in der er sich von jeder modernen Zivilisation fernhält und in ein abgelegenes Walddorf in der österreichischen Provinz zurückzieht, um in den Gesprächen mit Gottharda schließlich die Einsicht zu gewinnen, handeln zu müssen, was er seinem Gegenspieler per Brief mitteilt: „Sie haben eine Krise vorausgesagt. Sie ist da! Auch Heinrich Maurer muß handeln. Ich reise zu Ihnen“.⁸⁸ Bei dieser Krise,⁸⁹ so die Erkenntnis Maurers, geht es jedoch nicht um eine persönliche Sinnkrise des Heinrich Maurer, sondern um eine erkannte Differenz, vielleicht eine Krise, die noch kommt, aber zunächst eine Einsicht in eine enge Beziehung zwischen Geschichte, Kultur, Werten, Leben – und Zukunft. Diese Krise sucht Maurer in einer aufopferungsvollen, den eigenen Tod in Kauf nehmenden Selbstermächtigung zu überwinden,⁹⁰ indem er tatsächlich handelt: Er tötet Erwin Schakal und eliminiert mit ihm das jüdisch-händlerische Prinzip, das dieser im Roman präsentiert. Wenn die ‚Krise‘ absolut ist, ist keine Lösung auszuhandeln, denn auch die Lösung muss absolut sein: Der Kampf um die Zukunft, die Überwindung der absoluten ‚Krise‘ lässt sich nicht durch klassische Methoden der Politik erreichen. Die Überwindung der ‚Krise‘ muss vielmehr der Logik einer Politik der Existenz folgen, die eine Eliminierung des Feindes bedingungslos integriert.

 Ebd., S. 100.  Ebd., S. 239.  Vgl. ausführlich zum Diskurs der 1920er Jahre über die „Krise“ den Beitrag von Kristin Platt im vorliegenden Band; vgl. auch die Beiträge des folgenden Bandes: Die ‚Krise‘ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, hrsg. von Moritz Föllmer, Frankfurt am Main/New York NY 2005.  Diesen Aspekt einer – allerdings nicht individuellen, sondern generationalen – Selbstermächtigung zur geschichtsgestaltenden Tat hat Mihran Dabag überzeugend herausgearbeitet als ein Kennzeichen politischer Bewegungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die auf eine radikale Umgestaltung von Geschichte und Gesellschaft zielten; vgl. Dabag, Mihran: Gestaltung durch Vernichtung. Politische Vision und generationale Selbstermächtigung in den Bewegungen der Nationalsozialisten und der Jungtürken, in: Die Machbarkeit der Welt.Wie der Mensch sich als Subjekt der Geschichte entdeckt, hrsg. von dems. und Kristin Platt, München 2006, S. 142– 171.

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5 Schluss Im Blick auf die in den vier diskutierten Romanen entworfenen zukünftigen Wirklichkeiten zeigt sich, dass die Qualität der Differenz der von den Autoren geschilderten Zukunftsszenarien zu der erfahrenen Wirklichkeit der frühen 1920er Jahre in einem bestimmten, sinnhaften Korrelationsverhältnis zu den in den Romanen diagnostizierten und zu lösenden politischen Problemen steht. Es sind die als dringlich diagnostizierten Problemlagen, die die Nähe oder Ferne der geschilderten zukünftigen Wirklichkeit zu der erfahrenen Wirklichkeit der frühen 1920er Jahre bestimmen. So wird in den Romanen von Zapp und Inführ die Frage nach den Implikationen und möglichen Lösungen für die aktuelle politische Lage des Deutschen Reichs zur Entstehungszeit der Romane verhandelt. Die entworfene zukünftige Wirklichkeit wird folgelogisch deutlich an eben diese – in beiden Romanen nur wenig verfremdete, vor allem aber als zugespitzt dargestellte – politische Situation zurückgebunden. Die in den beiden Romanen geschilderten Welten werden zudem auch explizit zeitlich im Rekurs auf die Ereignislage der frühen 1920er Jahre verortet: Die Handlung in Zapps Vision ist nur um wenige Monate gegenüber dem Jahr 1923 futurisiert, die Handlung in Inführs ALIS um ein Menschenalter. Die Lösung der konkret und sehr dicht an die politische Situation der Jahre 1923/24 rückgebundenen deutschen Zukunftsprobleme wird in beiden Romanen dann auch auf dem Feld des Politischen in einem herkömmlichen Sinne gefunden: Die Auseinandersetzungen werden „politisch“ geführt und auch der Krieg bleibt Mittel der Politik. In den Romanen von Egmont Colerus und Egon Frey, in denen die Gefährdungen nicht als tagespolitisch oder in einer konkreten politischen Lage begründet, sondern von dieser nachgerade als weitgehend unabhängig oder abgelöst, tief in die kulturellen oder gesellschaftlichen Strukturen eingelagert und somit als existenziell entworfen werden, sind Zukunftsszenarien gewählt, die in signifikanter Weise von der politischen Wirklichkeit der Entstehungszeit der Romane abweichen und kaum noch an diese rückgebunden erscheinen. So stellt in Egmont Colerus’ Wieder wandert Behemoth nicht die konkrete Lage Deutschlands oder ein bestimmtes politisches Ereignis im engeren Sinne den temporalen Bezugspunkt für die Verortung der Romanhandlung dar, sondern ein Diskursereignis: Die Publikation von Spenglers Der Untergang des Abendlandes, die im Roman als einhundert Jahre zurückliegend geschildert wird und dessen Vision vom Niedergang einer saturierten europäischen Kultur in der erzählten Welt des Romans Wirklichkeit zu werden scheint. Wird hier zumindest noch durch den Rekurs auf Spenglers Publikation eine Beziehung zur engeren Entstehungszeit des Romans hergestellt, selbst wenn die politische Lage nur implizit vermittelt durch das Wissen um Spenglers Kulturmorphologie

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evoziert wird, werden dem Leser in Freys Schakal-Roman keinerlei Hinweise gegeben, die eine zeitliche Verortung der Romanhandlung mit Bezug auf die erfahrene gesellschaftliche und politische Gegenwart der Rezipienten zum Publikationszeitpunkt des Romans eröffnen würden. Vielleicht sind die vordergründig von jeder konkreten Politik weiter entfernten oder gar augenscheinlich vollständig gelösten Romane von Colerus und Frey letztlich jedoch deutlich politischer als jene explizit an die konkrete politische Gegenwart zurückgebundenen Texte von Zapp und Inführ. Sie sind politisch in einem existenziellen Sinn, insofern sie einer politischen Interpretation bedürfen: Sie präsentieren eine Prognose, aber keine Lösung. Im Behemoth-Roman, dessen Zukunftsszenario nicht auf die konkrete politische Situation Deutschlands rekurriert, sondern auf zeitgenössisch virulente kulturmorphologische Theorien und ihre politischen Diagnosen, steht am Ende die Zerstörung Europas und ein politisches Chaos, dem sich zwar neue Akteure (die Arbeiterschaft und ein preußisch-russisches Bündnis) entgegenstellen – der Ausgang des bevorstehenden Kampfes bleibt jedoch offen, die Situation prekär. In Freys Schakal-Roman, in dem die Differenzqualität von erfahrbarer Wirklichkeit und dem entworfenen Kampf um die Zukunft absolut ist und ein so zeitloser wie existenzieller Antagonismus entworfen wird, erscheint keine Lösung mehr denkbar, die sich von einer bis dahin bekannten, konventionellen Politik decken ließe. Und auch die radikale, eliminatorische Tat des Protagonisten bietet zunächst keine Lösung der Probleme an, denn ob der Kampf um die Zukunft entschieden ist oder wie eine Zukunft nach dieser Tat aussehen könnte, schildert der Roman tatsächlich nicht mehr, sondern stellt allein fest, dass der Protagonist im Kampf um die Zukunft, der sich hier vor allem als Kampf gegen die Gegenwart erwies, gefallen ist. Die Aufgabe aber, eine Lösung zu finden, um eine Zukunft zu gewinnen, wird an den Reflektor delegiert – den zeitgenössischen Leser.

II Themen

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Von kommenden Kriegen Deutsche Zukunftskriegsromane der Zwischenkriegszeit Es geht um das, was ist. Es geht hart auf hart. Es geht um das, was gewesen ist. Es geht um das, was sein wird. – Johannes R. Becher: (CH Cl = CH)₃As (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg (1926)

Um eine Einleitung zu seinem Buch über die Gefahr eines künftigen Kriegs mit dem Titel Will Civilisation Crash? (1927) hatte der britische zuerst liberale und dann Labour-Politiker Joseph Montague Kenworthy den sicherlich bekanntesten zeitgenössischen Science-Fiction-Autor gebeten. H. G. Wells war aber nicht nur dies, sondern zugleich ein öffentlicher Intellektueller, dessen Stimme Gewicht hatte und der sich 1914 mit dem Schlagwort vom War to end all Wars für einen Krieg Großbritanniens gegen das Deutsche Reich als einen Krieg gegen den Militarismus ausgesprochen hatte.¹ Im kriegsprognostischen Diskurs beglaubigten sich faktuale und fiktionale Sprecherpositionen gegenseitig.² Als Kenworthys Buch 1928 auf Deutsch erschien, wählte man dafür den Titel Vor kommenden Kriegen. ³ Der vorliegende Beitrag handelt von den kommenden Kriegen im Medium des Zukunftsromans, einer literarischen Gattung, die seinerzeit zugleich ebenso konventionell und konservativ wie innovativ und populär war.

1 Ausgangslage und Traditionslinien Der Zukunftskriegsroman war in der Zeit der Weimarer Republik kein neues und auch kein auf das Deutsche Reich beschränktes Phänomen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Gestalt des zukünftigen Kriegs Gegenstand einer ganzen Reihe literarischer Phantasien. Meist gilt George Tomkyns Chesneys 1871 anonym veröffentlichter Roman The Battle of Dorking ⁴ als Mutter aller Zu Vgl. Wells, H. G.: The War that will end War, London 1914.  Das gilt auch schon für The War that will end War, das auf dem Titelblatt die Namensangabe ergänzt durch den Hinweis: „Author of ‚The War of the Worlds‘, ‚The War in the Air‘, etc“.Vgl. ebd., Titelblatt.  Vgl. Kenworthy, J. M.: Vor kommenden Kriegen. Die Zivilisation am Scheideweg, Wien/Leipzig 1928.  Chesney, George Tomkyns: The Battle of Dorking. Reminiscence of a volunteer, London 1871. https://doi.org/10.1515/9783110773217-006

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kunftskriegsromane oder als „Vater aller Schlachten“.⁵ Fasst man aber den Blick vor allem auch gattungsmäßig etwas weiter, so kann man schon wesentlich früher fündig werden, wie I. F. Clarke in seinem Pionierwerk Voices Prophesying War. Future Wars 1763 – 3749 akribisch dargelegt hat.⁶ Im deutschen Sprachraum sind vereinzelte Werke vor allem um die Jahrhundertwende nachweisbar. So imaginierte etwa Gustav Adolf Erdmann im Jahre 1900 in Wehrlos zur See ein Deutsches Reich, das aufgrund seiner mangelnden maritimen Aufrüstung in einem Krieg gegen Russland und Frankreich unterliegt und dadurch an Weltgeltung verliert,⁷ und August Niemann assoziierte vier Jahre später den Weltkrieg mit deutschen Träumen. ⁸ Die Gründungs- und zugleich erste Hochphase des Zukunftskriegsromans kann für Deutschland in den Jahren 1904 – 1914 verortet werden, in denen mindestens 40 Erzähltexte erschienen, die diesem Genre zugerechnet werden können.⁹ Als paradigmatisch für diese Entwicklung muss sicherlich Ferdinand Grautoffs 1905 unter dem Pseudonym „Seestern“ veröffentlichter Roman 1906. Der Zusammenbruch der alten Welt gelten, der bis 1914 eine Auflagenhöhe von 141.000 Exemplaren erreichte¹⁰ und damit eine enorme soziale Reichweite besaß, die weit über heute zum Hochkulturkanon gerechnete Werke hinausging. So erreichten etwa Thomas Manns 1901 erschienene Buddenbrooks bis 1914 lediglich eine Auflagenhöhe von 60.000 Exemplaren, wie Henning Franke herausstellt.¹¹ Der Erste Weltkrieg markierte offenbar eine Zäsur in der Produktion bellizistischer Zukunftsliteratur, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass angesichts der Präsenz des realen Schreckens der Bedarf an fiktiven Kriegsszenarien keine große Konjunktur hatte.¹² Außerdem scheint das Bedürfnis, einen zukünftigen  Vgl. Rottensteiner, Franz: Zukunftskriege in der Science Fiction. Kommentierte Beispiele aus den Jahren 1871– 1918, Lüneburg 2018, S. 11.  Vgl. Clarke, I. F.: Voices Prophesying War. Future wars 1763 – 3749, Oxford/New York NY 1992; The Great War with Germany. Fictions and fantasies of the war-to-come, hrsg. von dems., Liverpool 1997.  Vgl. Erdmann, Gustav Adolf: Wehrlos zur See. Eine Flottenphantasie an der Jahrhundertwende, Berlin/Leipzig 1900; Rottensteiner: Zukunftskriege (Anm. 5), S. 33 f.  Vgl. Niemann, August: Der Weltkrieg. Deutsche Träume, Berlin/Leipzig 1904; Frey, Hans: Fortschritt und Fiasko. Die ersten 100 Jahre der deutschen Science Fiction. Vom Vormärz bis zum Ende des Kaiserreichs 1810 – 1918, München/Berlin 2018, S. 145 ff.  Vgl. Franke, Henning: Der politisch-militärische Zukunftsroman in Deutschland, 1904– 1914. Ein populäres Genre in seinem literarischen Umfeld, Frankfurt am Main u. a. 1985, S. 1.  Vgl. ebd., S. 11 und 329.  Vgl. ebd., S. 9. Einen reich illustrierten, wenn auch polemischen und ideologisch voreingenommenen Überblick über die bellizistische Zukunftsliteratur des Kaiserreichs ab 1870/71 liefert Ritter, Claus: Kampf um Utopolis oder die Mobilmachung der Zukunft, Berlin (Ost) 1987.  So vermutet auch Franke: Der politisch-militärische Zukunftsroman (Anm. 9), S. 2.

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Krieg zu imaginieren, während der gegenwärtige noch nicht beendet ist, nachvollziehbarerweise nicht unbedingt besonders ausgeprägt.¹³ Zugleich schärfere Konturen, wie auch Ausdifferenzierungen gewann der Zukunftskriegsroman dann unter den Bedingungen der literarischen Massenproduktion in der Zeit der Weimarer Republik. Als ursächlich dafür muss ein ganzes Bündel von Entwicklungen betrachtet werden, die einerseits in den Erfahrungen des Weltkriegs selbst zu suchen sind, andererseits in den gewandelten sozioökonomischen Bedingungen des Buchmarkts und nicht zuletzt in den gewandelten ästhetischen Prämissen der literarischen Moderne. So stellten die vielfältigen Innovationen in der Waffentechnik, wie Maschinengewehr, Artilleriegeschütz, Giftgas, Flugzeug und Zeppelin, U-Boot und Panzer, ebenso gänzlich neue Szenarien in Aussicht, wie die Kriegsführung insgesamt,¹⁴ die durch Massenmobilisierung, Stellungskrieg und Schützengräben geprägt war. Für Verdun, den ikonischen Schlachtenort des Ersten Weltkriegs schlechthin, fanden die Metaphern Blutpumpe, Knochenmühle oder schlichtweg Hölle zeitgenössische Verwendung.¹⁵ Der Soldat im Weltkrieg erlebte eine gänzlich andere Realität des Kriegs, als man sie sich vor seinem Beginn vorgestellt hatte, und der Schock, den diese gewandelte Realität auslöste, zog nicht zuletzt mit den sogenannten Kriegszitterern in den Alltag der Weimarer Republik ein, wie die körperlichen Verheerungen der sogenannten Kriegszermalmten deutlich vor Augen geführt wurden.¹⁶

 Wenige Erzählungen bestätigen als Ausnahmen diese Regel, so etwa: Otto, Friedrich: Die Vernichtung der englischen Schlachtflotte durch „U 632“. Eine technische Phantasie aus dem Jahre 1969, in: Scherls Jungdeutschland-Buch 1917, hrsg.von Maximilian Bayer, Berlin 1917, S. 113 – 133. Im Rahmen solcher Kurzgeschichten wurde durchaus auch über das Ende des Ersten Weltkriegs spekuliert; vgl. Wie der Weltkrieg sein Ende fand. Deutsche Kriegsutopien im 1. Weltkrieg 1914– 1918, hrsg. von Detlef Münch, Dortmund 2017. Dort auch Abdruck der Erzählung von Otto Friedrich.  Vgl. Jahr, Christoph / Kaufmann, Stephan: Den Krieg führen: Organisation, Technik, Gewalt, in: Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, hrsg. von Niels Werber, Stefan Kaufmann und Lars Koch, Stuttgart/Weimar 2014, S. 164– 231, hier S. 213 – 225.  Vgl. Münkner, Jörn: Verdun, in: Metzler Lexikon moderner Mythen. Figuren, Konzepte, Ereignisse, hrsg. von Stephanie Wodianka und Juliane Ebert, Stuttgart/Weimar 2014, S. 367– 369, hier S. 367. Zum Verdun-Mythos siehe auch: Hüppauf, Bernd: Schlachtenmythen und die Konstruktion des „Neuen Menschen“, in: „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…“, Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, hrsg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz, Essen 1993, S. 43 – 84.  Vgl. etwa Ulrich, Bernd: „…als wenn nichts geschehen wäre“. Anmerkungen zur Behandlung der Kriegsopfer während des Ersten Weltkriegs, in: „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…“. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, hrsg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz, Essen 1993, S. 115 – 129.

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Ein zunächst banaler, aber nichtsdestotrotz bedeutsamer Faktor muss auch im Ende des Weltkriegs selbst gesehen werden, denn wenn sich die Weimarer Rechte auch heftig bemühte, die militärische Niederlage des Deutschen Reiches zu leugnen und die Schuld am verlorenen Krieg den Zivilisten unterzuschieben, so blieb das Kriegsende doch in seiner schlussendlichen Konsequenz eine faktische Niederlage. Die im Versailler Vertrag von den Siegermächten mehr diktierten als verhandelten Friedensbedingungen taten ein Übriges dazu, dass Revanchephantasien üppig gediehen, denen dann, wie zu zeigen sein wird, auch literarisch Ausdruck verliehen wurde. Das Buch im Allgemeinen und der Roman im Besonderen gerieten in den 1920er Jahren verstärkt unter Druck von Seiten anderer, neuer Medien. Insbesondere Kino und Radio waren als potentiell narrative Medien dazu angetan, der Literatur ihren angestammten Rang als Leitmedium abzulaufen. Der bedeutende Verleger Samuel Fischer klagte 1926: Es ist nun sehr bezeichnend, daß das Buch im Augenblick zu den entbehrlichsten Gegenständen des täglichen Lebens gehört. Man treibt Sport, man tanzt, man verbringt die Abendstunden am Radioapparat, im Kino – ist neben der Berufsarbeit vollkommen in Anspruch genommen und findet keine Zeit, ein Buch zu lesen.¹⁷

Von einer Bücherkrise kann indes bei genauer Betrachtung der Anzahl der Neuerscheinungen und der Auflagenhöhen keine Rede sein. Vielmehr kann festgestellt werden, dass die Zahlen – von den Inflationsjahren abgesehen – auf einem konstant hohen Niveau stagnierten.¹⁸ Der Anteil von Novitäten an der Buchproduktion stieg bis 1932 auf 80 % und auch die Startauflagen der Bücher brachen mit Höhen bis zu 40.000 Exemplaren alle Rekorde.¹⁹ Hohe Auflagenzahlen und preiswertere Buchproduktion (Broschur) trugen dazu bei, dass auch der Buchpreis signifikant gesenkt werden konnte.²⁰ Dennoch war für den durchschnittlichen Angestellten- und Arbeiterhaushalt der Kauf eines Buchs eine eher seltene Angelegenheit, da der Buchpreis im Vergleich zum Lektürebudget immer noch sehr teuer war.²¹ Darum ist anzunehmen, dass auch Zukunftsromane vor allem über

 Zitiert nach Füssel, Stephan: Das Buch in der Medienkonkurrenz der zwanziger Jahre, in: Gutenberg-Jahrbuch 71, 1996, S. 322– 340, hier S. 332.  Vgl. ebd., S. 332 f.  Vgl. ebd.  Vgl. ebd., S. 333.  Vgl. Schneider, Ute: Lektürebudgets in Privathaushalten der zwanziger Jahre, in: GutenbergJahrbuch 71, 1996, S. 341– 351.

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kommerzielle und öffentliche Leihbüchereien entliehen wurden.²² Da auch privat erworbene Bücher meist innerhalb des Freundes- und Bekanntenkreises verschenkt oder verliehen wurden, ist zu vermuten, dass der Verbreitungskreis der Bücher sicherlich deutlich über ihre Auflagenhöhe hinausging. Die Medienkonkurrenz hatte aber nicht nur Auswirkungen auf den Buchmarkt, sondern vor allem auch auf die ästhetischen Prämissen der literarischen Moderne und damit mittelbar oder unmittelbar auch auf die hier interessierenden Zukunftskriegsromane. Bekannt ist vor allem die von Alfred Döblin als „Kinostil“²³ geforderte kinematographische Schreibweise für den zeitgenössischen Roman. Die Schriftsteller sollten „Tatsachenphantasie“ produzieren.²⁴ Der Zukunftsromanautor Otfrid von Hanstein veröffentliche 1924 mit Der TelefunkenTeufel einen Radioroman. ²⁵ Ästhetiken des Dokumentarischen und des Authentischen gewannen zunehmend an Bedeutung und wurden als Reportagestil prägend für die Literatur der Neuen Sachlichkeit. So gibt sich die Erzählperspektive als nüchterne Betrachtung der äußeren Gegenwart aus und die Romantexte werden zunehmend collagenhafter; insbesondere finden Dokumente (wie zum Beispiel echte oder fiktive Zeitungsartikel) Eingang in die Textarrangements.²⁶ Diese Tendenz hat gerade in vielen alarmistischen Zukunftskriegsromanen auch die Funktion der Authentifizierung der geschilderten Szenarien, sodass sich hier neben Zeitungsartikeln etwa auch militärische Meldungen und Karten finden. Halbdokumentarische beziehungsweise semifiktionale Darstellungsweisen reichen teilweise bis hinein in das vorgestellte Personal. So ist es nicht selten, dass reale Politiker oder Militärs als Figuren auftauchen oder als kaum verfremdete Schlüsselfiguren in die Handlung eingeführt werden.²⁷

 Vgl. Brandt, Dina: Der deutsche Zukunftsroman 1918 – 1945. Gattungstypologie und sozialgeschichtliche Verortung, Tübingen 2007, S. 62 f.  Döblin, Alfred: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, Bemerkungen zum Roman, Der Bau des epischen Werks [Mai 1913], in: ders.: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur, Frankfurt am Main 2013, S. 118 – 122, hier S. 120.  Vgl. ebd., S. 122.  Hanstein, Otfrid von: Der Telefunken-Teufel. Ein Radioroman, Dresden-Niedersedlitz 1924.  Vgl. Becker, Sabine: Neue Sachlichkeit. Bd. 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur, Köln u. a. 2000, S. 154– 170 und 196 – 219.  Zum Beispiel in Nie wieder Krieg?! von Junius Alter (Pseudonym von Franz Sontag), in dem quasi das gesamte europäische politische Spitzenpersonal teilweise unter Klarnamen, teilweise unter Pseudonymen auftaucht. Vgl. Alter, Junius (Pseudonym von Franz Sontag): Nie wieder Krieg?! Ein Blick in Deutschlands Zukunft, Leipzig 1931.

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2 Korpus und Fragestellung 45 Zukunftsromane des Untersuchungszeitraumes führen den Krieg oder einen Hinweis, der eine kriegerische Entwicklung nahelegt, schon im Titel.²⁸ Dabei bleiben hier zunächst jene unberücksichtigt, in denen ein kommender Krieg zwar nicht das dominierende Thema ist, jedoch als Hintergrund, Kulisse oder der Romanhandlung vorangehende Entwicklung thematisiert wird.²⁹ Dina Brandt, die mit ihrer Studie zum deutschen Zukunftsroman 1918 – 1945 erstmals eine Gesamterhebung des Korpus vorgelegt hat, gibt den Anteil der „Weltkriegsszenarien“ an den Zukunftsromanen mit insgesamt 16 % an und verortet ihre Blütezeit in den Jahren 1929 – 1934.³⁰ Ihre Klassifikation unterscheidet sich insofern von der hier verfolgten, als sie mit dem Klassifikationsmerkmal „Weltkriegsszenario“ ausschließlich Romane anspricht, die einen kommenden Weltkrieg auf der Erde imaginieren. Andere Szenarien, wie etwa Stanislaus Bialkowskis Krieg im All (1935), werden hingegen dem Klassifikationsmerkmal „Fremde Welten“ zugeschlagen.³¹ Für die vorliegende Untersuchung wurden Zukunftsromane herangezogen, die eine zukünftige, hauptsächlich kriegerische Entwicklung thematisieren, unabhängig vom Handlungsort des Geschehens. Welche Klassifikationsmerkmale auch immer zugrunde gelegt werden, sind sie doch grundsätzlich mit dem Problem konfrontiert, dass eine idealtypische Heuristik die Polyvalenz der Quellenbasis verschleiert. Tatsächlich gehört es zu den Gattungskonventionen des Zukunftsromans, dass es sich um ein hybrides Genre handelt und daher selten Szenarien vorgestellt werden, die sich auf ein einzelnes Thema festlegen ließen. So spielen auch in Zukunftskriegsromanen häufig geniale Erfinder und Erfindungen eine tragende Rolle oder sie verlagern ihr Handlungsgeschehen auf einen anderen Planeten.  Vgl. Liste im Anhang. Berücksichtigt wurden auch Romane, die das Wort Krieg nicht im Titel führen, aber dennoch eindeutig auf ein kriegerisches Szenario hinweisen, beispielsweise Die Schlacht über Berlin oder Revanche für Versailles und ähnliches.  Dabei ist die Unterscheidung, welches Thema nun das ‚dominierende‘ eines Romans ist, keinesfalls immer eindeutig. Hans Dominiks Roman Das Erbe der Uraniden (1928) etwa ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass es häufig eine schwierige Entscheidung ist, einen Handlungsstrang als den dominanten auszumachen. Zwar setzt die Romanhandlung mit der entscheidenden Schlacht eines Weltkriegs ein, andererseits scheinen im weiteren Verlauf der Raumschiffbau und der Kontakt mit den außerirdischen „Uraniden“ diesen Aspekt ganz wesentlich in den Hintergrund zu drängen. Vgl. Dominik, Hans: Das Erbe der Uraniden, Berlin 1935 (zuerst 1928).  Vgl. Brandt: Der deutsche Zukunftsroman (Anm. 22), S. 106. Grundlage ihrer Angaben ist die inhaltliche Auswertung ungefähr der Hälfte der von ihr ausgemachten 434 Werke.Vgl. ebd., S. 105.  Vgl. ebd., S. 353.

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Klassifikatorische Fragen sollen im Folgenden aber auch nur am Rande behandelt werden. Vielmehr soll es darum gehen, einige transtextuelle Handlungsstrukturen, Motivcluster und „topologische Figurationen“³² der Romane auf ihre Geltungsansprüche bezüglich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des (Welt‐)Kriegs zu befragen. Leitend ist dabei die These, dass das als ‚kollektive Erfahrung‘ gesetzte und zugleich konventionalisierte ‚Erlebnis‘ des vergangenen Weltkriegs die Frage nach der künftigen Weltordnung maßgeblich bestimmte und schließlich auch dort noch hintergründig mitverhandelt wurde, wo vordergründig vollkommen disparate Szenarien entwickelt wurden.

3 Die Erfahrung des Weltkriegs Vom Krieg blieb übrig Elend und Literatur. Ernst Jirgal: Die Wiederkehr des Weltkriegs in der Literatur (1931)

Alfred Döblins avantgardistischer Roman Berge Meere und Giganten (1924), der nicht als Zukunftskriegsroman im idealtypischen Sinne angesprochen werden kann, in dem aber nichtsdestotrotz zukünftige Kriege eine bedeutende Rolle spielen, imaginiert einen dystopischen Zukunftshorizont, der im 23. – 28. Jahrhundert situiert ist und beginnt mit den Sätzen: Es lebte niemand mehr von denen, die den Krieg überstanden hatten, den man den Weltkrieg nannte. In die Gräber gestürzt waren die jungen Männer, die aus den Schlachten zurückkehrten, die Häuser übernahmen, welche die Toten hinterlassen hatten, in ihren Wagen fuhren, in ihren Ämtern dienten, den Sieg ausnutzten, die Niederlage überstanden. In die Gräber gestürzt die jungen Mädchen, die so schlank und blank über die Straßen gingen, als wäre nie ein Krieg zwischen Männern in Europa gewesen.³³

Die Romaneinführung supponiert so einen Erfahrungsabbruch, der sich zwischen dem 20. Jahrhundert und der Epoche der Romanhandlung ereignet hat. Kenn-

 Brehl, Medardus: Bellizistische Belletristik. Inszenierung und Nachwirkung einer Literatur im Kriegseinsatz 1813/14, in: Wissenschaft im Einsatz, hrsg. von Käte Meyer-Drawe und Kristin Platt, München 2007, S. 134– 161, hier S. 144 f. Zum Konzept des „topologischen Arguments“ siehe Platt, Kristin: „Im ertödtenden Blicke des todten Beschauers“. Krise und tätiges Handeln in Universitätsreden 1933 bis 1934, in: Wissenschaft im Einsatz, hrsg. von Käte Meyer-Drawe und Kristin Platt, München 2007, S. 28 – 74; Platt, Kristin: Fichte als Pfadfinder. Der geschichtsgestaltende Krieg im historisch entscheidenden Moment, in: Die Machbarkeit der Welt, hrsg. von Mihran Dabag und Kristin Platt, München 2006, S. 93 – 141.  Döblin, Alfred: Berge Meere und Giganten, Frankfurt am Main 2013 (zuerst 1924), S. 13.

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zeichen der Epoche des zeitgenössischen Lesers ist die Gegenwart des Weltkriegs, wohingegen das folgende Handlungsgeschehen in einer Zeit verortet ist, der die Erfahrung des Weltkriegs nichts mehr zu sagen hat. Die Weltkriegserfahrung ist das unhintergehbare Unterscheidungsmerkmal zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Generationen. Walter Benjamin hat in einem häufig angeführten Zitat zu der Erfahrung des Weltkriegs auch und gerade als eines Generationenphänomens angemerkt: [D]ie Erfahrung ist im Kurse gefallen. Und es sieht aus, als fiele sie weiter ins Bodenlose. Jeder Blick in die Zeitung erweist, daß sie einen neuen Tiefstand erreicht hat, daß nicht nur das Bild der äußern, sondern auch das Bild der sittlichen Welt über Nacht Veränderungen erlitten hat, die man niemals für möglich hielt. Mit dem Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist. Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre später in der Flut der Kriegsbücher ergossen hatte, war alles andere als Erfahrung gewesen, die von Mund zu Mund geht. Und das war nicht merkwürdig. Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.³⁴

Benjamin verweist in diesem Zitat implizit auch auf die in mehrfacher Hinsicht ambigue Bedeutung der Rede von ‚Erfahrung‘; der Begriff meint hier sowohl die Akkumulation von Wissen vorangehender Generationen, wenn er von strategischen, wirtschaftlichen, körperlichen und sittlichen Erfahrungen spricht, und diese ‚Erfahrungen‘ sind in der Tat ‚im Kurs gefallen‘, durch die entfesselten Gewalten der Materialschlacht schlicht entwertet worden. Er zielt aber auch auf die individuell-subjektive Dimension von ‚Erfahrung‘, wenn er davon spricht, dass die Generation, die noch mit der ‚Pferdebahn zur Schule‘ fuhr, mit dem ungeheuren Schock einer übermächtigen Technik konfrontiert, verstummt sei. Auch in diesem

 Benjamin, Walter: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows [1936], in: ders.: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und der literarischen Prosa, ausgewählt und mit einem Nachwort von Alexander Honold, Frankfurt am Main 2007, S. 103 – 128, hier S. 103 f. Das angeführte Zitat findet sich fast wortgleich erstmals in dem 1933 publizierten Aufsatz Erfahrung und Armut. Vgl. Benjamin, Walter: Erfahrung und Armut [1933], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2.1: Aufsätze, Essays, Vorträge, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1977, S. 213 – 219, hier S. 214.

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Sinne markiert die Weltkriegserfahrung selbstredend eine Zäsur;³⁵ die ungeheure Macht, Geschwindigkeit und das ungeheure Zerstörungspotential im ‚Granathagel‘ hatten das Erleben jedes Einzelnen grundlegend verändert. An anderer Stelle hat Benjamin zur mehrdimensionalen Bedeutung seines Erfahrungsbegriffs angemerkt: „Wo Erfahrung im strikten Sinn obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion“.³⁶ Er stellt hier heraus, dass eine Unterscheidung zwischen individuellsubjektiver und kollektiver, gesellschaftlich überformter Erfahrung nur als idealtypische zu haben ist, sich in ihren konkreten Erscheinungsformen Erfahrung hingegen immer nur als Verbindung beider Dimensionen objektiviert.³⁷ Für Döblin wie Benjamin hat also die Kriegserfahrung als das zentrale Phänomen ihrer Epoche zu gelten, die Generation wird als Erfahrungsgemeinschaft verstanden; und auch Erich Maria Remarque, der Autor des wohl prominentesten Antikriegsromans, hat dies ganz ähnlich formuliert: Unsere Generation ist anders aufgewachsen als alle anderen vorher und nachher. Ihr stärkstes, unmittelbares Erlebnis war der Krieg, ganz gleich, ob sie ihn bejaht oder verneint hat, ob sie ihn nationalistisch, pazifistisch, abenteuerhaft, religiös oder stoisch auffaßte. Sie sah Blut, Grauen, Vernichtung, Kampf und Tod, das war das allgemeine menschliche Erleben Aller.³⁸

 Kritisch zu der Frage, ob es sich bei dem ‚Kriegserlebnis‘ um eine erfahrungsgeschichtliche oder nicht vielmehr um eine diskursive Zäsur handele: Ziemann, Benjamin: Das „Fronterlebnis“ des Ersten Weltkriegs – eine sozialhistorische Zäsur? Deutungen und Wirkungen in Deutschland und Frankreich, in: Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung. Sozialer Wandel und Formveränderung der Politik, hrsg. von Hans Mommsen, Köln u. a. 2000, S. 43 – 82.  Benjamin, Walter: Über einige Motive bei Baudelaire [1939], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1.2: Abhandlungen, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974, S. 605 – 653, hier S. 611. Siehe dazu auch: Linse, Ulrich: Das wahre Zeugnis. Eine psychohistorische Deutung des Ersten Weltkriegs, in: Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, hrsg. von Klaus Vondung, Göttingen 1980, S. 90 – 114, hier S. 93.  Siehe zum Themenkomplex Krieg und Erfahrung bei Benjamin auch Benjamin, Walter: Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift „Krieg und Krieger“. Herausgegeben von Ernst Jünger [1930], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Kritiken und Rezensionen, hrsg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt am Main 1972, S. 238 – 250; Erdle, Birgit R.: Benjamins Erzählen, in: Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literarturwissenschaft, hrsg. von Jürg Glauser und Annegret Heitmann, Würzburg 1999, S. 49 – 62; Delabar, Walter: Erfahrungsarme Kriegsbücher. Benjamin-Lektüren, in: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Kriegs in Literatur, Theater, Photographie und Film, Bd. 1, hrsg. von Thomas F. Schneider, Osnabrück 1999, S. 271– 282.  Eggebrecht, Axel: Gespräch mit Remarque, in: Die literarische Welt Jg. 5 (24), 1929, S. 1 f., abgedruckt in: Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918 – 1933, hrsg. von Anton Kaes, Stuttgart 1983, S. 514– 517, hier S. 515.

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Während Döblin und Remarque allerdings das ‚Kriegserlebnis‘ nur als Generationenphänomen kennzeichnen, konstatiert Walter Benjamin zugleich eine Entwertung von Erfahrung generell, da durch das Erlebnis des Kriegs das Erfahrungswissen abgebrochen und die Erfahrung des Erlebnisses wegen dieses Abbruches nicht mehr mitteilbar sei. Die Unmitteilbarkeit des Kriegserlebnisses oder das Verstummen der Soldaten im Allgemeinen und der kriegsteilnehmenden Schriftsteller im Besonderen ist ein häufig reproduzierter Allgemeinplatz. Der „Schock der Realität“ habe die Kriegsteilnehmer verstummen lassen, so etwa Helmut Fries in einem Aufsatz über deutsche Schriftsteller im Ersten Weltkrieg.³⁹ Medardus Brehl hat dazu ausgeführt, es sei doch schon verwunderlich, dass hier „sprachliche (und dazu noch schriftlich fixierte) Zeugnisse als Belege für ein ‚Versagen der Sprache‘ und ein ‚Verstummen‘ angeführt werden können“.⁴⁰ Denn Fries bezieht sich in seinen Ausführungen auf Auszüge aus Tagesbüchern und Briefen Franz Marcs, Gerrit Engelkes und August Stramms, „in denen diese ihre Unfähigkeit, über das Erlebnis des Kriegs zu berichten, formulieren“,⁴¹ und Brehl merkt an, dass es etwa im Falle August Stramms ein sehr produktives und wortreiches Schweigen sei, da dieser nicht nur eine große Anzahl von Briefen, sondern auch 31 Gedichte, zwei Prosatexte und drei Dramen geschrieben habe, in denen er von seinen Kriegserfahrungen berichte. Demgegenüber stellt Brehl heraus, dass „die Rede von der Uncodierbarkeit oder Unsagbarkeit des Erlebens in den zitierten Textpassagen eine feste Funktion hat: sie selbst ist bereits ein Bild, ein Topos“.⁴² Die „Rede vom Versagen sprachlicher Konventionen vor dem Erleben“ sei „selbst wiederum eine sprachliche Konvention“.⁴³ In der rhetorischen Strategie der sprachskeptischen und sprachkritischen Poetik August Stramms werde das „vermeintlich Unsignifizierbare […] dadurch signifizierbar gemacht, daß man es als unsignifizierbar signifiziert“.⁴⁴ Die Rede von ‚der Erfahrung, die nicht in Worte zu fassen sei‘, verweise daher nicht auf die Unmöglichkeit des sprachlichen Ausdrucks, sondern

 Vgl. Fries, Helmut: Deutsche Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, in: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, hrsg. von Wolfgang Michalka, München/Zürich 1994, S. 825 – 848, hier S. 840 ff.  Brehl, Medardus: „Das Wort stockt mir vor Grauen“. Krieg, Gewalt und Sprache im Werk August Stramms, in: Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen, hrsg. von Mihran Dabag, Antje Kapust und Bernhard Waldenfels, München 2000, S. 237– 259, hier S. 242, Anmerkung 31.  Ebd., S. 242.  Ebd., S. 247.  Ebd., S. 248.  Ebd., S. 249.

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vielmehr auf die Schwierigkeiten der Kommunikation zwischen Kriegsteilnehmern und Zivilisten, da dem Geschehen angemessene Konventionen rar seien.⁴⁵ Vor diesem Hintergrund kann die Bemerkung Walter Benjamins, dass die „Flut der Kriegsbücher“, die dann zehn Jahre später erschienen, „alles andere als Erfahrung […], die von Mund zu Mund geht“, gewesen sei,⁴⁶ auch verstanden werden als Einspruch gegen den Authentizitätsanspruch eben dieser Literatur.⁴⁷ Nicht Erfahrung im Sinne der möglichst unverfälschten, aber durchaus gewollt subjektiven Wiedergabe des Erlebten ist Gegenstand dieser Literatur, sondern zu Topoi geronnene Konstrukte von Erfahrung. Diese Erfahrungskonstrukte aber sind zugleich immer Interpretamente zur Wahrnehmung von Gegenwart und Zukunft und eben diese Interpretamente empfindet Benjamin als unangemessen. Von einem tatsächlichen Verstummen der Literatur als Konsequenz des Weltkriegs kann demgegenüber gerade am Ende der 1920er Jahre überhaupt keine Rede sein, und das gilt sowohl für pazifistische wie für eher bellizistische Texte. Für einen Beitrag, der sich mit Zukunftskriegsromanen der Zwischenkriegszeit befasst, und vor dem Hintergrund des bisher Erläuterten ist es naheliegend, zwei geschichtstheoretische Begriffe einzuführen, die innerhalb der historischen Zukunftsforschung eine gewisse Prominenz erlangt haben und auch im vorliegenden Zusammenhang das heuristische Inventar schärfen können, nämlich die von Reinhart Koselleck geprägten Begriffe „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“.⁴⁸ Kosellecks These lautet, „daß sich in der Neuzeit die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung zunehmend vergrößert [hat], genauer, daß sich

 Vgl. ebd. Die bekanntesten Zeugnisse der ‚verstummten‘ Kriegsteilnehmer sind vermutlich Philipp Witkops Kriegsbriefe deutscher Studenten, die ab 1916 in unterschiedlichen Editionen erschienen, von den Ausgaben ab 1928 unter dem Titel: Kriegsbriefe gefallener Studenten und bis 1942 eine Auflagenhöhe von 200.000 erreichten. Vgl. Hettling, Manfred / Jeismann, Michael: Der Weltkrieg als Epos. Philipp Witkops „Kriegsbriefe gefallener Studenten“, in: „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…“. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, hrsg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz, Essen 1993, S. 175 – 198, hier S. 178; Ketelsen, Uwe-K.: „Das ist auch so ein unendlicher Gewinn mitten in der Erfahrung des gräßlichsten Todes“. Arbeit an der Biographie: Philipp Witkops Sammlung von studentischen Briefen aus dem Ersten Weltkrieg, in: Bücher haben ihre Geschichte. Kinder- und Jugendliteratur, Literatur und Nationalsozialismus, Deutschdidaktik. Norbert Hopster zum 60. Geburtstag, hrsg. von Petra Josting und Jan Wirrer, Hildesheim u. a. 1996, S. 51– 61.  Vgl. Benjamin: Der Erzähler (Anm. 34), S. 104.  Zur Frage der „Wahrheit“ der Kriegsromane der späten 1920er Jahre siehe auch: Gollbach, Michael: Die Wiederkehr des Weltkriegs in der Literatur. Zu den Frontromanen der späten Zwanziger Jahre, Kronberg im Taunus 1978, S. 284– 288.  Koselleck, Reinhardt: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 2010, S. 349 – 375.

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die Neuzeit erst als eine neue Zeit begreifen läßt, seitdem sich die Erwartungen immer mehr von allen bis dahin gemachten Erfahrungen entfernt haben“.⁴⁹ Kennzeichen des ‚Fortschritts‘ als des Signums der Epoche der Neuzeit sei, dass sich zunächst durch den Wegfall heilsgeschichtlicher Erwartungen ein prinzipiell offener Zukunftshorizont ergeben habe. Dieser lasse Raum für Erwartungen, die sich nicht aus einem göttlichen Heilsplan zwangsläufig ergäben. Innerhalb der vorneuzeitlichen bäuerlich-handwerklichen Welt speisten sich außerdem die Erwartungen gänzlich aus „den Erfahrungen der Vorfahren, die auch zu denen der Nachkommen wurden“.⁵⁰ Das Tempo der Veränderungen sei so langsam gewesen, dass „der Riß zwischen bisheriger Erfahrung und einer neu zu erschließenden Erwartung nicht die überkommende Lebenswelt aufsprengte“.⁵¹ Mit dem Beginn der Neuzeit habe demgegenüber der Erwartungshorizont „einen mit der Zeit fortschreitenden Veränderungskoeffizienten“ erhalten, während sich gleichzeitig der Erfahrungsraum durch die Summe aller Erfahrungen, die man unter dem Begriff des Fortschritts subsummierte (technische Innovationen, Entdeckungen, Protoindustrialisierung), grundlegend gewandelt habe.⁵² „Der Erfahrungsraum wurde seitdem nicht mehr durch den Erwartungshorizont umschlossen, die Grenzen des Erfahrungsraumes und der Horizont der Erwartung traten auseinander“.⁵³ Die Zukunft wird daher seitdem durch ihre fundamentale Andersartigkeit von der Vergangenheit bestimmt und durch die entschiedene Erwartung, dass es zukünftig besser werde.⁵⁴ Die Geschwindigkeit des Auseinandertretens von Erfahrung und Erwartung sei durch den Begriff der „Beschleunigung“ charakterisiert, so Koselleck.⁵⁵ Wenn man Kosellecks Überlegungen auf Walter Benjamins Beobachtungen zum Stellenwert der Erfahrung nach dem Ersten Weltkrieg bezieht, dann könnte man diesen Krieg als Kulminationspunkt der neuzeitlichen Entwicklung interpretieren. Mit dem Ersten Weltkrieg unterscheiden sich die Erfahrungen seiner Zeitgenossen so fundamental von den Erfahrungen aller vorherigen Generationen, dass eine kontinuitätsstiftende Beziehung zwischen dem Vorher und dem Nachher undenkbar wird. Das bedeutet aber, dass der Erwartungshorizont letztlich vollkommen indeterminiert wäre, da kein verbindlicher Erfahrungsraum mehr existiert, der auch nur Indizien liefern könnte, was sich erwarten ließe.

      

Ebd., S. 359. Vgl. ebd., S. 360. Vgl. ebd., S. 361. Vgl. ebd., S. 363. Ebd., S. 364. Vgl. ebd., S. 364 f. Vgl. ebd., S. 368 f.

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Hinzu kommt, dass das ‚Kriegserlebnis‘ nicht isoliert von anderen Entwicklungen betrachtet werden kann. Die kriegsbeendende Novemberrevolution war auch ein Akt der Selbstermächtigung des in den Kriegsjahren bis zur Unkenntlichkeit marginalisierten Individuums, das sein Recht auf Selbstbestimmung einforderte. Die Revolution eröffnete so mit großer Plötzlichkeit einen politischen Raum, der große Teile der Bevölkerung zu einer aktiven Teilnahme am politischen Geschehen ermutigte, und schuf gleichzeitig über das Narrativ der Dolchstoßlegende politische Akteure, die sich wegen des ‚Kriegserlebnisses‘ ermächtigt fühlten, ihrer Vision eines künftigen Deutschlands Gestalt zu verleihen. Im Folgenden soll daher aufgezeigt werden, wie in vielen Zukunftsromanen der Zwischenkriegszeit der als ‚Kriegserlebnis‘ konventionalisierte Erfahrungsraum des Ersten Weltkriegs⁵⁶ zum Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen zur politischen Zukunft Deutschlands und darüber hinaus der gesamten Weltordnung gemacht wurde. Während auf Seiten der politischen Rechten das sogenannte „Augusterlebnis“ und der sogenannte „Frontsozialismus“ die Folie für einen positiven Gesellschaftsentwurf lieferten,⁵⁷ wurden Kriegsende und Revolution hier zu einer umfassenden Krisenerzählung amalgamiert.⁵⁸ Dabei zielten diese beiden Erzählstränge desselben Narrativs immer schon auf den nächsten Krieg. Aber auch auf Seiten der Linken, Demokraten und Pazifisten nahm die Weltkriegserfahrung eine exzeptionelle Stellung ein, wurde doch aus ihrer Perspektive im Weltkrieg paradigmatisch vor Augen geführt, wozu Kapita-

 Siehe dazu auch Brückner, Florian: Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Methoden, Desiderata, Forschungsperspektiven, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, hrsg. von Sabina Becker in Zusammenarbeit mit Robert Krause, Bd. 17, 2015/16, S. 175 – 199.  Programmatisch formuliert das Günther Lutz in seiner Dissertation aus dem Jahre 1936 Die Frontgemeinschaft. Das Gemeinschaftserlebnis in der Kriegsliteratur: „Trotz der fast unübersehbaren Zahl der sogenannten ‚Kriegsbücher‘ ist dieser Zusammenhang zwischen dem Erlebnis der Frontgemeinschaft und unserer heutigen Volksgemeinschaft in systematisch-wissenschaftlicher Bestimmung noch nicht recht zu Bewußtsein gekommen“. Lutz, Günther: Die Frontgemeinschaft. Das Gemeinschaftserlebnis in der Kriegsliteratur, Greifswald 1936, S. 9 f. Siehe dazu auch Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, hrsg. von Klaus Vondung, Göttingen 1980. Günther Lutz wurde später unter anderem Referent im SD-Hauptamt.Vgl. Leaman, George / Simon, Gerd: Die Kant-Studien im Dritten Reich, 1993, S. 30, online verfügbar unter: http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ks.pdf (Zugriff: 25.04. 2022).  Zum Begriff der „Krise“ im Kontext der Weimarer Republik siehe Peukert, Detlef J. K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987; Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, hrsg. von Moritz Föllmer und Rüdiger Graf, Frankfurt am Main/New York NY 2005; Graf, Rüdiger: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918 – 1933, München 2008.

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lismus, Autoritarismus, Militarismus und Obrigkeitsstaatshörigkeit letztlich führen mussten und auch in Zukunft wieder führen würden. Im Widerspruch zur oder zumindest in Modifikation der oben referierten These Reinhardt Kosellecks vom grundsätzlichen Auseinandertreten von „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ seit der frühen Neuzeit⁵⁹ muss für die Zwischenkriegszeit geradezu von einem Ineinanderfallen dieser Dimensionen gesprochen werden. Der Begriff des „Erfahrungsraumes“ muss in diesem Zusammenhang aber auch anders verstanden werden, als Koselleck ihn für seine Überlegungen konzipiert hatte, nämlich eben nicht als Akkumulation von Wissen aller vorangegangenen Generationen, sondern vielmehr als ein moderneund generationsspezifisches kulturelles Wissen. Der Erste Weltkrieg markierte in mindestens doppelter Hinsicht einen Bruch mit tradierten Wissenskonzepten: zum einen in der Frage nach dem Agens des Politischen (dem politischen Subjekt) und zum anderen in der Frage nach der Handlungsmacht (Agency) des Einzelnen.

4 Kriegserfahrung und Kriegserwartung im Zukunftsroman Carl von Ossietzky veröffentlichte in der Ausgabe der Weltbühne vom 23. Februar 1932 einen offenen Brief an den Reichswehrminister,⁶⁰ in dem er sich über eine Werbung des Stalling-Verlages beklagt, der den Roman Achtung! Ostmarkenrundfunk! Polnische Truppen haben heute nacht die ostpreußische Grenze überschritten ⁶¹ mit folgenden Worten bewarb:

 Vgl. Koselleck: „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ (Anm. 48).  Das ist zu dieser Zeit der parteilose Wilhelm Groener.  Nitram, Hans (Pseudonym von Hans Martin): Achtung! Ostmarkenrundfunk! Polnische Truppen haben heute nacht die ostpreußische Grenze überschritten, Oldenburg 1932. Für den Roman konnte eine Auflage von 46.000 bis Februar 1933 ermittelt werden. Vgl. dazu: Overesch, Manfred: Chronik deutscher Zeitgeschichte. Politik – Wirtschaft – Kultur. Bd. 2/1: Das Dritte Reich 1933 – 1939, Düsseldorf 1982, S. 13. Vgl. zur Wirkungsgeschichte des Romans Fischer, Peter: Die deutsche Publizistik als Faktor der deutsch-polnischen Beziehungen 1919 – 1939, Wiesbaden 1991, S. 155 – 162. Fischer ordnet den Roman als „Zeitroman“ ein. Tatsächlich operiert der Roman mit der unbestimmten Zeitangabe „193..“ (Nitram: Achtung! Ostmarkenrundfunk! (Anm. 61), S. 10), lässt also den konkret entworfenen Zeithorizont offen. Der Romantext ist konsequent im Präsens geschrieben, wechselt aber auf der letzten Seite ins Futur I. Der Text evoziert so den Eindruck, als könnten die geschilderten Ereignisse jederzeit eintreffen, was sich insgesamt als ein unmittelbarer Nahhorizont charakterisieren lässt. Vgl. auch: Hartmann, Regine: Krieg regional. Ostpreußen in einem Kriegsroman – ein Fall von ‚Information Warfare‘, in: Information Warfare. Die Rolle der Medien (Literatur, Kunst, Photographie, Film, Fernsehen, Theater, Presse, Korrespondenz) bei der

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Vertraulich möchten wir Ihnen mitteilen, daß das Werk von einem Angehörigen der Reichswehr geschrieben worden ist und daß die Veröffentlichung des Werkes von der zuständigen Instanz genehmigt wurde. Man ist sich bewußt, daß sich aus dem Buche unter Umständen diplomatische Schritte Polens ergeben, wird aber einen solchen diplomatischen Schritt voraussichtlich nicht ungern sehen, um der kommenden Abrüstungskonferenz in Genf mehr als man es sonst könnte, vorhalten zu können, wie wehrlos Deutschland und insbesondere wie wehrlos das ostpreußische Heimatgebiet, das man vom Mutterlande getrennt hat, jedem Angriff des mit allen modernen Kriegsmitteln bewaffneten Polen ausgeliefert ist.⁶²

Ossietzky wütet, er wolle die angesprochene „zuständige Instanz“ gerne einmal kennenlernen, die sich der Gefahr diplomatischer Verwicklungen mit Polen bewusst ist, diese aber nicht fürchtet, sondern begrüßt, und fordert den ‚Herrn Minister‘ auf, in dieser Sache energisch zu intervenieren, unabhängig vom Wahrheitsgehalt der kolportierten Behauptung.⁶³ Drei Monate später berichtet Heinrich Hauser in der Frankfurter Zeitung unter dem Titel Psychose durch ein Buch über die Wirkung der von Ossietzky inkriminierten Publikation und insbesondere über die Werbung für das Buch: Es dürfte kaum einen Buchladen der Provinz Ostpreußen geben, der heute nicht im Schaufenster eine Neuerscheinung zeigt […] Man findet das Buch an den Fenstern von Wirtschaften, auf allen Bahnhöfen, in den Papierhandlungen, soweit sie Bücher verkaufen, und in fast jedem Privathaus. Eine einzige Buchhandlung in Königsberg hat in sechs Wochen über sechstausend Exemplare dieses Buches abgesetzt.Vor diesen Buchläden stauen sich die Menschen. Besonders in den kleineren Ortschaften der Provinz konnte man vor den Plakaten lebhafte Diskussionen hören, an Markttagen, wenn die ländliche Bevölkerung zur Stadt kam: „Was ist denn eigentlich los? Haben die Polen Ostpreußen überfallen? Stimmt das mit dem Fliegerangriff auf Königsberg? Gibt die Reichswehr Ostpreußen auf? Werden die Truppen in Pillau eingeschifft?“ Die Provinzpresse sah sich genötigt, aufklärende Notizen und Berichtigungen zu bringen: Nein, Ostpreußen ist nicht überfallen. Die Mitteilungen auf den Plakaten sind keine amtlichen Telegramme, sondern nur Reklame des Verlags. Es handelt sich um einen Roman über Zukunftsmöglichkeiten. […] Augenblicklich kann kein Sandhaufen in Königsberg zur Wegeverbesserung angefahren werden, den nicht irgend welche weise Köpfe als Abwehrmaßnahme gegen Brandbomben deuten. Die Städtische Desinfektionsanstalt kann sich keine Gasmaske zur Ungeziefervertilgung kaufen, ohne daß es heißt: Aha, die machen Vorbereitungen für den nächsten Fliegerangriff mit Gasbomben. Und wenn auf ir-

Kriegsdarstellung und -deutung, hrsg. von Claudia Glunz, Artur Pełka und Thomas F. Schneider, Göttingen 2007, S. 217– 229.  Zitiert nach: Reichwehrminister, in: Die Weltbühne vom 23.02.1932, S. 308. Der Artikel ist dort nicht namentlich gekennzeichnet, eine Zuordnung zu Carl von Ossietzky ergibt sich aber aus dem Abdruck des Artikels in der Gesamtausgabe seiner Schriften. Vgl. Ossietzky, Carl von: Sämtliche Schriften 1931– 1933, Bd. 6, hrsg. von Gerhard Kraiker et al., Reinbek 1994, S. 1046.  Vgl. ebd.

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gendeinem Platz gebuddelt wird, um ein Kanalisationsrohr zu reparieren, entsteht gleich ein Gerücht: Da werden bombensichere Heldenkeller angelegt.⁶⁴

Hans Martin, der sich hinter dem anagrammatischen Pseudonym Hans Nitram verbergende Autor dieses Buches, der im Übrigen tatsächlich Reichswehroffizier war und später in die Abteilung Wehrmachtpropaganda des Oberkommandos der Wehrmacht berufen wurde,⁶⁵ hatte mit seinem Buch ganz offensichtlich einen wunden Punkt getroffen. Der Roman, der sich über weite Strecken an einer Ästhetik des Tatsachenberichts orientiert und insgesamt nur wenig belletristischen Charme entwickelt, beginnt mit einer erzählenden Eingangsszene, die bereits offenbart, auf welche Gesellschaftsdiagnose der Text zielt: Ein Gustav Schiemann fährt in Ostpreußen auf seinem Bauernwagen einem Trupp der Reichswehr entgegen. Da nur eine Seite der Straße geteert ist, besteht ein Interessenkonflikt, wer nun wem ausweichen müsse. Der Romantext schildert Gustav Schiemanns Überlegungen folgendermaßen: Reichswehr ist für Gustav kein ganz klarer Begriff. Bei dem Wort „Reichswehr“ hat er eine ganze Reihe Vorstellungen: Kriegerverein – eine Einquartierung, wonach die Emma Bartels ihm restlos absagte, – Finanzamt. Also ist „Reichswehr“ nicht gerade ein sehr erfreulicher Begriff für Gustav.⁶⁶

Er weicht dem Trupp Reichswehr daher nicht aus, sondern muss von den ihm entgegenkommenden Soldaten beiseite geführt werden. Schon auf der zweiten Seite enthüllt der Roman so seine Krisendiagnose: Nicht nur, dass der Zustand des deutschen Militärs wegen der Bestimmungen des Versailler Vertrages schwach ist, schlimmer noch, die Bevölkerung hat gar keinen „Begriff“ mehr von der Notwendigkeit einer wehrhaften Landesverteidigung. Und er enthüllt auch, woher  Hauser, Heinrich: Psychose durch ein Buch, in: Frankfurter Zeitung vom 19.05.1932. Vgl. Fisher, Peter S.: Fantasy and Politics. Visions of the future in the Weimarer Republic, Madison WI 1991, S. 8 f.; Hahnemann, Andy: Texturen des Globalen. Geopolitik und populäre Literatur in der Zwischenkriegszeit 1918 – 1939, Heidelberg 2009, S. 143 f. Sehr positiv rezensiert wurde der Roman in den Münchener Neuesten Nachrichten von Arnolt Bronnen. Vgl. Aspestsberger, Friedbert: ‚arnolt bronnen‘. Biographie, Wien u. a. 1995, S. 518.  Vgl. Fischer: Die deutsche Publizistik als Faktor der deutsch-polnischen Beziehungen (Anm. 61), S. 156 f.; Fisher: Fantasy and Politics (Anm. 64), S. 230; Olden, Rudolf: Die „bedrohte Provinz“, in: Die Weltbühne vom 14.06.1932, S. 881– 885, hier S. 882. Von 1940 – 1944 war Hans(‐Leo) Martin Verbindungsoffizier des Oberkommandos der Wehrmacht beim Reichspropagandaministerium. Vgl. dazu auch Martin, Hans-Leo: Unser Mann bei Goebbels. Verbindungsoffizier des Oberkommandos der Wehrmacht beim Reichspropagandaministerium 1940 – 1944, Neckargemünd 1973.  Nitram: Achtung! Ostmarkenrundfunk! (Anm. 61), S. 10.

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die mangelnde Einsicht des breite Teile der Bevölkerung verkörpernden Gustav Schiemann herrührt: Er hat „nicht gedient“.⁶⁷ Im Gegensatz zum Lehrer Krause, der „hat nämlich gedient“⁶⁸ und kann ihm daher entgegnen: „Deinen eigenen Soldaten weichst du nicht aus, daß dir man nicht eines Tages die Polacken das Ausweichen beibringen…!“⁶⁹ Und der Roman benennt im Folgenden auch die Konsequenzen einer sich ausschließlich auf das Zivile verlegenden Lebensführung: Gustav Schiemann muss durch eine polnische Kugel sterben.⁷⁰ Hans Nitrams Roman ist nicht nur wegen seines starken Eindrucks auf die ostpreußische Bevölkerung oder wegen der ihm unterstellten vorbildgebenden Funktion für den fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz von großem Interesse,⁷¹ sondern er benennt sehr deutlich den konkreten Erwartungshorizont großer Teile der Bevölkerung vor allem in dem Zeitraum ab 1930, der den nächsten Krieg schon sehr plastisch vor Augen hat. Das im Roman erzählte Schicksal Gustav Schiemanns zeigt außerdem sehr pointiert, dass der Erfahrungsraum des Ersten Weltkriegs als Erfahrungsvorsprung verstanden und zum politischen Führungsanspruch hypostasiert wurde.⁷² Die Sphäre des Politischen muss in dieser Logik dem Zivilisten verwehrt werden; das fehlende Erfahrungswissen des ‚Kriegserlebnisses‘ disqualifiziert ihn aber nicht nur, politische Führungsaufgaben wahrzunehmen, es ist angesichts der geopolitischen Lage seiner Zeit sogar lebensgefährlich. Dabei ist der Tod Gustav Schiemanns nicht nur die Konsequenz seiner zivilen Existenz, er ist zudem auch die ‚gerechte Strafe‘ für seine Missachtung des Militärs und insofern eine Form der literarischen Liquidierung der ‚Novemberverbrecher‘. Hans Nitram bietet in seinem Roman eine für den zeitgenössischen Rezipienten beängstigende, gleichzeitig aber ziemlich unphantastische Vision des Zu-

 Vgl. ebd., S. 9.  Ebd., S. 13.  Ebd.  Vgl. ebd., S. 14 und 48 ff. Selbstredend nicht, ohne dass ihm vorher klar geworden wäre, dass der Lehrer Krause recht hat.  Vgl. Joachimsthaler, Jürgen: Literatur als Fortsetzung des Kriegs, Krieg als Fortsetzung der Literatur mit anderen Mitteln. Zur Identitäts- und Grenzkampfliteratur nach dem Ersten Weltkrieg, in: Aufbruch und Krise. Das östliche Europa und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg, hrsg. von Beate Störtkuhl, Jens Stüben und Tobias Weger, München 2010, S. 127– 148, hier S. 139. Der Roman wurde 1938 vom Völkischen Beobachter in modifizierter Form unter dem Titel „Überfall auf Deutschland“ übernommen und auch im Rundfunk besprochen.Vgl. Scheel, Klaus: Krieg über Ätherwellen. NS-Rundfunk und Monopole 1933 – 1945, Berlin 1970, S. 115.  Das kann man auch als Wesensmerkmal der Freikorpsliteratur generell verstehen; zur Figur Albert Leo Schlageters siehe etwa Wichert, Lasse: Personale Mythen des Nationalsozialismus. Die Gestaltung des Einzelnen in literarischen Entwürfen, Paderborn 2018, S. 363 – 461, hier S. 455.

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kunftskriegs. Als politische Lehre ist aus diesem Text zu ziehen: Besser gerüstet sein, um sich einer polnischen Invasion erwehren zu können. Dazu bedarf es der Aufrüstung, vor allem aber der Stärkung des „Wehrgedankens“.⁷³ Menschen wie Gustav Schiemann darf es schlicht nicht geben. Demgegenüber gilt es aber zu beachten, dass eine nicht unerhebliche Anzahl derjenigen Zukunftsromane, die den kommenden Krieg und die Revision des Vertrages von Versailles zum Thema machen, eine andere und sehr einfache Lösung für das Problem der Schwäche des deutschen Militärs anbieten, nämlich die Erfindung einer Wunderwaffe durch einen deutschen Ingenieur.⁷⁴ Als paradigmatisch hierfür kann Ferdinand Solfs 1921 erschienener Roman 1934. Deutschlands Auferstehung ⁷⁵ gelten, in dem es mithilfe eines sogenannten „Strahlenapparates“ gelingt, die gegnerische Munition zur Explosion zu bringen.⁷⁶ Solche psychologisch erklärbaren Omnipotenzphantasien fanden eine ganze Reihe Nachahmer.⁷⁷ Zu verweisen wäre hier etwa auf Fritz Skowronneks nur ein Jahr später erschienenen Roman Dies irae. Ein ostpreußischer Zukunftsroman, in dem ein nur als der „Alte“ angesprochener Ingenieur es vermag, mittels eines „Zauberstabes“ die gegnerische Munition per „Fernzündung“ zur Explosion zu bringen.⁷⁸ Auch Eduard Dannerts Im Weltkrieg der Andern gehört in diese Kategorie.⁷⁹ Dieser Roman richtet sich nicht nur gegen die französische Besetzung des Rheinlandes und plädiert für die Restitution der Kolonien, sondern er offenbart schon im Titel, dass das Deutsche Reich sich aufgrund seiner Schwäche nicht gegen die Fremdbestimmung zu wehren vermag: Den Weltkrieg führen eben die Andern, in diesem Fall Frankreich und England. Ein ehemaliger deutscher Soldat

 Hauser: Psychose durch ein Buch (Anm. 64).  Für eine komparatistische Studie zu Todesstrahlen in den populären Medien siehe Fanning, William J. (Jr.): Death Rays and the Popular Media, 1876 – 1939. A study of directed energy weapons in fact, fiction and film, Jefferson NC 2015, insb. S. 149 – 183 (Death-Ray Novels and Short Stories of the Interwar Years).  Solf, Ferdinand E.: 1934. Deutschlands Auferstehung, Naumburg 1921.  Vgl. ebd., S. 28 ff. und 58. Vgl. dazu auch Hermand, Jost: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Weinheim 1995, S. 118; Stiasny, Philipp: Das Kino und der Krieg. Deutschland 1914– 1929, München 2009, S. 248; Hahnemann: Texturen des Globalen (Anm. 64), S. 154 f.  Ein solches (sozial‐)psychologisches Interpretament bietet Peter S. Fisher an, auch er sieht das sogenannte „Fronterlebnis“ als diejenige formative Erfahrung an, die die Lebenswelt der Generation der Kriegsteilnehmer und ihre Literatur prägte. Vgl. Fisher: Fantasy and Politics (Anm. 64), S. 21– 103.  Vgl. Skowronnek, Fritz: Dies irae. Ein ostpreußischer Zukunftsroman, Berlin 1922, S. 154 f.  Dannert, Eduard: Im Weltkrieg der Andern. Politischer Roman. Mit einer Übersichtskarte, Neudamm 1925.

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tritt auf Seiten der Engländer dem Kampf gegen Frankreich bei. Interessant ist, wie in diesem Roman, dessen Handlung hier nicht im Einzelnen dargelegt zu werden braucht, der Weltkrieg beigelegt wird: Plötzlich, nämlich auf Seite 145 von 147 Seiten, ist Deutschland „in der Lage […], mittels neuerfundener lenkbarer Geheimstrahlen auf jede beliebige Entfernung hin Munitionsbestände zur Explosion zu bringen“.⁸⁰ Diese Wunderwaffen, die meist gleichsam als Deus ex machina plötzlich in die Handlung eingeführt werden, sind vor dem Hintergrund des Erfahrungsraums des Weltkriegs erklärbar und das betrifft sowohl den Wunsch nach ihnen als auch den Glauben an die Möglichkeit ihrer Verwirklichung. Hatte der Krieg nicht bewiesen, welche bis dahin undenkbaren Waffen in kürzester Zeit erfunden, entwickelt und produziert werden konnten? Und ist vor dem Hintergrund der Materialschlacht und ihrer beispiellosen Verheerungen der Wunsch nach einer treffgenauen, quasi aseptischen Waffe, die vor allem einen selbst und die eigenen Kameraden schont, aber darüber hinaus auch eine ‚humane‘ Kriegsführung ermöglicht, nicht ein mehr als nachvollziehbares Anliegen? Wunderwaffen geben aber keine Antwort auf die Frage, wie denn nun die zukünftige Gesellschaft beschaffen sein müsse, die ihre innere Schwäche überwunden und wieder zu sich selbst gefunden hat. Mehr noch als das, sie verlagern die Frage nach der Lösung der realen Probleme, auf die diese Romane eigentlich antworten wollen, ins Spekulative, wenn nicht Wundersame und Phantastische. Insofern können diese Romane auch nur sehr bedingt als Artikulationsmedien der Weimarer radikalen Rechten begriffen werden, da politische Veränderungen allenfalls als Nebenfolge der militärtechnischen Innovation begriffen werden oder aber gar von einer Stasis des Gesellschaftlichen gesprochen werden muss.⁸¹ Es sind andere Vertreter des Subgenres des Zukunftskriegsromans, die sich dieses Umstandes bewusst sind und daher andere Lösungen anbieten. Einer dieser Romane trägt den Titel Bomben auf Hamburg! Vision oder Möglichkeit,

 Ebd., S. 145.  Auch in Ferdinand Solfs 1934 löst der Einsatz der Strahlenwaffe sowohl einen Volksaufstand als auch den Sturz der Regierung aus. Der wesentliche Unterschied zu dem im Folgenden beschriebenen Roman ist aber zum einen, dass dieser Aufstand erst durch die Strahlenwaffe ermöglicht wird, und zum anderen, dass er durch einen Geheimbund vorbereitet wird, der von einem General geleitet wird und dessen Mitglieder sich sicher sind, dass das schließlich befreite Volk auf eigenen Wunsch die Monarchie wird wieder haben wollen. Dass der Protagonist zudem noch ein adliger, ehemaliger Offizier ist, macht überdeutlich, dass es sich hier um ein Elitenprojekt handelt. Aber auch hier sind schließlich ‚alle Unterschiede verschwunden‘, wird also zumindest die Anmutung einer Volksgemeinschaftsideologie nahegelegt.Vgl. Solf: 1934 (Anm. 75), S. 75.

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wurde 1932 publiziert und stammt von Johann von Leers.⁸² Von Leers war ein umtriebiger Publizist, dessen Begabung früh von Joseph Goebbels entdeckt wurde und der daher nicht nur im Dritten Reich Karriere machen, sondern seine antisemitische Propaganda auch nach 1945 noch fortsetzen sollte, zuerst in Argentinien und später unter Gamel Abdel Nasser in Ägypten.⁸³ Bomben auf Hamburg! beginnt mit einer eingehenden Schilderung der „ewige[n] politische[n] Krise“⁸⁴ – die, wie schnell deutlich wird, zugleich auch eine wirtschaftliche und militärische ist – und deren Auswirkungen auf die Stadt Hamburg. Während der Hafen immer leerer wird und die Geschäfte immer schlechter gehen, drängt Frankreich auf die strikte Einhaltung der Reparationszahlungen, empfiehlt der deutschen Regierung, als Sparmaßnahme die Arbeitslosenunterstützung zu kürzen, und bietet an, „bis zu zwei Millionen jugendliche Arbeiter in ihren Kolonien gegen freie Verpflegung und Taschengeld zu beschäftigen.“⁸⁵ Dieses Ansinnen lehnt die deutsche Regierung ab, es wird aber vom „Haager Schiedsgerichtshof“ als völkerrechtsgemäßes Vorgehen gebilligt.⁸⁶ Daraufhin besetzen französische Kriegsschiffe in einer „im Rahmen einer Polizeiaktion des Völkerrechtes erfolgenden Sanktion[]“⁸⁷ Hamburg und andere norddeutsche Städte. Allerdings entschließen sich Truppen der Reichswehr und Teile der Bevölkerung, Widerstand gegen die Besatzer zu leisten. Ein befehlshabender General, der über den Einsatz der Reichwehrtruppen zu entscheiden hat, zweifelt angesichts der immensen französischen Übermacht: „Auch Langemark war heldisch, ein furchtbarer Verlust für unser Volk…“.⁸⁸ Ihm wird schmissig entgegnet: „Jedes Jahr und mit jedem Jahrgang wächst in Deutschland ein neues Geschlecht von Langemark heran, Herr General!“.⁸⁹ Damit wird einer der bedeutsamsten Schlachtenmythen des Ersten Weltkriegs aufgerufen, der weder den literarischen Figuren noch dem Leser erläutert werden muss. Es genügt die Nennung des Namens, um das Bild der in die Schlacht stürmenden und dabei das Deutschlandlied

 Leers, Johann von: Bomben auf Hamburg! Vision oder Möglichkeit, Leipzig 1932.  Vgl. Finkenberg, Martin: „Während meines ganzen Lebens habe ich die Juden erforscht, wie ein Bakteriologe einen gefährlichen Bazillus studiert“ – Johann von Leers (1902– 1965) als antisemitischer Propagandaexperte bis 1945, in: Bulletin des DHI Moskau, Bd. 2, 2008, S. 88 – 99; Wegner, Gregory Paul: ‚A Propagandist of Extermination‘. Johann von Leers and the anti-semitic formation of children in Nazi Germany, in: Paedagogica Historica Jg. 43 (3), 2007, S. 299 – 325.  Leers: Bomben auf Hamburg! (Anm. 82), S. 8.  Ebd., S. 25.  Vgl. ebd., S. 25 f.  Ebd., S. 44.  Ebd., S. 70.  Ebd.

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singenden jungen Regimenter abzurufen. Der Langemar(c)k-Mythos selbst kann als topologische Verdichtung der Weltkriegserfahrung verstanden werden.⁹⁰ Es kommt, wie schon der Titel des Buchs nahelegt, schließlich zum Luftbombenkrieg gegen Hamburg, der sich besonders wegen des Einsatzes von Gasund Brandbomben verheerend vor allem auch auf die Zivilbevölkerung auswirkt: „Hamburg brennt!“.⁹¹ Angesichts dieser aussichtslosen Lage glaubt der General, dass nur noch ein Wunder die Verteidiger werde retten können: Wieviel Wunder sind nicht dem entwaffneten deutschen Volk vorgespiegelt worden! Todesstrahlen sollten die feindlichen Flugzeuge herunterreißen, radioaktive Wellen die Munitionslager sprengen, unvorstellbar wirksame Gase die Angreifer vernichten. Eine ganze Literatur ist entstanden, die immer wieder schildert, wie durch die Erfindung eines deutschen Ingenieurs – immer muß es ein Deutscher sein, obwohl uns alle wissenschaftlichen Vorbereitungsmöglichkeiten genommen sind, die Unterhaltung von Laboratorien und Studienanstalten, an denen die anderen überreich sind, durch feindliche Spionage und schäbigen Verrat seit langem unmöglich gemacht sind! – der feindliche, überlegene Angriff abgeschlagen und Deutschland aus seiner Erniedrigung wieder zu strahlender Macht und Größe erhoben wird. Mit bitterem Lachen denkt der General: Alles Beruhigungsmittel, damit das wirkliche deutsche Wunder nicht geschieht – die Wehrhaftmachung der Nation, der Aufbau eines starken Heeres, einer starken Flotte, die unsere Meere sichert.⁹²

Doch das „Wunder der Deutschen“⁹³ geschieht. Angesichts des brennenden Hamburgs entschließen sich die norddeutschen Bauern, von denen einige bereits die „braune Uniform“⁹⁴ tragen, auf Hamburg zu marschieren. So entsteht ein „Volksheer[ ]“, dessen Angehörige nicht mehr durch Parteizugehörigkeiten getrennt werden, sondern nur noch „nichts als Deutsche“ sind⁹⁵ und die ein Lied singen, „das schon lange nicht mehr ein Lied einer Partei oder einer Gruppe ist, das sie alle kennen“, nämlich „Die Fahne hoch…“⁹⁶ (besser bekannt als Horst Wessel-Lied). Der Text resümiert: „Nicht mit Todesstrahlen oder elektrischen Wellen, sondern mit Menschen, mit lebenden, todesbereiten, ernsten deutschen

 Zum Langemarck-Mythos siehe auch Hüppauf: Schlachtenmythen und die Konstruktion des „Neuen Menschen“ (Anm. 15); Ketelsen, Uwe-K.: Literatur und Drittes Reich, Vierow 1994, S. 172– 198 (Kapitel 6: „Die Jugend von Langemarck“ – ein poetisches Motiv der Zwischenkriegszeit).  Leers: Bomben auf Hamburg! (Anm. 82), S. 81.  Ebd., S. 88 f.  Ebd., S. 91.  Ebd., S. 95.  Vgl. ebd., S. 100.  Vgl. ebd., S. 101.

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Menschen, die ihr Land und ihre Ehre schützen und halten wollen, ist das deutsche Wunder geschehen“.⁹⁷ Aufgrund des erbitterten Widerstandes kippt sowohl die französische öffentliche Meinung als auch die der Weltöffentlichkeit und die Franzosen ziehen ab. Das Volk versammelt sich schließlich am Bismarckdenkmal, wo der „Befehl des Führers“ verkündet wird, Deutschland wieder aufzurüsten.⁹⁸ Von Leers Roman führt paradigmatisch vor Augen, wie der kommende Krieg nicht als drohende Katastrophe und abzuwendendes Unheil entworfen wird, sondern vielmehr als die einzige Möglichkeit des Volkes, zu sich selbst zu finden.⁹⁹ Das Agens des Politischen ist das Volk, selbst der „Führer“ ist dem nachgeordnet. Die Handlungsmacht des Einzelnen kann nur zurückgewonnen werden durch die Erkenntnis der Zugehörigkeit zur homogenen „Volksgemeinschaft“. Nicht Wunderwaffen und Todesstrahlen sind daher der Schlüssel zur Überwindung der Krise, der ubiquitären Schwäche. Gefordert wird vielmehr eine Revolution des Bewusstseins. Eine solch eindeutige Festlegung, wie sie von Leers durch die Figur des Generals formuliert, ist so programmatisch wie idealtypisch. Häufiger finden sich in der Literatur Szenarien, die Deutschlands Konsolidierung anders als nur über eine Bewusstseinsrevolution des Volkes herbeiführen wollen. Dies führt etwa der österreichische Schriftsteller Karl Ludwig Kossak¹⁰⁰ in seinem Roman Katastrophe

 Ebd.  Ebd., S. 123.  An der Stelle kann Andy Hahnemann zugestimmt werden, der grundsätzlich zu den Zukunftskriegsromanen der Zwischenkriegszeit ausführt: „Ungeachtet der sich unterscheidenden Szenarien ist den Erzählungen vom nächsten Krieg gemeinsam, dass sie von einem ausgesprochenen Krisenbewusstsein, wenn nicht gar einer Krisensehnsucht, geprägt sind. Gerade in der Dramatisierung der geschichtlichen Situation und in der fiktionalen Bewältigung dieser Krise fanden diese Bücher eine Zukunft, in der das nationale Kollektiv sich siegreich vor und in der (Welt‐)Geschichte behauptet. Krieg als Chance, so die Suggestion der Texte“. Hahnemann: Texturen des Globalen (Anm. 64), S. 171. Ähnlich auch das Urteil von Dietmar Süß: „Am Ende so schien es, hatte der Luftkrieg und die gemeinsam überstandene Gefahr eine Art neuer Gemeinschaft geformt, die stärker und härter war als die demokratische Gesellschaft“. Süß, Dietmar: Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, München 2011, S. 44. Zu widersprechen ist an dieser Stelle aber auch Andy Hahnemann, der behauptet: „Das Motiv der Wunderwaffe ist zu diesem Zeitpunkt schlicht eine Conditio sine qua non, um Deutschlands Wiederaufrüstung zur militärischen Großmacht glaubhaft motivieren zu können“. (Hahnemann: Texturen des Globalen (Anm. 64), S. 155). Wie dargelegt, ist es zwar ein sehr häufiges Motiv, allerdings auch eines, das Gegenstand einer Kontroverse ist.  Vgl. Eintrag zu Kossak, Karl Ludwig, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950. Bd. 4, Wien 1969, S. 149.

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1940 ¹⁰¹ aus dem Jahre 1930 vor, legt damit allerdings auch in Nuancen andere politische Konsequenzen nahe, als es von Leers tut. Protagonist der Erzählung ist der 42-jährige Dr. Friedrich Wessel, der im weiteren Handlungsverlauf vom Staatssekretär im Auswärtigen Amt zum Außenminister und schließlich zum Reichskanzler und in diesem Amt zum Diktator avanciert.¹⁰² Dabei ist die Namenspoetik von Friedrich Wessel nicht nur durchschaubar, sondern auch vielsagend, war doch im Februar des Erscheinungsjahrs des Buchs der Berliner SAMann Horst Wessel seinen Verletzungen, die er sich bei einer Auseinandersetzung mit Kommunisten zugezogen hatte, erlegen und von den Nationalsozialisten zum Märtyrer stilisiert worden.¹⁰³ Ob Friedrich Wessel als Angehöriger des Jahrgangs 1898 selbst im Ersten Weltkrieg gekämpft hat, wird im Roman nicht thematisiert, wohl aber, dass „[s]ein Vater, in Flandern als Oberst zum Krüppel geschossen“, ihn dazu erzogen habe, Deutschland aus seiner Knechtschaft wieder zu neuer Größe zu führen.¹⁰⁴ Eine Teilhabe Friedrich Wessels am Erfahrungskonstrukt ‚Weltkriegserlebnis‘ ist also zumindest mittelbar gegeben. Katastrophe 1940 schildert ein Deutsches Reich, dessen krisenhafte Entwicklungen sich wegen der Bedingungen des Versailler Vertrages zusehends zuspitzen, während auch die geopolitische Lage immer brisanter wird und hier insbesondere eine Konfrontation zwischen Frankreich und dem (wieder) faschistischen Italien zu eskalieren droht. Als Deutschland seinen Reparationszahlungen gegenüber Frankreich nicht mehr nachkommen kann, besetzen die Franzosen das Rheinland und das mit Frankreich verbündete Polen Danzig. Wichtigster Verbündeter Deutschlands ist das entsowjetisierte Russland, das den Franzosen nicht nur ein Ultimatum setzt, Danzig zu räumen, sondern außerdem aufgrund eines bestehenden geheimen Sonderabkommens Deutschland dazu verpflichtet, ihm im Falle eines Konfliktes mit Polen und Frankreich beizustehen.¹⁰⁵ Friedrich Wessel setzt zur Wiedererlangung der deutschen Verteidigungsfähigkeit und außenpolitischen Emanzipation von den Siegermächten auf eine

 Vgl. Kossak-Raytenau, Karl L. (Pseudonym von Karl Ludwig Kossak): Katastrophe 1940, Oldenburg 1930.  Vgl. ebd., S. 5, 66, 273 und 320.  Zu Horst Wessel siehe etwa Siemens, Daniel: Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten, München 2009. Zum Wessel-Mythos siehe Wichert: Personale Mythen des Nationalsozialismus (Anm. 72), S. 462– 565. Da der Epilog des Romans auf den Sommer 1930 datiert ist, kann wohl auch ausgeschlossen werden, dass es sich bei der Namensgebung um einen Zufall handelt.  Vgl. Kossak-Raytenau: Katastrophe 1940 (Anm. 101), S. 6.  Vgl. ebd., S. 202 ff.

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multifaktorielle Strategie. Er bemüht sich als gewiefter Diplomat um eine Annäherung an potentielle Bündnispartner wie Italien, einige skandinavische Länder und allen voran Russland und setzt zugleich massiv auf die geheime Wiederaufrüstung der deutschen Armee mit tatkräftiger Unterstützung Russlands,¹⁰⁶ einschließlich der Entwicklung neuer Kampfgase.¹⁰⁷ Innenpolitisch baut er den Geheimbund „Deutsche Freiheit“ auf, der starke Reminiszenzen an die ‚Schwarze Reichswehr‘ weckt und trotz seines konspirativen Charakters drei Millionen Soldaten mobilisieren kann.¹⁰⁸ Außerdem bedient er sich der Mittel der Spionage.¹⁰⁹ Die Handlung des Romans ist schnell rekapituliert: Das vermeintlich demilitarisierte Deutsche Reich sieht sich von Polen und Frankreich in die Zange genommen, Frankreich besetzt schließlich nicht nur das Rheinland, sondern auch das Ruhrgebiet und diverse deutsche Städte. Polen will gegen Russland marschieren und Frankreich verlangt von der deutschen Regierung, Deutschland als Aufmarschgebiet nutzen zu können. So kommt es zum Krieg, den Deutschland schließlich aus zwei Gründen für sich entscheiden kann: Zum einen, weil Russland als geheime Waffenschmiede rechtzeitig die Ausrüstung für den Krieg gegen Polen liefern kann; zum anderen, weil Deutschland gegen Frankreich das neuartige und äußert wirkungsvolle Giftgas „Otto 20“ einsetzt, durch das die Gegner zunächst betäubt werden, aber auch wieder zum Leben erweckt werden können, sofern „Anti-Otto-20“ als Gegengift verabreicht wird.¹¹⁰ England kann und will Frankreich und Polen nicht beistehen, weil es in den indischen Kolonien gebunden ist, während die USA derweil mit einem Krieg mit Mexiko und Japan beschäftigt sind. Wie eng aber auch in diesem Roman, der mit überlegener Waffen- und Spionagetechnik ganz wesentlich auf Elemente zielt, die sich individueller Handlungsmacht entziehen, gleichzeitig Erfahrung und Erwartung, Vergangenheit und Zukunft zusammengezogen werden, zeigt sich in der Vorstellung eines von Wessels Konspiranten, dessen Villa dem Bund als Versteck dient: Engelbrecht Rainer ist ein Fünfziger. Vor 25 Jahren war er Leutnant. Vor Verdun hat ihm der deutsche Kronprinz den ‚Pour le mérite‘ umgehängt, und eine Woche später hat ihm eine Granate das linke Bein zerschlagen. An die Jahre nachher denkt er nicht gern. Bis dann wieder die Zeit kam, langsam kam, in der man hoffen konnte, in der es, wenn auch im Schneckentempo, aufwärts ging, wenngleich noch jeder Lump und gewisse Nachbarn mit dem Vaterlande Schindluder trieben. Er hatte nie an der Zukunft gezweifelt, und er war einer

    

Vgl. ebd., S. 59 – 64. Vgl. ebd., S. 172– 178. Vgl. ebd., S. 59 – 64 und 92– 96. Vgl. ebd., S. 72– 76. Vgl. ebd., S. 176.

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von jenen gewesen, die mit den Grund legten für den Bau, der aus dem Schutt, aus den Trümmern des Reiches entstehen sollte. Aber er hieß nicht Engelbrecht Rainer, er hieß Felix von Rosthorn, und Wessel war sein Vetter. Seinen Namen konnte man zweimal im Heeresbericht jener großen Zeit lesen. Mochte sein Bein vor Verdun liegen, der Kopf war sein, und der Wille darinnen und der Glaube an die Tat. An die Zukunft seines Volkes.Wie es der Bund lehrte und verlangte.¹¹¹

Gerade aus dem ‚Fronterlebnis‘, das sich mit dem Verlust des Beines in den Körper und mit dem höchsten preußischen Orden in das Ansehen eingeschrieben hat, entsteht hier Zukunftsgewissheit. Und das gilt nicht nur für Wessels Vetter, sondern für den gesamten Bund: [E]ine Heerschar von zwei Millionen Offizieren und Soldaten, die den großen Krieg ruhmbedeckt mitgekämpft haben und fast eine Millionen Jungmannschaft. Alle bereit, den Fahnen, die eines Tages vor ihnen aufgerollt werden sollen, zu folgen. Zu folgen für Deutschlands Ehre und Freiheit, für Deutschlands Existenz! Mächtig ist der Bund und unerschütterlich der Glaube, der jeden Kameraden beseelt: der Glaube an Deutschlands Zukunft!¹¹²

Schon die bei einem Treffen der Landesführer des Bundes „Deutsche Freiheit“ verwendeten emblematischen Gegenstände verweisen auf die Erfahrungsgrundierung jeglichen zukunftsgerichteten Handelns. Vor Wessel liegen „eine Bibel, ein blanker zerbrochener Degen, ein Stahlhelm und ein starker Quartband. – Ein Exemplar des Vertrages von Versailles“.¹¹³ Abgesehen von der Bibel, die das Handeln der Akteure als im Einklang mit der göttlichen Ordnung signifiziert, verweisen die übrigen drei Gegenstände auf den Weltkrieg: der Stahlhelm als das Symbol für die Fronterfahrung schlechthin (nicht zufällig hieß eine der wichtigsten Veteranenorganisationen der Weimarer Republik Der Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten); der zerbrochene Degen als Symbol der Niederlage und des Ehrverlusts; schließlich der Vertrag von Versailles als Symbol für die bestehende Krise und deren Verursacher. Die Beschreibung der in die Armee einrückenden „Mitglieder des Bundes ‚Deutsche Freiheit‘“ – sie sind „in graubraune Montur gekleidet, den Stahlhelm am Koppelschloß […] Alle tragen eine schwarz-weiß-rote Armbinde mit dem eisernen Kreuz im weißen Feld. Braune Soldaten heißen sie“¹¹⁴ – lässt eine Mischung aus Soldat und SA-Mann assoziieren. Evoziert wird so eine für den soldatischen Nationalismus typische Mischung aus Tradition und Moderne, was die    

Ebd., S. 59 f. Ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 92. Ebd., S. 290.

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Mitglieder des Bundes als Typus des aktivistischen Volksgenossen erscheinen lässt. Gleichzeitig ist das Ende des im Roman geschilderten Kriegs insofern ein Bruch mit dem Konzept eines handlungsmächtigen Volksgenossen, als weniger die Leistungen des Bundes „Deutsche Freiheit“ den Krieg entscheiden als vielmehr eine Kombination aus geopolitischer Lage mit einem durch die Spionage bedingten Informationsvorsprung und schließlich dem wundersamen Giftgas „Otto 20“. Im Fokus des gesamten Handlungsgeschehens steht mit Friedrich Wessel der Typus des „Führers“ und weniger das Volk als Agens des Politischen. Aber auch in Katastrophe 1940 erscheint der kommende Krieg nicht so sehr als die titelgebende Katastrophe, sondern vielmehr als Notwendigkeit um Deutschlands Wiederaufstieg zu ermöglichen. Dies auch, wenn im Epilog noch einmal betont wird, wie wichtig es sei, diese Katastrophe abzuwenden. Letztlich gilt die überzeitliche Wahrheit beanspruchende Philosophie: „Leben ist Kampf, Sieger der Starke, schön wohl der Wahn vom ewigen Frieden auf Erden!“.¹¹⁵ Auch Johannes R. Bechers 1926 erschienener und direkt danach verbotener Roman¹¹⁶ (CH CI = CH)₃As (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg stellt mit Peter Friedjung und Max Herse zwei Protagonisten vor, in denen Versatzstücke politischer Mythen des Ersten Weltkriegs zu Figuren verdichtet werden, nur dass hier die Vorzeichen gewissermaßen umgekehrt wurden. So wird Peter Friedjung mit den Worten eingeführt: Auch Peter Friedjung, damals knapp zweiundzwanzig Jahre alt, befand sich unter den Heimkehrern. Auch er stieß jetzt „Deutschland über alles“ hervor… Mit dem Gesang „Deutschland über alles“ hatte zu Beginn des Kriegs das Freiwilligenregiment List gestürmt, mit dem Gesang „Deutschland über alles“ auf den Lippen wurden die jungen Freiwilligen vom Trommelfeuer zu einem Leichenbrei zusammengestampft. Fünfmal während des Kriegs war Peter Friedjung für „Deutschland über alles“ verwundet worden. Und nun!?¹¹⁷

Der aufgerufene Langemarck-Mythos wird hier mit Adolf Hitlers Bericht aus dem 1925 erschienenen ersten Band von Mein Kampf über seinen ersten Fronteinsatz

 Ebd., S. 375.  Vgl.Vollmer, Jörg: Gift/Gas oder das Phantasma der reinigenden Gewalt. Johannes R. Becher: (CH CI = CH)₃As (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg (1926), in: Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg, hrsg. von Thomas F. Schneider und Hans Wagener, Amsterdam/New York NY 2003, S. 181– 193, hier S. 193. Siehe auch Schütz, Erhard: Wahn-Europa. Mediale Gas-Luftkrieg-Szenarien der Zwischenkriegszeit, in: Krieg in den Medien, hrsg.von HeinzPeter Preußer, Amsterdam/New York NY 2005, S. 127– 147.  Becher, Johannes R.: (CH CI = CH)₃As (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg [1926], in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10, hrsg. vom Johannes-R.-Becher-Archiv der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, Berlin/Weimar 1969, S. 16.

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verwoben. Auch bei Hitler sind es nämlich die Freiwilligen seines „Regiments List“, die mit dem Deutschlandlied auf den Lippen in den Kampf stürmen.¹¹⁸ Diese erste Erzählsequenz wird von Becher weiter hinten aufgegriffen und die dort reproduzierten Erfahrungskonstrukte mit einer marxistischen Analyse der Kriegsursachen kontrastiert: Bis zum Ruhrabenteuer war Peter deutschnational. Deutschnational bis auf die Knochen. Er glaubte an Deutschland, als ein auserwähltes Volk, er selbst hatte ja bereits gekämpft und gelitten für Deutschlands Herrlichkeit. Sollen die vier Jahre Krieg für die Katz gewesen sein… Sollte es wirklich wahr sein, daß… Daran konnte er nicht glauben. Das hing mit Sinn oder Sinnlosigkeit seiner eigenen Existenz zusammen. Daß Krieg das Produkt geschäftlicher Konflikte ist, das Kriegsziel nichts weiter, als dem Gegner diejenigen wirtschaftlichen Bedingungen aufzuzwingen, die man für sich als notwendig erachtet; daß das Wesentliche dabei, das Herzblut des Kriegs sozusagen: der Beutel, die Interessen der Kapitalisten sind; daß in Wirklichkeit aber alles kämpft für die Interessen eines Häufleins von Magnaten des Finanzkapitals, für ein Dreihundert-Männerkollegium; und daß auch das Instrument der Schiedsgerichte nur dazu dient, den Ausbruch ungewollter Kriege zu verhindern… Das alles mochte vielleicht für England, für Amerika, Frankreich stimmen, für unsere Gegner stimmen, aber für Deutschland!? War nicht für Deutschland Krieg: Schicksal, elementar wie eine Naturgewalt, Aufbruch der Jugend, Blutrausch!?… Gott hat den Krieg gewollt, und ich, Peter, habe ihn geführt… Als Kriegsfreiwilliger hatte er den Krieg mitgemacht. Als Kriegsfreiwilliger im Regiment List, mit „Deutschland, Deutschland über alles“ hatte er gestürmt, dieses Lied auf den Lippen waren bis auf ihn alle seine Kameraden gefallen… Und das sollte nicht das Wunderbarste, das Höchste, das Heldenhafteste in der Welt gewesen sein…? Die Fahne Schwarz-weiß-rot, die soll nicht die Fahne, die Fahne unseres Blutes, die Fahne der Ehre der gesamten Nation gewesen sein…? Die Fahne, die damals bei Tannenberg, bei Verdun… Deutschlands gesamte idealistische Jugend muß sich um sie scharen, damit sie nicht der rote Sturmgeier zerfetzt…¹¹⁹

Auch Max Herse, der zweite Protagonist des Romans, wird als Veteran der Zweiten Flandernschlacht, in der das deutsche Heer erstmals Giftgas einsetzte, mit einer quasi mythischen Aura umgeben: Max Herse war damals knapp neunzehn Jahre alt. Aber er hatte alles darangesetzt, als Kriegsfreiwilliger mitzukommen. Sein Schulkamerad Franke war sogar von jenseits des Ozeans zu den Waffen geeilt. Das waren Tage! Das Leben flaumleicht. Der Körper ging, wunderbar, wie mit Elektrizität geladen. Es war am 22. April 1915 in Flandern.

 Vgl. Hitler, Adolf: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band, ungekürzte Ausgabe, München 1936 (Bd. 1 zuerst 1925; Bd. 2 zuerst 1926), S. 180 f. Siehe dazu auch Vollmer: Gift/Gas (Anm. 116), S. 186 f.; Ketelsen: Literatur und Drittes Reich (Anm. 90), S. 179.  Vgl. Becher: Levisite (Anm. 117), S. 94 f.

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Frontabschnitt Bixschote-Langemarck. Gegen englische Stellungen. Windstärke drei bis vier Sekundenmeter. Witterung kalt und trocken. Zerfetzte Bäume am Horizont wie Drahtgespinste. Vereinzelte Vogelrufe durchschwirrten die Weltöde. Geheimnisvolles munkelte man. Von einem Überläufer war die Rede, der alles an die Engländer verraten hatte. Gerüchte. Gegengerüchte. Jedenfalls etwas Neues. Man ahnte nicht, was, wußte nicht, wie… Es war fünf Uhr nachmittgas. Auf der Brustwehr des vordersten englischen Grabens erschienen jetzt Tafeln mit der Aufschrift: „Ihr könnt lange warten, bis der richtige Wind weht!“ Hie und da knackt ein Schuß. Ein MG ratterte sich heiß am linken Flügel. Knäuel deutscher Stoßtrupps lagen weit hinten im Trichterfeld. Endlich: „Gas“. Das Gas kommt. Irgendwer hat es aufgeschnappt. Also: Nachts waren die dreihundert Gasbatterien vortransportiert und eingebaut worden. Eine Batterie bestand aus zwanzig Gaszylindern. Sechstausend Gaszylinder standen demnach zur Verfügung. Auf einen Kilometer Frontbreite rechnete man damals fünfzig Batterien. Tausend Flaschen. Zwanzigtausend Kilo Gas. Das alles wußte man plötzlich. Auch das: Um das Klirren des Metalls zu vermeiden, waren sämtliche Gaszylinder mit Decken und Stroh umwickelt.¹²⁰

In der Figur Max Herses wird in Bechers Roman der Langemarck-Mythos mit der Erfahrung des Gaskriegs kontrastiert, aus der sich nur schwerlich ein heroisches Narrativ ableiten lässt. Beide Protagonisten machen innerhalb der Romanhandlung eine innere Konversion durch: Während Peter Friedjung sich vom Deutschnationalen zum Kommunisten wandelt, entwickelt sich Max Herse vom Sozialdemokraten zum Kommunisten. Der Roman kann daher auch als Entwicklungsroman angesprochen werden, der zwei politische Bewusstseinswerdungen inszeniert. In einem Gespräch mit dem kommunistischen Genossen Lange auf einen Artikel der amerikanischen Genossen über den Gaskrieg angesprochen, formuliert Max Herse die Lehre, die er aus dem Weltkrieg gezogen hat: Wenn man bedenkt, wie wir 1914 ausgezogen sind: mit blanken Knöpfen an den Uniformen, mit der Pickelhaube auf, meist noch ohne Überzug, und wenn man sich jetzt klar macht, wie rapid schnell die Kriegstechnik während des Kriegs selbst sich entwickelt hat und daß man sich allen Anschein nach auch nach Kriegsschluß nicht auf die faule Bärenhaut gelegt hat, sondern weiter gearbeitet hat und weiterexperimentiert hat, so muß man meines Erachtens schon ein ganz phantasieloses und borniert verblendetes Rindvieh sein, um nicht einzusehen, daß ein kommender Krieg eine ganz höllische Sache sein wird, mit der verglichen der

 Ebd., S. 145 f.

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vorhergegangene Krieg sich noch wie eine harmlose Holzerei ausnehmen wird… Und daß wir Proleten dabei eine wesentlich andere Rolle spielen werden, die Regie hat uns gleichsam die Statistenrolle übertragen, nur haben diesmal eben die Statisten ganz und gar allein den Hauptdreck auszufressen…¹²¹

Die ‚blanken Knöpfe‘ und die nicht durch einen Überzug vor Reflektionen geschützten Pickelhauben markieren hier den Erwartungshorizont, mit dem junge Freiwillige wie Max Herse in den Krieg zogen. Sie verweisen noch auf eine Realität, in der man sich mittels des ‚Pickels‘ auf dem Helm vor Säbelhieben schützen wollte. Die Realität des Kriegs setzte dann allerdings andere Prioritäten, nicht Säbelhiebe bildeten hier die maßgebliche Bedrohung, sondern die das Sonnenlicht reflektierenden Pickelhauben und ‚blanken Knöpfe‘ verrieten dem Feind die Stellungen der Soldaten. Tarnung war daher das Gebot der Stunde. Max Herses Überlegungen machen aber auch deutlich, wie diese neuartige Erfahrung des Weltkriegs den Erwartungshorizont des nächsten Kriegs determiniert. Wenn man nämlich das Tempo der kriegstechnischen Entwicklungen im vergangenen Krieg auch für die Gegenwart und Zukunft zugrunde lege, so die Logik der Überlegungen Max Herses, dann könne man sich in etwa vorstellen, was einen im nächsten Krieg erwarte und das sei dann eine wieder gänzlich gewandelte Realität. Aus der Erfahrung des vergangenen Schocks ergibt sich die Erwartung eines kommenden Schocks und das bedeutet, dass sich die Schrecken des kommenden Kriegs exponentiell gegenüber denen des vergangenen Kriegs steigern würden. Eine solche qualitative Steigerung des Kriegsgräuels erwartete man sich sowohl in Bechers Roman als auch in der außerliterarischen Wirklichkeit von einer Enthegung des Luft- und Gaskriegs. Diese für den Luftkrieg unter dem Stichwort ‚Douhetismus‘ bekannt gewordenen strategischen Überlegungen über den Zukunftskrieg¹²² sahen letztlich die Entwicklung auf einen Raumkrieg zulaufen, der dann die Unterscheidung von Front und Heimat, Kombattant und Nichtkombattant, Soldat und Zivilist obsolet machen würde. „Der Krieg der Zukunft ist ein totaler Krieg“,¹²³ so ein Freiherr von Bülow im Vorwort zur 1935 erschienenen deutschen Ausgabe von Giulio Douhets zuerst 1921 publizierten Il dominio dell’aria, in der Douhet ausführt: „Alle Volksgenossen der kämpfenden Nation sind Kämpfer, da sie ausnahmslos den unmittelbaren Angriffen des Feindes ausgesetzt

 Ebd., S. 249.  Siehe dazu auch Schütz: Wahn-Europa (Anm. 116), insb. S. 129 – 134; Stiasny: Das Kino und der Krieg (Anm. 76), S. 256 f.  Douhet, Giulio: Luftherrschaft. Deutsch von Rittmeister a.D. Roland E. Strunk, Berlin 1935, S. 7.

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sind“.¹²⁴ Und auch Walter Benjamin war sich schon 1925 sicher, dass „[d]er kommende Krieg […] eine geisterhafte Front haben“ wird:¹²⁵ „Eine Front, die gespenstisch bald über diese, bald über jene Metropole, in ihre Straßen und vor jede ihrer Haustüren vorgerückt wird. Dazu wird dieser Krieg, der Gaskrieg aus den Lüften, in nie gekanntem Sinne dieses Wortes, ein wahrhaft ‚atemberaubender‘ Hasard sein“.¹²⁶ Dabei scheint Max Herse auch die schon zeitgenössisch gegen den ‚Douhetismus‘ ins Spiel gebrachten Einwände zu reflektieren, wenn er antizipiert, dass der Luft- und Gaskrieg vermutlich nur einen Aspekt des Zukunftskriegs darstellen wird: Max überlegte sich noch einmal den Artikel über den kommenden Krieg. Keine Übertreibungen, sagte er immer wieder zu sich selbst. Natürlich, es ist wahrscheinlich: zuerst geht es schon noch mit Tanks und mit Brisanz und mit Dreadnoughts los. Die Bombenflugzeuggeschwader mit Gasmunition: das ist sozusagen der Clou. Der neue Krieg wird kein hundertprozentig reiner chemischer Krieg sein, auch hier gibt es Übergänge, Variationen, Kombinationen wie überall,Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist tief miteinander verfilzt, das ist knorpelig ineinander verwachsen und löst sich nicht so abrupt voneinander los…¹²⁷

Dem im Roman abgedruckten fiktiven Artikel mit dem Titel „Die chemische Waffe im kommenden Krieg“¹²⁸ war eine Diskussion und Resolution der amerikanischen Genossen vorangegangen, in denen diese die Notwendigkeit der Aufklärung des internationalen Proletariats über die Gefahren des Gaskriegs und der Verknüpfung der chemischen Kriegsindustrie mit der zivilen betonten. Dabei beschreibt die Resolution gewissermaßen Bechers eigenes poetisches Programm: Es gilt den Fortschritt der Militärtechnik in allen Ländern mit größter Sorgfalt zu verfolgen, um einerseits durch die Schilderung des Konkreten dem Proletariat ein Bild des kommenden Kriegs in anschaulichster, lebenswirklichster Weise geben zu können und um andererseits durch die intensive Beschäftigung mit den Rüstungen in dieser Weise, durch ihr näheres Studium auf Grund der dabei gemachten Erfahrungen realere Anhaltspunkte für unseren Kampf gegen den Krieg zu gewinnen.¹²⁹

 Ebd., S. 16.  Benjamin, Walter: Die Waffen von morgen. Schlachten mit Chlorazetophenol, Diphenylaminchlorasin und Dichloräthylsulfid [1925], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4.1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, hrsg. von Tillman Rexroth, Frankfurt am Main 1972 (zuerst in: Vossische Zeitung vom 29. Juni 1925, Nr. 303, S. 1 f.), S. 473 – 476, hier S. 473.  Ebd.  Becher: Levisite (Anm. 117), S. 250.  Vgl. ebd., S. 217– 224.  Ebd., S. 206.

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Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Genosse Frank Morrow in der Debatte um die Resolution einen Hinweis zum Verfassen des Artikels gibt, der sich zugleich wie ein Kommentar zur zeitgenössischen Zukunftskriegsliteratur liest: Und dann: daß man mit allen Mitteln dem Unfug entgegentreten muß, den zukünftigen Krieg utopisch durch allerlei phantastischen Schnickschnack wie Todesstrahlen und mechanische Polizeimänner zu verzerren, dadurch wird nur erreicht, daß auch das bereits wirklich Vorhandene angezweifelt wird und unsere ganze Kampagne sich leerläuft. Die Bourgeoisie allerdings hat das größte Interesse daran, diesen Dingen gegenüber die Methode der Camouflage anzuwenden, d. h. Dinge, die sie nicht mehr verschweigen kann, durch Kombination mit blödsinnigem Ulk als harmlos und als unwirklich darzustellen.¹³⁰

Ganz ähnlich wie auf Seiten der Rechten, die den Glauben an Wunderwaffen als vollkommen kontraproduktiv für ihre Bewusstseinsrevolution erachtet und auf Aufrüstung und geistige Mobilmachung setzt, wird auf Seiten der Linken der ‚phantastische Schnickschnack‘ als Produkt des bourgeoisen Verblendungszusammenhangs gebrandmarkt, der lediglich das Augenmerk von der wirklichen Bedrohung, dem Luftgaskrieg, ablenken soll. Dabei wird dieser kommende Krieg auch in Bechers Roman nicht als abzuwendendes Unheil betrachtet, sondern folgt als imperialistischer Krieg vielmehr den kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten.¹³¹ Dementsprechend gilt es für die internationale Arbeiterklasse diesen Krieg zu einem Weltbürgerkrieg gegen die Kapitalisten zu wenden und damit zum titelgebenden ‚einzig gerechten Krieg‘.¹³² Auch die Protagonisten Max Herse und Peter Friedjung müssen als klassenbewusste Subjekte folglich für die Zukunft des Proletariats opferfreudig ihr Leben lassen, denn: „Das ‚An die Wand‘: das ist für den Revolutionär, wenn es schon sein muß, das aus seinem Herzblut mit Freuden gespritzte Blutsiegel unter die Botschaft: Einst kommen wird der Tag…“.¹³³

 Ebd., S. 209.  Vgl. ebd., S. 250 f.  Siehe dazu auch Vollmer: Gift/Gas (Anm. 116), S. 184 und 188.  Becher: Levisite (Anm. 117), S. 335 f. Dazu auch Vollmer: Gift/Gas (Anm. 116), S. 189. Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, dass Becher an dieser Stelle des Romans, an der er pathosgesättigt die stoische, siegesgewisse Ruhe des Revolutionärs rühmt, fortfährt: „Denn – ‚Wer Kampf gegen den Bolschewismus beginnt, der sinkt immer tiefer und tiefer. Er wird Verbündeter von Monarchisten, Werkzeug von Imperialisten, dann Spion und Bandit. Auf diesem Weg gibt es kein Zurück mehr‘. Mit diesem offenen Geständnis beschloß vor dem roten Revolutionstribunal einer der unerbittlichsten Gegner des Sowjetsystems seinen verruchten Kampf gegen die Arbeiterund Bauernrepublik: Sawinkow. Und so ist es. –“ (Becher: Levisite (Anm. 117), S. 336). Boris Sawinkow, militanter Sozialrevolutionär und Antibolschewist, war vor seinem inszenierten Selbstmord in der Moskauer Lubjanka vermutlich unter Folter ein Reuebekenntnis abgepresst worden. Das von Becher angeführte Zitat findet sich allerdings nicht in der 1924 publizierten Broschüre Der

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Handlungsmächtige Akteure gibt es in Bechers Roman dann auch nicht mehr, einzig die ‚Klasse für sich‘ bleibt als politisches Subjekt bestehen, vollzieht jedoch nur die Gesetzmäßigkeiten, die quasi naturnotwendig auf das Ende des Kapitalismus und die Diktatur des Proletariats zulaufen. Das Individuum verlischt gegenüber der Abstraktion des Begriffs: „Jeder von ihnen oder auch wiederum keiner von ihnen war ein Held. Der ‚Held‘ war ein Kollektivbegriff geworden. Der Held war das Proletariat“.¹³⁴ Und so „stolpert und schwankt“ Max Herse bereits deutlich von der Gasvergiftung gekennzeichnet am Ende des Romans durch den „Gassumpf“¹³⁵ und denkt: Man muß rücksichtslos Geiseln nehmen, sofort androhen lassen: lebenslängliche Anstellung an der Wand… als Repressalie gegenüber solch einer unmenschlich-barbarischen Kriegführung. Aber gut so: sie haben sich damit selbst ihr Grab gegraben… Wenn das auch die ungeheuersten Menschenverluste noch Kosten wird…¹³⁶

Schließlich wird er dann selbst an die Wand gestellt¹³⁷ und der Roman endet mit dem Hinweis, die „roten Entseuchungskommandos“ hätten einige Monate gebraucht, den Gassumpf in der Hauptstadt trockenzulegen,¹³⁸ also mit dem Sieg des Kommunismus. Eine Ähnlichkeit in Bezug auf das Bild des kommenden Kriegs besteht zwischen Bechers Roman und den weiter oben beschriebenen rechten Romanen vor allem hinsichtlich der Schicksalsnotwendigkeit, die der Wahrscheinlichkeit eines künftigen Kriegs zugesprochen wird.¹³⁹ Der Krieg ist hier aber nicht Chance oder Möglichkeit, sondern vielmehr eine unhintergehbare Tatsache, er muss kommen. Die Handlungsmacht des Einzelnen muss sich bei Becher vollkommen dem übergeordneten Klassenauftrag unterordnen. Der Held kann auf keinen Vorteil

Prozeß gegen Sawinkow, in der das vermeintliche Reuebekenntnis und seine Aussagen vor Gericht dokumentiert sind.Vgl. Der Prozeß gegen Sawinkow. Die Anklage,Verteidigung, das Urteil und die Begnadigung, mit Kommentar von Karl Radek nebst einem Vorwort von Syrkin, Berlin 1924.  Ebd., S. 402. Dazu auch Vollmer: Gift/Gas (Anm. 116), S. 189.  Vgl. ebd., S. 404.  Ebd., S. 404 f.  Vgl. ebd., S. 406 f.  Vgl. ebd., S. 408.  Zum Verhältnis Bechers zur nationalistischen Rechten siehe Diesener, Gerald / Kunicki, Wojciech: Johannes R. Becher und Ernst Jünger – eine glücklose Liaison?, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Jg. 42 (12), 1994, S. 1085 – 1097; Vollmer: Gift/Gas (Anm. 116), S. 185, dort auch in Anm. 12 weitere Literaturhinweise.

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oder Nutzen hoffen, außer den, auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden zu haben. In vielerlei Hinsicht konträr zu den bisher besprochenen Romanen steht Stanislaus Bialkowskis 1935 veröffentlichter Roman Krieg im All. Roman aus der Zukunft der Technik, der eine ferne Zukunft imaginiert, in der die technische Entwicklung weit fortgeschritten ist.¹⁴⁰ Das „Zeitalter der Übertechnik“¹⁴¹ kennt nur noch wenige beschauliche Orte, wie das verwunschene Jena, in dessen pittoreskem Setting sogar ein „altmodischer Rundfunkempfänger“ „übermodern“ wirkt.¹⁴² Programmatisch steht der Roman ganz im Zeichen eines weißen, arischen Suprematismus. Schon auf der ersten Seite des Romans wird der Protagonist Erik Holm bei seiner Rückkehr auf die Erde „mit einem herzlichen ‚Heil Terra‘“¹⁴³ begrüßt. Erik Holm hat als Soldat der „deutschen Mondartillerie“¹⁴⁴ einen fast zweijährigen Dienst auf dem Mond hinter sich und begibt sich zum Erholungsurlaub nach Jena, wo er die schöne Ingeborg Ferno kennenlernt. Ihre gemeinsame Zeit wird jedoch jäh unterbrochen, als Erik wegen Feinden im All zurück in den Einsatz beordert wird. Da der Mars durch einen drohenden Zusammenstoß mit seinen Monden und eine schwindende Atmosphäre bedroht ist, versuchen seine Bewohner die Erde zu erobern. Gleichzeitig entfachen die Völker Asiens und Afrikas einen Weltkrieg gegen die Europäer und Amerikaner. Wie sich später herausstellt, sind die Asiaten mit einer der marsitischen Rassen verbündet. Die gesamte verwickelte Handlung soll hier nicht vollständig rekapituliert werden. Für das hier angeschnittene Thema ist vor allem von Interesse, dass auch in diesem Roman, dessen Handlungsgeschehen mehrere Jahrhunderte in die Zukunft verlegt ist, die Erfahrung des Weltkriegs (und weiterer folgender Weltkriege) den Plot zu grundieren scheint. So heißt es zwar an einer Stelle die Exzeptionalität eines extraterrestrischen Feindes betonend: „Krieg im All! Krieg mit dem Mars! Was bedeuteten diesem Verhängnis gegenüber alle bisherigen Erlebnisse der Menschheit?“.¹⁴⁵ Allerdings wird schon auf der nächsten Seite der deutsche Frontkämpfermythos aufgerufen, um Erik Holms Entschlossenheit zu illustrieren, womit zugleich die existentielle Differenz zwischen diesem Krieg und dem Weltkrieg suspendiert wird: „Nur heraus aus diesem Schweigen! Hinein in den Feind, wie einst die deutschen Kämpfer in den furchtbaren Materialschlachten Euro-

 Zu Bialkowskis Krieg im All siehe auch Hahnemann: Texturen des Globalen (Anm. 64), S. 177 ff.  Bialkowski, Stanislaus: Krieg im All. Roman aus der Zukunft der Technik, Leipzig 1935, S. 9.  Vgl. ebd., S. 8 f.  Ebd., S. 5.  Ebd., S. 7.  Ebd., S. 46.

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pas!“.¹⁴⁶ Auch das ostentativ zur Schau getragene Überlegenheitsgefühl gegenüber der einstigen französischen Siegermacht scheint seinen Ursprung in weiter oben schon angesprochenen Omnipotenzphantasien der deutschen revisionistischen Rechten der Zwischenkriegszeit zu haben: „Frankreich hatte sich nur notgedrungen mit seinem großen unbesiegbaren Gegner [Deutschland] an einen Tisch gesetzt“.¹⁴⁷ Als Lehre aus den vergangenen Kriegen und insbesondere aus den Kriegen der europäischen Länder untereinander hat sich eine Art weißer Weltbund unter deutscher Führung etabliert, der allen anderen Völkern der Erde vollkommen überlegen ist. Zwar verfügt Asien „über ein riesiges, schier unerschöpfliches Menschenmaterial“,¹⁴⁸ aber die technische Überlegenheit der explizit als ‚weiße Rasse‘ entworfenen Europäer braucht diese Bedrohung nicht zu fürchten, wie nicht erst deutlich wird, als diese mittels eines die Sonnenstrahlen bündelnden Natriumspiegels in wenigen Stunden Nanking, Schanghai, Tokio und Wladiwostok vollkommen auslöschen.¹⁴⁹ Diese phantastische Distanz- und Massenvernichtungswaffe wird hier implizit in einen Zusammenhang mit dem ‚Fronterlebnis‘ gestellt, wenn betont wird: Es war dem Vernichtungswerk Europas förderlich, daß die Menschen in der Höhe das ausbrechende Höllenwerk nicht in seiner ganzen Grausamkeit übersehen konnten. Die ruhige Hand des Richtoffiziers, das kühle Auge des Beobachters hätte vor diesem Jammer den Dienst versagen müssen.¹⁵⁰

So zitiert der Roman doch die Schockerfahrung, die die Verheerungen im Weltkrieg auslösten. Dabei sollten die hier geäußerten Skrupel keinesfalls als Überempfindlichkeit missinterpretiert werden, die beschriebenen Handlungen sind vermutlich nur schwerlich mit dem humanitären Völkerrecht vereinbar und wohl eher als Kriegsverbrechen zu werten. Denn grundiert ist die exterminatorische Gewalt durch eine rassistische Ideologie, die ihre Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus deutlich betont. Im Zusammenhang mit einem Besuch Erik Holms bei dem chinesischen Präsidenten Liangfu heißt es etwa: „In dieser Umgebung also konnte sich Holm mit gutem Recht als ein Herrenmensch fühlen, als Mitglied einer in Wahrheit bevorzugten Rasse“.¹⁵¹

     

Ebd., S. 47. Ebd., S. 107. Vgl. ebd., S. 166. Vgl. ebd., S. 176 f. Ebd., S. 176. Ebd., S. 163.

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Der ‚Herrenmensch‘ reagiert im Gespräch mit jenem Liangfu auf dessen unverschämte Forderung, als Gegenleistung für die „Unterstellung der gesamten asiatischen Streitkräfte unter die Kontrolle der Europäischen Union, […] für die Dauer des Kriegszustandes im All“¹⁵² Zugang zu den europäischen Universitäten für die nicht-europäischen Studenten zu erhalten, mit dem Hinweis auf einen weiteren Weltkrieg: „Europa aber vergißt die Schrecken des Weltkriegs vor 100 Jahren nicht“.¹⁵³ Würden die Europäer den Asiaten Zugang zu ihren Ausbildungsstätten gewähren, wäre die weiße Vorherrschaft bedroht, so Erik Holm.¹⁵⁴ Dabei ergibt sich aus der Bedrohung durch Außerirdische in der Logik des Romans auch die Möglichkeit eines Weltfriedens, wie bezeichnenderweise an einer Stelle gemutmaßt wird, an der die „Vorherrschaft der Arier“ historisch aus dem Zusammenschluss der Europäer gegen eine mongolischen Bedrohung hergeleitet wird: Kriege zwischen den arischen Völkern gab es nicht mehr. Ein Zusammenschluß der europäischen Staaten war erfolgt, als sich die Mongolenhorden über die russischen Grenzen wälzten und damit die schon jahrhundertelang herrschende blutige Uneinigkeit der Kulturstaaten beendeten. Unter der Devise „Völker Europas! Wahrt eure heiligsten Güter“ erfolgte unter der Initiative des Großdeutschen Reichspräsidenten die Vereinigung der abendländischen Reiche. Die rapide Entwicklung der Luftfahrt tat ein übriges, die unmöglichen Zollmauern niederzureißen. Und Europa befand sich wohl dabei, die Eigenart der Völker wurde gewahrt, der Angriff der Asiaten in mehreren kurzen, aber sehr blutigen Kriegen abgewehrt. Die Wirtschaft blühte auf, die Vorherrschaft der Arier war für Jahrtausende gesichert. Frieden herrschte auf Erden. Und einst mußte die Zeit kommen, wo auch die farbigen Völker zur Ruhe kamen: daß alle blutigen Auseinandersetzungen ruhten. Vielleicht stand die Menschheit gerade jetzt vor der Erfüllung des uralten Traumes von einem goldenen Zeitalter, vielleicht stand gerade jetzt der letzte Kampf bevor, der letzte Heilige Krieg! –.¹⁵⁵

Die Devise „Völker Europas! Wahrt eure heiligsten Güter“ zitiert das gleichnamige Gemälde Hermann Knackfuß’, das Wilhelm II. als Geschenk für den russischen Zaren Nikolaus II. anfertigen ließ und welches als Allegorie vor einer ‚gelben Gefahr‘, also einer Bedrohung durch die asiatischen Völker, warnen sollte. Die ‚gelbe Gefahr‘ ist sicherlich einer der häufigsten geopolitischen Topoi der Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit,¹⁵⁶ war aber zum Veröffentlichungszeit-

 Ebd., S. 165.  Ebd., S. 167.  Vgl. ebd., S. 166 f.  Ebd., S. 154 f.  Zur ‚gelben Gefahr‘ siehe Gollwitzer, Heinz: Die Gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlagworts. Studien zum imperialistischen Denken, Göttingen 1962; Hahnemann: Texturen des Globalen (Anm. 64).

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Abb. 1: Hermann Knackfuß: Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter – Federlithographie (1895) Quelle: Wikimedia Commons. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Voelker_Euro pas.jpg (Zugriff: 07. 02. 2019).

punkt des Romans vermutlich auch schon etwas erschöpft. Jedenfalls hatte schon 1906 Ernst Graf von Reventlow in seinem Vademecum für Phantasiestrategen ironisch angemerkt, „die gelbe Gefahr des Professor Knackfuß können wir nur nebenbei gebrauchen“.¹⁵⁷ Dass ein friedliches Zeitalter tatsächlich gar keine erstrebenswerte Option für die vorgestellten Akteure ist, wird an anderen Stellen des Romans verschiedentlich erläutert. Es ist weder vor dem Hintergrund von Erik Holms HerrenmenschenHybris noch vor dem Hintergrund der im Roman vertretenen Geschichtsphilosophie ernsthaft erwägenswert. So erklärt Erik Holm dem Marsiten Roka: „Roka, der Kampf ums Dasein herrscht überall. Nicht immer ist er dort am verheerendsten, wo er mit scharfen Waffen geführt wird. Ruht unter den Völkern einer Welt das Schwert, dann kommt der Krieg aus dem All zu ihnen. […]“ […] „Doch nur der Kampf fördert die Aufwärtsentwicklung, Roka. Hört er auf, so geht es bergab. Ihr seid eine sterbende Welt. Vielleicht meint es das Schicksal gut mit den Menschen des Mars, daß es sie noch einmal in eine andere Welt führt, wo die Not des Lebens die Säfte erfrischt und neue Kräfte anregt, neue Impulse zum Aufstieg schafft und dem [sic!] drohenden Untergang verhindert. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, war Melas Wirken gut, nicht nur für Euch, weil er euch wieder den Kampf lehrte, sondern auch für uns Erdenmenschen, die wir jetzt die Aufgabe erhalten, in gemeinsamer Arbeit mit den Bewohnern einer anderen Welt, ein Werk des Friedens zu tun“.¹⁵⁸

 Reventlow, Ernst Graf von: Vademecum für Phantasiestrategen, Kattowitz/Leipzig 1906, S. 21. Siehe auch Hahnemann: Texturen des Globalen (Anm. 64), S. 162.  Bialkowski: Krieg im All (Anm. 141), S. 308 f.

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Und so muss wohl auch eine marsitische Sage verstanden werden, die die Marsitin Fea dem Erdenmenschen Mela erzählt: Einstmals sei der Mond eine Kolonie der Marsiten gewesen, auf dem Atam und Ewa lebten. Da die beiden aber gegen die Gesetze des Königs von Luna verstoßen hätten, hätten sie den Mond verlassen müssen und seien zur Erde gegangen: „Damals war die Erde ein Stern, der von furchtbaren Ungeheuern bewohnt wurde, die Luna aber war ein Paradies der Sonne. Ihr weißen Erdenmenschen seid Nachkommen der Lunawesen Atam und Ewa.“ […] „Doch nicht alle Erdenmenschen stammen von Atam und Ewa ab“ […] „die niederen Rassen entwickelten sich aus den Tierwesen, die der Planet selbst hervorgebracht hatte. Sie sind euch Kulturträgern gegeben, damit ihr im Kampfe mit ihnen auf der Leiter der Entwicklung höher steigt. Einst war es auch bei uns so, doch nun beherrschen die Edelvölker allein den Planeten. Ihre Kräfte nehmen ab. – Wir sind dem Tode geweiht!“.¹⁵⁹

Das ist ganz offensichtlich eine astrobiologisch interplanetare Variante der sozialdarwinistisch gewendeten Evolutionstheorie, vor deren Hintergrund hier ein ursprungsmythischer Bericht entworfen wird. Es ist demnach der geschichtliche Auftrag der nicht-weißen Rassen, Opfer der Herrenmenschenrasse zu werden, damit diese sich weiterentwickeln kann. So nimmt es aber auch nicht Wunder, dass die Begegnung des Erdlings Mela und der Marsitin Fea auf dem Jupitermond Europa mit einer Art Urmenschen für Letztere fatal endet: Da kam dem Manne die Ruhe und Besonnenheit zurück. Kaltblütig öffnete er die Schießscharte und richtete den Lauf des kleinen Maschinengewehrs auf die zusammendrängende Horde. Knatternd fegte er Strich vor Strich die Geschosse in den Menschenknäuel und hörte nicht eher auf, bis ein zuckender Haufen sterbender Mondmenschen am Boden lag. […] Die Verwundeten blickten ihn aus angstvoll aufgerissenen Augen an. Er griff zur Pistole und schoß erbarmungslos einen nach dem anderen durch den Kopf. Er ahnte nicht, daß er damit die letzten Menschen auf diesem Kontinent des Mondes Europa tötete, […].¹⁶⁰

Die Beiläufigkeit und zugleich Kaltblütigkeit, mit der der Bedrohung durch ‚Eingeborene‘ begegnet wird, scheint ihre Vorbilder doch deutlich in der Massengewalt am Beginn des 20. Jahrhunderts, etwa in den kolonialen Genoziden, zu haben. Bialkowski stellt mit Erik Holm einen Protagonisten vor, der trotz seiner Eingebundenheit in eine militärische Hierarchie weitgehend autonom agiert. Als handlungsmächtig kann er insofern charakterisiert werden, als er seinen Auftrag zugleich als Teil seiner individuellen Selbstverwirklichung zu betrachten scheint. Zwar sehnt er sich fern im All nach seiner schönen Ingeborg im idyllischen Jena,  Ebd., S. 330.  Ebd., S. 354 f.

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doch ist das kriegerische Entsagungsgebot Teil seines soldatischen Selbstkonzepts. Der Raum des Politischen ist im Roman jedoch weitestgehend zugunsten einer überzeitlichen Handlungslogik suspendiert. Eine ins Mythische gewendete Rassetheorie bestimmt letztlich den Fortgang der Geschichte. Der entworfene Erwartungshorizont bleibt insofern an den Erfahrungsraum des Weltkriegs rückgebunden, als auch hier auf den Ersten Weltkrieg folgende Weltkriege vollkommen selbstverständlich die dem Handlungsgeschehen vorausgehende Entwicklung prägen. Erst die äußere Bedrohung durch die Mongolen, mit denen die ‚gelbe Gefahr‘ zitiert wird, vermag Einigkeit unter den europäischen Völkern zu schaffen. Trotz der augenscheinlichen Nähe des im Roman vertretenen politischen Programms zur Ideologie des Nationalsozialismus wurden Bialkowskis Romane im „Dritten Reich“ nicht goutiert.¹⁶¹

5 Resümee und Ausblick Aus Gründen der gebotenen Kürze konnte voranstehend nur ein kleiner Ausschnitt der umfangreichen Zukunftskriegsliteratur der Zwischenkriegszeit vorgestellt werden. Dies scheint zwar insoweit entschuldbar, als dadurch dem Leser eine Menge Redundanzen erspart bleiben, insofern es sich bei den meisten Szenarien schließlich um Themen in Variationen handelt; gleichzeitig benimmt es aber die Chance, nicht nur die partiellen Extravaganzen, sondern auch einige Nuancen der politischen Akzentsetzung ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken. Keineswegs sollte hier der Eindruck erweckt werden, das Genre des Zukunftskriegsromans sei in Gänze (proto‐)faschistisch orientiert. Dennoch muss festgestellt werden, dass die so angesprochene Literatur hier durchaus einen bedeutenden und unübersehbaren Anteil hat. Allen vorgestellten Romanen kann man eine überdeutliche politische Tendenz bescheinigen, sei es nun eine rechte oder eine linke. Ein unpolitischer, neutraler Zukunftskriegsroman scheint dem Wesen dieses Genres zu widersprechen und ist auch vor dem Hintergrund der politischen Gemengelage der Zwischenkriegszeit schwer vorstellbar. Es gibt aber durchaus Zukunftskriegsromane, die sich einer eindeutigen Zuordnung zu einer politischen Programmatik entzie-

 Vgl. Härtel, Christian: „Grenzen über uns“. Populärwissenschaftliche Mobilisierung, Eskapismus und Synthesephantasien in Zukunftsromanen des ‚Dritten Reiches‘, in: Banalität mit Stil. Zur Widersprüchlichkeit der Literaturproduktion im Nationalsozialismus, hrsg. von Walter Delabar, Horst Denkler und Erhard Schütz, Bern u. a. 1999, S. 241– 257, hier S. 243 f.; Brandt: Der deutsche Zukunftsroman (Anm. 22), S. 289 – 302; Hahnemann: Texturen des Globalen (Anm. 64), S. 179.

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hen. Als solchen kann man etwa A. Steiningers Weltbrand 1950 (1932) ansprechen.¹⁶² Dies nicht, weil hier kein politisches Setting entworfen würde. Es wimmelt im Roman von Kommunisten und der Weltkrieg stellt sich als eine Konfrontation zwischen der kommunistischen und der kapitalistischen Welt dar. Aber der Roman lässt sich auf keine politische Tendenz festlegen. Der Roman endet schließlich wegen des extensiven Einsatzes von „B-Gasflammenwerfern“ in einer Katastrophe kataklysmischen oder gar apokalyptischen Ausmaßes: Die Erdatmosphäre wird derart mit Sauerstoff übersättigt, dass sie sich entzündet, und nur eine kleine Schar Menschen kann – über der Erde schwebend – das Inferno überleben. Daraus wird aber keine weitergehende Schlussfolgerung abgeleitet. Hier ist tatsächlich tabula rasa, und das Protagonistenpärchen kann ein neues Menschengeschlecht gründen. Warum, unter welchen Prämissen und zu welchem Ende bleibt vollkommen im Dunkeln. Im Vorangehenden sollte aufgezeigt werden, wie der ‚Erfahrungsraum‘ des Ersten Weltkriegs den ‚Erwartungshorizont‘ eines kommenden Kriegs determinierte und wie über das Erfahrungskonstrukt des ‚Kriegserlebnisses‘ die Handlungsmacht der Protagonisten entworfen wurde. Dabei können trotz aller Unterschiede in den entworfenen Zukunftsszenarien vor allem zwei Aspekte hervorgehoben werden: zum einen, dass die Romane als eine Art Repetitorium des ‚Kriegserlebnisses‘ fungieren – Ausgangspunkt des nächsten Kriegs ist der letzte; zum anderen, dass es handlungsmächtige Subjekte in der Regel nur als Teil eines übergeordneten Kollektivs, dem Volk oder der Klasse, gibt. Abschließend soll noch ein Text kurz angesprochen werden, der verdeutlicht, dass es zumindest auch einige deutsche Männer gab, die Wichtigeres kannten als ihre Erlebnisse aus dem vergangenen Krieg, nämlich ihre Libido. Schon 1919 hatte der unter dem Pseudonym Credo publizierende Arzt und Autor Carl Credé-Hoerder – (Sozial‐)Demokrat, Pazifist und Aktivist für die Legalisierung von Abtreibungen¹⁶³ – mit Weltzentrale 3115 sein Tagebuch eines Tausendjährigen veröffentlicht.¹⁶⁴ Der Protagonist und Erzähler notiert unter dem Datum vom 20.11.1918 in sein Tagebuch: Wie ist die Zeit vergangen! Was haben wir erlebt! Zusammenbruch! Alles Schall und Rauch! Nichts ist mehr geblieben von den früheren Idealen! Eigentlich alles hat uns enttäuscht! Ich

 Steininger, A.: Weltbrand 1950. Ein utopischer Roman, Berlin 1932.  Vgl. Holz, Jürgen: Vom Corpsstudenten zum Sozialisten. Carl Credés autobiographisches Zeitporträt, in: Einst und Jetzt. Jahrbuch des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung e. V., Bd. 45, 2000, S. 147– 159.  Vgl. Credo (Pseudonym von Carl Credé-Hoerder): Weltzentrale 3115. Tagebuch eines Tausendjährigen, Charlottenburg 1919.

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habe direkt einen ekelhaften Geschmack im Munde, wenn ich die Zeitungen lese! Mußte das alles so kommen? Und dafür vier Jahre des schönsten Lebensalters geopfert?! Pfui Deibel!¹⁶⁵

Überdrüssig der politischen Situation vertreibt sich der Tagebuchschreiber zunächst mit Opium und Haschisch seine trüben Gedanken. Doch als er bemerkt, dass sein indischer Freund die Fähigkeit besitzt, Menschen in einen Hypnoseschlaf zu versetzen, bittet er ihn, dass er ihn in einen „jahrelangen Schlaf“ versetzt.¹⁶⁶ Als er wieder erwacht, sind über 1.000 Jahre vergangen und die Welt hat kaum noch Ähnlichkeit mit der Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das entworfene Setting ist vielmehr eine weit in die Zukunft katapultierte Antike. Auf allen Gebieten hat die Menschheit unglaubliche Fortschritte gemacht. Einem Mediziner, der ihn untersucht und Unregelmäßigkeiten an seinem Herzen feststellt, erklärt der Tausendjährige: „[D]as Herz eines deutschen Mannes, der den Weltkrieg miterlebte, müßte schon aus Stahl und Eisen gewesen sein, um nicht einen höllisch schweren Sprung zu bekommen“.¹⁶⁷ Jedoch ist nicht das ‚Kriegserlebnis‘ nach Meinung des Arztes ursächlich für seine Herzschwäche, sondern die Enttäuschungen durch seine Ehefrau und seine Geliebte, daher müsse er sich in Zukunft vor allen erotischen Abenteuern hüten. Das fällt dem Protagonisten umso schwerer, als ihm ausgerechnet die liebreizende Hera als Gefährtin zur Seite gestellt ist. Von ihr möchte er auch erfahren, was sich in der Zeit zwischen 1919 und 3115 zugetragen hat. Er fordert sie auf, zu erzählen: „Beginne mit dem Friedensschluß nach dem Weltkriege.“ „Welchen Friedensschluß meinst du, den von Brest-Litowsk, den von Versailles, den von Washington oder den von Berlin?“ „War denn der Friede von Versailles nicht für alle Zeiten geschlossen? Es sollte doch ein Weltvölkerbund daraus entstehen!“ Da brach sie in ein helles Lachen aus. „Das habt ihr euch wirklich eingeredet? Ihr wart so töricht, dies auch nur eine Minute zu glauben? Nein, ganz im Gegenteil! Während du ruhig im Schoße des Gebirges geschlafen hast, tobte über dir auf den Gefilden der Erde der Kampf weiter. Einzelheiten mußt du mir ersparen, nur in großen Zügen will ich berichten. Nach zwanzig Jahren war alle Freiheit erstickt. Einige Gewaltige beherrschten die Menschheit mit Gewalt und Söldnerheeren. Der Friede zu Washington gab alle Gewalt in die Hände weniger Angelsachsen. Doch gerade von dem niedergetretenen deutschen Volke sollte die Befreiung kommen. Deutsche Gelehrte fanden insgeheim ganz neuartige Kampfmittel, und ungefähr fünfzig Jahre nach dem Frieden von Versailles gelang es ihnen, die Welt vom Joch des angelsächsischen Großkapitalismus zu befreien und den wirklichen Völkerfrieden herzustellen. Dies war der Beginn des

 Ebd., S. 6.  Vgl. ebd., S. 2.  Ebd., S. 45 f.

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goldenen Zeitalters, des Weltfriedens. Willst du auch die Entwicklung der inneren Politik kennenlernen?“ Ich wehrte stürmisch ab. „Um Gottes willen! Ich wollte ja gerade schlafen, um das widerwärtige Parteiengezänke nicht mitmachen zu müssen.“ „Dann will ich von den äußeren Geschehnissen weiterberichten“, sagte sie. „Nachdem der Völkerbund erst einmal geschlossen war, ungefähr achtzig Jahre nach dem Weltkriege, kam es rasch zu einer vollständigen Einigung, zu einem Aufgehen der einzelnen Staaten in einem Weltstaate. […]“.¹⁶⁸

Der Tausendjährige und seine Hera verlieben sich ineinander, was aber nicht nur wegen der Herzschwäche ein Problem ist, sondern auch, weil Hera, den eugenischen Geboten der Zukunftsgesellschaft folgend, nicht vollkommen selbstständig ihren Partner aussuchen darf. Schließlich geben sie sich doch einander hin und der Protagonist stirbt dabei „in höchster Verzückung“.¹⁶⁹ Hera begeht allerdings wegen ihrer Regelübertretung Selbstmord. Mit dem letzten Tagebucheintrag enthüllt sich dann, dass das alles nur ein sowohl erotischer wie auch politischer ‚feuchter Traum‘ des Protagonisten war, tatsächlich hat er nicht tausend Jahre, sondern nur vierzehn Tage geschlafen.

Anhang: Zukunftskriegsromane der Zwischenkriegszeit Abel-Musgrave [Pseudonym von Kurt Abel]: Der Bacillenkrieg. Eine Mahnung an alle!, Frankfurt am Main 1922. Alexander, Axel [Pseudonym von Alexander Thomas]: Die Schlacht über Berlin, Berlin 1933. Alter, Junius [Pseudonym von Franz Sontag]: Nie wieder Krieg?! Ein Blick in Deutschlands Zukunft, Leipzig 1931. Anonym: [Pseudonym von Martin Bochow]: Krieg dem Hunger!, Berlin 1932. Bartz, Karl: Krieg 1960, Berlin 1931. Becher, Johannes R.: (Ch Cl₃ = CH)AS (Levisiste) oder Der einzig gerechte Krieg, Wien 1926. Berndorff, Hans Rudolf [Pseudonym von Rudolf van Wehrt]: Der Libellen-Krieg. Eine abenteuerliche Geschichte, Berlin 1936. Bialkowski, Stanislaus: Krieg im All. Roman aus der Zukunft der Technik, Leipzig 1935. Bialkowski, Stanislaus: Der Radiumkrieg. Roman aus der Zukunft der Technik, Leipzig 1937. Chomton, Werner: Weltbrand von morgen. Ein Zukunftsbild, Stuttgart 1934. Dannert, Eduard: Im Weltkrieg der Andern. Politischer Roman, Neudamm 1925. Detre, L.: Kampf zweier Welten. Ein fantastischer Roman sondergleichen, Wien 1935. Ebel, Ernst Willy [Pseudonym von Ernst Rohden]: Achtung! Panzerwagen unterwegs!, Bremen 1934. Färber, Otto R.: Krieg dem Frieden! Original-Roman, Leipzig 1927.

 Ebd., S. 48 ff.  Vgl. ebd., S. 153.

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Flechtner, Hans Joachim: Front gegen Europa. Der Roman eines Geheimagenten, Leipzig 1935. Flechtner, Hans Joachim: Europa siegt…?, Leipzig 1937. Földes, Artur: Golf. Amerika gegen Europa, Berlin 1926. Frey, Egon: Schakal. Ein Kampf um die Zukunft, Hamburg 1924. Gellert, Wilhelm: Die Tragödie dreier Erdteile. Deutschlands Erhebung. Der „Sturmvogel“, seine Taten und Fahrten im Kampf um den Fernen Osten, Stendal 1922. Grassegger, W.: Der zweite Weltkrieg. Deutschland, die Waffenschmiede. Eine militärpolitische Prophezeiung. Vom Aufstieg zur neuer Macht und Größe, Naumburg 1922. Grassegger, W.: Die rächende Stunde. Englands Schicksalstag. Ein Zukunftsbild. Vom deutschen Aufstieg zur neuen Macht und Größe, Naumburg 1922. Grosser, Reinhold Fritz: Asaka Fu mobilisiert den Osten, Bremen 1934. Gunther, Joachim: Kampf um die Himmelsflotte. Eine Utopie, Leipzig 1935. Hagen, Richard: Der brennende Kontinent, Berlin 1928 (zuerst 1927). Heinrichka, Max: Ein Flug auf dem Marsplanten und eine Reise um den Mars. Die Wunderwelten und das Leben auf dem Marsplaneten. Mit einem Anhang: Der Weltkrieg auf dem Mars und seine Friedensergebnisse, Berlin 1918. Helders, Major: [Pseudonym von Robert Knauss]: Luftkrieg 1936. Die Zertrümmerung von Paris, Berlin 1932. Helders, Major: [Pseudonym von Robert Knauss]: Luftkrieg 1938. Die Zertrümmerung von Paris, Berlin 1934. Hermann, Franz: Die Erde in Flammen. Zukunftsroman aus den Jahren 1937/38, Berlin 1933. Hofbauer, Ludwig: Der Pestkrieg. Ein Zukunftsroman, Regensburg 1927. Hutten, Hans Joachim: Der Arzt der Welt. Durch Gewalt zum Völkerfrieden, Leipzig 1931. Leers, Johann von: Bomben auf Hamburg! Vision oder Möglichkeit, Leipzig 1932. Lehmann, Arnold: Der Zeitseher. Umsturz zum Frieden im Jahre 2017. Ein Zukunftsroman, Wien 1931. Lorenz, Helmut: Das Echo von Maganta. Nie wieder Friede?, Berlin 1935. Nitram, Hans [Pseudonym von Hans Martin]: Achtung! Ostmarkenrundfunk! Polnische Truppen haben heute nacht die ostpreußische Grenze überschritten, Oldenbourg 1932. Ohliger, Ernst: Bomben auf Kohlenstadt. Ein Roman, der Wirklichkeit sein könnte, Oldenbourg 1935. Panhans, Ernst J.: Der schwarzgelbe Weltbund. Zukunftsbilder des drohenden Zusammenstoßes der Rassen und Planeten, Berlin 1925. Rabe, Curt: Nie wieder Krieg! Die Vereinigten Staaten von Europa unter deutscher Führung. Eine Voraussage kommender Dinge, Naumburg 1922. Raxin, Alexander [Pseudonym von Alexander Kahlhofer]: Der nächste Massenmord. Bilder aus dem Jahre 1937, Leipzig 1928. Reck-Malleczewen, Fritz: Bomben auf Monte Carlo, Berlin 1930. Reifenberg, Alfred: Des Götzen Moloch Ende. Politische Zukunftsphantasie, Wolfratshausen 1925. Schoenaich, Paul Freiherr von: Der Krieg im Jahre 1930, Berlin 1925. Skowronnek, Fritz: Dies Irae. Ein ostpreußischer Zukunftsroman, Berlin 1922. Solf, Ferdinand: 1934. Deutschlands Auferstehung, Naumburg 1921. Steininger, A.: Weltbrand 1950. Ein utopischer Roman, Berlin 1932. Zapp, Arthur: „Revanche für Versailles!“ Eine Vision, Berlin 1924.

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Synthese statt Technokratie Der „Toekomstroman“ der Zwischenkriegszeit In der Einleitung ihrer Studie Der deutsche Zukunftsroman 1918 – 1945 betont Dina Brandt die Zentralität technokratischen Denkens als Wesensmerkmal der deutschen Zukunftsliteratur und benennt zugleich die Notwendigkeit eines Vergleichs nationaler Zukunftsliteraturen, da erst ein solcher aufzeigen könne, „ob es sich hier um ein internationales Phänomen handelt, das durch einen noch ungebrochenen Glauben an die Segnungen der Technik bedingt ist, oder aber doch um einen ‚Sonderweg‘, der mit den spezifischen Umständen der deutschen Geschichte in Verbindung steht“.¹ Vergleiche mit der französischen, englischen und amerikanischen Zukunftsliteratur liegen hier nicht nur aufgrund der Bekanntheit von Jules Verne, Aldous Huxley, George Orwell und Hugo Gernsback auf der Hand. Zukunftsliteratur wurde jedoch auch in den häufig vernachlässigten „kleinen“ europäischen Nationen geschrieben. Dieser Beitrag möchte daher einen Überblick über die niederländische Zukunftsliteratur bieten und einige ihrer Haupttendenzen sichtbar machen.² Dazu wird mit einer kurzen Besprechung der seinerzeitigen Verhältnisse der niederländischen und deutschen Literatur begonnen und die Position der niederländischen Zukunftsliteratur im literarischen Feld näher bestimmt. Dieser Einführung folgt eine Analyse, die insbesondere die Frage der Technik im niederländischen Zukunftsroman fokussiert. Hierbei werden das Verhältnis von Technik und Religion und die Bewertung des Rationalismus zentral erarbeitet. Die Erträge dieser Analyse werden dann mit der zeitgenössischen „Synthese-Debatte“ über die Rolle der Naturwissenschaften konfrontiert und schließlich mit der geopolitischen Dimension der Romane kontextualisiert.

Danksagung: Dieser Beitrag ist in Verbindung mit meiner an der Universität Groningen geschriebenen Masterarbeit „Kämpfe um die Zukunft. Die Technik im niederländischen und deutschen Zukunftsroman der Zwischenkriegszeit“ (Betreuung: Prof. Dr. Mathijs Sanders & Dr. Florian Lippert) entstanden. Ich möchte Dr. Lasse Wichert für seine Kommentare und Korrekturen zu diesem Beitrag danken, die die Lesbarkeit dieses Textes wesentlich erhöht haben.  Brandt, Dina: Der deutsche Zukunftsroman 1918 – 1945. Gattungstypologie und sozialgeschichtliche Verortung, Tübingen 2007, S. 2 f.  Die flämische Zukunftsliteratur bleibt jedoch unbeachtet. Sowohl das Verhältnis zum Ersten Weltkrieg als auch die konfessionellen Unterschiede beider Teile des niederländischen Sprachgebietes machen die Unterschiede zu groß. https://doi.org/10.1515/9783110773217-007

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Die literarischen Kontakte zwischen den Niederlanden und dem deutschsprachigen Raum waren in der Zwischenkriegszeit eng. So bestanden zahlreiche Freundschaften zwischen bekannten deutschen und niederländischen Autoren³ und nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten hatten viele exilierte deutsche Schriftsteller in den Niederlanden Zuflucht gefunden. Außerdem waren auch trivialliterarische Bücher aus Deutschland stark auf dem niederländischen Büchermarkt vertreten.⁴ Auch deutsche Zukunftsromane wurden ins Niederländische übersetzt, so etwa Otfrid von Hansteins Elektropolis (niederländisch: De dodende straal ⁵) sowie verschiedene Romane Hans Dominiks. Auch ein zuerst 1916 erschienener niederländischer Zukunftsroman wurde 1920 ins Deutsche übersetzt, nämlich Kees van Bruggens Het verstoorde mierennest (deutsch: Das zerstörte Ameisenreich ⁶). Bei der Publikation von van Bruggens Roman in der Schweiz fällt auf, dass dieser Roman offenbar zeitgenössisch nicht als Trivialliteratur klassifiziert, sondern als Teil der Reihe Europäische Bücher zusammen mit Romanen herausgegeben wurde, die gemeinhin dem Hochkulturkanon zugerechnet werden. Dies deutet auf einen wichtigen Unterschied zwischen der deutschen und niederländischen Zukunftsliteratur hin. Während deutsche Zukunftsromane meist als Trivialliteratur angesprochen werden,⁷ werden die niederländischen Zukunftsromane eher der sogenannten „Middlebrow“-Literatur zugerechnet,⁸ manche sogar der sogenannten hohen Literatur, wie etwa Bernard Canters Nieuw Utopia oder aber F. Bordewijks Blokken. Auch die Hintergründe deutscher und niederländischer Schriftsteller unterschieden sich. Deutsche Zukunftsromanschriftsteller arbeiteten häufig als Ingenieure, die mit ihren Romanen auch das eigene Fachge Vgl. etwa Sanders, Mathijs: Europese Papieren. Intellectueel grensverkeer tijdens het interbellum, Nijmegen 2016, S. 17 ff.; Goedegebuure, Jaap: Menno ter Braak, interpreet en medestrijder van Thomas Mann, in: Maatstaf Jg. 23 (5/6), 1975, S. 45 – 49, hier S. 45 ff.; Snick, Els: Joseph Roth revisited. Amsterdamse sporen in de misdaadroman Biecht van een moordenaar, in: De Parelduiker Jg. 16 (1), 2011, S. 21– 37, hier S. 25 ff.  Vgl. Sanders: Europese Papieren (Anm. 3), S. 7 ff. Fast 60 % der verkauften Bücher in den Niederlanden waren Übersetzungen. Der Journalist und Dichter Jan Greshoff beklagte sich darüber, dass ihm zufolge jedoch vor allem mittelmäßige Literatur übersetzt wurde, während James Joyce, Virginia Woolf und André Gide nicht in niederländischer Übersetzung herauskamen.  Hanstein, Otfrid von: De dodende straal, Den Bosch 1928; Hanstein, Otfrid von: Elektropolis. Die Stadt der technischen Wunder, Stuttgart 1931 (8. Aufl.; zuerst 1928).  Bruggen, Kees van: Das zerstörte Ameisenreich, Zürich 1920; Bruggen, Kees van: Het verstoorde mierennest, Amsterdam 1933 (11. Aufl.; zuerst 1916).  Vgl. Brandt: Der deutsche Zukunftsroman (Anm. 1), S. 16 ff.  Vgl. Boven, Erica van et al.: Middlebrow en modernisme. Een inleiding, in: Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde Jg. 124 (4), 2008, S. 304– 311, hier S. 304 ff. Middlebrow nimmt eine Zwischenposition zwischen Trivialliteratur und der Literatur der intellektuellen Elite ein.

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biet zu popularisieren suchten.⁹ Ihre niederländischen Kollegen sind dagegen schwieriger zu kategorisieren, entstammten aber meist entweder bildungsbürgerlichen Schichten oder gehörten sozialistischen Kreisen an. Auch die jeweiligen Zukunftsliteraturen sind auf unterschiedliche Traditionslinien zurückzuführen. Roland Innerhofer hat gezeigt, wie die Popularität von Jules Vernes technischen Abenteuerromanen zur Entwicklung des deutschen Zukunftsromans beigetragen hat.¹⁰ Die Zukunft war in der Tradition dieser Literatur vor allem ein Schauplatz für Abenteuer und technische Phantasien. Im Gegensatz dazu steht die niederländische Tradition, deren Beginn sich auf das Ende des 18. Jahrhunderts datieren lässt. Inspiriert von L’an deux mille quatre cent quarante (1771) des französischen Schriftstellers Louis-Sébastien Mercier schrieb Betje Wolff Holland in het jaar 2440 (1777), in dem das französische Aufklärungsdenken Merciers nicht bloß nachgeahmt, sondern auch mit den Entwicklungen in Russland, vor allem der Gesetzgebung Katharinas der Großen, verbunden wird.¹¹ In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden ähnliche, den Mustern von Merciers Roman folgende Zukunftsromane von Alexander Benjamin Fardon und Arend Fokke Simonsz geschrieben. 1798 publizierte Gerrit Paape den Zukunftsroman De Bataafsche Republiek, in dem die Batavische Republik¹² des Jahres 1998 geschildert wird. De Bataafsche Republiek basiert im Gegensatz zu den vorherigen Zukunftsromanen nicht wesentlich auf dem von Merciers Roman entworfenen Modell. Dennoch kann man auch hier eine kritische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Gesellschaftsformen erkennen, wie sie dann in den im 19. Jahrhundert erschienenen Zukunftsromanen, wie Jan Hollands Darwinia (1876) und Hendrik de Veers Malthusia (1880), fortgesetzt wird.¹³ Während Hans Esselborn Merciers Roman für die deutsche Tradition als „Vorläufer des Zukunftsromans, wie er später weniger politisch, aber mit stärkerem technischen Einschlag entworfen wird“,¹⁴ einordnet, gilt L’an 2440 gerade aufgrund seiner politischen Thematik als stilbildend für die Tradition der  Brandt: Der deutsche Zukunftsroman (Anm. 1), S. 15.  Innerhofer, Roland: Deutsche Science Fiction 1870 – 1914. Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung, Wien u. a. 1996.  Vgl. Reinsma, Riemer: Van hoop naar waarschuwing. Toekomstbeelden in en vlak buiten de literatuur in de Nederlanden, Amsterdam 1970, S. 7 ff.  Diese Republik war nach einem von der Französischen Revolution inspirierten Aufstand im Jahr 1795 aus der niederländischen Republik der Sieben Vereinten Provinzen entstanden. Eine lange Existenz war ihr nicht geschenkt.  Vgl. Reinsma: Van hoop naar waarschuwing (Anm. 11), S. 37 ff.  Esselborn, Hans: Die Erfindung der Zukunft in der Literatur. Vom technisch-utopischen Zukunftsroman zur deutschen Science Fiction, Würzburg 2019, S. 58 f.

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niederländischen Zukunftsliteratur. Die Zukunft im niederländischen Zukunftsroman ist wesentlich stärker von gesellschaftsbezogenen Spekulationen und politischer Satire geprägt, als dies häufig für die Zukunft im deutschen Zukunftsroman konstatiert wird. Technik spielt in der „Toekomstliteratuur“ hingegen meist nur eine untergeordnete Rolle. Gerade die Zwischenkriegszeit muss in dieser Hinsicht jedoch als Ausnahmefall gelten, da besonders in dieser Zeit technische Entwicklungen eine breite Öffentlichkeit erreichten und beschäftigten, so dass sie unlöslich mit jeder Art gesellschaftsbezogener Spekulation verbunden waren. Der Umgang mit der Technik und im allgemeineren Sinne den Naturwissenschaften in der „Toekomstliteratuur“ unterschied sich jedoch stark von der Dominanz technokratischer Ansichten, die für die deutsche Zukunftsliteratur verschiedentlich konstatiert wurde. Während in deutschen Zukunftsromanen häufig der technische Rationalismus der Ingenieure alle Probleme löst, mit denen die Hauptfigur, Deutschland, alle weiße Menschen und manchmal sogar die ganze Menschheit konfrontiert ist,¹⁵ ist eine skeptische Haltung diesem Vertrauen gegenüber in der niederländischen Zukunftsliteratur weit verbreitet.

1 Kritik des Rationalismus In Bernard Canters Nieuw Utopia (1922; deutsch: Neu-Utopia) wird das Vertrauen in den Rationalismus satirisch zugespitzt. Nach einem experimentellen medizinischen Eingriff, bei dem die Transplantation von Affendrüsen zur Verjüngung des Probanden führen sollte, gibt es Komplikationen, die es der Hauptfigur, dem Professor an der Universität Leiden, Horatio Leyden, schließlich erlauben, weiter in die Zukunft zu reisen. Diese Reise selbst zeigt eine Zukunft, in der der Feminismus und die moderne Technik zum Untergang der Menschheit führen, während Vegetarismus und eine harmonische, aber traditionelle, technikferne Lebensart eine neue Blüte der Menschheit ermöglichen. In der Rahmengesichte um diese technikkritische Zukunftsbeschreibung ist vor allem Professor Leyden Gegenstand der satirischen Zuspitzung, da dessen eher zum 19. Jahrhundert gehörender mechanistischer Positivismus meint, alles mithilfe der rationalen Naturwissenschaften erklären zu können.¹⁶ Wenn Leyden mit Gefühlen konfrontiert wird, versucht er sie mithilfe mathematischer Glei Vgl. Leucht, Robert: Dynamiken politischer Imagination. Die deutschsprachige Utopie von Stifter bis Döblin in ihren internationalen Kontexten, 1848 – 1930, Berlin/Boston MA 2016, S. 255 ff.  Baneke, David: Synthetisch denken. Natuurwetenschappers over hun rol in een moderne maatschappij, 1900 – 1940, Hilversum 2008, S. 121 ff.

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chungen zu fassen, was im Falle eines Treffens mit seiner Jugendliebe Eumenia zum folgenden absurden Beispiel führt: Streng wissenschaftlich vorgehend, fand er heraus, dass eine Einsamkeit, von einer Zweisamkeit gestört, also als 1:2 dargestellt, diese Einsamkeit aufhob und also als Formel auf folgende Weise dargestellt werden konnte: ! " ! " 1 1 1 1 ! " ! 2 2 2 2 oder, eine eventuelle übereilte Formulierung verhütend, besser: x x " 2 2 Denn der wissenschaftlich und universitär Gebildete wird sich in Bezug auf das Verhältnis eines Einsamen zu einer schönen, lieblichen Erscheinung zu keinerlei, den Laien kennzeichnenden, übereilten Darstellungen verführen lassen.¹⁷

Später im Roman folgenden Umarmungen und Küssen werden dann ebenfalls solche, manchmal noch längere, kompliziertere, aber genauso bedeutungslose Gleichungen beziehungsweise Formeln zur Seite gestellt. Gerade diese Übertreibungen zeigen die Unzulänglichkeit des radikalen Rationalismus, der nicht in der Lage ist, zwischenmenschliche Phänomene völlig zu fassen. Während Canters Nieuw Utopia die Absurdität eines übersteigerten Rationalismus aufzeigt, wird in anderen Romanen das tyrannische Potenzial der Moderne betont. Ferdinand Bordewijks Novelle Blokken (1931; deutsch: Blöcke) ist hierfür paradigmatisch. Diese in den Niederlanden sehr populäre Erzählung ist von einem dokumentarischen Erzählstil und der Abwesenheit zentraler Figuren gekennzeichnet, was gut zum radikal rationalistischen Kollektivismus des faschistisch-kommunistischen Staates passt, der im Roman entworfen wird und von  Canter, Bernard: Nieuw Utopia. De verjongingskuur van een Grijsaard, Amsterdam 1922, S. 81 f. (eigene Übersetzung): „Streng wetenschappelijk te werk gaande, bevond hij dat een eenzaamheid, verstoord door een tweezaamheid, voorgesteld dus als 1:2, deze eenzaamheid ophief en als formule voorgesteld kon worden als ! " ! " 1 1 1 1 ! " ! 2 2 2 2 of om eventueele overijlde formuleering te voorkomen beter gesteld werd als x x " 2 2 Want de wetenschappelijk en universitair gevormde zal ten aanzien van de verhouding eens eenzamen tot een schoone, lieftallige verschijning tot geenerlei, den leek kenmerkende, overijlde voorstellingen zich laten verleiden“.

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Thomas Pierrart auch als „ein dogmatisches Regime, das auf Stabilität, Regelmäßigkeit und Effizienz gerichtet ist“, beschrieben wurde.¹⁸ Die Architektur dieses Staates ist kubistisch, wie im Übrigen auch der Umschlag der Erstausgabe im Stil der Kunstbewegung De Stijl gehalten war.¹⁹ Menschen, die runde Bauformen präferieren, werden verhaftet und als Objekte des Spottes vom Staat in Theatern in der Öffentlichkeit präsentiert. Gegenstand der entworfenen Sekundärwelt ist jedoch auch eine Widerstandsbewegung, die nicht so sehr den Staat stürzen möchte, als vielmehr auf „eine Versöhnung von Staat und Persönlichkeit“ zielt, das heißt auf eine Synthese von Rationalismus und Mensch statt einer absoluten Dominanz des Rationalismus über den Menschen.²⁰ Der Staat bekämpft diese Bewegung jedoch mit Massenmord und grauenhaften Folterungen. Diese tyrannische Reaktion ist auf das Engste mit dem Rationalismus des Staates verwoben, so wird erzählt: „Der Staatsmechanismus war vollkommen, aber in seiner Perfektion lag seine Verletzlichkeit. Fünftausend Aufständische konnten den Staat zum Wanken bringen, fünfzigtausend konnten ihn fallen lassen. Jede Rebellion führte deshalb unerbittlich zu Terror“.²¹ So will Blokken schließlich aufzeigen, dass im radikalen Rationalismus kein Raum für Menschlichkeit übrig bleibt.

2 Religion und Technik Neben dieser Abkehr von radikalem Rationalismus bezeichnet auch eine postulierte Unvereinbarkeit von Technik und Religion ein wichtiges Thema, das viele Autoren beschäftigte. In C.R. 133 (1926) von Maurits Dekker wird eine Maschinenstadt im Jahre 3100 entworfen. Im Roman sieht sich die Welt mit einem Energiemangel konfrontiert, was prospektiv zum Untergang der technischen Ordnung führen könnte. Der Ingenieur Don scheint dieses Problem lösen zu können, indem er eine Maschine erfindet, die Äther in Energie verwandelt. Es stellt sich aber heraus, dass

 Pierrart, Thomas: Van Blokken tot brokken. Ideologisch bouwen in Nederlandstalige toekomstliteratuur, in: Extaze. Literair tijdschrift Jg. 8 (1), 2019, S. 4 (eigene Übersetzung): „een dogmatisch regime dat gericht is op stabiliteit, regelmaat en efficiëntie“.  Dautzenberg, J.A.: F. Bordwijk. Blokken, in: Lexicon van literaire werken. Mei 1991, hrsg. von Ton Anbeek, Jaap Goedegebuure und Bart Vervaeck, Groningen 1991, S. 9.  Bordewijk, Ferdinand: Blokken, in: ders.: Blokken, Knorrende Beesten, Bint, Haag/Rotterdam 1949 (zuerst 1931), S. 27 (eigene Übersetzung): „een verzoening van Staat en persoonlijkheid“.  Ebd., S. 30 (eigene Übersetzung): „Het Staatsmecanisme [sic.] was volkomen, maar in zijn perfectie lag zijn kwetsbaarheid. Vijfduizend opstandelingen konden de Staat doen wankelen, vijftigduizend konden hem doen vallen. Iedere rebellie leidde daarom onverbiddelijk tot terreur“.

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dieser Äther die Grundlage des menschlichen Lebens ist. Die Maschinenstadt ernährt sich so von Menschenleben. Diese Konstellation wird im Roman als eine Ersatzreligion verstanden: „Wie schön, wie ingeniös sie auch konstruiert sein mag, doch ist diese Maschine nichts mehr als ein Götzenbild, vor dem die ganze Menschheit in sklavischer Anbetung niedergekniet liegt“.²² Der aufgrund seiner niedrigeren Klasse namenlos geborene Protagonist C.R. 133 stellt dieser Welt aber eine Alternative gegenüber. Anhand von Zitaten und Paraphrasierungen des biblischen Buches Genesis zeigt er die Schönheit der göttlichen Schöpfung auf. Dieser Gegenüberstellung folgt eine kritische Analyse des Einflusses der Technik: Die Maschine herrscht und Gottes Schöpfung, diese Welt, die einst voll Schönheit und Frieden war, ist von Menschenhänden verunstaltet und verformt, Gottes Schöpfung ist ein entsetzlicher, ewig arbeitender, ewig folternder und Menschenleben verschlingender Automat geworden.²³

Die ideale Welt liegt dieser Weltauffassung zufolge in der Vergangenheit, als die Welt noch nicht von Menschen korrumpiert war. Die Geschichte der technischen Unterwerfung der Welt durch die Menschheit wird hier also als Zerfallsgeschichte verstanden. Auch H. G. Cannegieters Novelle Achter den Afsluitdijk (1929; deutsch: Hinter dem Abschlussdeich) schildert eine ganz ähnliche Zerfallsgeschichte. Die Novelle ist eine Reaktion auf die Einpolderung der Zuiderzee und die Entstehung von 170.000 Hektar Neuland, das heute die Provinz Flevoland bildet. In Cannegieters Erzählung wird die Zukunft dieses Landstrichs geschildert, der hier als „Zuiderzee-Sowjet“ bezeichnet wird. Die ehemalige Insel Urk, die durch die Einpolderung der Zuiderzee zum Festland geworden ist, ist nun die Hauptstadt der Welt. Nach der Überwindung nationaler Konflikte hat sich die Menschheit gegen die Beschränkungen und Gefahren der Natur behauptet. Nahrungsmittel und Licht werden synthetisch gewonnen, Kinder werden in Fabriken gezeugt und der Mensch ist der Verjüngung fähig. Diese Dominanz des Menschen über die Welt hat dazu geführt, dass „das ursprüngliche Christentum, zu dem als einheimische

 Dekker, Maurits: C.R. 133, Haag 1926, S. 173 (eigene Übersetzung): „Hoe mooi, hoe vernuftig ze ook geconstrueerd is, toch is deze machine niets meer dan een afgodsbeeld, waarvoor heel de menschheid in slaafsche aanbidding ligt neergeknield“.  Ebd., S. 10 (eigene Übersetzung): „De machine heerscht en Gods schepping, deze wereld, die eens vol schoonheid en vrede was, is door menschenhanden misvormd en verwrongen, Gods schepping is een ontzettende, eeuwig werkende, eeuwig folterende en menschenleven-verslindende automaat geworden“.

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Religion Europas man sich so lange bekannt hat“, keine Rolle mehr spielt.²⁴ Dennoch ist die Natur nicht vollständig unter Kontrolle: Die Bisamratte bleibt eine letzte Bedrohung, vor allem für den – nur von Deichen gesicherten und vom Meer umringten – „Zuiderzee-Sowjet“. Im letzten Kapitel greifen die Ratten schließlich die Deiche an, so dass das Gebiet wieder überschwemmt wird. Dieser Angriff der Ratten geschieht koordiniert, so dass der Titel des Kapitels „Die Sintflut“²⁵ auch als göttliches Eingreifen gedeutet werden kann. Bemerkenswert ist auch die Bedeutung, die der Dordrechter Synode der Jahre 1618/1619 in Achter den Afsluitdijk im Rahmen des Handlungsgeschehens beigemessen wird. Obwohl das Christentum seine Vorherrschaft in Europa eingebüßt hat, gibt es noch eine protestantische Kirche in den Niederlanden, die versucht, „unsere Dordtschen Canones mit der modernen chemisch-technischen Lebenspraxis übereinstimmen zu lassen“,²⁶ also zu modernisieren. Diese Canones sind contraremonstrantische Lehrregeln, die während der Dordrechter Synode aufgestellt wurden. Zentral dabei ist die Verwerfung der gemäßigten Auffassungen der Remonstranten bezüglich der Frage der Prädestination. Die von der Prädestinationslehre geprägten Regeln stehen im starken Kontrast zur von den Menschen beherrschten Welt der Novelle, da sie die Allmacht Gottes und die Nichtigkeit des Menschen bestätigten. So zeigt die am Ende der Novelle einsetzende Sintflut, dass der menschliche Versuch, die Position Gottes einzunehmen, zum Scheitern verurteilt ist. Der Verlust des Glaubens an Gott führt in Achter den Afsluitdijk außerdem zum Sittlichkeitszerfall. So gibt es in der Welthauptstadt Urk einen Tempel, in dem Josephine Baker angebetet wird, während sich die Gläubigen in Ekstase tanzen. Außerdem wird Josephine Baker als Göttin aller Afrikaner beschrieben. Josephine Baker war im Europa der Zwischenkriegszeit eine äußerst populäre afroamerikanische Jazztänzerin, insbesondere ihre sexuell aufreizenden Tanzdarbietungen erregten seinerzeit die Öffentlichkeit. Matthew Pratt Guterl zufolge war Baker vor allem beliebt, weil „whites hungered for undiluted ‚African‘ or ‚Negro‘ art as a panacea for the ‚overcivilization‘ that had so recently driven the world to war“.²⁷ In Achter den Afsluitdijk fungiert sie als ein Symbol des Freien, Unbegrenzten und

 Cannegieter, H. G.: Achter den Afsluitdijk, Amsterdam 1929, S. 45 (eigene Übersetzung): „het oorspronkelijke Christendom, dat als inlandsche godsdienst van Europa zoo lang is beleden“.  Ebd., S. 65.  Ebd., S. 40 (eigene Übersetzung): „om onze Dordtsche canones te doen kloppen met de moderne chemisch-technische levenspraktijk“.  Guterl, Matthew Pratt: Josephine Baker’s Colonial Pastiche, in: Black Camera Jg. 1 (2), 2010, S. 25 – 37, hier S. 25.

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Unzivilisierten. Die menschliche Beherrschung der Welt scheint so mit der Unfähigkeit des Menschen, sich selbst zu beherrschen, verbunden. Der Kulturhistoriker Johan Huizinga kommt 1935 in In de schaduwen van morgen, das zeitgleich mit der deutschen Übersetzung unter dem Titel Im Schatten von morgen erschien, zu einer sehr ähnlichen Analyse: „Hat es nicht vielmehr allzu oft den Anschein, als ob die menschliche Natur in der Freiheit, welche die Herrschaft über die stoffliche ihr verschafft hat, sich weigere, sich selbst beherrschen zu lassen, und alles abweise, was als ein Mehr-als-Natur vom Geist erworben schien?“.²⁸ Technik führt nur zur Unterwerfung der äußeren Natur, aber hat zugleich die menschliche Natur zügellos gemacht. Da, so Huizinga, Kultur immer „ein Beherrschen von Natur“ bedeute,²⁹ solle das auf die Beherrschung der äußeren Natur gerichtete Wissen mit dem die innerliche Natur disziplinierenden Wissen harmonisiert werden.³⁰

3 Synthese als Ideal Dieses von Huizinga explizierte Ideal wurde nicht nur von Zukunftsromanautoren und Kulturkritikern, sondern auch von Naturwissenschaftlern selbst vertreten. In seiner Analyse der in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geführten akademischen Debatte über die Rolle der Naturwissenschaften in der Gesellschaft hat David Baneke gezeigt, wie das Wort „Synthese“ zum zentralen Begriff des niederländischen Technik- und Naturwissenschaftendiskurses wurde. „Synthese“ war das Ideal der Naturwissenschaftler, was sich nicht zuletzt auch darin zeigt, dass der Begriff zugleich der Titel gleich mehrerer naturwissenschaftlicher Zeitschriften war.³¹ Das Ideal der „Synthese“ folgte so der Kritik des grundlegenden naturwissenschaftlichen Paradigmas des 19. Jahrhunderts, einem festen Glauben an die Kraft von Positivismus, Mechanismus und Rationalismus. Diese im 19. Jahrhundert weitverbreiteten Auffassungen wurden aber am Anfang des 20. Jahrhunderts in den Niederlanden vor allem mit deutschen Wissenschaftlern, wie Ludwig Büchner und Ernst Haeckel, assoziiert. Haeckels Überzeugung, alle Aspekte der Welt seien mit den Methoden der exakten Naturwissenschaft zu klären, war eine

 Huizinga, Johan: Im Schatten von morgen. Eine Diagnose des kulturellen Leidens unserer Zeit, Bern/Leipzig 1936, S. 36 f.  Ebd., S. 33.  Vgl. ebd., S. 47.  Vgl. Baneke, David: ‚Synthese! Geef ons synthese!‘. H.J. Jordan en het intellectuele debat tijdens het Interbellum, in: Gewina Jg. 28, 2005, S. 169 – 185, hier S. 169 ff.

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logische, wenn auch radikale Konsequenz dieses Paradigmas. Die Kehrseite dieses paradigmatischen, mechanischen Positivismus war aber, dass er kaum Raum für menschliche, außerhalb des naturwissenschaftlichen Mechanismus stehende Aspekte wie Religion, Kreativität und Ethik bot.³² Niederländische Naturwissenschaftler vertraten jedoch mehr als andere die Auffassung, dass gerade diese Aspekte von den exakten Naturwissenschaften allein nicht geklärt werden konnten. Exemplarisch für eine solche Haltung ist eine Szene aus dem Zukunftsroman De groote vinding (1925; deutsch: Die große Erfindung) von F.F. van der Ven. Die Wissenschaftler Biervliet und De Lang sprechen darin über das Verhältnis von Naturwissenschaft, Philosophie und Religion. In dieser Diskussion wird die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Welt nur als ein von Gott entworfenes Puzzle verstanden. Die Beschäftigung damit gleiche einer Art Gottesdienst, bringe aber den Menschen nicht näher zum wahren Verständnis der Welt. Stattdessen wichtig sei „der Besitz des ‚intuitiven Wissens‘ von Dingen, über die die Wissenschaft nicht urteilen kann, da sie einer anderen Ordnung zugehören […]. Der Gottheit über den wissenschaftlichen Weg sich anzunähern und sie zu verstehen, ist deshalb ausgeschlossen“.³³ Diese Position findet sich auch im außerliterarischen zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Diskurs. Die Kenntnis der menschlichen Natur gehöre, wie auch Huizinga betonte, zu einer Zivilisation, die neben der Beherrschung der externen Natur auch die menschliche Natur zügeln müsse. Der Vorherrschaft der Ingenieure beziehungsweise Naturwissenschaftler mangele es an einer Kenntnis des menschlichen Geistes, wodurch die Bildung der Bevölkerung vernachlässigt werde. Der deutschniederländische Biologe Hermann Jacques Jordan fürchtete, dass der Mensch ohne Kultivierung des Geistes innerlich nicht gefestigt sei und so leicht von den demagogischen Einflüssen des Nationalsozialismus und Kommunismus beeinflusst werden könne.³⁴ Der Zerfall in solche Massenbewegungen werde letztlich zu einem Untergang der europäischen Zivilisation führen, so wurde gefürchtet.³⁵ Humanistisches Wissen hingegen könne einen Untergang verhindern. Da gleichzeitig naturwissenschaftliche Kenntnisse in einer zunehmend von Technik beeinflussten und häufig durch sie dominierten Welt schließlich auch unumgäng-

 Vgl. Baneke: Synthetisch denken (Anm. 16), S. 121 ff.  Ven, F.F. van der: De groote vinding, Arnheim 1925, S. 85 (eigene Übersetzung): „het bezit van ‚intuïtief weten‘ van dingen waarover de wetenschap geen licht kan laten schijnen, omdat zij is van andere orde; […]. De Godheid langs wetenschappelijken weg te willen naderen en begrijpen is daarom uitgesloten“.  Vgl. Baneke: Synthetisch denken (Anm. 16), S. 179 f.  Vgl. Huizinga: Im Schatten von morgen (Anm. 28), S. 9 ff.

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lich waren, galt eine Synthese dieser beiden Kenntnisdomänen als Ideal. Diese weltanschaulichen Überlegungen sahen auch eine größere Machtposition von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren vor, jedoch – und dies unterscheidet sie von technokratischen Vorstellungswelten – ohne eine naturwissenschaftlichtechnische Hegemonie zu postulieren. Diese Position war, wie die besprochenen Zukunftsromane aufzeigen, kein Alleinstellungsmerkmal des akademischen Diskurses, sondern vielmehr weitverbreitet. Vermutet werden kann, dass die im Vergleich zu Deutschland verhältnismäßig sicherere Position niederländischer Naturwissenschaftler es erlaubte, freier über die Limitierungen des eigenen Fachgebietes sprechen zu können. Für diese Zeit kann geradezu von einer Blüte der niederländischen Naturwissenschaften gesprochen werden. Wissenschaftler wie die Nobelpreisträger Hendrik Lorentz, Johannes Diderik van der Waals, Willem Einthoven und Heike Kamerlingh Onnes wurden zu nationalen Helden,³⁶ während sogar besonders konservative Politiker wie Abraham Kuypers von der calvinistischen Anti-Revolutionären Partei (ARP) moderne Technik mit Freude begrüßten.³⁷ Große infrastrukturelle Projekte wie die Zuiderzeewerke und der Aufstieg technischer Unternehmen, wie der des Weltkonzerns Philips, zeigten außerdem die unmittelbaren Erfolge der angewandten technischen Wissenschaften. Der Erfolg der Technik führte dazu, dass die Periode zwischen 1870 und 1940 sogar als das zweite Goldene Zeitalter der Niederlande bezeichnet wurde.³⁸ Technikkritik lässt sich als Diskurs- und Zeitphänomen also durchaus feststellen, Technik wurde aber nicht als existenzielle Bedrohung der eigenen Lebensweise gezeichnet. Im starken Kontrast zur niederländischen war die deutsche Wissenschaft nach dem Ersten Weltkrieg geschwächt und international isoliert. Die wirtschaftlichen Folgen des Weltkrieges hatten die finanziellen Möglichkeiten enorm eingeschränkt. Manche Wissenschaftler wurden nicht mehr zu internationalen Konferenzen eingeladen, nachdem sie während des Krieges im Dienst des Kaiserreiches gestanden hatten. Die deutsche Wissenschaft war in einer Krise und brauchte eine Offensive, um ihre Position zu verbessern.³⁹ Der dominante Technikdiskurs in Deutschland war daher häufig auf eine omnipotente Machtfülle von Naturwissenschaften und Technik gerichtet.

 Vgl. Baneke: Synthetisch denken (Anm. 16), S. 48.  Vgl. Lente, Dick van: Techniek en Ideologie. Opvattingen over de maatschappelijke betekenis van technische vernieuwingen in Nederland, 1850 – 1920, Groningen 1988, S. 51 ff.  Vgl. Baneke: Synthetisch denken (Anm. 16), S. 32.  Vgl. Brandt: Der deutsche Zukunftsroman (Anm. 1), S. 222 f.

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4 Krieg und Frieden Der Antagonismus von Harmonie und Zwietracht gilt jedoch nicht alleine für die Sphäre der Technik. Die Verschränkung von Technik einerseits und politischer Macht andererseits lässt sich daher nicht zuletzt in den geopolitischen Zukunftsvorstellungen nachweisen, die in den Romanen entworfen werden. Andy Hahnemann konstatiert, „dass am technischen Novum auffallend häufig die geopolitischen Wunschvorstellungen der Autoren kondensieren“.⁴⁰ Diese Wünsche waren in der deutschen Zukunftsliteratur meist auf Machterhalt und häufig auch imperialen Machterwerb gerichtet. In Stanislaus Bialkowskis Der Radiumkrieg (1937) kämpfen die deutschen Helden um „die sichere Aussicht auf die technische und damit die politische Vorherrschaft in der Welt“,⁴¹ während die weißen Hauptfiguren in Hans Dominiks Befehl aus dem Dunkel (1933) Australien gegen eine japanisch-chinesische Invasion verteidigen und so die koloniale Macht der weißen Rasse sichern.⁴² In diesen Erzählungen spielen jedoch technische Innovation und somit militärische Vormacht die entscheidende Rolle. In den Beispielen niederländischer Zukunftsliteratur, in der Geopolitik von Bedeutung ist, ist diese oft nicht derart dominant, wie für die deutsche Zukunftsliteratur festgestellt wurde. Auffällig ist aber, dass auch diese Zielvorstellungen sich vom deutschen geopolitischen Diskurs unterscheiden. Auch hier spielt, wie in der Aushandlung des Verhältnisses von Geist und Technik, Harmonie eine zentrale Rolle. Statt die eigene Position im geopolitischen Kräftemessen zu verbessern, ist das geopolitische Ideal hier eine Harmonisierung der konkurrierenden Kräfte und somit schließlich die Vision des Weltfriedens. In Maurits Dekkers De aarde splijt (1930; deutsch: Die Erde spaltet sich) droht ein Krieg zwischen Japan und den Vereinigten Staaten von Amerika. Einige Ingenieure und Wissenschaftler versuchen mithilfe der Technik, einen Krieg zu verhindern. Die gewählte Taktik ist die der MAD-Doktrin,⁴³ der zufolge sie eine Waffe entwickeln, die die Welt in zwei Hälften teilen wird, falls es einen Krieg gibt. Dieses Vorhaben missglückt zwar, aber das Ideal des Weltfriedens wird überdeutlich. Außerdem zeigt die Hauptfigur Andreas, dass eine waffenfreie, dem  Hahnemann, Andy: Texturen des Globalen. Geopolitik und populäre Literatur in der Zwischenkriegszeit 1918 – 1939, Heidelberg 2010, S. 169.  Bialkowski, Stanislaus: Der Radiumkrieg. Roman aus der Zukunft der Technik, Leipzig 1937, S. 22.  Vgl. Dominik, Hans: Befehl aus dem Dunkel, Berlin 1933 (Aufl. 66. bis 75. Tausend; zuerst 1933); Hahnemann: Texturen des Globalen (Anm. 40), S. 266 ff.  MAD ist eine aus dem Englischen kommende Abkürzung, die für „Mutually Assured Destruction“ steht.

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Pazifismus verpflichtete Technik mehr Hoffnung auf Weltfrieden bietet. Moderne Mittel des Reisens und der Kommunikation würden die Welt so verkleinern, dass „das Bild einer Zukunft, in der alle Völker einander so gut kennengelernt haben, dass sie sozusagen Untertanen eines gleichen Staates, der Erde, geworden sind“, entsteht.⁴⁴ Eine so skizzierte Entwicklung findet sich zumindest ansatzweise in Herman Middendorps Het spel met den dood (1930; deutsch: Das Spiel mit dem Tod) verwirklicht. In diesem Zukunftsroman wird ein von der ehemaligen kaiserlichen Familie Hohenzollern geplanter Krieg verhindert, der das Kaiserreich wiederherstellen sollte. Im letzten Kapitel dieses Romans findet schließlich eine europäische Volksabstimmung statt, bei der eine riesige Mehrheit für die Gründung der Republik der Vereinigten Staaten Europas stimmt. Der Roman endet mit der Musik der Internationale, was darauf deutet, dass diese Republik eine sozialistische sein wird.⁴⁵ Meist, so lässt sich vielleicht vorsichtig resümieren, stehen jedenfalls nicht Krieg und Macht, sondern Friede und Harmonie im Zentrum der Zukunftsvorstellungen des niederländischen Zukunftsromans.

5 Fazit Diese Überblicksanalyse der „Toekomstliteratuur“ sollte aufzeigen, wie in der niederländischen Zukunftsliteratur vor allem Angst vor einer zu großen Macht der Technik und des technischen Denkens dominant war. Radikaler Rationalismus wurde stark kritisiert und der Konflikt zwischen Technik und Religion wurde sehr häufig thematisiert. Technik wurde jedoch nicht auf maschinenstürmerische Weise verworfen. Stattdessen idealisierte man eine Synthese, das heißt eine Harmonisierung der Naturwissenschaften und ihrer Anwendung in der Technik einerseits und der Geisteswissenschaften mit ihrer Rolle für die geistige Bildung des Menschen andererseits. Dieses Ideal hatte auch Konsequenzen für die Zukunftsideale internationaler Politik, die in diesen Zukunftsromanen vermittelt wurden. Weltfrieden und die Verständigung aller Nationen traten an die Stelle geopolitischer Machtkämpfe, die in der deutschen Zukunftsliteratur allgegenwärtig waren.

 Dekker, Maurits: De aarde splijt, Assen 1947 (3. Aufl.; zuerst 1927), S. 202 (eigene Übersetzung): „het beeld ener toekomst waarin alle volken elkander zo goed zullen hebben leren kennen, dat zij als het ware onderdanen van eenzelfde staat, de aarde, geworden zullen zijn. Op dat ogenblik zullen de oorlogen tot het verleden behoren“.  Middendorp, Herman: Het spel met den dood. Roman uit het jaar 1980, Rotterdam 1930, S. 118 f.

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„Unnützes Weiberfleisch können die Motoren nicht tragen“ Geschlecht und Sexualität im deutschen Zukunftsroman der 1920er und 1930er Jahre

1 Zur Einführung Wir haben auf der ganzen Linie gesiegt, das Alte ist nicht mehr. […] Es gilt nunmehr, den errungenen Sieg zu festigen, daran kann uns nichts mehr hindern. Die Hohenzollern haben abgedankt. Sorgt dafür, daß dieser stolze Tag durch nichts beschmutzt werde. Er sei ein Ehrentag für immer in der Geschichte Deutschlands. Es lebe die deutsche Republik.¹

Mit diesen Worten rief Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die Deutsche Republik aus. Die Erwartungen an diese neue Staatsform waren groß angesichts des unendlichen Abgrunds, in den die deutsche Bevölkerung geschaut hatte. Dies galt nicht nur für die politische Zukunft des Landes, sondern genauso für viele soziale und kulturelle Fragen – „das Alte ist nicht mehr“. Und dieses Gefühl hielt sich beständig durch die kurze Lebenszeit der Republik. Durfte man manchen Diskursen der Zeit glauben, befand sich das Land fundamental in der „Krise“, der „Untergang des Abendlandes“ stand unmittelbar bevor und auch wenn sich die Räterepublik nicht halten konnte, war klar, dass der Weg zurück in die alte Monarchie keine Option mehr war.² Neben dem Krisengefühl gab es zugleich auch bei vielen ein Gefühl des Aufbruchs, gerade in den Kreisen, die sich von dem Systemwechsel im Land und den Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg auch erhofften, dass neue, modernere Zeiten anbrechen würden. Eine dieser Bevölkerungsgruppen waren sicherlich die Frauen, die einen bedeutenden Teil der Arbeitslast im Krieg tragen mussten und nun nicht mehr so einfach bereit waren, auf die erkämpften Errungenschaften zu verzichten.³ Es

 Vossische Zeitung, Nr. 575, Abendausgabe vom 9. November 1918, S. 1 (Digitalisat der Ausgabe im Zeitungsinformationssystem).  Die ‚Krise‘ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, hrsg. von Moritz Föllmer, Frankfurt am Main/New York NY 2005.  Vgl. dazu in einer Übersichtsstudie Boak, Helen: Women in the Weimar Republic, Manchester 2013. https://doi.org/10.1515/9783110773217-008

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wurden verschiedene neue „Typen“ von Frauen ausgerufen, deren Rolle für die deutsche Gesellschaft diskutiert, und danach gefragt, was diese neuen Frauentypen für die Zukunft des Landes bedeuteten.⁴ Frauen traten damit ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, sie wurden zu öffentlichen Personen, agierten tatsächlich auch als solche. Im allgemeinen Diskurs (beider Geschlechter) wurden sie teilweise als zentral angesehen, um den zukünftigen Generationen nach dem verlorenen Krieg wieder moralische Kraft zu geben und durch Neudefinition ihrer Rolle eine positive Zukunft Deutschlands zu ermöglichen.⁵ Zur gleichen Zeit gab es noch eine andere Bevölkerungsgruppe, die ein starkes öffentliche Interesse fand und sich zumindest selbst große Bedeutung für die Zukunft Deutschlands zusprach: die Gruppe der Ingenieure. Gerade dem Ingenieurswesen und den neuen technischen Möglichkeiten, die sich durch die Entdeckung von Elektrizität, neuen Transportmitteln und Materialien ergeben hatten, traute man viel für die Zukunft des Landes zu.⁶ Es stellt sich daher die Frage, ob im deutschen Zukunftsroman der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in dem genau durch diese neuen technischen Möglichkeiten konkrete Visionen für ein neues Deutschland entwickelt wurden, auch der anderen Gruppe, den Frauen, ein besonderer Platz zugewiesen wurde. Oder anders gefragt: ob es den Romanautoren nicht nur gelingt, eine technische Zu-

 „The lack of clarity surrounding the new role of women in society became a battleground for the wider debate about the exact form of the new German state: the way women behaved, consumed, dressed and voted was interpreted as a signifier for the shape the German nation was to take after 1918“ (Hung, Jochen: The Modernized Gretchen. Transformations of the ‚New Woman‘ in the late Weimar Republic, in: German History Jg. 33 (1), 2015, S. 52– 79, hier S. 54). Wie Hung in seinem Artikel darlegt, verschob sich im Laufe der Weimarer Republik der Diskurs über die Rolle und Möglichkeiten der „Neuen Frau“. Er wird konservativer, aber das Bild eines neuen Typus Frau, das Potential für alle möglichen Fantasien bot, blieb weiterhin bestehen. Siehe dazu auch Zagula, John T.: Saints, Sinners, and Society. Images of woman in film and drama. From Weimar to Hitler, in: Women’s Studies Jg. 19, 1991, S. 55 – 77.  Graf, Rüdiger: Anticipating the Future in the Present. ‚New Women‘ and other beings of the future in Weimar Germany, in: Central European History Jg. 42, 2009, S. 647– 673.  Vgl. zu den Ingenieuren als Berufsgruppe unter anderem Technik, Ingenieure und Gesellschaft. Geschichte des Vereins Deutscher Ingenieure 1856 – 1981, hrsg. von Karl-Heinz Ludwig unter Mitwirkung von Wolfgang König, Düsseldorf 1981; Sander, Tobias: Die doppelte Defensive. Soziale Lage, Mentalitäten und Politik der Ingenieure in Deutschland 1890 – 1933,Wiesbaden 2009; sowie Leucht, Robert: Die Figur des Ingenieurs im Kontext. Utopien und Utopiedebatten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Jg. 36 (2), 2011, S. 283 – 312. Paulitz betrachtet die Entstehung des Ingenieurs im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts besonders unter geschlechterspezifischer Konnotation; Paulitz, Tanja: Mann und Maschine. Eine genealogische Wissenssoziologie des Ingenieurs und der modernen Technikwissenschaften, 1850 – 1930, Bielefeld 2012.

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kunft, sondern auch eine geschlechterbewusste Zukunft zu beschreiben. Dieser Frage möchte der folgende Beitrag nachgehen. Aspekte der politischen Bedeutung der Frauen, der Beziehungen zwischen den Geschlechtern sowie der Sexualität und Bevölkerungspolitik werden anhand dreier exemplarisch ausgewählter Romane betrachtet. Die Einordnung der Romane folgt dem bereits an anderer Stelle entwickelten Schema der frühen, politischen Zukunftsromane, der allgemeinen Ingenieursphantasien und der späteren, besonders in der Zeit des Nationalsozialismus beliebten, extraterrestrischen Reisen in „Fremde Welten“.⁷

2 Die Zukunft der Frau im politischen Zukunftsroman Als erstes Beispiel sei Erdsternfrieden. Eine unwahrscheinliche Geschichte ⁸ von 1919 vorgestellt. Der Roman wurde von dem Österreicher Heinz Slawik⁹ geschrieben. Auch wenn Slawik sich um eine globale Perspektive bemüht, kommen fast alle wichtigen Protagonisten aus der Alpenrepublik. Es handelt sich an sich um ein pazifistisches Szenario, das zum Ziel hat, unter Wahrung der nationalen Eigenheiten eine gemeinsame, friedliche Weltgesellschaft zu propagieren. Die dafür notwendige Einigung der Völker gelingt, begleitet durch entsprechende Propaganda, durch einige technische Erfindungen, die wichtigsten sind der „Zündkreis“, der es erlaubt, allen Sprengstoff fernzuzünden und damit alle militärischen Gegner zu neutralisieren, und der sogenannte „Änderstoff“, der aus den Hoden von Männern unterschiedlicher Nationalität gewonnen wird. Durch eine Injektion bei Männern anderer Nationalität wird es möglich, mehr Toleranz für andere Kulturen zu entwickeln. Es ist also ein Mittel für allgemeine Völkerverständigung. Die Umgestaltung der Weltgesellschaft wird von dem genialen Ingenieur Janko Gorianski und später dem Österreicher Putz sehr detailreich geplant, die beide mit sicheren Händen die Geschicke lenken. Der Roman wird dazu genutzt, mit stark rassistischer Konnotation die Eigenheiten verschiedener Nationen darzustellen, bestimmte Parteigefüge zu desavouieren und die Bedeutung von Kapital hervorzuheben. Die politische Orientierung des Romans lässt sich damit im rechtskonservativen Lager verorten. Die Zielrichtung ist wie in den meisten der politischen Zukunftsromane die Vision

 Vgl. dazu Brandt, Dina: Der deutsche Zukunftsroman 1918 – 1945. Gattungstypologie und sozialgeschichtliche Verortung, Tübingen 2007, S. 69 – 106.  Slawik, Hans: Erdsternfrieden. Eine unwahrscheinliche Geschichte, Wien/Leipzig 1919.  Zu Hans Slawik konnten leider keine biografischen Informationen ermittelt werden.

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einer friedlichen Weltgesellschaft, nach dem Diktat einer deutschen beziehungsweise in diesem Fall österreichischen Führerschaft. Ebenfalls gibt es in diesem Roman einige private Geschichten, die hier aber nicht weiter thematisiert werden sollen.¹⁰ Vielmehr steht in diesem Abschnitt die Frage im Mittelpunkt, wie Slawik nun innerhalb der neuen Gesellschaft, die als gerechter und friedlicher dargestellt wird, die Rolle der Frau einschätzt. Das gesamte letzte Drittel des Romans beschreibt, wie die „Erdfriedgesellschaft“ nach erfolgreicher Umgestaltung der Weltgesellschaft aussehen und strukturiert sein soll, und kann geradezu als Handlungsanleitung für die Transformation einer Gesellschaft gelesen werden. Eingeleitet wird er von einer vollumfänglich in Gesetzesform dargelegten Verfassung,¹¹ dem sich ein Teil anschließt, der die (erfolgreiche) Entwicklung auf Basis dieser Gesetze und weiterer, später verabschiedeter Gesetze beschreibt. Der erste Punkt, der auffällt: Frauen haben bereits auf dem Weg zur Erdsterngesellschaft keinen wesentlichen Einfluss, und ihnen wird in der eigentlichen Verfassung so gut wie keine öffentliche Aufgabe zugewiesen. Weder sind sie aktiv oder passiv wahlberechtigt, noch haben sie, wie es dem männlichen Gegenpart explizit zugesichert wird, das Recht auf Eigentum.¹² Nicht einmal im Bereich der Erziehung oder der Fürsorge werden ihnen besondere Aufgaben zugeschrieben. Immerhin wird Frauen bei der Arbeitszeit und der Bezahlung Gleichberechtigung garantiert,¹³ wohingegen die Erlaubnis zur Nachtarbeit nicht vorgesehen ist. Der Mutterschutz wird dagegen großgeschrieben, eheliche und uneheliche Kinder werden gleichgestellt. Zur Bevölkerungskontrolle ist eine Begrenzung auf vier Kinder pro Frau vorgeschrieben. Anders als bei einem Thema wie beispielsweise soziale Gerechtigkeit wird erst einmal nicht weiter begründet, warum eine Ungleichheit sinnvoll sein sollte. Gerade vor dem Hintergrund, dass in Österreich zur selben Zeit wie in Deutschland das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, ist dies umso erstaunlicher.¹⁴ Man

 Vgl. dazu das folgende Kapitel 3 zu den Geschlechterbeziehungen, S. 9 f.  Ebd., S. 200 – 241.  Slawik: Erdsternfrieden (Anm. 8), S. 208.  Ebd., S. 227.  Am 12.11.1918 befand der Rat der [deutschen] Volksbeauftragten, dass Wahlen „für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen“ seien. Zitiert nach Notz, Gisela: „Her mit dem allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht für Mann und Frau!“. Der Kampf um das Frauenwahlrecht in Deutschland, in: Mit Macht zur Wahl. 100 Jahre Frauenwahlrecht in Europa. Bd. 1: Geschichtlicher Teil, hrsg. von Bettina Bab et al., Bonn 2006, S. 94– 107, hier S. 103. Am selben Tag wurde auch in Österreich im Rahmen einer Staats- und Regierungsreform befunden, dass alle Wahlordnungen „ohne Unterschied des Geschlechts zu begründen“ seien. Zitiert nach Bader-Zaar, Birgitta: „Wir streben nicht blindlings das

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könnte von einem zeitgenössischen Autor erwarten, dass er, wenn er schon auf das Zehntel genau den Steuersatz auf Weinbrand angibt, zumindest einen Satz zu diesem Thema verliert.¹⁵ Im Gegenteil: Die folgenden Seiten zeigen, dass die verfassungsgebende Versammlung alle Entscheidungen richtig getroffen hat; die Weltgesellschaft blüht trotz beziehungsweise gerade wegen der Tatsache, dass auf die Beteiligung von Frauen verzichtet wurde, auf. Immerhin wird nach einigen Jahren dann doch die Frage nach einem Frauenwahlrecht diskutiert: Für das allgemeine Wahlrecht der Frauen konnte das Erdsternhaus keine Vorliebe aufbringen. Es ordnete im Jahre 12 eine allgemeine Abstimmung unter allen Frauen der Erde an, die die Frage des Wahlrechts entscheiden sollte. Eindringlich wurde darauf hingewiesen, daß die Frau in ihrer Wesenheit unendlich verlöre, wenn sie in jeder Beziehung dem Manne staatsbürgerlich gleichgestellt sei, da schon die Wesenheit der Frau bedinge, daß sie allmonatlich in einen Zustand gerate, der für kühles Denken weniger geeignet sei und gar die Schwangerschaft unmöglich als unbeeinflußte Zeit angesehen werden könne, wo Frauen selbständig kühl und klar denken, was bei vielen Berufen – Richter, Anwälten, Schriftler und anderen – unbedingt nötig sei.¹⁶

Die Einführung des Frauenwahlrechts wird abgelehnt, weil, wie der Leser im Anschluss erfährt, so gut wie keine Frau zu der anberaumten Wahl ging und die Entscheidung damit automatisch negativ ausfallen sollte. Das Ergebnis dieser Abstimmung lautet, dass „[a]lle Frauen […] in jeder gesetzlichen Beziehung ausgenommen der staatsmännischen Tätigkeit, den Männern gleichgestellt [seien]“.¹⁷ Es wird lediglich eine Art von Ombudsfrau als nicht-stimmberechtigtes Mitglied im Erdsternhaus zugelassen. Als Begründung für das Desinteresse der Frauen bringt Slawik auch „wissenschaftliche“ Erkenntnisse vor: Doch sei das Erdsternhaus im allgemeinen der Ansicht, daß die schönsten Blüten der Frau, Gemüt und Empfindung, in der kühlen Luft der öffentlichen Tätigkeit leicht verkümmern

Wahlrecht an, sondern in klarer Erkenntnis, dass das Wahlrecht Macht ist“. Zur Geschichte des Frauenwahlrechts in der österreichischen Reichshälfte der Habsburgmonarchie, in: ebd., S. 108 – 117, hier S. 114 f.  Gegen Ende des Buches wird ausgeführt, dass der Roman bereits zwischen April und Juni 1917 geschrieben wurde. Da allerdings bereits zu diesem Zeitpunkt das allgemeine Frauenwahlrecht eine wohlbekannte Forderung der Frauenbewegung war, wäre es durchaus vorstellbar gewesen, in einem „Zukunftsroman“ ein allgemeines Frauenwahlrecht zu visionieren. Die folgenden Ausführungen können allerdings belegen, dass Slawik besonders wichtig war, ein solches allgemeines Recht mit Hilfe seines Buches zu verhindern.  Slawik: Erdsternfrieden (Anm. 8), S. 259.  Ebd., S. 260.

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könnten. Wobei das Erdsternhaus gar nicht darauf aufmerksam machen wolle, daß die bisherigen wissenschaftlichen, sehr genau geführten Untersuchungen tatsächlich eine geistige Minderfähigkeit der Frauen gegenüber den Männern einwandfrei festgestellt hätten, was durch Jahrtausende lange Unbenützung geistiger Fähigkeiten leicht erklärlich sei.¹⁸

Allerdings werden im weiteren Verlauf des Romans Frauen auch keine Möglichkeiten zur „Benützung geistiger Fähigkeiten“ durch Zugang zu öffentlichen Tätigkeiten eingeräumt. Das Fazit lautet vielmehr: „Die Frauenfrage für das öffentliche Leben war damit vorläufig geregelt“.¹⁹ Doch damit endet die Männerphantasie noch nicht. Es folgt sogleich das „Gesetz über Liebesbetätigung“,²⁰ das quasi jede Art von Prostitution legalisiert, indem zwar einerseits die „freiwillige Hingabe eines Menschen an einen anderen […] niemals als Schande oder Sünde oder Vergehen oder Ehrlosigkeit bezeichnet werden dürfe[ ]“, jedoch andererseits die „staatliche Ehe als beste Verbindungsform zweier Menschen empfohlen“ wird.²¹ Ehebruch wird daher weiterhin als strafbares Vergehen geahndet, bei dem aber „der Ehebruch des Weibes schwerere Folgen hat als der des Mannes“, weswegen „ehebrechende Weiber stets mit dem doppelten Ausmaß der Strafe zu bestrafen“ seien.²² Bei Ehelosen hingegen gelten andere Regeln: Um der großen Mehrzahl der geschlechtlich Reifen, denen aus wirtschaftlichen Gründen das Eingehen einer Ehe nicht möglich ist, den Geschlechtsverkehr zu ermöglichen, hat das Erdsternhaus beschlossen[,] jene liebefähigen Erdbürgerinnen, die ihrem Sinne nach in der geschlechtlichen Betätigung ihre höchste Bestätigung […] finden, eigene Gebäude zur Verfügung zu stellen.²³

Bei den genannten Etablissements, das wird im Gesetz ebenfalls festgehalten, ist übrigens auch auf Springbrunnen und Blumenbeete zu achten. Die abschließenden Worte: „Es geschah – und ein Schrei der Erlösung umlief den Erdball“.²⁴ Letztere Vision ist aus verschieden Gründen fragwürdig. Neben dem offensichtlichen Versuch, Bordelle als von Männern und Frauen gleichsam gewünschte Einrichtungen darzustellen, was unterschlägt, dass die wenigsten Frauen sich dort als Prostituierte verdingen, weil sie in der „geschlechtlichen Betätigung ihre

      

Ebd., S. 259. Ebd., S. 260. Ebd., S. 261– 264. Ebd., S. 261. Ebd., S. 262. Ebd., S. 263. Ebd., S. 264.

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höchste Bestätigung finden“, ist Slawik auch innerhalb der eigenen Erzähllogik inkonsistent. An anderer Stelle wird berichtet, dass es keine Armut mehr gebe, denn „[a]uf dem Erdstern fand jede Arbeit ihren Lohn“; damit hätten entsprechend der vorher formulierten Logik alle Menschen heiraten können.²⁵ Die Notwendigkeit, triebbefriedigende Lösungen für Männer zu finden, „denen aus wirtschaftlichen Gründen das Eingehen einer Ehe nicht möglich“ sei, wäre also gar nicht mehr gegeben. Von Ideen, dass Heirat nicht die einzige Option ist, um eine Verbindung zwischen Männern und Frauen herzustellen, erfahren wir nichts. Alles in allem stellen sich, das zeigt das hier gewählte Beispiel exemplarisch, die Frauenbilder in den politischen Zukunftsromanen der frühen Weimarer Republik als sehr limitiert und reaktionär dar. Dies gilt nicht nur für konservative Zukunftsentwürfe. Tatsächlich konnte kein politischer Zukunftsroman in der Zwischenkriegszeit identifiziert werden, der nicht der Logik folgt, dass Frauen nur eine häusliche oder doch zumindest nicht im öffentlichen, politischen Raum dem Mann gleichgestellte Rolle zukomme.²⁶ Vergleicht man die Vision in Erdsternfrieden mit den Erfolgen der ersten Welle der Frauenbewegung, dann fällt umso stärker auf, wie wenig in dem Roman der tatsächliche Stand der politischen Diskussionen zur Gleichberechtigung der Frauen reflektiert wird.²⁷ Immerhin hatten Frauen sich bereits vor dem Krieg erkämpft, studieren zu dürfen, es bildeten sich verschiedene Berufsverbände für Frauen, es gab sogar schon Diskussionen um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. In jedem Fall waren sie, wenn auch gegen große Widerstände, bereits in Parteien aktiv.Wenngleich gerade die Frage des Frauenwahlrechts vor dem Ersten Weltkrieg ein Grund für Spaltungen innerhalb der Frauenbewegung war, forderten sie²⁸ – mit den Erfahrungen aus dem Krieg, in dem Frauen an der sogenannten Heimatfront wichtige Aufgaben in der Wohlfahrtspflege, der Sicherstellung der Ernährung oder einfach durch die Arbeit in den (Kriegs‐)Fabriken übernahmen –

 Ebd., S. 269.  Nicht mal im linkspolitischen Spektrum, das zeigt der Roman Utopolis von Werner Illing (1930), konnte man sich vorstellen, dass Frauen eine aktivere, selbstbestimmende Rolle in der Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft übernehmen könnten. Zwar weist Jana, in die Karl, der Held, verliebt ist, seine Avancen mit folgenden Worten zurück: „‚Gewiß Karl. Wenn ich ein europäisches Packeselweibchen wäre, ein braves Haushaltungsmachinchen – dann würde ich Dich vom Fleck weg heiraten!‘“ (Illing,Werner: Utopolis. Roman, Berlin 1930, S. 53), aber im Anschluss daran hat sie keinen weiteren aktiven Anteil an der Handlung. Karl muss die heile Sozialistenwelt mehr oder weniger auf sich selbst gestellt vor den bösen Privaten (Kapitalisten) retten.  Vgl. dazu Schaser, Angelika: Frauenbewegung in Deutschland 1948 – 1933, Darmstadt 2006.  Vgl. Nave-Herz, Rosemarie: Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, Bonn 1997, S. 32– 41.

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eine größere Rolle im öffentlichen Leben ein.²⁹ Mit den ersten Volksräten erhielten entsprechend die Frauen in Deutschland tatsächlich das Wahlrecht: „Bei der Verabschiedung der Weimarer Verfassung versuchte keine Partei mehr, das Frauenstimmrecht anzutasten. Diese Verfassung schrieb erstmals gleiche Rechte und Pflichten für Männer und Frauen fest“.³⁰ Österreich war in dieser Hinsicht fast noch fortschrittlicher: Hier gab es vereinzelt Frauen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg im Landtag von Böhmen und Galizien saßen.³¹ Und bereits 1917 hatten die Sozialdemokraten einen Antrag zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts eingebracht, dem nach Kriegsende durch die Nationalversammlung stattgegeben wurde. Stellt man diese Erfahrungen und politischen Realitäten der entworfenen Zukunft der hier besprochenen Romane gegenüber, fällt erst recht auf, wie regressiv die hier erzählten Geschichten in Bezug auf die Rolle der Frau ausfallen. In keinem einzigen der Romane, die mit einem explizit politischen Programm auftreten, sind es Frauen, die die Geschicke der Nation vorantreiben oder zumindest ihren Teil dazu beitragen, dass eine neue Gesellschaft entsteht. So stellt sich im Folgenden die Frage, ob wenigstens in den privaten Beziehungen der Geschlechter im deutschen Zukunftsroman moderne Ideen Einzug gehalten haben.

3 Geschlechterbeziehungen in der Ingenieursphantasie Geschlechterbeziehungen werden im deutschen Zukunftsroman zumeist aus der männlichen Perspektive erzählt. Im Mittelpunkt der Handlung steht stets ein Ingenieur-Held, der eine bedeutende Entdeckung macht oder ein politisches Projekt vorantreibt und dabei entweder durch weibliche Charaktere abgelenkt oder aber durch verstehende Frauen in seinem Vorhaben unterstützt wird. Im Idealfall erhält der Held einen neuen „Kameraden“, der die eigenen Bedürfnisse ganz hinter denen der Hauptfigur zurückstellt.

 Vgl. dazu unter anderem Canning, Kathleen: Women and the Politics of Gender, in: Weimar Germany, hrsg. von Anthony McElligott, Oxford 2009, S. 146 – 174, insb. S. 146 – 154.  Nave-Herz: Geschichte der Frauenbewegung (Anm. 28), S. 37.  Vgl. dazu „Doch weh, sobald sie zu stimmen begehren…“. 80 Jahre Frauenwahlrecht in Österreich, Wien 1999, S. 11. Allgemein dazu vgl. auch Dinter, Laureen: Ein Ziel, getrennte Wege. Frauenstimmrechtsbewegungen in Österreich, in: Von heute an für alle! Hundert Jahre Frauenwahlrecht, hrsg. von Marjaliisa Hentilä und Alexander Schug, Berlin 2006, S. 71– 85.

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Als Beispiel hierfür soll Hans Richters³² T 1000. Roman eines Riesenflugzeu³³ ges von 1927 als ein repräsentativer Vertreter der Kategorie „Ingenieursphantasie“ vorgestellt werden. Ziel der Erzählung ist der Bau eines Riesenflugzeugs, das für den interkontinentalen Linienflug eingesetzt werden kann. Innerhalb der Ingenieurshoffnungen, die damit verbunden sind, ist hervorzuheben, dass sich Richter in diesem Roman eine Kooperation aller fliegenden Nationen vorstellt, bei der die Flugverbindungen friedlich und gerecht untereinander aufgeteilt werden. Es zeigt sich zwar in der Handlung, dass die deutsche Ingenieurskunst allen anderen Nationen überlegen ist, aber es geht Richter nicht um die gewaltvolle Dominanz Deutschlands über andere Länder. Die Erzählung ist damit deutlich weniger chauvinistisch orientiert als die meisten anderen Vertreter dieser Untergattung des deutschen Zukunftsromans. Die Geschichte ist in wenigen Worten erzählt: Der deutsche Ingenieur Günther Truckbrott konkurriert mit Ingenieuren anderer Nationen – vor allem aus Russland und England – darum, als erster ein Riesenflugzeug zu bauen, um die transatlantische Route nach Amerika zu fliegen. Während Truckbrott beharrlich, und ohne sich von äußeren Einflüssen hetzen zu lassen, an der Konstruktion und dem Bau seines Flugzeugs arbeitet, preschen die Konkurrenten vor und scheitern im Laufe der Geschichte mehrmals an den technischen Unzulänglichkeiten, was ihr mangelhaftes Ingenieurswissen und ihre Ungeduld beweist. Am Ende gelingt Truckbrott nicht nur der Transatlantikflug per se, sondern er kann währenddessen auch noch gestrandete Engländer retten. Die Entwicklung und der Bau des Riesenflugzeugs durch Günther Truckbrott wird erstaunlich wenig thematisiert. Fast scheint es so, als ginge Richter davon aus, dass die technische Überlegenheit des deutschen Ingenieurs so selbstverständlich ist, dass das nicht weiter ausgeführt werden muss. Das immer wieder thematisierte Scheitern von Truckbrotts Mitkonkurrenten genügt offenbar, um zu erklären, warum am Ende der deutschen Nation die bedeutsame und prestigeträchtigste Verbindung des Linienfluges zwischen den USA und Deutschland zusteht. Dieser technische Teil der Erzählung dient damit nur als Rahmenhandlung, denn die eigentliche Herausforderung für einen deutschen Ingenieur liegt weniger in den technischen Fragen als vielmehr darin, sich nicht durch andere

 Zu Hans Richter, eigentlich Johannes Richter (1889 – 1941), gibt es leider keine biografische Aufarbeitung, lediglich einen Wikipedia-Artikel, der ihn als zumindest höchst kompatibel mit dem NS-Regime darstellt (im Reichsverband der deutschen Schriftsteller war Richter bis 1935 stellvertretender „Reichsführer“): https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Richter_(Schriftstel ler) (Zugriff: 01.07. 2018).  Richter, Hans: T 1000. Roman eines Riesenflugzeuges, Hannover 1927.

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Dinge, namentlich das andere Geschlecht, ablenken zu lassen. Und das Tableau an Frauen, von denen diese Bedrohung ausgeht, ist dabei recht groß. Da gibt es zuallererst Olga Surewski, Frau eines russischen Konstrukteurs, der wegen eines Konstruktionsfehlers gleich zu Beginn bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommt. Die Witwe will diese Niederlage nicht auf sich sitzen lassen und schafft es am Ende mit ihren weiblichen Reizen, die Engländer für die Pläne ihres Mannes zu begeistern, die den großen Flug aber ebenfalls zu früh wagen. Bevor Olga zu den Engländern ging, hatte sie Truckbrott vorgeschlagen, an den Plänen ihres Mannes weiterzuarbeiten. Dieser hatte jedoch abgelehnt, weil er sich nicht unter Druck setzen lassen wollte, womit er Pflichtbewusstsein gegenüber seiner Aufgabe beweist. Pflichtbewusstsein ist auch das bestimmende Thema zwischen ihm und Barbara Gordon, der Tochter seines Finanziers. Früher verstanden sich die beiden gar nicht so schlecht, jedoch nimmt Barbara Truckbrott übel, dass er das Ansinnen Olgas, der sie sich aus Geschlechtersolidarität verbunden fühlt, ablehnt. Erst zum Schluss und nach einer kurzen Ehe mit einem anderen Mann, der allerdings vor Romanende stirbt, versteht sie das Handeln Truckbrotts. Die letzten Worte des Romans lauten: [U]nhörbar formen ihre Lippen ein Wort. Das Wort, das Truckbrotts Leben ist. Und Deutschlands Zukunft: Pflicht. Donnernd steigt die ‚T 1000‘ in die Lüfte.³⁴

Mit diesem Konzept hat Gisela, eine Bibliothekarin in Ausbildung, die Barbaras kleinen Bruder Rainer kennen- und lieben lernt, keine Schwierigkeiten. Geduldig wartet sie, bis Rainer sich nach seiner Ausbildung für sie entscheidet, wobei zu keinem Moment fraglich ist, dass sie immer hinter den Pflichten ihres Partners zurücktreten wird. Das wiegt mehr als die Tatsache, dass sie aus ärmlichen Verhältnissen stammt und sogar arbeiten gehen muss, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Sie wird am Ende des Romans trotz ursprünglicher Vorbehalte die Verlobte von Rainer. Im Vergleich zu dieser vorbildlichen Beziehung muss Truckbrott größere Umwege gehen, um dort hinzukommen, wohin ihn das Schicksal verschlägt. Er trifft nämlich noch auf Pia Linth, eine reiche Industriellenwitwe, die zwischenzeitlich so Gefallen an Truckbrott findet, dass sie ihn nach Schweden locken möchte, um dort ungestört sein Flugzeug zu konstruieren. Doch als er sich tatsächlich nur für das Flugzeug interessiert, löst sich diese Beziehung ganz plötzlich wieder auf und auch Truckbrott erkennt, dass Pia zwar zwischenzeitlich ein  Ebd., S. 238.

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guter „Kamerad“ war, aber ihn in seinem Pflichtbestreben letztlich nicht ausreichend unterstützt hat. Die beiden trennen sich schnell, obwohl schon die Verlobung ausgesprochen war. Am Ende entscheidet er sich für Barbara, die um Truckbrotts Rückkehr nach dem Rettungsflug bangt, weil sie ihm doch sagen muss, „daß ich ihn jetzt ganz verstehe – endlich – endlich“.³⁵ Die hier vorgestellten Frauen entsprechen bestimmten zeittypischen Frauenbildern. So haben wir den jugendlichen Flappertyp Gisela, die selbständige und damit auch reifer wirkende Pia und schließlich die zur Familiengründung bereite Tochter aus gutem Hause, Barbara. Alle drei betrachten sich als „Kameraden“ von Truckbrott. Alle drei sind in ihren Gefühlen aufrichtig, obschon nicht gleichermaßen für die Ehe geeignet. Olga Surewski dagegen entspricht vielmehr einem Typ Frau, vor dem jeder Mann gewarnt wird: eine femme fatale, also die verführerische laszive Frau, die aufgrund ihrer weiblichen Reize den Mann um seinen Verstand bringt und damit ins Unheil stürzt. Als Figur ist sie eigentlich schon seit Ende des 19. Jahrhundert bekannt.³⁶ Hier fügt sie sich in den fin-de-siècle-Diskurs der Dekadenz, des Symbolismus und des Orientalismus ein. Eng verbunden mit der Entstehung der Psychoanalyse werden Frauen, denen es scheinbar an mütterlichen, also fürsorglichen Instinkten fehlt, pathologisiert und sogar kriminalisiert.³⁷ Dieser Diskurs reiht sich spätestens nach dem Ersten Weltkrieg nahtlos in den größeren Themenkreis von Sexualmoral, „Volksgesundheit“ und – konsequenterweise damit auch – Geschlechterverhältnis ein. Ein Diskurs, der vor allem von Männern geführt wurde. Die „Neue Frau“ wurde dabei klar als Bedrohung statt einer Möglichkeit gesehen, neue Wege der Geschlechterbeziehungen zu gehen.³⁸  Ebd., S. 237.  Vgl. dazu Menon, Elizabeth K.: Evil by Design. The creation and marketing of the femme fatale, Chicago IL 2006.  Vgl. dazu Hales, Barbara: Blonde Satan. Weimar constructions of the criminal femme fatale, in: Commodities of Desire. The prostitution in modern German literature, hrsg. von Christiane Schönfeld, Rochester NY 2000, S. 131– 152.  „There was a perception that women were out of control, and this was seen as a fearful symptom of moral decay and the collapse of all known values. Public perception dwelt on the image of the New Woman, whose portrayal was highly ambivalent. Within certain boundaries she could be a positive symbol of modernity, but more often she was viewed negative. She was androgynous, and although sexually predatory she was largely sterile, reflection another Weimar obsession – the declining birth rate. She was highly urban, associated with the big city as a site of vice, crime, and sexual deviance and she was deeply threatening to the established order“ (Sharp, Ingrid: Vom Leben getötet and the Regulations of Sexuality, in: Commodities of Desire. The prostitution in modern German literature, hrsg. von Christiane Schönfeld, Rochester NY 2000, S. 191– 210, hier S. 193). Zum vermeintlichen Problem der zurückgehenden Geburtenzahlen vgl. den vierten Abschnitt des Aufsatzes weiter unten.

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Der Grat zwischen einer modernen Frau, die ihr eigenes Geld verdient und nicht ihr unmittelbares Heil in der Ehe sieht, und einer Prostituierten, die sich hemmungslos an Männer verkauft, war in der öffentlichen Wahrnehmung oft sehr schmal.³⁹ Konsequenterweise musste vor ihr, auch in den populären Romanen der Zeit, mit allen Mitteln gewarnt werden und entsprechend stereotyp wird die Figur im deutschen Zukunftsroman behandelt. Wie der böse Gegner ist sie lediglich ein Moment in der Erzählung, der den Helden von seiner eigentlichen Aufgabe ablenkt, ihn eventuell zeitweise sogar auf Irrwege führt. Olga Surewski wird im Vergleich zu anderen Ausprägungen noch relativ harmlos dargestellt; sie wird einmal als kinderlos beschrieben und ‚natürlich‘ nutzt sie alle Mittel, um an ihr Ziel zu gelangen.⁴⁰ So redet sie beispielsweise mit „flammenden Augen“ auf den Engländer Macmorris ein⁴¹ und veranstaltet ein Diner mit fast märchenhaftem Luxus. Hier war das Reich der Frau, hier liefen die Fäden der Besprechungen [zur Aufteilung der Flugstrecken] aus den männlichen Hirnen in die geschickten Finger einer Diplomatin über, die sich ihrer Stärke bewußt war und willens war, sie zu benutzen.⁴²

Truckbrott fällt auf ihre Reize nie herein oder zweifelt gar an seiner Aufgabe. Jedenfalls zeigt er sich in T 1000 an keiner Stelle von Olga Surweski beeinflusst. Im Gegenteil, er weist sie sofort ab. Anders als die Engländer, die schließlich aufgrund von Olgas Drängen zu früh starten und notlanden müssen. Faktisch halten sich ihre Reize und Erfolge also in Bezug auf den Helden Truckbrott stark in Grenzen. Viel gefährlicher ist hier Ellinor in Erdsternfriede: Ein schlankes Mädchen, dem Ansehen nach kaum sechzehn Jahre alt, zwar, schmalhüftig und feingliedrig, die Haare nach Edelknabenart geschnitten, in einem Grauseidengewand mit Rotsamtverbrämung, das die nackten Arme und die unbekleideten Beine bis zu den Knien sehen ließ.⁴³

Der zeitgenössische Leser konnte diese Beschreibung schnell entziffern: eine Frau, die wenig weiblich erscheint (schmalhüftig, kurze Hosen), einen dekadenten Kleidergeschmack hat und Körperteile zeigt, die nicht in der Öffentlichkeit zu sehen sein sollten (nackte Arme, unbekleidete Beine).Weinhold, der sie öffentlich

 Vgl. Smith, Jill Suzanne: Berlin Coquette. Prostitution and the new German woman, 1890 – 1933, Ithaca NY 2013.  Richter: T 1000 (Anm. 33), S. 32.  Ebd., S. 173 f.  Ebd., S. 175.  Ebd., S. 90.

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Gedichte rezitieren sieht, ist wie gebannt von ihr und geht mit zwei Kollegen sogar hinter die Bühne, um sie persönlich zu sprechen. Sie erklärt sich bereit, sich gegen Geld küssen zu lassen, um am Ende mit Weinhold ganz alleine sprechen zu wollen: Ellinor kam zu ihm, nahm ihn bei der Hand und führte ihn zum Ruhebett. Er mußte sich niedersetzen, sie setzte sich mit ihrem Federgewicht auf seine Knie, ihm beide Arme um die Schultern legend. Dabei blickten ihre Augen tief in seine – Weinhold schien es unmöglich, fest zu bleiben. Mit plötzlicher Bewegung huschelte sie sich ganz nah an ihn, legt mit sanfter Gewalt seine Arme um ihren Hals und drückte seine Rechte an ihre Brust, die Linke legt sie auf ihre Knie.⁴⁴

Dann unterbreitet sie ihr Angebot: Er solle mit ihr einen Monat verbringen, „dann mietet mich wieder Ivo“, ihr Verlobter. Weinhold kann mit „letzter Kraftanstrengung“ fliehen, aber Ellinor verzeiht ihm die Ablehnung nicht und setzt Ivo darauf an, sie zu rächen: So vergewaltigt er die unschuldige Anni, in die Weinhold verliebt ist. Der Vater Annis, Professor Messerschmidt, kann die Tat später mithilfe des Änderstoffs rächen; beide Verbrecher enden erbärmlich. Anni hat keine Erinnerung an diesen Vorfall, Weinhold aber ist ein gebrochener Mann, was ihn allerdings nicht davon abhält, die junge Frau zu heiraten, mit ihr Kinder zu kriegen und gemeinsam alt zu werden. Die sexuelle Gefahr ist offensichtlich. Aufgrund ihrer Reize gelingt es der femme fatale kurzfristig, den Verstand des Helden zu vernebeln. Allerdings schafft sie es nicht, den willensstarken Mann wirklich ins Unglück zu stürzen, wie das Beispiel Weinholds zeigt. Die Begegnung mit der femme fatale bleibt daher auch stets episodisch.⁴⁵ Das ist im Fall der Verbindung mit einer Frau als „Kameraden“ ganz anders. Das Wort „Kamerad“ kommt in T 1000 geradezu inflationär vor und greift ein zeittypisches Bild auf. Es ist die eigentliche Schablone, die für gelungene Geschlechterbeziehung verwendet wird. So sagt Barbara zu Truckbrott, bevor die beiden sich entzweien:

 Ebd., S. 94.  Anders als beispielsweise in dem stilgebenden Film der Zeit, Josef von Sternbergs Der blaue Engel von 1930. Professor Unrat bleibt Lola bis zum bitteren Ende verfallen. Marlene Dietrich personifiziert nicht nur im Film die Verführerin, sondern selbstverständlich auch als gesamte öffentliche Person die femme fatale ikonisch, vgl. dazu Kosta, Barbara: Willing Seduction. The blue angel, Marlene Dietrich, and mass culture, New York NY 2009.

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„Denken Sie daran, wie Sie mich das erstemal mit in die Luft genommen haben, an die kleine Maschine mit den schwachen Drähten. Hat sich seit damals denn soviel geändert? Wissen Sie noch, damals wurden wir Kameraden“.⁴⁶

Und auch Gisela steigt über das Fliegen zum Kameraden auf: Der Elbinger blickte ihm nach. „Mädels sollen nicht fliegen“, sagt er. Da stand der untersetzte Königsberger [Rainer] vor ihm. „Gisela ist kein Mädel“. „Was denn?“ […] „Die Gisela ist unser Kamerad, merk‚ dir das“.⁴⁷

Das gemeinsame Fliegen scheint offenbar Menschen zu Kameraden zusammenzuschweißen und damit eine Beziehung zwischen Mann und Frau zuzulassen, die auf mehr Ebenbürtigkeit angelegt ist. Denn, wie das Zitat zu verstehen ist, dürfen Mädchen offenbar nicht fliegen, Kamerad(inn)en offenbar schon.⁴⁸ Das Bild der Frau als „Kamerad“ ist ein zwiespältiges. Ganz offensichtlich erfährt Gisela damit eine Aufwertung, die sie aus einer eigentlich defizitären Position heraus („Mädels sollen nicht fliegen“) dazu befähigt, für die Fliegerei satisfaktionsfähig zu werden. Ein schönes Beispiel, wie das Konzept des Kameraden gerade in der Jugendbewegung des frühen 20. Jahrhunderts – Gisela und Rainer sind ja beide noch jung, da beide sich in der Ausbildung befinden – entwickelt wurde. Im Diskurs der Jugend in der Weimarer Zeit ging es um die „Gefährtenschaft der Geschlechter“.⁴⁹ Doch wie Klönne herausgearbeitet hat, bedeute die Idee „‚[g]anz Frau‘ und ‚ganz Kameradin‘ zu sein, […] faktisch, das bipolare Geschlechterkonzept in einer, der eigenen Person, auflösen zu sollen, ohne dabei die herkömmlichen sozialen Geschlechtergrenzen verletzen zu dürfen“.⁵⁰ So wurden Geschlechterunterschiede noch mehr betont, weil Frauen auf diese Weise wieder eine von Grund auf mangelhafte Rolle einnehmen mussten: Das Leitbild der ‚Kameradin‘ schloss jeden Gedanken an eine Autonomie von Frauen aus.Wo diese dem Wunschbild einer getreuen ‚Kameradin‘, die sich für den ‚Gefährten‘ und seine

 Richter: T 1000 (Anm. 33), S. 22.  Ebd., S. 73.  In diesem Sinne ist auch das Zitat im Titel dieses Aufsatzes zu verstehen. Mit der Begründung „Unnützes Weiberfleisch können die Motoren nicht tragen“ (ebd., S. 18) lehnt nämlich der Flieger Surewski das Ansinnen seiner Frau, einmal mit ihm fliegen zu dürfen, ab.  Klönne, Irmgard: „Ich spring’ in diesem Ring“. Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung, Pfaffenweiler 1990, S. 257; siehe vor allem das Kapitel „Die ‚Kameradin‘ – ein in der Jugendbewegung mehrheitsfähige Bild“, S. 258 – 264.  Ebd., S. 258.

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Ideale opferte, nicht folgen wollte, bot ihnen die bündische Ideenwelt keine Legitimation mehr.⁵¹

Damit bleibt auch die Beziehung zwischen Rainer und Gisela defizitär. Gisela darf nicht einfach nur eine junge Frau sein, das reicht nicht. Neben dem jugendlichen Kameradschaftsideal gibt es in T 1000 einen weiteren Referenzrahmen für das Konzept einer kameradschaftlichen Beziehung von Mann und Frau: die Kameradschaftsehe.⁵² Die in den 20er Jahren durchaus populäre Idee war, dass sich zwei gleichgestellte Partner zusammentun, die keinerlei Anspruch aufeinander erheben, also auch keine größeren rechtlichen Verbindlichkeiten miteinander eingehen, aber aufgrund von allgemeiner Sympathie ihr Leben zumindest zeitweise miteinander verbringen. Im Sinne der „Neuen Sachlichkeit“ sollte das eine Lösung sein, die – kühl und rational – die neuen Möglichkeiten der Frau (eigenes finanzielles Einkommen aufgrund Berufstätigkeit und Möglichkeiten der Empfängnisverhütung) mit dem Wunsch nach menschlicher Verbindung vereinbart.⁵³ In der Romanliteratur der Zeit gibt es in der Tat eine Menge von modernen Frauen, die sich diesem Ideal verschreiben. Dort beschränkt sich, wie ReinhardtBecker ausführt, „[d]as Selbstbestimmungsrecht der Frau […] nicht auf die Berufswahl, sondern gilt auch für die Geschlechterbeziehung. Sie hat jede Freiheit der Partnerwahl, fühlt sich in der Liebe gleichberechtigt und verfügt über sexuelle Selbstbestimmung“.⁵⁴ Da finanzielle Unabhängigkeit der Schlüssel für den Erfolg dieses Konzepts war, musste allerdings der logische Schluss sein, dass diese Art von Verbindung mit dem Wunsch, eine Familie gründen zu wollen, beendet werden muss. Sobald die Frau Kinder bekam, war selbstverständlich, dass sie die eigene Arbeitsstelle aufgab, was sie wieder vollständig abhängig von ihrem Mann machte. Diese inhärente Logik der „Kameradschaftsehe“ wird in T 1000 ebenfalls beispielhaft abgebildet:

 Ebd., S. 263, siehe dazu auch ihr Fazit S. 275 – 280.  Ausgangspunkt war das Buch von Lindsey, Ben B. / Evans, Wainwright: Die Kameradschaftsehe, Stuttgart 1928.  Vgl. dazu Reinhardt-Becker, Elke: Seelen und oder Partnerschaft? Liebessemantik in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit, Frankfurt am Main 2005. Reinhardt-Becker arbeitet zudem heraus, dass die Idee der Kameradschaftsehe, wie Lindsey und Evans sie entwickelt haben, auch eine stark eugenische Komponente hatte. Hier wurde nämlich zugleich verlangt, dass eine solche Partnerschaft nur erlaubt werden sollte, wenn sich die beiden „Kameraden“ gesundheitlicher Untersuchungen unterzögen, um sicherzustellen, dass auch die körperliche Eignung vorliegt, vgl. dazu S. 265 – 268.  Ebd., S. 222.

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Truckbrott und die Industriellenwitwe Pia Lindth gehen tatsächlich für eine Weile eine gleichberechtigte Partnerschaft ein. Auch weil Pia den Traum Truckbrotts, das erste funktionsfähige Riesenflugzeug zu bauen, durch das Erbe ihres verstorbenen Mannes finanzieren kann. Doch gerade das stellt für den Ingenieur ein Problem dar: „Pia, ich weiß, daß der Mann einen Kameraden braucht, der ihn fördert – und ich wollte mir keinen besseren Kameraden wünschen, wenn – wenn – wenn Sie nicht so ungeheuer reich wären“. Sobald Pia vom Heiraten spricht, verlässt er sie daher auch konsequenterweise. Eine solche „Kamerad(in)“ darf nur eine Episode bleiben, als Ehefrau und Mutter taugt sie nicht. Am Ende muss also konstatiert werden, dass der Begriff der „Kameradschaft“, der in den deutschen Zukunftsromanen gern für die Beschreibung der Geschlechterbeziehungen verwendet wird, nur auf dem ersten Blick eine emanzipatorische, weil vermeintlich egalitärere Konnotation hat.⁵⁵ Tatsächlich erlaubt die Idee der ebenbürtigen Verbindung als Kameraden, wie die Charaktere in T 1000 illustrieren, weder der Jugend, sich wirklich auf Augenhöhe zu begegnen, noch im Erwachsenalter eine stabile Form von gleichberechtigter Partnerschaft zu entwickeln. Konsequenterweise muss daher auch im Bereich der Ingenieursphantasie noch ein letzter Dialog von Rainer und Gisela beim gemeinsamen Flugerlebnis zitiert werden, der bei aller Kameradschaft die eigentliche Natur der Geschlechterbeziehung wieder ins rechte Licht rückt: „Jetzt sind wir ganz allein, so richtig, wie ein Mann und eine Frau zusammensein müssen. Ich halte das Steuer und lenke“. „Und ich glaub an Dich“.⁵⁶

 Zusätzlich, aber hier nebensächlich zu den beschriebenen Konzepten von jugendbewegter und eheähnlicher Kameradschaft beherrschte natürlich noch eine andere Vorstellung von Kameradschaft den Diskurs der Weimarer Zeit und prägte damit auch die Nazizeit vor, und zwar die der militärischen Kameradschaft.Wie Kühne darstellt, wurde die Idee des „Kameraden“ in diesem Konzept als klare Abgrenzungsmöglichzeit von Männern gegenüber dem anderen Geschlecht verwendet. Frauen konnten in diesem Sinn niemals zu „Kameraden“ werden, weil ihnen die Erfahrungen des Krieges fehlte; Kühne, Thomas: Kameradschaft – „das Beste im Leben des Mannes“, in: Geschichte und Gesellschaft Jg. 22, 1996, S. 504– 529.  Richter: T 1000 (Anm. 33), S. 74.

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Exkurs: Ausnahmen im Geschlechterpanoptikum Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass es auch einige Ausnahmen in den bisher vorgestellten Typologien und Stereotypen gibt. Zwei sollen an dieser Stelle kurz vorgestellt werden: Es handelt sich zunächst um einen der wenigen Romane, der von einer Frau geschrieben wurde: Frau im Mond ⁵⁷ von Thea von Harbou; und dann um einen Roman, in dem tatsächlich eine Frau die Heldin der Geschichte darstellt: Der Ritt auf dem Funken⁵⁸ von Joseph Delmont.⁵⁹ Beide sind 1928 erschienen. Thea von Harbou,⁶⁰ die in den 20er Jahren eine kongeniale berufliche wie private Partnerschaft mit Fritz Lang, dem prägenden UFA-Regisseur, einging, zeichnet mit Frau im Mond nicht nur verantwortlich für die Romanvorlage des gleichnamigen Films, sondern sie schrieb neben vielen weiteren Klassikern (Dr. Mabuse, der Spieler, Die Nibelungen und M – Eine Stadt sucht einen Mörder) ebenfalls die Vorlage für Metropolis, das großmächtige Zukunftsepos über den Klassenkampf zwischen Arbeiter und Kapital.⁶¹ Sie war eine der wenigen Frauen, die Zukunftsromane in der Zwischenkriegszeit verfasste.⁶² In dem Roman kommen verschiedene Figuren zusammen, um gemeinsam zum Mond zu fliegen: Leiter der Expedition ist der Erfinder Wolf Helius, der beim Bau der Rakete von seinem Assistenten, Hans Windegger, unterstützt wird. Dieser hatte sich gerade mit Friede Velten, gleichfalls Assistentin, verlobt. Helius ist allerdings ebenfalls (unglücklich) in Friede verliebt. Des Weiteren tritt Professor Manfeldt die Reise an, der aufgrund der These, dass es auf dem Mond Gold gibt, schon seit langem wissenschaftlich diskreditiert und daher verarmt ist. Schließlich nehmen noch Walt Turner, ein Gauner, der durch unlautere Mittel die Mitfahrt

 Harbou, Thea von: Frau im Mond, Berlin 1928.  Delmont, Joseph: Der Ritt auf dem Funken, Berlin 1928.  Kristin Platt sei an dieser Stelle für den Hinweis auf diesen besonderen Roman gedankt.  Eine eher populärwissenschaftlich gehaltene Biographie zu Thea von Harbou findet sich in Hoffmann, Horst: Frauen im All. Visionen und Missionen der Raumfahrt, Berlin 2002, S. 56 – 74.  Eine Gesamtschau auf Harbous Werk liefert Bruns, Karin: Kinomythen 1920 – 1945. Die Filmentwürfe der Thea von Harbou, Stuttgart 1995; zu Harbous Zusammenarbeit mit Lang und besonders der Produktion von Metropolis und Frau im Mond siehe Geser, Guntram: Fritz Lang – ‚Metropolis‘ und ‚Frau im Mond‘. Zukunftsfilm und Zukunftstechnik in der Stabilisierungszeit der Weimarer Republik, Meitingen 1996.  Weitere Romane, die ermittelt werden konnten, sind Annie Harrars Die Feuerseelen (1923) und Die Raketen-Reise nach dem Mond (1928) von Junior Caelestes (Pseudonym von Elisabeth Pfau). Löschel erwähnt des Weiteren noch Marga Passons Der rote Stern (1921), den die Autorin dieses Aufsatzes eher in den Bereich der Fantasy einordnen würde; zu allen drei Romanen vgl. Löschel, Rolf: Utopias Geschlechter. Gender in deutschsprachiger Science Fiction von Frauen, Sulzbach 2012, Kapitel 4.1 „Maria und der Herr der Schöpfung – Weimarer Republik 1918 – 1933, S. 80 – 112.

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für ein internationales Syndikat erzwingt, und Gustav, ein kleiner Junge, der sich – durch Groschenhefte animiert – heimlich in die Rakete schleicht, an der Reise teil. Das Zusammenfinden der Gruppe und die Vorbereitungen zum Flug nehmen die Hälfte des Romans ein. Unter größten körperlichen und mentalen Anstrengungen gelingt der Aufstieg und Durchbruch ins All. Nach erfolgreicher Landung auf dem Mond, der eine atembare Atmosphäre bietet, werden die Nerven aller Beteiligten stark auf die Probe gestellt: Manfeldt wird aufgrund des vorhergesehenen Goldfundes wahnsinnig, Windegger erkennt, dass Friede in Wirklichkeit Helius liebt, und Turner ruiniert die Sauerstoffleitung der Rakete, bevor er von Helius erschossen wird. Am Ende ist klar, dass wegen des Sauerstoffverlusts nicht mehr alle zurückfliegen können. Helius opfert sich heldenhaft, um feststellen zu dürfen, dass auch Friede sich für ihn und gegen eine Rückkehr zur Erde entschlossen hat. Ihre Erklärung auf die Frage „Friede, was hast du getan – ?!“: „Die Wahrheit“, sagte das Mädchen. „Ich habe die Wahrheit getan. Begreifst Du mich nicht? Die Wahrheit ist, daß ich lieber mit dir in den Wüsten des Mondes sterben will, als ohne dich leben in den Paradiesen“.⁶³

Der Film zu dem Buch war für die damalige Zeit eines der größten kinematografischen Projekte überhaupt und wurde mit großer Aufmerksamkeit, auch wegen der technischen Details, von der Presse und Fachgemeinde beobachtet.⁶⁴ Doch die technischen Fragen sollen in diesem Beitrag nicht im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr, ob und inwiefern die Art und Weise, wie über Geschlechterbeziehungen gesprochen wird, von der eines männlichen Autoren abweicht. In jedem Fall ist die Geschichte sehr geprägt von der Dreiecksbeziehung zwischen Friede und den beiden Raketenbauern. Wobei auch in T 1000 die persönliche und damit auch die emotionale Situation besondere Aufmerksamkeit erfährt, was also kein spezifisches Merkmal des Romans von Thea von Harbou darstellt. Immer wieder wird Friede in besonderer Weise als energische, aber doch engelsgleiche Person beschrieben.⁶⁵ Auch was ihre Rolle in der Handlung anbe-

 Harbou: Frau im Mond (Anm. 57), S. 210.  Im Jahr 1929/30 war der Film Frau im Mond der erfolgreichste der Saison; vgl. Fisher, Peter S.: Fantasy and Politics. Visions of the future in the Weimar Republic, Madison WI 1991, S. 141.  So zum Beispiel Harbou: Frau im Mond (Anm. 57), S. 47: „Der köstliche Bronzeton von Friedes Freilufthaut war einer perlmutternen Durchsichtigkeit gewichen“. Und weiter unten: „‚Genug, genug – !‘ rief das Mädchen und schüttelte den Kopf daß sein morgenblondes Haar einen gleißenden Triumphbogen um seine ungestüme und kriegerische Magdlichkeit bildete“. Oder auch S. 74: „Durch die offene Fenster schmeichelte sich die Luft und war zärtlich mit Friedes Haar, mit

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langt, weicht sie erst einmal nicht vom Stereotyp der weichen femininen Frau, die anlehnungsbedürftig und gefühlsbetont ist, ab.⁶⁶ So wird bei dem Start der Rakete beispielsweise deutlich, dass sie, die Assistentin, nichts von der dahinterstehenden Technik versteht: Seit sie zum ersten Male durch Helius und Windegger mit dem Problem der Weltraumschiffahrt in Berührung gekommen war, hatte das Gespensterwort vom Andruck wie ein nicht zu vertreibender Schatten des Grauens hinter allen Gesprächen gelauert. Aber sie hatte sich nie etwas Greifbares darunter vorzustellen vermocht.⁶⁷

Und tatsächlich erlebt man sie nur bei typisch weiblichen Verrichtungen. Sie macht für alle „im Angesicht des ganzen Sonnensystems das erste Frühstück im Weltraumschiff“⁶⁸ und verbindet später die schwer verbrannten Hände von Helius.⁶⁹ Doch zugleich zeigt sie sich bei der physischen Extremerfahrung des Raketenflugs deutlich nervenstärker als ihr Verlobter.⁷⁰ Die Strapazen des Weltraumflugs haben Windegger sogar so aufgewühlt, dass er, anders als Friede, angesichts der Schwierigkeiten, mit denen die Gruppe auf dem Mond konfrontiert wird, das ganze Unternehmen infrage stellt. Friede wiederum bleibt unerschütterlich: „Ich fühle das Feindliche dieser Landschaft auch, aber ich weiß, ich werde es überwinden. Ich werde mir diese Berge und diese Wüste und das Unbekannte, das jenseits der Berge liegt, zu eigen machen“.⁷¹

So gesehen ist es konsequent, wenn sie mit Helius auf dem Mond bleibt. Allerdings wird im Roman am Ende diese Entscheidung ausschließlich privat, nämlich mit den Gefühl Friedes für Helius, begründet (siehe obiges Zitat). Das vorher zugeschriebene Interesse an dem Unbekannten wird nicht mehr erwähnt. Damit bleibt Friede im besten Fall eine ambivalente Person, die einerseits engelsgleich und andererseits auch sehr nervenstark und entschlossen ist. Die Entschlossenheit führt allerdings nur dazu, dass sie sich für einen der beiden Männer entscheidet. Sie erfüllt damit dann doch nur das gängige Geschlechterklischee des

diesem morgenblonden, rückwärtsströmenden Haar, das dem Mädchengesicht soviel Vorwärtsstürmendes gab“.  Vgl. dazu auch Löschel: Utopias Geschlechter (Anm. 62), S. 108.  Harbou: Frau im Mond (Anm. 57), S. 123 f.  Ebd., S. 113.  Ebd., S. 154.  Löschel betont zugleich, dass es sich hier um eine „weiblich“ konnotierte Form des Mutes handelt.  Harbou: Frau im Mond (Anm. 57), S. 175.

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Weiblichen als reines (gefühlsmäßiges) Komplement zum Männlichen, ohne eigenständige Wünsche und Ziele.⁷² Die Geschichte kann daher aus Sicht der Verfasserin dieses Artikels nicht als eine emanzipatorische gelesen werden, sondern vielmehr als eine, die sich doch gut in den Kanon der anderen Zukunftsromane einfügt. Diese Beobachtung soll Harbous Bedeutung als eine der wenigen Frauen, die im Filmgeschäft damals (und bis heute) eine sehr einflussreiche Rolle gespielt haben, nicht schmälern. Aber als eine besondere Ausnahme für den deutschen Zukunftsroman kann sie in der Geschlechterfrage nicht herangezogen werden. Auch der Österreicher Joseph Delmont kommt ursprünglich aus dem Filmgeschäft,⁷³ allerdings hatte er bereits Mitte der 20er Jahre sein Engagement zugunsten der Schriftstellerei an den Nagel gehängt. Delmont legt mit Ritt auf dem Funken einen ganz besonderen Roman vor, denn er thematisiert explizit die Rollenvorstellungen der Geschlechter in seiner Zeit. Protagonistin ist hier Aloisa Hacker, die früh verwaist ist und von ihrem Vormund Geheimrat Pfleiderer bedingungslos unterstützt wird. Aloisa hat von ihrem Großvater viel technischen Sachverstand vermittelt bekommen und langweilt sich entsprechend in der Schule. Zielstrebig versucht sie, eine Möglichkeit zu finden, in einer technischen Anstalt „Mechanist“ zu werden. Allerdings wird ihr in allen Einrichtungen, an denen sie sich bewirbt, mitgeteilt, dass „die Aufnahme von weiblichen Studierenden unstatthaft“ sei.⁷⁴ Mit Hilfe des Vormunds, der ihr gefälschte Papiere besorgt, kann sie sich schließlich im Technikum Untersberg als „Alois Hacker“ und damit als Mann einschreiben. Es folgt eine kurze Lehrzeit, die davon geprägt ist, dass Alois zwar ein sehr guter Student ist, aber ansonsten eher ein Außenseiter, weil er das Zusammensein mit den Kommilitonen vermeidet. Er setzt durch, nicht im großen Schlafsaal schlafen zu müssen, und kann sich dadurch ein Zimmer in der Stadt nehmen. Doch schon bald zeigt sich, dass die begabte Technikerin weiterhin unterfordert ist. Sie beendet vorzeitig ihr Studium, richtet sich ein eigenes Laboratorium ein, und beginnt, bald unterstützt von dem amerikanischen Wissenschaftler Sidney Montford, die Entwicklung ihrer

 Oder, wie Bruns ausführt, der Roman schildere die „Austreibung des Phantastischen und Unheimlichen [des Weiblichen] zugunsten wissenschaftlich-technischer Authentizitätseffekte“; Bruns: Kinomythen 1920 – 1945 (Anm. 61), S. 104.  Zu seinem filmischen Leben vgl. Hinrichs, Ronald: Joseph Delmont. Meister der Sensationen, in: Pioniere in Celluloid. Juden in der Frühen Filmwelt, hrsg. von Irene Stratenwerth und Hermann Simon, Berlin 2004, S. 130 – 137. Außerdem gibt es über Delmont eine populärwissenschaftlich gehaltene Biographie von Winkler, Gerhard: Joseph Delmont 1873 – 1935. Abenteurer – Filmer – Schriftsteller, St. Pölten 2005.  Delmont: Ritt auf dem Funken (Anm. 58), S. 7.

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großen Erfindung: die Möglichkeit, auf elektrischen Wellen „reiten“ und damit durch die Luft fliegen zu können. Die Entwicklung dieser Erfindung gestaltet sich naturgegeben nicht ganz einfach, zumal sich als besondere Schwierigkeit noch dazu ergibt, dass sie, da sie in ihrer Heimatstadt Graz nicht mehr gesehen wird, als von ihrem Vormund verschleppt gilt, weswegen die Polizei ermittelt. Der Roman verwendet relativ viel Zeit auf die Schilderung der Turbulenzen, die sich durch ihr Untertauchen und in dessen Folge ihres Vormunds ergeben. Die eigentlichen Erfindungen – neben besagter Flugmöglichkeit gehören dazu noch eine Batterie, die wie schon in Erdsternfrieden durch Laufkraft aufgeladen wird, ein Bildfernsprecher und vor allem auch die Möglichkeit, mit Elektrizität das Wetter zu beeinflussen – werden wie so oft nicht im Detail technisch beschrieben. Kurz vor Ende der Geschichte fliegt Aloisas Tarnung auf, aber sie ist inzwischen mit ihren Erfindungen weit genug, um in einem großen Finale der gesamten Welt mitzuteilen, dass sie fortan die Lüfte beherrschen kann und ihre Erfindungen der Menschheit nur zur Verfügung stellt, wenn sich Weltfrieden einstellt und Österreich sich mit Deutschland vereinigen darf. Der Roman ist einerseits geprägt von einer humorigen Stimmung, die sich vor allem an der Person des Vormunds Pfleiderer, seiner Haushälterin und seinen Haustieren sowie den Umständen seiner langen Flucht vor der Polizei festmachen lässt. Die Figur der Aloisa Hacker ist andererseits sehr determiniert in ihren Zielen, zuerst Technik studieren zu können und später dann auch die alles revolutionierende Erfindung zu machen. Die Geschlechterfrage wird hier mehrmals auf verschiedenen Ebenen thematisiert: Als sie die Zusage des Technikums erhält, setzt Loisi, so ihr Spitzname, alles daran, eine jungenhafte Figur und ein männliches Auftreten zu bekommen, was ihr nur teilweise gelingt: Tag für Tag trainiert Loisi, um alles überschüssige Fett abzuwälzen. Sie trieb systematisch Körpergymnastik und erhielt die schlanke Linie, die sie sich gewünscht, und doch, trotz Herrenkleidung und Herrenschuhe, trotz des äußerst kurzen Haarschnitt war ein Irgendetwas an ihr, das den Beobachter stutzig machte.⁷⁵

Sie kompensiert dieses „Irgendetwas“ schließlich mit besonderer Ruppigkeit und sucht explizit den Streit mit älteren Kommilitonen, was ihr den entsprechenden Respekt verschafft, aber zugleich auch die nötige Distanz zu ihnen erlaubt. Ihr eigentliches fachliches Interesse entwickelt sie aber erst, als aus Amerika Sidney Montford erscheint, dessen Spezialgebiet die Elektrizität ist und der in Alois Hacker einen vielversprechenden Studenten sieht.

 Ebd., S. 44.

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Einerseits wird es immer schwieriger für Aloisa, ihre Tarnung aufrecht zu erhalten, denn sie entwickelt tatsächlich Gefühle für Sidney Montford, doch gleichzeitig fürchtet sie weiterhin, an der Vollendung ihrer Erfindung gehindert zu werden, wenn ihr Versteckspiel aufgedeckt würde. Dass sie damit recht hat, zeigt sich an folgendem Dialog, den Alois, inkognito, im Zug mit einem Mitreisenden hat: „Und überhaupt, muß denn just ein Mann Erfinder sein, kann es nicht auch eine Frau gewesen sein?“ „Junger Mann“, schrie der andere […], „junger Mann, hier handelt es sich weder um eine Gesichtscreme, noch um einen Büstenhalter oder Punktroller! Solche blödsinnigen Dinge kann vielleicht eine Frau erfinden, und die nicht mal“.⁷⁶

Tatsächlich fliegt ihre Tarnung bald darauf auf. Auch weil man im Technikum inzwischen gemerkt hatte, dass man ein Jahr zuvor die inzwischen verschwundene Aloisa Hacker abgelehnt hatte. Trotzdem versucht Aloisa weiterhin, die Wahrheit zumindest vor Montford zu verbergen. Sie muss befürchten, dass dieser dann die weitere Zusammenarbeit verweigert. Doch auch der Amerikaner weiß schon länger Bescheid. Nachdem Aloisa der Öffentlichkeit ihre neue Erfindung gezeigt und ihre Forderung zur friedlichen Nutzung bekanntgegeben hat, offenbaren sie sich gegenseitig und können am Ende offiziell heiraten. Das eigentlich Bemerkenswerte an dieser Cross-Dressing-Geschichte ist das Ende: Anders als sonst in den Zukunftsromanen geht Aloisa nicht davon aus, nun brave Hausfrau für Montford zu sein. Im Gegenteil: Kurz vor der Hochzeit formuliert sie ihren Zukunftstraum wie folgt: Sie hatte das Höchste erreicht und es wurden ihr Ehrungen zuteil, wie noch niemals einem Sterblichen. Weiter wollte sie auf diesem Weg wandern. Doch erst mußte sie mit Sidney Montford vereint sein. Nicht rasten wollte sie dann, bis sie den Menschen das Leben leicht gemacht, sie von aller Erdennot befreit hatte.⁷⁷

Delmont spielt in Ritt auf dem Funken also durchaus immer wieder mit der Frage nach Geschlechterrollen, auch Fragen der Sexualität werden thematisiert, wenn zum Beispiel Alois, überglücklich als der erste Flug eines Gegenstands gelingt, die Tochter des Vermieters „busserlt“ und diese sich ein bisschen in ihn verliebt. Oder auch, wenn der Autor immer wieder das körperliche Erscheinungsbild des Alois thematisiert, der sehr abgemagert wirkt. Aber das Ganze bleibt in einem leichten, unterhaltsamen Ton gehalten. Weder Aloisa noch Montford sehen ihre sexuelle Identität infrage gestellt, noch werden etwaige homoerotische Gefühle ernsthaft  Ebd., S. 209.  Ebd., S. 345.

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problematisiert. Allenfalls klingt noch der Diskurs an, was überhaupt – gerade auf der körperlichen Ebene – Frauen von Männern unterscheidet. Delmont benennt explizit, dass es in der gegenwärtigen Gesellschaft für Frauen keine andere Möglichkeit gibt, einen technischen Beruf zu wählen. Beides schließt an die allgemeine Diskussion um die drohende „Vermännlichung“ der Frauen an, die Delmont aber gegen die übliche Lesart nicht als Bedrohung sieht.⁷⁸ Auch wenn die Reflexionstiefe seiner Erzählung nicht besonders weit reicht, stellt Der Ritt auf dem Funken damit eine bemerkenswerte Ausnahme im Tableau der Zukunftsromane dar.

4 Rasse, Sexualität und Fortpflanzung im Zeitalter der Weltraumflüge War noch, wie bei Richter oder Harbou, der Bau eines Fluggeräts allein aufregend genug für den Zukunftsroman der 1920er Jahre, so gehen die Autoren in den 1930er Jahren einen Schritt weiter.Vermehrt kommen nun Romane auf den Markt, die nicht nur einen Flug in den Weltraum imaginieren, sondern eine Tradition wieder aufgreifen, die bereits 1897 durch Kurd Laßwitz und seinen Roman Auf zwei Planeten große Popularität erfahren hatte: die Begegnung mit außerirdischem Leben. Das birgt wiederum deutlich größeren Gestaltungsspielraum bezüglich der Geschichten, nicht nur im Bereich der Technik und Kultur, sondern auch in Fragen des Miteinanders der Geschlechter oder gar verschiedener Rassen. Als Beispiel soll hier W. F. Eickermanns⁷⁹ Großmacht Saturn ⁸⁰ von 1938 vorgestellt werden. Professor Karshorst und Dr. Bernt Schröder heißen hier die beiden Helden, die sich zu den neuen Welten aufmachen. Karshorst (verheiratet und Vater einer Tochter, Hilde) ist dabei der alte, erfahrene Wissenschaftler, während Schröder eher der junge und entschlossene Entdeckergeist ist. Letzterer liebt heimlich Hilde, hat sich ihr aber noch nicht offenbart, weil diese vermeintlich bereits dem Assistenten Karshorsts, einem Mister Brown, versprochen ist. Ihn hält also nichts auf der Erde und so brechen beide Ende des dritten Jahrtausends zum Saturn auf, nachdem man dort aufgrund seltsamer Lichtsignale intelligentes Leben vermutet.

 Vgl. dazu Sutton, Katie: The Masculine Woman in Germany, New York NY 2011.  Zu Wilhelm Friedrich Eickermann (geboren 1900) konnten keine weiteren biografischen Informationen ermittelt werden.  Eickermann, Wilhelm Friedrich: Großmacht Saturn, Berlin 1938.

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Die Reise wird unspektakulär beschrieben, während die Landung dagegen sogleich die Begegnung mit fremden Wesen bringt, die primitiv erscheinen und mit ihrer Vollbehaarung eher Affen als Menschen ähneln. Wie die beiden Weltraumfahrer später erfahren, sind diese Lebewesen Hinterbliebene von Bewohnern eines der Saturnmonde, Japetus, die nach einem missglückten Angriff auf dem Planeten zurückgeblieben waren und dort nun in Gefangenschaft leben müssen. Die eigentlichen Saturnbewohner, das stellen die beiden Weltraumfahrer schnell fest, sind hingegen große, elegante Wesen, die den Menschen technologisch weit überlegen sind. Sie kommunizieren nur noch gedanklich und sind aufgrund von riesigen Energievorkommen in der Lage, so gut wie alle Stoffe und Geräte aus dieser Energie herzustellen. Doch jenseits der technologischen Errungenschaften zeichnet sich die Saturngesellschaft vor allem durch ein besonderes Gesellschaftsmodell aus, das Frieden und Wohlstand garantiert. Als es Assu, einem Saturnbewohner, der seitdem als gottgleich verehrt wird, 2.000 Jahre zuvor gelungen war, mit Hilfe von Mondsteinen einen der Ringe des Saturn auf ewig zu erleuchten, stellten alle Saturnbewohner ihr Leben in den Dienst der Gesellschaft. Die Jugend wird in den ersten 50 Lebensjahren darauf hin erzogen, sich zu bilden und zu lernen, um sich dann mit einem ihnen zugedachten Partner zu einem bestimmten Zeitpunkt zu vermählen. Nachdem auf diese Weise Nachkommen entstanden sind, können die Saturnier die nächsten 950 Jahre in großer geistiger Freiheit leben, um schließlich ihren Dienst in der Kraftwerkszentrale des Leuchtrings durch Selbstzerstörung zu vollenden. Leider führt diese Lebensform inzwischen auch zu nachteiligen Effekten: Die Saturnwelt droht auszusterben, weil die Fruchtbarkeit immer stärker nachlässt und immer weniger Kinder geboren werden. Man ist daher den beiden Erdenforschern gegenüber sehr offen und aufgeschlossen, und hofft auf eine Lösungsmöglichkeit für diese existenzbedrohende Entwicklung. Besonders Schröder stößt sich tatsächlich an der von Karshorst als ideale Gesellschaftsform gepriesenen Kultur, die dem Geistigen allen Vorzug vor dem Körperlichen zu geben scheint. Schröder wehrt sich aufgrund seines eigenen noch jugendlichen Alters gegen diese strikte Bevormundung. Er verbringt viel Zeit mit der jugendlichen Saturngeneration. Er lehrt die jungen Frauen, Gefühle zu erleben und Freude an Wort und Musik zu haben. Den jungen Männern hingegen zeigt er Kampfspiele und übt mit ihnen die körperliche Ertüchtigung. Die Saturnweisen beobachten diese Entwicklung mit Skepsis, da sich im Laufe der erzählten Geschichte die Jugend immer mehr gegen die Tradition wendet. Als die Saturngemeinschaft endlich beschließt, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, zeigt sich, wie bedeutungsvoll das physische Training für die Saturngesellschaft war: Von Japetus erfolgt ein weiterer Angriff und dank der nun

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vorhandenen Fitness der Jugend kann dieser Angriff erfolgreich niedergeschlagen werden. Als Konsequenz dieser Erfahrung integrieren die Saturnbewohner wieder körperliches Training in die Ausbildung. Schröder und Karshorst realisieren nach diesem Abenteuer, dass ihre Aufgabe auf Saturn erst einmal beendet und es an der Zeit ist, zur Erde zurückzukehren. Sie nehmen den saturnischen Abgesandten Terranus mit. Zu dritt landen sie in der „Sylvesternacht des Jahres Dreitausendunddrei […] auf dem Berliner Flughafen […] und [leiten so] das saturnische Zeitalter der Erde ein“.⁸¹ Dieses Ende lässt eigentlich eine Fortsetzung erhoffen, die allerdings nach meinen Recherchen nicht geschrieben wurde. Die Geschlechterfrage wird von Eickermann in der Beschreibung der fremden Gesellschaft durchaus immer wieder thematisiert. Abgesehen von den jugendlichen Frauen, besonders der hübschen Diana, spielen Frauen in der fremden Gesellschaft zuerst nur eine sehr ungeordnete Rolle. Sie schneidern die „kostbare Kleidung“ der Saturnmänner und leben „abgeschieden von allem saturnischen Leben in ihren Rundhäusern“.⁸² Sie sind damit kein Teil des öffentlichen Lebens, was sogar Schröder verwundert: „Sagen Sie, Professor“, fragte Schröder ernst, „warum sieht man in Titans [Gastgeber der beiden] Haus außer der jungen Eheschülerin [Diana] keine Frauen? Es muß doch Frauen geben?!“⁸³

Die Erklärung folgt etwas später: Grund für das getrennte Leben der beiden Geschlechter ist Assus Verbot des Opfertods der Frauen im Lichtringkraftwerk.⁸⁴ Als Konsequenz wurden sie damit aber zugleich auch aus dem öffentlichen Leben auf Saturn verbannt: „‚Vielleicht ahnt ihr jetzt auch, warum unsere Frauen ein anderes Leben führen müssen? Weil wir sie vor jeglichem Opfer bewahren wollen‘“.⁸⁵ Überraschenderweise führt der Krieg zwischen Saturniern und Japetusmenschen dazu, dass die Frauen sich von dieser Marginalisierung befreien können. Tatsächlich tragen gerade auch die jungen Frauen maßgeblich zum Sieg der Saturnier bei. Konsequenterweise fordern sie daher im Anschluss eine gleichberechtigte Behandlung auch in der Frage des Opfertods in den Lichtringwerken ein:

    

Ebd., S. 254. Ebd., S. 79 f. Ebd., S. 71. Ebd., S. 147. Ebd., S. 145.

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Auch die Frauen waren [bei der Abschiedsveranstaltung für die Erdfahrer] vertreten. Sie hatten dieses Recht, seit sie sich in den Lichtkraftwerken opferten, damit der Lichtring weiter leuchtete, wenn die Männer kämpften.⁸⁶

Ein natürlich zweifelhafter Sieg in der Gleichstellung und es stellt sich ein wenig die Frage, ob das schon Vorboten des Versuchs waren, angesichts virulenter Kriegspläne Wehrhaftigkeit im deutschen Volk herzustellen. Trotzdem bleibt als Beobachtung festzuhalten, dass Eickermann offenbar die Romangeschichte nicht nur genutzt hat, um die Bedeutung der Jugend für eine Gesellschaft zu thematisieren, sondern in der von ihm fantasierten wehrhaften Gesellschaft auch die Frage nach der Rolle der Frau gestellt und zumindest dahingehend positiv beantwortet hat, dass es keine Lösung sein kann, diese in den privaten Raum zu verbannen. Neben dieser allgemeinen Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter stellt sich allerdings noch eine zweite Frage: Dürfen Menschen unterschiedlicher Rasse überhaupt ein Paar werden? Eickermann spielt durchaus mit der Option, dass der Fortbestand der saturnischen Gesellschaft durch eine Verbindung zwischen dem Erdling Schröder und der Saturnierin Diana gesichert werden könnte. Doch bevor diese Option überhaupt diskutiert wird, eröffnet Eickermann die Fragestellung mit der Beschreibung eines eher missglückten Experiments einer interstellaren Verbindung zwischen einem Japetusbewohner und einer Saturnfrau. Die so gezeugte „Haarfrau“, die bis zu Hüfte wie eine Frau aussieht und auf der unteren Köperhälfte die Behaarung der Japetusaffen trägt, ist eine der ersten, denen die Erdenmenschen überhaupt begegnen. Aufgrund der Tatsache, dass sie aus beiden Kulturkreisen stammt, war sie nämlich die Einzige, die die vom letzten Angriff gefangenen Japetusbewohner beherrschen konnte. Erst als sie im Laufe der Geschichte verstirbt, wird die Revolte möglich. Später stellt sich heraus, dass auch sie es war, die bedeutende Geheimnisse an Japetus verraten hatte und sich daher mitverantwortlich für den Aufstand machte. Es wird klar, dass weitere Verbindungen zwischen den beiden Völkern aus der Sicht der Saturnmenschen nicht wünschenswert sein können. Im Fall der Haarfrau wird das aus der Logik des Romans vor allem damit begründet, dass sich hier zwei nicht wirklich kompatible Rassen vereinigt hatten.⁸⁷ Gleichzeitig wird eine andere, erfolgversprechendere Liebeskombination eingeführt. Schröder fühlt sich nämlich sehr zu Diana hingezogen. Und da die Erdenbewohner schnell der freundlichen Aufnahme in die Saturngesellschaft für

 Ebd., S. 239.  In der Erzählung wird den Japetusmenschen durchaus Intelligenz zugesprochen, wenngleich keine „schöpferische“ (ebd., S. 157).

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würdig befunden werden, hofft besonders Titan, dass sich die Fortpflanzungskrise der Saturnbewohner mit Hilfe einer Vermählung von Diana und Schröder lösen lässt: Aus dieser Ehe konnte ein neues Saturngeschlecht wachsen.Vielleicht waren Diana und der Erdenmensch Ahnen der saturnischen Zukunft?⁸⁸

Und auch Schröder denkt über eine Vereinigung mit Diana nach: Seit er sie kannte und sie unter dem Träufelbaum in ihrer göttlichen Schönheit gesehen hatte, zog es ihn immer zu ihr hin. Ein gefährliches Abenteuer, diese schöne, fremdartige Frau eines erdenfernen Planeten zu begehren und von ihrer Liebe zu träumen, nur weil sie ihm anders als die Frauen der Erde erschien!⁸⁹

Es kommt zu einem inneren Kampf der Gefühle, zumal sich auch Diana zu ihm hingezogen fühlt. Doch am Ende erkennt Schröder schließlich, dass seine eigentliche Liebe Hilde, der Tochter seines Mentors Karshorst, gehört, und verzichtet auf Diana. Diese nimmt den ihr ursprünglich zugedachten Saturnmann zum Gefährten, der gestählt durch den Kampf mit den Japetusmenschen nicht nur zum Anführer der nun kriegerischen Saturnjugend wird, sondern auch sogleich Diana schwängert. Damit hat Schröder nicht nur die Leidenschaft in die Saturnwelt zurückgebracht, sondern auch mit Hilfe von Ertüchtigung im Kampf die Fertilität erhöht, sodass keine weiteren Sorgen bezüglich des Fortbestands der Saturngesellschaft bestehen. Der Roman beweist, ganz gemäß der Kultur-Natur-Debatte,⁹⁰ dass die ganzen technischen Errungenschaften der Saturngesellschaft überhaupt nichts nützen, wenn zugleich Natürlichkeit und Körperlichkeit vernachlässigt werden. Erst durch das Stahlgewitter des Krieges werden die vergeistigten Saturnier wieder ein gesundes Volk. Und so können „[d]ie Untersuchungen der Ärzte und Biologen [ergeben], daß die natürliche Fruchtbarkeit der Saturngeschöpfe in den unwirt-

 Ebd., S. 135 f.  Ebd., S. 131.  Vgl. dazu Berghoff, Hartmut: „Dem Ziele der Menschheit entgegen“. Die Verheißungen der Technik an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, hrsg. von Ute Frevert, Göttingen 2000, S. 47– 78; sowie Willeke, Stefan: Die Technokratiebewegung in Nordamerika und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Eine vergleichende Analyse, Frankfurt am Main u. a. 1995; und Technische Intelligenz und „Kulturfaktor Technik“. Kulturvorstellungen von Technikern und Ingenieuren zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Burkhard Dietz, Michael Fessner und Helmut Maier, Münster u. a. 1996.

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schaftlichen [sic!] Gegenden am stärksten sei“.⁹¹ Konsequenterweise lebt die Saturnjungend zukünftig an den unwirtlichen Polen, wo sie die Japetusmenschen dauerhaft und im harten Kampf unterjochen. Wie schon in der Geschichte um die Haarfrau angedeutet, sieht Eickermann in der Auffrischung des Genpools, etwa durch die Verbindung zwischen Schröder und Diana, keine Alternative zur Verbesserung der geschwächten Fruchtbarkeit der Saturnier. Diana erkennt selbst: „Immer muß ich ihn lieben. Aber ich muß auch auf ihn verzichten! Zu tief ist die Kluft, die unsere Welten trennt. Und was die Natur zwischen die Planeten gelegt hat, kann ein noch so heißes Herz nicht überwinden“.⁹²

Die Haarfrau, Schröder und Diana stehen damit beispielhaft für einen Diskurs um Prokreation, Bevölkerungspolitik und Eugenik, der sich bereits vor 1900 ausgebildet hatte, aber für die 20er und 30er Jahre als zentral angesehen werden muss.⁹³ Eickermann bearbeitet das Thema zeitgemäß und stößt damit quasi auch in das Innerste der menschenverachtenden Politik der Nationalsozialsten vor: zu Fragen der „Rassenschande“ und „Rassenhygiene“. Die dahinterstehende Grundüberlegung des rassenhygienischen Diskurses, dass eine sich kulturell immer weiter verfeinernde Gesellschaft der Degeneration, genauer der biologischen Degeneration anheimfallen muss, wird hier exemplarisch an der Saturngesellschaft vorgeführt.⁹⁴ Bublitz beschreibt dieses Denken in ihrem Aufsatz zu „Sozialdarwinismus als Schnittstelle der Rationalisierung von Arbeit, Bevölkerungspolitik und Sexualität“ unter Verweis auf den Rassenhygieniker Rüdin und eine seiner Publikation von 1910 wie folgt: Rüdin weist […] auf zwei Hauptstränge krankmachender Kultureinwirkungen hin: Zum einen auf die zwanghafte Eingliederung des Menschen in das Gemeinschaftsleben und die Trennung des Menschen aus seinem Verhältnis zur Natur. Damit verbunden, die Domestikation

 Eickermann: Großmacht Saturn (Anm. 80), S. 233.  Ebd., S. 171.  Vgl. dazu Usborne, Cornelie: Frauenkörper – Volkskörper. Geburtenkontrolle und Bevölkerungspolitik in der Weimarer Republik, Münster 1994.  Vgl. dazu Der Gesellschaftskörper. Zur Neuordnung von Kultur und Geschlecht um 1900, hrsg. von Hannelore Bublitz, Christine Hanke und Andrea Seier, Frankfurt am Main 2000; hier besonders der Artikel von Bublitz, Hannelore: Die Gesellschaftsordnung unterliegt „dem Walten der Naturgesetze“. Sozialdarwinismus als Schnittstelle der Rationalisierung von Arbeit, Bevölkerungspolitik und Sexualität, S. 236 – 324. Siehe ebenso Frame, Lynne: Gretchen, Girl, Garçonne? Auf der Suche nach der idealen Neuen Frau, in: Frauen in der Großstadt. Herausforderung der Moderne?, hrsg. von Katharina von Ankum, Dortmund 1999, S. 21– 58.

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mit der Gefahr der „Verweichlichung“: „Die Entwöhnung vom unmittelbaren Kampf, den der Naturmensch unaufhörlich Leib an Leib mit der Natur führt, schwächt unsere Lebenszähigkeit, unsere Widerstandskraft, unsere Fruchtbarkeit ab“.⁹⁵

Und tatsächlich lassen sich in Großmacht Saturn alle hier genannten Merkmale einer im sozialdarwinistischen Sinne „kranken“ Gesellschaft finden: Dem Leser begegnet auf Saturn eine hochvergeistigte Kultur, die gezielt die gesamte Bevölkerung vergemeinschaftet hat. Das Leben der Saturnmenschen ist mit Jugendphase, Phase der geistigen Reife sowie Kontemplation und der letzten Lebensphase, dem Opfer in dem Lichtkraftwerk, durchgeplant. Es gibt keine individuellen Lebenswege, vielmehr ordnen sich alle dem Kollektiv unter („Eingliederung in das Gemeinschaftsleben“). Gleichzeitig, das führt Schröder in der Ausbildung der Jungend vor, haben die Saturnier das natürliche Verhältnis zur Körperlichkeit verloren. Indem er den Männern Kampfspiele und den Frauen die Musen lehrt, kann er sie von der „Domestikation“ befreien und damit diese Gesellschaft vor der „Verweichlichung“ und infolgedessen der Unfruchtbarkeit bewahren.⁹⁶ Eickermann vollzieht aber nicht nur die zeitgemäßen Überlegungen zum Niedergang von zivilisatorisch überentwickelten Völkern nach, sondern beschäftigt sich mit dem ebenso im zeitgenössischen Diskurs als wichtige Fragestellung betrachteten Thema der „Rassenvermischung“. Er bleibt dabei nicht allein auf der biologisch-medizinischen Ebene stehen. Vielmehr umfasst er, wie Bublitz ausführt, auch den psychiatrischen Diskurs.⁹⁷ Als Beispiel hierfür dient ihm zum einen die „Haarfrau“, die als Ergebnis aus zwei offensichtlich nicht auf derselben Kulturstufe stehenden Rassen einige psychische Defizite aufweist. Zuerst noch positiv dargestellt, wird später durch ihren Verrat an die Japetusmenschen deutlich, dass sie tatsächlich moralisch

 Bublitz: Die Gesellschaftsordnung (Anm. 94), S. 260. Bublitz zitiert Rüdin, Ernst: Rezension von Emil Kraepelin: Zur Entartungsfrage, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie Jg. 7, 1909, S. 254– 257, hier S. 256.  Eickermann, darauf soll hingewiesen werden, legt sich nicht fest, wem der beiden Geschlechter die „Schuld“ für die „Verweichlichung“ gegeben werden kann. Im öffentlichen Diskurs der Zeit hingegen wurde die Emanzipation der Frau zumindest als ein wesentlicher Faktor angesehen: „Viele Anhänger der Köperkultur ging es darum, rassische, kulturelle und soziale Gesundheit mit Hilfe der Kultivierung einer scheinbar verlorengegangenen oder degenerierten Weiblichkeit wiederherzustellen“. Es wurde das Ideal „der ‚hochdifferenzierten‘, ‚vollständigen‘ Frau, des Vollweibs, […] dem Negativbeispiel der modernen ‚intersexuellen‘ Frau“ entgegengestellt. Vgl. Frame: Gretchen, Girl, Garçonne? (Anm. 94), S. 44. Bei Eickermann scheint es vielmehr notwendig, dass Frauen und Männer sich gleichermaßen wieder mehr dem Körperlich-Sinnlichen zuwenden.  Vgl. Bublitz: Die Gesellschaftsordnung (Anm. 94), S. 261 ff.

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verkommen war. Und umgekehrt ist es auch die Frage der „geistigen Unterschiede“, die Schröder von einer Verbindung mit Diana abhält: Es war kaum anzunehmen, daß Diana aus einer Verbindung mit ihm Mißgeburten zur Welt bringen würde, da sie ebenmäßig und menschenähnlich aussah. Aber konnten nicht die geistigen Unterschiede das neue Wesen verwirren?⁹⁸

Die Vermischung Natur-Kultur geschieht hier sehr biologistisch, die Kultur führt zum Verlust der körperlichen Natürlichkeit und damit auch der Fortpflanzungsfähigkeit. Dieselbe Dichotomie wird benutzt, um zu erklären, warum sich Völker, die von einer Hegemonialperspektive als vielleicht noch natürlich, aber unbedingt kulturell minderwertiger einzustufen sind, nicht mit Völkern eines höheren Kulturstandes mischen dürfen. Blome begründet das mit der zeitgleich vorherrschenden Faszination des „Primitiven“, das als das „Andere“ zwar äußerst anziehend wirkte und daher umso stärker einer Begründung bedurfte, warum eine Vermischung nicht möglich erschien.⁹⁹ Ein Widerspruch, der auch im deutschen Zukunftsroman nicht aufgelöst wird.¹⁰⁰ Von einer übergeordneten Perspektive ist zu erwähnen, dass nicht alle Autoren den rassehygienischen Logiken so strikt gefolgt sind wie Eickermann. Gerade Stanislaus Bialkowski, aber auch Dietrich Kärrner sind hier mutiger und können sich durchaus eine interstellare Verbindung von Völkern vorstellen.¹⁰¹ Allerdings weiterhin selbstverständlich nur, wenn die Außerirdischen nach Erdstandards hochentwickelt sind und eine Verbindung Vorteile für Deutschland und die Erde erbringt. Eine eher private Geschichte, in der sich ein interstellares Paar gegen die Widerstände der Gesellschaft verbindet und sich für ein gemeinsames Leben entscheidet, sucht man hingegen vergeblich. Immer muss eine solche Verbindung im Auftrag der Gemeinschaft gesehen und verstanden werden. Damit werden Liebesbeziehungen, wie auch schon im politischen Zukunftsroman und

 Eickermann: Großmacht Saturn (Anm. 80), S. 125.  Vgl. dazu Blome, Eva: Reinheit und Vermischung. Literarisch-kulturelle Entwürfe von „Rasse“ und Sexualität (1900 – 1930), Köln 2011.  Eine interessante Forschungsfrage, die sich im Anschluss daran ergeben könnte, wäre, ob der Zukunftsroman die Bilder und Denkmuster, die Blome für die literarischen Entwürfe von „Rasse“ beziehungsweise von „Rassenvermischung“ gerade in der Kolonialliteratur analysiert, in derselben Form reproduziert. Es steht zu vermuten, dass die Autoren es tun, obwohl die imaginären Möglichkeiten im interstellaren Raum doch umso größer gewesen wären als auf der real existierenden Erde.  Vgl. dazu vor allem Dietrich Kärrners (Pseudonym von Artur Mahraun) Gösta Ring entdeckt Värnimöki (1938), Per Krag und sein Stern (1939) sowie das Werk Start ins Weltall (1941) von Stanislaus Bialkowski.

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der allgemeinen Ingenieursphantasie, eindeutig instrumentalisiert und besitzen kein Recht auf Individualität. Das gilt besonders für die Frauen. Die Perspektive, aus der Liebe und Geschlechterbeziehungen beschrieben werden, bleibt auch im Weltraum männlichem Denken verhaftet. Zwar gesteht Eickermann Frauen am Ende des Romans ein Stück weit mehr Emanzipation zu, indem sie nun einen Platz im öffentlichen Raum einnehmen dürfen. Wie sie das aber tun, erfährt man dabei nicht. Und auch Diana, deren Wünsche und Hoffnungen in dem Roman durchaus immer wieder thematisiert werden, darf am Ende nur als Ehefrau und Mutter existieren. Sie erhält keine weitere herausragende Rolle, anders als ihr Mann, der Anführer der Jugend im Norden wird. Liebe bleibt damit weiterhin funktionalisiert als Aufgabe zur Prokreation, bei der Frauen, unter Beachtung der Regeln zur Vermeidung von Rassenvermischung, lediglich als Instrument fungieren.

5 Fazit Die „Neue Frau“ und der Ingenieur hätten das Potential zu einem durchaus interessanten Paar in der Zwischenkriegszeit gehabt. Hier der Ingenieur, der Repräsentant der Neuen Sachlichkeit, der zur „Leitfigur“ des neuen, kühlen Denkens wird,¹⁰² sich in den Romanen zum Retter der Nation geriert und dieselbe in bessere Zeiten führt. Dort die fortschrittliche Frau, die sich ebenfalls mit kühlem Kopf beruflich emanzipiert, Eigenständigkeit im Arbeitsleben gewinnt und bereit ist, zum „Kamerad“ zu werden. Tatsächlich konnten Frauen nach dem Ersten Weltkrieg durchaus einige Männerdomänen, die auch im Zukunftsroman eine bedeutende Rolle spielen, für sich „erobern“: Sie zogen in den Reichstag ein, eroberten Labore, ja sie wurden sogar Fliegerinnen, ein für die patriotische Gefühlslage äußerst bedeutungsvoller technisch-politischer Raum.¹⁰³ Jedoch blieben diese Frauen emanzipatorische

 Lethen, Helmut: Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994, S. 48. Als kleine Beobachtung sei hier erwähnt, dass Lethen seine Idee der „kalten persona“ ausschließlich auf rein männliche Quellen aus der Zeit stützt. Seine Idee der „Verhaltenslehre der Kälte“ ist eine rein maskuline. McCormick argumentiert sogar, dass die „Neue Sachlichkeit“ eine explizit männliche Bewegung war; vgl. das Unterkapitel „New Objectivity and ‚Male Crisis‘“, in McCormick, Richard W.: Gender and Sexuality in Weimar Modernity. Film, literature and „New Objectivity“, New York NY 2001, S. 49 – 51.  Vgl. dazu Zegehagen, Evelyn: ‚Schneidige deutsche Mädel‘. Fliegerinnen zwischen 1918 und 1945, Göttingen 2007; zur Bedeutung des Fliegens als patriotische Tat vgl. Fritzsche, Peter: A Nation of Flyers. German aviation and the popular imagination, Cambridge MA 1992.

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Einzelfälle, mussten sich vielmehr meistens mit einer Rolle in der „zweiten Reihe“ zufriedengeben und vermutlich haben viele Frauen dieser Zeit so gut wie keine Veränderung in ihrem sozialen Status erfahren.¹⁰⁴ Und selbstverständlich endet diese Phase der relativen Freiheiten mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, die sofort die althergebrachten Rollenbilder mit aller Härte wieder etablierten. Doch wie die Literaturforschung belegt, wird gerade in der Populärkultur anfänglich das neue Rollenbild vielfältig diskutiert: Der Frauenroman erfährt nach dem Ersten Weltkrieg eine Modernisierung, hier wie auch in vielen Kinofilmen wird die „Neue Frau“ in allen Facetten begutachtet und thematisiert.¹⁰⁵ Gerade die Frage der Geschlechterbeziehung, ja ganz grundsätzlich die gesellschaftliche Konzeption der Liebe wird infrage gestellt. Ganz allgemein kann Vollmer in seiner Studie zur Liebessemantik in den 20er Jahren dazu folgendes Fazit ziehen: „Realitätsspiegelnd präsentieren sich die modernen jungen Romanheldinnen als aktive und selbstbewusste, berufstätige Frauen, die engagiert vorwärtsschreiten, die den eigenen Lebensunterhalt verdienen, ihren Unterhaltungsbedürfnissen selbstsicher nachgehen und auch über ihre Liebe, über die Wahl ihrer sexuellen Partner eigenverantwortlich entscheiden“.¹⁰⁶ Dies passiert allerdings jenseits des deutschen Zukunftsromans. Wünsche, Hoffnungen, Visionen der Zukunft von und für Frauen sind nicht Thema der schreibenden Männer. Frauen werden vielmehr auf ihre den Mann stützende Funktion oder bestenfalls noch auf die Rolle der Bewahrerin der genetischen Zukunftsfähigkeit reduziert. Während Vollmer allgemein für Romane der Zeit konstatieren kann, dass „männliche Autoren höchst einfühlsame Einblicke […] in die weibliche Psyche und in die Existenzproblematik junger Frauen, die ihr Ich zu

 Vgl. für eine gute kurze Zusammenfassung der Möglichkeiten, aber auch Begrenzungen für Frauen in der Weimarer Republik das Fazit in Boak: Women in the Weimar Republic (Anm. 3), S. 292– 299.  Vgl. dazu Petersen,Vibeke Rützou: Women and Modernity in Weimar Germany, New York NY 2001, hier S. 4: „When we look at female characters in Weimar literary texts, it becomes clear that these fictional women are indeed creatures of modernity. They operate in a tangle of fictionality and commodification. Figments of the writer’s imagination, they are the reification of authorial notions of modern womanhood created with an eye to the commercial success of a work of fiction“.  Vollmer, Hartmut: Liebes(ver)lust. Existenzsuche und Beziehungen von Männern und Frauen in deutschsprachigen Romanen der zwanziger Jahre. Erzählte Krisen – Krisen des Erzählens, Oldenburg 1998, S. 259. Bezeichnenderweise ist unter den 115 Romanen, die Vollmer untersucht, nur ein Zukunftsroman, den er auch nur recht oberflächlich bespricht (Die neue Rasse (1928) von Egmont Colerus).

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finden und zu definieren versuchen“, liefern können, sucht man danach in den in diesem Aufsatz exemplarisch besprochenen Romanen vergeblich. Diese Romane reihen sich in einen kulturkonservativen Reigen ein, der gerade nicht, trotz aller technologischen Fortschrittsgläubigkeit, die Art und Weise, wie Gesellschaft und gerade das Zusammenleben zwischen Männern und Frauen funktioniert, infrage gestellt wissen will. Vielmehr schrieben die Autoren gegen die Bedrohung durch die „Neue Frau“ beziehungsweise die Auflösung der klassischen Geschlechterdichotomie zugunsten einer größeren Heterogenität an.¹⁰⁷ Wenn „frau“ heute diese Romane liest, dann ist sie daher enttäuscht über die mangelnde Visionskraft der Romane in Bezug auf die Geschlechterfrage. Feministische Zukunftsentwürfe werden erst Jahrzehnte später entstehen.¹⁰⁸ Aber über die Ängste der Männer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lernen wir so einiges im deutschen Zukunftsroman dieser Zeit.

 „Emancipated women were considered decadent excess of modernity that if not controlled would threaten the stable, rational, scientific modernity with which the male subject was now identified“, McCormick: Gender and Sexuality in Weimar Modernity (Anm. 102), S. 55; vgl. ebenfalls Petersen: Women and Modernity in Weimar Germany (Anm. 105).  Vgl. Groeben, Norbert: Frauen – Science-fiction – Utopie. Vom Ende aller Utopie(n) zur Neugeburt einer literarischen Gattung?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Jg. 19, 1994, S. 173 – 206.

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Sprache(n) der Zukunft im Spiegel von Zukunftsromanen 1 Zukunftssprachen: zu Bedeutung und Implikationen eines Romanthemas Die in Zukunftsromanen dargestellten Vorstellungen, ihre Wunsch- und Warnbilder einer kommenden Welt gelten in vielen Fällen nicht nur äußeren Gegebenheiten und Ereignissen – wie etwa der Veränderung konkreter Praktiken und Lebensbedingungen, neuen Erfindungen, Technologien, Eroberungen –, sondern (und sei es indirekt) auch zukünftigen Denkweisen, Ideologien und Ethiken. Manche Romane über zukünftige Welten und Gesellschaften beziehen auch deren Sprachen in die Darstellung ein: die Sprache qua ‚langue‘, also als Kommunikationssystem, sowie qua ‚parole‘, das heißt als Summe der Aktualisierungsformen in konkreten Kommunikationsprozessen. An Bedeutung gewinnt dieses Thema in dem Maße, als Sprache unter dem Aspekt ihrer Kulturspezifik und als ein für Gesellschaften konstitutiver Faktor akzentuiert wird. Im Spiegel der Sprachen historisch und kulturell differenter Welten wird ihr jeweiliges Profil sichtbar – und so kann auch ein differenzierender Vergleich gegenwärtiger und künftiger Gesellschaften effektvoll beim Sprachenvergleich ansetzen, wobei dann das eine der Vergleichsrelate imaginiert beziehungsweise fingiert werden muss. Muss man sich nicht sogar von Zukunftswelten, die sich von der oder denen der Gegenwart signifikant unterscheiden, auch signifikant andere Sprachen erwarten? „Sprache“ ist dabei ein polyvalenter Begriff: Er bezieht sich erstens oft auf bestimmte Einzelsprachen, etwa die eines Landes, einer Nation, eines homogenen Sprachraums oder sprachlich einheitlichen Kulturkreises („die lateinische Sprache“, „die deutsche Sprache“ et cetera). Er dient zweitens aber auch als abstrahierender Sammelbegriff für alle verbalen Codes respektive Kommunikationssysteme, ja selbst als Synonym für Codes schlechthin, also auch als Begriff für andere als verbale Codes („Sprachen des Körpers“, „Sprachen der Vögel“, „Formel-Sprachen“ et cetera). Schließlich verweist er drittens auch auf ein Vermögen und eine dem entsprechende Verhaltens- und Handlungsdisposition des Menschen, des „zoon logon echon“ (allerdings, von hier ausgehend, je nach Sprachkonzept, eben nicht nur des Menschen): Sprachbesitz als das Vermögen, verbal Gedanken, Ideen und Empfindungen zu kommunizieren, Dinge zu bezeichnen, Welt zu beschreiben, „Wirklichkeit“ durch Worte zu interpretieren und https://doi.org/10.1515/9783110773217-009

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zu gestalten, erscheint einer traditionsreichen Auffassung zufolge als maßgebliches Kriterium des Humanen. Hinsichtlich der differenten Ausprägungsformen der so gefassten Sprachlichkeit unterscheiden sich Epochen, Kulturen, nationale und andere Gemeinschaften. Die Frage der Sprachfähigkeit eignet sich vor diesem Hintergrund besonders zur differenzierenden Charakteristik humaner und nicht-humaner Wesen – aber, weiter ausgreifend, auch zur Problematisierung und Relativierung dieser Differenz, in welchem Sinn auch immer. Für Zukunftsgeschichten liegt hier ein wichtiges Profilierungspotenzial. Mit Blick auf die Bewohner zukünftiger Welten, wie sie in Zukunftsromanen geschildert werden, erscheint, anders gesagt, die Frage besonders relevant (beziehungsweise aus Autorenperspektive: literarisch ergiebig), ob und in welchem Sinn diese Bewohner sprachfähig sind, ob und wie sie durch Zeichen kommunizieren, ob sie sich gesprochener Wörter und schriftlicher Kommunikationsformen bedienen, was sie dabei ausdrücken. Die Frage wird umso brisanter, je ferner die Zukunftsweltbewohner der Gegenwart zeitlich oder räumlich sind. Ist doch gerade das Unvertraut-Exotische, das Irritierend-Fremde signifikant und auch bezogen auf die differenzielle Gegenwartswelt und ihre Sprachen aussagefähig. Und wäre nicht eine posthumane Welt als postlinguale Welt zu denken? Das hier angedeutete Problem entfaltet sich dabei in verschiedenen Gradierungen (viele Verfasser von Zukunftsromanen bevorzugen allerdings auch, es zu ignorieren): Zunächst einmal stellt sich für einen Roman, der seine Fiktionen plausibilisieren will, die Frage, unter welchen Voraussetzungen es der Erzählerinstanz im Rahmen der impliziten fiktionalen Konstruktion überhaupt gelingen kann, eine andersartige (sprach‐)kulturelle Welt angemessen darzustellen.¹ Beschränkt der Erzählerbericht sich nicht auf eine rein äußerliche Beschreibung von Zukunftswelt und Zukunftswesen, geht es ihm vielmehr darum, letztere auch selbst sprechen zu lassen – in welcher Sprache soll, in welcher kann er sie sprechen lassen? Wenn die Zukunftsweltbewohner den Mund (oder ein anderes Sprechorgan) aufmachen, wird es eigentlich schon schwierig. Wie sollen ihre Äußerungen klingen, wenn zeitgenössisches Englisch, Deutsch und so weiter als Verkehrssprache hochunwahrscheinlich sind? Durch Paraphrase? Durch spekulative Reduktion auf das, was die jeweilige Erzählerinstanz ‚intuitiv‘ zu verstehen meint? Durch eine – aber wie zu plausibilisierende? – Übersetzung der futuristischen „Fremdsprache“ ins Idiom der Leser? Oder ‚weiß‘ der Erzähler womöglich alles, was die Zukunftswesen ausdrücken wollen, kraft seiner Allmacht als Erzähler? Aber das wäre eine relativ billige Lösung.

 „Plausibilisierung“ sei hier verstanden im Sinn einer Stützung des Fiktionspaktes.

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Ein besonderes Erklärungsproblem stellt sich, wenn auf der Ebene der Romanhandlung Gegenwarts- und Zukunftswesen miteinander kommunizieren: Wie soll man sich eine solche Kommunikation angesichts historischen Sprachwandels und womöglich riesiger räumlicher und kultureller Distanzen vorstellen? Das Problem lässt sich aber noch radikaler fassen: Sind die sprachlich geprägten Sinn- und Verständigungshorizonte von Gegenwarts- und Zukunftswelten überhaupt als kompatibel zu denken – respektive: Wurden sie vom Romanautor als kompatibel entworfen und dargestellt? Einerseits: Was für eine Zukunft wäre das, die man mit den verbalen Mitteln der Gegenwart darstellen könnte? Andererseits: Kann sich die erzählend-vermittelnde Instanz anders präsentieren als im Denkund Diskurshorizont der eigenen Gegenwart?² Zukunftsromanautoren können sich den hier aufgeworfenen Fragen natürlich entziehen, eben, indem sie sie ignorieren und alle Figuren sowie die Erzählerinstanz dieselbe Sprache sprechen lassen. Damit aber verschenken sie dann ein für Zukunftsromane wichtiges thematisches Potenzial. Im Hintergrund des Sprachenthemas steht letztlich eine Grundsatzfrage, die eng mit dem Selbstverständnis des Zukunftsromans beziehungsweise dessen differenten Auslegungsoptionen zusammenhängt: Inwiefern soll ein (imaginiertes) zukünftiges Denken, Sprechen, intentionales Verhalten überhaupt verständlich gemacht werden? Soll seine Verständlichkeit, soll die Verständlichkeit zukünftiger Kulturen und Kommunikationsformen suggeriert werden? Müsste man dazu nicht, und sei es in einem weiteren Sinn, seine Sprache(n) antizipieren (und verstehen) können? Zu heuristischen Zwecken lassen sich drei Ebenen des Umgangs mit Sprache in Zukunftsromanen unterscheiden, die in konkreten Beispielen dann allerdings oft ineinander übergehen: (1) Ein interessantes Sujet kann die Kommunikation zwischen verschieden-sprachigen Romanfiguren sein (wobei ‚Sprache‘ hier im engeren und im weiteren Sinn verstanden werden mag), vor allem zwischen Vertretern der Menschenwelt und denen einer futuristischen Zukunftswelt, handle es sich bei letzteren nun um intellektuell avancierte Geister, um ‚Unseresgleichen‘ oder um inferiore Wesen. (2) Die jeweilige Erzählerinstanz porträtiert Wesen, die der Rahmenfiktion zufolge eine mehr oder weniger unvertraute Zu-

 Wie Benjamin Bühler und Stefan Willer hervorheben, „unterliegt Zukunftswissen immer den erkenntnistheoretischen Bedingungen und Möglichkeiten der Gegenwart“ (Bühler, Benjamin / Willer, Stefan: Einleitung, in: Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, hrsg. von dens., Paderborn 2016, S. 9 – 21, hier S. 17). Analoges ließe sich für fiktionales ‚Zukunftswissen‘ behaupten. Der Gegenwart gehören auch jene „Narrative und Gattungen“ an, die der Ausformulierung von Imaginationen dienen (vgl. ebd., S. 273, unpag. Einleitung zum Komplex „Narrative und Gattungen“) – und, so wäre zu ergänzen, auch die Sprache, mittels derer dies geschieht, und werde sie denn eigens für diesen Zweck zurechtgemacht.

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kunftssprache sprechen. (3) Positionieren muss sich die Erzählerinstanz auch gegenüber der im weiteren Sinn verstandenen Sprachlichkeit der Zukunftswelt, die nur antizipatorisch aus einem Gegenwartshorizont heraus in den Blick genommen werden kann, also gegenüber deren Begrifflichkeiten, Kern- und Leitideen, Denkweisen, Wissensbeständen und Wertgefügen.

2 Zu Sprachdenken, Sprachpolitik und Sprachpoetik in der Ära des Zukunftsromans Die philosophische Sprachreflexion des westlichen Denkens erhält starke Impulse durch ihr Bewusstsein von der Unterschiedlichkeit der Sprachen, oft, aber nicht notwendig, in Verbindung mit der These von der Arbitrarität verbaler Bezeichnungen.³ Vor allem bestimmen zwei epochenübergreifende Tendenzen vor diesem Hintergrund das Sprachdenken nachhaltig. Da ist zum einen die Leitidee einer perfekt transparenten Sprache: Deren Wörter dienen, gleichsam selbstlos und frei von ‚Störgeräuschen‘, der Ideenübermittlung; syntaktische Strukturen machen die Rationalität von Argumenten transparent. Der Idee einer einzigen vollkommenen Sprache gegenüber steht eine Art linguistischer Relativismus, der zugleich mit der substanziellen Vermittlungsleistung der Sprache die Prägung der jeweils erschlossenen Welt durch Sprache betont. Differente Sprachen sind hier nicht auf eine Universal- und Einheitssprache reduzibel – ebenso wenig wie die Weltanschauungen, die sie erschließen, alle auf einen Nenner zu bringen sind; Wilhelm von Humboldts Sprachdenken ist ein besonders prominenter Beitrag zu dieser ‚sprachhermeneutischen‘ Denktradition.⁴ Zwischen den Polen dieser beiden Sprachkonzepte situiert sich ein breites Spektrum an Spezifikationen. Im Feld der Sprachkritik – sei es an defizitären Idiomen, sei es an unbefriedigenden Formen des Sprachgebrauchs – konvergieren die Ansätze gelegentlich, so etwa, wenn diagnostiziert wird, dass irreführende Bezeichnungen den Blick auf das Bezeichnete verstellen oder die Existenz sprachinduzierter Fiktionen und Phantombegriffe suggerieren. Oder auch, wenn eine formelhafte und unflexible Sprache sich als ein verfremdendes Raster vor die Dinge zu schieben scheint. Die an Humboldt anschließende Betonung der Auslegungsmacht sprachlich konstituierter ‚Weltanschauungen‘ verbindet sich seit dem späteren 19. Jahrhundert zum einen eng mit affirmativen Theorien sprachgebundenen Weltverstehens,

 Vgl. Eco, Umberto: La ricerca della lingua perfetta nella cultura europea [Die Suche nach der perfekten Sprache in der europäischen Kultur], Rom/Bari 1993.  Vgl. Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Sprache, hrsg. von Michael Böhler, Stuttgart 1973.

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oft im Sinne der Aufwertung einzelner Nationalsprachen, zum anderen aber auch mit ausgeprägt sprachkritischen Tendenzen: Sprache erscheint dabei, grob gesagt, als eine Instanz, die zwischen das erfahrende Subjekt und die Welt tritt und letztere dabei auf suggestive Weise zurechtmacht, seine Perspektive bestimmt, seine Einschätzung manipuliert, seine ‚Moral‘ beherrscht. Nietzsches Abhandlung Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873) formuliert diese ins Negative verkehrte These von der Auslegungsmacht und manipulativen Kraft der Sprache programmatisch aus. Fritz Mauthners sprachkritische Reflexionen radikalisieren die These einer ‚lügenhaften‘, die Sprecher intellektuell unterwerfenden Sprache noch.⁵ In Kernpunkten antizipiert die Sprachkritik der vorletzten Jahrhundertwende die Ansätze der späteren Diskurskritik, aus deren Perspektive Sprache (Sprachgebrauch, Sprachstrukturen) und Macht auf das Engste zusammenhängen. Gerade die historische Phase, in der sich der moderne Zukunftsroman profiliert, das späte 19. Jahrhundert, ist also nicht allein durch sein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein und sein Denken in nationalen Kategorien charakterisiert, sondern auch durch sein Sprachbewusstsein. Im 20. Jahrhundert werden Ansätze moderner Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft weiterentwickelt und nehmen weiterhin großen Einfluss auf die kulturelle Selbstverständigung der einzelnen Sprachgemeinschaften. Wichtige Beiträge zur Geschichte der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts fallen insbesondere in die Zwischenkriegszeit. So wird Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus, 1918 abgeschlossen, 1921 publiziert (1922 unter dem heute bekannten Titel). Die Erstausgabe von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen erscheint zwischen 1923 und 1929, beginnend mit dem Band über Die Sprache (1923). 1926 entsteht Heideggers Sein und Zeit, das 1927 erscheint und in dem das Thema Sprache von zentraler Bedeutung ist. Mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensivieren sich auch die Verbindungen zwischen Zukunftsdenken und Sprachbewusstsein; sie dokumentieren sich vor allem in Erfindungen neuer Idiome für eine zukünftige Kommunikation. Zahlreiche Kunstsprachen werden erfunden, um neue Grundlagen erwarteter oder doch erhoffter kultureller, ökonomischer und technischer Fortschritte zu schaffen und einem künftigen transnationalen Austausch zu dienen – also dem Handel, der Technik, den Wissenschaften, der Völkerverständigung.⁶  Vgl. Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1– 3, Stuttgart u. a. 1901– 1902, überarb. Aufl. 1906 – 1913; 3. Aufl. Leipzig 1923.  Vgl. dazu als an Beispielen reiches Referenzwerk: Albani, Paolo / Buonarroti, Berlinghiero: Dictionnaire des Langues imaginaires. Edition française par Egidio Festa par la collaboration de Marie-France Adaglio [Wörterbuch der imaginären Sprachen. Französische Ausgabe von Egidio

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Die wohl bekannteste Kunstsprache Espéranto ⁷ wird 1887 von Lejzer Ludwik Zamenhof in einer russischen Publikation vorgestellt, die in Warschau erscheint; auf den romanischen und den germanischen Sprachen basierend, soll Esperanto der internationalen Verständigung dienen. Von ihm abgeleitet werden im Folgenden allerlei weitere Kunstsprachen, so die ab 1907 von René de Saussure entwickelte internationale Sprache Antido I, die im Projekt Antido II 1910 eine Fortsetzung findet. Auch das Volapük wird zum einflussreichen Kunstidiom. 1887 konstituiert sich eine „Académie internationale de Volapük“ unter Alfred Kerckhoff, die sich der Verbesserung und Verbreitung dieser Kunstsprache widmet;⁸ als Alternative wird später das „Antivolapük“ erfunden.⁹ Insgesamt bringen das späte 19. und das frühe 20. Jahrhundert Kunstsprachen in beachtlichen Mengen und Varianten hervor.¹⁰ Sie sollen unterschiedliche Funktionen übernehmen, in der Regel aber nicht die eines Surrogats der geläufigen natürlichen Sprachen, son-

Festa in Zusammenarbeit mit Marie-France Adaglio], Paris 2010. Original: Albani, Paolo / Buonarroti, Berlinghiero: Aga magéra difúra. Dizionario delle lingue immaginarie [Wörterbuch der imaginären Sprachen], Bologna 1994, sowie ferner unter anderem: Bausani, Alessandro: Le lingue inventate. Linguaggi artificiali. Linguaggi secreti. Linguaggi universali [Die erfundenen Sprachen. Künstliche Sprachen. Geheime Sprachen. Universelle Sprachen], Rom 1974; Burney, Pierre: Les Langues Internationales [Internationale Sprachen], Paris 1962; Couturat, Louis / Leau, Léopold: Les nouvelles langues internationales [Die neuen internationalen Sprachen], Paris 1907; Pei, Mario A.: One Language for the World, New York NY 1958; Pellerey, Roberto: Le lingue perfette nel secolo dell’utopia [Die perfekten Sprachen im Jahrhundert der Utopie], Rom/Bari 1992.  Vgl. Albani / Buonarotti: Dictionnaire des Langues imaginaires (Anm. 6), S. 154 ff.  Ebd., S. 26 f.  Ebd., S. 45. Angemerkt seien auch die Ausführungen auf S. 257: Der Deutsche Eugen A. Lauda publiziert in Berlin 1888 das Buch Darf Volapük die Weltsprache werden? Kosmos oder neueste Lösung des Weltspracheproblems auf internationalem und sprachhistorischem Boden und präsentiert hier sein Kunstsprachenprojekt „Kosmos“.  Dazu gehört etwa auch das „Spelin“ von Georg Bauer (Bauer, Georg: Sprachwissenschaftliche Kombinatorik. Ein Vorschlag, Volapük vokalreicher und dennoch etwas kürzer darzustellen, Zagreb 1886; sowie in anderen Schriften der Folgejahre; vgl. Albani / Buonarroti: Dictionnaire des Langues imaginaires (Anm. 6), S. 468 f.), das „Pankel“ (vgl. dazu Wald, Max: Weltsprache Pankel, die leichteste und kürzeste Sprache für den internationalen Verkehr. Grammatik und Wörterbuch, Gross-Beeren 1906; vgl. Albani / Buonarroti: Dictionnaire des Langues imaginaires (Anm. 6), S. 375), die „Völkerverkehrssprache“ von Carl Dietrich (Dietrich, Carl: Grundlagen der Völkerverkehrssprache. Entwürfe für den Auf- und Ausbau einer denkrichtigen, neutralen Kunstsprache als zukünftige Schriftsprache, eventuell auch Sprechsprache für den internationalen Verkehr, Dresden 1902; vgl. Albani / Buonarroti: Dictionnaire des Langues imaginaires (Anm. 6), S. 517), die „Weltsprache“: Projekt einer universalen Verkehrssprache, basierend auf dem lateinischen Vokabular (ihre Erfinder sind A.Volk und R. Fuchs in Die Weltsprache, entworfen auf Grundlage des Lateinischen, zum Selbstunterricht, Berlin 1883; vgl. Albani / Buonarroti: Dictionnaire des Langues imaginaires (Anm. 6), S. 527).

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dern die eines Hilfsidioms, das ergänzend zum Einsatz kommt, weil Sprachendifferenzen den internationalen verbalen Austausch behindern.¹¹ Anders akzentuiert sind Projekte einer internationalen philosophischen Sprache wie etwa das von F. Reimann (1877) in der Nachfolge der Universalsprachenidee Leibniz’ und anderer rationalistischer Sprachphilosophen;¹² hier geht es um ein Idiom von optimierter Transparenz bezogen auf die zu vermittelnden Begriffe. Die Grenzen zwischen als allgemeine „Zukunftssprache“ erfundenen Idiomen, pragmatischen Komplementärsprachen und philosophischen ‚Universalsprachen‘ sind aber durchlässig. Doch nicht nur Sprachwissenschaftler, Spracherfinder und Philosophen widmen dem Themenfeld Sprache ein intensives, teils erfinderisches Interesse. Auch Literatur und Poetik der Moderne sind durch die kritische Auseinandersetzung mit Sprache in besonderem Maße geprägt. Ein breites Spektrum an Schreibweisen, Reflexionsformen, Selbstpositionierungen entfaltet sich zwischen gerade im Medium literarischen Schreibens artikulierter Sprachkritik einerseits, programmatischen Erfindungen oder Projektierungen neuer Sprachen und Sprechweisen andererseits, wobei sich beides auch miteinander verbinden kann. Hofmannsthals Chandosbrief (Ein Brief, 1902) verbindet sprachkritische mit sprachutopischen Impulsen; programmatisch wird die Idee einer anderen, einer neuen Sprache entfaltet, auf welche die Sprache der Gegenwart allerdings vorerst nur hinweisen kann. Gerade auf der Ebene der Sprachgestaltung manifestiert sich facettenreich, oft provokant der Wille der Moderne zum Bruch mit Traditionen und Konventionen.¹³ Sprachkritik und Sprachutopismus sind dabei zwei komplementäre Seiten eines und desselben gerade für die Jahrzehnte ab 1900 prägenden Reflexionsprozesses, dessen Echo in den frühen Avantgarden der Folgejahrzehnte besonders deutlich vernehmbar ist. Politische und poetologisch-ästhetische As-

 Zum Thema internationale Hilfssprachen vgl. Albani / Buonarroti: Dictionnaire des Langues imaginaires (Anm. 6), S. 56: Eine „Langue auxiliaire internationale“ wird hier definiert als „Langue destinée à faciliter les relations écrites et orales entre personnes de langues maternelles différentes“ (ebd., S. 56). Die Namen einschlägiger Projekte weisen oft bereits auf deren Funktion hin, so im Fall von „Interlingua“, einer 1909 in Turin erfundenen Kunstsprache zur Erleichterung des internationalen Austauschs (ebd., S. 230).  Vgl. ebd., S. 232.  Vgl. ebd., S. 17– 20: „Tableau chronologique des principaux auteurs de langues imaginaires“. Aufgeführt werden antike, mittelalterliche, frühneuzeitliche, barocke Autoren, Autoren der Aufklärung, der Romantik und der Moderne; seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verdichtet sich das Interesse am Thema der imaginären Sprachen erkennbar.Vertreter der frühen Avantgarden in Literatur und Kunst finden sich in beachtlicher Zahl aufgelistet, gefolgt von zahlreichen weiteren Beispielen aus der Zwischenkriegszeit, während des Zweiten Weltkrieges und danach.

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pekte und Interessen verbinden sich dabei: Dort, und gerade dort, wo es um Sprache, ihren Gebrauch und ihre Wirkungen geht, wird Literatur zumindest latent und subkutan, manchmal auch offen und ostentativ politisch. Modernistische, vor allem avantgardistische Strömungen profilieren sich ab 1900 durch ihren Umgang mit Sprachlichem, inbegriffen ihre verbal oft eigenwilligen Performanzen. So wird die mehrdeutige Forderung nach ‚parole in libertà‘ zum Programmwort der Futuristen; so kreisen die Visionen der Dadaisten um die Idee einer Spracherneuerung. Prägend auch für den Expressionismus ist seine charakteristische Sprachlichkeit – seine Rhetorik, seine Sprachbilder, seine Ansätze, mit geläufigen Formen verbaler Darstellung zu brechen.¹⁴ Neben solchen poetischen Dokumenten eines konkreten Willens zur Spracherfindung stehen in der literarischen Moderne vielerlei Formen der Beschreibung, also der indirekten Darstellung fremder, darunter auch zukünftiger oder extraterrestrischer Sprachen. Dabei wird an Vorläufer in früheren Jahrhunderten angeknüpft.¹⁵ Der (immer wieder auch spracherfinderische) utopische Roman,¹⁶ der sich mit diesem thematisch vielfach berührende Zukunftsroman¹⁷ und der ebenfalls affine Roman über extraterrestrische Welten¹⁸ werden in allerlei Varianten zum Anlass von

 Lautpoetische Experimente mit ‚neuen Sprachen‘ finden sich in den Œuvres zahlreicher Dichter und Künstler verschiedener Sprachräume, so bei Hans Arp (Albani / Buonarroti: Dictionnaire des Langues imaginaires (Anm. 6), S. 49), Aleksandr Blok (ebd., S. 79), Daniil Harms (ebd., S. 206), Iliazd (Ilia Zdanevitch) (ebd., S. 225), Vélimir Khlebnikov (ebd., S. 248), Alexeï Kroutchenykh (ebd., S. 258), Paul Scheerbart (ebd., S. 442), Kurt Schwitters (ebd., S. 446) und Tristan Tzara (ebd., S. 494 f.).  Komparatistische Forschungen gelten schon in den 1930er Jahren der Kontinuität sprachinventiver Schreibweisen. Vgl. Pons, Émile: Les langues imaginaires dans le voyage utopique. Un précurseur: Thomas Morus [Imaginäre Sprachen in der utopischen Reise. Ein Vorläufer: Thomas Morus], in: Revue de Littérature Comparée Jg. 4 (10), 1930, S. 589 – 607; Pons, Émile: Les langues imaginaires dans le voyage utopique. Les ‚Jargons‘ de Panurge dans Rabelais [Imaginäre Sprachen in der utopischen Reise. Die Jargons von Panurge in Rabelais], in: Revue de Littérature Comparée Jg. 2 (11), 1931, S. 185 – 218; Pons, Émile: Les langues imaginaires dans le voyage utopique. Les grammairiens: Vairasse et Foigny [Imaginäre Sprachen in der utopischen Reise. Die Grammatiker:Vairasse und Foigny], in: Revue de Littérature Comparée Jg. 3 (12), 1932, S. 500 – 532.  Zur ‚anderen‘ Sprache schon in Morus’ Utopia vgl. Albani / Buonarroti: Dictionnaire des Langues imaginaires (Anm. 6), S. 505.  Nur ein Beispiel für die Konvergenz sprachpolitischer Projekte und literarischer Erfindungen: In Edward Bellamys Zukunftsroman Equality (1897), im 31. Kapitel, erläutert der Prediger Barton im Gespräch mit dem Protagonisten Julian West, man werde im Jahr 2000 allgemein eine Universalsprache sprechen, wenn es um die Verständigung mit allen Völkern und Sprachgemeinschaften gehe; manche kleineren Völker würden dann ihre Kommunikation ganz in dieser Sprache führen (Albani / Buonarroti: Dictionnaire des Langues imaginaires (Anm. 6), S. 71).  Albani und Buonarroti bieten auch einen Eintrag zum Stichwort „Extraterrestres, langue des“; gemeint ist ein „système de communication des habitants d’une planète extraterrestre, dont la

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Schilderungen erfundener Idiome.¹⁹ Zum Kerntopos des dystopischen Zukunftsromans, prominent repräsentiert durch Samjatin, Huxley und Orwell, wird – basierend auf Erfahrungen mit den realen diktatorischen Regimes in Ost und West, wie sie sich in den 1920er und 30er Jahren formierten – die verstümmelte Sprache: die des kapitalistischen Konsumismus und die der totalitären Diktaturen unterschiedlicher Systeme.

3 Das Thema Sprache(n) im Spiegel des Zukunftsromans: Modellbeispiele Dass gerade der Zukunftsroman am Thema Sprache oft besonders interessiert ist,²⁰ erscheint also insgesamt gut verständlich. In der konkreten Umsetzung dieses Interesses divergieren allerdings die Beispiele. Geht es um eine räumlich und zeitlich eher nahe Zukunftswelt, so lässt sich deren Verständlichkeit für zeitgenössische Leser leichter unterstellen als bei fernen Welten. Berichtet hingegen etwa ein Zeitreisender von seinen Begegnungen mit Vertretern einer fremden Zukunftswelt, so müssen Vergleichsgrundlagen erst einmal konstruiert

structure, dans le cadre de la littérature de science-fiction, est souvent l’objet d’une description linguistique assez détaillée“ (ebd., S. 162). Wie der Artikel ausführt, nimmt vor allem die sogenannte „Sapir-Whorf-Hypothese“ starken Einfluss auf die Darstellung extraterrestrischer Sprachen in vielen Science-Fiction-Romanen: Die Sprache bestimmt dieser Hypothese zufolge das Denken ihrer Benutzer, und jede Sprache nimmt dabei ihre eigenen Distinktionen vor, prägt das Denken also auf spezifische Weise. Als einflussreich für die Science-Fiction-Literatur eingeschätzt wird aber auch die Konzeption einer allen Sprachen gemeinsam zugrundeliegenden „Tiefengrammatik“, wie sie sich in der Sprachtheorie Noam Chomskys entwickelt findet (ebd., S. 162). Albani und Buonarroti bieten eine längere Liste der Namen, die den extraterrestrischen Sprachen in Romanen gegeben wurden (ebd., S. 162). Zum Thema extraterrestrische Sprachen vgl. Barnes, Myra Edwards: Linguistics and Language in Science Fiction-Fantasy, New York NY 1975; Giovannoli, Renato: La scienza della fantascienza [Die Wissenschaft der Science-Fiction], Mailand 1991, S. 76 – 87, 104– 118; Meyers, Walter E.: Aliens and Linguistics: Language study and science fiction, Athen 1980.  Vgl. Guadalupi, Gianni: Manuale del viaggiatore interplanetario [Interplanetarisches Reisehandbuch], Mailand 1984; geboten werden Informationen auch über die Sprachen imaginärer Welten.  Wenn im Folgenden von „Sprache“ die Rede ist, so vielfach unter Bezug auf die verschiedenen Bedeutungsebenen dieses Begriffs: „Sprache“ im Sinn eines bestimmten verbalen Codes (etwa des Englischen, des Deutschen oder einer imaginierten Marsianer-Sprache) verweist auf „Sprachfähigkeit“ (Sprachvermögen) als ihre Möglichkeitsbedingung seitens der Sprecher sowie auf die Sprachlichkeit des menschlichen (oder marsianischen) Weltbezugs als ihre Voraussetzung (und zugleich ihren Effekt).

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werden, vor allem, wenn es sich bei den ‚Anderen‘ nicht einmal um Menschen handelt. Unterhaltungsromane, denen es im Wesentlichen um rein Inhaltliches geht, lassen sich allerdings auf diese Schwierigkeiten meist nicht ein. Wie in Reise- und Abenteuerromanen, die an exotischen Schauplätzen spielen, redet und verständigt man sich eben, damit die Geschichte weitergeht: Chinesen, Afrikaner, Indianer sprechen eben englisch oder deutsch, allenfalls auf gebrochene Weise, damit sie ‚authentischer‘ wirken. Ein Bewusstsein für die notwendige narrative Plausibilisierung dargestellter Kommunikationsprozesse mit Wesen fremder Kulturen – und für das Thematisierungspotenzial, das sich hier ergibt – bekundet sich demgegenüber vor allem dort, wo Übersetzerinstanzen ins Spiel kommen: Sei es, dass Dolmetscher in Aktion treten, sei es auch, dass der Erzähler selbst explizit als Übersetzer agiert. Im Folgenden seien einige konzeptuell verschiedene Modelle der Thematisierung von Sprachen der Zukunft vorgestellt.

3.1 Sprachstudien mit dem Wörterbuch: Kurd Laßwitz: Auf zwei Planeten (1897) Laßwitz gehört zu den Pionieren des Zukunftsromans. Seine humoristisch eingefärbten Texte wenden sich dabei vielen der auch in späteren Jahrzehnten noch gattungstypischen Themen zu. Mit dem Thema Sprache(n) verfährt Laßwitz unterschiedlich, aber im Grundtenor doch ähnlich. Die irdischen Zukunftsbürger des frühen Laßwitz-Romans Bis zum Nullpunkt des Seins (1869 verfasst, Erstpublikation 1871)²¹ sprechen Deutsch; ihre Welt unterscheidet sich zwar hinsichtlich technischer Innovationen von der Epoche des Autors und seiner zeitgenössischen Leserschaft, nicht aber substanziell: Menschliche Charaktere, Passionen, Motive und Verhaltensweisen wiederholen sich in der Zukunft nur in neuen Einkleidungen; die Namen der Figuren klingen zwar ‚futuristisch‘, dies aber auf eine so anspielungsreiche Weise, dass das ‚Andere‘ hier letztlich als nur leicht verfremdetes Vertrautes erscheint.²² Im Vorwort zur dritten Auflage dieses Romans gibt Laßwitz, zur Geschichte passend, sein eigentliches Interesse am Zukunftsroman

 Laßwitz, Kurd: Bis zum Nullpunkt des Seins. Erzählung aus dem Jahre 2371, Lüneburg 2008 (zuerst 1869/1871); Laßwitz, Kurd: Gegen das Weltgesetz. Erzählung aus dem Jahre 3877, Lüneburg 2008 (zuerst 1877).  Die Figuren sind in eine Zukunftswelt versetzte typische Romancharaktere in roman-typischen Konstellationen (so typisch, dass die Transposition solcher Charaktere als solche bereits humoristisch wirkt); die Handlung (Konflikte um eine Frau zwischen zwei Männern) wird zwar in eine phantasievoll-futuristische Kulisse verlegt, aber sie entspricht vertrauten Plots zeitgenössischer bürgerlicher Romane.

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zu erkennen: Es ist eines an der Gegenwart. Diese ist es, die im Spiegel des Zukunftsromans sichtbar werden soll, und so erscheint es nur konsequent, wenn Laßwitz seine Figuren auch das Idiom der eigenen Zeit sprechen lässt.²³ In seinem Roman Auf zwei Planeten ²⁴ bringt Laßwitz neben dem Deutschen dann eine extraterrestrische Sprache ins Spiel – die der Marsbewohner (bei Laßwitz: „Martier“). Diese wird dabei in einer Zukunftswelt gesprochen, denn die extraterrestrische Kultur wird als der irdischen Kultur in ihrer Entwicklung ‚voraus‘ geschildert. Die Welt der Martier entspricht also dem, was die irdische Kultur in Zukunft sein wird; sie ist konzipiert im Sinn eines Evolutions- und Progressionskonzepts von Geschichte. Hatte Bis zum Nullpunkt des Seins die grundsätzliche Ähnlichkeit der irdischen Zukunftsmenschen mit den Gegenwartsmenschen suggeriert, so erscheinen in Auf zwei Planeten nun auch Erdenbewohner und extraterrestrische Wesen als prinzipiell gleichartig, differenziert nur hinsichtlich des Entwicklungsgrades ihrer Intelligenz, ihres Wissens, ihres Ethos – und ihrer Sprachen. Die Signifikanz des Themenkomplexes um Sprachen und Sprachdifferenzen, um grenzüberschreitende verbale Verständigung und ihre Voraussetzungen ergibt sich aus dem (in heutiger Terminologie gesagt) ‚interkulturellen‘ Szenario des Gesamtplots. Eine Verständigung zwischen Menschen und Marsianern ist darum prinzipiell möglich, weil beide Seiten sprachbegabt und an (Fremd‐) Sprachen interessiert sind – und dies erscheint als basale Voraussetzung des Lernens voneinander, des kulturellen und politischen Fortschritts. Die erzählte Geschichte beginnt dabei programmatisch an einem Nullpunkt der Kommunikationskompetenz der menschlichen Akteure: An ihrem Ballon vorbei gehen, unwahrnehmbar für die Reisenden, diverse Botschaften miteinander Signale austauschender Marsianer – so zunächst eine („E najoh. Ke.“), die auch wir als Leser nicht verstehen, deren Bedeutung der Erzähler uns allerdings sofort enthüllt – ebenso wie die der Antwort: Von der Insel wurde zurückdepeschiert: „Bate li war. Taka fil.“ Man hätte freilich alle bekannten Sprachen der Erde durchgehen können, ohne in irgend-

 „Wir blicken in den Spiegel der Zukunft, und das Gesicht der Gegenwart schaut uns entgegen, befremdlich zum Theil und nicht ohne Verzerrung, aber doch erkennbar und vertraut. Die Nase ist wohl etwas lang, der Mund leidlich groß geraten und höher die Stirn; aber aus den Augen leuchtet das alte, herzliche Gemüt, das unsterbliche, göttliche Erbtheil der Menschheit: Sitte und Schönheit“, datiert: „Gotha, im Oktober 1878“. Laßwitz, Kurd: Bilder aus der Zukunft, Lüneburg 2008 (zuerst 1874; hier nach der 3. Aufl. von 1879), S. 19.  Laßwitz, Kurd: Auf zwei Planeten. Roman in zwei Büchern, Altenmünster 2012 (zuerst Weimar 1897).

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einer diese Sätze zu finden. Sie bedeuten: „Achtung! Störung! Was ist vorgefallen?“ Und die Antwort lautete: „Menschen im abarischen Feld. Abstellen sobald als möglich.“²⁵

Wiederholt nimmt Laßwitz Marsianisches zum Anlass, Original-Text und deutsche Übersetzung anzuführen; so artikuliert sich sein Grundvertrauen in die prinzipielle Verständlichkeit des Fremden – und in seine Verständigungsbereitschaft.²⁶ Die Marsianer betreiben Sprachstudien im Kontext ihrer allgemeinen Beobachtung der Erdenbewohner. Ein Beispiel ist die Protagonistin La.²⁷ Das zunächst einzige Beobachtungsfeld, das sich ihr bisher bot, sind die Eskimosprachen. Diese aber sind, wie die Angehörigen einer raffinierten Hochkultur registrieren, primitiv – passend zu dem ‚Naturvolk‘, das sie spricht.²⁸ Anlässlich ihrer Erwägungen zur Eskimosprache spekuliert La über die Existenz anderer Erdensprachen, womöglich höher entwickelter, deren Sprecher dementsprechend klügere und interessantere Gesprächspartner wären. Die Überzeugung vom inneren Zusammenhang zwischen Sprache und Gesamtkultur artikuliert sich also bei aller humoristischen Einfärbung doch im Zeichen imperialistisch-eurozentrischer Vorbehalte gegenüber den Sprachen der sogenannten Naturvölker.²⁹ Als die deutschen Reisenden auftauchen, wird die willkommene Gelegenheit zum Gespräch schnell genutzt. Saltners erstes Zusammentreffen mit Marsianern ist allerdings bei allem Ernst der Situation geprägt durch die typische Komik von zunächst scheiternden Kommunikationsversuchen – insbesondere ergibt sich ein komischer Kontrast zwischen der etwas pompösen Umständlichkeit des Stils, in dem der Erdenbürger spricht, und dem aktuellen Fehlen einer gemeinsamen Basis

 Ebd., S. 20.  „Über der Tür [der von den Martiern kurz darauf durchschrittenen Galerie] stand in großen Buchstaben: ‚Vel lo nu‘, das bedeutet: ‚Zum Raumschiff nach dem Mars‘“ (ebd., S. 21).  Die Möglichkeit der Forschungen der Marsbewohner wird dadurch plausibilisiert, dass einer der Eskimos auch schreiben kann, und zwar in lateinischen Buchstaben (ebd., S. 28); so lässt sich auch das Erlernen dieser Sprache von der unmittelbaren Kommunikation mit den Eskimosprechern lösen. Nicht nur schriftliche, sondern auch akustische (phonographische) Aufzeichnungen werden herangezogen.  Die Martierin La übt sich auch an der Aussprache dieses Idioms. „Nach einiger Zeit begann sie die Lippen zu bewegen und Laute vor sich hin zu sagen, die ihr offenbar nicht geringe Mühe machten. […] Sie repetierte ein Pensum, das sie für sich erlernt hatte. Aber nun blieb sie ganz stecken und sann eine Weile nach. Dann sagte sie vor sich hin: ‚Es ist doch ein närrisches Kauderwelsch, das diese Kalaleks sprechen!‘ […] Das Buch enthielt eine Zusammenstellung alles dessen, was die Martier bisher über die Lebensweise und Sprache der Eskimos hatten in Erfahrung bringen können“ (ebd., S. 27).  Ebd., S. 28.

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selbst für eine ganz simple verbale Verständigung. Saltner verkennt gerade dies zunächst, wie es scheint, in naivem Vertrauen auf seine deutsche Eloquenz. Die Martier reagieren mit einer Belustigung, die an Zoobesucher erinnert, welche sich über ‚redselige‘ Vögel amüsieren.³⁰ Vermittelt über die Gebärdensprache lassen sich aber schließlich die Verbalsprachen in Beziehung setzen.³¹ Schrittweise und stets handlungsbezogen erfolgt die weitere sprachliche Annäherung der Martier und der Deutschen.³² Erst nachdem das Verständigungsfundament narrativ begründet wurde, braucht der Erzähler nicht mehr ständig zu erklären, welche Art von Äußerungen, deutsche oder martische, er gerade wiedergibt.³³ Als gemeinsame Bezugsinstanz der zunächst unvermittelt aufeinandertreffenden Sprachen Deutsch und Martisch fungiert die Eskimosprache. So fragt der Martier-Arzt Saltner, ob er die Eskimosprache verstehe, indem er eben diese Sprache benutzt. Saltner versteht zwar die Eskimosprache nicht, begreift aber,

 „Nun endlich fand er [Saltner] die Sprache wieder in gewohnter Lebhaftigkeit. / ‚Wie Sie befehlen‘, sagte er. ‚Es wäre mir eine große Ehre, wenn Sie ebenfalls Platz nehmen wollten und mir gütigst andeuten, wo ich mich eigentlich befinde.‘ / Bei seinen Worten ließ die Gestalt ein leises, silbernes Lachen vernehmen. / ‚Er spricht! Er spricht!‘ rief sie in der Sprache der Martier. ‚Es ist zu lustig!‘ / ‚Fafagolik?‘ versuchte Saltner die fremden Laute wiederzugeben. ‚Was ist das für eine Sprache oder was für eine Gegend?‘ / Die Martierin lachte wieder und betrachtete ihn dabei vergnüglich, wie man ein merkwürdiges Tier abwartend anschaut. / Saltner wiederholte seine Frage französisch, englisch, italienisch und sogar lateinisch“ (ebd., S. 32).  Ein weiteres Mal hebt Saltner zu einer rhetorisch ausgefeilten Selbstvorstellung an, die sein Gegenüber nicht versteht, und bedient sich dann der Gebärdensprache: Er nennt seinen eigenen Namen, zeigt dabei mit dem Finger auf sich selbst, dann auf seine Umgebung und schließlich auf die Martierin. Diese versteht die Gebärdensprache, zeigt auf sich selbst, nennt ihren Namen „Se“ und dann, auf Saltner zeigend, dessen Namen, den sie deutlich zu artikulieren weiß. Das sind ziemlich viele Details für den Bericht über eine Gesprächsanbahnung.  An die Klärung der ethnischen Herkunft der verschiedenen Dialogpartner auf der Marsstation schließt sich die ihrer topographischen Provenienz an. Saltner, der aus dem martischen Gebrauch des Wortes „Bat“ erschlossen hat, dass es „wohl soviel wie Mensch oder Volksstamm bedeute“, nutzt gemeinsam mit Se eine Karte. Auf seine Frage „Bat Se“, verbunden mit einem Hinweis auf eine Erdkarte (wodurch er sie fragt, ob sie irdischer Herkunft sei), gibt sie eine verneinende Antwort und bringt ihm dann über die Wörter „Nu“ und „Nume“ die martischen Ausdrücke für den Mars und seine Bewohner nahe – und katalysiert damit eine entscheidende Erkenntnis (ebd., S. 34).  Es sind zunächst die Redundanzstreifen einzelner Wörter, die beide Seiten kennen, mittels derer Verständigung möglich wird. Als Se – „in ihrer Sprache“, wie der Erzähler an dieser frühen Stelle im Roman noch eigens bemerkt – ihr Gefallen an Saltner bekundet und ihn dabei zu seinen Gunsten mit den „Kalakek“ (den Eskimos) vergleicht, versteht Saltner das Wort „Kalakek“ (mit denen sie die Polarkreisbewohner selbst bezeichnen) und stellt klar, dass er sich von diesen unterscheidet, indem er das ihn selbst bezeichnende Wort („Deutscher“) gleich zweimal benutzt: „‚[…] ein Eskimo bin ich nicht, ich bin ein Deutsch, kein Eskimo – Deutscher!‘“ (ebd., S. 33).

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warum der Martier diese benutzt, und verneint ein eigenes Verstehen. Immerhin kann er da sogar schon mit einem rudimentären Martier-Vokabular aufwarten; mit der Grammatik hapert es noch, wie man aus der ‚Übersetzung‘ seines Stammelsatzes ins Deutsche des Erzählers schließen kann.³⁴ So wie Saltner und Se über Referenzen auf die Eskimosprache miteinander in Dialog treten, so hilft das wenngleich rudimentäre Wissen über diese Sprache auch bei der Anbahnung der Kommunikation zwischen La und Grunthe.³⁵ Ein kleines bebildertes Wörterbuch der Martier mit Hinweisen „zum Verkehr in der Eskimosprache“ erweist sich als wichtiges Hilfsmittel.³⁶ Später taucht dann zur Verblüffung der deutschen Ingenieure auch noch ein deutsch-martisches Wörterbuch auf, dessen Verfasser, Ell, von den Deutschen an seiner Handschrift identifiziert wird.³⁷ Einmal mehr bemüht sich Laßwitz um Präzision, indem er selbst die verwendeten Schriftcodes (die lateinische Schrift und die stenographische der Martier) nennt – geht es doch nicht nur um Vokabeln, sondern auch um deren Aussprache, als deren Repräsentanten die Buchstaben dienen.³⁸ Das interkulturelle und interplanetarische Sprachstudium der Protagonisten steht insgesamt im Kontext umfassender Verstehens- und Verständigungsprozesse. Den Bemühungen der Deutschen, sich die Sprache der Marsbewohner anzueignen, kamen diese bereitwillig entgegen, so daß Saltner und insbesondere Grunthe sehr bald ein Gespräch auf martisch führen konnten; gleichzeitig fand es sich, daß auch die Martier, welche den täglichen Umgang der beiden bildeten, das Deutsche beherrschten. Ersteres wurde dadurch möglich, daß die Verkehrssprache der Martier außerordentlich leicht zu erlernen und glücklicherweise für eine deutsche Zunge auch leicht auszusprechen war. Sie war ursprünglich die Sprache derjenigen Marsbewohner gewesen, die auf der Südhalbkugel des Planeten […] wohnten […]. Von hier war die Vereinigung der verschiedenen Stämme und Rassen der Martier zu einem großen Staatenbund ausgegangen, und die Sprache jener Zivilisatoren des Mars war die allgemeine Weltverkehrssprache geworden. Durch einen Hunderttausende von Jahren dauernden Gebrauch hatte sie sich so abgeschliffen und vereinfacht, daß sie der denkbar glücklichste und geeignetste Ausdruck der Gedanken geworden war; alles Entbehrliche, alles, was Schwierigkeiten verursachte, war abgeworfen worden.

 „Dagegen sagte er nunmehr selbst in der Sprache der Martier, was er von Se gelernt hatte: / ‚Trinken – Wein – Bat gut Wein trinken‚“ (ebd., S. 35). Dieses Rudimentär-Martisch entspricht gängigen Darstellungsweisen von Sprechern mit beschränkter Kompetenz.  Ebd., S. 41.  Ebd.  Ebd., S. 55.  „Das kleine Buch enthielt ein Wörterverzeichnis der Sprache der Martier; die Worte waren mit Hilfe der Lautzeichen des lateinischen Alphabets transkribiert, daneben befand sich eine deutsche Übersetzung und zugleich das Zeichen des Wortes in der stenographischen Schrift der Martier. Saltner hatte an den wenigen ihm bekannten Worten die Bedeutung des Inhalts erkannt“ (ebd.).

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Deswegen konnte man sie sich sehr schnell soweit aneignen, daß man sich gegenseitig zu verstehen vermochte, wenn es auch außerordentlich schwierig war, in die Feinheiten einzudringen, die mit der ästhetischen Anwendung der Sprache verbunden waren.³⁹

Das Martische ist, wie der Erzähler eigens betont, keine Einheitssprache, sondern ein stark ausdifferenziertes und insofern auf differenzierte Weise ‚welthaltiges‘ Idiom. Laßwitz orientiert sich also nicht grundsätzlich am Idealkonzept einer Universalsprache, sondern optiert im Sinne nationaler und historischer Sprachwelten. Doch den jeweils charakteristischen Dialekten der Mars-Sprachwelt steht um der besseren Verständigung willen eine Art homogenisiertes Hoch-Martisch gegenüber. Übrigens war dies nur die Sprache, die jeder Martier beherrschte. Neben derselben aber gab es zahllose, sehr verschiedene und in steter Umwandlung begriffene Dialekte, die bloß in verhältnismäßig kleinen Gebieten gesprochen wurden, endlich sogar Idiome, die allein im Kreis einzelner Familiengruppen verstanden wurden. Denn es zeigte sich als eine Eigentümlichkeit der Kultur der Martier, daß der allgemeinen Gleichheit und Nivellierung in allem, was ihre soziale Zusammengehörigkeit als Bewohner desselben Planeten anbetraf, eine ebenso große Mannigfaltigkeit und Freiheit des individuellen Lebens entsprach.Wenn so die schnelle Erfaßbarkeit des Martischen den Deutschen zugute kam, so brachte die erstaunliche Begabung der Martier andererseits zuwege, daß sie sich wie spielend das Deutsche aneigneten. Gegenüber dem verwirrenden Formenreichtum des Grönländischen erschien ihnen das Deutsche wesentlich leichter. Was aber die schnellere Erlernung desselben hauptsächlich bewirkte, war der Umstand, daß das Deutsche als Sprache eines hochentwickelten Kulturvolkes dem geistigen Niveau der Martier soviel näherstand.⁴⁰

Weite des Horizonts bei Bewahrung kultureller Eigenart: Beides ist für Laßwitz’ Sprachmodell maßgeblich. Mit den Eskimos kann man, so der Erzähler, nur einen „engen Interessenkreis“ verbalisieren und erörtern.⁴¹ Die Marsbewohner hingegen werden zum Leitbild, auch als Sprachbenutzer. Noch sind die Erdenbürger

 Ebd., S. 65 f.  Ebd., S. 66.  „Ganz anders aber wurde das Interesse der Martier erregt, als sie mit Grunthe und Saltner Gesprächsthemata berühren konnten, die ihrem eigenen gewohnten Gedankenkreis näherlagen. Im Deutschen fanden sie eine Sprache, reich an Ausdrücken für abstrakte Begriffe, und dadurch verwandt und angemessen ihrer eigenen Art zu denken. Die Überlegenheit, mit welcher die Martier die kompliziertesten Gedankengänge behandelten und in einem allgemeinen Begriff jede einzelne seiner Anwendungen mit einemmal überblickten, diese bewundernswerte Feinheit der Organisation des Martiergehirns kam den Deutschen zum erstenmal zum vollen Bewußtsein, als sie die Gewandtheit bemerkten, mit welcher die Martier das Deutsche nicht nur erfaßten und gebrauchten, sondern gewissermaßen aus dem einmal begriffenen Grundcharakter die Sprache mit genialer Kraft nachschufen“ (ebd.).

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samt ihrer Erdensprache – konkreter: die Deutschen als Sprecher eines besonders hochentwickelten Erdenidioms – nicht ganz auf der Entwicklungsstufe der Martier angelangt. Aber dass die verbale Kommunikation beider Sprechergemeinschaften gelingt, belegt die Anschlussfähigkeit des geistigen Horizonts der Menschen an den der Martier und schafft die entscheidende Voraussetzung weiterer Entwicklung. Im Bereich der Abstrakta bedarf die Kommunikation zwischen Gegenwart und Zukunft besonderer Stützung – hier müssen Wörterbücher einer denkbaren Zukunftssprache entworfen werden, neue Begriffe, neue Ausdrucksweisen entwickelt und erläutert werden. Kommunikation mit der Zukunft setzt Abstraktionsvermögen, ‚wissenschaftliche Bildung‘, ein hohes Kulturniveau voraus. Der Zusammenhang zwischen Sprache und Ethik deutet sich immerhin punktuell an. Noch misstrauisch gegenüber den Martiern, auf deren Station er sich befindet, macht Saltner gegenüber Se einmal eine Bemerkung darüber, dass seine Gastgeber ihn und Grunthe „mit Gewalt zwingen“ könnten, mit zum Mars zu kommen: „[…] Sie sind die Stärkeren. Sie können uns einfach als Gefangene auf Ihr Schiff bringen“.⁴² Doch Se versteht nicht einmal, was er mit seinem Satz über Gefangenschaft und Zwang meint: „Können? Ich weiß nicht, ich verstehe nicht recht, liebster Freund. Man kann doch immer nur das, was nicht Unrecht ist. Ihre Sprache ist so unklar“.⁴³

Die bemerkenswerte Ausführlichkeit der Erörterungen von Sprachlichem im Roman (von Dialekten und Hochsprache, Schrift und Rede, Begriffen und Bedeutungen) zeigt, dass Sprache für Laßwitz ein zentrales ‚Zukunftsthema‘ ist, an dem unter anderem deutlich wird, welches Motiv einer literarischen Schilderung künftiger Welten überhaupt zugrunde liegt: das Interesse an möglicher Progression innerhalb der eigenen Kultur, vor allem an neuen Erkenntnissen und Kommunikationsformen. Unter diesem Aspekt kann das Deutsche von der ‚Martier‘-Sprache lernen. Dabei soll es durch diese keineswegs ersetzt werden. Dass die martische ‚Weltverkehrssprache‘ sich aus der einer zivilisatorisch wirkenden Teilkultur des Mars herausgebildet hatte, lässt aber doch ahnen, dergleichen könnte auch auf der (zur Entstehungszeit des Romans noch imperialistisch strukturierten) Erde geschehen; welche den Rest der Erdenwelt ‚zivilisierende‘ Nation die dazu besonders geeignete Sprache bereitstellen könnte, lässt sich ahnen: ein zur flexiblen und allgemein leicht verständlichen transnationalen Verkehrssprache herangebildetes Deutsch.

 Ebd., S. 115.  Ebd.

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Der Wörterbuchverfasser Ell, halb Martier und halb Erdenmensch, ist eine Schlüsselfigur. Er stellt mit seinem deutsch-martischen Wörterbuch ja eine unverzichtbare Voraussetzung der Kommunikation zwischen Deutschen und Martiern bereit – und zwar, wie es explizit heißt, durch die Übersetzung von Vokabeln, die nicht auf alltägliche Gegenstände, sondern vielmehr auf Abstrakta verweisen – auf das, was sich dem Sprachbenutzer nicht durch unmittelbar sinnliche Eindrücke, sondern auf der Ebene mentaler Operationen erschließt: Überraschend schnell hatte sich das gegenseitige Verständnis durch die Sprache angebahnt. Dies war natürlich hauptsächlich durch die glückliche Auffindung der kleinen deutschmartischen Sprachanweisung gelungen. Es zeigte sich, daß diese von ihrem Verfasser Ell ganz speziell für diejenigen Bedürfnisse ausgearbeitet war, die sich bei einem ersten Zusammentreffen der Menschen mit den Martiern für beide Teile herausstellen würden. Denn es waren darin weniger die alltäglichen Gebrauchsgegenstände und Beobachtungen berücksichtigt, über welche man sich ja leicht durch die Anschauung direkt verständigen kann, wie Speise und Trank, Wohnung, Kleidung, Gerätschaften, die sichtbaren Naturerscheinungen und so weiter; vielmehr fanden sich gerade die Ausdrücke für abstraktere Begriffe, für kulturgeschichtliche und technische Dinge darin verzeichnet, so daß es Grunthe und Saltner möglich wurde, sich über diese Gedankenkreise mit den Martiern zu besprechen. Ell hatte offenbar vorausgesehen, daß, wenn wissenschaftlich gebildete Europäer mit den in der Kultur ihnen überlegenen Martiern zusammenkämen, das Hauptinteresse darin bestehen müßte, sich gegenseitig über die allgemeinen Bedingungen ihres Lebens zu unterrichten.⁴⁴

„Ell“ ist Repräsentant des Zukunftsromans selbst, wie ihn Laßwitz verfasst: eines Zukunftsromans, der zwischen Gegenwart und Zukunft übersetzt.Wie als Hinweis auf die Bedeutung des Wörterbuchverfassers liest sich der Name „Ell“ als phonetisches Äquivalent zu „L.“, der Initiale des Autors.

3.2 Phantasien über sprachfreie Kommunikation: Sophus Michaëlis: Himmelsskibet (1917/1921), Das Himmelsschiff (1926) 1917 beginnt Sophus Michaëlis die Arbeit am Drehbuch zu diesem Filmprojekt, das im Untertitel als Zukunftsroman ausgewiesen wird;⁴⁵ er verfasst das Skript in Kooperation mit Ole Olsen; die Uraufführung findet am 22.02.1918 statt. 1921 publiziert er unter demselben Titel einen Roman (der auch ins Deutsche übersetzt

 Ebd., S. 64.  Für den Hinweis auf diesen Film und diesen Roman danke ich Lasse Wichert.

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wird).⁴⁶ Skript, Film und buchförmiger Roman erzählen die Geschichte Avantis, der zusammen mit seinem Freund Krafft ein ‚Himmelsschiff‘ baut und mit einer gemischtnationalen Crew zum Mars fliegt. Hier begegnet man den Repräsentanten einer marsianischen Zivilisation, die die Unsitten der Menschen nicht teilt: Die Marsianer leben vegetarisch, alkoholfrei, moralisch, fast gewaltfrei. Eine Marsfrau, in die sich Avanti verliebt hat, begleitet diesen schließlich auf die Erde, um dort belehrend und erziehend zu wirken. Das Verständigungsproblem wird explizit thematisiert und im Sinn eines Sprachproblems gefasst. Der 93. Zwischentitel des Stummfilms informiert über das Zusammentreffen der irdischen Reisenden mit den Marsianern so: „Se, vi forstaar alt, hvad de siger, uden Ord. De har fundet det Sprog, hvorefter vi har famlet: Faelles-Sproget, Sjaelenes for alle forstaaelige Sprog!“ (dt.: „Sieh, wir verstehen alles, was sie sagen, ohne Worte. Sie haben die Sprache gefunden, nach der wir gesucht haben: Die Gemeinschafts-Sprache, die für alle verständliche Sprache der Seelen!“).⁴⁷

Wie man sich die ‚Sprache ohne Worte‘ genauer vorstellen soll, deutet eine Bemerkung des Autors Michaëlis über die Marsianer im Programmheft an, aus der hervorgeht, dass hier ein besonders stummfilmaffines Thema gestaltet wird. Drücken sich die Marsianer doch durch Mimik und Gebärden aus – wie es zu Stummfilmfiguren passt, von denen keine artikulierten Worte vernehmbar werden, allenfalls in Zwischentiteln schriftlich fixierte. „De har fundet det umiddelbare Utdryks Sprog, der spejler hver Tanke i Ansigtets letforstaaelige Minespil, i hver ydre Bevaegelses talende Naturlighed“ (dt.: „Sie haben die Sprache des unmittelbaren Ausdrucks gefunden, die jeden Gedanken im leichtverständlichen Mienenspiel des Antlitzes spiegelt, in der sprechenden Natürlichkeit jeder äußeren Bewegung.“).⁴⁸

Es soll um eine ‚natürliche‘ Sprache gehen, und zwar um eine visuelle. In Michaëlis’ Vorstellungswelt werden die arbiträren Codes überflüssig, und zur Konkretisierung wird auf (angeblich) spontan deutbare sichtbare Erscheinungen verwiesen. Wenn Kommunikation nicht auf Codierungen beruht (die zunächst erlernt werden müssten), dann ist das Universalkommunikationsmittel eben gar

 Michaëlis, Sophus: Das Himmelsschiff, Berlin 1926.  Schröder, Stephan Michael: Der Traum von der idealen Kommunikation, in: Zwischen Text und Bild. Zur Funktionalisierung von Bildern in Texten und Kontexten, hrsg. von Annegret Heitkamp und Joachim Schiedermair, Freiburg im Breisgau 2000, S. 237– 255, hier S. 240; wobei sich hier sowohl das Zitat als auch die Übersetzung finden.  Ebd., S. 249.

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keine „Sprache“ mehr.⁴⁹ Genau genommen entwickelt Michaëlis gar keine Idealsprachenphantasie, sondern vielmehr eine Idealkommunikationsphantasie, deren Pointe in ihrer Lösung von der Bindung an Wort- und Zeichensprachen und ihre Codes besteht. Nicht abwegig erscheint es, die fingierte ‚Seelensprache‘ und ‚Gemeinschaftssprache‘ der Marsianer als Modell der Ausdrucksmittel des Stummfilms zu deuten.⁵⁰ Michaëlis orientiert sich am Ideal einer Kommunikation ohne Codes, an der Idee einer Befreiung von allem Arbiträren und Kontingenten.⁵¹ Um innerhalb des Films eine Vorstellung von „amedialer Kommunikation“⁵² zu vermitteln (!), wird die Nutzung eines „Spiegelbuchs“ in die Handlung integriert, die Michaëlis selbst in einem Interview kommentiert hat: An die Stelle von Text‚Büchern‘ mit ihren ‚toten‘ und arbiträren Zeichen treten in der Marskultur Bücher mit ‚lebendigen Bildern‘. „Bøger kendes heller ikke; i Stedet for det døde Bogstav, der i Sprogforskel skiller og isolerer Menneskene, er Spejlbogen traadt til, det levende Billede, som forstaas av ethvert Øje, og som derfor er blevet det eneste Oplysningsmiddel.“ (dt.: „‚Bücher kennt man auch nicht; an Stelle des toten Buchstabens, der in seinem Sprachunterschied die Menschen trennt und isoliert,

 Schröder stellt klar diese Paradoxie der Michaelisschen Kommunikationsphantasie heraus – ebenso wie eine zweite Paradoxie, nämlich eben die, dass der Film, das Filmskript und später der Roman den Rezipienten erklären müssen, worum es geht, weil sich die ‚Universalkommunikations‘szenen eben nicht von selbst verstehen (ebd., S. 241).  Es ist, wie auch Schröders Analyse deutlich macht, kein Zufall, dass diese Phantasie im Umfeld des Films entwickelt wird – und zwar eines Films, der noch keine Tonspur mit gesprochenen Worten kennt.  Vgl. ebd., S. 240 f.: „Diese Gemeinschafts‚sprache‘ ist alogomorph in dem Sinne, daß sie weder geschriebene noch gesprochene Worte benötigt. Strenggenommen plädiert Michaelis aber nicht dafür, logomorphe Kommunikation durch non-verbale, aber dennoch semiotisch codifizierte Kommunikation (Mimik, Gestik, Kinesik u. ä.) zu ersetzen. […] Hier wird von einer amedialen und asemiotischen Kommunikation geträumt, von einem Ende der Notwendigkeit der Semiose“. „Semiose“, so Schröder in Orientierung an Umberto Eco (Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik, München 1988 (zuerst ital. 1968)), sei „ein kultureller Vorgang, ein Kommunikationsprozeß, in dem Bedeutung produziert wird“ (Schröder: Traum von idealer Kommunikation (Anm. 47), S. 241). Demgegenüber betone Michaelis, „daß seine ideale Kommunikation ‚natürlich‘ und damit kulturell unabhängig ist, weswegen auch keine Bedeutung mehr produziert werden muß, sondern die Gedanken einfach ‚gespiegelt‘ werden können“ (ebd., S. 241). Spiegelbilder aber sind keine „Zeichen“ (so wiederum auch Eco, Umberto: Über Spiegel, in: ders.: Über Spiegel und andere Phänomene, München 1990 (zuerst ital. 1985), S. 26 – 61; Referenz bei Schröder: Traum von idealer Kommunikation (Anm. 47), S. 241), und demnach kann „bei einer ‚Spiegelung‘ von Gedanken kein semiotisches ‚Geräusch‘ mehr auftreten“, die „Möglichkeit von Mißverständnissen ist ausgeräumt“ (ebd., S. 241). Das Ideal ist erreicht: „Kommunikation wird universell, weil nicht mehr die Kenntnis eines spezifischen, kulturell zu erlernenden und begrenzten Codes vorausgesetzt wird“ (ebd., S. 241).  Ebd., S. 241.

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ist das Spiegelbuch getreten, das lebende Bild, das von jedem Auge verstanden wird, und das deshalb das einzige Aufklärungsmittel geworden ist.‘“)⁵³

Auf unvermittelte Weise deckungsgleich sind im ‚Spiegelbuch‘, zumindest den Prämissen des Drehbuchs zufolge, die Ebene des zu vermittelnden Inhalts und die der bildlichen Vermittlung selbst. Hatte de Saussure die beiden Dimensionen des Sprachlichen (signifié und signifiant) zwar als die zwei Seiten eines Zeichens beziehungsweise einer Botschaft verstanden, aber doch eben als zwei Seiten, so fällt in Michaëlis’ Phantasie beides zusammen. Dabei insistiert er zugleich auf der sinnlichen Wahrnehmbarkeit der Universalsprache und denkt keineswegs an eine Art von immaterieller, rein ‚spiritueller‘ Kommunikation. Das Spiegelbuch ist ein Modell des Stummfilms, so wie Michaëlis ihn sieht. Dass der stumme Film allerdings gleichwohl auch mit verbalen Mitteln arbeitet, dass er in seinen Zwischentiteln zu lesende Wörter zeigt und das Verstehen der Filmhandlung an diese Wörter bindet, macht die immanente Problematik des Ideals sprachfreier Kommunikation deutlich. Gäbe es eine uncodierte, von den Bedingungen der Sprache und anderer Zeichensysteme unabhängige Möglichkeit der Kommunikation, so bedürfte es der Zwischentitel nicht;⁵⁴ der Filmbetrachter, der die Marsianerfiguren ja sieht, müsste sie spontan auch so verstehen. Offenbar bedarf es aber ja doch der konventionellen sprachlichen Mittel, um zu erläutern, was sich da zwischen Marsianern und Menschen abspielt, also einer Metadarstellung dessen, was da kommuniziert wird. Der Beobachter versteht das Geschehen nicht spontan. Damit erweist sich die suggerierte Idealkommunikation als abhängig von konventionalsprachlichen Erläuterungen. Michaëlis, der als Verfasser eines Filmskripts selbst mit wortsprachlichen Mitteln arbeitet und seine Geschichte schließlich auch in Romanform erzählt, wendet dem Thema der Kommunikation also insgesamt einige Aufmerksamkeit zu. Wenn seine Idealkommunikationsphantasie strikt genommen keine IdealSprach-Phantasie mehr ist, weil sie unter der Leitidee einer ‚natürlichen‘, sprich: nicht-arbiträren, uncodierten Selbstbezeichnung der Dinge steht, so schließt er damit (wie auch Schröder betont) wohl nicht zuletzt an eine seit den Pioniertagen der Photographie wirkmächtige (Selbst‐)Interpretation der modernen Bildmedien

 Interviewäußerung, in Langstedt, Adolf: Hr. Sophus Michaëlis udtaler sig om Filmens Kunst, in: Filmen, 01.03.1918, S. 99 – 100, hier S. 99; auch bei Schröder: Traum von idealer Kommunikation (Anm. 47), S. 242.  Dass die filmische Darstellung dieser Sprachutopie etwas Paradoxes hat, liegt auf der Hand: Eine sichtbare (mimisch-gestische) Sprache, die der geschriebenen Worte nicht mehr bedürfte, hätte es auch nicht mehr nötig, in Film-Zwischentitel übersetzt zu werden. Der Zuschauer müsste sie ‚von selbst‘ verstehen, wie die Reisenden des Himmelsschiffs.

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an; diese beanspruchen für sich, Manifestationen eines „Pencil of Nature“ (Talbot) zu sein, Manifestationen von „Gegenständen, die sich selbst zeichnen“,⁵⁵ also Darstellungen ohne Codes, unvermittelte und insofern ‚authentische‘ Darstellungen.⁵⁶ Michaëlis’ eigene Bemerkungen darüber, dass er anschließend an die Realisierung des Films seine Geschichte dann doch noch als Roman gestaltete, lässt erkennen, dass er sich dabei bewusst der Wortsprache als (hier einziges) Darstellungsmedium zuwendet, weil er sie als anderen (filmischen) Ausdruckformen überlegen betrachtet – nicht allerdings unter dem Aspekt allgemeiner Verständlichkeit, sondern deshalb, weil sie ‚alles‘ darzustellen vermag, auch das, was sich nicht oder nur unbefriedigend filmisch darstellen lässt. Seine Bemerkungen hierzu lesen sich unter anderem wie ein Kommentar zu der Gestalt, in der sich Visionen einer Universal- und Idealsprache profilieren können: Dies können sie eben (nur) in der Wortsprache und auf der Basis sprachlicher Codes. „Jeg har begyndt at saette ‚Himmelsskibet‘ paa Papiret – jeg maa dog gøre det engang. Papiret er taalmodigt, er i Virkeligheden den eneste rette Tumleplads for Fantasien, fordi den kan seatte alt i Scene – ogsaa det, som blivet umuligt paa Fakse Ladeplads og for tobende Filmører“. (dt.: „Ich habe begonnen, ‚Himelsskibet‘ aufs Papier zu bringen – ich muß es doch einmal machen. Das Papier ist geduldig, ist in Wirklichkeit der einzige rechte Tummelplatz für die Phantasie, weil sie alles in Szene setzen kann – auch das, was auf dem Fakse Ladeplads [nach Schröders Erläuterung dem Drehort für die Marsaufnahmen] und für zweibeinige Filmeure unmöglich wird“).⁵⁷

Tatsächlich kann der Roman vor allem Gedanken und Reflexionen zur Darstellung bringen, die wegen ihrer unauflöslichen Bindung an verbale Formulierungen im Stummfilm auf Zwischentitel beschränkt bleiben müssen, und dies hat Folgen für die Sprachenthematik, wie sie in Michaëlis’ Roman entfaltet wird. Die Kommunikation der Erdenmenschen mit den Marsianern wird ausführlicher geschildert und erläutert, was für die Plausibilisierung der Handlung auch notwendig ist.

 Zitat von Alexander von Humboldt aus dem Jahr 1839, ebd., S. 242.Vgl. Talbot, Henry Fox: The Pencil of Nature, London 1844– 1846.  Einerseits wird bei Michaëlis das für Phantasien der Kommunikation mit anderen Welten (mit extraterrestrischen wie mit Zukunftswelten) so intrikate Problem der Verständigung unter dem Eindruck von Theorien, welche die ‚Natürlichkeit‘ photographischer und filmischer Bilder behaupten, durchaus konsequent in den Film selbst verlagert. Sollte sich nicht mit filmischen Mitteln ein Eindruck solch uncodierter Kommunikation vermitteln lassen? Doch das Problem ist andererseits nicht gelöst, da die Theorie einer nichtarbiträren, nicht-semiotischen Filmdarstellung als solche nicht haltbar ist. Dazu Schröder: Traum von idealer Kommunikation (Anm. 47), S. 243; sowie Eco: Einführung in die Semiotik (Anm. 51), S. 261.  Brief Michaëlis’ an Rigmor Stampe vom 15.03.1920, in: Schröder: Traum von idealer Kommunikation (Anm. 47), S. 243.

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Geht es doch darum, dass die Marsianer für Besucher von der Erde zu Lehrern werden – und da müssen sie diese ja verstehen. Die Marsianer im Roman bedienen sich nun zwar ebenfalls der Mienen, Gesten, Bewegungen; schon ihre Physiognomien, vor allem die Augen, sind ‚sprechend‘, und der Erzähler unterstreicht mehrfach, dass es sich hier um eine allgemeine, den Erdenmenschen spontan verständliche Sprache handele.⁵⁸ Aber die Marsianer kommunizieren außerdem in einer verbalen Sprache. Deren Vokabular erschließt sich den Besuchern deshalb trotz seiner anfänglichen Fremdheit bald, weil die in den Kommunikationssituationen ebenfalls eingesetzten ‚natürlichen‘ Sprachen das Verstehen erleichtern. Immerhin integriert der Erzähler in seinen Bericht (hier: aus der Perspektive der Besucher) einige Erläuterungen zum marsianischen Vokabular, die wie der Nukleus zu einem Wörterbuch wirken.⁵⁹ Die Vorstellung, bei der Kommunikation mit einer fremden Kultur ohne Sprache auszukommen, wird im Roman verabschiedet, die Bindung an Sprachlichkeit implizit betont; geht es doch um die Vermittlung ethisch-moralischer und kultureller Werte und Leitvorstellungen, deren Übermittlung man vielleicht Körperzeichen wie Gesten und Mienen nicht ganz vorbehaltlos anvertrauen möchte. Wenn der Erzähler die Bedeutung der nonverbalen Ausdrucksmittel der Marsianer nicht nur selbst verbal interpretiert (quasi übersetzt), sondern Avanti explizit eine ähnliche Übersetzung zuschreibt, dann demonstriert der Text damit indirekt die Unhintergehbarkeit des Sprachlichen. Für einen Roman, also ein Konstrukt aus Sprache, liegt darin ein analoges Moment der Selbstbespiegelung wie im Motiv der Bildersprache für den Stummfilm. Letztlich dient die Sprache der futurischen Marsianerwelt im Film wie im Roman also der jeweiligen Selbstreferenz des Darstellungsmediums.

 „In demselben Augenblicke, als Avanti diese klaren, in die Tiefe bohrenden Greisenaugen sah, wurde seine Seele ruhig. Die Lebenserfahrung, die sie verkündeten, die Sprache, die sie sprachen, waren ihm verständlich, denn ihre Sprache kam aus derselben Quelle wie das Leben selbst“ (Michaëlis: Das Himmelsschiff (Anm. 46), S. 112). So heißt es anlässlich der ersten leibhaftigen Begegnung mit den Marsianern.Vgl. ähnlich auch ebd., S. 169. „Und nun begann eine Art Verhör, trotz der unverständlichen Worte doch so deutlich, daß Avanti gleichsam Satz für Satz den Fragen folgen konnte, die von seinen Augen, seiner Mimik und seinen Handbewegungen gestellt wurden. Der Greis hatte seinen Stab in den Boden gepflanzt und brauchte seine beiden beredten Hände. / ‚Woher kommt ihr‘, sagte diese Ausdruckssprache“ (ebd., S. 113.) Die folgenden Beschreibungen der Gesten des Greises sind klar durch die Gebärdensprache von Stummfilmakteuren inspiriert.  Vgl. ebd., S. 118: „Mit seinem phänomenalen Gedächtnis eignete sich Avanti Benennungen und Ausdrücke an, die in der Sprache der Marsbewohner wiederkehrten. Alle wußten sie bereits, daß die Sonne Duis, der rote Planet Ral genannt wurden“.

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3.3 Eine utopische Universalsprache der Ideen: Herbert George Wells: Men like Gods (1923) In Wells’ abwechslungsreichem Romanœuvre mit seinem breiten Spektrum an Zukunfts-, Science-Fiction und Reiseerzählungen werden Sprache, Sprachfähigkeit und differente Sprachen unter verschiedenen Akzentuierungen thematisiert. Wiederholt erschließt sich die Kernthematik der Romane am Leitfaden sprachbezogener Einfälle. Dies gilt beispielsweise für seine wohl bekanntesten Werke: In The Time Machine (1895) sprechen die Eloi eine dem Zeitreisenden unbekannte wohltönende Sprache, die ihrem gefälligen Aussehen und ihrer Sanftmut entspricht. Der Reisende erlernt diese Sprache im Umgang mit ihnen, dabei nicht etwa behindert durch deren Schwierigkeitsgrad, wohl aber durch das Desinteresse der Eloi an Sprache, das zu ihrer intellektuellen Trägheit insgesamt passt.⁶⁰ Die physisch und moralisch drastisch degenerierten Morlocks werden gar nicht als sprechende Wesen porträtiert; der Erzähler hört sie allenfalls eintönig murmeln.⁶¹ In The War of the Worlds (1898) sprechen die noch schrecklicheren extraterrestrischen Ungeheuer ebenfalls nicht, stoßen aber, als sie schließlich zugrunde gehen, ein Geheul aus („Ulla, ulla“). Die von Moreau manipulierten TierMensch-Hybride in The Island of Dr. Moreau (1896) sind auch sprachlich zwischen menschlicher und tierischer Welt situiert: Sie rezitieren atavistisch klingende kultische Sprechgesänge; sofern sie die Menschensprache gebrauchen, klingt dies schon wegen ihrer Stimmen seltsam. In Men like Gods (1923) kommt es – ganz ähnlich wie in Laßwitz’ Auf zwei Planeten und in Michaëlis’ Himmelsskibet – zu einer Gegenüberstellung menschlicher Sprache und Kultur mit der Sprache und Kultur einer anderen Welt, diesmal mit den Bewohnern einer Parallelwelt, deren Existenz populärwissenschaftlich mit neuen Theorien über Raum und Zeit erklärt wird.Wiederum dient dies als narrativer Rahmen, um die Welt der Gegenwartsmenschen vergleichend zu bespiegeln – dabei kritischer als bei Laßwitz, stattdessen mit ähnlichem Tenor wie bei Michaëlis. Waren bei diesem die Martier zwar technisch und weltanschaulich höher entwickelt als die Menschen, so fielen sie doch als Kriegsteilnehmer hinter ihr theoretisches Denkniveau zurück. Wells’ Parallelweltbewohner sind von einem konsequenteren Pazifismus. Zukunftswesen sind dabei auch sie; ihre Parallelwelt ist der Menschenwelt auf einem eigenen evolutionären Zeitstrahl weit voraus.

 Wells, H. G.: Die Zeitmaschine. Eine Erfindung, Zürich 1974 (zuerst: The Time Machine. An invention, London 1895), Kapitel 4.  Ebd., Kapitel 9.

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Auch bei Wells gestalten sich Szenen um verbale Kommunikation und ihre Rahmenbedingungen als Schlüsselepisoden. Die Vertreter der Menschheit erscheinen dabei als diejenigen, die zu lernen haben. Dem, worüber die Utopier sprechen, vermögen sie manchmal kaum zu folgen.⁶² Ihre eigene Begrifflichkeit erscheint aus utopistischer Perspektive teilweise anachronistisch. Manche Menschenwörter haben in Utopia ihren Referenten verloren: Es gibt keine „Zentralregierung“ mehr,⁶³ und die mit dem „Privateigentum“ verbundenen Probleme kennt man in Utopia nicht.⁶⁴ Am Sprechverhalten des Priesters und anderer Gegenwartsmenschen werden deren Schwächen (Fanatismus, Egoismus, Machtstreben, Naivität) pointiert ablesbar und kontrastieren mit dem freundlich-belehrenden Redegestus der Utopier. Die Differenz zwischen Erdenmenschen und Utopiern enthüllt sich vor allem, als die Ersteren rückblickend auf ein Gespräch mit Letzteren eine Besonderheit registrieren. Barnstaple macht seinen Gefährten Amerton darauf aufmerksam, dass man mit ihnen seltsamerweise englisch gesprochen habe: „Well, how is it that these people are speaking to us in English – modern English?“ „I never thought of that. It is rather incredible. They don’t talk in English to one another.“ Mr. Barnstaple stared in round-eyed amazement at Fater Amerton, struck for the first time by a still more incredible fact. „They don’t talk in anything to one another“, he said. „And we haven’t noticed it until this moment!“⁶⁵

Wells spinnt den Einfall einer Simultanübersetzung der Reden der Utopier ins Englische auf eine Weise aus, die auch seinen eigenen Erzählerbericht betrifft: Eine Rede Serpentins gilt einer „Schwesterwelt“, die relativ zur Welt der Utopier „ein wenig zurückgeblieben“ ist; die Erdenmenschen von 1920 ähneln den Vor-

 Wells, H. G.: Menschen, Göttern gleich, München 2004 (zuerst: Men like Gods, London 1923), S. 48: Die Utopier haben die Idee einer Beschränkung des Universums auf drei Dimensionen hinter sich gelassen. Serpentin erklärt den Menschen in groben Zügen die Theorien seiner Wissensgesellschaft über die große Zahl der parallelen Raum-Zeit-Universen (ebd., S. 50). Pater Amerton vermag mangels geistiger Flexibilität nicht zu folgen: „But what is he talking about? I don’t catch it“ (ebd., S. 51).  Ebd., S. 69.  Ebd., S. 71.  Ebd., S. 42. Die vermeintliche Englischkompetenz der Utopier wird auch in Kapitel 4 („The Shadow of Einstein falls across the story but passes lightly by“) nochmals erwähnt: „Except fort that one perplexing fact that all these Utopians had apparently a complete command of idiomatic English, Mr. Barnstaple found his vision of this new world developing with a conguity that no dream in his experience had ever possessed. It was so coherent, so orderly, that less and less was it like a strange world at all and more and more like an arrival in some foreign but very highly civilised country“ (ebd., S. 43).

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fahren der Utopier im „letzten Zeitalter der Verwirrung“. In Wells’ Text werden diese Ausführungen Serpentins (natürlich) auf Englisch wiedergegeben. Da dies aber der Konstruktion zufolge die Möglichkeit impliziert, dass auch das Englisch des Erzählers Serpentins Ausführungen nicht adäquat wiederzugeben vermag, die ‚Übersetzung‘ also stellenweise misslingt, enthält der Erzähltext mit der Wiedergabe von Serpentins Erklärungen Lücken und Fragezeichen als Hinweise auf die Unsicherheit der Wiedergabe. „[…] Possibly there are streaks of heredity in your planet that have failed to develop or that have died out in ours. Possibly there are elements or minerals in one world that are rare or wanting in the other. … The structure of your atoms (?) … our worlds may intermarry (?) … to their common invigoration …“.⁶⁶

Ab hier ‚hört‘ Barnstaple nichts mehr, weil sich das Ausgeführte seinem Verstehenshorizont entzieht;⁶⁷ und der Leser bekommt die Fortsetzung nicht zu lesen. Schließlich beendet Serpentin – „abruptly becoming audible again“⁶⁸ – seine Rede, verbunden mit der (nunmehr wieder lesbaren) Bemerkung, das sei nun sein Erklärungsversuch für den Besuch der Menschen in seiner Welt gewesen. Er habe alles so klar wie möglich ausgedrückt („put our ideas before you as plainly as I can“⁶⁹) und schlage nun vor, die Besucher möchten die Beziehung der beiden Welten aus ihrer eigenen Sicht erklären. Dazu sind diese erwartungsgemäß nicht in der Lage. Anlässlich dieser Situation werden die aktuellen Kommunikationsbedingungen explizit erörtert. Der Romanerzähler verschanzt sich dabei gleichsam hinter der Wiedergabe des Dialogs; dass er selbst weitergehende Erklärungen zu geben vermöchte, erscheint zweifelhaft. Mr. Barnstaple fragt den Utopier Urthred: „You live in Utopia, hundreds of thousands of years in advance of us. How is it that you are able to talk contemporary English – to use exactly the same language we do? […] It makes a dream of you. And yet your are not a dream? It makes me feel – almost – insane.“ Urthred smiled pleasantly. „We don’t speak English,“ he said. Mr. Barnstaple felt the gournd slipping from under his feet. „But I hear you speaking English,“ he said. „Nevertheless we do not speak it,“ said Urthred. […] „We don’t – for ordinary purposes – speak anything. […] Ages ago […] we certainly used to speak languages. We made sounds and we heard sounds. […] Then, in some manner which we still do not understand perfectly, people began to get the idea before it was clothed in

 Ebd., S. 52.  „He passed into the inaudible just when Mr. Barnstaple was most moved and most eager to follow what he was saying.Yet a deaf man would have judged he was still speaking“ (ebd., S. 52 f.).  Ebd., S. 53.  Ebd.

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words and uttered in sounds. They began to hear in their minds, as soon as the speaker had arranged his ideas and before he put them into words symbols even in his own mind. They knew where he was going to say before he said it. This direct transmission presently became common; […] We think directly to each other. We determine to convey the thought and it is conveyed at once – provided the distance is not too great. We use sounds in this world now only for poetry and pleasure and in moments of emotion […] or with animals, not for the transmission of ideas from human mind to kindred human mind any more. When I think to you, the thought, so far as it finds corresponding ideas and suitable words in your mind, is reflected in your mind. My thought clothes itself in words in your mind, which words you seem to hear – and naturally enough in your own language and your own habitual phrases. Very probably the members of your party are hearing what I am saying to you, each with his own individual difference of vocabulary and phrasing.“⁷⁰

‚Miteinander zu denken‘ erscheint gegenüber dem Austausch verbaler Botschaften den kommunizierten Ideen sowohl angemessener als auch effizienter. Es impliziert aber evidenterweise die Möglichkeit, die kommunizierten Ideen seien unabhängig von ihrer konkreten sprachlichen Form. Rückblickend erklärt sich durch Urthreds Erläuterung auch für den Leser (der zuvor über manches ebenso im Dunkeln blieb wie die Besucher in Utopia) eine seltsame Gesprächsszene, in der die einzelnen Mitglieder der Menschengruppe jeweils Verschiedenes aus einer Utopier-Äußerung herausgehört hatten. Der Gelehrte Serpentin hatte sich zu seinem Beruf geäußert, wurde dabei aber verschieden verstanden.⁷¹ Jetzt verstehen auch wir, warum das so war. He called himself something that Mr. Barnstaple could not catch. First it sounded lie „atomic mechanician“, and then oddly enough it sounded like „molecular chemist.“ And then Mr. Barnstaple heard Mr. Burleigh say to Mr. Mush, „He said ‚physiochemist‘, didn’t he?“ „I thought he just calles himself a materialist,“ said Mr. Mush. „I thought he said he weighed things,“ said Lady Stella. „Their intonation is peculiar,“ said Mr. Burleigh. „Sometimes they are almost too loud for comfort and then there is a kind of gap in the sounds.“⁷²

Den Bewohnern der futuristischen Parallelwelt ist die Lösung aller Probleme gelungen, die sich aus dem uneinheitlichen Sprachgebrauch früherer Zeiten, also aus den Verständigungsschwierigkeiten in einer Welt differenter Sprachen, ergaben: Sie sind mental in der Lage, aus allen sprachlichen Äußerungen anderer Wesen die ‚reinen‘ Ideen auszufiltern, und kommunizieren untereinander ohnehin nur reine, von äußeren sprachlichen Zeichen und Formen unberührten Ideen.

 Ebd., S. 58 f.  Ebd., Kapitel 4.  Ebd., S. 46 f.

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Den menschlichen Kommunikationspartnern, die dies noch nicht können, übermitteln sie ihre Ideen unter ‚übersetzender‘ Angleichung an die Sprache, die diese jeweils beherrschen, so dass alle Besucher die Äußerungen der Parallelweltbewohner in der ihnen jeweils vertrauten Sprache vernehmen beziehungsweise zu vernehmen glauben. Wells Idee einer ‚reinen‘ und perfekt transparenten Kommunikation ist dem philosophischen Idealbild einer für die Ideen selbst transparenten Universalsprache verpflichtet. Sprachenvielheit erscheint, daran gemessen, als ein Störfaktor der Kommunikation zwischen Sprachengemeinschaften – ein auch politisch brisantes Thema. Unübersehbar steht Wells auch in der Tradition englischer Sprachphilosophie, wie sie durch John Locke⁷³ repräsentiert wird. Beide unterscheiden die Wörter als Bezeichnungen der Ideen von den Ideen selbst. Locke fordert in der Konsequenz eine möglichst rationale und transparente Zuordnung der Wörter zu den Ideen. Dies sei Bedingung einer Optimierung des Verstandesgebrauchs, welche von einer Kritik an irreführenden und unpräzisen Ausdrucksweisen ihren Ausgang nehme. Bei Laßwitz und Wells wird zwar über die Zukunftssprache gesprochen, aber doch in evidenter Bindung an geläufige sprachliche und narrative Darstellungsmittel. Die folgenden Beispiele sind da etwas kühner. Verbunden mit neuen Formen des Erzählens brechen sie zumindest im Ansatz auch geläufige Vorstellungshorizonte auf.

3.4 Reisen in neue Denkräume: Gaston Pawlowski: Voyage au pays de la quatrième dimension (1912/1923) Wenn Wells in seinem Roman The Time Machine die Zeitreise seines Protagonisten damit erklären lässt, dass es neben den drei bisher bekannten Raumdimensionen nunmehr auch die Zeit als 4. Dimension zu berücksichtigen gelte, um neuartige Erfahrungsmodi zu erklären, dann knüpft Gaston Pawlowski mit seinem Roman über eine Reise ins Land der vierten Dimension hier an. 1912 in einer ersten Fassung erschienen, wird dieser 1923 in modifizierter Form publiziert.⁷⁴ Akzentuiert wird dabei das Innovatorische dieser Reiseerfahrung; die ‚vierte Dimension‘ wahrzunehmen, erscheint als ein Zukunftsprojekt, die reisend erfahrene Welt  Vgl. Locke, John: An Essay concerning Human Understanding, London 1689 (datiert auf 1690), Buch 3.  Pawlowski, Gaston de: Voyage au pays de la quatrième dimension [Reise ins Land der vierten Dimension], Paris 1912 (erweiterte Ausgabe 1923). Deutsche Ausgabe: Pawlowski, Gaston de: Reise ins Land der vierten Dimension, Berlin 2016 (nach der Fassung von 1923).

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gestaltet sich im emphatischen Sinn als futuristisch. Obwohl der aus verschiedenen Einzeltexten zusammengesetzte Reisetext zu weiten Teilen den Charakter von Essays oder Abhandlungen hat, wird er als Ganzes doch als „Roman“ charakterisiert. Die Texte stehen für Stationen einer Reise, die (auch oder sogar hauptsächlich) in neue Gedankenwelten führt. Um sich einem neuen Verständnis von Zeit zu nähern (oder eine solche Annäherung doch zu simulieren), stützt sich der Erzähler auf die Idee der „vierten Dimension“, also einer Dimension, welche die drei geläufigen Dimensionen räumlicher Erstreckung von Objekten ergänzt. Dabei knüpft er an verschiedene Diskurse an, an mathematische, physikalische und okkultistische. Mit der Suggestion einer Reise in neue Denkräume verbinden sich eingehende Auseinandersetzungen darüber, wie sich dergleichen schildern lasse. Wie kann die Sprache der Gegenwart, die der Erzähler seiner Leserschaft gegenüber benutzt, das emphatisch Neue vermitteln? Pawlowskis Erzähler wählt angesichts der Schwierigkeit, neue Formen des Erlebens, Empfindens und Denkens zu verbalisieren, Strategien der negativen, der indirekten und der selbstexplikatorischen Darstellung: Wiederholt verweist er auf das, was er in konventioneller Sprache nicht ausdrücken kann – und damit auf die eigene Ausdrucksweise als solche. Am Anfang gleich erörtert er seine Bindung an eine Sprache, die er als dem Mitzuteilenden nicht wirklich gemäß einschätzt. Moi qui suis parvenu depuis quelque temps déjà au pays de la quatrième dimension, j’éprouve, au moment d’écrire mes souvenirs anticipés, une peine étrange à les traduire en langue vulgaire. Le vocabulaire est en effet conçu d’après les données de l’espace à trois dimensions. Il n’existe pas de mots capables de définir exactement les impressions bizarres que l’on ressent lorsque l’on s’élève pour toujours au-dessus du monde des sensations habituelles. La vision de la quatrième dimension nous découvre des horizons absolument nouveaux. Elle complète notre compréhension du monde; elle permet de réaliser la synthèse définitive de nos connaissances; elle les justifie toutes, même lorsqu’elles paraissent contradictoires, et l’on comprend que ce soit là une idée totale que des expressions partielles ne sauraient contenir. Du fait que l’on énonce une idée au moyen des mots en usage, on la limite par là même au préjugé de l’espace à trois dimensions. Or, si nous savons que les trois dimensions géométriques: largeur, hauteur et profondeur peuvent toujours être contenues dans une idée, ces trois dimensions, par contre, ne peuvent jamais suffire à construire intégralement une qualité, que e soit une courbe dans l’espace ou un raisonnement de l’esprit. Et de cette différence, non mesurable par des quantités, que faute de mieux nous appelons quatrième dimension, de cette différence entre le contenant et le contenu, entre l’idée et la matière, entre l’art e la science, ni les chiffres, ni les mots construits à trois dimensions ne peuvent rendre compte.⁷⁵

 Pawlowski:Voyage (Anm. 74), S. 23, dt. (Pawlowski: Reise (Anm. 74), S. 7): „Seit einiger Zeit bin

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Wo die Sprache dem Mitzuteilenden nicht gerecht werden kann, bedarf es der Kompromisse, Hilfskonstruktionen und Selbstkommentare. Der Erzähler betont in entsprechender Erläuterung seiner Verbalisierungsstrategien, dass er […] prenant la partie pour le tout, je désigne au cours de ce récit par les mots: quatrième dimension l’ensemble continu des phénomènes, incorporant dans cet ensemble ce qu’on est convenu d’appeler les trois dimensions de la géométrie euclidienne.⁷⁶

In manchem wirkt der Erzählerdiskurs tastend-experimentell: Anfangs ist (noch) nicht von der Zeitlichkeit als vierter Dimension die Rede, sondern nur sehr unbestimmt von der vierten Dimension als dem, was sich konventioneller Darstellung und Vorstellung entzieht, diese überschreitet et cetera. In einem ersten Ansatz wird die „vierte Dimension“ dann platonisch interpretiert – als das an den Dingen, was der Vermessung entzieht beziehungsweise über diese hinausgeht: ihre ideelle Seite. Betont wird dabei, dass die „Reise in die 4. Dimension“ einen Bruch mit vertrauten Vorstellungen voraussetzt; das klingt ähnlich wie bei Wells.⁷⁷

ich nun ins Land der vierten Dimension vorgedrungen, empfinde aber, da ich meine künftigen Erinnerungen zu Papier bringen möchte, eine merkwürdige Mühe, sie in die gewöhnliche Sprache zu übersetzen. Tatsächlich entspricht unser Wortschatz den Gegebenheiten des dreidimensionalen Raums. Es gibt keine Wörter für die sonderbaren Erlebnisse, die einem widerfahren, sobald man sich für immer über die Welt der gewohnten Empfindungen erhebt. Der Anblick der vierten Dimension eröffnet uns vollkommen neue Horizonte. Sie vervollständigt unser Verständnis der Welt; sie ermöglicht eine endgültige Synthese unserer Kenntnisse; sie rechtfertigt sie alle, selbst wenn sie widersprüchlich erscheinen. Man begreift, dass es sich hier um eine allumfassende Idee handelt, die kein partieller Ausdruck zu bezeichnen vermag. Indem man eine Idee in herkömmlicher Sprache ausdrückt, beschränkt man sie auf das Vorurteil des dreidimensionalen Raums. Nun, wenn wir wissen, dass die drei Dimensionen der Geometrie: Breite, Höhe und Tiefe stets in einer Vorstellung enthalten sein können, so genügen diese drei Dimensionen hingegen niemals zur vollständigen Konstruktion einer Qualität, egal, ob es sich um eine Kurve im Raum oder eine intellektuelle Schlussfolgerung handelt. Und von dieser quantitativ nicht erfassbaren Differenz, die wir in Ermangelung eines Besseren vierte Dimension nennen, von dieser Differenz zwischen Form und Inhalt, Idee und Materie, Kunst und Wissenschaft können Zahlen und Wörter der dritten Dimension niemals zeugen“.  Ebd., S. 23; dt. (Pawlowski: Reise (Anm. 74), S. 8): „den Teil für das Ganze nehmend, in meinem Bericht mit den Worten vierte Dimension jene Phänomene bezeichne, die in ihrer Gesamtheit die sogenannten drei Dimensionen der euklidischen Geometrie umfassen“.  Ebd., S. 24: „Le temps sans l’espace qui le figure est pour nous inaccessible, et l’espace ne s’explique à nos sens que par le temps que nous mettons à le parcourir. Mais, par une sorte de paresse naturelle, notre esprit évite ces contradictions […]“; dt. (Pawlowski: Reise (Anm. 74), S. 9): „Die Zeit ohne sie verkörpernden Raum ist für uns unzugänglich, und der Raum erschließt sich unseren Sinnen allein durch die Zeit, die wir benötigen, um ihn zu durchqueren. Doch aufgrund einer Art natürlichen Faulheit weicht unser Geist diesen Widersprüchen aus […]“.

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Eher okkultistisch inspiriert sind andere Formulierungen.⁷⁸ Die den Erzählerdiskurs begleitende Kritik an der konventionellen, ‚alten‘ Sprache, geübt aus der Perspektive eines Denkens, das durch geläufige chronologische Vorstellungen nicht mehr bestimmt wird, hat stets eine selbstbezügliche Seite und bezieht sich etwa auch auf den Titel des Romans selbst.⁷⁹ Zumindest tendenziell orientiert sich auch Pawlowski an der Idee eines ‚reinen‘ Denkens, einer Lösung der Ideen von den sie normalerweise bezeichnenden Worten. Verbunden ist dies aber mit einer positiven Semantisierung des Schweigens, die an mystizistische Tendenzen erinnert.⁸⁰ Charakteristisch ist die häufige Verwendung der Konjunktion „Sobald“ mit prophetischem Gestus: So wird über etwas, das kommen soll, mit einem Gestus gesprochen, als sei seine Ankunft sicher. Der Eintritt ins Neue Land und die Erkenntnisfähigkeit des Neuen Landes bedingen einander wechselseitig

 Etwa diese: „dans l’état actuel de notre civilisation peu d’esprits pourraient supporter sans danger la destruction brusque […] des notions de temps et d’espace. […] Et cependant, nous sentons bien, à chaque instant, que nous sommes environnés d’un immense inconnu. Entre le monde sensible et notre conscience, nous occupons une place étrange et mal définie […]“ (ebd., S. 24); dt. (Pawlowski: Reise (Anm. 74), S. 9): „Im gegenwärtigen Zustand unserer Zivilisation könnten wenige Geister die Gefahr der plötzlichen Zerstörung […] der Zeit- und Raumvorstellungen ertragen. […] Jedoch spüren wir in jedem Augenblick, dass wir von einer ungeheuren Sphäre des Unbekannten umgeben sind. Zwischen der Sinnenwelt und unserem Bewusstsein nehmen wir einen seltsamen und unzureichend bestimmten Platz ein […]“.  „Rien ne peut avoir, à proprement parler, de commencement ne de fin. […] On comprend, dès lors, combine pauvres et sans expression demeurent des mots tels que ceux-ci: Voyage au pays de la quatrième dimension. Dans cet état d’intellectualité supérieure, voyage ne signifie rein et l’expression : quatrième dimension n’est, elle-même, que la manifestation d’un état synthétique, plutôt que l’analyse d’une quantité nouvelle“ (ebd., S. 25) ; dt. (Pawlowski: Reise (Anm. 74), S. 11): „Nichts kann eigentlich Anfang und Ende haben. […] Man versteht daher, wie arm und ausdruckslos Worte wie diese hier bleiben: Reise ins Land der vierten Dimension. In diesem Zustand höherer Intellektualität bedeutet ‚Reise‘ nichts, und die Wendung ‚vierte Dimension‘ ist eher der Ausdruck eines synthetischen Zustandes als die Analyse einer neuen Größe“.  „Dès que l’on est parvenu dans ce monde des idées pures, toute expression du langage vulgaire devient négative. L’esprit ne fait plus qu’un avec l’universalité des choses; ses idées sont toutes positives, sans réaction possible. L’âme silencieuse ne s’inquiète plus des bruits du monde. Ils ne sont plus pour elle que des points conventionnels, incapables de résumer l’idée immortelle inconnue du vulgaire […]“ (ebd., S. 25 f.), dt. (Pawlowski: Reise (Anm. 74), S. 11): „Sobald man in diese Welt reiner Ideen eingetreten ist, wird jeder gewöhnliche Ausdruck der Sprache negativ. Der Geist ist eins mit der Gesamtheit der Dinge; seine Ideen sind allesamt positiv, ohne mögliche Reaktion. Die schweigende Seele kümmert sich nicht mehr um den Lärm der Welt, deren Geräusche für sie nur konventionelle Fragen sind, die die unsterbliche Idee nicht zu fassen vermögen; diese Idee ist der gemeinen Masse unbekannt […]“.

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(wobei „Land“ hier die Umschreibung für den ‚Raum‘ eines neuen Denkens ist, das die Zeit als relativ und als bloße konventionelle Anschauungsform begreift).⁸¹ Indem immer wieder die Grenzen der eigenen sprachlichen Möglichkeiten zum Gegenstand des Diskurses werden, weist dieser Diskurs doch immerhin bereits über sich hinaus, lässt also das konventionelle Gelände des Denkens und Sprechens zumindest hinsichtlich seiner Orientierung auf ein anderes Denken und Sprechen hinter sich. Pawlowski widmet dem Thema Sprache schon deshalb erhebliche Aufmerksamkeit, weil sein Text insgesamt dadurch den Charakter eines Brückenschlags hin zu Neuem, Zukünftigen annimmt. Sprachgestisch wird gleichsam in Richtung Zukunft gezeigt: J’aurais pu, je le sais, en écrivant ces notes, recourir comme certains philosophes à un vocabulaire de convention, forger des mots obscurs pour masque l’insuffisance du langage courant, mais ceci ne ferait que reculer la difficulté sans la résoudre. Je préfère donc raconter ces souvenirs de mes voyages au pays de la quatrième dimension tels qu’ils se présentent à mon esprit, sans prétention littéraire, naïvement et en désordre, attendant tout de l’indulgence du lecteur, heureux seulement si je puis toucher en son esprit quelques idées endormies que personne, dans notre monde, n’avait pris soin jusqu’ici d’éveiller. […] Avant tout, il convient de bien établir que le fait d’être transporté – „transporté“ n’est pas le mot –

 „Ces notions générales sur l’existence relative du temps ne ruent point, cependant, celles qui m’apparurent tout d’abord le plus clairement. Je n’en compris toute l’étrange portée que lorsque, parvenu déjà au pays de la quatrième dimension, il me fut donné de connaître tout en même temps ce qui se passerait dans les âges écoulés et ce qui était arrivé dans les siècles à venir“ (ebd., S. 26) ; dt. (Pawlowski: Reise (Anm. 74), S. 11): „Diese allgemeinen Ideen über die relative Existenz der Zeit sind mir jedoch nicht gleich so deutlich bewusst geworden. Ich erkannte ihre ganze Tragweite erst nach meiner Ankunft im Land der vierten Dimension, als ich alles, was in den vergangenen Äonen geschehen würde und in den kommenden Zeitaltern geschehen war, zugleich erfuhr“. – Die folgenden Texte umkreisen das Thema der anderen Wahrnehmung als der Wahrnehmung von etwas Anderem aus verschiedenen Richtungen. „Le ruban défait“ (ebd., S. 27 f., dt.: „Das gelöste Band“, S. 13 – 16) nimmt Bezug auf spiritistisch-okkultistische Diskurse, auf Medien, aber auch auf Vertreter und Probleme post-euklidischer Mathematik, etwa auf seltsame „ligature“ („Knoten“). Um Raumvorstellungen und deren Modifikation geht es auch in „La diligence innombrable“ (ebd., S. 29 f., dt.: „Die unendlich vervielfachte Kutsche“, S. 16 – 19) sowie in „L’escalier horizontal“ (ebd., S. 31 f., dt.: „Die horizontale Treppe“, S. 20 – 22). Dieser Text entspricht Raumkonstruktionen auf Graphiken M.C. Eschers, bei dem Treppensysteme die Idee des Unterschieds von ‚Oben‘ und ‚Unten‘ einerseits suggerieren, sie andererseits aber unterlaufen. Modifizierte Raumvorstellungen werden ferner in „Abstractions d’espace“ (ebd., S. 33 ff., dt.: „Räumliche Abstraktionen“, S. 22– 26) entwickelt; in „Le voyage instantané“ (ebd., S. 36 ff., dt.: „Die augenblickliche Reise“, S. 26 – 29) geht es eher um nicht-lineare Zeiterfahrung, etwa in Träumen.

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au pays de la quatrième dimension, renverse immédiatement les notions communes que nous pouvions avoir du temps et de l’espace.⁸²

Als ein Werk über neuartige, zukünftige Modi und Dimensionen des Erfahrens, denen nur eine neue Sprache ganz entsprechen könnte, ist Pawlowskis Text nicht zuletzt ein poetologischer Roman, wie gelegentliche Hinweise auf die Funktion der Dichtung bekräftigen: „C’est aux poètes, aux imaginatifs, qu’il appartient, depuis les origines du monde, de découvrir les secrets de la nature“.⁸³

3.5 Eine neue deutsche Erzählersprache: Alfred Döblin: Berge Meere und Giganten (1924) Döblin schildert in seinem Roman Berge Meere und Giganten eine Zukunft, die sich über den weiten Zeitraum mehrerer Jahrtausende erstreckt.⁸⁴ Geschildert werden regionale, überregionale und globale Ereignisse und Entwicklungen, Kriege, Rebellionen, Erfindungen, großangelegte Unternehmen zur Unterwerfung der Natur, Manipulationen der natürlichen Arten und andere Formen menschlicher Intervention in die irdische Lebenswelt, komplementär dazu aber auch Naturkatastrophen und unvorhersehbare Folgen menschlichen Handelns in Wissenschaft, Technik und Politik. Die dargestellten Ereignisse erstrecken sich zwischen dem 24. und dem 27. Jahrhundert. Die Figuren des Romans – die Akteure der erzählten Geschichtsphasen – kommen dabei nicht allzu oft selbst zu Wort; ihre Dialoge und Monologe nehmen im Roman insgesamt nicht viel Raum ein. Was sie sagen, ist oft auffällig lako-

 Ebd., S. 24; dt. (Pawlowski: Reise (Anm. 74), S. 8): „Ich weiß, ich hätte beim Schreiben dieser Aufzeichnungen, wie bestimmte Philosophen, ein konventionelles Vokabular in Anspruch nehmen und obskure Begriffe schmieden können, um die Unzulänglichkeit der gewöhnlichen Sprache zu verschleiern, doch hätte ich die Schwierigkeiten damit bloß verdrängt, nicht gelöst. Daher ziehe ich es vor, diese Erinnerungen an meine Reisen ins Land der vierten Dimension so, wie sie mir einfallen, zu erzählen, ohne literarische Ansprüche, freiheraus und durcheinander, vom Wohlwollen des Lesers alles erwartend und froh allein, wenn es mir gelingt, einige in ihm schlummernde Ideen anzusprechen, die zu erwecken bis jetzt niemand in unserer Welt versucht hat. […] Vor allem ist die Feststellung angebracht, dass die Tatsache, ins Land der vierten Dimension transponiert zu werden – ‚transportiert‘ ist nicht das richtige Wort –, unmittelbar die Raum- und Zeitvorstellungen umstürzt“.  Vgl. Pawlowski: Reise (Anm. 74), S. 31. „Seit Anbeginn der Welt ist es die Aufgabe der Dichter und Einfallsreichen, die Geheimnisse der Natur zu enthüllen“.  Vgl. zu diesem Roman auch die Beiträge von Fynn-Adrian Richter und Stephan Willer in diesem Band.

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nisch, expressiv oder in anderem Sinn pointierend. Aber sie sprechen weder eine konstruierte ‚futuristische‘ Literatursprache, noch eine Fremdsprache. Letzteres mag zunächst umso mehr verwundern, als die Romanhandlung ja in verschiedenen Weltteilen spielt. Die namentlich genannten Akteure stammen vor allem aus der westlichen Welt, aus Europa und den USA, unter ihnen sind aber auch Bewohner anderer Kontinente, etwa Afrikaner.⁸⁵ Nicht immer lassen die genannten Namen hier eindeutige Rückschlüsse auf nationale und kulturelle Provenienzen zu, aber zumal in Verbindung mit der Nennung von Ortsnamen sind doch diverse der wichtigsten Gestalten dem deutschen, englischen, angloamerikanischen und französischen Kulturraum affin. Bilden diese zukünftig keine abgegrenzten Sprachräume mehr? Oder geht der Erzähler über solche Differenzen bewusst hinweg? Tatsächlich widmet Döblin der spezifischen Zugehörigkeit von Figuren zu Sprachkulturen offensichtlich keine Aufmerksamkeit.⁸⁶ Was immer die Figuren sagen, steht im Roman als deutscher Text, wobei unerörtert bleibt, ob man ihre Redebeiträge deshalb auf Deutsch liest, weil sie Deutsch gesprochen haben (was bei den Figuren mit erkennbar oder explizit deutschem Hintergrund naheliegt, bei anderen aber nicht) oder weil ihre Äußerungen durch den Erzähler ‚stillschweigend‘ eingedeutscht (‚gedolmetscht‘) worden sind. Nur ausnahmsweise wird überhaupt einmal kommentiert, in welcher besonderen Sprache eine Figur spricht – hier in einem deutsch-englischem Gemisch: Bei der Beschreibung des Berliner Konsuls Marke (am Anfang des Dritten Buchs, „Marduk“), der seine Töchter angesichts der verzweifelten politischen Lage zum Suizid auffordert, heißt es: „Ihr wollt euch nicht töten? Wollt ihr euch nicht töten?“ Eintönig und immer wiederholt seine Frage. Er sprach das hier übliche Englisch-Deutsch; bisweilen murmelte er in einem unverständlichen Jargon: russisch, der Leute zwischen den Feuerlinien.⁸⁷

 Döblin, Alfred: Berge Meere und Giganten, München 2013 (zuerst 1924). In Buch 2 („Der Uralische Krieg“) beispielsweise ist in einer Schilderung der politischen Situation die Rede von einer solchen Akteursgruppe. Dazu gehören „Bogumil Leuchtmar aus der hamburgischen Stadtlandschaft“ und sein Gefährte Rallignon, die „Wieschinska, seine [Leuchtmars] ehemalige Mitregentin in Heraklopolis, der schlesischen Stadtlandschaft“, „ein Weib namens Azagga, die in der bayrischen Stadtlandschaft dominierte“, „Uru aus Palermo“ und „der Dongod Dulu aus dem ägyptischen Zentrum“ (ebd., S. 97).  Dass Döblin seine Zukunftswelten aber nicht konkret und explizit in spezifische Sprachräume oder Sprachkulturen ausdifferenziert, passt immerhin zur Basiskonzeption einer entwicklungslosen Weltgeschichte. Denn wo die Beschaffenheit der historischen Welt und ihrer Bewohner keiner substanziellen Änderung unterliegt, muss auch keine ‚neue Sprache‘ erfunden werden, um Progression oder Regression der kulturellen und der Wissensgesellschaften zu machen.  Ebd., S. 125.

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Da es explizit um eine ‚übliche‘ Form des Sprechens geht, mag man sich auch die Reden anderer Romanfiguren als hybridsprachlich ausmalen. Bestätigt wird dies aber nicht, geschweige denn vorgeführt. Die Passage über die von der Figur Marke gebrauchte Sprache lässt noch mehr erkennen: Dem Erzähler liegt offenbar nichts daran, den „Jargon“ Markes wörtlich zu zitieren; er assimiliert ihn der eigenen Sprache, gibt diese (und andere) Äußerungen Markes auf Deutsch wieder. Offenbar möchte er dabei aber doch einen Eindruck von dessen Stil vermitteln, von der Knappheit und durch Redundanz markierten Insistenz der Rede Markes. Eine ähnliche Verbindung von Lakonik, syntaktischer Knappheit und Reduktion einerseits, Insistenz und Wiederholungen andererseits ist auch für andere dargestellte Figurenreden charakteristisch.⁸⁸ Insgesamt ist der Roman durch eine starke Akzentuierung der performativ-theatralen Dimension verbaler Ausdrucks- und Kommunikationsformen charakterisiert. Anlässlich der Darbietungen umherziehender afrikanischer Tänzer und Sänger wird betont, ihr Gesang und ihr Erzählen sei „den Europäern unerhört“ gewesen.⁸⁹ Die Lieblichkeit ihrer Erzählungen und Lieder schmolz alle Herzen. Sie sangen und sprachen wie vor vielen Jahrhunderten Gaukler und Spielleute im südlichen Frankreich und der PoEbene.⁹⁰

Hier zeichnet sich ein sprachutopisches Moment ab. Anlass ist vor allem die eher knapp geschilderte Performance der afrikanischen Troubadoure, über deren Sprache (und über deren Verständlichkeit für die europäischen Zuhörer) man nichts erfährt. Zu erschließen ist aber, dass es sich um eine Sprache handelt, die an territoriale oder nationalkulturelle Räume nicht gebunden ist – analog zu den

 Welche Sprache dabei gesprochen wird, erwähnt der Erzähler üblicherweise nicht.Wissen wir von Marke, dass er normalerweise ein deutsch-englisches Gemisch von Sprache mit russischen Einsprengseln gebraucht, so mag beim Dialog mit seiner Geliebten Marion Divoise, genannt „die Balladeuse“, wohl ein französischer Anteil an Vokabeln ins Spiel kommen – aber die Gespräche beider sind einfach auf Deutsch wiedergegeben. Sie lesen sich dabei wie verbale Umsetzungen ausgeprägt gestischer Szenarien (vgl. ebd., S. 179). Theatral wirken auch Versuche der Beteiligten, sich durch einen redundant wirkenden Sprechgestus über die eigene Situation zu orientieren (vgl. ebd., S. 181); ähnlich expressiv sind auch die Dialoge der Leidenschaft (ebd., S. 249).  Ebd., S. 308.  Ebd. Die folgende Paraphrase dieser an die Zeit der Troubadoure erinnernden Darbietungen afrikanischer Künstler ist zwar einerseits wiederum nur als Annäherung ans Verbalisierte zu verstehen, imitiert durch ihren reihenden Duktus aber das nicht-diskursive, evokative Moment der sprachlichen Performanzen, die hier indirekt dargestellt werden: „Von Bäumen,vom Himmel, den Lüften, der Liebe zu Weibern, von kleinen Kindern, den Regenröhren, Hirschen, Tigern, Löwen, der Kälte und Wärme, Schlingpflanzen, bösem Zauber. Von Wasserfällen Pelikanen Krokodilen“ (ebd.).

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Vorstellungen, die man mit der Sprache mittelalterlicher Spielleute verbindet. Döblin schreibt für ein Publikum, das sich auf eine neue Erzählsprache einlässt.⁹¹ Die Sprache des Erzählers steht wie in anderen Romanen Döblins im Zeichen ausgeprägter Stilisierung. Sie oszilliert zwischen Benennungen und Evokationen. In Passagen, die Vorstellungen von Dynamik, Fülle, Simultaneität und Dichte vermitteln sollen, kondensiert sich die Erzählerrede zu Wortreihungen. Die syntaktisch durch Wortreihungen suggerierten Prozesse der Verschmelzung von Verschiedenartigem finden ihr Pendant auf inhaltlicher Ebene in Szenen der Hybridisierung verschiedener Wesen, Organe, Körper, Materien; bei der Darstellung solcher Szenen kommen Reihungen auch verstärkt zum Einsatz. Entscheidend ist eine neue Art zu sprechen, sind Sprachgesten, Rhythmen, Formen. Eine Schlüsselfigur für Döblins romaninterne Sprachpoetik – seine narrativ profilierte Sprachpolitik – ist die Sprecherinstanz der „Zueignung“, die dem Roman vorgeschaltet ist – ein (dem Titel zufolge performativer) Text, der vor allem von seinem eigenen Sprechen spricht, und zwar in einer fragenden, tastenden, auf etwas sprachlich nicht Erfasstes, sondern allenfalls ‚Gezeigtes‘ hindeutenden Weise. Was tue ich, wenn ich von dir spreche. Ich habe das Gefühl, als dürfte ich kein Wort von dir verlauten lassen, ja, nicht zu deutlich an dich denken. Ich nenne dich „du“, als wärst du ein Wesen, Tier Pflanze Stein wie ich. Da sehe ich schon meine Hilflosigkeit und daß jedes Wort vergebens ist. Ich will nicht wagen euch nahe zu treten, ihr Ungeheuren, Ungeheuer, die mich auf die Welt getragen haben, dahin, wo ich bin und wie ich bin. Ich bin nur eine Karte, die auf dem Wasser schwimmt. Ihr Tausendnamigen Namenlosen hebt mich, bewegt mich, tragt mich, zerreibt mich. […] Jetzt spreche ich – ich will nicht du und ihr sagen – von ihm, dem Tausendfuß Tausendarm Tausendkopf. Dem, was schwirrender Wind ist. Was im Feuer brennt, dem Züngelnden Heißen Bläulichen Weißen Roten. […] Ich gehe auf dem weichen wippenden Boden am flachen Ende des Schlachtensees. Drüben die Tische Stühle der Alten Fischerhütte, Dunst über dem Wasser und Schilf. […] Was habt ihr mit mir vor. Was bin ich in euch. Ich muß sprechen von euch, was ich fühle. Denn wer weiß wie lange ich noch lebe.⁹²

Hier wird ein Thema umkreist, das gerade nicht positiv benannt wird, das allenfalls erschließbar ist – behelfsweise und schlagwortartig-reduktiv könnte man es durch die Vokabel „Natur“ bezeichnen. Die „Zueignung“ dokumentiert ein den gesamten Roman grundierenden sprachreflexiven Gestus, seine Implikationen und seine auch stilistischen Konsequenzen: Die Sprache dieses Romans steht im

 Zur Sprache des Romans vgl. wiederum den Beitrag von Fynn-Adrian Richter.  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 85), S. 7 ff.

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Zeichen einer versuchten Annäherung an ihre Gegenstände, statt diese in konventionellem Sinn zu benennen. Diese verbale Annäherung weiß dabei um ihr eigenes Versagen angesichts des Gemeinten; gerade hieraus bezieht sie aber – ihre motivierenden Antriebe, die Impulse zur Erprobung neuer verbaler Darstellungsmittel. Pawlowskis und Döblins Romane repräsentieren eine andere Strategie der Thematisierung zukünftiger Sprache und sprachlich erschlossener Zukunft als die von Laßwitz und Wells. In beiden Fällen stehen die Erzählungen inhaltlich, strukturell und stilistisch im Zeichen versuchter Annäherung an eine Ausdrucksweise, die es nicht gibt: Im Fall Döblins ist dies ein Idiom, das geläufige Trennungen und Unterscheidungen hinter sich lässt, eine Sprache der Transgressionen und Verschmelzungen. Pawlowskis Erzählerdiskurs bricht auf makrowie auf mikrostruktureller Ebene, inhaltlich wie stilistisch, mit geläufigen chronologischen Strukturmustern. Indem der Leser zumindest eine Vorstellung dieser Zukunftssprache vermittelt bekommt, wird er zumindest auf der Ebene narrativverbaler Performanz ein Stück in Richtung Zukunft versetzt. Das Konzept der „Evokation“, für die utopistischen Sprachkonzepte beider Romanciers signifikant, erfährt so eine spezifische Auslegung und Umsetzung: Indem die imaginierte Zukunftssprache selbst in Ansätzen vernehmbar wird, wird die vorgestellte ‚Zukunft‘ vernehmbar evoziert.

3.6 Deutsch als „internationale Erdensprache“: Stanislaus Bialkowski: Krieg im All. Roman aus der Zukunft der Technik (1935) In seinem Zukunftsroman Krieg im All erzählt Bialkowski⁹³ von einem kriegerisch ausgetragenen Kampf um die Herrschaft über die Erde, der sich zum Kampf um die Dominanz im Weltall ausdehnt und sowohl zwischen verschiedenen Völkern und Kulturkreisen auf der Erde als auch zwischen Erdenbewohnern und Marsbewohnern ausgetragen wird. Auf der Erde stehen einander auf der einen Seite die „vereinigten Völker von Europa und Amerika“,⁹⁴ auf der anderen die asiatischen Völker unter einem machtlüsternen „Mongolenführer“ gegenüber.⁹⁵ Die Kontrahenten suchen jeweils Verbündete unter den Marsbewohnern, die ebenfalls in zwei Parteien gespalten sind: in eine, die für eine friedliche Koexistenz mit

 Für den Hinweis auf Bialkowski danke ich Lasse Wichert.  Bialkowski, Stanislaus: Krieg im All. Roman aus der Zukunft der Technik, Leipzig 1935, S. 68.  Ebd., S. 79.

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der Erde optiert, und eine andere, die den Planeten mit Krieg überziehen und gewaltsam unterwerfen möchte.⁹⁶ Im Mittelpunkt der ereignisreichen Romanhandlung um allerlei Kampfhandlungen und deren politische Folgen steht als Protagonist der Deutsche Erik Holm, der als Held die militärische und intellektuelle Überlegenheit seines ‚Volkes‘ inkarniert. Letztere drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass das Deutsche die „internationale Erdensprache“ ist.⁹⁷ Wenn demnach die verschiedenen Völker der Erde die besondere Qualifikation des Deutschen zur internationalen Verkehrssprache akzeptieren, so entspricht dies der von Bialkowski imaginierten Vorrangstellung der Deutschen und deutet (keineswegs dezent) deutsche Hegemonialansprüche auf der Erde an. Welche Sprache der Erzähler selbst spricht, bedarf da keiner weiteren Erklärung: Es ist die eines Deutschen (über weite Teile vor allem die eines deutschen Kriegsberichterstatters, manchmal auch die eines Idyllikers). Wenn der Roman, medias in res, damit einsetzt, dass das Flugzeug des Helden auf dem „Tempelhofer Feld“ landet, dann muss das nicht genauer erläutert werden: Man befindet sich ja in mehr als einer Hinsicht auf deutschem Boden. Um zu motivieren, dass auch eine Kommunikation der Erdbewohner mit Marspopulationen (und zwar mit intelligenten, technologisch avancierten und in politische Lager gespaltenen Marsbewohnern) stattfindet, reicht allerdings die Konstruktion einer solchen von Deutschen dominierten irdischen Sprachkultur nicht aus. Um Erden- und Marsbewohner in Streit geraten zu lassen sowie zur Vorbereitung der schließlich stattfindenden Konfliktlösung, bedarf es (auch auf der Ebene der narrativen Handlungsmotivation) der Vermittler, die zwischen beiden Kulturen erklärend und übersetzend tätig werden. Darum situiert der Romanautor auf dem Mars einzelne dorthin ausgewanderte Erdenmenschen, Professor Wollnikoff und den Rumänen Titoresku, den die Marsianer Mela nennen. Ersterem fällt es zu, nach den einsetzenden Kampfhandlungen zwischen irdischen und marsianischen Kräften den Erdenbürgern die Situation auf dem Mars zu erläutern. Weder diese Figur noch die seines Ex-Assistenten Titoresku motivieren Bialkowski zu einer Erklärung, wie die Verständigung zwischen ihnen und den Marsianern einst möglich wurde, in welcher Sprache sie stattfand und wie sich beide Sprachen oder Sprachgruppen zueinander verhalten. Stattdessen liefert der Roman einen Grund, warum Wollnikoff dergleichen nicht erklärt: Er hat angesichts der kriegerischen Situation einfach keine Zeit dazu (und das ist für den Romanautor ja praktisch).

 Ebd., S. 120.  Ebd., S. 34.

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„Meine Herren, […] Es würde zu weit führen, wenn ich Ihnen meine Erlebnisse auf dem fremden Planeten von Anfang an erzählen würde. Ich will mich darauf beschränken, nur das, was mit der augenblicklichen Lage unmittelbar zusammenhängt, mitzuteilen […].“⁹⁸

Wenn Wollnikoffs Kurzbericht auch darstellt, wie Titoresku auf den Mars kam und wie er sich dort verhielt, so ist zwar von der Zeit die Rede, „als Titoresku gelernt hatte, sich mit den Marsiten zu verständigen“,⁹⁹ eine Erklärung des Wie bleibt aber aus.

3.7 Die Sprache(n) des Propheten, der Bürokratie und der Natur: Paul Gurk: Tuzub 37. Der Mythos von der grauen Menschheit oder von der Zahl 1 (1935) Tuzub, ein ausgeprägt modernekritischer Roman, spielt in einer nicht genauer datierten zukünftigen Welt („Diese Geschichte wird zu einer Zeit sein“, so beginnt der erste Satz),¹⁰⁰ in der sich (in suggerierter Fortentwicklung und Radikalisierung modernistischer Tendenzen und Lebensformen) die Menschheit weitestgehend selbst abgeschafft hat. Die Bewohner dieser Zukunftswelt, oft die „Grauen“ genannt, bilden eine uniforme Gesellschaft aus Maschinenmenschen. Sie tragen Namen, die dem Vokabular der geläufigen deutschen Sprache entnommen, aber keine Eigennamen sind. Die „Grauen“ haben sich in einem Prozess sukzessiver Mechanisierung des Lebens schrittweise aus den Menschen entwickelt. Restbestände der alten Menschheit finden sich in Gestalt einzelner Figuren des Romans: Ein ‚letzter Philosoph‘ und ein ‚letzter Dichter‘ repräsentieren das, was zugleich mit den Menschen verschwunden ist, in einer letzten Grenzsituation, bevor auch sie untergehen: das Denken und die Sphäre der Gefühle. Diese beiden letzten Vertreter der Menschheit treten als Relikte menschlicher Kultur auf, sprechen (noch) in deren Namen. Doch noch andere Instanzen sprechen im Roman: die Naturerscheinungen, die Blumen und Landschaftselemente. Noch gibt es eine Natursprache, allerdings eine, die die „Grauen“ nicht hören. Gurk rekurriert auf den Topos von der Sprache der Dinge, und gegenüber der total entfremdeten Welt der „Grauen“ wirken Philosoph und Dichter als letzte Instanzen, die diese noch vernehmen könnten.

 Ebd., S. 120.  Ebd., S. 126.  Gurk, Paul: Tuzub 37. Der Mythos von der grauen Menschheit oder von der Zahl 1, Berlin 1935, S. 7.

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Die „Grauen“ sprechen auch – und sie sprechen im Roman Deutsch, dies aber auf eine Weise, die stark bürokratisch-formelhaft klingt und die Idee der Reduktion bekräftigt, welche dem Porträt der Zukunftswelt insgesamt zugrunde liegt. Mittelbar wird einmal mehr via negationis ein emphatisches Verständnis von Sprache als Trägerin und Mittlerin von Kultur vermittelt (die hier in scharfen Gegensatz zur technischen Zivilisation tritt). Wiederholt demonstrieren groteske Rede- und Dialogszenen, wie weit es mit der Weltpopulation gekommen ist. Die „Grauen“ bei Gurk sind Sachwalter und Funktionsteile einer abstrakten Staatsund Produktionsmaschinerie, und sie sprechen eine (deutsche) Sondersprache, die Züge eines ‚mechanischen‘ Sprechens angenommen hat: Es ist der Jargon der Bürokratie. Dieser ist charakterisiert durch seine Formelhaftigkeit, seine formale Schlichtheit, seine Wiederholung feststehender Formeln. Die Welt der Bürokratie und der Technologie erscheinen als das zerstörerische Gegenstück zur Welt der (romantisch stilisierten) Naturerscheinungen. Artikulieren sich in den Äußerungen Letzterer Empfindung und Sensibilität, so sind die Äußerungen der „Grauen“ ausschließlich auf Funktionales gerichtet. (Es kommt zwischen beiden Sprechergruppen auch zu keinem Austausch, obwohl im Roman beide Deutsch sprechen.) Aber welche Sprache spricht der Erzähler selbst? Gurk konstruiert seinen Roman als Analogon zu mythischen Berichten (der Untertitel weist darauf hin: Der Mythos von der grauen Menschheit oder von der Zahl 1). Die Geschichte des Untergangs der eigentlichen Menschheit und der Herrschaft der „Grauen“ findet seine Fortsetzung in einer Variation über alttestamentarische Berichte: Man baut eine Art Babelturm als Ausdruck der Hybris, und eine Art Sintflut lässt die Zivilisation untergehen; danach kommt es zum Neuanfang. Die Erzählerinstanz, namenlos und allwissend, spricht im Prophetenton. Gurks Strategie, den Untergang der Menschheit, aber auch die Offenheit der Zukunft zu verbalisieren, orientiert sich an einem Sprechgestus, der damit implizit als die Epochen der Menschheits- und noch der Nachmenschheitsgeschichte übergreifend interpretiert wird. Diese an Biblisches, an Prophetisches anklingende, ja emphatisch gemahnende Sprache scheint samt der namenlos bleibenden Sprecherinstanz die Zeiten zu überdauern, sie mit Blick und Rede zu umfassen und zu beherrschen. Die Erinnerung an die Formel vom Wort, das „am Anfang“ war, liegt angesichts des Erzählgestus in Tuzub 37 zumindest nahe. Charakterisiert ist der Prophetenton durch Wiederholungen, wie sie vor allem in der Johannesapokalypse prägnant eingesetzt werden, wo die Formel „Ich sah“ den Bericht strukturiert (Offb., 5,1– 10,7); hinzu kommen zahlreiche Parallelismen anderer Art, eine Tendenz zur Reihung analog gebauter Sätze, zur gleichsam holzschnittartigen Rede. Aus den vielen Parallelismen im Erzählerbericht resultiert eine dramatische Eintönigkeit, die eindrucksvoll und auktorial wirken und

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offenbar die Suggestion einer nach zeitlosen Gesetzen verlaufenden, dabei von übergeordnetem Standort her beobachteten Weltgeschichte erzeugen soll. Einförmig und von Repetitionen geprägt ist allerdings auch die Sprechweise der „Grauen“, und die Reden der Naturerscheinungen setzen sich aus letztlich zitathaften Topoi zusammen. Insofern erscheint Gurks Versuch, innerhalb eines Romans mehrere Sprachkulturen kontrastiv zu inszenieren – die des prophetischallwissenden Erzählers, die der „Grauen“, die der Naturdinge und die der letzten Menschenindividuen – nur mäßig überzeugend gelungen.

3.8 Nachspiele I: Sprachverstümmelung in dystopischen Zukunftsromanen: Oldspeak und Newspeak Einen Kerntopos des dystopischen Zukunftsromans bildet die Vorstellung einer ideologisch motivierten, den Sprachbenutzern gewaltsam aufgezwungenen Verstümmelung der Sprache. Betroffen ist zunächst die Ebene der parole, sind die beschnittenen Optionen offener, subjektiver Rede; betroffen ist dann auch die langue als Gesamtheit potenzieller sprachlicher Äußerungen innerhalb eines Sprachsystems. Topoi defizitärer, von den Inhabern politischer Macht gewaltsam beschädigter Sprache beeinflussen das Bild literarischer Zukunftssprachen unter dem Eindruck der großen Totalitarismen des mittleren 20. Jahrhunderts nachhaltig. Die ideologischen und politischen Hintergründe werden dabei unterschiedlich gezeichnet, sei es im Sinn der Kritik an kapitalistischem Konsumismus, sei es im Sinn der Entlarvung autoritärer Überwachungsstaaten. Aldous Huxley zeichnet in Brave New World (1932) eine konsequent ausdifferenzierte Konsumgesellschaft nach, die streng hierarchisch gegliedert ist und ihre Bürger entmündigt, ja bereits vor dem Eintritt in die Welt durch Beeinflussung der embryonalen Entwicklung und durch andere manipulative Praktiken ihrer potenziellen Mündigkeit beraubt.¹⁰¹ Die Bewohner der ‚Schönen Neuen Welt‘ wollen folglich gar nicht mehr anders, als es dem politischen System entspricht, und sie sprechen so, wie dieses es ihnen von Anfang an suggeriert hat. Die Sprachpolitik der Brave New World zielt auf die Prägung simpelster Phrasen für alle Lebenslagen und deren ständige Wiederholung.¹⁰² Es bedarf keines staatlichen Zwanges, um abweichende Gebrauchsformen der Sprache zu unterdrücken; allerdings sorgen obrigkeitlich verordnete Parolen für Homogenität und Unifor Huxley, Aldous: Brave New World. A novel, Harmondsworth 1973 (zuerst 1932).  In Gesprächen, die zwischen John und intelligenten Bürgern der neuen Welt stattfinden, wird die Diskrepanz zwischen der Sprache der Brave New World und der Sprache Shakespeares erörtert.

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mität, und die Euphemismen eines verdummenden allgemeinen Jargons halten zusammen mit ständigen Einladungen zum Konsum¹⁰³ und infantilen Ritualen die Bürger ideologisch auf Kurs. Die wenigen politischen Führer (so der World Controller Mustapha Mond) haben Zugriff auf die Kulturgüter der Vergangenheit und wissen sogar deren sprachlich differenzierte Literatur zu würdigen. Als Gegenmodell der verblödenden Alltags- und Konsumsprache der Allgemeinheit kommt die Sprache Shakespeares ins Spiel, deren Macht und Wahrheit einzelne Figuren – John the Savage, Helmholtz Watson – für sich entdecken.¹⁰⁴ Noch ist es also nicht unmöglich, auch diese Sprache zu verstehen, ja sie zu gebrauchen; immerhin handelt es sich um eine historisch ältere Ausprägungsform desselben Englisch, aus dem sich auch das Idiom der ‚Schönen Neuen Welt‘ ableitet, und es ist nicht das sprachliche System (die langue), sondern es sind die Usancen der parole, in denen sich der Wandel manifestiert. Alte Wörter, Basisvokabeln wie „mother“, „father“, „family“, „home“, „parent“ sind obsolet geworden, gelten als obszön.¹⁰⁵ Es besteht kaum Aussicht, dass das ‚alte‘ Englisch sich wieder etabliert, weil die potenziellen Nutzer inzwischen zu dumm dafür sind. Die dystopische Welt von George Orwells 1984 wird ebenso wie Huxleys Brave New World von einem Erzähler dargestellt, der das Idiom des politischen Systems ebenso wie das der (noch) störenden Elemente versteht. Noch sprechen alle Englisch. Noch gibt es auch Widerstände gegen und Alternativen zum Sprachgebrauch, den der totalitäre Staat verordnet. Hier allerdings wird die Anpassung an die staatliche Norm verordnet. Wiederum geht es nicht um eine gänzlich neue langue, sondern um neue Formen der parole – und um spezifische sprachliche Performanzen. Die entscheidende Grenzlinie verläuft zwischen Wahrheit und Lüge: Der Terrorstaat zwingt seine Bürger, selbst wider besseres Wissen zu bestätigen, was die Ideologie gebietet. Derart instrumentalisiert, nimmt die Sprache Schaden, wird formelhaft, lügenhaft, gewalttätig. „War is Peace / Freedom is Slavery / Ignorance is Strength“,¹⁰⁶ im Oktroy solcher Parolen kondensiert sich die Sprachpolitik. Für den Ausdruck, ja selbst für die Erfahrung von Individuellem,

 Vgl. Bode, Christoph: Aldous Huxley: Brave New World. Text und Geschichte, München 1993, S. 63 f.  Für die Bürger der Brave New World unverständlich, rezitiert John, der „Wilde“, Shakespeare – aus seinem Bedürfnis heraus, neue und ihn überwältigende Erfahrungen auszusprechen. Hier ist Huxley dem Topos von einer Weltsprache der Dichtung verpflichtet, deren Gebrauch Shakespeares zeitübergreifende Aktualität begründe – eine Sprache der Subjektivität, der Individualität und all der lebendigen Impulse, die in der Zukunftswelt unterdrückt werden.  Vgl. ebd., S. 62.  Orwell, George: Nineteen Eighty-Four. A novel, Harmondsworth 1972 (zuerst London 1949), S. 25.

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durch die Person des Sprechers selbst Verbürgtem lässt sie letztlich keinen Raum mehr. Mit dem staatlich verordneten „Newspeak“ erfindet Orwell ein Idiom, das prototypisch die entstellte Sprache staatlicher Gewalt repräsentiert. Die Erfindung und Ausgestaltung dieser dystopischen Zukunftssprache war ihm so wichtig, dass er dem Roman einen „Appendix“ beifügte, in dem „The Principles of Newspeak“ detailliert erörtert und in ihrer Bedeutung beleuchtet werden.¹⁰⁷ Erläutert werden die verschiedenen (in einen A-, B- und C-Bestand gegliederten) Vokabularien von „Newspeak“, die Wortbildungsprinzipien und die manipulativen Implikationen der Überformungen des historischen Englisch. Man erfährt aber auch, dass im Jahr 1984 das „Newspeak“, „the official language of Oceania (…) devised to meet the ideological needs of Ingsoc, or English Socialism“, sich als allgemeine Kommunikations- und Verkehrssprache noch keineswegs durchgesetzt hat; zwar werden die Leitartikel der „Times“ in dieser Sprache verfasst, aber ihr Gebrauch ist noch mühsam.¹⁰⁸ Auch vom Jahr 1984 her betrachtet, ist „Newspeak“ eine Sprache der Zukunft, auf deren endgültige Etablierung man für das mittlere 21. Jahrhundert rechnet.¹⁰⁹ Orwells Einfall, die radikale Durchsetzung der neuen Sprache auf die Zukunft der Zukunft zu vertagen, akzentuiert indirekt die Beständigkeit der historischen Sprachen, ihre Beharrungskraft – und die Gewaltsamkeiten, deren es zu ihrer Verdrängung oder Verstümmelung bedarf. Der Erzähler steht nicht auf dem Boden der Newspeak-Welt. Er bedient sich eines modernen Englisch aus der Entstehungszeit des Romans und verzichtet, wohl schon um der Klarheit seiner Botschaft willen, auf sprachgestalterische Innovationen und stilistische Besonderheiten. „Newspeak“ steht seit Orwell sprichwörtlich für die in dystopischen Zukunftsromanen seitdem variantenreich entfaltete Idee, dass die Gewalt gegenüber menschlichen Individuen und humanen Werten mit der Gewalt gegenüber der historisch überlieferten Sprache auf das Engste verknüpft ist.¹¹⁰ Prägend ist da-

 Ebd., S. 241– 251.  Ebd., S. 241, im Appendix.  „It was expected that Newspeak would have finally superseded Oldspeak (or Standard English, as we should call it) by about the year 2050. Meanwhile it gained ground steadily, all Party members tending to use Newspeak words and grammatical constructions more and more in their everyday speech. The version in use in 1984, and embodied in the Ninth and Tenth Editions of the newspeak Dictionary, was a provisional one, and contained many superfluous words and archaic formations which were due to be suppressed later. It is with the final, perfected version, as embodied in the Eleventh Edition of the Dictionary, that we are concerned here“ (ebd.).  Zur Verstümmelung der Sprache gehört, dass ihr die Vielfalt genommen wird, sie selbst nur noch im Singular vorkommt. Vielfalt ist auch im Gebrauch dieses einen Idioms nicht mehr gewünscht: Jeder soll so sprechen wie alle anderen; individuelle Stile und Ausdrucksweisen sind als latent abweichlerisch nicht erwünscht.

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bei die Orientierung an einem Sprachmodell, das den engen Wechselbezug zwischen Sprache und Denken, Sprache und Aufklärung, Sprache und Kultur, Sprache und Subjektivität betont – im Guten wie im Schlechten. Es geht, anders gesagt, um mehr als um die Kritik an falschen Etiketten. Es geht – via negationis – um die Bekräftigung eines sprachphilosophischen Ansatzes, demzufolge Sprachkultur, moralisches und intellektuelles Leben einander wechselseitig bedingen und sprachliche Bedingungen konstitutiv sind für das Maß, in dem humanistische Werte (noch) gelten.

3.9 Nachspiele II: Ironische Brechungen. Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten (2008) Ein grundsätzliches Problem liegt im Versuch der Darstellung einer Welt, die eine andere Sprache spricht als die beschreibende, erzählende, erläuternde Instanz selbst. Die Situation spitzt sich zu, wo die Äußerungen von Figuren nicht nur in einem ganz äußerlichen Sinn protokolliert, sondern auch ‚verstanden‘ werden sollen. Hypothetische Sprachen der Zukunft nur ‚von außen‘ zu schildern oder zu schreiben, erscheint möglich, selbst wenn man sich ihren Klang als abweichend von vertrauten Idiomen denkt, ihre Grammatik als die eines ‚Neuen Denkens‘ antizipiert. Doch Zukunftssprachen zu beherrschen, würde ein Verstehen der künftigen Welt voraussetzen. Je weiter entfernt die dargestellte Zukunft ist, desto näher mag es für Erzähler von Zukunftsromanen liegen, das Problem zu übergehen und die Zukunftsbürger deutsch, englisch, französisch sprechen zu lassen wie die Indianer im synchronisierten Western. Alternativ dazu lässt sich mit dem Sprach(en)problem ironisch umgehen. Dietmar Dath schildert in Die Abschaffung der Arten eine Welt, in der die menschliche Rasse stark geschrumpft und degeneriert ist.¹¹¹ Seine einstige Herrschaft über die Welt hat der Mensch verloren und insofern auch ‚nichts mehr zu sagen‘; die Restpopulation vegetiert dahin, verdummt, spracharm. Die Erde wird nun von den Tieren beherrscht, unter denen sich diverse Führungspersönlichkeiten hervortun. Die Dathsche Tierwelt spricht dabei die deutsche Sprache, passend zur Sprache des Romanerzählers selbst. Die verschiedenen Tierarten unterscheiden sich in Aussehen und Verhalten durchaus, aber nicht in der Bindung an die Koiné. Wie in historischen Tierfabeln, wie in „Reineke Fuchs“, wie in Märchen versteht jeder jeden, und alle bedienen sich desselben Idioms. Nur ein dummer Esel ist

 Dath, Dietmar: Die Abschaffung der Arten, Frankfurt am Main 2008.

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durch seinen leicht gestörten Sprechgestus charakterisiert, er stottert und entstellt Wörter manchmal. Aber auch er versteht und wird verstanden. Dass Dath Tiere als die Population der Zukunftswelt agieren lässt, dass er ihnen dabei typisch menschliche Verhaltensweisen zuschreibt, ja dass er sie wie Menschen miteinander kommunizieren lässt – und zwar alle auf Deutsch –, gibt seinem Roman einen ironischen Grundzug, wenn man ihn im Kontext des Genres narrativer Entwürfe zukünftiger Welten liest. Denn während einerseits eine Ära dargestellt wird, in der Menschen ihre weltgeschichtliche Rolle ausgespielt haben, spricht doch jedermann hier eben so, wie die Menschen sprechen, und wenn man die Fiktion buchstäblich nimmt, hätte sich demnach die Menschensprache über den Menschen hinaus erhalten und durchgesetzt – damit aber das maßgebliche Medium menschlicher Weltinterpretation, menschlicher Moral und menschlichen Handelns. Ein Zander, dem der Erzähler eine „äsopische Redeweise“ attestiert,¹¹² moniert in einer Rede einmal, man könne sich „auch bei lebenswichtigen Angelegenheiten nicht aus dem Gewebe der von den Vorfahren erschaffenen und ertragenen Verhältnisse herauszuarbeiten“;¹¹³ er beklagt in diesem Zusammenhang in elaborierter Rhetorik, „daß das Ausmaß der metaphysischen Verirrung, die sich bis in den lexikalischen Bestand der uns zur Verständigung hinterlassenen Sprachen eingenistet und dort verfestigt hat, in feinster Verteilung, zartester Giftwirkung Schäden anzurichten geeignet ist, die unserer nun endlich mit Tatkraft und Weitsicht in die Wege geleiteten gigantischen Reforminitiativen […] zu schaffen machen müssen […].“¹¹⁴

Anlässlich des Esels, dessen Äußerungen von allerlei Geräuschen begleitet werden,¹¹⁵ geht es wiederholt um Abweichungen von der sprachlichen Norm. Anlässlich dieses Störenfriedes der ansonsten gepflegten verbalen Kommunikation macht der Roman also auf individualisierte, in diesem Fall hybrid-‚sprachliche‘ Erscheinungsformen der Rede aufmerksam. Einerseits entwirft Dath durchaus radikale Bilder einer posthumanen Welt, andererseits ist gerade diese ‚verteufelt human‘, spricht sie doch wie wir – teils flüssig, teils stotternd, aber allemal verständlich. Es gibt, so signalisiert Daths Darstellung einer Welt ‚jenseits der Menschen‘ implizit (ohne je explizit auf das Problem einzugehen), keine Möglichkeit, sich eine Welt politischer Akteure und sozialer Interaktionen auszumalen, welche die Sprache hinter sich ließe. Zudem  Ebd., S. 88.  Ebd., S. 87.  Ebd., S. 88.  „‚Jahaaa, ich nenne brööö diese Frag giggele für mich und für die Leute, die hier jaahaaa das pipf, das Protokoll jaahaa führen, zur Tarnung tuff. Zur … zur tuff … zur … Tyaa‘“ (ebd., S. 151).

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sind Zukunftswelten, als wie menschenfern sie auch immer entworfen werden, hinsichtlich des Mediums, durch welches sie sich im Roman konstituieren, menschensprachliche Welten.¹¹⁶ Liest man den Roman (was ebenfalls möglich ist) nicht als Entwurf einer Welt ‚nach dem Menschen‘, sondern als Allegorie, innerhalb derer die verschiedenen Tiere, entsprechend den Spielregeln der Tierfabel, für verschiedene Lebensformen, Charaktertypen, Verhaltensweisen menschlicher Provenienz stehen, dann ist der Umstand, dass sie wie Menschen reden, ohnehin nicht weiter verwunderlich. Dann allerdings stellt der Roman auch nicht wirklich Zukünftiges dar, sondern Gegenwärtiges in der Verkleidung einer Zukunftserzählung – einer Verkleidung, die von Reineke Fuchs oder Karneval der Tiere inspiriert ist.

 Diese an sich triviale Einsicht kann brisant werden, wenn es darum geht, die Bewohner menschenferner Zukunftswelten miteinander kommunizieren zu lassen – und zwar so, dass dieses Kommunikationsgeschehen nicht von ‚außen‘, mit den Mitteln eines bloßen unverständigen Beobachters, geschildert (und dabei in eine dem Leser vertraute Sprache übersetzt) wird, sondern vielmehr so, dass auch sprachliche Äußerungen und Verständigungsprozesse zwischen den Zukunftswesen verständlich wiedergegeben werden.

III Transformationen

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Fiktionalisierung und Narrativierung technischer und politischer Diskurse in Hans Dominiks Roman Die Spur des Dschingis-Khan 1 Fragestellung Im Fokus des Aufsatzes steht weder die Modernität oder Korrektheit der zentralen technischen Erfindungen in Dominiks Romanen oder Dina Brandts These eines technokratischen Zukunftsromans¹ noch die persönliche Nähe des Autors zu einer nationalistischen, völkischen oder faschistischen Position wie etwa bei Jost Hermand.² Es wird vielmehr danach gefragt, wie der verbreitete und lang dauernde Erfolg Dominiks außer durch seine geschickte Spannungserzeugung (triviale Liebesgeschichten, Polarisierung, taktische Unterbrechungen der Handlung, personale Perspektive, wörtliche Rede) erklärt werden kann. Inwieweit ist es Dominik gelungen, die damals aktuellen wissenschaftlich-technischen Probleme und die zeitgenössischen politisch-sozialen Diskussionen in seine Werke einzubeziehen und sie erfolgreich, das heißt leserfreundlich zu fiktionalisieren und zu narrativieren? Letzteres bedeutet, sie in Figuren und Handlungsverläufen zu konkretisieren und zu veranschaulichen, Ersteres, sie in polyvalenten Symbolen zu emotionalisieren und mit modellhafter Bedeutung aufzuladen. Er kann sich dabei teilweise auf bestehende Konventionen anderer Zukunftsromane stützen. Die Literatur braucht die Anleihe oder Verbindung mit den realen Diskursen, da es ihr sonst an Stoff sowie an Verständnis und Interesse der Leser fehlen würde. Voraussetzungen für die angesprochene Transformation von öffentlichen Diskursen in Literatur sind zwei Ähnlichkeiten mit der Science-Fiction: Zukunftsbezogenheit und Kollektivität. Erstens sind die rechten politischen Bewegungen der Weimarer Republik besonders nach dem verlorenen Krieg auf einen Umsturz ausgerichtet (wie die linken Bewegungen auf eine Revolution) und setzen also wie die Erfinder neuer Maschinen ihre Hoffnung auf die Zukunft. Zweitens sind die  Brandt, Dina: Der deutsche Zukunftsroman 1918 – 1945. Gattungstypologie und sozialgeschichtliche Verortung, Tübingen 2007.  Hermand, Jost: Weiße Rasse – gelbe Gefahr. Hans Dominiks ideologisches Mitläufertum, in: Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Hans Esselborn, Würzburg 2003, S. 48 – 57. https://doi.org/10.1515/9783110773217-010

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Ideologien und die technischen Leistungen ebenso kollektive soziale Phänomene wie die Gegenstände des Zukunftsromans. Als Beispiele für den technischen Diskurs bieten sich die damals aktuellen Kenntnisse und Vermutungen über die Radioaktivität und die Atomenergie an, die als Machtmittel benutzt werden können. Als zentrale Themen der rechten politischen Gruppen dienen die Rasse in kolonialistischer und sozialdarwinistischer Perspektive und die Gestalt des Führers als politischer Kristallisationspunkt, der sich mit dem genialen Erfinder überschneiden kann. Ein anderer wichtiger populärer Diskurs der Zeit ist die Geopolitik, die aber hier nur gestreift werden soll.³ Der Rückgriff des Autors auf öffentliche Diskurse soll besonders an Dominiks Roman Die Spur des Dschingis-Khan, ⁴ einem ‚near future‘ Zukunftsroman mit fiktiver Geschichte von 1923, gezeigt werden, in dem die Motive und Werte des rechten politischen Diskurses besonders deutlich hervortreten. Der Autor profitiert damit einerseits von den öffentlichen Diskussionen der Zeit, verstärkt durch seine erfolgreichen Romane andererseits auch deren fatale politische Wirkung.

2 Figuren und Handlung Zuerst wird Dominiks Roman Die Spur des Dschingis-Khan vorgestellt, um einen Eindruck des Textes zu geben und danach die wissenschaftlich-technischen und ideologisch-politischen Übereinstimmungen mit den zeitgenössischen Diskursen untersuchen zu können.⁵ Es empfiehlt sich, mit den Figuren des Romans zu beginnen und danach auf die Handlung, zunächst auf die privaten Liebesverwicklungen und dann auf die politisch-militärischen Vorgänge, einzugehen. Eindeutige und überragende Hauptfigur ist der deutsche Oberingenieur Georg Isenbrandt der E.S.C., der Europäischen Siedlungs-Compagnie mit Sitz in Berlin und Aktionsfeld in Turkestan, das heißt in den heutigen GUS-Staaten zwischen Kaspischem Meer und der Grenze zu China. Daraus ergibt sich eine Rivalität um  Vgl. Hahnemann, Andy: Texturen des Globalen. Geopolitik und populäre Literatur in der Zwischenkriegszeit 1918 – 1939, Heidelberg 2009, S. 144: „Die Zukunftsliteratur der Weimarer Republik zehrt zu einem großen Teil von Motiven, deren Virulenz auch in der geopolitischen Faktografie offensichtlich ist“. Hahnemann erwähnt Dominik auf S. 165 – 171 und 284 ff.  Dominik, Hans: Die Spur des Dschingis-Khan. Ein Roman aus dem 21. Jahrhundert, Düsseldorf 2016 (zuerst 1923).  Vgl. Hahnemann: Texturen des Globalen (Anm. 3), S. 150: „Man kann der Zukunftsliteratur der Zeit kaum gerecht werden, wenn man nicht die extreme Nähe der räumlichen, politischen und technischen Motive zu einander als gattungsbestimmende Konstellationen voraussetzt. Eine gelungene Erfindung ist (fast) immer auch ein Akt der Politik, der wiederum vor allem darin besteht, eine spezifische Topografie zu entwickeln“.

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die Hegemonie zwischen Deutschland und Russland im europäischen Staatenbund. Isenbrandt hat innerhalb der beiden Aktionsfelder des Romans, der Technik wie des Krieges, eine Schlüsselstellung inne. Er hat einerseits als genialer Erfinder das unverzichtbare Wundermittel Dynotherm weiterentwickelt⁶ und ein Gegenmittel erfunden,⁷ und andererseits ist er als „sieghafter Tatmensch“⁸ die treibende Kraft hinter der Auseinandersetzung der Compagnie mit dem chinesischen Reich und speziell der entscheidende militärische Stratege. Bei einer Rede vor dem Direktorium heißt es von ihm: Die Gestalt des Sprechers straffte sich. Seine Mienen schienen gewandelt. Das waren nicht mehr die Züge eines Gelehrten und Erfinders. Die Augen eines großen Kriegsmannes waren es, die einen Kampf um Sein und Nichtsein mit einem übermächtigen Gegner schauen.⁹

In dieser Doppelfunktion organisiert Isenbrandt, in dessen Namen sich Eisen mit Feuer verbindet, sowohl die Beregnung der mittelasiatischen Wüste für die Landwirtschaft mit Hilfe von Dynotherm als auch die militärische Verteidigung des von Europäern besiedelten Gebietes auf russischem Boden, da die E.S.C. staatliche Befugnisse bei der Verwaltung wie bei dem Militär besitzt.¹⁰ Deshalb muss am Ende des Aufsatzes diskutiert werden, inwieweit sich in ihm ein Führerideal realisiert, das Erfindung und Politik verbindet und wie in vielen vergleichbaren Romanen und im Nationalsozialismus messianische Züge trägt. Da bei Dominik die körperliche Symbolik bedeutsam ist, seien seine Beschreibungen erwähnt. Der Ingenieur hat „energische, durchgeistigte“¹¹ sowie „starke und entschlossene Züge“¹² und eine „ebenmäßige hohe Gestalt“,¹³ aber er wird nicht ausdrücklich als nordisch (blond und blauäugig) beschrieben. Vor der entscheidenden Aktion zeigt sein Gesicht Entschlossenheit und Härte: „In den Augen darüber stand etwas anderes, grau, eiskalt, unbewegt“.¹⁴ Kaum charakterisiert wird das Aussehen von Archibald Wellington Fox, eines naturalisierten Amerikaners, der als sein Jugendfreund in Berlin Wilhelm Fuchs hieß¹⁵ und nun eine gut bezahlte Stelle als „Berichterstatter der Chicago Press“

 Dominik: Die Spur des Dschingis-Khan (Anm. 4), S. 17.  Ebd., S. 93.  Ebd., S. 100.  Ebd., S. 18.  Ebd., S. 26.  Ebd., S. 46.  Ebd., S. 47.  Ebd., S. 267.  Ebd., S. 210.  Ebd., S. 27.

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hat.¹⁶ Isenbrandt „kannte Fox als einen entschlossenen, tatkräftigen Mann, dem in kritischen Lagen auch List und Erfindung in weitgehendem Maße zu Gebote standen“.¹⁷ Tatsächlich ist er im Roman weniger als Reporter, denn als Spion und Helfer der Hauptfigur tätig und entwickelt schließlich einen gigantischen kolonialistischen Plan, bei dem sich in damals beliebter deutsch-amerikanischer Kooperation Erfindung (Isenbrandt) und Kapital (Fox’ reicher Schwiegervater) verbinden. Die beiden Freunde, mit denen der Roman beginnt und endet, sind ein gut eingespieltes Team, bei dem Fox „die Instinkte des Jägers und des Berichterstatters“ zugutekommen.¹⁸ Seine Jagdleidenschaft gilt besonders dem wichtigsten Gegenspieler der beiden, den er schon von den Vereinigten Staaten her kennt, dem englischen Geheimagenten Collin Cameron, der im Dienste des chinesischen Kaisers Shitsu, „einem Mann vom Blut und Schlage des Dschingis-Khan“,¹⁹ steht. Cameron sorgt mit seinen Geheimaktionen für spannende Vorgänge, zunächst durch ein Attentat auf das Gebäude der Compagnie, um Dokumente über das Wundermittel zu bekommen, und dann durch einen Angriff auf das Postschiff, in dem Isenbrandt vermutet wird.²⁰ Beides scheitert aber ebenso an der Wachsamkeit der Freunde wie später seine Aufwiegelung der Afroamerikaner in den USA im Auftrag des Nachfolgers des Kaisers, bei der er schließlich durch Fox stirbt. Cameron ist dadurch im Roman dramaturgisch determiniert, dass er eine chinesische Mutter hat und entsprechend „schwarze Haare“.²¹ Er erfährt ein für den Roman typisches Schicksal eines ‚Mischlings‘, indem er sich aus Enttäuschung darüber, dass ihm die Lordschaft Lowdale verweigert wurde, mit großer Energie und Effizienz rächt: Mit Leib und Seele hatte er sich in seiner Verzweiflung den Gelben verschrieben. Um jenes Tropfen gelben Blutes halber, der ihm die Prärie raubte, war er ein Feind der weißen Rasse geworden. Obwohl sein Fühlen und Denken ganz arisch waren, obwohl er das unwürdige Spiel, zu dem er hier die Hände bot, klar durchschaute.²²

Paradoxerweise wird an dieser Stelle gerade bei einem „Halbblut“ zum einzigen Mal von „arisch“ gesprochen. Cameron ist auch in den noch zu schildernden privaten Beziehungen der gefährlichste Gegenspieler der beiden Freunde.  Ebd., S. 9.  Ebd., S. 148.  Ebd., S. 73.  Ebd., S. 11.  Vgl. ebd., S. 255: „Die Maske des Gentlemans war von ihm abgefallen. Sein Gesicht war das des großen Verbrechers“.  Ebd., S. 17.  Ebd., S. 39 f.

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Der andere Gegner – nur in politischen und globalen Machtfragen – ist weniger der chinesische Kaiser, der schon zu Beginn des Romans stirbt, als vielmehr der ihm nachfolgende Regent Toghon-Khan, ebenfalls ein Mongole mit der Aura Dschingis-Khans. Er wird, wie bei Nicht-Weißen üblich, als leidenschaftlich charakterisiert, zum Beispiel mit „schwarzen Glutaugen“.²³ Ein markantes Gesicht. Der kahle Schädel lud in eine niedere vorspringende Stirn aus. Die dunklen, kleinen Augen rollten in tiefen, gelben Höhlen. Um die Brauen war die Haut in ein Gewebe tiefer, verwirrter Runzeln gefaltet. Das ganze Äußere zeugte für ein glutvolles und leidenschaftliches Temperament.²⁴

Seine Machtbesessenheit zeigt sein Spielen mit dem Ring, den ihm der sterbende Kaiser als Zeichen der Regentschaft auf die linke Hand gesteckt hat: „Die Finger der Rechten griffen nach dem Ringe des Dschingis-Khan und zogen ihn von der Linken. Wie von selbst glitt der Ring auf die Rechte“.²⁵ Nach dem Tod des Kaisers wagt Toghon-Khan den militärischen Angriff auf das Siedlungsgebiet der Weißen als Teil eines globalen Rassekrieges, der die Afrikaner in den USA und die Bewohner Afrikas einbezieht. Dieser endet aber in Asien dank des neuen Wundermittels Isenbrandts, des Anti-Dynotherms, in einem Fiasko, bei dem der Regent umkommt. In die Auseinandersetzung zwischen den Rassen sind viele Personen auf beiden Seiten involviert. Persönlich wichtig sind die drei unverheirateten Frauen samt ihren Vätern, die zwar Nebenfiguren sind, aber als Kern der Liebesverwicklungen für einen hervorstechenden und interessanten Teil der Handlung (neben der Agententätigkeit und dem Rassekrieg) stehen. Maria Witthusen ist die Tochter eines deutschen Kaufmanns, der in „Kaxgar“, im westlichen China ein russisches Handelshaus für den Chinahandel leitet. Sie wird als ruhig und gemütvoll und eindeutig nordisch beschrieben: „Wellington Fox sah ein feines Gesicht von rein deutschem Typ. Lichtblondes Haar umrahmte die schmale Stirn, unter der lichtblaue Augen glänzten“.²⁶ Als Isenbrandt sie zufällig kennenlernt, erinnert sie ihn an seine früh verstorbene Verlobte,²⁷ mit der sie tatsächlich verwandt ist. Er verliebt sich in „ihre schlanke, ebenmäßige Gestalt“ und sie erwidert diese Neigung, so dass sie nach aufregenden und gefährlichen äußeren Hindernissen schließlich am Ende heiraten können. „Äußerlich

    

Ebd., S. 233. Ebd., S. 55. Ebd., S. 113. Ebd., S. 43. Ebd., S. 44 und 46.

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wie innerlich schienen diese beiden Menschen wie füreinander gemacht. Der Zufall, der sie einst zusammengeführt, hatte sie auf ewig aneinandergebunden [!]“.²⁸ Die schicksalhafte Verbindung lässt sich nach der üblichen Dramaturgie der Romane Dominiks auf die gemeinsam deutsche Herkunft zurückführen. Ihr Vater kehrt auch tatsächlich mit ihr nach Deutschland zurück. Auch in diesem Punkt ist Cameron, der für spannende Aktionen sorgt, der Gegenspieler Isenbrandts, denn er begehrt Maria leidenschaftlich und einseitig: „Seine Augen versenkten sich brennend in diejenigen Marias“²⁹ (vgl. „mit den Augen verschlungen“).³⁰ Da Cameron Maria in jeder Hinsicht für sich beansprucht, bringt er sie mit Hilfe der Chinesen in seine Gewalt und verschleppt sie nach „Urga“, wo sie Fox vergeblich zu befreien versucht, und schließlich weiter nach „Karakorum“. Hier gelingt es Isenbrandt endlich, sie in einer spektakulären, persönlichen Rettungsaktion mit Hilfe der beiden Wundermittel zu retten.³¹ Ein ganz anderes Naturell, nämlich ein lebhaftes und schnippisches, hat die amerikanische Milliardärstochter Helen Garvin, die Fox mit Hilfe des Wundermittels aus einer Lawine rettet.³² Sie wird ebenfalls als nordischer Typ beschrieben: „das Köpfchen von goldig schimmernden Locken umgeben, große blaue Augen, ein Stumpfnäschen mit rosigen Flügeln … Das Ganze eine Nippesfigur aus Meißner Porzellan“.³³ Auch wenn Fox und sie sich lieben, spricht sich ihr Vater zunächst gegen die Verbindung mit dem armen Schlucker aus. Nachdem er aber den Wert von Fox bei der Niederschlagung des Aufstandes der Afroamerikaner erkannt hat, willigt er ein und wird sich sogar finanziell bei dessen großem Siedlungsprojekt in Australien engagieren, das „Neuland für Millionen Siedler“ „rein weißer Rasse“ verspricht.³⁴ Garvin war schon an der E.S.C. beteiligt und besaß die American Settlement Company am Colorado. Er ist ein knallharter Geschäftsmann (vgl. „Seinen harten grauen Augen sahen Fox durchdringend an“).³⁵ Helen Garvin ist mit Florence Dewey befreundet, deren Vater ein ebenso reicher Amerikaner ist. Sie versteht sich mit Averil Viscount Lowdale, einem Offizier der E.S.C., aber der Vater Lowdales zieht sein Einverständnis zum Ehebund zurück, wie Florence sagt: „weil ich nicht rein weißer Abstammung sei. Der Vater meines Vaters habe eine Quadronin [Tochter eines weißen Mannes und einer

       

Ebd., S. 267. Ebd., S. 158. Ebd., S. 160. Ebd., S. 177 ff. Ebd., S. 74 ff. Ebd., S. 80. Ebd., S. 271. Ebd., S. 143.

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Mulattin] zur Frau gehabt“.³⁶ Dem entspricht die körperliche Beschreibung von Florence: „Schwarzes Haar um ein bleiches Antlitz, dessen Alabaster durch einen kreolenartigen Hauch gefärbt wurde. Trotz ihrer Jugend lag Ernst, ja Trauer in den schönen Zügen des Mädchens“.³⁷ Damit ist schon die Tragik ihres Schicksals angedeutet. Florence verzichtet trotz ihrer Liebe auf Averil. Dieser wird später beim Versuch, die Plünderung von Deweys Haus durch die Afroamerikaner zu verhindern, von Cameron erschossen.³⁸ Florence verfällt daraufhin in Apathie. Ihr Vater zieht aus Enttäuschung nach Afrika, um den Afrikanern zu helfen: „Wir kämpfen um die Gleichberechtigung mit anderen Rassen“.³⁹ Die unmögliche und verbotene Liebe wird nach der Logik des Trivialromans also mit dem schicksalhaften Tod beziehungsweise schwerer Krankheit bestraft. Von Fox wird diese tragische Liebe angeführt, um auf das Problem einzugehen, dass man nicht weiß, „wo das [!] Halfcast [Halbblut] aufhört und anfängt“.⁴⁰ Rassenmischung ist also eine prinzipielle Frage, keine quantitative. Der Leser kann aus dem Verlauf der scheinbar privaten Liebesgeschichten den Schluss ziehen, dass glückliche Verbindungen mit Heiraten nur innerhalb einer, in diesem Fall der weißen Rasse möglich sind, am besten innerhalb von Nationen. Rasseübergreifende Beziehungen, auch wenn ein Partner nur ein ‚Mischling‘ ist, müssen in Dominiks Trivialroman unglücklich enden und scheitern, entweder an der Unverträglichkeit (Maria) oder an der Umwelt (Florence: „weil ein paar schwarze Tropfen in meinen Adern rollen“).⁴¹ Selbst die Liebesbeziehungen sind wie die politische Haltung also rassistisch determiniert. Man könnte gegen die Tendenz der Darstellung allerdings auch zu dem Ergebnis kommen, das die Rassenideologie Cameron in die Arme der Chinesen treibt und Dewey zum Verbündeten der Afrikaner macht und so die Sache der weißen Rasse schwächt. Diese alternative Deutung ist dadurch möglich, dass der Roman durch die Fiktionalisierung die Eindeutigkeit der ideologischen Wertung aufbricht.

 Ebd., S. 82. Hintergrund ist das Schicksal Camerons. „Als der Vorgänger des jetzigen Lords Lowdale starb, trat sein Neffe [nämlich Cameron] als nächster Erbberechtigter auf. Seine Ansprüche, an sich unanfechtbar, wurden ihm von dem jetzigen Lord streitig gemacht, weil er Halbblut sei. Seine Mutter war eine Gelbe. Ein jahrelanger Prozess entspann sich um die Erbschaft. Eine besondere Parlamentsbill entschied schließlich zuungunsten des Halbblutes. Seit jener Zeit ist Lord Lowdale ein eifriger Verfechter der Bestrebungen für Reinhaltung der weißen Rasse“ (ebd., S. 82 f.).  Ebd., S. 80.  Dies ist auch deutbar als Racheakt, vgl. ebd., S. 264: „In seiner Rachgier war er [Cameron] reiner Asiate“.  Ebd., S. 88.  Ebd., S. 264.  Ebd., S. 82.

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Das kollektive Geschehen, das letztlich im wirtschaftlichen, politischen und militärischen Kampf der Rassen besteht, wird von gefährlichen und geheimnisvollen Einzelaktionen besonders von Cameron, Fox und Isenbrandt bestimmt. Letzterer betont schon am Anfang des Romans: „‚Was da drinnen in den nächsten Stunden beschlossen wird, ist entscheidend für das Wohl und Wehe von Millionen Menschen, für das Schicksal zweier Rassen … zweier Kulturen‘“.⁴² Bemerkenswert ist, dass die Europäer, die doch fast die ganze Welt kolonial beherrschen, in Anspielung an Oswald Spenglers einflussreiches Buch sich vom Abstieg oder gar Untergang bedroht fühlen.⁴³ Dewey erklärt zum Beispiel: „‚Es geht um die weiße Existenz. Der Untergang des europäischen Abendlandes würde das Ende der weißen Kultur überhaupt bedeuten. […] Die weiße Intelligenz wird in diesem Kampf neue, unerhörte, ungeahnte Leistungen vollbringen und … vielleicht die Oberhand behalten‘“.⁴⁴ Vielleicht ist aus diesem Gefühl der Bedrohung heraus, welches auch für die Zeitgenossen Dominiks gilt, die rassistische Radikalität und die militärische Zuspitzung der beschriebenen Konflikte zu erklären. Der Kampf zeigt in drei Erdteilen je verschiedene Aspekte. Ausgangspunkt ist die wirtschaftliche Kolonisierung des russischen Teils von Mittelasien durch die Europäer bis an die Grenzen Chinas, welche die nomadischen Kirgisen zur Minderheit macht, sodass sie sich später am Kampf beteiligen. Gerade Isenbrandt fordert aus wirtschaftlichen wie strategischen Gründen sogar ein Stück Chinas, das „Ilidreieck“. Hier beginnt auch die verdeckte Auseinandersetzung mit technischen Mitteln, die Überflutung eines Tales und die Sabotage an einem Staudamm einerseits und der Eingriff der Europäer im chinesischen Gebirge andererseits. Erst danach entscheidet sich der neue Herrscher der Chinesen, ToghonKhan, im Zuge der globalen Rassenauseinandersetzung mit dem Militär in das Siedlungsgebiet einzufallen. Isenbrandt hat diesem absichtlich ein Einfallstor als vermeintliche Schwachstelle gelassen, um ihn und seine Truppen dort mit Hilfe des Anti-Dynotherms in eine Art Kältetod zu treiben. Die totale Katastrophe und der Tod des Herrschers führen schließlich zu einem Friedensschluss im Sinne der Europäer. Der zweite Schauplatz sind die Vereinigten Staaten von Nordamerika, wo sich die Afroamerikaner in einem Bürgerkrieg erheben, angestachelt von den Chinesen

 Ebd., S. 11.  Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie des Weltgeschehens. 2 Bde., Bd. 1: Wien 1918 / Bd. 2: München 1921. Vgl. Könneker, Carsten: „Auflösung der Natur. Auflösung der Geschichte“. Moderner Roman und NS-„Weltanschauung“ im Zeichen der theoretischen Physik, Stuttgart/Weimar 2011, S. 45 ff.  Dominik: Die Spur des Dschingis-Khan (Anm. 4), S. 88.

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mit Hilfe Camerons. In einer dramatischen Szene agitiert dieser erfolgreich in einer Opiumhöhle in San Francisco und wird dabei von Fox belauscht. Dieser kann dann nur dank eines künstlichen Brandes durch das Wundermittel vor den Verfolgern fliehen. Der Aufstand der Schwarzen, begleitet von Gräueln wie dem Lynchmord an Weißen⁴⁵ – einer Umkehrung des historischen Verlaufs –, wird aufgrund der Aktionen Fox’ vor allem vom „Weißen Orden“, einem Nachfolger des Ku-Klux-Klans, blutig niedergeschlagen. Das gespaltene Land kommt aber nicht zur Ruhe, da in der Perspektive des Romans in Amerika weder eine Segregation der Rassen noch eine Integration möglich ist. Als Lösung wird die Rückkehr der schwarzen Bevölkerung nach Afrika angesehen, die mit Druck und Gewalt bewirkt werden soll. „‚Die Kluft zwischen den Rassen ist zu tief. Keine Brücke führt darüber. Es handelt sich um ein kategorisches Entweder-Oder. Einer muss weichen!‘“⁴⁶ Die Afroamerikaner werden grundsätzlich als störende Fremdkörper, beispielsweise durch ihr triebhaftes und anarchistisches Verhalten, beschrieben. Der dritte Schauplatz ist Afrika, das zunächst noch ganz von den Europäern beherrscht wird. Hier ist der von den Chinesen geschürte Aufstand erfolgreich, sowohl in den Bergwerken Nordafrikas als auch im Industriegebiet am Sambesi, weil besonders die Franzosen den Einheimischen zu viel Wissen überlassen haben. Nach Gräueln des blutgierigen Mobs greifen die einheimischen afrikanischen Eliten hart durch und fangen an, das Land selbst zu regieren, das anscheinend von den Europäern ziemlich schnell zugunsten Asiens und Australiens aufgegeben wird. Insgesamt ist die kollektive Handlung des Romans ein erklärter Rassenkampf mit allen Mitteln, man könnte auch von kolonialistischen Auseinandersetzungen sprechen, zumal auf Chinas früheren halbkolonialen Status angespielt wird⁴⁷ und die Motivation im Falle Turkestans hauptsächlich wirtschaftlich ist. Es geht um den europäischen Bevölkerungsüberschuss⁴⁸ und nach dem gewonnenen Krieg auch um die industrielle Ausbeutung.⁴⁹ Die Siedlung war in Deutschland ein zentrales Motiv des Kolonialdiskurses, das unter dem Schlagwort ‚Volk ohne Raum‘ (vgl. den Roman Hans Grimms von 1926) vom Nationalsozialismus aufgegriffen und mit dem rassistischen Schlagwort ‚Blut und Boden‘ verbunden wur-

 Ebd., S. 90.  Ebd., S. 263.  Vgl. ebd., S. 52: China war „eine Riesenfarm, die von den Völkern des Abendlandes nach Möglichkeit ausgenutzt wurde“.  Ebd., S. 271.  Ebd., S. 265. Auch in Afrika steht die industrielle Produktion im Vordergrund, nicht die politische Herrschaft.

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de.⁵⁰ Das Siedlungsland sollte nun im Osten gefunden werden, aber nicht in Kooperation mit den Russen wie bei Dominik, sondern gegen die Slawen nach ihrer Unterjochung und Vernichtung. Die Alternative ist bei Dominik wie in Ottfried von Hansteins Elektropolis von 1928 die menschenleere australische Wüste, auch Turkestan wird im Wesentlichen als unbesiedelt gedacht.

3 Wissenschaft und Technik im Roman und im zeitgenössischen Diskurs Die Technik spielt in Die Spur des Dschingis-Khan wie immer bei Dominik eine entscheidende Rolle, während die Wissenschaft nur als Hintergrundwissen fungiert. Zu unterscheiden ist eine vorhandene Technik, die nur extrapolierend gesteigert wird, nämlich besonders die Luftfahrt, von einer spekulativen und phantastischen Technik, hier das Dynotherm und sein Gegenmittel. Dominik setzt beim Luftverkehr im Roman vor allem auf die Luftschiffe, gemeint sind Zeppeline, die hauptsächlich gepanzert zu kriegerischen Zwecken, zum Luftkampf und zu Transportzwecken, eingesetzt werden (vgl. die Truppenparade)⁵¹ und fabelhafte Geschwindigkeiten erreichen, 1000 km/h.⁵² Die Zeppeline als deutsche Erfindung werden in der deutschen Öffentlichkeit von ihrer Entwicklung an bis zu der Katastrophe des Zeppelins Hindenburg in Lakehurst 1937 als Alternative zum Flugzeug im Rahmen der Frage ‚leichter oder schwerer als Luft‘ eifrig diskutiert.⁵³ Viel interessanter ist die spekulative Technik des Dynotherms, in dessen Namen sich Bewegung mit Wärme verbindet, die Erfindung eines Professor Frowein, deren erste Anwendung von einem Augenzeugen im Roman dramatisch erzählt wird.⁵⁴ Sie wird von Froweins Assistenten Isenbrandt fortgeführt und durch ein Gegenmittel ergänzt. Dieser weist eine theoretische Erklärung als zu kompliziert zurück,⁵⁵ während uns der auktoriale Erzähler später nur eine Beschreibung ihrer Wirkung liefert:

 Vgl. Hahnemann: Texturen des Globalen (Anm. 3), S. 255 – 278.  Dominik: Die Spur des Dschingis-Khan (Anm. 4), S. 131 ff.  Päch, Susanne: Von den Marskanälen zur Wunderwaffe. Eine Studie über phantastische und futuristische Tendenzen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und Technik, dargestellt am populärwissenschaftlichen Jahrbuch Das Neue Universum 1880 – 1945, München 1980. Ebd., S 83 nennt die Autorin als Wert für das modernste Luftschiff von 1936 die maximale Geschwindigkeit von nur 111 km/h!  Vgl. ebd., S. 78 ff.  Dominik: Die Spur des Dschingis-Khan (Anm. 4), S. 64 ff.  Ebd., S. 68.

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Das Dynotherm wirkte wie eine radioaktive Substanz. Seine Materie zerfiel, löste sich scheinbar in das Nichts auf und verschwand aus der Schöpfung. Dafür traten riesenhafte Energiemengen [genauer Wärme] auf, entstanden scheinbar ebenfalls aus dem Nichts und dienten bei den Arbeiten der Kompagnie dazu, die Hochalpen Asiens in einen heißen, viele Tausende von Meter in die Höhe reichenden Dampfnebel zu hüllen.⁵⁶

Aus dem geschmolzenen Eis entsteht Regen, der die turkestanische Wüste fruchtbar macht. Die konkrete Anwendung ist gegenüber der starken und geheimnisvollen Wirkung eher banal, denn das Mittel wird gestreut „ähnlich wie etwa ein Sämann die Getreidesaat über das Feld verteilt“.⁵⁷ Dominik bezieht sich beim Dynotherm auf die Diskussion über die Radioaktivität, die seit der Entdeckung durch Marie Curie 1896 die Physiker und die breite Öffentlichkeit beschäftigte. Einstein liefert in seiner speziellen Relativitätstheorie 1905 mit seiner berühmten Formel E=mc² die Erklärung für die entstehende ungeheure Energie, und Planck und andere entwickelten die Quantentheorie zur Beschreibung der Vorgänge im Atom.⁵⁸ Zur Zeit Dominiks gab es noch keine anerkannte physikalische Theorie dafür, und die Autoren von Zukunftsromanen konnten aufgrund des spekulativen Freiraums über die Möglichkeiten der Atomenergie und der geheimnisvollen Strahlen phantasieren, die paradoxerweise sowohl als Todes- wie als Lebensstrahlen Verwendung fanden.⁵⁹ Die Frage nach der für die Industrie notwendigen Energie beschäftigte damals den politischen Diskurs wegen der verlorenen Kohlengruben im Saargebiet und in Oberschlesien, ebenso den technischen Diskurs wegen eines möglichen Ersatzes durch neue Energien: Sonnenenergie bei Laßwitz und radioaktive Strahlung zum Beispiel in Dominiks Atomgewicht 500. Die notwendige Verbindung des Dynotherms mit Wasser, Schnee oder Eis im Roman suggeriert allerdings wie auch bei der Atomenergie in Dominiks Der Brand der Cheopspyramide von 1927 eine chemische Erklärung. Dominik beschreibt in Atlantis von 1925 die großtechnische Gewinnung von Energie aus Karbid, dessen Kraft durch Wasser entfesselt wird, auf ähnliche Weise.

 Ebd., S. 93.  Ebd., S. 66.  Vgl. Könneker: „Auflösung der Natur. Auflösung der Geschichte“ (Anm. 43) zur intensiven Diskussion über die Relativitätstheorie am Anfang des 20. Jahrhunderts sowie Geschichte der Physik. Ein Abriß, hrsg. von Wolfgang Schreier, Berlin 1988 zur Entwicklung der Quantentheorie und der Modelle des Atomaufbaus.  Vgl. Hans Dominiks Lebensstrahlen von 1938. In Eichacker, Reinhold: Der Kampf ums Gold, München/Leipzig 1924 wird mit Wunderstrahlen Blei in Gold verwandelt und eben damit der französische Feind abgewehrt. Vgl. Hahn, Robert: Völkische Zukunftsromane, Kölner Magisterarbeit unveröffentlicht 2001.

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Die Erfindung von Wundermitteln bleibt spekulativ, da es erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelang, die Atomenergie auf andere Weise zivil zu nutzen.⁶⁰ Für das Anti-Dynotherm, das die Einsteinsche Energieformel einfach umdreht,⁶¹ gibt es wohl keine Realisierungsmöglichkeit, da die Verwandlung von Energie in Masse eine äußerste Energiedichte voraussetzen würde und nicht wirtschaftlich wäre. Dominiks Anwendung als Pulver lässt ebenfalls an einen chemischen Vorgang mit Hilfe eines Katalysators denken. Er hat vielleicht auch das Prinzip des Kühlschranks und der Herstellung flüssiger Luft bis zum absoluten Nullpunkt weitergedacht.⁶² Zudem ist die Vernichtung der Feinde durch Kälte auch als ein Symbol des Nordens und damit der Europäer anzusehen, denen die neuen Erfindungen gehören.⁶³ Der unerwartete künstliche Schneefall in Peking wird jedenfalls als Vorankündigung des Untergangs des Toghon-Khans inszeniert.⁶⁴ Das Dynotherm hat seine eminente Bedeutung darin, dass es erlaubt, das Klima zu manipulieren, was ein alter Traum des Zukunftsromans⁶⁵ und ein Symptom für die totale Beherrschung der Natur ist. In der von Ingenieuren öfter imaginierten Fruchtbarmachung der Wüste spricht sich das implizite Bestreben der Technik und der menschlichen Evolution aus, die Erde umzugestalten. Diese anthropologische Tendenz wäre für Die Spur des Dschingis-Khan gegenüber dem kolonialistischen Diskurs der Suche nach Lebensraum für die Europäer und dem reaktionären und rassistischen der Blut und Boden-Ideologie abzuwägen. Der Siedlungsgedanke („Wir schaffen Neuland für Hunderte Millionen Menschen“⁶⁶) geht letztlich auf die Lebensreformbewegung an der Wende zum 20. Jahrhundert mit ihrer Vorstellung vom ursprünglichen und gesunden Landleben zurück. Im Roman geht es keineswegs um die Kolonisierung fremder Völker – Afrika wird

 Vgl. Braun, Hans-Joachim / Kaiser, Walter: Propyläen Technikgeschichte, Bd. 5: Energiewirtschaft, Automatisierung, Information seit 1914, Berlin 1997.  Vgl. Dominik: Die Spur des Dschingis-Khan (Anm. 4), S. 93: „War das Prinzip umkehrbar, ließ sich eine Kombination finden, bei der neue Materie aus dem Nichts entstand und als Gegenwert Energiemengen gebunden wurden, spurlos aus der Schöpfung verschwanden. Seit Jahren bewegte diese Frage Georg Isenbrandt“.  Ebd., S. 94.  Ebd., S. 260 f.  Ebd., S. 114.  Vgl. etwa Laßwitz, Kurd: Bis zum Nullpunkt des Seins. Erzählung aus dem Jahre 2371 [1871], in: ders.: Bilder aus der Zukunft. Zwei Erzählungen aus dem vierundzwanzigsten und neununddreissigsten Jahrhundert, Breslau 1878 (2. Aufl.; zuerst 1874).  Dominik: Die Spur des Dschingis-Khan (Anm. 4), S. 50.

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schnell aufgegeben –, sondern geopolitisch um die Inbesitznahme großer und strategisch wichtiger Räume.⁶⁷ Die technische Erfindung ist im Roman eine Sache der Deutschen oder der Weißen. So sagt Isenbrandt in erstaunlicher Bescheidenheit: „Es war das Resultat der Geistesarbeit vieler weißer Intelligenzen vor mir und mit mir. Andere werden daran weiterarbeiten, andere werden neue Leistungen mit noch größerer Tragweite vollbringen. Und sie werden in der Hand des weißen Mannes bleiben, der sie auswirken lässt zum Nutzen der Menschheit, zur Stärkung und Erhaltung der weißen Rasse!“⁶⁸

So erhält die Technik ein rassistisches Moment, denn „die überlegene Intelligenz der weißen Rasse“ begründet ihren Herrschaftsanspruch. Zugleich ist sie das materielle Mittel, diese Herrschaft zu verteidigen. Die Chinesen sind dabei die zurückgebliebenen Konkurrenten, welche die fremden Erfindungen in veralteter Form anwenden.⁶⁹ Die Afrikaner sind auf das Wohlwollen der Europäer angewiesen. Insgesamt kann man sagen, dass das Dynotherm und Anti-Dynotherm Realsymbole, Knotenpunkte der Diskurse sind, in denen sich Technik und Rassismus konzentrieren sowie persönliche und globale Ereignisse bündeln. Im historischen und politischen Kontext kann man mit Fisher in den Wundermitteln des Zukunftsromans und ihrer Hilfe zum fiktiven Wiederaufstieg Deutschlands nach dem verlorenen Krieg und den Wirren der Weimarer Republik eine phantastische Kompensation und Wunscherfüllung sehen.⁷⁰

4 Der Diskurs des Rassismus und des Führers In Die Spur des Dschingis-Khan ist die Ideologie des Rassismus so manifest wie in keinem anderen Roman Dominiks. Isenbrandt beruft sich sowohl auf ihren Ursprung bei Gobineau⁷¹ als auch auf die kolonialistische Version von Kipling, nämlich die „Bürde des weißen Mannes“.⁷² Er negiert die „Gleichberechtigung der

 Die Geopolitik wird damals in Deutschland entwickelt, vgl. Hahnemann: Texturen des Globalen (Anm. 3); sowie Werber, Niels: Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung, München 2007.  Dominik: Die Spur des Dschingis-Khan (Anm. 4), S. 209.  Ebd., S. 150.  Vgl. Fisher, Peter S.: Fantasy and Politics. Visions of the future in the Weimar Republic, Madison WI 1991.  Dominik: Die Spur des Dschingis-Khan (Anm. 4), S. 208.  Ebd., S. 209.

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Rassen“, auch wenn die anderen „Kultur und Religion“ der Weißen annehmen,⁷³ und besteht auf der Reinrassigkeit („‚Nur die reine weiße Rasse kann die Aufgabe erfüllen, die sie zu erfüllen hat‘“).⁷⁴ Diese Aussagen haben besonderes Gewicht, da sie von der Hauptfigur stammen, die es als ihre Aufgabe ansieht, „Schützer und Retter der bedrohten Siedlung, der weißen Rasse und ihrer Kultur zu sein“.⁷⁵ Ebenso wie Isenbrandt zeigt sich Fox als Rassist.⁷⁶ Im Gegensatz zu den Völkischen und den Nationalsozialisten geht es aber nicht um eine besondere arische oder nordische Rasse, sondern mit weißer Rasse sind alle Europäer gemeint. Da der Roman von einem geeinten Europa einschließlich Russlands ausgeht, tendiert dieser Begriff vom Biologischen der dominanten Rassevorstellungen zum Politischen und Kulturellen. Allerdings heißt es auch einmal in Anspielung an die Eugenikvorstellungen der Zeit, dass Europa „das Züchtungsland hochwertigen weißen Blutes“ bleibe.⁷⁷ Gegenmodelle sind im Roman die gelbe und die schwarze Rasse. Damit knüpft Dominik an die öffentliche Diskussion über die ‚gelbe Gefahr‘ an, die in Europa mindestens seit dem Boxeraufstand von 1900 und dem Russisch-Japanischen Krieg von 1904/5 verbreitet ist. Gollwitzer zeigt, dass das Schlagwort 1895/ 96 im Chinesisch-Japanischen Krieg entstanden ist, aber zu Beginn des neuen Jahrhunderts auf dem Höhepunkt stand. Es meinte aber weniger rassische Differenzen als die Angst vor der ökonomischen Konkurrenz billiger chinesischer Arbeitskräfte und Firmen sowie der politischen Konkurrenz Chinas und Japans zur europäischen imperialistischen Weltherrschaft.⁷⁸ Im Roman geht die Bedrohung von den Mongolen aus, die das chinesische Reich beherrschen; der Titel evoziert die mittelalterliche Angst vor dem grausamen mongolischen Eroberer Dschingis-Khan. Es gab schon vor Dominik Romane über die gelbe Gefahr, die ein Fundus von verwendbaren Motiven schufen, zum Beispiel Michael Georg Conrads In purpurner Finsternis von 1894/95 und Parabellums (Pseudonym von Ferdinand Grautoff) Bansai! von 1908, in dem die Japaner Amerika erobern wollen. Diese genießen wegen ihrer technischen Fortschrittlichkeit oft Sympathien und werden als ebenbürtige Feinde angesehen. Dies gilt in gewissem Sinne auch für die Chinesen im Roman, da sie zwar rückständig sind, aber am Ende ein Friedensvertrag mit ihnen geschlossen wird.

 Ebd., S. 207.  Ebd., S. 208.  Ebd., S. 206.  Ebd., S. 171.  Ebd., S. 266.  Vgl. Gollwitzer, Heinz: Die gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlagworts. Studien zum imperialistischen Denken, Göttingen 1962, S. 20 ff.

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Dominiks Roman differenziert bei der schwarzen Rasse stark zwischen den Bewohner Afrikas und denen in den USA. In Afrika wird die Kolonialherrschaft durch den allerdings gewalttätigen Aufstand beseitigt, aber die Einheimischen können selbst die Verantwortung übernehmen: „Im Laufe weniger Tage war ganz Afrika in der Hand der Afrikaner. Und nun zeigte sich sofort die Notwendigkeit, dem schwarzen Industrieproletariat dort Brot und Arbeit zu schaffen. Die neuen Machthaber mussten wirtschaftlich genau an derselben Stelle fortfahren, wo die früheren weißen Herren aufgehört hatten“.⁷⁹ Insofern wird den Afrikanern trotz ihrer angeblichen Triebhaftigkeit – „der instinktive Blutdurst der Negerheere“ muss „durch eine vielfach drakonische Manneszucht“ unterdrückt werden⁸⁰ – nicht die Fähigkeit zur modernen Zivilisation abgesprochen.⁸¹ Anders sieht es in den USA nach dem gescheiterten Aufstand aus, der die latenten Spannungen zum Ausbruch brachte. „Restlos, blutig und bitter war hier die Niederlage der aufständigen Schwarzen, für absehbare Zeit jede Hoffnung auf volle Gleichberechtigung mit der weißen Rasse erstickt“.⁸² Auch hier ist die angebliche Triebhaftigkeit und Grausamkeit ein übliches rassistisches Argument.⁸³ Dominik bezieht sich auf Theorie und Praxis des amerikanischen Rassismus, indem er die alte Parole des Ku-Klux-Klans „Reinhaltung der weißen Rasse“ zitiert.⁸⁴ Angeblich ist sein Nachfolger im Roman, der „Weiße Orden“, ganz anders, aber das Ziel und die altertümlichen Gebräuche sind geblieben. Offensichtlich ist der Orden jedoch größer und schlagkräftiger geworden, da er Wesentliches zum Sieg im Bürgerkrieg beiträgt. Dominik kann sich beim Rassismus auf verbreitete völkische Vorstellungen beziehen.⁸⁵ Eindeutig rassistisch ist seine Haltung zur Rassereinheit, die in den beschriebenen unglücklichen Liebesbeziehungen der ‚Mischlinge‘ ihren symptomatischen Ausdruck findet. In den internationalen Beziehungen tendiert der Rassismus zum Politischen und Kulturellen, zum Beispiel im Hochmut, der narrativ durch den weißen Erfinder konkretisiert wird. Auffällig ist das Gefühl der

 Dominik: Die Spur des Dschingis-Khan (Anm. 4), S. 249.  Ebd.  In Atlantis gibt es ein erfolgreiches westafrikanisches Kaiserreich, das in politischer Konkurrenz zu Europa steht.  Dominik: Die Spur des Dschingis-Khan (Anm. 4), S. 150.  Ebd., S. 90. So heißt es anlässlich des Lynchmords an einem Weißen: „Andere knirschten vor Wut mit den Zähnen. Ihre blutunterlaufenen Augen hingen mit den Blicken hungriger Raubtiere an den Gefangenen“.  Ebd., S. 185.  Vgl. Hartung, Günter: Völkische Ideologie, in: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871– 1918, hrsg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht, München 1996, S. 22– 42, hier insb. S. 36 ff.

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historischen Bedrohung und des absehbaren Endes der weißen Vorherrschaft, das über Spenglers Werk hinaus eine verbreitete Diskussion der Zeit aufgreift, die literarisch in konkrete Ereignisse umgesetzt wird, die Teilnahme des Lesers erzeugen. Die Ideologie des Rassismus verliert aber durch die Fiktionalisierung an Eindeutigkeit und Verbindlichkeit, so ist zum Beispiel Mitleid mit den unglücklich Liebenden und sogar mit Toghon-Khan denkbar, weil anschaulich gemacht wird, was persönliche Diskriminierung und Scheitern bedeutet. Während der Rassismus als Begleiterscheinung des Kolonialismus ein älterer Diskurs ist, ist die Führeridee typisch für die Zeit der Weimarer Republik.⁸⁶ Kraiker beschreibt detailliert die allgemeine „Führerfixierung“⁸⁷ bei den Theoretikern und Parteien dieser Zeit, wenn auch die konkreten Erwartungen der Demokraten und Antidemokraten stark differierten: Von diesem Verständnis her genügt es, die Führeridee der Demokraten vom Führermythos der radikalen Rechten zu unterscheiden: zweckrational, eingebunden in die legale Herrschaft des Verfassungsstaates die erstere, irrational-absolut, auf totale Herrschaft abzielend die letztere.⁸⁸

Noch weiter geht Mergel, der ebenso „Führerbilder“ bei allen politischen Richtungen feststellt: Dabei gab es eine changierende Palette, von einem sehr vagen Bedürfnis nach handlungsfähigen Eliten, die aus einer amorphen Masse hervorstachen, bis hin zu einer messianischen Suche nach dem ‚Retter Deutschlands‘, der die Nation aus ihrer Erniedrigung zu neuem Ruhm empor tragen sollte.⁸⁹

Wenn Mergel dann die potentiellen Führer Revue passieren lässt und schließlich bei Hitler als dem erwarteten Ideal anlangt,⁹⁰ scheint er das Bedürfnis des

 Vgl. Hahn, Robert: Der Erfinder als Erlöser. Führerfiguren im völkischen Zukunftsroman, in: Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts, hrsg. von Hans Esselborn, Würzburg 2003, S. 29 – 47. Hahn geht dem Werdegang vom Ingenieur zum Führer in völkischen Romanen nach.  Dominik: Die Spur des Dschingis-Khan (Anm. 4), S. 225.  Kraiker, Gerhard: Rufe nach Führern. Ideen politischer Führung bei Intellektuellen der Weimarer Republik und ihre Grundlagen im Kaiserreich, in: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 4, 1998, S. 225 – 276, hier S. 227.  Mergel, Thomas: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine. Politische Erwartungsstrukturen in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1918 – 1936, in: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918 – 1939, hrsg. von Wolfgang Hardtwig, Göttingen 2005, S. 91– 128, hier S. 105.  Ebd., S. 121.

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bedrohten Bürgertums nach Ruhe und Ordnung zu stark zu gewichten und außerdem das von den Rechten beschworene Gemeinschaftserlebnis des Krieges zu ernst zu nehmen. Es war nur die revolutionäre Rechte, die „gegen die zivildemokratische Republik wieder das genuin militärische Prinzip von Führung und Gefolgschaft durchsetzt und den nationalistischen Anspruch auf Macht und Größe nach außen wieder geltend macht[e]“,⁹¹ zum Beispiel durch die Revision des Versailler Vertrags. Mergel listet aus dem Diskurs über den gewünschten Führer einige Merkmale auf: „Bewährung in schwierigen Situationen; Ergreifen einer günstigen Gelegenheit; Zuspruch bei den Massen über Parteigrenzen hinaus; unverhoffte und überraschende Initiativen; eindrückliche körperliche Merkmale“.⁹² Wichtig scheint es, dass es sich um Ausnahmemenschen handeln soll, die Aktionen außerhalb der Routine wählen, um aporetische Situationen zu bewältigen. Diese Merkmale treffen zum Teil auf Isenbrandt zu, dessen Erfolg auf der entschlossenen Anwendung seiner technischen Erfindung wie auf seiner überraschenden militärischen Strategie beruht. Viele Zukunftsromane der Weimarer Republik haben die Epoche machende Erfindung eines genialen Ingenieurs zum Kern, die oft zur Revision des Versailler Vertrags führt und damit den Erfinder zum natürlichen Führer oder gar zum messianischen Erlöser macht,⁹³ so Peter Hartberger in Alis. Die neue deutsche Kolonie und das Ende von Versailles. Technischer Zukunftsroman ⁹⁴ (1924) von Heinrich Inführ (Pseudonym von Rudolf Lämmle), der schließlich nach gelungener Befreiung zum Diktator ernannt wird. Die diktatorische Herrschaft beruht dabei nicht auf politischen Institutionen oder Verfahren, sondern einerseits auf den wunderbaren Erfindungen zum Beispiel von Waffen und andererseits auf einem persönlichen Charisma (vergleiche Max Weber). Wieweit passt Isenbrandt in dieses Schema? Er ist auf keinen Fall ein messianischer Erlöser, da zwar seine Tätigkeit von dem geheimnisvollen Nimbus der Schicksalhaftigkeit umgeben ist, aber doch in sachlich-konkreten und nachvollziehbaren Entscheidungen besteht. Auf den General, dem er selbstsicher den Ausgang des Kampfes voraussagt, „‚es wird geschehen‘“,⁹⁵ wirkt er allerdings

 Kraiker: Rufe nach Führern (Anm. 88), S. 235.  Mergel: Führer, Volksgemeinschaft und Maschine (Anm. 89), S. 110.  Noch nicht Literatur, sondern nur die diskursive Vorstufe dazu ist das Pamphlet von Autenrieth, Otto: Der Tag des Gerichts. Eine Prophezeiung über Frankreich auf Grund tausendjähriger Geschichte zugleich ein Trostbuch für Deutschland. Der deutschen Jugend und dem deutschen Volke gewidmet, Naumburg (Saale) 1920.  Inführ, Heinrich (Pseudonym von Rudolf Lämmel): ALIS. Die neue deutsche Kolonie. Das Ende von Versailles. Technischer Zukunftsroman, Jena 1924.  Dominik: Die Spur des Dschingis-Khan (Anm. 4), S. 215.

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unheimlich. „War das ein Mensch, der zu ihm gesprochen? … War es ein Gott? … ein Teufel?“⁹⁶ Doch nachdem er „das Siedlerland gerettet, das Abendland vorm Untergang bewahrt“ hat,⁹⁷ ist nicht von einem Triumph die Rede. Isenbrandt bekommt keine neue Macht oder Würde und wird am Schluss als normaler Bürger mit Freunden in seinem Haus gezeigt. Für eine faschistische Führerfigur fehlt ihm etwas Entscheidendes, nämlich die charismatische Verbindung mit dem Volk oder der Masse. Führerfiguren im eigentlichen Sinne entwirft Dominik allerdings nicht, weshalb man ihn auch nicht ohne weiteres als protofaschistischen Ideologen einstufen sollte. Zwar wird Weland Gorm im Roman [Das Erbe der Uraniden] als genialer Übermensch gezeichnet […], doch im Vergleich zum nationalsozialistischen Führer-Ideal fehlt ihm eine wesentlicher Zug, nämlich die innige Beziehung zu den Massen.⁹⁸

Man könnte in Isenbrandts sachlicher und intellektueller Führerschaft in Verbindung mit seiner technischen Verfügungsmacht einen technokratischen Führer sehen, der durch Wissen und Können legitimiert ist, wie er von manchen Theoretikern entworfen wurde.⁹⁹ Doch hat er keine Ähnlichkeiten mit den „säkularen Heilsgestalten“ Bismarck, Hindenburg und Ludendorff, die der Diskurs der Weimarer Republik hervorhob.¹⁰⁰ Wie stellt sich nun insgesamt die Fiktionalisierung und Narrativierung der zeitgenössischen Diskurse in Die Spur des Dschingis-Khan dar? Dominik greift die populärwissenschaftlichen Vorstellungen der Radioaktivität auf und denkt sie spekulativ zu konkreten Erfindungen und Anwendungen weiter. Damit werden sie anschaulich und symptomatisch für die Suche nach neuen Energien und werten den Ingenieur zu einem besonderen Menschen auf.¹⁰¹ Der Autor benutzt ähnlich die damalige Diskussion über die Rassen auf Basis der verbreiteten sozialdarwinistischen Grundüberzeugung vom Überleben des Stärkeren,¹⁰² um globale Aus-

 Ebd., S. 216.  Ebd., S. 245.  Kittstein, Ulrich: Der Erfinder als Messias und das eiserne Gesetz der Arbeit. Zukunftsvisionen in den Science-Fiction-Romanen von Hans Dominik und Bernhard Kellermann, in: Sprachkunst 36, 2005, S. 127– 145, hier S. 132.  Vgl. Brandt: Der deutsche Zukunftsroman (Anm. 1), insb. S. 221 ff.  Vgl. Kraiker: Rufe nach Führern (Anm. 88), S. 250.  Zum Ingenieur als Ideal vgl. Leucht, Robert: Dynamiken politischer Imagination. Die deutschsprachige Utopie von Stifter bis Döblin in ihren internationalen Kontexten, 1848 – 1930. Berlin/Boston MA 2016.  Vgl. Daum, Andreas W.: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848 – 1914, München 2002.

Fiktionalisierung und Narrativierung technischer und politischer Diskurse

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einandersetzungen zu konstruieren, die Spannung und Aufmerksamkeit erregen und den Hintergrund für die Profilierung von Protagonisten abgeben. Der Rassismus wird in persönlichen Liebesbeziehungen symbolisch konkretisiert wie zum Beispiel in der nordischen Beschreibung von Frauen, aber auch potentiell problematisiert. Die Hauptfigur Isenbrandt, gewinnt spezielle Bedeutung vor der Folie des Ingenieurs als Führer, wie sie im politischen Diskurs und in literarischen Texten der Zeit entworfen wird, kann dann aber auch als Gegenmodell zu anderen diktatorischen und messianischen Vorstellungen dienen. Die Übernahme aus dem populärwissenschaftlichen und dem öffentlichen politischen Diskurs dient der Motivation der spannenden Liebesgeschichten und Agentenaktionen, gibt ihnen aber auch eine Tiefendimension, die über eine reine Unterhaltung hinausgeht, da sie für die Leser zentrale Themen der Zeit wie die Energieversorgung oder die Zukunft Deutschlands sichtbar werden lässt.

Stefan Willer

Planetarische Zukünfte Kellermanns Der Tunnel und Döblins Berge Meere und Giganten Die beiden Romane, die ich im Folgenden diskutieren möchte, sind so unterschiedlich, dass man fragen mag, inwiefern sie sich überhaupt gemeinsam betrachten lassen. Der Tunnel,¹ publiziert 1913 von dem Erfolgsautor Bernhard Kellermann, erzählt die abenteuerliche, spannungsgeladene Geschichte vom Bau eines Eisenbahntunnels unter dem Atlantik und wurde zum vielfach übersetzten, innerhalb von zwei Jahrzehnten gleich mehrmals verfilmten Bestseller.² Im Unterschied dazu ist Berge Meere und Giganten ³ von 1924 ein avantgardistisches, sperriges Roman-Epos, mit dem Alfred Döblin – nach dem historischen Roman Wallenstein (1920) und vor dem Gegenwartsroman Berlin Alexanderplatz (1929) – eine großräumige Zukunftsimagination über Jahrhunderte hinweg ins Werk setzte. Trotz solcher Unterschiede erscheint eine parallele Lektüre sinnvoll, weil die Romane in einer Hinsicht konvergieren: Beide befassen sich mit Veränderungen, die den Planeten Erde in seiner Ausdehnung, Tiefe und Dichte betreffen. Der titelgebende Tunnel in Kellermanns Roman ist ein infrastrukturelles Vorhaben globalen Zuschnitts, das sich mit dem materiellen Widerstand des (vor allem submarinen) Erdbodens auseinandersetzen muss. Bei Döblin steht der Planet in seiner Formbarkeit durch geologische Kräfte und durch menschliches Geo-Engineering auf dem Spiel. In beiden Romanen geht es gewissermaßen um das Anthropozän avant la lettre. Aber während sich der heutige Anthropozän-Diskurs auf bereits stattgefundene und weiterhin stattfindende Veränderungen der Erdgestalt und -atmosphäre durch den Menschen bezieht, ist die globale Umgestaltung bei Kellermann und Döblin die Frage einer mehr oder weniger fernen, mehr oder weniger futuristischen Zukunft.⁴

 Kellermann, Bernhard: Der Tunnel. Roman, Cadolzburg 2015 (zuerst Berlin 1913).  Der Tunnel, Stummfilm, Deutschland 1915, Regie: William Wauer; Der Tunnel, Tonfilm in deutscher und französischer Fassung, Deutschland 1933, Regie: Kurt Bernhardt; davon als englisches Remake: The Tunnel/Transatlantic Tunnel, Großbritannien 1935, Regie: Maurice Ely.  Döblin, Alfred: Berge Meere und Giganten, München 2006 (zuerst Berlin 1924).  Zur Anwendung des Anthropozän-Begriffs auf Döblin vgl. in anderer Perspektivierung bereits Hien, Markus: Anthropozän. Die Gaia-Hypothese und das Wissen des Naiven bei Döblin und Schätzing, in: Poetik des Wilden. Festschrift für Wolfgang Riedel, hrsg. von Jörg Robert und Friederike F. Günther, Würzburg 2012, S. 459 – 485. https://doi.org/10.1515/9783110773217-011

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Damit sind Der Tunnel und Berge Meere und Giganten Exemplare der modernen Zukunftsliteratur, so wie sie im späten 19. Jahrhundert in verschiedenen Ausprägungen begann: in der ‚Proto-Science-Fiction‘ von Jules Verne, Kurd Laßwitz oder H. G. Wells,⁵ in den emphatisch zukunftsorientierten ästhetischen Programmschriften wie etwa Marinettis Manifeste du futurisme,⁶ aber auch im Aufkommen dystopischer Erzählungen, die sich mit totalitären Gesellschaften und den fatalen Folgen des wissenschaftlichen Fortschritts befassen. Letzteres gilt bereits für Zukunftserzählungen um 1900 wie Jerome K. Jeromes The New Utopia oder E. M. Forsters The Machine Stops, dann vor allem für die Klassiker des Genres von Jewgenij Samjatin, Aldous Huxley und George Orwell. Ihre literarische Überzeugungskraft hat bis heute zu einer Art von dystopischem Imperativ geführt, in literarischen Zukünften vor allem die verhängnisvollen Tendenzen der jeweiligen Gegenwart auszuführen, wohingegen techno-optimistische Entwürfe eher eine Angelegenheit der kolportagehaften Science-Fiction zu sein scheinen.⁷ Vor diesem genregeschichtlichen Hintergrund könnte man heute geneigt sein, die von Kellermann und Döblin entworfenen Szenarien, in denen die Gestalt und der Zustand unseres Planeten verändert werden, als dystopisch zu verstehen. Allerdings wurden gerade in der Forschung zu Berge Meere und Giganten – die um ein Vielfaches umfangreicher ist als die zu Der Tunnel – die „gattungstypologischen Etikettierungen“ durchaus unterschiedlich vorgenommen. Dabei ist „vor allem je nach Deutung des Romanschlusses entweder von einer Utopie oder Anti- beziehungsweise Dystopie die Rede“, es finden sich aber auch Einordnungen in die frühe Science-Fiction.⁸ Meinerseits möchte ich Genre-Festlegungen eher vermeiden, um stattdessen zu untersuchen, wie beide Romane die Zukunft in einem globalen, planetarischen Rahmen konstruieren. Zunächst widme ich mich den jeweiligen Raum- und Zeithorizonten, um dann spezifische Aspekte des dargestellten Vor- und Zugriffs auf die Zukunft zu besprechen: die Problematisierung von Fortschrittskonzepten, die Erzeugung von Spannung und das Projekthafte als Modus der Zukunftserschließung. Angesichts des unterschiedlichen  Vgl. dazu Dath, Dietmar: Niegeschichte. Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine, Berlin 2019, S. 105 – 179 (Kapitel „Eine Vorgeschichte der Niegeschichte: Verne und Wells“).  Vgl. Puchner, Martin: Poetry of the Revolution. Marx, Manifestos, and the Avant-Gardes, Princeton NJ 2006.  Vgl. Technik in Dystopien, hrsg. von Viviana Chilese und Heinz-Peter Preusser, Heidelberg 2013; Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart, hrsg. von Wilhelm Voßkamp, Günter Blamberger und Martin Roussel, Paderborn 2013. Zur Kritik einer schematischen, auf „weltanschaulich-stoffliche Parameter“ bezogenen Gegenüberstellung von Utopie und Dystopie vgl. Dath: Niegeschichte (Anm. 5), S. 138.  Sander, Gabriele: Utopischer Roman: „Berge Meere und Giganten“ (1924), in: Döblin-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Sabina Becker, Stuttgart 2016, S. 83 – 92, hier S. 90.

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Zuschnitts beider Romane kann all das nur unvollständig ausfallen. Ich strebe daher keinen ausführlichen Vergleich an, sondern möchte auf bestimmte Konvergenzen aufmerksam machen und die Texte einander wechselseitig bespiegeln lassen.

1 Raum- und Zeithorizonte Zum Auftakt zwei längere Zitate – je eines aus jedem Roman –, in denen die Erde explizit als „Erdball“ angesprochen und in ihrer planetarischen Gestalt dargestellt wird. Das erste stammt aus Der Tunnel, vom Anfang des zweiten von sechs (jeweils mehrere Kapitel umfassenden) Teilen. Geschildert wird der Beginn des Tunnelbaus, der gleichzeitig auf verschiedenen Baustellen an den Atlantikküsten und an insularen Zwischenstationen aufgenommen wird: Wie in der Tunnelstadt auf amerikanischem Boden, so fraßen sich Armeen schweißtriefender Menschen in Frankreich, Finisterra, und auf den ozeanischen Stationen in die Erde hinein. Tag und Nacht stiegen an diesen fünf Punkten des Erdballs ungeheure Rauch- und Staubsäulen empor. Das hunderttausendköpfige Arbeiterheer rekrutierte sich aus Amerikanern, Franzosen, Engländern, Deutschen, Italienern, Spaniern, Portugiesen, Mulatten, Negern, Chinesen. Alle lebenden Idiome schwirrten durcheinander. Die Bataillone der Ingenieure bestanden zum größten Teil aus Amerikanern, Engländern, Franzosen und Deutschen. Bald aber strömten Scharen von Volontären aller technischen Hochschulen der Welt herbei, Japaner, Chinesen, Skandinavier, Russen, Polen, Spanier, Italiener. […] Die Eisenhütten und Walzwerke von Pennsylvania, Ohio, Oklahoma, Kentucky, Colorado, von Northumberland, Durham, Südwales, Schweden, Westfalen, Lothringen, Belgien, Frankreich buchten Allans ungeheure Bestellungen. Die Kohlenzechen beschleunigten die Förderung, um den erhöhten Kohlenbedarf für Transport und Hochöfen zu decken. Kupfer, Stahl, Zement erlebten eine unerhörte Hausse. Die großen Maschinenfabriken Amerikas und Europas arbeiteten mit Überschichten. In Schweden, Rußland, Ungarn und Kanada wurden Wälder niedergemäht. Eine Flotte von Frachtdampfern und Segelschiffen war ständig zwischen Frankreich, England, Deutschland, Portugal, Italien und Azoren, zwischen Amerika und den Bermudas unterwegs, um Material und Arbeitskräfte nach den Baustellen zu transportieren. […] Von all den Stationen, Arbeitsstellen, Dampfern, Industriezentren aus liefen Tag und Nacht Fäden nach dem Tunnel-Syndikat-Building, Ecke Broadway – Wallstreet, und von hier aus in eine einzige Hand – Allans Hand.⁹

Der Erzähler ergeht sich in der Aufreihung von Orts-, Staaten-, Nationen- und ‚Rassen‘-Bezeichnungen, um zu zeigen, dass die gewaltigen Bauarbeiten einen ebenso gewaltigen Bedarf an menschlichen und materiellen Ressourcen haben.  Kellermann: Der Tunnel (Anm. 1), S. 61 f.

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Dafür ist eine konzertierte Aktion der globalen Wirtschaft und Infrastruktur erforderlich: ständige Mobilität, unaufhörlicher Transport, ein fortwährendes Überqueren der Kontinente und Durchkreuzen der Weltmeere in verschiedene Richtungen. Nichtsdestotrotz ist diese Bewegung strikt koordiniert und auf die fünf Hauptbaustellen gerichtet (New Jersey und der Golf von Biskaya als Einfahrtsorte in den Tunnel, mit Zwischenstationen auf den Bermudas, den Azoren und in Nordspanien). Zudem geht der globale Betrieb von einem einzigen Mann aus, dem Hauptverantwortlichen für das Tunnelprojekt, einem amerikanischen Ingenieur namens Mac Allan. Auf diese Zentralfigur des Romans ist noch zurückzukommen. Schon an der zitierten Stelle fällt jedoch auf, dass Zentrierung ein wesentliches Anliegen der narrativen Darstellung ist. Der Erzähler verschafft sich Überblick, er strukturiert das globale Getriebe des Tunnelbaus in Listenform (mit geographisch geordneten Angaben in den einzelnen Aufzählungen); fast scheint es, als würde er Allans Registratur seiner „ungeheure[n] Bestellungen“¹⁰ direkt paraphrasieren. Mein initiales Zitat aus Berge Meere und Giganten stammt vom Anfang des sechsten von insgesamt neun Büchern. Es handelt sich um eine Passage, in der der Planet Erde nicht nur Schauplatz des Geschehens ist, sondern geradezu dessen Protagonist. Gleichzeitig veranschaulicht das Zitat das für diesen Roman charakteristische Verfahren, wissenschaftliche Recherchen in eine artifizielle epische Sprache mit elliptischer Syntax und hyperbolischen Formulierungen umzusetzen. Auch bei Döblin spielt die Listenführung eine wichtige Rolle, wenn auch stilistisch in deutlich anderer Gestalt als bei Kellermann, besonders augenfällig in der – schon im Romantitel begegnenden – Auslassung der Kommata zwischen den einzelnen Einträgen einer Aufzählung. Sechzig Kilometer Sauerstoff-Stickstoffwellen, Meilen Wasserstoff wirbelte der Erdball durch den schwarzen kraftdurchfluteten hauchfeinen Äther. Der höchste Saum der gasigen Masse schlierte, verlor sich wie Dunst einer Fackel. Kein Ohr hörte das Schlürfen, Schleifen, das seidig volle Wehen an dem fernen Saum. Geschüttelt wurde die Luft im Rollen und Stürzen der Kugel, die sie mitschleppte. Lag gedreht an der Erde, schmiegte sich gedrückt dem rasenden Körper an, wehte hinter ihm wie ein aufgelöster Zopf. […] Dies ist die Erde. Die leuchtende brennende Urwelt geht über ihr auf und unter. Ein welliger Mantel aus Gesteinen bedeckt ihren Rumpf. Tausend Meter tief und tausend hoch geht das Gestein. Kontinente und Inseln strecken Gebirge Ebenen Steppen Wüsten aus. Das Wasser bricht in Quellen aus den Bergen. Meere überfluten die Talmulden. Schwer schwimmen Gebirge Gneis Schiefer auf der schmelzflüssigen glühheißen Masse, die von Zeit zu Zeit die steinerne Kruste durchbricht, sie mit Stichflammen erweicht und hin und her wiegt. Breit besetzt der Leib Asiens die nördliche Hälfte der Erde, mit einhundertvierundsechzig

 Ebd.

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Längengraden und siebenundachtzig Breitengraden. Mit Gondwana, Angara, der Scholle Chinas hat es sich über den Spiegel der großen Ozeane erhoben, seine Seen ließ es versickern. […] Hängend am Massiv der Ostfeste das vielgliedrige kleine Europa. Die jungen aufragenden Alpen, Horste der alten Gebirge in Thrazien Korsika Spanien. Gesteinsdecken in die Höhe gepreßt, von Trümmern überwälzt. Versunkenes Land im Süden; eingestürzt das Mittelmeer in das klaffende Becken.¹¹

Während sich der globale Blick im vorigen Zitat aus Der Tunnel auf die großen Dimensionen menschlicher Betriebsamkeit richtete, ist hier die Makroperspektive so weiträumig, dass Menschen gar nicht in den Fokus geraten könnten. Stattdessen situiert sich das Erzählen zu Beginn der Passage in einer eigentümlichen Nähe zur Erde als Himmelskörper. Die Geschwindigkeit und Bewegung des Planeten sowie ihre Auswirkung auf die um ihn liegende gasförmige Hülle werden in ihren optischen und auditiven Effekten geschildert, die sich einem zwar empirisch unmöglichen, aber imaginierbaren Beobachter und Zuhörer mitteilen würden. „[K]ein Ohr“ kann das „Schlürfen“ der Atmosphäre vernehmen, dennoch weiß die Erzählinstanz, dass es ein solches Geräusch gibt. Das Tempus, in dem diese kosmischen Vorgänge dargestellt werden, ist das epische Präteritum, das auch sonst im Roman vorherrscht. In der zitierten Passage geschieht allerdings ein Wechsel ins Präsens, wenn von der uranologischen zur tellurischen Perspektive umgeschaltet wird („Dies ist die Erde“). Zugleich ergibt sich damit eine historische Sichtweise, nämlich auf die erdgeschichtliche Tiefenzeit. So zeugt der Kontinent Asien von seinen geologischen Vorläufern („Gondwana, Angara“); das „kleine“ und „junge“ Europa wird anhand der kontinentalen Bewegungen beschrieben, die es geformt haben („versunkenes Land“, das „eingestürzt[e]“ Mittelmeer).¹² Die Tiefenzeit der Erde, eingefasst in die Zyklik kosmischer Umläufe: Das ist der denkbar weite Raum- und Zeithorizont von Döblins Roman, innerhalb dessen sich die Zeiträume der Menschheitsgeschichte relativieren – während bei Kellermann die Temporalität menschlicher Vorhaben im Zentrum steht, wie noch zu zeigen ist. Auch bei Döblin geht es aber um die gewaltigen und gewaltsamen Einwirkungen von Menschen auf die Gestalt der Erde und um die daraus resultierenden Wechselwirkungen von Erd- und Menschenzeit. Der zitierte erdgeschichtliche Exkurs, der noch um einen biogenetischen ergänzt wird (innerhalb von zwei Absätzen, in schwindelerregendem Zeitraffer von den „Urwesen“ Wasserstoff und Sauerstoff, über „stumme Kristalle, aufdrängende keimende Blumen“  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 3), S. 367– 369.  Vgl. die Anmerkungen zu Döblins physikalischen und geologischen Recherchen im Stellenkommentar der verwendeten Ausgabe (Anm. 3), S. 731– 737 (mit Bezug auf Berge Meere und Giganten, S. 367– 372).

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und „hämmernde und kämpfende Menschen“ bis zu „eierlegende[n] Käfer[n]“¹³), steht am Beginn der noch zu erläuternden geologischen und biotechnologischen Großprojekte um die titelgebenden Berge Meere und Giganten. Doch schon von Anfang an gibt es im Roman eben diese Perspektive auf die langen Zeitverläufe der Erdgeschichte: „Langsam zerfielen die uralten Gebirge der Erde“,¹⁴ so heißt es schon nach wenigen Seiten im ersten Buch mit dem gleichfalls groß dimensionierten Titel „Die westlichen Kontinente“. Und ebenfalls bereits im ersten Buch ist von der menschlichen Beschleunigung solcher Prozesse die Rede, wenn der im „drei- und vierundzwanzigste[n] Jahrhundert“ vorgenommene „Durchstich der Küste südlich der Kanarischen Inseln“ zu einer erheblichen Veränderung der Erdgestalt führt: „Der afrikanische Kontinent wurde aufgelockert und getrennt durch das Saharische Meer“.¹⁵ Der Ansatz- oder auch Absprungpunkt des Romans liegt gleichwohl in der Gegenwart Döblins, also in der Zeit direkt nach dem Ersten Weltkrieg, die allerdings gleich im ersten Satz des ersten Buchs in Richtung auf eine Nach-Nachkriegszeit futurisiert wird: „Es lebte niemand mehr von denen, die den Krieg überstanden hatten, den man den Weltkrieg nannte“.¹⁶ „In die Gräber gestürzt“ sind am Anfang der Erzählung „die jungen Männer, die aus den Schlachten zurückkehrten“, „die jungen Mädchen“ und „die Kinder dieser Männer und dieser Frauen“.¹⁷ Als Akteure kommen hier von Anfang an Gruppen in den Blick, Männer, Frauen, Kinder, Populationen, Nationen. Sie werden immer wieder als „Massen“ bezeichnet, womit die Vielzahl ebenso angesprochen ist wie die Materialität.¹⁸ Strukturgebend innerhalb dieser Masse ist anfangs noch die generationelle Kohortenbildung, in der „die neuen Geschlechter“¹⁹ oder „die junge Generation“²⁰ noch für historischen Wandel einstehen. Döblin partizipiert damit am Generationsdiskurs, der in unmittelbarer Nachfolge des Ersten Weltkriegs zum

 Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 3), S. 370 f.  Ebd., S. 16.  Ebd., S. 49.  Ebd., S. 13.  Ebd.  Vgl. Wambsganz, Friedrich: „Masse Mensch“ in Döblins „Berge Meere und Giganten“. Zeitkritik, Vorauswissen und Zukunftsahnung im surrealen Erzählwerk, in: Internationales AlfredDöblin-Kolloquium: Berlin 2011. Massen und Medien bei Alfred Döblin, hrsg. von Stefan KepplerTasaki, Bern u. a. 2014, S. 87– 108; Rauwald, Johannes: Die Masse als Denkfigur des Imaginären in Alfred Döblins Roman „Berge Meere und Giganten“, in: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium: Berlin 2011. Massen und Medien bei Alfred Döblin, hrsg. von Stefan Keppler-Tasaki, Bern u. a. 2014, S. 109 – 126.  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 3), S. 13.  Ebd., S. 67.

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soziologischen und kulturtheoretischen, aber auch biopolitischen Deutungsmuster wurde.²¹ Für Letzteres stehen im Roman die großräumigen Konflikte zwischen Ethnien, oft im rass(‐ist‐)ischen Vergleich wie dem zwischen den schwindenden „weißen Volksstämme[n]“ und den „lüstern an die strahlenden Zentren drängenden Farbigen“, die „in einigen Generationen alles überfluteten“.²² Über weite Strecken präsentiert Döblins Erzähler die Zukunftsgeschichte auf diese Weise im generationellen und demographiegeschichtlichen Maßstab. Nach einer Formulierung von Gabriele Sander kann man sich ihn als „anonymen Chronisten“ vorstellen, der im „Zeitraffer“ über die Entwicklung der Menschheit berichtet.²³ Döblin selbst sprach, um die Differenz zu seinem historischen Wallenstein-Roman zu betonen, von der literarischen Gestaltung von „Nichthistorie“.²⁴ Dabei lässt sich in Berge Meere und Giganten nicht eindeutig bestimmen, ob dieser Chronist seinem Berichtszeitraum gegenüber vollständig nachzeitig, also in einer noch ferneren Zukunft angesiedelt ist oder ob er sich eher mit der erzählten Zeit bewegt. In jedem Fall erzeugen seine verstreut angebrachten Datierungen wie „das drei- und vierundzwanzigste Jahrhundert“,²⁵ „am Ende des vierundzwanzigsten Jahrhunderts“,²⁶ „im zweiten Drittel des sechsundzwanzigsten Jahrhunderts“²⁷ oder „im siebenundzwanzigsten Jahrhundert“²⁸ weniger eine stabile zeitliche Orientierung als ein gewisses Schwindelgefühl.

2 Fortschritt als Krieg Wesentlicher Gegenstand der Zukunftshistoriographie in Berge Meere und Giganten sind Aufstieg und Fall der Megastädte. Diese zunächst „Stadtlandschaften“²⁹, dann nur noch „Stadtschaften“³⁰ genannten Gebilde – zukünftige Fortführungen der modernen Metropolen, die sich aber auf weitaus größere, trans-

 Vgl. Parnes, Ohad / Vedder, Ulrike / Willer, Stefan: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt am Main 2008, S. 218 – 259 (Kapitel „Zählen, Schichten, Züchten. Die theoretische und politische Modernisierung des Generationskonzepts“).  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 3), S. 20 f.  Sander: Utopischer Roman (Anm. 8), S. 87.  Döblin, Alfred: Schriften zu Leben und Werk, hrsg. von Erich Kleinschmidt, Olten/Freiburg im Breisgau 1986, S. 37.  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 3), S. 49.  Ebd., S. 65.  Ebd., S. 91.  Ebd., S. 215.  Ebd., S. 21.  Ebd.

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urbane Territorien ausdehnen, wie am Beispiel Berlins eindrücklich ausgeführt wird³¹ – werden von „Konsuln“³², andernorts von „Senaten“³³ regiert. Auch wenn ihre Bezeichnungen die Geschichte antiker und moderner Republiken zitieren, stehen sie keineswegs für eine Zukunft republikanischer oder gar demokratischer Verhältnisse, sondern für Gewaltherrschaft, allenfalls mühsame Befriedung, letztlich für historischen Stillstand. Einen explizit futuristischen Anstrich hat die Zukunftswelt demgegenüber durch neuartige „Apparate und Erfindungen“.³⁴ Apparative Innovation ist ein wesentlicher Aspekt der Proto-Science-Fiction um 1900, wie man den eingangs erwähnten Erzählungen Vernes und Laßwitz’ oder auch einer populären Publikation wie Arthur Brehmers Die Welt in hundert Jahren entnehmen kann.³⁵ In Berge Meere und Giganten zeigen originelle Erfindungen wie die televisionären „Fernbilder“³⁶ oder der fluoreszierende „Lichtanstrich“³⁷, dass sich Döblin durchaus mit solchen Futurismen beschäftigt hatte. Doch in der ‚nichthistorischen‘ – oder auch posthistorischen – Situation, die der Erzähler des Romans zwischen dem 24. und 26. Jahrhundert ansiedelt, hat der Technofuturismus als solcher seinen Charakter gewandelt, so dass nur mehr vom „Gespenst der neuen Erfindung, des vernichtenden Fortschritts“³⁸ gesprochen werden kann.³⁹ Durch den Hinweis auf ihren vernichtenden Charakter ist technische Innovation damit prinzipiell als in- und transhuman ausgewiesen. Das gilt für die neuartigen synthetischen Nahrungsmittel, die mit Menschenversuchen nicht nur getestet, sondern allererst erzeugt werden.⁴⁰ Mehr noch gilt es für die Kriegstechnik, in der die neuen ‚Apparate‘ von Anfang an eingesetzt werden oder überhaupt erst entstehen, etwa in den Verteidigungsanlagen der ‚Stadtschaften‘, die tödliche Strahlungen freisetzen können.⁴¹ Die zukünftige Geschichte ist über

 Ebd., S. 132.  Ebd., S. 131.  Ebd., S. 340.  Ebd., S. 22.  Vgl. Die Welt in hundert Jahren. Mit Illustrationen von Ernst Lübbert, hrsg. von Arthur Brehmer, Berlin 1910 (Nachdruck: Hildesheim u. a. 2010).  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 3), S. 21.  Ebd., S. 80 f.  Ebd., S. 80.  Vgl. dazu Hahn, Torsten: „Vernichtender Fortschritt“. Zur experimentellen Konfiguration von Arbeit und Trägheit in „Berge Meere und Giganten“, in: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium: Bergamo 1999 (Anm. 39), S. 107– 129. Für eine ausführliche Kontextualisierung von Döblins Schreiben im geschichts- und politiktheoretischen Kontext vgl. ders.: Fluchtlinien des Politischen. Das Ende des Staates bei Alfred Döblin, Köln/Weimar 2003.  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 3), S. 84– 94.  Vgl. ebd., S. 25.

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weite Strecken eine Kriegs- und Gewaltgeschichte; eben darin schließt sie an die jüngste Vergangenheit der Entstehungszeit des Romans an.⁴² Der im zweiten Buch geschilderte „Uralische Krieg“ des 27. Jahrhunderts ist eine Übersteigerung des Weltkriegs zum Erdkrieg, in dem Tiere zu Kombattanten, die Elemente selbst zu Kampfstoffen und der Erdboden zum Gegenstand, aber auch zum Akteur der Kriegshandlungen wird. Man sieht „das Feuer sich von der Erde mit der Erde erheben“,⁴³ „Menschen Häuser Steine Hügel Tiere Wälder restlos zerklafternd aufhebend hochwerfend verschüttend, Flußtäler zerreißend ausfüllend“,⁴⁴ „[d]ie Erde in Sprüngen geöffnet, das Wasser in die Risse stürzend“.⁴⁵ Ganz offensichtlich beziehen sich diese phantasmagorischen Beschreibungen auf die landschaftlichen Verheerungen des Ersten Weltkriegs.⁴⁶ Man könnte den Döblinschen Erdkrieg aber auch auf den Krieg unter der Erde beziehen, den Bernhard Kellermann in seinen 1915 erschienenen Reportagen aus den Schützengräben der Westfront nicht als ein plötzlich-eruptives Aufreißen, sondern als ein mühevolles Sich-Einarbeiten unter die Erdoberfläche geschildert hat: „Eine Anzahl von Schächten wird in die Erde getrieben […]. Spitzhacke und Spaten und Druckluftbohrer fressen sich durch Erde und Stein […]“.⁴⁷ Solche Kriegstechniken waren die Anwendungen militärgeographischer und -geologischer Forschungen,

 Zur Kriegs- und Gewaltgeschichte vgl. Scherpe, Klaus R.: Krieg, Gewalt und Science Fiction. Alfred Döblins „Berge Meere und Giganten“, in: Stadt – Krieg – Fremde. Literatur und Kultur nach den Katastrophen, hrsg. von dems., Tübingen 2002, S. 99 – 127; Koch, Lars: Krieg und Posthistoire in Alfred Döblins „Berge Meere und Giganten“, in: Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts, hrsg. von Natalia Borissova et al., Bielefeld 2009, S. 59 – 76; Honold, Alexander: Exotisch entgrenzte Kriegslandschaften. Alfred Döblins Weg zum ‚Geonarrativ‘ „Berge Meere und Giganten“, in: Literarischer Primitivismus, hrsg. von Nicola Gess, Berlin 2013, S. 211– 234.  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 3), S. 108.  Ebd., S. 109.  Ebd., S. 110.  Vgl. Landscapes of the First World War, hrsg. von Selena Daly, Martina Salvante und Vanda Wilcox, Cham 2018. Zu militärstrategischen Veränderungen der Landschaft vgl. Wiemer, Hannah: Camouflage. Landschaftslektüren zwischen Theater, Kunst und Krieg 1914– 1945, Berlin/Boston MA 2020.  Kellermann, Bernhard: Der Krieg unter der Erde, in: Das große Jahr 1914– 1915, Berlin 1915, S. 125 – 130, hier S. 126. Kellermanns Beschreibungen wurden als Vorläufer von Kafkas Erzählung Der Bau ausgemacht, vgl. Kittler, Wolf: Grabenkrieg – Nervenkrieg – Medienkrieg. Franz Kafka und der 1. Weltkrieg, in: Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 – 1920, hrsg. von Jochen Hörisch und Michael Wetzel, München 1990, S. 289 – 309; Müller, Dorit: Kafkas „Bau“ als literarischer Raum des Wissens, in: Die Räume der Literatur. Exemplarische Zugänge zu Kafkas Erzählung „Der Bau“, hrsg. von ders. und Julia Weber, Berlin/Boston MA 2013, S. 37– 63, hier S. 45 ff.

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die seit Anfang des 20. Jahrhunderts „Kenntnisse über die Beschaffenheit geologischer Formationen […] zur Bedingung erfolgreicher Kriegsführung im Kampf gegen den Feind“ machten.⁴⁸ Das im Vorkriegsroman Der Tunnel dargestellte Bauvorhaben steht daher, obwohl es sich um ein ziviles Eisenbahnprojekt handelt, immer schon in einem militärischen Kontext. Ab 1914 war es dann für Kellermann umso naheliegender, seinen zuvor literarisch entworfenen unterirdischen Bau in der Realität des Ersten Weltkriegs wiederzufinden. Militärisches Vokabular prägt seinen Roman an vielen Stellen, so dass der technologische Fortschritt insgesamt zwar nicht, wie bei Döblin, als regressivnegativistisches, aber dennoch ebenfalls als kriegerisches Geschehen charakterisiert wird. Wie sich im bereits zitierten Vokabular des „Arbeiterheers“ oder der „Bataillone der Ingenieure“⁴⁹ zeigt, geht es dabei um ein Verständnis von Arbeit schlechthin als Krieg. Die hauptsächlichen Handlungen dieses Kriegs finden beim eigentlichen Tunnelvortrieb statt, der als „Schlacht bei der Bohrmaschine“ bezeichnet wird und „täglich […] Verwundete und häufig Tote“ fordert.⁵⁰ Als Kriegsgegner erscheint damit die Erde selbst, die sich dem Bauprojekt entgegensetzt. Der „tausendarmige Mensch“, der in ihr arbeitet, fügt ihr „brandige schwarze Wunden“ zu;⁵¹ die Baustelle als Kriegslandschaft – „ein ungeheures Schuttfeld, auf dem kein Baum, kein Strauch wuchs, kein Tier, kein Vogel lebte“⁵² – trägt die Zeichen feindlicher Handlungen, die nicht gegen einen staatlichpolitischen Gegner, sondern gegen eben jene Landschaft gerichtet waren. Auch Kellermanns Roman handelt demnach von einem Erdkrieg. Kriegerische Vorgänge spielen aber auch in anderer Hinsicht eine Rolle. Schon die öffentliche Aufregung bei der ersten Bekanntgabe des Projekts wird als „Schlacht“ bezeichnet.⁵³ Später werden die für die Finanzierung des Projekts erforderlichen Dollars als „Milliarden rasender, kleiner Krieger“ in „Heeren“ auf den „Kampfplatz“ des Finanzkapitals geschickt; „Schlachtberichte“ geben Auskunft über ihr Schicksal.⁵⁴ Der Roman suggeriert allerdings einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Kampf der Arbeiter und dem des Geldes. Zwar handelt es sich bei beiden um ‚Massen‘ und ‚Heere‘, aber die emphatisch körperlichen Handlungen der an den Ort der jeweiligen Tunnelbaustellen gebundenen Arbeiter kontrastieren deutlich mit dem „um den ganzen Erdball“ und „durch hundert

      

Müller: Kafkas „Bau“ (Anm. 47), S. 47. Kellermann: Der Tunnel (Anm. 1), S. 61. Ebd., S. 106. Ebd., S. 103. Ebd., S. 111. Ebd., S. 42. Ebd., S. 123 f.

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Verwandlungen“⁵⁵ laufenden finanzökonomischen Krieg des frei konvertierbaren Geldes. Diese monetäre Ausprägung von Globalität hängt eng mit der antisemitischen Zurechnung des Kapitalismus auf die Figur des Finanzmanagers S. Woolf zusammen, der damit zur Gegenfigur des Protagonisten Mac Allan aufgebaut wird, wie noch zu erläutern ist. Wenn sich hingegen die Massen der Arbeiter zum Streik versammeln und „das Heer zur Parade“⁵⁶ wird, richtet sich dieser Arbeitskampf im anderen Sinne des Wortes gegen Allan und Woolf gleichermaßen.

3 Tunnelzeit: Zur Temporalität der Spannung Indem Der Tunnel den Zusammenhang von technischem Fortschritt, Arbeit und Krieg auf verschiedenen Ebenen thematisiert, ist er, obwohl 1913 erschienen, ein Kriegsroman. Man könnte das ‚prophetisch‘ finden; es zeigt aber vor allem, wie weitgehend die politischen und ökonomischen Antagonismen der Vorkriegszeit in bellizistischen Metaphern gedacht werden konnten. Trotzdem ist Der Tunnel als Zukunftsroman einzuschätzen. Verglichen mit dem visionären Futurismus von Berge Meere und Giganten ist er zwar nicht in fernen und immer ferneren Zukünften angesiedelt; überhaupt gibt es keine Angabe zu einem Jahr oder Jahrhundert, nur vereinzelt fortlaufende Registrierungen der Projektdauer: „[i]n den ersten Wochen des siebten Baujahres“⁵⁷, „[i]m vierundzwanzigsten Baujahr“⁵⁸. Doch das Projekt, den Atlantik zu unterqueren, ist nicht nur klar futuristisch, es findet auch in einer futurisierten Welt oder zumindest in einer technologisch erweiterten Version der frühen 1910er Jahre statt. In der Tat wurden schon seit Ende des 19. Jahrhunderts Flüsse untertunnelt und lange Tunnel in den Alpen gebaut, ermöglicht durch den Einsatz von Dynamit und neuen Bohrtechniken.⁵⁹ Die Ausgangssituation des Romans ist noch weiter fortgeschritten: In dieser Fiktion werden bereits Tunnel unter dem Ärmelkanal und unter der Beringstraße gebaut, so wie etwa auch eine Brücke zwischen Sri Lanka und dem indischen Festland besteht.⁶⁰

 Ebd.  Ebd., S. 192.  Ebd., S. 136.  Ebd., S. 293.  Zur Tunnelgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. Maidl, Bernhard: Faszination Tunnelbau. Geschichte und Geschichten. Ein Sachbuch, Berlin 2018, S. 73 – 88.  Vgl. Kellerman: Der Tunnel (Anm. 1), S. 42 f. Zur Futurität von Kellermanns Roman vgl. Bühler, Benjamin: Zukünftiges Zukunftswissen in modernen Utopien. Bernhard Kellermann, Karl Ett-

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Die Zukunftsträchtigkeit und das chronotopische Potenzial seines titelgebenden Bauwerks hat Kellermann sehr genau erkannt. Große Verkehrstunnel sind exemplarische Projekte der modernen Verkehrs- und Infrastrukturgeschichte.⁶¹ Das gilt trotz ihrer Unsichtbarkeit – oder gerade deswegen: Sie dienen dazu, Hindernisse zu unterqueren und einen störungsfreien, beschleunigten Verkehr zu ermöglichen. Sobald man sich in einem Tunnel befindet, muss kein Berg umfahren, kein Fluss überquert werden, kein Wetter behindert den Weg. Eben deshalb muss man sich beim Bau von Tunneln durch diese Hindernisse hindurchgraben, und zwar dort, wo sie am undurchdringlichsten sind. Man benötigt also viel Zeit und muss viel materiellen Raum bewältigen, um schließlich wie gewünscht beschleunigen und die umgebende Materie soweit möglich ignorieren zu können. Darum geht es in Kellermanns Roman, sowohl in der Handlung als auch in der Darstellung des räumlich-zeitlichen Regimes, für das der Roman insgesamt metonymisch einsteht. Seine Darstellungslogik ist daher so simpel wie plausibel: Wenn der Tunnel fertig ist, ist auch der Roman fertig. Umso mehr sind in Der Tunnel Verzögerungen notwendig, um Spannung zu erzeugen, also eine spezifische Ausprägung fiktionaler Futurität, in der eine starke finale Orientierung mit der „Verheißung einer sukzessiven Zeitordnung“ einhergeht, wobei „die Zeit der Spannung immer schon als Zwischenzeit figuriert“.⁶² Ein Beispiel für Kellermanns Spannungstechnik bietet bereits der Beginn des Romans. Mac Allans erste öffentliche Vorstellung seines Tunnelprojekts findet sich erst im 6. Kapitel des ersten Teils. Bis dahin wird immer wieder gezielt verschwiegen, worum es eigentlich geht. So sagt Allan in einem Gespräch mit seiner Frau Maud, er habe „nicht darüber sprechen [wollen], solange die Sache noch in der Luft hing“, finde sich aber bereit, es ihr nun zu sagen: „Da erklärte er ihr, worum es sich handele“.⁶³ Als Leser wird man aber in der Spannung belassen, auch wenn man durch den vorausdeutenden Romantitel ja prinzipiell orientiert ist. Wie spektakulär das Vorhaben sein muss, kann man an dieser Stelle vorerst nur Mauds erstaunten Reaktionen entnehmen („ihre Augen wurden immer größer

linger, Franz Werfel und Alban Nicolai Herbst, in: Yearbook for European Jewish Literature Studies Jg. 3, 2016, S. 163 – 182, hier S. 168.  Vgl. grundlegend van Laak, Dirk: Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt am Main 2018; sowie Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft. Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien, hrsg. von Christoph Neubert und Gabriele Schabacher, Bielefeld 2013.  Haas, Claude: Suspense, in: Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, hrsg. von Benjamin Bühler und Stefan Willer, Paderborn 2016, S. 63 – 72, hier S. 64.  Kellermann: Der Tunnel (Anm. 1), S. 32.

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und glänzender“⁶⁴). In der Folge erfährt man, wie präzise es Allan selbst versteht, die öffentliche Spannung durch Einladung potenzieller Investoren und ausgewählter Pressevertreter zu steigern, bis er schließlich in lakonischen Worten und mit Hilfe einer Tafel und eines Kreidestücks mitteilt, was er plant,⁶⁵ woraufhin sogleich von der Gründung des „Tunnel-Syndikats“⁶⁶ und von den Risikokalkulationen der anwesenden Finanzmagnaten die Rede ist.⁶⁷ Da Der Tunnel die Planbarkeit der Zukunft thematisiert, werden solche Kalkulationen oft erwähnt. Da dies aber im Genre eines Spannungsromans geschieht, ist die Berechenbarkeit von Risiken weniger wichtig als das Unberechenbare der Verzögerungen, die als retardierende Momente den Romanplot dominieren. Der Tunnelbau ist ein mühsames und gefährliches Unterfangen, das ständig durch „Unglücksfälle und Störungen“,⁶⁸ vor allem aber durch einen katastrophalen Unfall unterbrochen wird. Im siebten Baujahr brechen die Tunnelbohrer in einen mit Gasen gefüllten Hohlraum ein; die Explosion tötet Tausende von Arbeitern. Es ist also die durchbohrte, untertunnelte Erde selbst, die sich in ihrer Gestalt als unberechenbar erweist: Sie kann nicht zuverlässig durchdrungen werden, weil sie in ihrer Dichte nicht einheitlich ist, sondern löchrig und teilweise hohl. Für den Bau des Tunnels ist die „Oktoberkatastrophe“⁶⁹ fast verhängnisvoll. Für den Bau des Romans wirkt sie jedoch als entscheidender Spannungsgenerator, zunächst dadurch, dass Kellermanns Erzähler die unmittelbaren Folgen des Unfalls schlaglichtartig in externer Fokalisierung darstellt und für krasse Effekte nutzt: Überall kletterten Gestalten, blutig, zerfetzt, schreiend, wimmernd, wortlos, und keuchten so rasch wie möglich vorwärts […]. Sie stiegen brutal über die Leiber der langsam kriechenden Verletzten hinweg, sie schlugen einander mit den Fäusten zu Boden, um einen einzigen kleinen Schritt zu gewinnen, und ein Farbiger schwang sein Messer und stieß jeden blind nieder, der ihm in den Weg kam. Bei einer engen Passage zwischen einem umgestürzten Wagen und einem Gewirr von Pfosten gab es eine richtige Schlacht.⁷⁰

In längerer Sicht entsteht durch die Katastrophe eine anhaltende Unsicherheit über die Fortsetzung des Tunnelprojekts, da Allan wegen Fahrlässigkeit vor Gericht gestellt wird und die meisten Geldgeber aussteigen. Der Unfall in seiner

      

Ebd. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Ebd., S. 44. Ebd., S. 136. Ebd. Ebd., S. 148 f.

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eminent singulären, punktuellen Zeitlichkeit – „Das geschah in einer einzigen Sekunde“⁷¹ – zieht also mittel- bis langfristige Probleme der Zurechenbarkeit von Verantwortung nach sich. Wie bedeutsam diese Ungewissheiten für die Spannungsstruktur des Romans sind, zeigt sich daran, dass sie immerhin für mehr als 100 der insgesamt circa 300 Seiten aufrechterhalten werden, getaktet durch immer neue Unglücksfälle wie die Ermordung von Allans Frau und Tochter durch einen rachedurstigen Mob oder ein Feuer im Tunnel-Syndikat-Gebäude, als tausende entlassene Arbeiter das ihnen vorenthaltende Geld einfordern. Die durch Verzögerung entstehende Spannung lässt sich nochmals gut am Ende des Romans erkennen, als der Tunnel unter großen finanziellen, materiellen und persönlichen Opfern schließlich fertig gestellt ist und die Reise des ersten Zuges an der Station in New Jersey beginnt. Bemerkenswerterweise konzentriert sich das Hauptinteresse der Öffentlichkeit nun auf die Frage, ob der Zug pünktlich in Europa ankommen wird. Auf den ersten Blick erscheint es etwas merkwürdig, genau darauf die Aufmerksamkeit zu richten, doch in der Tat kommt mit der Frage nach dem Einhalten des Fahrplans die temporale Spannungsstruktur von Der Tunnel nochmals auf den Punkt. Sie wird unterstützt durch eine – zur Entstehungszeit des Romans wiederum futuristische – medientechnische Synchronisierung. Der Beginn der Jungfernfahrt wird einem gespannten Publikum in Echtzeit per Film mitgeteilt: „Und augenblicklich begann der Kinematograph zu arbeiten. In allen Weltstädten der Erde sah man zur gleichen Sekunde die Bahnhofhalle von Hoboken Station, schwarz von Menschen“.⁷² Über den zeitlichen Verlauf der Reise informieren Telegramme, die aus dem Zug gesendet und intermedial sogleich auf die Filmleinwände projiziert werden. Die gespannten Zuschauer schließen Wetten auf die Pünktlichkeit des Zuges ab, was nochmals den zukunftsorientierten Charakter der Finanzwirtschaft unterstreicht. Tatsächlich hat der Zug bereits in Bermuda zwei Minuten Verspätung, und zwei Seiten später lautet der letzte Satz des Romans: „Sie waren mit zwölf Minuten Verspätung in Europa eingetroffen“.⁷³ Nicht von ungefähr steht dieser Satz im Plusquamperfekt. Denn der Tunnel als solcher ist verspätet, so futuristisch er auch sein mag. Die Bauzeit hat nicht, wie geplant, 15 Jahre gedauert, sondern 24. Inzwischen sind transatlantische Flugrouten eingerichtet worden (ein weiteres Science-Fiction-Element im Jahr 1913), und obwohl es Allans erster Zug schafft, den „Rekord für elektrische Züge“ und die „Weltrekorde[ ] der Flugmaschinen“ zu

 Ebd., S. 142.  Ebd., S. 302.  Ebd., S. 304.

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brechen,⁷⁴ ist absehbar, dass zumindest Letztere in absehbarer Zukunfts-Zeit ihre Rekorde zurückerobern werden.

4 Projektemacherei Ich habe Mac Allans Tunnel mehrmals als ‚Projekt‘ bezeichnet. Im Roman fällt das Wort besonders häufig bei der bereits erwähnten öffentlichen Vorstellung. „Er wolle ihnen ein Projekt vorschlagen“; „Das sei sein Projekt“; „Es schien ihnen, als hätten sie dann und wann schon gehört von diesem Projekt, es lag in der Luft wie viele Projekte“; „Finanziell hängt die Ausführung des Projektes von Ihrer Zustimmung ab“; „als Allan schon gegangen war, um sein Projekt der Diskussion zu überlassen“.⁷⁵ Etwas zu projektieren bedeutet, es vorwegzunehmen, ‚vorwärts zu werfen‘ (lat. pro-icere). Projekte, so Markus Krajewski, sind „Versprechen auf die Zukunft […], vorzugsweise dem Noch-Nicht, dem Als-Ob oder dem Könnte-Sein verpflichtet“.⁷⁶ Die Tätigkeit eines ‚Projektemachers‘ beschränkt sich „üblicherweise auf die Ausarbeitung oder Skizzierung seiner Pläne, während er die tatsächliche Ausführung möglichst anderen zu überlassen sucht“.⁷⁷ Allerdings ist der Projektemacher in Der Tunnel, wie Benjamin Bühler hervorgehoben hat, „ein Ingenieur, und als solcher Experte für die Realisierung von Plänen und Projekten“.⁷⁸ In der Tat geht es in Kellermanns Roman darum, wie ein Projekt technisch und finanziell von der Potenzialität in die Realität überführt werden kann. Darin liegt der spezifische Realismus dieses Romans: Er spielt fiktional die Realisierbarkeit eines futuristischen Projekts durch. Typischerweise ist das Projektemachen eine Angelegenheit „einzelne[r] Personen, die sich sodann nicht ohne Stolz ‚Unternehmer‘ oder ‚Berater‘, ‚Entrepreneur‘ oder ‚Visionär‘ nennen“.⁷⁹ Kellermanns Protagonist Allan ist ein solcher Einzelner. Er hat sich, wie ein Rückblick zu Beginn des zweiten Romanteils darstellt, aus kleinsten Verhältnissen heraus vom Kinderarbeiter über das Studium an einer Bergakademie zum Unternehmer und Erfinder hochgearbeitet,⁸⁰ vertritt also als amerikanischer Selfmademan eine Art Persönlichkeit, die im Deutsch-

 Ebd., S. 302.  Ebd., S. 41– 47.  Krajewski, Markus: Projektemacher, in: Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens, hrsg. von Benjamin Bühler und Stefan Willer, Paderborn 2016, S. 209 – 220, hier S. 209.  Ebd., S. 214.  Bühler: Zukünftiges Zukunftswissen in modernen Utopien (Anm. 60), S. 170.  Krajewski: Projektemacher (Anm. 76), S. 209.  Kellermann: Der Tunnel (Anm. 1), S. 62– 77.

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land der späten Wilhelminischen Ära durchaus in Mode war.⁸¹ Als großer Einzelner trägt er aber auch Züge des Dämonischen, durch die er sich vom ‚Arbeiterheer‘ radikal unterscheidet und es mit der Erde selbst aufnehmen kann. So heißt es jedenfalls an einer Stelle im quasi-expressionistischen Duktus des Romans: „Mac Allan stand wie ein geißelschwingendes Phantom über der Erde und peitschte zur Arbeit an“.⁸² Für seine einsame Größe steht auch die abschließende Erhebung zur Legende in den Medien und der öffentlichen Meinung: „Mac Allan wurde sogar im Hinblick auf seine Schicksale in den fünfundzwanzig Jahren des Baus ‚der Odysseus der modernen Technik‘ genannt“.⁸³ Zugleich wird er von seinem eigenen Projekt verzehrt: „Schöpfer des Tunnels, war er zu seinem Sklaven geworden“.⁸⁴ Doch selbst in dieser tragischen Wendung klingt noch eine integral zum Projektemachen gehörende Kompetenz nach: die zum mehr oder weniger gut moderierten Scheitern.⁸⁵ Genau diese Fähigkeit verweigert Kellermann der gegenbildlich angelegten Figur des S. Woolf, der als Finanzgeschäftsführer zunächst eine entscheidende Stelle bei der Umsetzung des Projekts einnimmt. Auch ihm ist ein – wenn auch kürzeres – Rückblickskapitel gewidmet;⁸⁶ auch er hat sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet, aber nicht mit heroischem Selfmademan-Ethos, sondern mit der „wütende[n] Energie“, die ihn, so die deutlich antisemitisch ausgelegte Deutung, als Ostjuden auszeichnen soll: „Seine tollen Wünsche schüttelten ihn, sein Ehrgeiz knirschte, die kühnsten Verheißungen blendeten sein Hirn“.⁸⁷ Kellermann versteigt sich sogar zum Phantasma des jüdischen Orientalen, der Dutzende von jungen nordischen Frauen aushält und sich damit „an jener hochmütigen blonden Rasse“ rächt, „die ihn früher mit dem Fuß ins Gesicht trat“.⁸⁸

 Dafür stehen im zeitlichen Kontext populäre Publikationen wie Brandt, Karsten: Aus eigener Kraft. Lebensbilder hervorragender Männer, Stuttgart 1910; Wiedenfeld, Kurt: Das Persönliche im modernen Unternehmertum, Leipzig 1911; Lechler, Paul: Geschäftserfolg und Lebenserfolg, Düsseldorf 1912. Vgl. dazu das Dissertationsprojekt von Vijayakumaran, Jana: Der Selfmademan. Ökonomie und Gegenwartsbewusstsein in der deutschen und französischen Literatur um 1900, Universität Bonn, DFG-Graduiertenkolleg Gegenwart/Literatur, https://www.grk2291.uni-bonn. de/de/person/DoktorandInnen/jana-vijayakumaran (Zugriff: 10.01. 2021).  Kellermann: Der Tunnel (Anm. 1), S. 136.  Ebd., S. 301.  Ebd., S. 292.  Vgl. Bühler: Zukünftiges Zukunftswissen in modernen Utopien (Anm. 60), S. 170; Krajewski: Projektemacher (Anm. 76), S. 209. Vgl. ausführlicher Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns, hrsg. von Markus Krajewski, Berlin 2004.  Kellermann: Der Tunnel (Anm. 1), S. 85 – 89.  Ebd., S. 86.  Ebd., S. 126.

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Indem ihm als einziger Antrieb Ressentiment und „Sinnlichkeit“⁸⁹ zugebilligt werden, kann er selbst nur ein zerstörerisches Projekt ersinnen: Er versucht durch finanzielle Manipulationen das Tunnel-Syndikat zu übernehmen, ruiniert es dabei vollständig und endet im Suizid – ausgerechnet unter den Rädern eines UBahn-Zuges.⁹⁰ An der Bedeutung, die der Erfindung und Umsetzung von Projekten beigemessen wird, lässt sich ablesen, wie in den Zukunftsromanen Zukünftigkeit selbst als Teil der fiktiven Welten verhandelt wird, wie man sich also „in der Zukunft zur Zukunft verhalten“ kann.⁹¹ Damit wieder zu Berge Meere und Giganten. Hat die Menschheit, wie Döblin sie entwirft, noch Interesse an ihrer Zukunft? Gibt es also in der fernen Zukunft dieses Romans überhaupt noch Zukünftigkeit? Und können in der Welt des 24. bis 27. Jahrhunderts Projekte gemacht und realisiert werden? Innerhalb der herkömmlichen Logik und Praxis würden dazu befähigte Einzelne gehören. Der Stellenwert von Individualität in Döblins Text ist allerdings auf mehrfache Weise prekär. Wie bereits gesagt, bevorzugt der ‚chronikalische‘ Erzähler über weite Strecken die makroperspektivische Distanzierung. Allerdings rückt er immer wieder Einzelmenschen in den Mittelpunkt, die sich von den Generationen, Völkern, Massen und Horden im doppelten Sinn exemplarisch abheben: Einerseits repräsentieren sie die Kollektive, aus denen sie hervorgehen; andererseits sind sie Ausnahmen, „Wunderexemplar[e]“,⁹² die sich radikal von der Logik des Kollektivs unterscheiden. Gerade diese Einzelnen sind allerdings wenig zukunftsfähig, was besonders für die destruktiven und fortschrittsfeindlichen Konsuln der Berliner Stadtschaft gilt, die im dritten und vierten Buch, teils „melodramatisch zugespitzt[ ]“, als „Spielbälle ihrer Leidenschaften und Obsessionen“ erscheinen.⁹³

 Ebd., S. 125.  Vgl. ebd., S. 235. In den Verfilmungen von 1915 und 1933 wird Woolf (1933 gespielt von Gustaf Gründgens) nicht mit so penetranten antisemitischen Stereotypen ausgestattet wie im Roman, dafür noch deutlicher zum Widersacher Allans gemacht; zum Beispiel beruht die Tunnel-Katastrophe auf einer von ihm initiierten Sabotageaktion.  Bühler: Zukünftiges Zukunftswissen in modernen Utopien (Anm. 60), S. 163.  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 3), S. 84.  Sander: Utopischer Roman (Anm. 8), S. 88. Das betrifft besonders die vielfach gewaltbesetzten Geschlechterverhältnisse, vgl. Kaya, Nevzat: „Tellurische“ Rationalitätskritik. Zur Weiblichkeitskonzeption in Alfred Döblins „Berge Meere und Giganten“, in: Internationales Alfred-DöblinKolloquium: Bergamo 1999, hrsg. von Torsten Hahn, Bern u. a. 2002, S. 131– 140; Hofmann, Hanna Maria: „Mann-Weiber“ im Technikstaat. Geschlechterkampf und Zivilisationskritik in Alfred Döblins „Berge Meere und Giganten“, in: Technik und Gender. Technikzukünfte als geschlechtlich codierte Ordnungen in Literatur und Film, hrsg. von Marie-Hélène Adam, Karlsruhe 2016, S. 75 – 93.

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Erst als sich mit der zweiten Hälfte des Romans, etwa ab dem fünften Buch, „die Handlung zunehmend ins Fantastisch-Allegorische“ verschiebt,⁹⁴ wird auch Zukunft wieder möglich. Das große Projekt, das in Berge Meere und Giganten ersonnen wird, richtet sich auf „Die Enteisung Grönlands“ (so der Titel des siebenten Buchs⁹⁵). Es ist das Ergebnis einer Reihe ausführlich geschilderter Verhandlungen, in denen die Senate verschiedener Stadtschaften versuchen, die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den urbanen Zentren und der abwandernden Bevölkerung zu befrieden. Mehrfach wird – sowohl innerhalb der politischen Beratungen als auch seitens des Erzählers – in aphoristischer, erratischer Weise das Problem angesprochen, wie lange die posthistorische Stasis anhalten wird: „Wie sieht die Welt bei euch aus! Noch! Noch!“⁹⁶; „Ihr könnt etwas sehr Altes und Neues sehen“⁹⁷; „Es sind Hunnen vor zwei Jahrtausenden gekommen, die alles wegrafften. Dann war Jammer und alles begann von vorn“⁹⁸; „Zeit verlief“⁹⁹. Die Lösung scheint auf, als deutlich wird, dass man die migrierenden Menschen „in eine ferne Sicherheit bringen“ müsse. Um „den Städten ein Abflußbassin [zu] verschaffen“, müsse geradezu „ein neuer Erdteil geschaffen werden“.¹⁰⁰ Man war noch im ungewissen über Einzelheiten des neuen Plans. Als eines Tages bei einer Beratung zu London das Wort Grönland fiel und augenblicklich die Seelen bezwang. Der Schleier war gefallen. Das Zauberland. Wer das Wort ausgesprochen hatte, war bald vergessen.¹⁰¹

Es ist wichtig, dass und wie in der Beratung des „Plans […] das Wort Grönland fiel“: ohne individuell identifizierte Sprecher. Zwar werden davor und danach die Namen bestimmter Akteure, insbesondere Senatorinnen und Senatoren, genannt, aber im entscheidenden Moment wird keine der Personen als besonders inspirierte oder inspirierende Einzelne herausgehoben. Es wird also eine weitreichende Entscheidung über die Machbarkeit von Zukunft getroffen, aber die personalen Instanzen werden „vergessen“. Das hat mit dem Überpersönlichen des Projekts selbst zu tun, das in mehrfacher Hinsicht ins Gigantische tendiert. Die im Fall von Kellermanns Helden ausführlich thematisierte persönliche Verant Sander: Utopischer Roman (Anm. 8), S. 88.  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 3), S. 417.  Ebd., S. 341.  Ebd.  Ebd., S. 348.  Ebd., S. 350.  Ebd., S. 354 f.  Ebd., S. 355 f.

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wortung spielt hier programmatisch keine Rolle; die „Enteisung Grönlands“ ist als Projekt ohne Projektemacher auch eines ohne Technikfolgenabschätzung, ohne Absicherung und ohne nachträglich verhandelbare Haftung. Die Enteisung selbst ist ein phantastisches Geo-Engineering. Mit Hilfe von „schleierartige[n] Gebilden“, die aus Turmalinkristallen gewonnen werden, sogenannten „Turmalinnetzen“,¹⁰² kann das Feuer isländischer Vulkane über das Meer nach Grönland transportiert werden, woraufhin die großen glaziologischen und geologischen Veränderungen beginnen. Von der Last des Festlandeises befreit, „stieg Grönland, das Erdmassiv, […] wie ein Korken auf, der tief in das Wasser gedrückt ist und den der Finger losläßt. […] In wenigen Tagen war alles ausgeglichen. Grönland, noch eben ein Erdteil, war zu zwei großen Inseln geworden“.¹⁰³ Die menschengemachte Veränderung führt zu einer raschen biologischen Evolution, wobei bemerkenswert ist, wie Döblins Erzähler Letztere direkt aus Ersterer entstehen lässt, so dass Steinernes, Pflanzliches und Tierisches ineinander über und auseinander hervor gehen:¹⁰⁴ Es kam ein Schmachten Wüten in die Dinge, daß sie sich bogen und streckten. Langsam regten sich die Gesteine. Die Ebenen des Landes hoben sich, überall wuchsen sie Lager aus, drängten hoch, schoben sich übereinander. Rascher waren die Moose Algen Farne Gräser Fische Schnecken Würmer Eidechsen, großen Säuger. […] Straßenlange Schlangenleiber ringelten Echsen über die Felsen, stürzten sich ins Wasser, die erst blassen, dann schwärzlichbraun anlaufenden Wesen, denen Stacheln aus den schmalen bezahnten Schädeln wuchsen und die unten im Wasser brünstig grunzend mit ihren breiten Schwimmschaufeln wateten.¹⁰⁵

Da die Rieseneidechsen beginnen, das Land und die Siedlungen anzugreifen, erfinden die Menschen neuartige „Unwesen“, die titelgebenden Giganten:¹⁰⁶ Man hatte Steine und Stämme zusammengehäuft und sich vermählen lassen […]. In diesen Boden trug man zuletzt Menschen ein. […] Etagenweise wurde der Bau errichtet. Dann wurde der Turm mit den ausgewählten Men-

 Ebd., S. 409 f.  Ebd., S. 484.  Vgl. Riedel, Wolfgang: Umbau der Erde oder wer erschafft die Welt? Der Kampf von physis und techné in Alfred Döblins Zukunftsroman „Berge Meere und Giganten“, in: Die Erschaffung der Welt. Alte und neue Schöpfungsmythen, hrsg. von Dorothea Klein, Würzburg 2012, S. 135– 151; May, Markus: Die Wiederkehr der Drachen. Zur Dialektik von Natur und Technik in Alfred Döblins „Berge Meere und Giganten“, in: Den Drachen denken. Liminale Geschöpfe als das Andere der Kultur, hrsg. von dems. et al., Bielefeld 2019, S. 109 – 128.  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 3), S. 487 und 492.  Vgl. Ripper, Annette: Überlegungen zur Aneignung des Körpers und zum Aspekt der BioMacht in Alfred Döblins „Berge Meere und Giganten“, in: Musil-Forum 30, 2007/08, S. 194– 220.

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schen, den Anhängern der Senate, beschickt. Wochenlang dauerte ihr Einpflanzen, das Zementieren eines einzelnen Menschen. […] Je mehr Ranken und Sprossen des Unterturmes sich an den Körper legten, mit ihrer Haut verschmolzen, um so stärker trieb man die Leiber der sich Opfernden auf.¹⁰⁷

Neben dem Schauerlichen dieser Hybridisierungen fällt auf, dass nicht nur bei den „Turmmenschen“,¹⁰⁸ sondern auch bei denen, die mit ihnen experimentieren und sie auf- und anbauen, die Individualität und der sprachliche Subjektstatus unmarkiert bleiben. Die Passagen, in denen von der Entstehung der Giganten erzählt wird, vollziehen sich über weite Strecken in Passivkonstruktionen oder mit einem ‚man‘ als Handlungssubjekt. Das große Projekt der Menschen des 27. Jahrhunderts ist damit gleich in mehrfacher Hinsicht als ein posthumanes ausgewiesen. Wenn es im Text heißt, diese Ereignisse seien „das Sonderbarste Schrecklichste, was die Erde bisher gesehen hatte“,¹⁰⁹ dann scheint die superlativische Formulierung eher Staunen und Bewunderung als Ablehnung oder Warnung auszudrücken, zugleich aber auch Distanznahme, denn in diesem Satz sind es ja nicht etwa die Menschen, sondern es ist die Erde selbst, die das „Sonderbarste Schrecklichste“ sieht. Nachdem es den hybridisierten Giganten gelungen ist, die Rieseneidechsen zu besiegen, werden sie ihrerseits unkontrollierbar. Es bedarf eines weiteren Opfers, um das grausige und groteske biotechnologische Wettrüsten, für das die Bezeichnung „ungeheure Katastrophe“¹¹⁰ nur ein schwacher Hilfsausdruck ist,¹¹¹ zu beenden. Eine heldenhafte Frau namens Venaska, ergriffen von einer unerklärlichen Sehnsucht nach den Giganten, bewirkt in einer seltsamen Art von Vereinigung den Zerfall der Turmmenschen in Wälder und Berge, Wasser und Feuer. Nach den posthumanen Kämpfen geht aber das kleine Leben der „Scharen der Menschen“ weiter: auf der Ebene der elementaren Beziehungen („Mutter und Kind Mutter und Kind, Geliebter und Geliebte“) und auf der zellulären und biochemischen Ebene („Eiweiß Ammoniak Aminosäuren Kohlensäure und Wasser“¹¹²). In einem letzten Satz blendet der Erzähler von diesem kleinen und winzigen Maßstab nochmals zurück in planetarische, astronomische Dimensio-

 Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 3), S. 514 und 516.  Ebd., S. 517.  Ebd., S. 514.  Ebd., S. 622.  Vgl. zur Gesamteinschätzung des Romans als „literarisches Katastrophenszenario“ Bultmann, Christof: Monströse Massen. Zur Ökologie in Alfred Döblins „Berge Meere und Giganten“, in: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium: Berlin 2011. Massen und Medien bei Alfred Döblin, hrsg. von Stefan Keppler-Tasaki, Bern u. a. 2014, S. 127– 148, hier S. 135.  Ebd., S. 630.

Planetarische Zukünfte

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nen – die nun aber in menschlichen Dimensionen erscheinen: „Schwarz der Äther über ihnen, mit kleinen Sonnenbällen, funkelnden verschlackenden Sternhaufen. Brust an Brust lag die Schwärze mit den Menschen; Licht glomm aus ihnen“.¹¹³

5 Schluss Im Lichte dieses letzten „Lichtes“ spricht einiges dagegen, die in Berge Meere und Giganten dargestellte Entwicklung, so katastrophal und erderschütternd sie auch sein mag, als dystopisch zu bezeichnen. Döblins Chronist berichtet darüber, wie Menschen versuchen, den zu eng gewordenen Rahmen einer bloßen ‚Weltgeschichte‘ zu verlassen und ihre posthistorische Situation stattdessen im planetarischen Maßstab zu bearbeiten. Das bedeutet, die menschliche Zeit an die planetarische Tiefenzeit anzupassen – und umgekehrt. Die epische Erzählung handelt vom kollektiven Heldentum einer solchen Anstrengung und von der damit einhergehenden posthumanen, also auch ‚übermenschlichen‘ Selbstüberhöhung. Kellermann verfährt in Der Tunnel, bei allen offenkundigen Unterschieden, nicht unähnlich. Er begeistert sich für die menschliche Fähigkeit, die Zukunft durch hybride Großprojekte zu gewinnen, auch wenn sie tragisch verspätet sind oder ganz scheitern. Allerdings strebt die Konstruktionsweise der Erzählung nicht wirklich nach der planetarischen Dimension. Es bleibt bei der Geschichte eines einzelnen Individuums, die Döblin in Erzählweise, Perspektivierung und Stil von vornherein hinter sich lässt. Das hat Auswirkungen auf das, was man als die den jeweiligen Erzählungen innewohnende Zukünftigkeit bezeichnen könnte. Im Falle von Kellermanns spannungsgeladenem Bestseller ist es die lineare, zielorientierte Zukünftigkeit eines page turner. Wir befinden uns sozusagen im Tunnel der Erzählung; wir haben Freude an der Art und Weise, wie wir durch diesen hindurch manövriert werden. Wie bereits gesagt: Wenn der Tunnel fertig ist, ist auch der Roman fertig. Berge Meere und Giganten steht für eine andere Art von literarischer Zukünftigkeit: die des literarischen Experiments, im weiten Verständnis von François Jacob, der Experimente als „Maschinen zur Herstellung von Zukunft“ bezeichnete.¹¹⁴ Eine Maschine wäre wiederum, im Sinne von Dietmar Daths Definition von ScienceFiction als „Kunst- und Denkmaschine“, all das, was „menschliches Handlungs Ebd.  Jacob, François: Die innere Statue, Zürich 1988, S. 12. Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: „Eine Maschine zur Herstellung von Zukunft“. Zur Performativität wissenschaftlicher Forschung, in: Performing the Future. Zur Zukunft der Performativitätsforschung, hrsg. von Erika Fischer-Lichte und Kristiane Hasselmann, München 2013, S. 265 – 275.

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vermögen unterstützen, erweitern und ersetzen kann“¹¹⁵ – auch das symbolische und imaginäre Handeln im kognitiv-intellektuellen Bereich. Wenn man, wie Dath vorschlägt, Berge Meere und Giganten für die frühe deutschsprachige ScienceFiction reklamiert,¹¹⁶ dann in eben diesem experimentellen Sinn: als Versuch, Schreiben über die Zukunft und avantgardistisches Schreiben als ein und dasselbe literarische Projekt zu verstehen.

 Dath: Niegeschichte (Anm. 5), S. 96.  Vgl. ebd., S. 217 f.

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Von Baumstämmen und Steinen Zur Poiesis von Alfred Döblins Berge Meere und Giganten ausgehend von einer „Natur-Epiphanie“ Nun ist keine Frage, daß, wie das Klima ein Inbegriff von Kräften und Einflüssen ist, zu dem die Pflanze wie das Tier beiträgt und der allen Lebendigen in einem wechselseitigen Zusammenhange dienet, der Mensch auch darin zum Herrn der Erde gesetzt sei, daß er es durch Kunst ändre. Seitdem er das Feuer vom Himmel stahl und seine Faust das Eisen lenkte, seitdem er Tiere und seine Mitbrüder selbst zusammenzwang und sie sowohl als die Pflanze zu seinem Dienst erzog, hat er auf mancherlei Weise zur Veränderung desselben mitgewirket. Europa war vormals ein feuchter Wald, und andre jetzt kultivierte Gegenden waren’s nicht minder: es ist gelichtet, und mit dem Klima haben sich die Einwohner selbst geändert. […] Wir können also das Menschengeschlecht als eine Schar kühner, obwohl kleiner Riesen betrachten, die allmählich von den Bergen herabstiegen, die Erde zu unterjochen und das Klima mit ihrer schwachen Faust zu verändern.Wie weit sie es darin gebracht haben mögen, wird uns die Zukunft lehren. Johann Gottfried Herder (aus: Ideen zur Geschichte einer Philosophie der Menschheit)

1 ‚Stammelsyntax‘ und ‚Misanthropie‘: Der Roman und seine Rezeption 1924 erscheint mit Alfred Döblins Berge Meere und Giganten ¹ ein eigenwilliger Zukunftsroman, der bis heute eingespielte Leseerfahrungen und -erwartungen herausfordert und in vielerlei Hinsicht selbst ein maßloses Ungeheuer zu sein scheint. Formal gesehen bricht er mit dem grammatikalischen, orthographischen, semantischen und syntaktischen Regelwerk: Durch „[a]syndetische Reihung[en] gleichwertiger geo- und ethnographischer, mineralogischer und biologischer Fakten“ und allerlei neologistische Wortgebilde und Komposita² wuchern die Sätze selbst zu ‚Riesen‘ aus, kompostieren das zur Verfügung stehende Sprachund Wissensmaterial auf vielfältige Weise. Der „mythische Erzählstil“³ besticht vor allem durch ein „depersonales und polyperspektivisches Erzählen“⁴ und

 Döblin, Alfred: Berge Meere und Giganten, München 1980 (zuerst 1924).  Elm, Ursula: Technikkult und Naturmythos bei Alfred Döblin., in: Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter, hrsg. von Theo Elm und Hans H. Hiebel, Freiburg im Breisgau 1991, S. 286 – 303, hier S. 292.  Ebd., S. 295.  Ebd., S. 292 (Hervorhebung entfernt). https://doi.org/10.1515/9783110773217-012

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obwohl narratologisch gesehen von einer überblickenden, nullfokalisierten Erzählinstanz gesprochen werden kann, ist diese kaum daran interessiert, das Geschehen kausal zu erklären, zu plausibilisieren oder ordnend zu kommentieren. Vielmehr zeitigen die „häufigen Perspektivenwechsel“⁵ eine Art ‚Perspektivenlosigkeit‘, und die so entstehende „Sinnoffenheit und Sinnfeindlichkeit“⁶ erhält im Roman gewissermaßen eine paradoxal-strukturelle Grundierung. Auch auf der Handlungsebene bleibt der Roman eine Herausforderung: Ebenso maßlos wie die Satzungetüme und die „Stammelsyntax“⁷ erscheint dabei die in die Zukunft versetzte, sich über mehr als 700 Jahre ausdehnende Handlungszeit, deren Vorpreschen keinen Halt oder teleologischen Konvergenzpunkt verspricht: Die brutalen Kriege und planetarischen Katastrophen, die der Mensch zu verantworten hat, gehören dabei ebenso zum Imaginationsinventar der „anarchischen Phantasie“⁸ des Romans wie die Veränderung des Klimas und der Erdoberfläche, die Synthetisierung der Nahrungsmittelherstellung, das Auftauchen längst vergangener Urwesen oder die Hybridgestalten aus verschiedensten organischen und anorganischen Lebensformen. Die zeitgenössischen Reaktionen auf Döblins ‚Gigantomachie‘ betonen, in mehr oder weniger starker Akzentuierung, ebenfalls die oben kurz angerissenen Herausforderungen, ästhetischen Eigenarten und inhaltlichen Sperrigkeiten des Romans, und sind folglich gemischt, aber nicht unbedingt negativ.⁹ In der frühen akademischen und vor allem germanistischen Beschäftigung mit Döblins Schriften, wie sie in den 1950er und 1960er Jahren verstärkt einsetzte, erfuhr der Roman zunächst eine klare Abwertung, bevor er dann in den 1970er Jahren, auch beziehungsweise gerade wegen seiner experimentellen Anlage, wissenschaftlich

 Ebd.  Ebd.  Klotz,Volker: Nachwort. Alfred Döblins „Berge Meere und Giganten“, in: Döblin, Alfred: Berge, Meere und Giganten, München 1980, S. 513– 539, hier S. 530. Dass die dem Titel inhärente Aufzählung vom Autor wissentlich und willentlich ohne Komma gesetzt sein sollte, scheint der DTV in der Ausgabe von 1980 zu ignorieren und sich sogar dazu berufen zu fühlen, diesen ‚Fehler‘ unkommentiert zu ‚verbessern‘.  Elm: Technikkult und Naturmythos bei Alfred Döblin (Anm. 2), S. 294.  Eine Sammlung der durchaus positiven, zeitgenössischen (Zeitungs‐)Kritiken findet sich in Alfred Döblin im Spiegel der zeitgenössischen Kritik, hrsg. von Ingrid Schuster und Ingrid Bode, Bern/München 1973, S. 129 – 154. Gabriele Sander hat in ihrer umfangreichen und verdienstvollen Dissertation die Rezeption zu Döblins Roman ausführlich dargestellt und kommentiert. Vgl. Sander, Gabriele: „An die Grenzen des Wirklichen und Möglichen…“. Studien zu Alfred Döblins Roman „Berge Meere und Giganten“, Frankfurt am Main u. a. 1988, insb. S. 7– 45.

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nobilitiert und rehabilitiert wurde.¹⁰ Als paradigmatisch für eine solche Annäherung darf auch das Nachwort von Volker Klotz zu Döblins Berge Meere und Giganten aus dem Jahr 1980 (beziehungsweise 1977)¹¹ gelten: Zweifellos, der Roman ist ein Ungetüm. Er läßt den Leser nicht so ohne weiteres an sich heran, denn er heißt nicht nur „Berge, Meere und Giganten“, er handelt auch davon. Und welcher romanversessene Zeitgenosse ist schon drauf aus, sich mir-nichts-dir-nichts in Berge, in Meere und in Giganten hineinzuversetzen. Solche Romanhelden, so scheint es, gehen dich und mich wenig an. Sie können weder verständlich handeln noch leiden, weder denken noch empfinden. Sie befremden einen, der auch lesend mit Wesen der eigenen Gattung zusammenleben will, allein schon durchs überwältigende Kolossalformat.¹²

Fokussiert Klotz hier vordergründig auf die Herausforderungen, vor die sich die potenziellen Lesenden gestellt sehen könnten,¹³ werden im Fortgang seiner Argumentation dann aber die „einmaligen Vorzüge“ des Romans angepriesen,¹⁴ an denen die von Klotz so genannte ‚epische Penetranz‘ Döblins maßgeblichen Anteil habe.¹⁵ Mit all ihren mitunter auch verstörend-enervierenden Eigenheiten schaffe es die ästhetische Struktur des Romans – und das sei das Besondere an Döblins Text –, sich an eigentlich unfassbare Gegenstände quasi-mimetisch anzugleichen: Daraus [aus und mit der ‚epischen Penetranz‘] entrollt der Roman sein Gesamtbild von der Wirklichkeit. Wirklichkeit als unentwegtes Geschehen. Nicht als Geschehenes, das man auf

 Vgl. hierzu ebd., S. 45 – 64; sowie Koepke, Wulf: The Criticial Reception of Alfred Döblin’s Major Novels, Rochester NY 2003, S. 112– 122.  Klotz’ ‚Nachwort‘ ist, geringfügig verändert, aus einem früheren Aufsatz hervorgegangen, aus dem es zum Teil auch besteht. Vgl. Klotz, Volker: Döblins epische Penetranz. Zum sinnvoll-sinnlichen Umgang mit Berge Meere und Giganten, in: Sprache im technischen Zeitalter 63, 1977, S. 213 – 231.  Klotz: Nachwort (Anm. 7), S. 515.  Im Übrigen mutet es so an, als hätte sich Döblin eine solche Kritik zu Herzen genommen, wenn er einige Jahre später eine stark verkürzte und redigierte Fassung des Textes – nun unter dem Titel Giganten (1932) – veröffentlicht, die im Paratext das leicht konsumierbare Genre eines ‚Abenteuerbuchs‘ verspricht. Wie Gabriele Sander aber anmerkt, ist diese Version nicht allein als lesefreundlichere Ausgabe des ursprünglichen Romans zu werten, sondern viel eher als Umsetzung des 1929 von Döblin formulierten „Postulat[s] von der ‚Senkung des Gesamtniveaus der Literatur‘ und der Abschaffung des bürgerlichen Bildungsmonopols“ zu verstehen. Vgl. Sander, Gabriele: Utopischer Roman. Berge Meere und Giganten (1924), in: Döblin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Sabine Becker, Stuttgart 2016, S. 83 – 92, hier S. 86. Döblin selbst wollte übrigens beide Texte als autonom nebeneinander bestehend wissen. Vgl. dazu Döblin, Alfred: Nachwort zu „Giganten“, in: ders.: Aufsätze zur Literatur, hrsg. von Walter Muschg, Olten/Freiburg im Breisgau 1963, S. 371– 374, hier S. 374.  Klotz: Nachwort (Anm. 7), S. 515.  Vgl. ebd., S. 534 ff.

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sich beruhen lassen kann. Sondern als Geschehendes, das beunruhigt. Denn weiterhin wird geschehen, was Menschen aus eigener Macht oder Ohnmacht mit sich und ihrer Umwelt anstellen. Zumal hierauf zielt Döblin mit seiner epischen Penetranz: daß die wechselseitige Durchdringung auch ein zeitlicher Fortgang ist. Eindringend in die Ereignisse, die künftig aus der gegenwärtigen Wirklichkeit hervorgehen können, durchdringt der Autor die gegenwärtigen Verhältnisse. Dabei bringt er im unentwegten Geschehen die unentwegte Geschichte zum Vorschein […].¹⁶

Der Roman sei, so suggeriert es nicht nur Klotz’ Lesart, eine paradoxe, gewagte, aber schlussendlich erfolgreiche Mimesis „an seinen Gegenstand“, durch die die vielfältigen Erscheinungsformen des Werdens und der Natur ebenso wie deren, im wahrsten Sinne des Wortes, post-humane Zeitskalen und ‚Eigenzeitlichkeiten‘ offenbart würden.¹⁷ Dabei sind solche „unterschiedliche[n] Zeitschichten“ aber nicht nur auf diegetischer Ebene verschränkt,¹⁸ sondern in der ‚epischen Penetranz‘ ist zudem exponiert, dass auch realiter Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem rekursiven Verhältnis zueinander stehen. Vor dem Hintergrund solcher Beschreibungen und Beobachtungen ist es nun kaum zufällig, dass Döblins Roman gegenwärtig eine Konjunktur erfährt. In einer vor allem ökokritisch und kritisch posthumanistisch geprägten Literatur- und Kulturwissenschaft¹⁹ wird er nicht nur als ein Beispiel für das Denken des Post-Anthropozentrismus gefeiert, sondern auch als Vordenker des und kritische Auseinandersetzung mit dem Anthropozän avant la lettre gewertet.²⁰

 Ebd., S. 535.  Dies hat beispielsweise Oliver Völker in einer luziden Analyse des Romans ausgearbeitet. Vgl. Völker, Oliver: Epos der Erde. Die Eigenzeitlichkeit der Natur in Alfred Döblins Berge Meere und Giganten (1924), in: Repräsentationsweisen des Anthropozäns in Literatur und Medien/Representations of the Anthropocene in Literature and Media, hrsg. von Gabriele Dürbeck und Jonas Nesselhauf, Berlin u. a. 2019, S. 85 – 106, hier S. 98.  Ebd., S. 90.  Vgl. dazu einführend Bühler, Benjamin: Ecocriticism. Grundlagen – Theorien – Interpretationen, Stuttgart 2016; sowie Herbrechter, Stefan: Posthumanismus. Eine kritische Einführung, Darmstadt 2009.  So war auch das Internationale Alfred-Döblin-Kolloquium von 2017 um solche Fragestellungen organisiert. Vgl. Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Cambridge 2017. Natur, Technik und das (Post‐)Humane in den Schriften Alfred Döblins, hrsg. von Steffan Davies und David Midgley, Berlin u. a. 2019. Vgl. weiterhin auch Schwägerl, Christian: Der Nordpol brennt, die Bestien kommen. Alfred Döblin als Science-Fiction-Autor und Vordenker des Anthropozäns: „Berge Meere und Giganten“ nimmt die Konflikte unserer Zeit vorweg, in: RiFFReporter AnthropoScene vom 09.06. 2017; online verfügbar unter: https://www.riffreporter.de/anthropozaen/riff_buchdoeblinberge-meer-giganten (Zugriff: 10.09. 2019); sowie Dürbeck, Gabriele / Schaumann, Carolin / Sullivan, Heather: Human and Non-Human Agencies in the Anthropocene, in: Ecozon@ Jg. 6 (1), 2015, S. 118 – 136, insb. S. 128 ff.

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Als Annäherung an die Frage, wie man denn anders als eben ‚menschlich‘ lesen könne – und damit eine auch bei Klotz angesprochene Problematik auf den Punkt bringend – empfiehlt Stefan Herbrechter eine kritisch-posthumanistische Lektürehaltung, die einen „strategisch ‚misanthropischen‘ Standpunkt“²¹ impliziert: Auch wenn sich vielleicht nicht alle Texte gleichermaßen zu einer derartigen Lektüre eignen, ist es legitim, von einem hypothetischen posthumanistischen Standpunkt aus, die[] menschlichen Grundwerte zu „befragen“, und so zu tun, als ob es möglich wäre, von einem „inhumanen“ oder zumindest nicht-mehr-ganz-humanen Standpunkt aus zu lesen. Dass dies ein „künstlicher“ Standpunkt gegenüber einer ebenso konstruierten „Humanität“ ist, hindert nicht daran, genau diese Konstruiertheit des Humanen von einer nicht mehr ganz verkörperten, anthropomorphen oder anthropozentrischen Perspektive aus zu betrachten. […] Von einer posthumanen [Grundannahme/Perspektive] aus zu lesen, heißt also, sich selbst, oder sein menschliches Selbst, zumindest temporär in Frage zu stellen und sein eigenes grundlegendes Selbstverständnis als Mitglied einer bestimmten „Spezies“ auszublenden. […] Dies bedeutet, sich zwischen Identität und Andersheit aufzuhalten und die organischen Grundlagen dieser Unterscheidung lesend zu dekonstruieren. Auch ist diese Leseart bis zu einem gewissen Grad willentlich kontra-intuitiv, denn sie setzt sich über eine eigentlich unhintergehbare Teilnahme an einer universellen Menschheit hinweg.²²

Vor dem Hintergrund eines Diskurses, der um allgemeine Revision eines als exkludierend empfundenen Humanismus und Anthropozentrismus bemüht ist, scheint eine solche ‚posthumanistische Misanthropie‘ als notwendige Voraussetzung, um für die vielfältigen Existenzweisen und Verschränkungsformen der menschlichen und nicht-menschlichen Akteure in dieser gemeinsam geteilten Welt zu sensibilisieren. Genau darauf stützen sich neuere Analysen von Döblins Roman. So betont beispielsweise Gabriele Dürbeck, dass es gerade keine dualistischen und antagonistischen Schemata von Natur, Technik und Mensch seien, die in Döblins Text verarbeitet würden, wie es gängige Interpretationen nahelegten. Im Roman sieht sie viel eher „deren unauflösliche Interdependenz“ dargestellt, sowie den Appell, dass der Mensch sich „um deren Verständnis und Anerkennung […] bemühen müsse“.²³ An Konzepte des Material Ecocriticism beziehungsweise New Materialism und deren Autoritäten wie Bruno Latour, Donna Haraway, Karen Barad oder Jane Bennett anknüpfend,²⁴ betont Dürbeck, dass Döblins Roman auf vielfältige Weise die verschränkten ‚naturecultures‘ (Haraway)

 Herbrechter: Posthumanismus (Anm. 19), S. 105.  Ebd., S. 104 f.  Dürbeck, Gabriele: Agentielle Natur in Döblins Berge Meere und Giganten aus Sicht des Material Ecocriticism, in: Ökologie und Literatur. Neue kulturwissenschaftliche Perspektiven, hrsg. von Claudia Schmitt und Christiane Sollte-Gresser, Bielefeld 2017, S. 79 – 93, hier S. 81.  Vgl. ebd., S. 81 f.

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bebildert und in ihm allerlei organische und anorganische Lebewesen – gleichberechtige Formen von bios und zoë ²⁵ – als in verwobenen und in sich immer schon gegenseitig durchdringenden ‚Netzwerken‘ befindlich verstanden werden. Dürbeck betrachtet die im Roman stellenweise antagonistisch aufgerufenen Motive einer „prometheischen Unterwerfung“²⁶ der Natur und deren „Rache“²⁷ als ergänzt und letztlich aufgefangen durch das „neuartige[ ] Interesse an einer agentiell verstandenen Natur“, das der Roman offenbart, sowie mit der Einsicht, dass diese „Natur mit kulturellen Prozessen verbunden ist und die klare Grenze zwischen Mensch und Umwelt zugunsten einer Betonung ihrer Interdependenz aufgegeben wird“.²⁸ Diesem Diskurs möchte sich der folgende Beitrag grundsätzlich anschließen. Macht Dürbeck ihre Thesen dabei vor allem am Romaninhalt und der Diegese fest, so nehmen die folgenden Ausführungen auch das paratextuelle ‚Umfeld‘ des Romans, seine Entstehungsgeschichte und einige textgenetische Aspekte in den Blick. Döblins kurze Zeit nach dem Roman veröffentlichten Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“ ²⁹ sind dabei von einiger Relevanz, denn sie schildern, zumindest der Selbstaussage Döblins nach, diejenigen Erlebnisse, die dem nicht unproblematischen Schreibprozess vorangegangen sind, diesen weiterhin geprägt und vor allem zuallererst ausgelöst haben sollen. Es soll der Frage nach einer spezifisch körperlichen Affizierung durch ein vermeintlich unscheinbares Naturerlebnis, wie es in diesem Paratext beschrieben wird, nachgegangen und dabei gezeigt werden, dass die Romangenese durch diese Affizierung erst ermöglicht wurde. Es zeigt sich nämlich, dass die ‚Natur‘, ihr ‚Material‘ und die ‚Dinge‘ vor allem als produktiver poietischer Katalysator für den Roman dienen, und sie genau dadurch gewissermaßen eine Form von agency erhalten. Wo und wie diese Erlebnisse am Text mit- und sich gleichsam in ihn eingeschrieben haben, soll einerseits anhand des Beispiels der Turmalin-Kristalle gezeigt werden; andererseits soll die paratextuelle ‚Zueignung‘ des Romans einer näheren Lektüre unterzogen werden, weil dort, so die These, die auch bei Dürbeck

 Vgl. dazu generell Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, hrsg. von Martin Weiß, Frankfurt am Main 2009, S. 7– 10; zur Weiterentwicklung und Ausdehnung des Zoë-Konzeptes in der posthumanistischen Theoriebildung vgl. auch Braidotti, Rosi: Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt am Main/New York NY 2014.  Dürbeck: Agentielle Natur in Döblins Berge Meere und Giganten (Anm. 23), S. 84.  Ebd., S. 85.  Ebd., S. 89.  Döblin, Alfred: Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“, in: ders.: Aufsätze zur Literatur, hrsg. von Walter Muschg, Freiburg im Breisgau 1963, S. 345 – 356.

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gescholtene Subjekt-Objekt-Dichotomie durch die Betonung der materiellen Verwobenheit und Interdependenz organischer und anorganischer Agenten überwunden wird – und zwar in einer spezifisch literarischen Form von Medienreflexivität, einer Schreibszene.

2 Vom ‚Stein‘ zum ‚Weltwesen‘: Zur Entstehungsgeschichte des Romans Die Entstehungsgeschichte von Alfred Döblins ‚epischem‘ Zukunftsroman ist gut erforscht und vor allem in Gabriele Sanders Dissertation „An die Grenzen des Wirklichen und Möglichen…“. Studien zu Alfred Döblins Roman „Berge Meere und Giganten“ minutiös nachgezeichnet worden.³⁰ Da Döblin selbst an verschiedenen Stellen explizite Hinweise auf prägende Erlebnisse und Eindrücke hinsichtlich der Entstehungsbedingungen und des Entstehungskontextes seines Romans gegeben hat, drängt sich zwar schnell eine biographistische Deutung auf, die jedoch um eine poetologische Dimension ergänzt werden muss, beziehungsweise von Döblin selbst eng an diese gekoppelt wird. Denn das, was die Selbstzeugnisse vor allem betonen, sind die Rahmenbedingen, die Schwierigkeiten und die Einflussfaktoren auf Döblins eigenes Schreiben und somit eben auch auf die literarische poiesis an sich. Der Paratext Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“, den Döblin kurze Zeit nach dem Roman geschrieben und veröffentlich hat, kann dabei mit einigen interessanten Details aufwarten, die bezeugen, dass das Schreiben des Romans in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung für Döblin gewesen sein muss, ihn nachhaltig geprägt und vor allem auch verändert haben sollte. Die geschilderten Ereignisse und ihre prägende Wirkung erscheinen auch vor dem Hintergrund rezenter literatur- und kulturwissenschaftlicher Theoriegebäude und Herausforderungen wie dem Critical Posthumanism, dem Nature Writing, dem Ecocriticism oder auch dem Anthropozän-Diskurs bemerkenswert. Es sei, so kommentiert Gabriele Sander Döblins Reflexionen, vor allem ein „visuelles Erlebnis“ während des Sommerurlaubs an der Ostsee im Jahr 1921, also kurz nach der Vollendung des Wallenstein-Romans (1920), gewesen, das die ersten

 Vgl. Sander: „An die Grenzen des Wirklichen und Möglichen…“ (Anm. 9), insb. S. 84– 139; Sander: Utopischer Roman (Anm. 13), S. 83 – 92. Eine (medien)philologisch interessante, an verschiedenen Nachlassmaterialien ausgerichtete Rekonstruktion der Textgenese bietet Sander auch an anderer Stelle an.Vgl. Sander, Gabriele: Alfred Döblins Roman Berge Meere und Giganten – aus der Handschrift gelesen. Eine Dokumentation unbekannter textgenetischer Materialien und neuer Quellenfunde, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft Jg. 45, 2001, S. 39 – 69.

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Ideen für den Zukunftsroman habe aufkommen lassen.³¹ Döblin schildert diese ‚rührende‘ Begebenheit, die nicht ohne Folgen für die Textgenese bleiben sollte, in den Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“ wie folgt: Inzwischen hatte ich am Ostseestrand 1921 einige Steine gesehen, gewöhnliches Geröll, das mich rührte. Steine und Sand nahm ich mit nach Hause. Es bewegte sich in mir, um mich.³²

Doch auch schon einige Zeit früher, nämlich während der Schwierigkeiten, den Wallenstein (1920) zu einem zufriedenstellenden Schluss zu bringen, gab es eine ähnlich beeindruckende Begegnung mit dem unbelebten Material der Natur. Dem Abbruch des Romans nahe, sei es der „Anblick einiger schwarzer Baumstämme auf der Straße“ gewesen, der ihn in Berlin „tief betroffen“ gemacht und zuallererst den Einfall für das fiktionalisierte Ende des historischen Wallenstein-Stoffs eingegeben habe.³³ Es mag seltsam anmuten, dass der Blick auf solch harmlose Szenerien mit Steinen und Baumstämmen den eingefleischten und stolzen „Städter, Großstädter“³⁴ Döblin so aus der Fassung bringt und ihn nachgerade angeht. Und tatsächlich ist Döblin selbst nicht wenig überrascht über seine affektive Reaktion auf das Material der von ihm sonst wenig geliebten oder geachteten Natur. Doch gerade diese ‚Steine in Arendsee‘ üben auf ihn eine quasimagische Kraft aus und stülpen fortan gleichsam sein komplettes Verhältnis zur Natur um: Zum ersten Male, wirklich zum erstenmal ging ich unsicher, nein ungern nach Berlin zurück […]. Ich hatte den Wunsch, noch länger in der freien Natur zu sein und einmal diese, diese Dinge um mich herumlaufen zu lassen. […] Bis in meine letzten Jahre hatte ich etwas gegen die Natur, habe es oft gesagt und auch geschrieben. […] Dann aber kam es […] über mich. […] Die Steine in Arendsee. Es hatte mich. Die Askese der preußischen Schule ließ nach. Oder setzte sich um. Die Träne quoll, die Erde holte mich.³⁵

 Sander: Utopischer Roman (Anm. 13), S. 83.  Döblin: Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“ (Anm. 29), S. 345.  Ebd.  Ebd., S. 347.  Ebd. Der intertextuelle Bezug zu Goethes Faust (1. Teil, V. 784) ist dabei wohl weder beliebig noch als Parodie oder (Selbst)Ironie zu verstehen: Zwar spielt Döblin hier auf seine Schulausbildung an, in der sich eine Abneigung gegen Goethe etabliert hat, doch zugleich ist diese Retrospektive vor dem Hintergrund der ab circa 1919 einsetzenden intensiveren „Hinwendung zu Goethe“ als eine Art Versöhnung zu verstehen. Der Einfluss Goethes wird sich nämlich gerade in Döblins Naturphilosophie niederschlagen. Zu diesen Ambivalenzen, dem Einfluss Goethes auf Döblin und den Parallelen in ihren naturphilosophischen Ansätzen vgl. Althen, Christina: „Da sitz ich in mei’m Stübele und spiel mit runde Stein“. Erkenntnis der Natur bei Döblin und Goethe, in: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Cambridge 2017. Natur, Technik und das (Post‐) Humane in den Schriften Alfred Döblins, hrsg. von Steffan Davies und David Midgley, Berlin u. a.

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Als pars sensibilisieren die kleinen Steine Döblin nun denn auch pro toto für das größere Ganze und führen ihn „zur Natur als Weltwesen, das ist“,³⁶ ihn überall umgibt und sich ihm aufdrängt. Diese neue Erfahrung, die die sich unscheinbar ausnehmende Natur-„Epiphanie“³⁷ von Arendsee gezeitigt hat, will Döblin, wieder zu Hause angekommen und ähnlich wie beim Wallenstein, sogleich auch publizistisch produktiv machen. So erprobt er sich in den ersten naturphilosophischen Schriften Buddho und die Natur (1921), Das Wasser (1921/22) und Die Natur und ihre Seelen (1922).³⁸ Zu seinem Leidwesen führt diese wissenschaftlichessayistische Beschäftigung allerdings vorerst nicht zu einer erfreulichen Erkenntnis. Neben der Einsicht, dass die Natur ein dunkles, unbegreifliches „Geheimnis“ bleiben wird,³⁹ stellt sich, so muss Döblin bekennen, ein proto-existenzialistisches Gefühl des Nicht-Seins ein – ein sorgenvolles „Ich – bin – nicht“.⁴⁰ Interessanterweise scheitert mit dieser Einsicht auch die Kompilation der naturphilosophischen Texte zu einer größeren Broschüre, die Döblin eigentlich angestrebt hatte.⁴¹ Waren die Baumstämme für den Wallenstein noch ein Segen, scheinen die Steine von Arendsee bis auf Weiteres eher ein Fluch für die Textproduktion zu sein. Und so macht sich leichte Resignation breit.

2019, S. 17– 36, hier S. 22; sowie Stauffacher,Werner: Intertextualität und Rezeptionsgeschichte bei Alfred Döblin: „Goethe dämmerte mir sehr spät.“, in: Zeitschrift für Semiotik Bd. 24 (2/3), 2002, S. 213 – 229.  Döblin: Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“ (Anm. 29), S. 348.  Vgl. Sander: Utopischer Roman (Anm. 13), S. 83.  Vgl. dazu Schoeller, Wilfried: Alfred Döblin. Eine Biographie, München 2011, S. 242– 245. Döblins Naturphilosophie wird im späteren Text Unser Dasein (1933) dann noch einmal mit anthropologischen beziehungsweise anthroposophischen Reflexionen angereichert. Eine wissenspoetische Verortung dieser Konzepte bei Döblin vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Biologie und (philosophischen) Anthropologie hat Benjamin Bühler vorgenommen. Vgl. Bühler, Benjamin: Lebende Körper. Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger, Würzburg 2004, S. 211– 253; sowie einführend auch Gelderloos, Carl / Maillard, Christine: Naturphilosophische Schriften, in: Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Sabine Becker, Stuttgart 2016, S. 276 – 285.  Döblin: Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“ (Anm. 29), S. 348.  Ebd., S. 347.  Tatsächlich wurden diese frühen Studien erst einige Jahre später in das naturphilosophische Hauptwerk Das Ich über der Natur (1927) – zum Teil sogar wörtlich – eingegliedert und aufgenommen. Vgl. auch Gelderloos / Maillard: Naturphilosophische Schriften (Anm. 38), S. 276.

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3 Der ‚Druck dieser Dinge‘ und die ‚Zukunft‘ als therapeutische Ermöglichung und literarische poiesis Verärgert über die menschliche Nichtigkeit und verärgert auch darüber, dass er dieses ‚Weltwesen‘ überall um sich herum spüren, aber nicht adäquat zu fassen bekommt und zu beschreiben vermag, steigern sich Döblin sogar die kleinsten Alltagsbegebenheiten und -routinen – etwa die Beobachtungen des Auflösens von Zucker im Kaffee – zu einer nachgerade physisch-körperlichen Qual: „Ich weiß, daß mir oft ängstlich, körperlich ängstlich und schwindlich [sic] unter diesen Dingen wurde“.⁴² Doch scheint diesem real-körperlichen Empfinden auch ein Moment des Halts, mitunter sogar der Selbstvergewisserung inhärent zu sein. Und genau damit beginnt sich etwas zu verschieben: Gegen den belastenden und omnipräsenten „Druck dieser Dinge“⁴³ findet sich schlussendlich ein probates Mittel, das Abhilfe verspricht: das Schreiben. Ich mußte etwas schreiben, um sie [‚die Dinge‘] loszuwerden. Etwas anderes, ganz anderes schreiben. Resolut machte ich mich daran. Am besten etwas Episches. Da konnte ich mich am leichtesten hineinwerfen, und es würde mich weit wegtragen. – Es ging mir sonderbar.⁴⁴

Das noch kurz zuvor empfundene, alles überwuchernde Gefühl des Nicht-Seins wird allmählich und zuallererst durch eine eigenartige körperliche Empfindung produktiv gemacht und mündet schlussendlich in einer Form schriftstellerischer poiesis. Denn was nun unter dem ‚Druck der Dinge‘ entsteht, ist kein Text in Form des wissenschaftlich-philosophischen Essays, sondern die Einfälle zu einem literarischen Text, eben Berge Meere und Giganten. Das Schreiben, das hier gleichzeitig als ‚Weltflucht‘ und völliges Eintauchen in eben diese Welt apostrophiert wird, hat dabei durchaus therapeutischen und geradezu kurierenden Charakter. Scheint sich der inhaltliche Gegenstand des zu schreibenden Textes – die Natur und das ‚Weltwesen‘ – dabei von selbst aufgedrängt zu haben und die literarische Form – der Roman als ‚Epos‘⁴⁵ – schnell gefunden zu sein, stellt sich

 Döblin: Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“ (Anm. 29), S. 348.  Ebd.  Ebd.  Zur Besonderheit des Epischen und seinen Vorzügen gegenüber dem Roman vgl. auch Döblins programmatische Schriften An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, Bemerkungen zum Roman, Der Bau des epischen Werks [Mai 1913], in: ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik

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nur noch eine konzeptionelle Frage: Wann das Geschehen spielen lassen? Diese Frage nach der Zeit(lichkeit) im Roman wird von Döblin retrospektiv mit einigem Gewicht aufgeladen, rechnet er doch gleichsam mit einer bestimmten Form von Kritik an seinen früheren Texten ab.Verärgert über kritische Kommentare, die den großen „historischen Apparat“ in den vorangegangenen Romanen moniert hatten, und die ihm damit, seiner Einschätzung nach, schriftstellerische „Phantasie“ absprachen, entscheidet sich Döblin gegen etwas „Historisches“, will heißen in der Vergangenheit Liegendes. Es soll bei dem jetzigen Projekt um „diese heutige Zeit“ gehen, gleichsam aber soll „diese Zeit über sich hinausgetrieben“ werden, um so der Prozessualität und permanenten Metamorphose im „‚Geschehen‘ der Natur“ sinnhaft begegnen zu können. Nachdem so also Vergangenheit und Gegenwart als Romanzeit ausgeschlossen sind, fällt die Wahl – nun nicht allzu überraschend – auf eine „leere“ Zeit, die dem Roman schlussendlich auch seine Genrebezeichnung verliehen hat, die Zukunft: „Das war das prächtigste Feld für Aktivität und Phantasie. Ich war glücklich, als ich es fand“.⁴⁶ Derart erleichtert und inspiriert, kann sich Döblin jetzt an den Roman machen und wirft kurzerhand „ein paar Proben hin“.⁴⁷ Wie ein poietischer Katalysator wirkt allerdings nicht nur die Hinwendung zur Zukunft, sondern auch und wiederholt das Naturerlebnis aus der eigenen Vergangenheit. Die erste Szene, die Döblin niederschreibt und die so gewissermaßen den Anfang des ins Auge gefassten „tellurischen Abenteuer[s]“ macht,⁴⁸ ist nicht zufällig jene, in der Mutumbo über das Meer fährt, während, wie es später ausgearbeitet wird, die Grönland-Expedition im vollen Gange ist.⁴⁹ Ist der Topos ‚Meer‘ hier ein klarer Referenzpunkt zur Natur-Epiphanie von Arendsee, schreiben sich auch die dort angetroffenen und Anlass zur Rührung gebenden Steine in den Romantext ein. Die Idee eines „Zauberschleiers“⁵⁰ wird sich in Gestalt der schaurig-schönen Turmalin-Kristalle im Roman konkretisieren. Wie diese im Roman selbst eingeführt werden, ist einer näheren Betrachtung wert, sprüht diese

und Literatur, Frankfurt am Main 2013, S. 118 – 122, S. 122 – 126, S. 215 – 245; sowie Völker: Epos der Erde (Anm. 17) und Grätz, Katharina: Andere Orte, anderes Wissen. Döblins Berge Meere und Giganten, in: Internationales Alfred-Döblin Kolloquium Emmendingen 2007. ‚Tatsachenphantasie‘. Alfred Döblin und die Poetik des Wissens im Kontext der Moderne, hrsg. von Sabine Becker und Robert Krause, Berlin u. a. 2008, S. 299 – 319.  Alle Zitate aus Döblin: Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“ (Anm. 29), S. 348.  Ebd., S. 349.  Ebd.  Zu Etappen der Niederschrift vgl. Sander: Alfred Döblins Roman Berge Meere und Giganten (Anm. 30).  Döblin: Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“ (Anm. 29), S. 349.

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Beschreibung doch sprachlich-rhetorisch nur so von einer Belebung und Anthropomorphisierung des anorganischen Materials: Turmalin hießen die Steingeschlechter, die der grobkörnige Granit in Gängen und Adern hielt. Magnesium nahmen sie auf, dann wurden sie braune Dravite ; pechschwarz unter dem Eisen zu Schörlen ; gelb blaßgrün waren sie Achroite, die Natrium in sich trugen. Sie lagerten im Albanygranitgebiet, in Neuhampshire, am Dach des englischen Dartmoor. Bor Kieselsäure und andere Urwesen hatten sich in ihnen angesiedelt und mit ihnen auf dem Erdboden niedergelassen und hingebreitet. Wenn Wasser Dämpfe Gase auf diese Geschöpfe eindrangen, verwandelten sie sich in hellen Glimmer, wucherten über Saphire weg. Man kannte die säuligen langgestreckten streifigen Glieder dieser Geschlechter, wie sie aus den Felsgängen kamen, gebogen geknickt spröde brechend, mit Pyramiden an den Enden ihrer Körper. Strahlenförmig hatten sie sich im Gestein versammelt ; oft saßen sie lose eingesprengt neben den Familien der Topase und Quarze. Sie waren von eigentümlicher Empfindlichkeit und Reizbarkeit. Die Wärme ließ sie elektrisch aufzittern ; dies hatte man schon lange beobachtet ; über die Enden ihrer Leiber dehnte sich die strahlende Spannung.⁵¹

Mit einer Art Genealogie versehen, zur Verwandlung und zum aktiven Eingreifen in andere Naturprozesse fähig, erscheinen die Turmaline – wie auch die übrige Natur – als lebendige Wesen, eben als „Geschöpfe“, und nicht bloß als ‚tote‘ Materie.⁵² Ihre sprachliche Belebung ist zwar auf das Bild eines Körpers mit ‚Leibern‘, ‚Gliedern‘, ‚Adern‘ und so weiter gebracht, reicht aber gewissermaßen über eine schlichte Anthropomorphisierung hinaus. Diese beschreibende Belebung, die überdies auch literarische elektrifizierende Belebungsversuche wie in Mary Shelleys Frankenstein (1818) in Erinnerung ruft, ist dabei aber erst der Anfang, denn die Turmalinschleier werden in der Folge selbst eine ähnlich gelagerte, im übertragenen Sinne magnetische oder magische Wirkung entfalten.⁵³ Sind die Turmaline im Roman nämlich anfangs zwar als Energieressource und „Machtmittel[]“⁵⁴ und damit als objektifizierte Zweckmittel, derer sich die Menschen bedienen können, gekennzeichnet, haben sie doch gleichsam schon eine Art Akteurstatus: Die Objekte des Begehrens regen zuallererst zum Handeln an,

 Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 1), S. 331.  Zum Turmalin als Wissensfigur, deren Geschichte von einer ästhetischen Beachtung bis hin und über Fragen nach dem Zuständigkeitsbereich von Bruno Latours ANT hinaus reicht (allerdings ohne Rekurs auf Döblins Roman), vgl. auch Rieger, Stefan: Turmalin, in: Bunte Steine. Ein Lapidarium des Wissens, hrsg. von Benjamin Bühler und Stefan Rieger, Berlin 2014, S. 216 – 232.  Vgl. dazu auch Dürbeck: Agentielle Natur in Döblins Berge Meere und Giganten (Anm. 23), S. 85: „Durch diesen Zwischenstatus eignet sich das Kristall für Döblin auf besondere Weise, die unaufhörliche Transformation und Interkonnektivität unterschiedlicher Stoffe zu gestalten, indem Anorganisches […] die Fähigkeit erhält, Organisches anzuziehen“.  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 1), S. 335.

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sind im „zum Tun-Bringen“ und im „‚fait-faire‘“ den faitiches in Bruno Latours Wissenschaftstheorie ähnlich.⁵⁵ Kurz danach kippt diese einseitige Zweckgerichtetheit dann, was auch auf der sprachlich-textuellen Ebene indiziert wird: Ist erst noch von simplen „Frachtschiffen“ oder Schiffen, die die „Turmalinmassen […] verstaut“⁵⁶ haben, die Rede, transformieren sich diese Beschreibungen an der Textoberfläche zu „Turmalinschiffen“, „Turmalinfrachtern“, und zeugen so von einer Permutation der Stellung von Subjekt und Objekt.⁵⁷ Seinen Höhepunkt findet diese Permutation dann, wenn die Turmaline ihr metamorphotisches Potenzial und ihre Anziehungskraft vollends offenbaren: Die Schiffe begannen eine merkwürdige Gesellschaft zu bekommen. Bald hinter Island merkten die Menschen der Begleit- und Wachtschiffe die große Zahl von Fischen, die sich um die Flotte sammelte. […] Schon nach zwei drei Tagen erkannten sie, daß die Fische hinter den Turmalinfrachtern her waren. Der braune Tang löste sich nicht von dem Schiffskörper. Wellen schlugen ihn nicht ab. […] Die Turmalinfrachter zogen den Tang wie Barthaare hinter sich. Bei langsamer Fahrt waren die Schiffsleiber von den braunen grünlichen nassen Büscheln ungeheuer umwallt. Die Schrauben schmetterten und schlugen sich ihre Drehflächen frei ; aber in den langen Schraubentunnel wucherten die Pflanzen ein, tauchten in den dunklen engen Kanal am Boden der gewaltigen Fahrzeuge, umwanden die schweren glatten rollenden Metallbalken. Die Männer mußten herunter in die eisigen Räume, mit Haken und Messern die bunten Büschel abziehen, die im Begriff waren, das Schiff zu ersticken. Sie brachten zum Erstaunen der Besatzungen den schweren Pflanzenfilz herauf. Es waren nicht die gallertigen Gebilde der zierlichen Algen, die auf den Wellen unter ihnen schaukelten, wiesenartig dicht beieinander, das Meer olivgrün färbend. Sondern armdick quellende Sträucher, vielfach verästelt, mit zollangen scharfgezähnten Blättern; apfelgroße Beeren trieben sie, die ihnen als Schwimmblasen dienten; wie Köpfe erhoben sie sie. Reinigungskommandos traten auf allen Frachtern in Tätigkeit. Mit Besen mußten sie die Algenbüschel von den Treppen herunterstoßen; mit Stöcken schlugen sie sie vom Gestänge ab. Um die Turmalinfrachter, als wären sie durch Signale, durch eine [sic] Ton, einen Geruch bezeichnet, schwammen Wale.⁵⁸

Diese Szene erscheint als eine enantiomorphe Spiegelung⁵⁹ des ersten Auftritts der Turmaline: Waren die Turmaline nämlich kurz zuvor als werkzeugartige

 Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2002, S. 354 (Hervorhebung im Original).  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 1), S. 334, 335.  Ebd., S. 342 und 344.  Ebd., S. 343.  Als Enantiomere werden bestimmte Strukturformeln von chemischen Verbindungen bezeichnet, die sich asymmetrisch spiegeln. Im Bereich der Kristallographie wird in einem ähnlichen Sinne von Enantiomorphie gesprochen. Ein handgreifliches Beispiel für die Enantiomorphie

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Zweckmittel charakterisiert, ändert sich ihr Status hier völlig. Nun sind sie diejenigen Akteure, die die Schiffe bedrohen, sie umschlingen und mit ihnen in einem nicht aufzuhaltenden Prozess, gegen den keine Menschenhand ankommen kann, verwachsen und verschmelzen. Interessant ist zudem, dass der Text hier wiederholt auf das rhetorische Mittel der Übertragung zurückgreift: Ähnlich wie die Turmaline bei ihrer ersten Nennung noch anthropomorphisiert werden, sind es nun die menschengemachten Artefakte, die theriomorphisiert werden, nämlich „Körper“ und „Leiber“ ausbilden und damit als eine Art ‚Lebewesen‘ apostrophiert sind. Dies ist der spezifischen Form von organischer agency der Turmaline zuzuschreiben, denen hier nun eindeutig und endgültig der Akteurstatus zugesprochen wird. Im Roman wird diese von den Turmalinen entfaltete agency weiterhin auch im Bild der sexuellen Anziehungs- beziehungsweise Verführungskraft verdeutlicht, die gleichsam menschliche und nicht-menschliche Wesen, organisches und anorganisches Material in ein rauschhaftes Begehrensverhältnis setzt: Die Menschen auf den Schiffen selbst waren eigentümlich mitgenommen. Nur wenige Tage konnten Menschen zu den Turmalinfrachtern abkommandiert werden. Nach kaum einem Tag gingen sie in einer Müdigkeit herum, die zwangsartig war […].Wie Opiumraucher setzten sie sich hier, dorthin, taten müheselig ihre Arbeit. Es wurde ihnen schwer, das Gesicht zu bewegen. Mit diesem maskenartigen Ausdruck brach der Zustand aus. Dabei war ihr Inneres süß bewegt ; sie blickten oft zwischen den Leitern Türen hindurch die Wände Decken, den Himmel an […]. Ein heftiges bald unbezwingbares Liebesempfinden durchlief sie. Die Männer zitterten im Frost der Erregung, die Frauen schüttelten sich, gingen zuckend langsam. Jedes Glied an ihnen war mit Wollust geladen, jede Bewegung brachte sie dem ausbrechenden Taumel näher. Sie umschlangen sich, und wenn sie ihre Leiber vermischt hatten und voneinander ließen, waren sie ungesättigt. Sie küßten und umarmten Seile, rieben und schlugen Arme und Beine, den Rumpf an Treppenstufen. Über Bord ragten die mächtigen Algenstiele ; die zogen sie her, zu denen fühlten sie Verlangen.⁶⁰

In diesen beiden Eigenheiten sind die Turmaline beschrieben, sie zeugen, wie Dürbeck es passend auf den Punkt bringt, gleichsam vom Verständnis einerseits einer „maßlos wuchernde[n]“ und andererseits einer „geheimnisvoll verführeri-

wäre ein von innen nach außen gestülpter Handschuh. Vgl. dazu beispielsweise den Eintrag Enantiomorphie, in: Lexikon der Geowissenschaften, online verfügbar unter: https://www.spek trum.de/lexikon/geowissenschaften/enantiomorphie/4049 (Zugriff: 14.09. 2019). Als literarisches Verfahren und Strukturmerkmal erkennt Michel Serres die Enantiomorphie in Honoré de Balzacs Novelle Sarrasine (1830). Vgl. Serres, Michel: Der Hermaphrodit, Frankfurt am Main 1989, insb. S. 57 f.  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 1), S. 344 f.

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sche[n] Natur“,⁶¹ die, so hatte es Döblin ja selbst zu spüren bekommen, überall am Werk ist.

4 Ökologische und tentakuläre Poetik: Die Schreibszene der ‚Zueignung‘ Das Erlebnis von Arendsee, wie es Döblin 1921 gehabt hatte, findet, so kann resümiert werden, seine literarische Ver- und Bearbeitung in genau dieser Form von nicht-menschlicher agency, die die Turmaline im Roman aufweisen. Es ist allerdings mehr als eine literarische Aneignung der Natur, die hier durchscheint: So wie die affizierende Wirkung der Steine letztlich die schriftstellerische poiesis ermöglicht hatte, ist Döblin nunmehr auch auf dem Weg zu einer Art neuer beziehungsweise anderer Poetik, die sich gewissermaßen als eine ökologische ausnimmt. In dieser ökologischen Poetik scheinen nicht nur Schreibprobleme getilgt, sondern gerade dieses Schreiben im ‚Preisen‘ der Anerkennung einer vielfältigen Verwobenheit der organischen und anorganischen Lebewesen seine eigentliche Bestimmung und seinen eigentlichen Zweck zu finden: Jetzt, wo ich schrieb, fand ich, das Geheimnis hatte sich verwandelt in meinem Gefühl. Ich fand in mir vor eine sichere, starke, nach Ausdruck verlangende Gewalt, und mein Buch hatte eine besondere Aufgabe: das Weltwesen zu preisen […] Ich hatte die Waffen vor dem autonomen Willen in mir gestreckt. Und wußte und weiß: eine autonome Macht hat sich meiner bedient.⁶²

Diese Beobachtungen sollen abschließend noch einmal an der paratextuellen ‚Zueignung‘ des Romans konkretisiert werden. Dem Roman vorangestellt, weist die Zueignung eine eigentümliche Kongruenz zwischen Erzählinstanz und realem Autor auf, die, so soll gezeigt werden, durch eine spezifisch-literarische Medienreflexivität in Form einer Schreibszene der ökologischen Poetik Döblins Rechnung trägt und sie gleichsam als eine ‚tentakuläre Poetik‘ – wie sie im Anschluss an Donna Haraway genannt werden könnte – ausweist.

 Dürbeck: Agentielle Natur in Döblins Berge Meere und Giganten (Anm. 23), S. 85.  Döblin: Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“ (Anm. 29), S. 350 f. Es liegt hier nahe, diese Stelle als eine genieästhetische beziehungsweise musisch-inspirative Be-Geisterung, die den Dichter als Medium auserkoren sieht, zu deuten. Die vorigen Ausführungen sollten aber gezeigt haben, dass es sich sehr viel irdischer ausnimmt und eine Be-Geisterung in diesem Sinne auch durch einfache Steine und Baumstämme ausgelöst werden kann.

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Döblin lässt seinen Roman nicht mit einer diegetisch zu nennenden Handlung in medias res einsetzen, sondern stellt ihm eine Zueignung voran. Die Zueignung erscheint durch ihre Unvermitteltheit und Kontextlosigkeit zunächst rätselhaft als philosophisch-abstrakte Reflexionen eines namenlosen Ich: Was tue ich, wenn ich von dir spreche. Ich habe das Gefühl, als dürfe ich kein Wort von dir verlauten lassen, ja, nicht zu deutlich an dich denken. Ich nenne dich ‚du‘, als wärst du ein Wesen, Tier Pflanze Stein wie ich. Da sehe ich schon meine Hilflosigkeit und daß jedes Wort vergebens ist. Ich will nicht wagen, euch zu nahe zu treten, ihr Ungeheuren, Ungeheuer, die mich auf die Welt getragen haben, wo ich bin und wie ich bin. […] Ich habe schon Vieles geschrieben. Nur herumgegangen bin ich um euch. Mit Angst habe ich mich vor euch entfernt. […] Immer habe ich euch, ich gestehe es, als Schreckliches in einem dunklen Winkel des Herzens gehabt. Da hatte ich euch verborgen, hielt die Türe zu. Jetzt spreche ich – ich will nicht du und ihr sagen – von ihm, dem Tausendfuß Tausendarm Tausendkopf.⁶³

Einen auf den Roman bezogenen ‚Sinn‘ können die Lesenden aus diesen diffusen Anmerkungen zunächst nur erahnen. Denn erst während der fortschreitenden Lektüre offenbart sich, so auch Klotz’ Einschätzung, dass die in der Zueignung angesprochenen namenlosen Kräfte der Natur, der Versuch eines Eingriffs in eben diese und schließlich der Wieder-Eingang des Menschen in die Natur auch im Roman selbst eine große Rolle spielen werden.⁶⁴ In der Forschung wurde des Öfteren darauf hingewiesen, dass es sich bei der Erzählinstanz der Zueignung um den Autor, um Döblin selbst handele, wobei diese Deutung auch durch Döblins Selbstaussagen in den Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“ nahegelegt wird.⁶⁵ Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen poetologischen Dimension der Selbstaussagen Döblins macht diese Deutung insofern Sinn, als die Zueignung mit einer Reflexion über sehr basale kulturelle Gesten und Kulturtechniken einsetzt und letztlich Döblins eigener Einsicht in die Interdependenz der organischen und anorganischen Materien entspricht.⁶⁶ Das, was die

 Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 1), S. 9.  Vgl. Klotz: Nachwort (Anm. 7), S. 536.  Vgl. Döblin: Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“ (Anm. 29), S. 351. Zur Deutung vgl. beispielsweise Mitidieri, Gaetano: Wissenschaft, Technik und Medien im Werk Alfred Döblins im Kontext der europäischen Avantgarde, Potsdam 2016, S. 554 f.; Klotz: Nachwort (Anm. 7), S. 535 ff. Auch Sander deutet die Zueignung als expliziten Hinweis auf die Biographie Döblins und die Pension in Berlin-Zehlendorf, in der der Roman letztlich entstanden sei (vgl. Sander: Utopischer Roman (Anm. 13), S. 85, 87), ist in ihrer Dissertation aber wesentlich zurückhaltender, was die Gleichsetzung von Erzählinstanz der Zueignung mit der Autorperson Döblin angeht (vgl. Sander: „An die Grenzen des Wirklichen und Möglichen…“ (Anm. 9), S. 141– 145).  Katharina Grätz sieht in der Zueignung ebenfalls ein „Dichtungskonzept“ Döblins realisiert, das das „paradoxe Modell einer perspektivisch gebundenen Konstruktion von epischer Totalität“

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namenlose Erzählinstanz zu Anfang erklärt, sind Schwierigkeiten in Bezug auf das Sprechen, Benennen, Anrufen und nicht zuletzt das Schreiben, wie sie Döblin selbst kurze Zeit vor Berge Meere und Giganten geplagt hatten. Was dann folgt, ist eine literarische, hochgradig selbst- und medienreflexive Schreibszene: Jede Minute Veränderung. Hier wo ich schreibe, auf dem Papier, in der fließenden Tinte, in dem Tageslicht, das auf das weiße knisternde Papier fällt. Wie sich das Papier biegt, Falten wirft unter der Feder. Wie die Feder sich biegt, streckt. Meine führende Hand wandert von links nach rechts, von links vom Zeilenende zurück. Ich spüre am Finger den Halter: das sind Nerven, sie sind vom Blut umspült. Das Blut läuft durch den Finger, durch alle Finger, durch die Hand, beide Hände, die Arme, Brust, den ganzen Körper, seine Haut Muskeln Eingeweide, in alle Flächen und Nischen. So viel Veränderung in diesem hier. Und ich bin nur ein Einzelnes, ein winziges Stück Raum […]. Da arbeitet das Tausendarmige. Da ist es.⁶⁷

Interessanterweise verquickt die Zueignung nun zwei in Martin Stingelins Definition unterschiedene Typen, nämlich die ‚Schreibszene‘ und die ‚Schreib-Szene‘.⁶⁸ Denn obwohl das schreibende Subjekt sich nicht vordergründig in seiner poetischen Autonomie eingeschränkt oder gar bedroht sieht, muss es doch erkennen, dass es immer in von ihm nicht vollends kontrollierbare oder zugängliche Strukturen, Materialitäten und Gefügen eingebunden ist. Die Zueignung schildert dies als eine bis in die quasi ‚Naturwüchsigkeit‘ hineinreichende Homogenität und generelle Verschränkung von schreibendem Subjekt und materiellen Objekten, organischem und anorganischem Material, wie es die dezidiert ‚natürliche‘

enthält und „Dichter und Dichtung im Raum einer monistisch-pantheistisch verstandenen Natur“ verortet. Vgl. Grätz: Andere Orte, anderes Wissen (Anm. 45), S. 316. Auf eine nochmals anders gelagerte Materie kommt Oliver Völker zu sprechen, wenn er zudem betont, dass die Zueignung vor allem auch eine „Verselbständigung der Schrift und ihrer Materialität“ indiziere. Vgl. Völker, Oliver: Die Erde – ausbuchstabiert. Alfred Döblins Berge Meere und Giganten, in: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Cambridge 2017. Natur, Technik und das (Post‐)Humane in den Schriften Alfred Döblins, hrsg.von Steffan Davies und David Midgley, Berlin u. a. 2019, S. 199 – 212, hier S. 207.  Döblin: Berge Meere und Giganten (Anm. 1), S. 9 f.  Stingelin versteht „unter ‚Schreibszene‘ die historisch und individuell von Autorin und Autor zu Autorin und Autor veränderliche Konstellation des Schreibens, die sich innerhalb des von der Sprache (Semantik des Schreibens), der Instrumentalität (Technologie des Schreibens) und der Geste (Körperlichkeit des Schreibens) gemeinsam gebildeten Rahmens abspielt, ohne daß sich diese Faktoren selbst als Gegen- oder Widerstände problematisch würden; wo sich dieses Ensemble in seiner Heterogenität und Nicht-Stabilität an sich selbst aufzuhalten beginnt, thematisiert, problematisiert und reflektiert wird, sprechen wir von ‚Schreib-Szene‘“. Stingelin, Martin: ‚Schreiben‘. Einleitung, in: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, hrsg. von Martin Stingelin, Davide Giuriato und Sandro Zanetti, München 2004. S. 7– 21, hier S. 15.

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und köperbetonte Rhetorik zeigt: Das Weiß des Papiers als materielle Schreibgrundlage wird in expliziten Zusammenhang mit der Sonne gebracht; die Feder erscheint als natürlich-nervliche Verlängerung der Finger, wobei diese wiederum als pars pro toto der kurz danach genannten Hand erscheinen; von dort richtet sich der Blick nun unter die Hautoberfläche (Blut und Nerven) und schweift gleichsam über alle Körperteile und -grenzen hinweg, bis letztlich die alles umschränkende Entität des ‚Tausendarmigen‘ aufgerufen wird. Döblins Einsicht und Erkenntnis von der Verwobenheit aller organischen und anorganischen Lebewesen, wie sie oben bereits beschrieben wurde, manifestiert sich hier also in auffällig literarischer Weise. Und so, wie die Erfahrung von Arendsee vom Stein zum Weltwesen führte, ahmt die Zueignung eine solche Affizierung selbst mimetisch nach, performiert sie. Erstaunlich ist dabei auch, wie nah das hier aufgerufene Bild der tausendarmigen Entität rezenten Weltdeutungs- und Beschreibungsmustern des ökologischen und post-anthropozentrischen Diskurses ist. So hat etwa Donna Haraway in ihrem letzten Buch den Begriff des ‚Tentakulären Denkens‘ starkgemacht, um, in der ihr eigenen sprachlichen Metaphorik, auf die artenübergreifende, generelle Vernetzung aller menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten hinzuweisen.⁶⁹ Als Denkfiguren stehen Haraway dabei die chthonischen Götter beziehungsweise Göttinnen der griechischen Mythologie Pate, die große Ähnlichkeit mit Döblins ‚Tausendarmigem‘ aufweisen: Die Chthonischen sind Wesen der Erde, gleichzeitig alt und aktuell. Ich stelle mir die Chthonischen als reichlich mit Tentakeln, Fühlern, Fingern, Fäden, Geißeln, Spinnenbeinen und unbändigem Haar versehen vor. […] Sie stellen her und lösen auf; sie werden hergestellt und aufgelöst. Sie sind, was existiert.⁷⁰

Eine solche Form der ‚Erdverbundenheit‘ anzuerkennen, sei, so Haraway, eine der wichtigsten Grundlagen, um der gegenwärtig omnipräsenten Bedrohung des Planeten – wie sie das Konzept des Anthropozäns deutlich werden lässt – noch einigermaßen beizukommen, weswegen sie das heutige Zeitalter auch lieber als positiv gewertetes Chthuluzän verstanden wissen will, dessen produktiver Impetus gerade im ‚Tentakulären Denken‘ bestehe.⁷¹ Auch wenn Döblins Poetik dieser

 Vgl. dazu Haraway, Donna: Staying with the Trouble. Making kin in the chthulucene, Durham/ London 2016, S. 30 ff. Eine deutsche Übersetzung von Haraways Buch hat Karin Harrasser 2018 (Haraway, Donna: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt am Main/New York NY 2018) vorgelegt.  Haraway: Unruhig bleiben (Anm. 69), S. 10.  Vgl. ebd., S. 80.

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politische Zug abgeht, beziehungsweise hier nicht auf einen solchen fokussiert wurde,⁷² stellt sie eine besondere Form des ökologischen und tentakulären Denkens im Modus einer ‚tentakulären Poetik‘ bereit. Döblins nun fast 100 Jahre alter Zukunftsroman ist vor diesem Hintergrund also nicht nur als die „fiktionale Weiterführung und Verabsolutierung von Tendenzen, die der Gegenwart des Autors innewohnen“,⁷³ zu verstehen, sondern zeigt sich noch immer auf der Höhe gegenwärtiger Herausforderungen. Genau deshalb mag die ReLektüre dieser Zukunftsimagination auch immer wieder lohnenswert sein.

 Vgl. dazu jedoch Hahn, Torsten: Fluchtlinien der Politik. Das Ende des Staates bei Alfred Döblin, Köln u. a. 2003; sowie Koch, Lars: Krieg und Posthistoire in Alfred Döblins „Berge Meere und Giganten“, in: Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts, hrsg. von Natalie Borissova, Susi K. Frank und Andreas Kraft, Bielefeld 2009, S. 59 – 76.  Grätz: Andere Orte, anderes Wissen (Anm. 45), S. 319.

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Zurück voran Die poetische Imagination einer völkischen Zukunft: Friedrich Grieses Roman Die Weißköpfe (1939) In ‚völkischen‘ Romanen nach Imaginationen von einer ‚Zukunft‘ zu suchen, bereitet einige Schwierigkeiten, denn schon eine genauere begriffliche Zuordnung fällt nicht leicht. Zumindest in der alltäglichen Rede gelten die Ausdrücke ‚völkisch‘, ‚faschistisch‘, ‚nationalsozialistisch‘ gleichsam als Synonyme; aber auch im genaueren Sprachgebrauch ist schwer auszumachen, was oder wer als ‚völkisch‘ zu qualifizieren ist. Immerhin lassen sich in einer institutionsgeschichtlichen Perspektive die ‚Völkischen‘ als eine verwirrende und verworrene Gesinnungsgemeinschaft verstehen, die (nach gedanklicher Vorarbeit seit dem Ende des 18. Jahrhunderts) innerhalb des industriellen Modernisierungsprozesses während des Kaiserreichs – im Widerspruch zu ihrem modernekritischen Impuls! – (am Ende vergeblich) nach dauerhaften politischen Organisationsformen suchten und während der Weimarer Republik entweder machtpolitisch marginalisiert oder in durchsetzungskräftigere Strömungen aufgesogen wurden.¹ Von „literarischen Einzelkämpfern über lokale und überlokale Zirkel, Gesellschaften, Verlagsunternehmungen bis zu Orden, Bünden und Parteien“² wucherte ein kaum überschaubares Gewirr antiliberaler und (anti)konservativer Aktivisten;³ diese nutzten und vergrößerten ausufernd eine der grundlegenden Voraussetzungen moderner gesellschaftlicher Organisation, den publizistischen Markt, um eben diese Modernisierung zu bekämpfen. Dabei herrschte ein Sektierertum, das im Urteil der Gegner umso radikaler und abstruser ausfiel, je unbedeutender und machtpolitisch isolierter die Vertreter waren. In den Versuchen, diese unübersichtlichen Umtriebigkeiten historisch einzuordnen, bildet das Dritte Reich den magischen Fluchtpunkt; die einen (etwa Günter Hartung) schätzen sie als dessen ideologischen (und teilweise auch institutionellen) Motor ein, während andere

 Vgl. Breuer, Stefan: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008.  Hartung, Günter: Völkische Ideologie, in: Traditionen und Traditionssuche des deutschen Faschismus, hrsg. von dems. und Hubert Orlowski, Halle (Saale) 1987, S. 92.  Einen Einblick in die Art und Weise der Gruppenbildung (und deren Erforschung) gibt anhand einer Teilgruppe der ‚Konservativen Revolution‘ Schmidt, Ina: Der Herr des Feuers. Friedrich Hielscher und sein Kreis zwischen Heidentum, neuem Nationalismus und Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Köln 2004. (Wiewohl Friedrich Hielscher nicht zu den ‚Völkischen‘ zu rechnen ist.) https://doi.org/10.1515/9783110773217-013

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(wie etwa Armin Mohler)⁴ sie als eine Strömung innerhalb jener Bewegung ausmachen, für die Hugo von Hofmannsthal 1927 den Begriff der ‚Konservativen Revolution‘⁵ in Umlauf gebracht hatte und die den Nationalsozialisten zumindest suspekt war.⁶ Vor diesem Hintergrund einen Roman wie Friedrich Grieses Die Weißköpfe (1939)⁷ als ‚völkisch‘ zu reklamieren, birgt folgerichtig die Gefahr einer gewissen Unschärfe, aber immerhin erschien von dem Werk, das 1939 der während der 30er Jahre für die Belletristik zentrale Langen-Müller-Verlag⁸ herausbrachte, bereits 1940 in der ‚Deutschen Hausbücherei‘, dem Buchclub der völkischen Hanseatischen Verlagsanstalt,⁹ ein Nachdruck. Griese war vor allem während der 30er und 40er Jahre ein sehr erfolgreicher Schriftsteller, und der Roman Die Weißköpfe ist neben Die Wagenburg (1935) eine seiner bekanntesten Veröffentlichungen.¹⁰ Die verworrenen Tendenzen auf diesem Felde fanden durchaus gemeinsame Bezugspunkte, an denen sie sich grundlegend von konkurrierenden Strömungen schieden, etwa in ihrer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Sinnhaftigkeit des Laufs der Ereignisse und in der Feindschaft gegen dessen an der Hegelschen Tradition orientierten Interpretation als ‚Geschichte‘ sowie gegen deren institutionelle Absicherung.¹¹ Werde die Folge von Begebenheiten – so dekretierte Os-

 Mohler, Armin / Weißmann, Karlheinz: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932. Ein Handbuch, Graz 2005.  Hofmannsthal, Hugo von: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, München 1927.  Vgl. etwa Hitler, Adolf: Mein Kampf, München 1932, S. 415 – 424.  Griese, Friedrich: Die Weißköpfe, Hamburg 1941 (zuerst 1939).  Vgl. Meyer, Andreas: Die Verlagsfusion Langen Müller. Zur Buchmarkt- und Kulturpolitik des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbands (DHV) in der Endphase der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1989.  Vgl. Lokatis, Siegfried: Hanseatische Verlagsanstalt. Politisches Buch-Marketing im „Dritten Reich“, Frankfurt am Main 1992.  Einschlägige, hier ausreichende Personalangaben finden sich in einem ausführlichen Wikipedia-Eintrag (https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Griese_(Schriftsteller) [Zugriff: 03.07. 2019]), dem allenfalls ein Hinweis darauf anzufügen wäre, dass der 1890 geborene Autor der sogenannten Frontkämpfergeneration angehörte, deren Vertreter in der Kaiserzeit von kulturellen und sozialen Aufstiegserwartungen beseelt waren. Diese Hoffnungen zerplatzten im Krieg, in der Niederlage und in den Krisen der 20er Jahre; viele von ihnen glaubten 1933, ihre Stunde sei gekommen.  Vgl. Weber, Wolfgang: Völkische Tendenzen in der Geschichtswissenschaft, in: Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871– 1918, hrsg. von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht, München 1996, S. 834– 858. Der Autor unternimmt den in sich widersprüchlichen Versuch, die völkischen Positionen im Schema der von diesen gerade negierten Geschichtskonzeption zu fassen, weshalb er sie nachgerade notwendigerweise im Modus der Abwehr seitens der etablierten akademischen Geschichtsschreibung zeigen muss.

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wald Spengler in schönster romantischer Tradition – nach dem Vorbild der epistemischen Leitdisziplin des szientifischen 19. Jahrhunderts, der Naturwissenschaft, verstanden, dann ergebe sie lediglich ein „starres Gewebe“; das Wesentliche – als „Schicksal“ – hingegen liege außerhalb solcher mechanischen Abläufe. Insofern seien historische Daten stets als „Symbole“ zu verstehen.¹² Ein Autor ordnet demnach in seinem Text Zeichen, die Sachen markieren, welche als „Symbole“ für ein ‚Eigentliches‘ (zum Beispiel für ein „Schicksal“) stehen – aus unserer Sicht vielleicht keine sehr verlockende Aufgabe für einen Schriftsteller, aber Zeitgenossen sahen das anders.¹³ Ohne solche Setzungen historisch oder begrifflich weiter auseinanderzufalten, liegt es auf der Hand, dass eine solche Transformation konzeptionelle und stilistische Konsequenzen zeitigt.Wenn den Ereignissen ohnehin keine ‚Wahrheit‘ zukommt, sie also nur als „Symbole“ zu lesen sind, und wenn überdies die gesellschaftlichen Tendenzen, welche das ausgehende 19. Jahrhundert bestimmten, die Industrialisierung, die Kapitalisierung der Arbeitsverhältnisse, der Materialismus, die Urbanisierung, die Parlamentarisierung et cetera, kurz das, was als brutale ‚Moderne‘ erfahren wird, den Blick auf die Geschehnisse verdunkeln,¹⁴ dann können die ‚Wahrheit‘, das ‚Wesentliche‘, die ‚(ewigen) Triebkräfte‘ allenfalls dahinter liegen, jenseits dessen, was die ‚wissenschaftlichen‘ Historiker ‚Geschichte‘ nennen; sie liegen vor der Zeit, außer der Zeit, in der Natur, im Leben, in kosmischen Zusammenhängen und so weiter (wie übrigens auch solche Projektionen, die im Kern abwehrende Reflexe gegenüber der Aufklärung und der Französischen Revolution waren, sich nicht der historischen Erfahrung verdanken können, sondern der ‚Schau‘, einem ‚ganzheitlichen‘ Blick). So wurde an Friedrich Griese etwa gerühmt, er besitze das „Vermögen, Zeithaftes geheimnisvoll ins Zeitlose zu erheben“.¹⁵ Um dieses ‚Wesentliche‘ hinter den Ereignissen hervortreten zu lassen, bedurfte es einer anderen Sprache als jener, die in den Wissenschaften Standard war (wenn es sich nicht überhaupt ganz dem Versuch entzog, es in Worte zu fassen,  Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1980 (Aufl. 196. bis 208. Taus.), S. 200 f.  Vgl. beispielsweise Martini, Fritz: Verfall und Neuordnung in der deutschen Dichtung seit dem 19. Jahrhundert, in: Von deutscher Art in Dichtung und Sprache. Bd. 4, hrsg. von Gerhard Fricke, Franz Koch und Clemens Lugowski, Stuttgart/Berlin 1941, S. 367– 413, hier S. 411 f.  Das war im Übrigen keine ausschließlich ‚rechte‘, ja nicht einmal eine spezifisch deutsche Denkfigur, sie findet sich um 1900 in allen europäischen Literaturen, selbst in der englischen und französischen, in welchen die Folgen der bürgerlichen Revolution bereits seit Jahrzehnten aufgearbeitet wurden.  Lennartz, Franz: Die Dichter unserer Zeit. 275 Einzeldarstellungen zur deutschen Dichtung der Gegenwart, Stuttgart 1938, S. 104.

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und allein im Lebensvollzug in Erscheinung trat).¹⁶ So stellte etwa Julius Langbehn, einer der wirkungsmächtigen Meisterdenker der Völkischen, fest: „Die deutsche Geschichtschreibung kann nicht künstlerisch genug denken“, weil die „logische Entwickelung der Thatsachen […] die Aufgabe des Geschichtschreibers nicht“ erschöpft.¹⁷ Die zeitgenössische, moderne Bildung wolle, so glaubte er beobachtet zu haben, „wissenschaftlich sein; aber je wissenschaftlicher sie wird, desto unschöpferischer wird sie. ‚Die Theile haben sie in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band‘. Goethe […] konnte Leute mit Brillen nicht leiden; Deutschland ist aber jetzt voll von wirklichen und geistigen Brillenträgern“.¹⁸ Andere als ‚wissenschaftliche‘ Sprechweisen mussten demnach favorisiert werden, wenn die wissenschaftliche, auf Fakten und Ursachen verpflichtete, durch Institutionen abgesicherte Sprache als unzureichend erachtet wurde, um ein Bild von der immerhin doch erahnten Fülle und Tiefe der Welt zu entwerfen. Und in der Tat standen in der deutschen Bildungstradition andere, geläufige Ausdrucksformen zur Verfügung, die solche Leistungen zu erfüllen versprachen. Langbehn meinte eine entsprechende Wende vor allem zur Kunst bereits zu verspüren: „Der Typus des ‚Professors‘ [verschwinde] von der deutschen Alltagsbühne sowie aus den Alltagsromanen“.¹⁹ Der Traktat – auch wenn er sich zum doppelbändigen Wälzer aufblähte wie etwa bei Houston Stewart Chamberlain – und der Roman waren charakteristisch bevorzugte Formen. Während die wissenschaftliche Redeweise so restriktiv sein wollte, wie es irgend ging, und die Operation mit Zahlen zum Königsweg der Erzeugung von Wissen aufstieg, erwiesen sich die stilistischen Grenzen der völkischen Gesinnungsliteratur als porös und sogen verhältnismäßig leicht Sprechweisen aus anderen, vor allem aus sozialdarwinistischen, antisemitischen, tier- und pflanzenzüchterischen, entwicklungstheoretischen oder religiösen Darlegungen auf.²⁰ Vor diesem Hintergrund wird verständlich, aus welchen Gründen sich besonders im völkischen Milieu neben der Traktatliteratur der Roman bei Autoren wie Lesern einer so großen Beliebtheit erfreute. Er erfüllte neben der Unterhaltungsfunktion eine größere Orientierungsfunktion, als der Roman im 19. Jahrhundert ohnehin schon besessen hatte, weswegen die Autoren nur zu oft der

 Vgl. beispielsweise Bollmann, Stefan: Monte Verità 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt, München 2019; Engelhardt, August / Bethmann, August: Hoch der Äquator! Nieder mit den Polen. Eine sorgenfreie Zukunft im Imperium der Kokosnuß, Norderstedt 2012 (zuerst 1906).  Langbehn, Julius: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 1890, S. 67.  Ebd., S. 1.  Ebd., S. 2.  Vgl.Völkische Religion und Krisen der Moderne, hrsg. von Stefanie von Schnurbein und Justus H. Ulbricht, Würzburg 2001, S. 144– 154.

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Gefahr erlagen, ins Räsonieren abzugleiten.Während der Dezennien zwischen der Jahrhundertwende und den frühen 30er Jahren boomte eine einschlägige Belletristik; Adolf Bartels, Gustav Frenssen, Erwin Guido Kolbenheyer, Hans Friedrich Blunck, Wilhelm Schäfer oder Will Vesper, deren wichtigste Romane im Übrigen bereits vor 1933 erschienen, waren außerordentlich erfolgreich²¹ (und wurden erst in den frühen 60er Jahren aus dem Kanon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gestrichen);²² die Autoren besetzten zudem kulturpolitisch wichtige Posten (wie etwa in der ‚Sektion für Dichtung‘ in der ‚Preußischen Akademie der Künste‘). Ihr Stil einer ‚dichterischen Schau‘ bezeugte nicht nur ihre gruppenspezifische Zugehörigkeit, er war überdies eine (literarische) Verbundenheit stiftende Ausdrucksform und entfaltete im großen Wirrwarr der Antimoderne eine integrative, weltanschaulich homogenisierende Wirkung. Fiktion stellte einen unlösbaren Teil einer völkischen Weltsicht dar. (Insofern rechnete die über Jahrzehnte dominante ideologiekritische Interpretation dieser Texte deren charakteristische literarische Eigenart und deren massentaugliche Funktion methodisch heraus.) In diesem Zusammenhang eine Zukunft (aus der sich mehr als ein banales Happy End oder ein schlichter Misserfolg ergibt), also ein ‚Schicksal‘ literarisch zu imaginieren, bedeutete für die Völkischen eine nicht einfache Aufgabe, weil ‚Zeit‘ (und damit auch Zukunft) im Gefüge ihrer Vorstellungen schwer unterzubringen war.²³ Zu deren Bewältigung bildeten die Autoren einen ziemlich festen Pool allfälliger Bilder heraus, in denen sie versuchten, das ‚Schicksal‘ erahnbar werden zu lassen. So breiteten ihre Texte Teppiche nahezu stereotyper Motive aus und öffneten sich damit – da die Autoren nicht sonderlich eigenständig waren – sehr nachhaltig gegen außerliterarische, programmatische Texte, sodass sie leicht an heteronome (etwa politische) Programme anschließbar waren.²⁴ Auf diese Weise bekamen die Leser Anleitungen an die Hand, das Gefüge der poetischen Zeichen zu dechiffrieren; wo etwa eine ‚blonde‘ Figur auftaucht, weiß er sogleich Bescheid. Er trifft in diesen Romanen auf einen Bestand von Bildern und auf ein

 Vgl. beispielsweise Koch, Franz: Geschichte deutscher Dichtung, Hamburg 1941, S. 299 – 364.  Vgl. Vallery, Helmut: Völkisch-nationalsozialistische Erzählliteratur, in: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 9: Weimarer Republik – Drittes Reich: Avantgardismus, Parteilichkeit, Exil 1918 – 1945, hrsg. von Alexander von Bormann und Horst Albert Glaser, Reinbek 1983, S. 144– 154.  Vgl. etwa Brandt, Peter: Volk, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11, hrsg. von Joachim Ritter et al., Basel 2001, Sp. 1084 f.  In Grieses Die Weißköpfe ließen sich die erdverwachsene und doch immer wieder zum Aufbruch getriebene Sippe des Protagonisten als eine für die (nord)deutschen Germanen symptomatische Mischung von ‚fälischen‘ und ‚nordischen‘ Rasseelementen verstehen. Vgl. etwa Günther, Hans F. K.: Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes, München (Aufl. 44. bis 66. Taus.; zuerst 1929) 1933, S. 118 f.

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Ensemble von Verfahrensweisen, Bedeutung zu erzeugen, die einer antimodernen Massenkultur einen kommunikativen Raum öffnen. Allerdings war zumindest vor dem Ersten Weltkrieg die Versuchung noch groß, doch etwas konkreter zu werden und das ‚Schicksal‘ in den Schranken einer von Zufällig- und Widrigkeiten erfüllten, kontingenten ‚Geschichte‘ zu entwerfen, etwa in technisch-militärischen Visionen von ‚deutscher‘ gestalterischer Überlegenheit,²⁵ in völkisch-nationalistischen Träumen von einem auf Blut und Boden gegründeten Reich²⁶ oder in kolonialen Räuschen von agrarischen Siedlungsräumen.²⁷ Im Schock des verlorenen Krieges zerstoben solche Verlockungen zwar nicht völlig,²⁸ aber während der 20er Jahre rückten die Autoren, die sich weiterhin an machtstrategische Pläne der Vorkriegszeit klammerten, an den Rand (einmal davon abgesehen, wie ‚völkisch‘ ihre Blicke in die Zukunft überhaupt waren).²⁹ Selbst nach 1933 blühte ihr karger Weizen nur kümmerlich.³⁰ Es ging nun – oftmals angeleitet durch die Heimatkunstromane der Jahrhundertwende,³¹ aber auch angeregt durch mehr oder minder phantasievolle Heilslehren wie die Suche nach dem sagenhaften Atlantis,³² die Welteislehre,³³ die Mythen von den

 Vgl. Franke, Henning: Der politisch-militärische Zukunftsroman in Deutschland, 1904– 1914. Ein populäres Genre in seinem literarischen Umfeld, Frankfurt am Main 1985.  Vgl. Hermand, Jost: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1988, S. 47– 99.  Vgl. Honold, Alexander: Raum ohne Volk. Zur Imaginationsgeschichte der kolonialen Geographie, in: Kolonialismus. Kolonialdiskurs und Genozid, hrsg. von Mihran Dabag, Horst Gründer und Uwe-K. Ketelsen, München 2004, S. 95 – 110.  Vgl. Hermand, Jost: Völkische und faschistische Zukunftsromane, in: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 9: Weimarer Republik – Drittes Reich: Avantgardismus, Parteilichkeit, Exil 1918 – 1945, hrsg. von Alexander von Bormann und Horst Albert Glaser, Reinbek 1983, S. 212– 218.  Vgl. Hermand, Jost: Zwischen Superhirn und grüner Siedlung. Faschistische Zukunftsvisionen, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 40, 1988, S. 134– 150.  Vgl. Hermand, Jost: Ein Volk in österlicher Auferstehung. Zukunftsvisionen aus dem ersten Jahr des Dritten Reiches, in: Literarische Utopie-Entwürfe, hrsg. von Hiltrud Gnüg, Frankfurt am Main 1982, S. 266 – 276.  Vgl. Rossbacher, Karlheinz: Heimatkunstbewegung und Heimatkunstroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende, Stuttgart 1975.  Vgl.Wegener, Franz: Das atlantidische Weltbild. Nationalsozialismus und Neue Rechte auf der Suche nach der versunkenen Atlantis, Gladbeck 2001.  Vgl. Haug, Christine: „Die Eiszeit rettete uns vor dem Verfaulen“ oder die Botschaft des Nordlichts. Die kosmische Katastrophe als Instrument der Kulturkritik in der Unterhaltungsliteratur der Jahrhundertwende. Zur Popularisierung der Welteislehre in den Romanen des Kolportageschriftstellers Robert Emil Kraft (1869 – 1916), in: Kulturkritik, Erinnerungskunst und Utopie nach 1848, hrsg. von Anita Bunyan und Helmut Koopmann, Bielefeld 2003, S. 309 – 351.

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Germanen³⁴ oder die Ariosophie³⁵ – in erster Linie und überhaupt ums ‚Schicksal‘, das ‚hinter‘ den Ereignissen die Geschicke bestimme.³⁶ (Das hatte übrigens auch im Hinblick auf die literarturpolitischen Auseinandersetzungen während der 30er/40er Jahre seine Vorteile, denn solche Entlehnungen aus diesem Arsenal gaben zur Not ein treffliches Argument gegen kulturpolitische Verurteilungen als Trivialliteratur und besonders als Science-Fiction ab.)³⁷ Auf direkte zeitgeschichtliche Konstellationen beziehen sich die Texte nunmehr nur noch selten, sodass sie umso ungetrübter als eine Art Wesensschau ausgestaltet werden konnten. Wie das Beispiel Grieses zeigt, ging es nach 1945 in erster Linie um ideologiegeschichtliche und gesellschaftspolitische Einschätzungen dieser Autoren und ihrer Werke,³⁸ weniger um literarische Verfahrensweisen,³⁹ denen sich dieser Weltentwurf verdankte. Trotz der Virulenz mancher althergebrachten modernekritischen Ansätze in der gegenwärtigen politischen Gemengelage⁴⁰ hat ein solches Interesse mittlerweile seine Aktualität verloren, und Grieses Person liegt ohnehin unter dem Geröll der Geschichte begraben. Daran ändert auch Marcel Reich-Ranickis milde gestimmtes Urteil aus Anlass von Grieses Tod nichts.⁴¹

 Vgl. Kipper, Rainer: Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung, Göttingen 2002.  Vgl. Goodrick-Clarke, Nicholas: The Occult Roots of Nazism. Secret aryan cults and their influence on nazi ideology, London 2004.  Vgl. Zimmermann, Peter: Der Bauernroman. Antifeudalismus – Konservativismus – Faschismus, Stuttgart 1975, insb. S. 125 – 129, 134– 142.  Vgl. Härtel, Christian. „Grenzen über uns“. Populärwissenschaftliche Mobilisierung, Eskapismus und Synthesephantasien in Zukunftsromanen des ‚Dritten Reiches‘, in: Banalität mit Stil. Zur Widersprüchlichkeit der Literaturproduktion im Nationalsozialismus, hrsg. von Walter Delabar, Horst Denkler und Erhard Schütz, Bern 1999, S. 241– 257.  Vgl.vor allem Conrady, Karl Otto: Ein Disput um eine Preisverleihung an Friedrich Griese. Sind wir wieder so weit?, in: Literatur und Germanistik als Herausforderung. Skizzen und Stellungnahmen, hrsg. von dems., Frankfurt am Main 1974, S. 215 – 227. Das Werk enthält ebenfalls eine Antwort von Friedrich Griese. Darüber hinaus vgl. Haase, Horst: Abgestempelt!? Friedrich Griese! Zwiespältige Tradition auf dem Prüfstand, in: Neues Deutschland vom 28.06. 2004, online verfügbar unter: https://neues-deutschland.de/artikel/55379.abgestempelt.html (Zugriff: 03.07. 2019).  Eine Ausnahme bildet Kerkhoff, Emmy: Ausdrucksmöglichkeiten neuhochdeutschen Prosastils. Ein kritischer Versuch an Friedrich Grieses Roman „Die Weißköpfe“, Amsterdam 1950.  Vgl. Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, hrsg. von Norbert Frei et al., Berlin 2019.  Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Friedrich Griese gestorben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.06.1975.

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In diesem Rahmen lässt sich Grieses Roman Die Weißköpfe als einer der Versuche lesen, den völkischen Glaubenssatz vom ewigen, daseinsgesetzlichen Kreislauf des Werdens und Vergehens als einen Gegenmythos zur ‚Moderne‘ mit ihrem Dogma vom unaufhaltsamen Fortschritt in Worte zu fassen. Sich vor allem an eines seiner Vorbilder, an Knut Hamsun, haltend, setzt der Autor einen (personalen) Erzähler ein, der bemüht ist, den die Literatur des 19. Jahrhunderts beherrschenden Erzählkonventionen ein Gegenmodell abzugewinnen (ohne dass dem Verfasser allerdings bewusst gewesen zu sein scheint, dass der Roman selbst schon eine ‚moderne‘ Ausdrucksform ist). In der Wahl der Motive, in der Entfaltung des Erzählstrangs, in der Handlungsführung, der Zeitstruktur und (wohl am interessantesten) der Figurenkonzeption bemüht der Erzähler sich, ein antimodernes Darstellungskonzept zu finden (was übrigens nicht sonderlich originell war, auch nicht allein die deutschsprachige Literatur des frühen 20. Jahrhunderts kennzeichnete und nicht unbedingt ein nur ‚rechtes‘ Projekt darstellte).⁴² Der Roman opponiert auf massive Weise einem wissenschaftlichen Verständnis von Welt. Am Anfang seiner Darlegungen inszeniert der Erzähler einen (wie sich später herausstellt scheinbar) dramatischen Zeitbruch, einen Totschlag, der als ein böses Omen über der ganzen Geschichte schwebt: Sein Protagonist, der blonde Waldbauer Thie, will die ebenfalls blonde Alheit freien, was deren dunkelhaarigem Vater, dem Dorfbauern Wipert, (wegen unguter Ahnungen) missfällt, so dass er Thie mit einer Axt zu ermorden versucht, aber im Handgemenge zwischen den beiden selbst tödlich verletzt wird. In der Folge lässt der Erzähler Thie und Alheit in die tiefen Wälder des Ostens fliehen. Nach diesem turbulenten Einsatz wird es auf den immerhin 318 Seiten der Ausgabe der ‚Hausbücherei‘ ruhiger; breite Beschreibungen der urtümlichen Waldlandschaft und ihrer natürlichen Ordnung, der wachsenden Haus- und Feldwirtschaft sowie der (wenigen) Menschen, die das Personal des Romans bilden, stauen den Erzählfluss. Die Flüchtigen gründen in den tiefen Wäldern unter dem Namen des alten einen neuen Hof, zeugen sechs Kinder; vier Knaben und zwei Mädchen. Damit die Schilderung nicht zu gemächlich ausfällt, werden immer wieder beunruhigende Episoden über einen verwildernden Hund und dessen degenerierte Nachkommen eingestreut. Erst gegen Ende des Romans forciert der Erzähler die narrative Struktur wieder, sodass die Erzählung erneut lebhaft wird. Friedrich Grieses greift an dieser Stelle auf konventionelle Techniken des bürgerlichen Romans zurück, indem er aus charakteristischen Besonderheiten seiner Figuren neue Konfliktkonstellationen entwickelt. Inhaltlich ergibt sich so die erbliche Belastung zweier Söhne: Der erste

 Vgl. Mecklenburg, Norbert: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, Königstein im Taunus 1982, etwa S. 66.

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kommt auf den Mutterstamm, er ist – obzwar blond – schwächlich und leidet an Epilepsie, zudem verfällt er einer dunklen, überaus sinnlichen Magd, sodass Thie ihn der Erbfolge für unwürdig hält und ertrinken lässt; der zweite neigt zum Jähzorn und erschlägt im Streit zwei junge Burschen, woraufhin er geköpft wird. Wenngleich die beiden Töchter fruchtbar sind und die beiden verbliebenen Söhne tüchtig, legt der Erzähler seinen Protagonisten im tiefsten Wald zum Sterben nieder, um solcherweise den Bann, der auf der Sippe lastet, als gelöst zu betrachten; Alheit folgt dem Bauern nach. Die Sippe der Blonden, der Weißköpfe, aber sieht der Erzähler die Gegend bevölkern und über die Jahrhunderte hinweg blühen, wenngleich auch viele Angehörige des Genpools äußerlich dunkelhaarig geworden sind. Mit dieser Makrostruktur folgt Grieses Roman demnach dem aus der Literatur des 19. Jahrhunderts vertrauten Erzählschema: Schuld – Strafe – Versöhnung. Um zu verhindern, dass sein Werk im allzu vertrauten Stil eines Familienromans endet, was kaum seinem Projekt entsprochen hätte, lässt der Autor seinen Erzähler dem Roman unter der Überschrift „Die fernen Wälder“ ein kurzes Kapitel anhängen, in dem festgestellt wird, dass sich die Ereignisse, welche den beiden Flüchtigen widerfahren sind, im Nebel der verfließenden Jahrhunderte langsam zu vagen Erinnerungen der Nachkommen aufgelöst hätten und schließlich in deren Alltagsvorhaben untergegangen seien. Dann wechselt der Bericht unter dem drucktechnisch hervorgehobenen Hinweis „Die Toten haben lange Arme“⁴³ plötzlich vom erzählenden Präteritum ins konstatierende Präsens; in einer Art Eigenkommentar heißt es, in der Erinnerung der Wissenden würden die konkreten Einzelheiten der Ereignisse zwar meist falsch dargestellt, aber es werde doch fast immer richtig übermittelt, „was einmal das Wesen jener Dinge [von denen berichtet wird] ausmachte. Die Zeit ändert, niemals ändern sich jedoch Art und Gebärde der mütterlichen Erde, aus der alles dies [was geschehen ist] heraussteigt. […] Der äußere Rahmen ist vielfach ein anderer geworden, das Geschehen von innen her aber ist immerdar das gleiche. Und darauf allein kommt es an“.⁴⁴ Diese in mancherlei Variationen wiederholte Botschaft setzt als fabula docet der Konzeption von Zeit als einem linearen, fortschreitenden Prozess, welcher die Moderne (und zwar in ihrer liberalen wie in der sozialistischen Variante) bestimmt, eine – wie der Erzähler in seiner das Vage liebenden Diktion suggeriert – andere, originäre Anschauung von Zeit entgegen. Vollständig lassen sich allerdings moderne Denkmuster doch nicht aus dem Weg räumen; nur zu oft schleicht sich dasjenige, dem der Erzähler opponiert, hinterrücks wieder ein, etwa wenn

 Griese: Die Weißköpfe (Anm. 7), S. 308.  Ebd.

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das Leben der flüchtigen Siedler als ein Prozess fortwährenden wirtschaftlichen Erfolges geschildert wird, der jede Unternehmensgeschichte zieren würde. Und um das böse Ende des zweiten Sohnes in die Wege zu leiten, bedarf es auf einmal einer Urbanisierung der Gegend, in der bereits eine zwar raue, aber doch geordnete städtische Gerichtsbarkeit entwickelt worden ist. Und mit dem immer wiederkehrenden Motiv des verwildernden Wachhundes taucht das verpönte Konzept einer universellen Menschheitsgeschichte auf und verweist auf eines von deren entscheidenden Ereignissen (das in der Archäologie als ‚neolithische Revolution‘ markiert wird). Und um schließlich die Schicksalsvergessenheit der Sippengenossen in ihrem Gedeihen über die Jahrhunderte hin zu dokumentieren, erfindet der Erzähler sogar ein Straßenbauprojekt durch den wilden Forst! Aber trotz solcher – man ist versucht zu sagen – Unachtsamkeiten widmet sich der Erzähler intensiv dem Projekt seines Autors, einem Konzept von Zeit zu folgen, welches dasjenige der Moderne auslöscht. Nicht zu Unrecht wurden seine Romane von Zeitgenossen als ein demonstratives Gegenmodell zu den Werken der „lebensvernichtenden“ Franzosen des 19. Jahrhunderts und der „undeutschen, sarkastischen Ironie Th. Manns“ gepriesen und in die Nähe der „stammverwandten altund neunordischen Sagadichtung“ gerückt.⁴⁵ Um das nach seiner Meinung ewige Urgesetz zu bewahrheiten, dass die Toten lange Arme haben, das heißt, dass das, was einst geschah, dasjenige unabänderlich beeinträchtigt, wenn nicht gar bestimmt, was derzeit ist und was kommen wird, arrangiert der Autor seine Mythe von Thie und Alheit. Sein Erzähler reißt gleich mit seinen ersten Worten, mit der Floskel „In altersgrauer Zeit“,⁴⁶ sein Sujet aus der historischen Zeit heraus und fixiert das Geschehen an einem Punkt vor aller Zeit, vor aller ‚Geschichte‘; die konventionelle Formel verlegt es ins noch Ungeprägte, ins (vor allem von der Zivilisation) nicht Überformte, wo einfache, ursprüngliche Verhältnisse herrschen.⁴⁷ Der Erzähler bahnt mit dieser Floskel dem Folgenden den Weg, und zwar in der Erzählweise wie in Hinsicht auf die fingierte Welt (jedenfalls solange sich der  Petsch, Robert: Wesen und Formen deutscher Erzählkunst, in: Von deutscher Art in Dichtung und Sprache. Bd. 5, hrsg. von Gerhard Fricke, Franz Koch und Clemens Lugowski, Stuttgart u. a. 1941, S. 264, 270.  Griese: Die Weißköpfe (Anm. 7), S. 5.  Sonderbarerweise wird fast am Ende des Romans diese mythische Zeitordnung verlassen und die altersgraue Zeit ohne erkennbare Not und fast beiläufig in die Zeit der Geschichte eingebunden: Über zwei alte Eichen erzählen sich die Leute am Ende des Dreißigjährigen Krieges, diese möchten „fünfhundert Jahre und vielleicht noch hundert mehr […] überdauert haben“ (ebd., S. 300). Der Erzähler lässt sie anlässlich der Geburt der beiden letzten Söhne des Paares gepflanzt worden sein, also im 12. oder gar im 11. Jahrhundert. Konsequenzen hat dieser Bruch in der Konzeption aber keine.

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Autor der Konvention verpflichtet fühlte, und davon konnten seine Leser gemäß seinem Ruf ausgehen).⁴⁸ So lässt er gleich am Anfang deutlich werden, dass in der altersgrauen Zeit (und am Ende nicht nur dort) eine eigene, eine urgründige temporale Ordnung gilt: Diese verlangt, ja, sie verträgt keine konsekutive Darstellung,⁴⁹ die den Eindruck nähren könnte, ein Vorfall sei die Ursache für einen anderen. In einer Art „Weberschiffchentechnik“ werden Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu einer „Allzeitigkeit“ verwoben.⁵⁰ Der Erzähler hat zum Beispiel noch gar nicht mitgeteilt, dass Alheits Vater ums Leben gekommen ist, da berichtet er bereits, die Tochter habe später geschildert, am vorausgegangenen Morgen sei dem Vater in einer Art Halbtraum eben das dunkel und verschwommen erschienen, was dann am Mordabend tatsächlich geschah und was fürderhin geschehen werde. Danach gibt es nichts Wesentliches mehr zu vermelden, der Roman könnte, wenn es nur auf den Plot ankäme, eigentlich zu Ende sein. Es bliebe nur noch, die dunkle Ahnung des Alten genauer auszumalen. In dieser Welt ist es sinnlos, sich gegen das zu stemmen, was vor langem verhängt wurde, also eine Zukunft zu gestalten, die mehr ist als nur das Spätere. Alles kommt, wie es kommen muss, ist also latent bereits vorhanden. Der Horizont ist geschlossen. „Alles war so vom Grunde auf unumgänglich“.⁵¹ Es gilt nur, es anzunehmen. Deswegen verlegt der Erzähler auch keine Ursachen für das, was später geschieht, ins willentliche Handeln seiner Figuren. Der fatale Bann etwa, der auf dem Tod von Alheits Vater liegt, ist nur durch Thies Tod zu lösen, auch wenn der des Alten Ende nicht gewollt hat, und selbst dieser Sühnetod ist im Traum des Vaters bereits präsent. „Das Schicksal hatte für Thie und sie [Alheit] bereitgelegen“.⁵² Die Zukunft liegt in dieser Welt schon immer bereit. „Denn was jetzt geschah und inzwischen immer wieder geschehen war, gehört ja zu jenem Abend. Damals hatte es angefangen“,⁵³ geht es Alheit durch den Kopf, wobei auch jener Abend, an dem der Vater sein Leben verlor, nur die Zukunft einer Vergangenheit gewesen war, die Thie heraufbeschwört, indem er von dem Urvater der Sippe singt, der einstens

 Vgl. Langenbucher, Hellmuth: Volkhafte Dichtung der Zeit, Berlin 1937, S. 125 – 132.  Dieses Konzept einer „Allzeitigkeit“ begründet ein grundsätzlich anderes Erzählschema als dasjenige des ‚Zukunftsromans‘ (nach dem etwa Utopien oder Dystopien organisiert sind). Vgl. beispielsweise Brandt, Dina: Der deutsche Zukunftsroman 1918 – 1945. Gattungstypologie und sozialgeschichtliche Verortung, Tübingen 2007, S. 6.  Vgl. Kerkhoff: Ausdrucksmöglichkeiten (Anm. 39), S. 45, S. 54.  Griese: Die Weißköpfe (Anm. 7), S. 37.  Ebd., S. 133.  Ebd., S. 258.

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„meinte, nun […] komme wieder etwas von jener Zeit herauf, in der das Geschlecht zum erstenmal [sic] ausgezogen war, neue Erde gesucht und gefunden hatte. […] Bis hierher hatte das Geschlecht vor dem Altbauern Ruhe gehabt, nun […] erinnerte [er] daran, daß er in seinem Grabe noch nicht tot war“.⁵⁴

So macht der Erzähler Thie zum Epigonen des Urvaters der Sippe, lässt auch ihn aufbrechen und schickt ihn ebenfalls gen Osten (wobei der zeitgenössische Leser an die der Historie zugehörende ‚Ostkolonisation‘ denken mochte). Diesen Aufbruch stellt er als einen Naturvorgang dar, für den er „Symbole“ einsetzt: den „endlosen Strom“ des „Lebens“, der durch die Krone eines uralten Baumes rauscht („Der Hunger trieb diesen Strom“),⁵⁵ die Ackerland suchenden Völkerschaften auf der Heerstraße („Alles kam vom Westen und strebte dem Osten zu […], es nahm fast kein Ende“)⁵⁶ und schließlich den „mächtige[n] Bogen der Jahrhunderte: es ist ein endloser Strom, der aus dem Dunkel der Zeit kommt und in sie hinein mündet“.⁵⁷ Der gewaltsame Tod von Alheits Vater war demnach allenfalls äußerer Anlass, nicht aber der Grund für den Aufbruch ins Neue, das ja gar kein Neues ist; dieser Aufbruch ist dem im „Schicksal“ angelegten Wiederholungszwang geschuldet. „Meistens war ja das, was später geschah, immer nur eine Wiederholung“,⁵⁸ wird Alheit in den Sinn gelegt. Wenn dieser Zwang zu neuerlichen Aufbrüchen von den ihrem satten Alltag hingegebenen Nachkommen missachtet wird, dann erhebt sich der Urahn aus seinem Grab und „zerschlägt das, was soeben noch wohlbehütet schien“.⁵⁹ Am Ende kehrt die Welt, wie im Schlusskapitel einigermaßen unvermittelt angekündigt wird, in einer von „Wode“⁶⁰ oder vom Urahn⁶¹ hervorgerufenen Katastrophe an ihren Uranfang zurück; in ihm liegt zugleich die Zukunft, die alles wiederholt. Der Alheit imaginiert der Erzähler ein anderes, geschlechtsspezifisches Bild vom Zeitstrom aus dem Gewesenen ins Kommende. Dieses Bild aber ist nicht minder durch die literarische Tradition vorgeprägt: Nach der Geburt ihres ersten Sohns erscheinen ihr in einer Vision die Frauen der Sippe, die in einem magischen Zug aus einer Tiefe „fern von aller Zeit“ (110) auf sie zuschreiten, „ein Geschlecht von Frauen durch viele Geschlechter hindurch, jede der anderen unähnlich und doch alle darin gleich, daß sie […] denen eine Mutter geworden waren, die eben        

Ebd., S. 35. Ebd., S. 41. Ebd. Ebd., S. 41 f. Ebd., S. 219. Ebd., S. 321. Ebd., S. 252. Ebd., S. 35.

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dieses Geschlecht immer neu aus sich heraus gewollt hatte“.⁶² Die Gesichter dieser Frauen lassen sie erschrecken, denn „so bis ins letzte offen hatte sie noch niemals ein Menschenantlitz vor sich gehabt, hier waren Anfang und Ende des Lebens und die Zeit dazwischen in eins zusammengeronnen“.⁶³ Alheit reiht sich folgerichtig in die Schar ein, an deren Spitze die Urmutter schreitet, und nimmt somit ihr Schicksal, das heißt: ihre Zukunft, widerstandslos an. Um für eine solche gegen das liberale Konzept von Zeit gerichtete Idee von Simultanität, in welcher die Zukunft mit der Vergangenheit ‚hinter‘ der oberflächlichen Verschiedenheit der aktuellen Ereignisse zusammenfällt, eine dem angemessene antimoderne Ausdrucksform zu finden, hält sich der Erzähler an Metaphernbestände, die seit dem frühen 18. Jahrhundert (teils nach antikem Vorbild) als literarisches Allgemeingut bereitlagen: die ursprüngliche, gleichsam mit der Existenz der Welt gegebene ‚Natur‘, die hier vor allem als ‚Wald‘ und als ‚Wolf‘ konkretisiert wird, und der in der völkischen Vorstellungswelt obligate ‚Bauer‘.⁶⁴ Er erzeugt eine Transzendenz ohne Transzendenz. In ermüdender Wiederholung walzt er diese Metaphernfelder aus; es wird damit nicht allein nachhaltig der Zeitfluss des Erzählens gestaut, es wird so auch die Figur der Überbietung, dieses zentrale Ideologem der Moderne, unmöglich. In Variationsund Wiederholungsschleifen wird die ursprüngliche, die erste und das heißt die wahre Ordnung beschworen, die identisch ‚hinter‘ den wechselnden Erscheinungen liegt. Besonders die Tatsache, dass dieses Motiv literarisch kurrent ist und keine geistreiche Erfindung, soll bezeugen, dass der Erzähler beziehungsweise sein Leser an der ewigen Ordnung der Welt geistig teilhaben.Worin diese statische Ordnung allerdings besteht, bleibt ungesagt, außer dass sie einfach ist. Die hier gepflegte dichterische Rede behauptet gerade nicht, sich auf eine außer ihr bestehende Welt zu beziehen (insofern lässt sich alle Widerrede als sinnlos desavouieren), ihre universelle ‚Wahrheit‘ liegt in der rituellen Rückbindung an ihre Literarizität. Dieser ‚dichterische‘ Stil, der allen modernen Ausdruckstechniken ihre Berechtigung absprechen will, ist kein Decorum, sondern integraler Teil der ‚Wahrheit‘ des Textes. Ähnlich die im Roman erzählte Zuordnung der Figuren. Sie bildet keine soziale Ordnung ab, weder jene der „altersgrauen Zeit“, noch jene des Hohen Mittelalters oder die der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, auch nicht die irgendeiner zukünftigen Agrargesellschaft. Sie stammt aus dem Bilderbuch antimoderner

 Ebd., S. 112.  Ebd., S. 111.  Vgl. den hier einschlägigen ‚Klassiker‘ Darré, R. Walther: Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse, München 1929.

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Träume des 19. Jahrhunderts⁶⁵ und ist – wie die ‚Natur‘ oder der ‚Bauer‘ – Teil jener Metaphernbestände, die seit dem 18. Jahrhundert in der Literatur den Gegenpol zur städtischen, sich industrialisierenden Welt bilden.⁶⁶ Thie, Alheit und ihre Kinder bilden eine soziale Primärgruppe, deren Handlungsspielräume durch geschlechts- und generationsspezifische Rollenverteilung abgesteckt sind; die Frauen drinnen, die Männer draußen. So soll es keine entfremdete Arbeit geben, und wo sie sich mit wachsender Prosperität doch einschleicht, als eine Magd herangezogen wird, da ist das Unglück nicht mehr fern. Die Regulative dieser Ordnung werden rigoros eingefordert: die beiden ältesten Söhne, die sie – aufgrund unguter Erbanlagen – von innen gefährden, werden vom Erzähler spektakulär gestrichen.⁶⁷ (Auch hier schleicht sich übrigens verstohlen die bekämpfte Moderne ein, wenn dieser Traum von einer Urzelle bäuerlicher, das heißt antiindustrieller Familienordnung als bürgerliche Kleinfamilie vorgestellt wird.) Eine Entwicklung von Individualität, das heißt eine Abweichung vom aus der Vergangenheit überkommenen und für die Zukunft verbindlich erklärten Rollenmuster, sieht dieser antimoderne literarische Traum von einer immerwährenden völkischen Zukunft nicht vor. Er kennt keine selbstverantworteten Handlungsspielräume, welche eine Zukunft im modernen Sinn eröffnen. Mit seinem letzten Satz sprengt Grieses Roman 1939 allerdings doch – wenn auch unbewusst – den Raum der literarischen Fiktion und weist nachgerade prophetisch in eine ganz andere, nicht fiktive und nicht allzu ferne Zukunft: Wer aus dem Geschlecht der Urmutter stammt, der erkennt sie, die aus den fernen Wäldern kommt, und wenn „er sie anrührt, hat er ein wenig erdigen Staub an den Händen, mehr nicht“.⁶⁸

 Vgl. Sengle, Friedrich: Wunschbild Land – Schreckbild Stadt. Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur, in: Studium Generale 16, 1963, S. 619 – 631.  Vgl. Bergmann, Klaus: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft. Studien zur Großstadtfeindschaft und ‚Landflucht‘ –Bekämpfung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, Meisenheim 1970.  Die Drastik der Beschreibung dieser Ausmerzung ist sicher dem Bestreben zuzuschreiben, die Handlung etwas spektakulärer zu machen, aber die Aussonderung selbst ist durch das ‚Reichserbhofgesetz‘ vom 29. September 1933, § 14 und 15 gedeckt.  Griese: Die Weißköpfe (Anm. 7), S. 323.

IV Anhang

Verzeichnis der zitierten Zukunftsromane und anderer zeitgenössischer Literatur Alexander, Axel (Pseudonym von Alexander Thomas): Die Schlacht über Berlin, Berlin: Offene Worte 1933. Alter, Junius (Pseudonym von Franz Sontag): Nie wieder Krieg?! Ein Blick in Deutschlands Zukunft, Leipzig: K. F. Köhler 1931. Autenrieth, Otto: Der Tag des Gerichts. Eine Prophezeiung über Frankreich auf Grund tausendjähriger Geschichte zugleich ein Trostbuch für Deutschland. Der deutschen Jugend und dem deutschen Volke gewidmet, Naumburg (Saale): Carl August Tancré 1920. Bauer, Georg: Sprachwissenschaftliche Kombinatorik. Ein Vorschlag, Volapük vokalreicher und dennoch etwas kürzer darzustellen, Zagreb: Albrecht und Fiedler 1886. Bauer, Ludwig: Morgen wieder Krieg. Untersuchung der Gegenwart. Blick in die Zukunft, Berlin: Ernst Rowohlt 1932. Becher, Johannes R.: (CH CI = CH)₃As (Levisite) oder Der einzig gerechte Krieg [1926], in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10, hrsg. vom Johannes-R.-Becher-Archiv der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, Berlin/Weimar: Aufbau 1969 (zuerst Wien u. a.: Agis-Verlag 1926). Bellamy, Edward: Equality, New York NY: Appleton 1897. Benjamin, Walter: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows [1936], in: ders.: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und der literarischen Prosa, ausgewählt und mit einem Nachwort von Alexander Honold, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 103 – 128. Benjamin, Walter: Die Waffen von morgen. Schlachten mit Chlorazetophenol, Diphenylaminchlorasin und Dichloräthylsulfid [1925], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4.1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, hrsg. von Tillman Rexroth, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972 (zuerst in: Vossische Zeitung vom 29. Juni 1925, Nr. 303, S. 1 – 2), S. 473 – 476. Benjamin, Walter: Erfahrung und Armut [1933], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2.1: Aufsätze, Essays, Vorträge, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 213 – 219. Benjamin, Walter: Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift „Krieg und Krieger“. Herausgegeben von Ernst Jünger [1930], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Kritiken und Rezensionen, hrsg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 238 – 250. Benjamin, Walter: Über einige Motive bei Baudelaire [1939], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1.2: Abhandlungen, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 605 – 653. Benjamin, Walter: Zentralpark [1939], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1.2: Abhandlungen, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 (zuerst 1974), S. 655 – 690. Benn, Gottfried: Können Dichter die Welt ändern?, in: Neue Bücherschau vom 9. Juli 1929. Bergson, Henri: Dauer und Gleichzeitigkeit. Über Einsteins Relativitätstheorie [1922], Hamburg: Felix Meiner 2015. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis [1896], Hamburg: Felix Meiner 2015. https://doi.org/10.1515/9783110773217-014

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Verzeichnis der zitierten Zukunftsromane und anderer zeitgenössischer Literatur

Bergson, Henri: Philosophie der Dauer. Textauswahl von Gilles Deleuze, Hamburg: Felix Meiner 2013. Bergson, Henri: Zeit und Freiheit. Versuch über das dem Bewußtsein unmittelbar Gegebene [1889], Hamburg: Felix Meiner 2016. Bialkowski, Stanislaus: Der Radiumkrieg. Roman aus der Zukunft der Technik, Leipzig: Grunow 1937. Bialkowski, Stanislaus: Krieg im All. Roman aus der Zukunft der Technik, Leipzig: Grunow 1935. Bialkowski, Stanislaus: Start ins Weltall. Phantastischer Abenteuer-Roman, Leipzig: Grunow 1941. Blüher, Hans: Deutsches Reich, Judentum und Sozialismus. Eine Rede an die Freideutsche Jugend, Prien: Anthropos-Verlag 1920. Bordewijk, Ferdinand: Blokken, in: ders.: Blokken, Knorrende Beesten, Bint, Haag/Rotterdam: Nijgh & Van Ditmar 1931. Brandt, Karsten: Aus eigener Kraft. Lebensbilder hervorragender Männer, Stuttgart: Loewes 1910. Bruggen, Kees van: Das zerstörte Ameisenreich, übersetzt von Else von Hollander, Zürich: Max Rascher 1920 (niederländisch: Het verstoorde mierennest, Amsterdam: Wereldbibliotheek 1916). Bruggen, Kees van: Het verstoorde mierennest, Amsterdam: Wereldbibliotheek 1916. Bry, Carl Christian (Pseudonym von Carl Decke): Verkappte Religionen, Gotha/Stuttgart: Perthes 1924. Caelestes, Junior (Pseudonym von Elisabeth Pfau): Die Raketen-Reise nach dem Mond, Leipzig: Eugen Twietmeyer 1928. Cannegieter, H. G.: Achter den Afsluitdijk, Amsterdam: P.N. van Kampen en zoon 1929. Canter, Bernard: Nieuw Utopia. De verjongingskuur van een Grijsaard, Amsterdam: Van Holkema & Warendorf 1922. Chesney, George Tomkyns: The Battle of Dorking. Reminiscence of a volunteer, London: William Blackwood and Sons 1871. Chomton, Werner: Soldat in den Wolken, Stuttgart: Thienemanns 1933. Chomton, Werner: Weltbrand von Morgen. Ein Zukunftsbild, Stuttgart: Thienemanns 1934. Colerus, Egmont: Die neue Rasse. Roman, Berlin u. a.: Zsolnay 1928. Colerus, Egmont: Wieder wandert Behemoth. Roman einer Spätzeit, Berlin u. a.: Atlantischer Verlag 1924. Credo (Pseudonym von Carl Credé-Hoerder): Weltzentrale 3115. Tagebuch eines Tausendjährigen, Charlottenburg: Raben-Verlag 1919. Daab, Friedrich: Die Sehnsucht nach Persönlichkeit, in: Das Suchen der Zeit. Blätter deutscher Zukunft. Bd. 1, hrsg. von dems. und Hans Wegener, Düsseldorf/Leipzig: Karl Robert Langewiesche 1903, S. 4 – 33. Dannert, Eduard: Im Weltkrieg der Andern. Politischer Roman. Mit einer Übersichtskarte, Neudamm: J. Neumann 1925. Darré, R. Walther: Das Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse, München: J. F. Lehmann 1929. Dekker, Maurits: C.R. 133, Haag: H.P. Leopold’s Uitgevers-maatschappij 1926. Dekker, Maurits: De aarde splijt, Assen: Uitgeverij Born 1947 (3. Aufl.; zuerst 1927). Delmont, Joseph: Der Ritt auf dem Funken, Berlin: Otto Janke 1928.

Verzeichnis der zitierten Zukunftsromane und anderer zeitgenössischer Literatur

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Der Tunnel, Stummfilm, Deutschland 1915, Regie: William Wauer. Der Tunnel, Tonfilm in deutscher und französischer Fassung, Deutschland 1933, Regie: Kurt Bernhardt (englisches Remake: The Tunnel/Transatlantic Tunnel, Großbritannien 1935, Regie: Maurice Ely). Die Welt in hundert Jahren. Mit Illustrationen von Ernst Lübbert, hrsg. von Arthur Brehmer, Berlin: Verlagsanstalt Buntdruck 1910 (Nachdruck: Hildesheim u. a.: Olms 2010). Dietrich, Carl: Grundlagen der Völkerverkehrssprache. Entwürfe für den Auf- und Ausbau einer denkrichtigen, neutralen Kunstsprache als zukünftige Schriftsprache, eventuell auch Sprechsprache für den internationalen Verkehr, Dresden: Kühtmann 1902. Döblin, Alfred: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm [Mai 1913], in: ders.: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur, Frankfurt am Main: S. Fischer 2013, S. 118 – 122. Döblin, Alfred: Bemerkungen zu „Berge Meere und Giganten“, in: ders.: Aufsätze zur Literatur, hrsg. von Walter Muschg, Freiburg im Breisgau: Walter 1963, S. 345 – 356. Döblin, Alfred: Berge Meere und Giganten. Roman, Berlin: S. Fischer 1924. Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, Berlin: S. Fischer 1929. Döblin, Alfred: Buddho und die Natur, in: Die Neue Rundschau Jg. 32 (2), 1921, S. 1192 – 1200. Döblin, Alfred: Das Ich über der Natur, Berlin: S. Fischer 1927. Döblin, Alfred: Das Wasser, in: Die Neue Rundschau Jg. 33 (2), 1922, S. 853 – 858. Döblin, Alfred: Die deutsche Utopie von 1933 und die Literatur [1946], in: ders.: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur, Frankfurt am Main: S. Fischer 2013, S. 369 – 405. Döblin, Alfred: Die Natur und ihre Seelen, in: Der Neue Merkur Jg. 6 (1), 1922, S. 5 – 14. Döblin, Alfred: Die Schlacht! Die Schlacht! [1915], in: ders.: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen, Frankfurt am Main: S. Fischer 2014 (2. Aufl.; zuerst 2013), S. 136 – 154. Döblin, Alfred: Giganten. Ein Abenteuerbuch, Berlin: S. Fischer 1932. Döblin, Alfred: Lusitania [1929], in: ders.: Die Stücke, hrsg. von Manfred Beyer, Berlin: Henschelverlag 1981 (zuerst Hamburg: Presse Oda Weitbrecht 1929). Döblin, Alfred: Nachwort zu „Giganten“, in: ders.: Aufsätze zur Literatur, hrsg. von Walter Muschg, Olten/Freiburg im Breisgau 1963, S. 371 – 374. Döblin, Alfred: Unser Dasein, Berlin: S. Fischer 1933. Döblin, Alfred: Von der Freiheit eines Dichtermenschen [1918], in: ders.: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur, Frankfurt am Main: S. Fischer 2013 (zuerst in: Die Neue Rundschau Jg. 29 (1), 1918, S. 843 – 850), S. 126 – 135. Döblin, Alfred: Wallenstein. Roman, Berlin: S. Fischer 1920. Dominik, Hans: Atlantis, Leipzig: Scherl 1925. Dominik, Hans: Befehl aus dem Dunkel, Berlin: Scherl 1933. Dominik, Hans: Das Erbe der Uraniden, Berlin: Scherl 1935 (zuerst 1928). Dominik, Hans: Die Macht der Drei, Berlin: Scherl 1922. Dominik, Hans: Die Spur des Dschingis-Khan. Ein Roman aus dem 21. Jahrhundert, Leipzig: E. Keils Nachfolger 1923. Dominik, Hans: Lebensstrahlen, Berlin: Scherl 1938. Douhet, Giulio: Luftherrschaft. Deutsch von Rittmeister a.D. Roland E. Strunk, Berlin: Drei-Masken-Verlag 1935. Eggebrecht, Axel: Gespräch mit Remarque, in: Die literarische Welt Jg. 5 (24), 1929, S. 1 – 2.

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Verzeichnis der zitierten Zukunftsromane und anderer zeitgenössischer Literatur

Eichacker, Reinhold: Der Kampf ums Gold, München/Leipzig: Universal-Verlag 1924 Eickermann, Wilhelm Friedrich: Großmacht Saturn. Eine Utopie, Berlin: Buchwarte 1938. Erdmann, Gustav Adolf: Wehrlos zur See. Eine Flottenphantasie an der Jahrhundertwende, Berlin/Leipzig: F. Luckhardt 1900. France, Anatole: Die Insel der Pinguine, übersetzt von Paul Wiegler, München: Piper 1909 (französisch: L’Île des Pingouins, Paris: Calmann-Lévy 1908). Frey, Egon: Der Zensor. Erzählungen, Hamburg: Gebrüder Enoch 1922. Frey, Egon: Rechenschaft. Gedichte Wien: Gerold-Verlag 1919. Frey, Egon: Schakal. Ein Kampf um die Zukunft. Roman, Hamburg: Gebrüder Enoch 1924. Frey, Egon: Werktagslied. Gedichte, Wien: Europäischer Verlag 1968. Griese, Friedrich: Die Weißköpfe, Hamburg: Deutsche Hausbücherei 1941 (zuerst München: Langen/Müller 1939). Günther, Hans F. K.: Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes, München: J. F. Lehmanns Verlag 1933 (Aufl. 44. bis 66. Tausend; zuerst 1929). Gurk, Paul: Tuzub 37. Der Mythos von der grauen Menschheit oder von der Zahl 1, Berlin: Holle & co. 1935. Hanstein, Otfrid von: De dodende straal, übersetzt von H.A. Schmidt, Den Bosch: Malmberg 1928. Hanstein, Otfrid von: Der Telefunken-Teufel. Ein Radioroman, Dresden-Niedersedlitz: Münchmeyer 1924. Hanstein, Otfrid von: Elektropolis. Die Stadt der technischen Wunder, Stuttgart: Herold-Verlag 1931 (8. Aufl.; zuerst 1928). Harbou, Thea von: Frau im Mond, Berlin: Scherl 1928. Harrar, Annie: Die Feuerseelen. Ein phantastischer Roman, Berlin u. a.: Richard Bong 1923. Hauser, Heinrich: Psychose durch ein Buch, in: Frankfurter Zeitung vom 19. 05. 1932. Hitler, Adolf: Mein Kampf. 2 Bde., München: Franz Eher Nachf. Verlag 1925 (Bd. 1) / 1926 (Bd. 2). Hofmannsthal, Hugo von: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, München: Verlag der Bremer Presse 1927. Horkheimer, Max: Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie, in: Zeitschrift für Sozialforschung Jg. 4 (1), 1935, S. 1 – 25. Huizinga, Johan: Im Schatten von morgen. Eine Diagnose des kulturellen Leidens unserer Zeit, übersetzt von Werner Kaegi, Bern/Leipzig: Gotthelf 1936 (zuerst 1935). Husserl, Edmund: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins [1928], Berlin/Boston MA: De Gruyter 2012. Huxley, Aldous: Brave New World. A novel, London: Chatto and Windus 1932. Illing, Werner: Utopolis. Roman, Berlin: Der Bücherkreis 1930. Inführ, Heinrich (Pseudonym von Rudolf Lämmel): ALIS. Die neue deutsche Kolonie. Das Ende von Versailles. Technischer Zukunftsroman, Jena: Granula-Verlag 1924. Jung, Franz: Der Sprung aus der Welt. Ein Roman, Berlin: Verlag der Wochenschrift Die Aktion 1918. Kärrner, Dietrich (Pseudonym von Artur Mahraun): Gösta Ring entdeckt Värnimöki. Ein Zukunftsroman, Berlin: Nachbarschafts-Verlag Artur Mahraun 1938. Kärrner, Dietrich (Pseudonym von Artur Mahraun): Per Krag und sein Stern. Ein Zukunftsroman, Berlin: Nachbarschafts-Verlag Artur Mahraun 1939.

Verzeichnis der zitierten Zukunftsromane und anderer zeitgenössischer Literatur

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Kellermann, Bernhard: Der Krieg unter der Erde, in: Das große Jahr 1914 – 1915, Berlin: S. Fischer 1915, S. 125 – 130. Kellermann, Bernhard: Der Tunnel. Roman, Berlin: S. Fischer 1913. Kemmerich, Max: Die Berechnung der Geschichte und Deutschlands Zukunft, Diessen vor München: Huber 1921. Kenworthy, J. M.: Vor kommenden Kriegen. Die Zivilisation am Scheideweg, Wien/Leipzig: Braumüller 1928. Koch, Franz: Geschichte deutscher Dichtung, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1941. Kossak-Raytenau, Karl L. [Pseudonym von Karl Ludwig Kossak]: Katastrophe 1940, Oldenburg: Gerhard Stalling 1930. Kriegsbriefe deutscher Studenten, hrsg. von Philipp Witkop, Gotha: Perthes 1916. Kriegsbriefe gefallener Studenten, hrsg. von Philipp Witkop, München: Georg Müller 1928. Kublin, Siegmund: Weltraum, Erdplanet und Lebewesen, eine dualistisch-kausale Welterklärung, Dresden: E. Pierson’s 1903. Lämmel, Rudolf: Der moderne Tanz. Eine allgemeinverständliche Einführung in das Gebiet der rhythmischen Gymnastik und des Neuen Tanzes, Berlin: P.J. Oestergaard o. J. [1928]. Lämmel, Rudolf: Die Erziehung der Massen. Grundlagen der Staatspädagogik, Jena: Thüringer Verlagsanstalt 1923. Lämmel, Rudolf: Die Grundlagen der Relativitätstheorie. Populärwissenschaftlich dargestellt, Berlin/Heidelberg: Julius Springer 1921. Lämmel, Rudolf: Intelligenzprüfung und Psychologische Berufsberatung, Zürich: Selbstverlag 1922. Lämmel, Rudolf: Wege zur Relativitätstheorie, Stuttgart: Frankh’sche Verlagshandlung 1921. Langbehn, Julius: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig: Hirschfeld 1890. Langenbucher, Hellmuth: Volkhafte Dichtung der Zeit, Berlin: Junker und Dünnhaupt 1937. Laßwitz, Kurd: Auf zwei Planeten. Roman in zwei Büchern, Weimar: Emil Felber 1897. Laßwitz, Kurd: Bilder aus der Zukunft, Lüneburg: Dieter von Reeken 2008 (zuerst Breslau: S. Schottlaender 1874; hier nach der 3. Aufl. von 1879). Laßwitz, Kurd: Bilder aus der Zukunft. Zwei Erzählungen aus dem vierundzwanzigsten und neununddreissigsten Jahrhundert, Breslau: S. Schottlaender 1878 (2. Aufl.; zuerst 1874). Laßwitz, Kurd: Bis zum Nullpunkt des Seins. Erzählung aus dem Jahre 2371 [1871], in: Laßwitz, Kurd: Bilder aus der Zukunft. Zwei Erzählungen aus dem vierundzwanzigsten und neununddreissigsten Jahrhundert, Breslau: S. Schottlaender 1878 (2. Aufl.; zuerst 1874). Laßwitz, Kurd: Gegen das Weltgesetz. Erzählung aus dem Jahre 3877 [1877], in: Laßwitz, Kurd: Bilder aus der Zukunft. Zwei Erzählungen aus dem vierundzwanzigsten und neununddreissigsten Jahrhundert, Breslau: S. Schottlaender 1878 (2. Aufl.; zuerst 1874). Lauda, Eugen A.: Darf Volapük die Weltsprache werden? Kosmos oder neueste Lösung des Weltspracheproblems auf internationalem und sprachhistorischem Boden, Berlin: Henning 1888. Lechler, Paul: Geschäftserfolg und Lebenserfolg. Ein Wort an unsere jüngere Generation in Handel, Industrie und Gewerbe, Stuttgart/Berlin: Deutsche Verlagsanstalt 1912. Leers, Johann von: Bomben auf Hamburg! Vision oder Möglichkeit, Leipzig: R. Voigtländers Verlag 1932. Lennartz, Franz: Die Dichter unserer Zeit. 275 Einzeldarstellungen zur deutschen Dichtung der Gegenwart, Stuttgart: Alfred Kröner 1938. Lerch, Hanns: Pestilenz. Eine Vision, Dresden-Wachwitz: Kommerstädt und Schobloch 1925.

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Verzeichnis der zitierten Zukunftsromane und anderer zeitgenössischer Literatur

Lindsey, Ben B. / Evans, Wainwright: Die Kameradschaftsehe, Stuttgart u. a.: Deutsche Verlagsanstalt 1928. Mach, Ernst: Erkenntnis und Irrtum, Leipzig 1917 (zuerst 1905). Martini, Fritz: Verfall und Neuordnung in der deutschen Dichtung seit dem 19. Jahrhundert, in: Von deutscher Art in Dichtung und Sprache. Bd. 4, hrsg. von Gerhard Fricke, Franz Koch und Clemens Lugowski, Stuttgart/Berlin: Kohlhammer 1941, S. 367 – 413. Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1 – 3, Stuttgart u. a.: Cotta 1901 – 1902, überarb. Aufl. 1906 – 1913; 3. Aufl. Leipzig: Meiner 1923. Michaëlis, Sophus: Das Himmelsschiff, Berlin: S. Fischer 1926. Middendorp, Herman: Het spel met den dood. Roman uit het jaar 1980, Rotterdam: De Arbeiderspers/VARA 1930. Moeller-van den Bruck[, Arthur]: Das Dritte Reich, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1931 (3. Aufl.; zuerst 1923). Mühsam, Erich: Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 16. Februar 1922 [1922], in: ders.: Tagebücher. Bd. 10: 1922, hrsg. von Chris Hirte und Conrad Piens, Berlin: Verbrecher– Verlag 2016, S. 77 – 80. Neville, Edgar: Die letzten Menschen, in: Der Querschnitt Vol. 12 (9) 1932, S. 650 – 654. Niemann, August: Der Weltkrieg. Deutsche Träume, Berlin/Leipzig: Vobach 1904. Nitram, Hans (Pseudonym von Hans Martin): Achtung! Ostmarkenrundfunk! Polnische Truppen haben heute nacht die ostpreußische Grenze überschritten, Oldenburg: Gerhard Stalling 1932. Olden, Rudolf: Die „bedrohte Provinz“, in: Die Weltbühne vom 14. 06. 1932, S. 881 – 885. Orwell, George: Nineteen Eighty-Four. A novel, Harmondsworth: Penguin Books 1972 (zuerst London: Secker & Warburg 1949). Otto, Friedrich: Die Vernichtung der englischen Schlachtflotte durch „U 632“. Eine technische Phantasie aus dem Jahre 1969, in: Scherls Jungdeutschland-Buch 1917, hrsg. von Maximilian Bayer, Berlin: Scherl 1917, S. 113 – 133. Passon, Marga: Der rote Stern. Ein Weltuntergangs-Roman, Berlin: Grotilgo 1921. Pawlowski, Gaston de: Voyage au pays de la quatrième dimension, Paris: Fasquelle 1912 (erweiterte Ausgabe Paris: Fasquelle 1923; deutsch: Reise ins Land der vierten Dimension, übersetzt von Maximilian Gilleßen, Berlin: zero sharp 2016 (nach der Fassung von 1923)). Petsch, Robert: Wesen und Formen deutscher Erzählkunst, in: Von deutscher Art in Dichtung und Sprache. Bd. 5, hrsg. von Gerhard Fricke, Franz Koch und Clemens Lugowski, Stuttgart/Berlin: Kohlhammer 1941. Pollock, Friedrich: Bemerkungen zur Wirtschaftskrise, in: Zeitschrift für Sozialforschung Jg. 2 (3), 1933, S. 321 – 354. Reventlow, Ernst Graf von: Vademecum für Phantasiestrategen, Kattowitz/Leipzig: C. Siwinna 1906. Richter, Hans: T 1000. Roman eines Riesenflugzeuges, Hannover: Adolph Sponholtz 1927. Rüdin, Ernst: Rezension von Emil Kraepelin: Zur Entartungsfrage, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie Jg. 7, 1909, S. 254 – 257. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin: Duncker und Humblot 1996 (4. Nachdruck der Ausgabe von 1963). Schott, Georg: Das Volksbuch vom Hitler, München: Hermann A. Wichmann 1924.

Verzeichnis der zitierten Zukunftsromane und anderer zeitgenössischer Literatur

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Schwarz, Hans: Vorwort, in: Moeller van den Bruck[, Arthur]: Das Dritte Reich, Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt 1931 (3. Aufl.; zuerst 1923), S. 9 – 13. Simmel, Georg: Die Ruine, in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, Leipzig: Werner Klinkhardt 1911, S. 137 – 146. Skowronnek, Fritz: Dies irae. Ein ostpreußischer Zukunftsroman, Berlin: Neudeutsche Verlagsund Treuhandgesellschaft 1922. Slawik, Hans: Erdsternfrieden. Eine unwahrscheinliche Geschichte, Wien/Leipzig: Karl Harbauer 1919. Solf, Ferdinand E.: 1934. Deutschlands Auferstehung, Naumburg: Carl August Trankré 1921. Sombart, Werner: Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig: Duncker und Humblot 1911. Sombart, Werner: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, Leipzig: Duncker und Humblot 1915. Sonntag, Lincoln: The Holocaust [1906], in: The Holocaust and Other Poems, Boston MA: Sherman, French and Comp. 1914. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit, Wien: Braumüller 1918. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. 2: Welthistorische Perspektiven, München: C.H. Beck 1922. Spengler, Oswald: Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München: C.H. Beck 1933. Steininger, A.: Weltbrand 1950. Ein utopischer Roman, Berlin: Verlag der Zeit-Romane 1932. Thomas, Alexander: Deutschland – Freiwild? Der Luftschutzroman von Bomben, Geld und Liebe, Berlin: Offene Worte 1933. Tönnies, Ferdinand: Einführung in die Soziologie, Stuttgart: Ferdinand Enke 1931. Troeltsch, Ernst: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hrsg. von Hans Baron, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1925. Ven, F.F. van der: De groote vinding, Arnhem: Van Loghum Slaterus 1925. Volk, A. / Fuchs: R.: Die Weltsprache, entworfen auf Grundlage des Lateinischen, zum Selbstunterricht, Berlin: Kühl 1883. Wald, Max: Weltsprache Pankel, die leichteste und kürzeste Sprache für den internationalen Verkehr. Grammatik und Wörterbuch, Gross-Beeren: Selbstverlag 1906. Wells, H. G.: Die Geschichte unserer Welt, Zürich: Diogenes 2006 (engl. Original: A Short History of the World, New York NY: The MacMillan Company 1922). Wells, H. G.: Men like Gods, London: Cassels 1923 (deutsch: Menschen, Göttern gleich, übersetzt von Paul von Sonnenthal, München: Dt. Taschenbuch-Verl. 2004). Wells, H. G.: The Time Machine. An invention, London: Heinmann 1895 (deutsch: Die Zeitmaschine. Eine Erfindung, übersetzt von Peter Naujack, Zürich: Diogenes 1974). Wells, H. G.: The War that will end War, London: Frank and Cecil Palmer 1914. [Die] Welt in hundert Jahren. Mit Illustrationen von Ernst Lübbert, hrsg. von Arthur Brehmer, Berlin: Verlagsanstalt Buntdruck 1910. Wiedenfeld, Kurt: Das Persönliche im modernen Unternehmertum, Leipzig: Duncker & Hublot 1911. Zapp, Arthur: Revanche für Versailles! Eine Vision, Berlin: Verlag Fritz Kater 1924.

Autorinnen und Autoren Gijs Altena, M.A., Literaturwissenschaftler, Rijksuniversiteit Groningen, Forschungsschwerpunkte: Komparatistik, Niederlande-Deutschland-Studien, Literatur der Zwischenkriegszeit, Zukunftsliteratur. Veröffentlichungen: Prometheïsche held of arrogante hemelbestormer. Ingenieurs in Hans Dominiks Befehl aus dem Dunkel (1933) en Maurits Dekkers C.R. 133 (1926) (Aufsatz, 2020); Killing without Remorse. Ernst Jünger’s In Stahlgewittern and War Legitimation (Aufsatz, 2018). Dina Brandt, Dr., Germanistin und Historikern, Prozessmanagerin bei der BWI GmbH. Zuvor Kanzlerin der Hochschule für Philosophie München; Forschungsschwerpunkte: Deutscher Zukunftsroman 1918 – 1945, Buchhandelsgeschichte im Dritten Reich, digitales Wissensmanagement. Veröffentlichungen u. a.: Wikipedia – Wissen in der postmodernen „Wissensgesellschaft“ (Aufsatz, 2009); Der deutsche Zukunftsroman 1918 – 1945. Gattungstypologie und sozialhistorische Verortung, (2007); Ernst Troeltsch: Rezensionen und Kritiken 1894 – 1900 (Mitarb., 2007); Saul Friedländer/Norbert Frei/Trutz Rendtorff/Reinhard Wittmann: Bertelsmann 1921 – 1951. Gesamtverzeichnis. Bearbeitet von Dina Brandt und Olaf Simons (2002). Medardus Brehl, Dr., Literaturwissenschaftler und Historiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Genozidforschung, Diskurstheorie und Diskursgeschichte, Verhältnis von Textualität und Historizität; Themenkomplex „Gewalt und Sprache“. Veröffentlichungen u. a.: Gewaltraum Mittelmeer? Strukturen, Erfahrungen und Erinnerung kollektiver Gewalt im Zeitalter der Weltkriege (Hg., gemeinsam mit Kristin Platt, 2019); The Mediterranean Other – the other Mediterranean (Hg., gemeinsam mit Andreas Eckl und Kristin Platt, 2019); Narrative der Vernichtung um 1900 (Aufsatz, 2017); Figures of Disintegration. ‚Half-Castes‘ and ‚Frontiersmen‘ in German Colonial Literature on South-West Africa (Aufsatz, 2012); Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur (2007). Hans Esselborn, Prof. Dr., Literaturwissenschaftler, Professor em. für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Aufklärung und Jean Paul; Klassische Moderne: Expressionismus und Weimarer Republik; Literatur und Film; Interkulturelle Aspekte; Literatur und Naturwissenschaft beziehungsweise Technik (Science Fiction). Veröffentlichungen u. a.: Die Erfindung der Zukunft in der Literatur. Vom technisch-utopischen Zukunftsroman zur deutschen Science Fiction (2019, 2. Auflage 2020); Die künstliche Intelligenz der Science Fiction als Alternative zum Menschen (Aufsatz, 2019); Der Körper im Kampf. Nationenbildung und Cyborgs in Franz Schauweckers und Ernst Jüngers Darstellungen des Ersten Weltkrieges (Aufsatz, 2019); Ordnung und Kontingenz. Das kybernetische Modell in den Künsten (Hg., 2009); Utopie, Antiutopie und Science Fiction im deutschsprachigen Roman des 20. Jahrhunderts (Hg., 2003). Lucian Hölscher, Prof. Dr., Historiker, Professor em. für Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Religionsgeschichte der Neuzeit, Begriffsgeschichte, Theorie historischer Zeiten, Geschichte der Zukunft. Veröffentlichungen u. a.: Zeitgärten. Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit (2020); Die Enthttps://doi.org/10.1515/9783110773217-015

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Autorinnen und Autoren

deckung der Zukunft (2., neu bearbeitete Auflage 2020); Die Zukunft des 20. Jahrhunderts. Dimensionen einer historischen Zukunftsforschung (Hg., 2017); Semantik der Leere. Grenzfragen der Geschichtswissenschaft (2009). Uwe-K. Ketelsen, Prof. Dr., Germanist, Prof. i. R für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Aufklärung, Forcierte Rechts-Literatur seit 1870, Theater, Arbeiterliteratur. Veröffentlichungen u. a.: Die „Gruppe 61“ im Banne der Traditionalität (Aufsatz, 2021); Was ist, das ist. Wolfgang Welts literarische Nachrichten aus dem kulturellen Prekariat im Ruhrgebiet (Aufsatz, 2017); Ein anderes Gretchen-Abenteuer. Das Ende der rhetorischen Poesiekonzeption und das fünfte Buch von Goethes „Dichtung und Wahrheit“ (Aufsatz, 2004); Ein Theater und seine Stadt. Die Geschichte des Bochumer Schauspielhauses (1999); Die politische ‚Rechte‘ in Deutschland und die Ästhetik: Zum Beispiel E. Jünger um 1930 (Aufsatz, 1996); Literatur und Drittes Reich (2. Aufl. 1994). Kristin Platt, PD Dr. habil., Sozialpsychologin und Kulturwissenschaftlerin, Mitgründerin und Leiterin des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum und Privatdozentin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Genozid- und Gewaltforschung; psychische und soziale Traumatisierungsfolgen bei Überlebenden politischer Gewalt; Ursachen individueller Aggression und Gewalt; Täterhandeln im Genozid; Kulturtheorie; Zeitkonzeptionen, Zukunftsvorstellungen und Gesellschaftsentwürfe 1900/1945. Veröffentlichungen u. a.: Die Namen der Katastrophe (erscheint 2022); Koloniale Vergangenheit – postkoloniale Zukunft? Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken (Hg. zus. mit Henning Melber, 2022); Fehlfarben der Postmoderne. Weiter-Denken mit Zygmunt Bauman (Hg., 2020); The Mediterranean Other – The other Mediterranean. Subaltern Perceptions, Interpretations and Representations (Hg. zus. mit Medardus Brehl und Andreas Eckl, 2019); Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich (zus. mit Mihran Dabag, 2. Aufl. 2016); Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubhaftigkeit. Überlebende des Holocaust in den Ghettorenten-Verfahren (2012). Fynn-Adrian Richter, M.A., Literaturwissenschaftler, Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg „Das Dokumentarische. Exzess und Entzug“ (GRK 2132) an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Katastrophenliteratur, Figur(ationen) des Letzten Menschen, Schreibszenenforschung, Literatur und Wissen, Anthropozän. Veröffentlichungen u. a.: Die Einschreibungen des letzten Menschen: (Proto‐)Anthropozän Reflexionen eines ‚Mini-Genres‘ am Beispiel von Arno Schmidt, Marlen Haushofer und Friedrich Dürrenmatt (Aufsatz, in Vorbereitung); Korrigieren. Eine medienphilologische Annäherung an Abrams’ und Dorsts S. (Aufsatz, gem. mit Felix Hasebrink und Vanessa Klomfaß, in Vorbereitung); Bild-Werden. Zur Ästhetik der ‚posthumanen Situation‘ in Michel Gondrys „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ (Aufsatz, 2020). Monika Schmitz-Emans, Prof. Dr., Literaturwissenschaftlerin, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Literaturen der westlichen Sprachräume in vergleichender Perspektive, Fragen der Poetik, insbesondere der Autorenpoetik, Studien zu Literatur und Bildmedien sowie zur Buchmaterialität.

Autorinnen und Autoren

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Veröffentlichungen u. a.: Zeitungstheater. Über Bühnen und Akteure von Humorblättern und Comicbeilagen um 1900 (2020); Enzyklopädische Phantasien. Wissensvermittelnde Darstellungsformen in der Literatur – Fallstudien und Poetiken (2019); Wendebücher – Spiegelbücher. Über Kodexarchitekturen in der Buchliteratur (2018); Die Eroberung des Bildraums. Lyonel Feininger als Karikaturist und Comiczeichner (2018); Handbuch Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst. Ein Kompendium (2019), Wendebücher – Spiegelbücher. Über Kodexarchitekturen in der Buchliteratur (2018). Lasse Wichert, Dr., Komparatist und Politikwissenschaftler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Literatur und politische Gewalt; Mythentheorie, insbesondere Politische Mythen; Narratologie, Diskurs- und Kulturgeschichte; Literatur der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus; Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus; Politische Science Fiction. Veröffentlichungen u. a.: Erfahrung und Erwartung in Zukunftsromanen der Weimarer Republik (Aufsatz, erscheint 2022); Personale Mythen des Nationalsozialismus. Die Gestaltung des Einzelnen in literarischen Entwürfen (2018); Geopolitik und Raumordnung in Karel Čapeks Science Fiction-Roman Der Krieg mit den Molchen (Aufsatz, 2010); Tatmensch aus dem Wiesental – Albert Leo Schlageter – Mythos und Narrativ (Aufsatz, 2010). Stefan Willer, Prof. Dr., Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Zukunftswissen; Kulturgeschichte von Genealogie, Generation und Erbe; Sprach- und Übersetzungstheorien; Beziehungen zwischen Literatur und Musik. Veröffentlichungen u. a.: Selbstübersetzung als Wissenstransfer (Mithg., Berlin 2020); Oper und Film. Geschichten einer Beziehung (Mithg., München 2019); Zukunftssicherung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (Mithg., Bielefeld 2019); Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens (Mithg., Paderborn 2016); Erbfälle. Theorie und Praxis kultureller Übertragung in der Moderne (Paderborn 2014).