Potemkinsche Dörfer der Idylle: Imaginationen und Imitationen des Ruralen in den europäischen Literaturen 9783839442814

Idyllic rural life or mirage? This volume questions the paradox relationship between an idyllic lifestyle and village li

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German Pages 350 Year 2018

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Potemkinsche Dörfer der Idylle: Imaginationen und Imitationen des Ruralen in den europäischen Literaturen
 9783839442814

Table of contents :
Editorial
Inhalt
Einleitung
Idyllenreferenzen in der Postmoderne. Sorokin, Barnes, Houellebecq
Rurale ›Randzonen‹ der Geschichte. Das ukrainische Dorf als (anti-)idyllischer Erinnerungsort in Maria Matios’ Romanen
Landschaftskonzeptionen. Vom arkadischen Landschaftsbild zum dynamischen Landschaftsgeschehen
Das Dorf. Eine Übersetzungsgeschichte (Goldsmith, Crabbe, Droste-Hülshoff)
Der Widerstand einer Gattungspoetik. Adam Naruszewiczs Idylle FOLWARK
Patois, Emotional Ties, and the Peasant Question. Staging the Rustic in 1760s Russia
Idiomatische Idylle. Translingualität und Oralität in Wincenty Dunin-Marcinkiewiczs SIELANKA
Realism as Technique. Idyll, Allegory, and the Melancholic Gaze in Gogol’s STAROSVETSKIE POMESHCHIKI (OLD-WORLD LANDOWNERS)
›Bewirtschaftete Natur‹ ‒ Idyllisches im Roman CHŁOPI (DIE BAUERN) von Władysław Reymont
Das zionistische Idyll in der polnisch-jüdischen Literatur der Zwischenkriegszeit
Im Irrealis der Idylle. Die polnische Brueghel-Ekphrastik zwischen Zeugenschaft und Metapoetik
Fliegen in der Milch
Blindfleck Belarus
Autorinnen und Autoren

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Yaraslava Ananka, Magdalena Marszał ek (Hg.) Potemkinsche Dörfer der Idylle

Rurale Topografien  | Band 5

Editorial Rurale Topografien erleben nicht nur gegenwärtig in den medialen, literarischen und künstlerischen Bilderwelten eine neue Konjunktur – sie sind schon seit jeher in verschiedensten Funktionen ganz grundsätzlich am Konstituierungsprozess sowohl kultureller als auch individueller Selbst- und Fremdbilder beteiligt. Imaginäre ländliche und dörfliche Lebenswelten beeinflussen die personale und kollektive Orientierung und Positionierung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Räumen. Dabei entwerfen sie Modelle, mit denen individuelle und gesamtgesellschaftliche Frage- und Problemstellungen durchgespielt, reflektiert und analysiert werden können. Auch in ihren literarischen Verdichtungsformen und historischen Entwicklungslinien können sie als narrative und diskursive Reaktions-, Gestaltungs- und Experimentierfelder verstanden werden, die auf zentrale zeitgenössische Transformationsprozesse der Koordinaten Raum, Zeit, Mensch, Natur und Technik antworten. Damit wird auch die Frage berührt, wie eine Gesellschaft ist, war, sein kann und (nicht) sein soll. Die Reihe Rurale Topografien fragt aus verschiedenen disziplinären Perspektiven nach dem Ineinandergreifen von künstlerischer Imagination bzw. Sinnorientierung und konkreter regionaler und überregionaler Raumordnung und -planung, aber auch nach Möglichkeiten der Erfahrung und Gestaltung. Indem sie die Verflechtungen kultureller Imaginations- und Sozialräume fokussiert, leistet sie einen Beitrag zur Analyse der lebensweltlichen Funktionen literarisch-künstlerischer Gestaltungsformen. Ziel der Reihe ist die interdisziplinäre und global-vergleichende Bestandsaufnahme, Ausdifferenzierung und Analyse zeitgenössischer und historischer Raumbilder, Denkformen und Lebenspraktiken, die mit den verschiedenen symbolischen Repräsentationsformen imaginärer und auch erfahrener Ländlichkeit verbunden sind. Die Reihe wird herausgegeben von Werner Nell und Marc Weiland. Wissenschaftlicher Beirat: Friederike Eigler (Washington, D.C.), Dietlind Hüchtker (Leipzig), Sigrun Langner (Weimar), Ernst Langthaler (Linz), Magdalena Marszałek (Potsdam), Claudia Neu (Göttingen), Barbara Piatti (Basel), Marc Redepenning (Bamberg), Bernhard Spies (Mainz) und Marcus Twellmann (Konstanz)

Yaraslava Ananka, Magdalena MarszaŁek (Hg.)

Potemkinsche Dörfer der Idylle Imaginationen und Imitationen des Ruralen in den europäischen Literaturen

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Volkswagenstiftung

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Inhalt

Einleitung Das Dorf und die Idylle

Magdalena Marszałek | 7

*** Idyllenreferenzen in der Postmoderne Sorokin, Barnes, Houellebecq

Werner Nell | 19 Rurale ›Randzonen‹ der Geschichte Das ukrainische Dorf als (anti-)idyllischer Erinnerungsort in Maria Matiosʼ Romanen

Nina Weller | 57 Landschaftskonzeptionen Vom arkadischen Landschaftsbild zum dynamischen Landschaftsgeschehen

Sigrun Langner | 89

*** Das Dorf Eine Übersetzungsgeschichte (Goldsmith, Crabbe, Droste-Hülshoff)

Marcus Twellmann | 109 Der Widerstand einer Gattungspoetik Adam Naruszewiczs Idylle FOLWARK

Erik Martin | 137 Patois, Emotional Ties, and the Peasant Question Staging the Rustic in 1760s Russia

Alexei Evstratov | 155

Idiomatische Idylle Translingualität und Oralität in Wincenty Dunin-Marcinkiewiczs SIELANKA

Yaraslava Ananka | 187 Realism as Technique Idyll, Allegory, and the Melancholic Gaze in Gogolʼs STAROSVETSKIE P OMESHCHIKI (OLD-W ORLD L ANDOWNERS )

Kirill Ospovat | 219

*** ›Bewirtschaftete Natur‹ ‒ Idyllisches im Roman CHŁOPI (DIE B AUERN ) von Władysław Reymont

Birgit Krehl | 249 Das zionistische Idyll in der polnisch-jüdischen Literatur der Zwischenkriegszeit

Alina Molisak | 275 Im Irrealis der Idylle Die polnische Brueghel-Ekphrastik zwischen Zeugenschaft und Metapoetik

Heinrich Kirschbaum | 295

*** Fliegen in der Milch

Alhierd Bacharevič | 325 Blindfleck Belarus

Yaraslava Ananka und Nina Weller im Gespräch mit dem belarussischen Autor Alhierd Bacharevicč und seinem Übersetzer Thomas Weiler | 337

*** Autorinnen und Autoren | 343

Einleitung Das Dorf und die Idylle Magdalena Marszałek

Die »potemkinschen Dörfer der Idylle« im Titel des Bands pointieren ironisch das widerspruchsvolle Verhältnis von Idylle und Dörflichkeit, stehen ja die legendären potemkinschen Dörfer – ob historisch korrekt, sei dahingestellt – für Trugbild und Täuschung. Ländliche Landschaften stellen die UrTopographie der Idylle dar, was keineswegs bedeutet, dass die Idylle die Mimesis des ländlichen Lebens zum Ziel hat. Zwar lassen sich Momente einer an Realien interessierten Beobachtung der ländlichen Welt nicht nur in der Landschaftsbeschreibung, sondern auch – gelegentlich – im Entwurf der Figuren bereits in der gattungsfundierenden Dichtung Theokrits sowie Vergils erkennen, die Zeichnung der Landschaftskulissen und die Hirten-Sujets der Idylle sind aber seit ihren antiken Ursprüngen den Regeln einer hochartifiziellen Konstruktion unterworfen. Im »Verhältnis zur Wirklichkeit« entdeckt Renate Böschenstein »das Hauptproblem« der Idylle seit der Antike (Böschenstein-Schäfer 1977: 11). Während in den IDYLLEN Theokrits die Spuren realer Topographien Siziliens noch erhalten sind, stellt Arkadien als Topographie von Vergils EKLOGEN (BUCOLICA) ein rein poetisches, erfundenes Reich der Dichtung dar. Im Wettsingen der Hirten ist bei Theokrit eine dichterische Nachahmung des ritualisierten Spiels, d.h. eines praktizierten Brauchtums zwar erkennbar, zugleich präsentiert sich das Spiel aber als eine vom bäuerlichen Alltag der Hirten, der Sklaven-Hirten wohlgemerkt, komplett abgelöste Inszenierung. Bei Karl-Heinz Stanzel heißt es: »Theokrit läßt keinen Zweifel daran, daß es sich bei seinen Hirten um Sklaven handelt. [...] Obwohl die soziale Seite des Sklavenstandes immer wieder zur Sprache

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kommt und damit Theokrit Gelegenheit hätte, diesen Aspekt schärfer zu fassen und zu verdeutlichen, beläßt er es bei Andeutungen, da er an sozialen Fragen sicherlich nicht interessiert ist.« (Stanzel 1995: 71) Seit der Renaissance – so Wolfgang Iser – gewinnt die Schäferdichtung »einen exterritorialen Charakter« und die Bukolik »erweist sich als ein gattungstranszendierendes System«, das auch »die totale Übersetzbarkeit der gesellschaftlichen Ordnung ins Schäferleben« erlaubt, wobei die »Schäferwelt als ein Gegenbild verstanden wurde, das alles das ermöglichte, was die soziale Realität verweigerte« (Iser 1991: 59). Es gehört zu den Paradoxien der Gattung, dass die an »sozialen Fragen« nicht interessierte Idylle Topoi des ›glücklichen Lebens‹ hervorbringt und seit der frühen Moderne immer wieder Allianzen mit utopischen Gesellschaftsideologien eingeht. Iser entdeckt aber im Artifiziellen der antiken Hirtendichtung vor allem eine Matrix des Poetischen: Das in der 10. EKLOGE Vergils zum Inbegriff der Dichtung erhobene Arkadien will er nicht mehr als »eine geistige Landschaft«, sondern als »die Selbstrepräsentation der Poesie« verstehen (ebd.: 66), denn bei Vergil »inszenieren sich dann die Hirten schon als Dichter oder [...] die Dichter als Hirten« (ebd.: 64f.). Das Verständnis der Idylle als ›Urszene‹ des Poetischen wirkt bis in die spätmodernen Verhandlungen des Literarischen hinein – nicht zuletzt verbunden mit der Frage nach der Macht und Ohnmacht der literarischen Imagination angesichts der historischen Katastrophen und der Selbstzerstörungskraft der modernen Zivilisation. Splitter der bukolisch verfassten Ländlichkeit spielen dabei eine für die Aktivierung des Gattungsgedächtnisses entscheidende Rolle. Nach dem Verschwinden des pastoralen Genres, das seinen Höhepunkt in der Hirtendichtung des 18. Jahrhunderts hatte, wirkt die Idee des Idyllischen in der Literatur und Kunst, aber auch im Alltag – z.B. in der trivialisierten Form als touristisches ›Landidyll‹ – weiter. Von der Idylle als Denkbild spricht Böschenstein (2001). So interessiert sich die jüngere Idylle-Forschung weniger für die Gattungsfragen als für die Idee des Idyllischen sowie ihre Figurationen und Modalitäten (vgl. auch Poggioli 1975, Wedewer 1986, Schenck 1988). Das Idyllische als Idee bzw. Denkbild überdauert den Tod der Gattung (in Literatur und Kunst) und wandert bis heute – als Motiv, Trope oder intertextuelle Evokation – durch unterschiedliche künstlerische Formen und Schreibweisen. Das Idyllische kann dabei seine traditionelle Topographie, das Ländliche, verlassen, und sich auch in der Stadt einnisten: im

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städtischen Garten oder in den urbanen Innenräumen. Es kann in die Abgeschlossenheit der Kleinfamilie abwandern oder in die erinnerte Welt der Kindheit. Die besondere Affinität des Idyllischen zur Ländlichkeit resultiert bereits daraus, dass die idyllische Dichtung von Beginn an mit dem Wunsch des Rückzugs aus dem städtischen Raum – Alexandria bei Theokrit und Rom bei Vergil – verbunden war. Die Idylle entspringt geradezu der urbanen Sehnsucht nach einem ›einfachen‹ und ›glücklichen‹ Landleben. Sie bleibt ein Denkbild des Evasiven und somit oft eine Figur des melancholischen oder narzisstischen Rückzugs. Rolf Wedewer (1986) definiert das Idyllische in erster Linie als retrospektiven – und in diesem Sinne melancholischen – Entwurf eines verlorenen Paradieses des ursprünglichen, einfachen Lebens in Unschuld und Geborgenheit. Das Idyllische geht somit mit der Wirklichkeitsflucht bzw. Wirklichkeitsverkennung einher, da es einen raumzeitlichen Stillstand für sich reklamiert und somit auch auf die Erkenntnis verzichtet. So verstanden artikuliert sich in der Idee des Idyllischen als fragloser Selbstverständlichkeit eines ›natürlichen‹ Lebens eine existenzielle und epistemische Überforderung des modernen Menschen. Der evasiven Sehnsucht der – wie Markus Twellmann (2016) bemerkt – sozial Privilegierten verdankt sich eine umfangreiche Landliteratur, die nicht nur die Idylle als Gattung, sondern auch andere Varianten der literarischen Lobrede aufs Land umfasst, die in den GEORGICA Vergils ihren Ursprung nehmen und im Laufe der Zeit ein reiches Schrifttum über das Wirtschaften auf dem Lande, über Ackerbau, Bienenzucht, Baumpflege usw. hervorbringen. Und da es sich dabei um einen bis heute ununterbrochen produktiven Wunsch des ›urbanen‹ bzw. des ›modernen‹ Menschen handelt, idealisierte periphere Räume des Rückzugs zu (er-)finden, »veraltet auch die Landliteratur nicht« (Twellmann 2016: 72). Das Idyllische entfaltet in der Moderne aber auch ein utopisches Potenzial und geht Allianzen mit verschiedenen ideologischen Programmatiken des Sozialen ein. Böschenstein spricht von utopisch-idyllischen Entwürfen, die zugleich – wie sie mit Rekurs auf Ernst Blochs ARKADIEN UND UTOPIEN (1968) argumentiert – als »Korrektiv der totalitären Tendenzen rationaler Sozialutopien« wirken können (Böschenstein 2001: 119). Für solche utopischidyllischen Denkbilder von auf Freundschaftlichkeit, Hilfsbereitschaft und Konfliktvermeidung aufbauenden ›kleinen‹ Gesellschaften stehen in der Literaturgeschichte u.a. Samuel Gessner sowie Jean-Jacques Rousseau. Das Mustergut von Clarens in Rousseaus JULIE OU LA NOUVELLE HÉLOÏSE (1761)

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stellt eine aufklärerische agrarische Utopie nach der Schule der Physiokraten dar. Idyllisch-utopisches Denken, das das Landleben bevorzugt, es dem Urbanen entgegensetzt und aufwertet, lässt sich später nicht nur in verschiedenen Varianten des politisierten Agrarianismus finden, sondern schwingt auch in den politischen Projekten zur Umsetzung agrarischer Utopien im 20. Jahrhundert mit: etwa in der sozialistisch kollektivierten Landwirtschaftsform der Kolchose oder in der zionistisch-sozialistischen Kibbuz-Idee. Zwar ist das Idyllische kaum noch in den realisierten agrarischen Utopien zu finden – man denkt nur an die ans Mörderische reichenden Gewaltpraktiken der kommunistischen Kollektivierung – dafür aber reichlich in Literatur, Film und Malerei des spießigen sozialistischen Realismus. Die Idee des Idyllischen oszilliert zwischen dem Wunsch nach dem Rückzug ins ›einfache‹ und ›natürliche‹ Leben, der auch in Biederkeit umkippen kann, sowie utopischen Entwürfen eines harmonischen gesellschaftlichen Zusammenlebens, die durchaus Diagnose und Kritik des Status quo implizieren, Reformkonzepte ersinnen, politische Wirksamkeit entwickeln können, sich aber dabei auch ideologisch vereinnahmen lassen. Es ließe sich behaupten, dass die Persistenz idyllischer Denkbilder in der Kulturgeschichte aufs Engste mit der ebenfalls unversieglichen Kraft kultureller Imaginationen des Ländlichen verbunden ist. Kulturelle Bilder und Repräsentationen des Dörflichen bzw. Ländlichen sind bekanntlich von jeher städtischen Ursprungs und können sehr weit von den realen – historisch, regional und sozial immer schon ausdifferenzierten – Formen des Landlebens abweichen. Das Dorf existiert vor allem als Projektionsfläche urbaner Sehnsüchte, Wünsche bzw. Ängste. Die binäre Opposition ›Stadt vs. Dorf/Land‹ fungiert bis heute als eine wirksame imaginäre Struktur, die das Dorf als das Andere der städtischen bzw. modernen Zivilisation markiert, was die Vorstellungen über das Dörfliche – sei es als Imaginationen eines ›besseren Lebens‹ oder aber einer dystopischen ›Gegenwelt‹ – zum inhärenten Bestandteil urbaner Selbstverständnisse werden lässt (vgl. u.a. Andersson/Jansson 2010: 128). Die ›idyllische‹ Idee des Dorfs und seiner harmonisch kooperierenden Gemeinschaft war in der Kulturgeschichte – und ist bis heute – eine produktive Quelle für Projekte des sozialen Glücks. Nicht zuletzt hat diese Idee die mächtige Vision eines global village hervorgebracht: einer durch die elektronische Vernetzung zu einer ruralen Idylle schrumpfenden Welt. Wie Fred Turner (2006) zeigt, fand Marshall McLuhans einflussreiche Metapher eine ›Realisierung‹ im digitalen Utopismus des Silicon Valley in den 1990er

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Jahren; dabei hat der Glaube an das World Wide Web als Rüstzeug für eine ideale – dezentralisierte, freie und harmonische – globale Gesellschaft seine Wurzel in der Faszination für neue und eine bessere Welt versprechende Technologien der urbanen Aussteiger (Hippies), die in den 1960er und 70er Jahren in ihren ländlichen Kommunen McLuhan gelesen haben. Der digitale Utopismus wich inzwischen der Befürchtung, in einer Wirklichkeit angekommen zu sein, die eher einer dystopischen Phantasie entspringt: Die Idylle eines digitalen globalen Dorfs verkehrt sich gegenwärtig in eine Anti-Idylle der selbsterzeugten, allgegenwärtigen kybernetischen Steuerung und Kontrolle.

*** Der Einbruch des Realen, darunter des Geschichtlichen, in die geschützte Abgeschlossenheit der Idylle ist mit ihrem Ende gleichbedeutend. Das eingangs angesprochene schwierige Verhältnis der Idylle zur Wirklichkeit provoziert weitere Fragen nach dem Zusammenhang von Idylle und Dorf bzw. vom Idyllischen und Dörflichen. Wie viel Dörflichkeit verträgt die Idylle als Gattung und als Denkbild? Was vom realen Landleben findet in die idyllische Imagination Eingang? Was passiert mit dem Idyllischen, wenn das Dörfliche darin nicht ausschließlich als eine stilisierte Kulisse dient? Inwieweit bereichern das Idyllische und das Dörfliche in Literatur, Kunst und im Alltag einander und wann zerbricht das eine an dem anderen? Dass die Idylle als literarische Gattung durchaus realitätsmimetisch und somit auch sozialkritisch operieren kann (bzw. konnte), hat Renate Böschenstein in ihren Analysen der deutschen Idylle aufgezeigt (vgl. BöschensteinSchäfer 1977: 94-106). Die Idylle der Aufklärung – vorzugsweise bei Johann Heinrich Voß (1751-1826) – formuliert explizit eine scharfe FeudalismusKritik. Der gattungskonventionelle Rahmen der Idylle dämmt dabei den kritischen oder gar umstürzlerischen Impetus seiner Dichtung. Bei dem englischen Dichter George Crabbe (1754-1832) kippt die Idylle allerdings unter dem Gewicht sozialer Kritik bereits in eine Anti-Idylle: »Einen solchen radikalen Umbruch kennt die Geschichte der deutschen Idylle nicht.« (Ebd.: 94) In der polnischen Literatur ist die Spannung zwischen Idealbild und Kritik bereits in den Idyllen der Renaissance und des Frühbarocks spürbar, das heißt in der Zeit der Kodifizierung der Gattung. Dies gilt insbesondere für

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Szymon Szymonowic (Simon Simonides, 1558-1629), den Gründer der Gattung in der polnischen Literatur, der die polnische Genre-Bezeichnung sielanka (von sioło: Dorf) geprägt hat. In der altpolnischen Literatur verschmilzt also rein lexikalisch die Idylle mit dem Dorf. Vielmehr aber erzeugt das Dorf in der Idylle gleichsam anti-idyllische Schwingungen. In Szymonowicʼ an Theokrit angelehntem Idyllen-Zyklus SIELANKI (1614) fällt vor allem das Gedicht ŻEŃCY (Erntearbeiter) durch seinen antifeudalen Impetus auf: Zwei leibeigene Bäuerinnen beklagen in beinahe naturalistischen Bildern ihre harte Arbeit, ihr Leiden sowie die zornige Gewalt des Aufsehers auf dem Feld. Dass diese sielanka Szymonowicʼ – trotz des wenig idyllischen Inhalts – immer noch eine Idylle bleibt, dafür sorgen die Lieder der Bäuerinnen, mit denen sie letzten Endes den Hofökonomen besänftigen und sich selbst trösten. In dieser Spannung liegt eine Paradoxie der Thematisierung des Dörflichen in der Idylle und an ihr wird die Gattung der (dörflichen) Idylle letzten Endes zerbröckeln. Die Annäherung der Idylle an die Wirklichkeit – so lässt sich literaturhistorisch konkludieren – geht mit der Reflexion, Ironisierung und letzten Endes auch Verabschiedung des Genres einher. Wird die Idylle im 18. Jahrhundert der Hypokrisie und Beschönigung beschuldigt, so löst sich die Gattung im 19. Jahrhundert gerade in der Dorfliteratur gänzlich auf. In den späten 1840er Jahren proklamierte der russische Literaturkritiker Wissarion Belinskij mit großem Enthusiasmus die neue »Natürliche Schule«, wobei er die Wende von der Idylle zur realistischen Dorfliteratur bildhaft beschrieben hat: Anstelle der »Schäfer und Schäferinnen der französischen Autoren des 18. Jahrhunderts«, die »Musterbeispiele für die Darstellung russischer Bauern und Bäuerinnen« (»mitsamt ihren rosa und himmelblau bebänderten Strohüten«) abgaben, treten in der neuen Literatur »Bauern in Bastschuhen und Röcken aus hausgewebten Tuch« auf: »[O]ft riecht man schon aus der Ferne den Fusel, ein Weib wie ein Zentaur, an der Kleidung lässt sich nicht gleich erkennen, welchen Geschlechts das Wesen ist, dunkle Winkel, Brutstätten des Elends, der Verzweiflung und des Lasters, zu denen man durch knietiefen Schmutz über den Hinterhof gehen muss […] – das Ganze in […] nackter Wahrheit nach der Natur kopiert.« (Belinski 1962: 65f.) Aber auch nach dem Ende der Idylle wird die Idee des Idyllischen – wenn auch oft nur als Reminiszenz – in der Dorfliteratur weiterleben. Aus komparatistischem Interesse lässt sich nach den verschiedenen Wegen der Transformation bzw. der Tilgung und des Wiederauflebens der Idylle

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in den verschiedenen Literaturen fragen: Während in den westeuropäischen Literaturen bereits in der Frühmoderne eine ›Verbürgerlichung‹ und somit auch ›Urbanisierung‹ der Idylle ansetzt, lebt das Idyllische im stärker feudalagrarisch geprägten Osteuropa noch lange im 19. Jahrhundert vor allem als Topos der adligen Gutshof-Literatur weiter. Die sozialkritische Dorfliteratur wiederum verwandelt im 19. Jahrhundert die bis dahin mit der Idylle durchaus zu vereinbarende Anklage des (nicht-idyllischen) bäuerlichen Landlebens in eine vernichtende Kritik und programmatische Zerstörung der idyllischen Illusion. Die Anti-Idylle verselbständigt sich und wendet sich gegen den Idylle-Kanon. So stehen sich in den osteuropäischen Literaturen – bis in das 20. Jahrhundert hinein – die adlig-idyllische Dörflichkeit und die bäuerliche Anti-Idylle als zwei konträre und unzertrennbar miteinander verbundene Thematisierungen des Dörflichen entgegen. Kulturhistorisch gesehen handelt es sich aber dabei keineswegs um ein symmetrisches Dasein. Insbesondere in der polnischen Kultur, die vom Landadel (szlachta) und der sich primär aus dem verbürgerlichten Landadel rekrutierenden Bildungsschicht entscheidend geprägt wurde, stellt der idyllische Topos des ländlichen Gutshofs ein vielschichtig kodiertes kulturelles Zeichen und einen besonderen Erinnerungsort dar. Dieser Topos teilte das Schicksal von vielen anderen europäischen Topoi idyllischer Ländlichkeit, die sich als politisch produktiv für die Konstruktionen idealisierter (regionaler oder nationaler) Volksgemeinschaften erwiesen haben. Das Bild des adligen Gutshofs als idyllischer locus amoenus avancierte in der polnischen Kultur zum Inbegriff einer idealisierten Polonität. Die Politisierung der Idylle im Dienste des Nationalen, die mit der Aufklärung und Frühromantik ansetzt, ist aber auch mit der Hinwendung der ›empfindsamen‹ Schreiber zum Volk und zur Folklore verbunden. In der polnischen Literatur entsteht – als Gattungsvariante – eine nationale Idylle als Effekt der Vermengung idyllischer Gutshof-Topoi mit Bildern eines idealisierten ›einfachen‹ Volks: Wenn die polnisch bzw. regional (belarussisch, ruthenisch) sprechenden und gekleideten Bauern die Hirten verdrängen, tendiert die idyllische Konvention zur Idealisierung des Ethnischen.1 Im 20. Jahrhundert wird das Idyllische, darunter auch das Idyllisch-Dörfliche, als kulturelle Folie noch in einem anderen Kontext wirksam, nämlich in der Literatur der historischen Katastrophe. Da in das fragile Glück Arkadiens immer schon seine Bedrohung eingeschrieben ist, gehören Bilder der

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Vgl. zur Geschichte der polnischen Idylle Witkowska 1995.

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bedrohten bzw. zerstörten Idylle zum Repertoire des literarischen Katastrophismus. In der polnischen Lyrik der 1930er Jahre war es vor allem Józef Czechowicz (1903-1939), der in den idyllischen Landschaften der Provinz Zeichen der nahenden Katastrophe erblickte. Tropen des Idyllisch-Naiven finden sich reichlich in den Gedichten Czesław Miłoszʼ aus den Jahren der deutschen Okkupation: ŚWIAT. POEMA NAIWNE (Die Welt. Naive Poeme) betitelt Miłosz ein Gedichtzyklus aus dem Jahre 1943. Auch in den literarischen Zeugnissen der Shoah-Überlebenden – in der polnischen Literatur etwa in den Erzählungen von Ida Fink oder Henryk Grynberg – wird immer wieder auf Elemente idyllischer Bildlichkeit zurückgegriffen. In der Konfrontation eines arkadischen (oft dörflichen) locus amoenus mit der Wirklichkeit der Katastrophe wird ihre Grausamkeit hervorgehoben. Zugleich wird im Rückgriff auf die im Artifiziellen längst erschöpfte idyllische Konvention die Nicht-Adäquatheit literarischer Darstellungsmittel angesichts der entfesselten Gewalt reflektiert. Das Idyllische in der katastrophischen und postkatastrophischen Literatur wirkt unvermeidbar ironisch – alleine durch die Evozierung einer Welt ›wie sie sein sollte‹ in der Wirklichkeit der Vernichtung. Marek Zaleski, der den »Echos der Idylle« in der polnischen Literatur der Moderne und Spätmoderne eine Monographie gewidmet hat (Zaleski 2007), erinnert daran, dass die Idylle von Beginn an – seit Theokrit – mit ihren Ritualen und Verkleidungen »mit dem sorgfältigen Verdecken des ›schwarzen Lochs‹ in der symbolischen Ordnung beschäftigt ist« (»Idylla zajmuje się skrzętnym przesłanianiem ›czarnej dziury‹ w porządku symbolicznym«, ebd.: 13). In der Literatur der Katastrophe erscheint das Idyllische lediglich als Reminiszenz jener ›Sorgfältigkeit‹ der ästhetischen Konvention. Die ›naiven‹ Tropen des Idyllischen bergen aber auch in sich eine Hoffnung auf die Restitution des Sozialen nach der Katastrophe, da mit dem Idyllischen immer auch eine ihm immanente Ethik des sozialen Friedens aufgerufen wird.

*** Unser Band widmet sich – einerseits in einer komparatistischen Perspektive, andererseits mit einer Schwerpunktsetzung auf osteuropäische Literaturen – den Spuren des Idyllischen in den literarischen Dorfdarstellungen sowie (als interdisziplinärer Exkurs) in den kulturellen Mustern der Landschaftswahrnehmung. Gleichzeitig fragen wir auch umgekehrt nach den Erscheinungs-

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formen des Dörflichen bzw. Ländlichen in den europäischen Gattungstraditionen der Idylle und in den vom Idyllischen gefärbten Schreibweisen. Den Band eröffnen Beiträge zu Fragen des Idyllischen in der Gegenwart. Werner Nell stellt in seiner Studie zu »Idyllereferenzen« bei Vladimir Sorokin, Julien Barnes und Michel Houellebecq die Frage nach Möglichkeiten und Funktionen des Idyllischen in Texten, die Hoffnungen und Verwerfungen der Moderne aus der Perspektive einer desillusionierten Postmoderne – sei es kritisch-ironisch, sei es affirmativ oder destruktiv, sei es provozierend – aufgreifen. Dabei geht es nicht nur um lediglich poetologische Fragen, sondern primär um eine Reflexion des Potenzials jener Rückgriffe auf das inzwischen gänzlich dekonstruierte Idyllische mitsamt seiner Affinität zum Utopischen als Kritik oder gar Korrektiv bzw. Gegenentwurf zur Selbstzerstörungskraft der Moderne. In den Romanen der ukrainischen Gegenwartsautorin Maria Matios findet Nina Weller wiederum Schichten dörflicher – gebrochener – Idyllik, die sich nicht nur als (nach wie vor) produktive Quelle für die Imagination der nationalen Identität erweist, sondern sich auch flexibel genug zeigt, um die Narrative über die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mythogen auszugestalten, und dabei interessanterweise – wenn auch nur im konsensfähigen Rahmen – Schulddiskurse zu integrieren. Alltagswahrnehmungen der ›idyllischen‹ Landschaft sind Ausgangspunkt von Sigrun Langners Diskussion des heutigen Verständnisses von Landschaft als »dynamisches Geschehen« in der Landschaftsplanung. Die fünf darauffolgenden Beiträge befragen Verbindungen von Idylle und Dörflichkeit in deutscher, englischer, französischer, russischer, polnischer sowie polnisch-belarussischer Literatur vom 17. bis zum 19. Jahrhundert – mit einem besonderen Interesse an transkulturellen sowie translingualen Verflechtungsprozessen in Folge literarischer Rezeption, Aneignung und Übersetzung. Markus Twellmann geht den Anfängen der deutschen Dorfgeschichte nach und verweist auf die Bedeutung der Übersetzungen der älteren englischen Dorfdichtung für die Entstehung dieser Gattung (am Beispiel der Dichtung und Prosa von Annette von Droste-Hülshoff). Erik Martin untersucht eine Gutshof-Idylle des polnischen Aufklärers Adam Naruszewicz als Nachdichtung einer Idylle von Salomon Gessner; eine Nachdichtung, die nicht nur Prosa in Vers transponiert, sondern den Prä-Text entsprechend ›akkulturiert‹. Alexei Evstratov nimmt die Rede der Bauern im russischen, an französische Vorbilder angelehnten sentimentalen Drama vor dem Hintergrund der ersten kritischen Diskussionen um die Leibeigenschaft in den

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Blick. Yaraslava Ananka wiederum analysiert Effekte translingualer Rede in einer Idylle-Operette des polnischen Spätromantikers Wincenty Dunin-Marcinkiewicz, der zugleich als ›Vater‹ der belarussischen Literatur gilt. Kirill Ospovat befragt das Idyllische in Gogolʼs Erzählung GUTSBESITZER AUS ALTER ZEIT im Verhältnis zur Allegorie und Melancholie. Drei weitere Beiträge widmen sich den Erscheinungsformen des Idyllischen in der polnischen Literatur im 20. Jahrhundert: Birgit Krehl fragt – vor dem Hintergrund der spezifischen adligen Tradition der polnischen Idylle, in der das Bukolische mit der Ideenwelt von Vergils GEORGICA verschmilzt – nach den Idyllisierungsstrategien in dem erfolgreichsten (im Jahre 1924 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten) modernen polnischen Dorfroman: DIE BAUERN von Władysław Reymont. Alina Molisaks Beitrag gilt wiederum der wenig bekannten zionistischen Literatur in polnischer Sprache und ihrem idyllisch-utopischen Agrarianismus. Heinrich Kirschbaum analysiert eine auf die Zeit der deutschen Okkupation zurückgreifende Erzählung von Jarosław Iwaszkiewicz vor dem Hintergrund einer faszinierenden Konjunktur des Ikarus-Motivs und des Ikarus-Gemäldes Brueghels in der polnischen Nachkriegsliteratur. Der Band schließt mit einem literarischen Essay des belarussischen Autors Alhierd Bacharevič, der autobiographisch-poetisch über das komplexe Phänomen Dorf in der belarussischen Kultur nachdenkt: u.a. über das prekärsymbiotische Verhältnis von Dorf und Stadt, die Bedeutung des Dorfs für die belarussische Sprache und eine neue pastorale Sehnsucht der Belarussen. Im Anschluss daran veröffentlichen wir das Gespräch mit Alhierd Bacharevič und seinem deutschen Übersetzer Thomas Weiler, das von Yaraslava Ananka und Nina Weller geführt wurde.

*** Die Herausgeberinnen danken der Volkswagenstiftung für den großzügigen Druckkostenzuschuss. Für die Mithilfe bei der Redaktion und der technischen Einrichtung der Texte danken sie Albrecht Dreißig.

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Idyllenreferenzen in der Postmoderne Sorokin, Barnes, Houellebecq Werner Nell

Zu Paul Valérys fünfzigstem Todestag im Jahr 1995 hat der Bremer Romanist Peter Bürger in einem Essay die Differenzierungsmöglichkeit von Moderne und Postmoderne dahingehend bestimmt, »dass die Rede von der Postmoderne nicht etwa das Ende der Moderne, sondern deren Orientierungslosigkeit anzeigt.« (Bürger 1995) »Strittig«, so Bürger weiter, »ist einzig die Frage, wie man sich dazu stellt: Ob man sich in dieser Situation einrichtet, sie gar als Befreiung vom Dogmatismus der Moderne feiert, oder ob man weiterhin nach Orientierung sucht – und das heißt sich Gedanken über den Zustand und die Entwicklung der Gesellschaft macht, in der wir leben. Wer der zweiten Ansicht zuneigt, der wird nach Gestalten Ausschau halten, die ihm hilfreich sein können.« (Ebd.)

In der hier angesprochenen Blickrichtung und Intention sind dann aber nicht nur Beobachter wie Montaigne und Künstler/Kritiker wie Valéry zu erkennen, denen es bei ihrem Versuch einer Selbstverortung in den Aufbruchsbewegungen und anschließenden Umbruchserfahrungen zur Moderne darum ging, einen jeweils zur Zeit angemessenen Standpunkt zu finden. Vielmehr lassen sich darauf bezogen auch weitere Autoren/Künstler benennen, denen angesichts der zeitgenössisch gegebenen Vielzahl und Unbestimmbarkeit von Entwicklungen und Deutungsansprüchen eine solche auf Eindeutigkeit hin angelegte Zuordnung und Selbstpositionierung gerade unter den Bedingungen einer postmodernen Rahmung nicht nur nicht mehr gelingen will,

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sondern auch gar nicht mehr zugänglich erscheint bzw. als Forderung sogar obsolet geworden ist. Mit Rückbezug auf eine Formulierung Theodor W. Adornos hat Ulrich Beck im Jahr 2014 bei seiner Würdigung der Postmoderne-Kritik Zygmunt Baumans »die Erlösung von den Hoffnungen der Vergangenheit« (Beck 2014) als den ebenso schmerzhaften wie ggf. auch irritierenden und im Einzelfall aber auch weiterführenden Ausgangspunkt einer Postmoderne bestimmt, die gerade im kritischen Rückbezug auf diese Hoffnungen nicht einfach deren Verabschiedung betreibt. Ihre Funktion besteht vielmehr in ihrer Diagnose eines sich mit der Moderne zugleich aufmachenden Abgrunds der »Herstellung« von Ordnung um den Preis gründlicher Zerstörung ggf. alles Abweichenden. Aus einer solchen Übersicht von Leistungen und Zerstörungen der Moderne bezieht die Postmoderne dann auch ihre Ambivalenz (Bauman 1992: 99-132), nicht nur im Blick auf die Möglichkeiten eines technischen Fortschritts (um jeden Preis?), sondern eben auch im Blick auf die Leistungen der Kultur und die Festigungen eines wie immer genauer zu bestimmenden »Humanen«. »Ein zentrales Charakteristikum […] [ist] die Fähigkeit der Moderne, Destruktivität und Inhumanität effizient zu organisieren.« (Beck 2014) Damit treten unter der Signatur der Postmoderne die mit den Hoffnungen der Moderne verbundenen Potentiale zur Gewalttätigkeit ebenso in den Blick wie die Unverzichtbarkeit der in diesen Hoffnungen immer noch und immer wieder offensichtlich angesprochenen Vorstellungen eines humanen Lebens (für alle).1 Bereits Schiller hatte in seiner geschichtsphilosophischen Abhandlung ÜBER NAIVE UND SENTIMENTALISCHE DICHTUNG (1795) den Standort der Idylle eben im Zusammenhang dieser Fragestellung nicht nur vor aller Zeit (und Gesellschaft) gesehen: »[S]o haben die Dichter den Schauplatz der Idylle aus dem Gedränge des bürgerlichen Lebens heraus in den einfachen Hirtenstand verlegt, und derselben ihre Stelle vor dem Anfange der Kultur in dem kindlichen Alter der Menschheit angewiesen […]« (Schiller 1992: 769, Hervorhebung im Original), sondern dieser zugleich auch den Ort und die

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Diese Erfahrung macht vielleicht gerade in ihrem Wissen um die Mehrdeutigkeit und ggf. Begründungsbedürftigkeit jedweder allgemeinerer Positionen den Rekurs auf lebensweltliche und die individuelle Lebensführung betreffende Vorstellungen einer »Lebenslehre« im Umgang mit sich selbst und anderen erneut attraktiv; vgl. Foucault 1986; Welsch 1991: 319-328; Balmer 2008; Bakewell 2012.

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Funktion einer Projektion auf die Zukunft zugewiesen: »[E]in solcher Zustand findet nicht bloß vor dem Anfange der Kultur statt, sondern er ist es auch, den die Kultur, wenn sie überall nur eine bestimmte Tendenz haben soll, als ihr letztes Ziel beabsichtigt.« (Ebd.) Eine Zukunft freilich – so die Erfahrung der Moderne2 –, in der die Stillstellung der Geschichte sowohl höllische als auch paradiesische Ausmaße annehmen kann. Denn gerade vom Standpunkt einer auch mit der Perspektive der Postmoderne verbundenen reflektierten Sistierung der Zeit aus (vgl. Welsch 1991: 247) stellen sich die beiden bei Schiller, aber auch bei Beck angesprochenen und im Kunst-Bild der Idylle zunächst ausgeschlossenen Dimensionen der Vergangenheit und der Zukunft als zwei gleichermaßen weit entfernte bzw. nahe gelegene Einsatzpunkte eines Kreises dar, dessen Mittelpunkt die Vorstellung einer »Erlösung«, eines Enthobenseins aus den Verläufen und Zumutungen der Zeitlichkeit bildet. Damit ist freilich nicht mehr nur der Standpunkt eines gegenwartsbezogenen Beobachters in jenem historischen Verständnis und Zwiespalt benannt, den Schiller im Blick auf eine als »naiv« bestimmte Vorstellung der Vergangenheit als »sentimentalisch« bezeichnet (Schiller 1992: 768).3 Mit dieser aus einer jeweiligen Gegenwärtigkeit (vgl. Zimmer 2010) heraus gestalteten bzw. bestimmten Verschlingung von Vergangenheit (Rekonstruktion) und Zukunft (Konstruktion) wird vielmehr unter den Bedingungen der Postmoderne ein Punkt erkennbar, der sowohl auf einen Ort außerhalb jeder Zeit verweist: »Erkenntnis«, so Theodor W. Adorno, »hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.« (Adorno 1951: 333) als auch zugleich eine Leerstelle anspricht, die sich mit den seitens der Moderne aufgebotenen Möglichkeiten ihrer Füllung: Sinn, Produktivität, Fortschritt, Gerechtigkeit und/oder Freiheit alleine nicht mehr gestalten lässt. »Die Moderne«, so Zygmunt Bauman, »ist ein gesellschaftlicher Zustand des zwanghaften und süchtig machenden Planens.« (Bauman 2005: 46)

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Vgl. dazu die verschiedenen Beiträge, namentlich von Jan Philipp Reemtsma, Zygmunt Bauman, Claus Offe und Ulrich Beck, und die dort wiedergegebenen Diskussionen in Miller/Soeffner 1996.

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Vgl. dazu die noch immer wichtigen Ausführungen bei Szondi 1978.

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Es macht nun aber gerade auch den Charakter einer gleichsam gegen die Moderne gerichteten Form wie der der Idylle aus, dass auch sie sich als Konstruktion verstehen lässt – Schiller spricht vom »Zweck« der Idylle, der rein technisch darauf ausgeht, »den Menschen im Stand der Unschuld […] und von außen darzustellen.« (Schiller 1992: 770) Allerdings machen die damit verbundene Künstlichkeit der Ortsanlage 4 und die mehr oder weniger konstitutive Ausblendung der Zeitdimensionen nicht nur gattungsgeschichtlich ihre Form aus: »Der dahinter sich verbergende Versuch, die Zeit aus der menschlichen Existenz auszuschließen, ist wohl der interessanteste Gesichtspunkt, unter dem die Idylle betrachtet werden kann.« (Böschenstein 1967: 9), sondern ermöglichen es auch, Erscheinungsformen und Nutzungsmöglichkeiten der Idylle jenseits eines linear gedachten Zeitverlaufs mit Aspekten der Postmoderne zu verbinden. Denn auch ansonsten gehören sowohl der Konstruktionscharakter als auch die zeitliche Sistierung (sei sie anachronistisch, in Form unendlicher Wiederkehr und Kreisläufe oder auch als Spielanlage mit deliberativer oder kontingenter Reihung)5 ebenso zu den zentralen Merkmalen einer Literatur der Postmoderne wie sie sich, so bereits oben bei Schiller angesprochen, auch über Bild-Technik herstellen bzw. dann auch als Technik verstehen lassen (vgl. Wuthenow 1974; Dierse 1976; Mix 2009). Ob und in welcher Weise sich dabei die Ausgestaltung des literarisch entworfenen Bildes in der Idylle aus Materialien des Alltags speist, sich also auf einen Bildvorrat beziehen kann, der seine Korrelation in den Dingen der Welt hat, oder ob es sich dabei »in einer bestimmten Weise« 6 um eine Ansammlung, Anordnung von Sprachmaterial handelt, also die Ausgestaltung eines Textes in der Umsetzung einer literarischen Technik besteht, kann dabei für die Idylle als Gattung und in einzelnen Texten ebenso wenig entschie-

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Vgl. »Verschiedene Baumarten, Vogelgesang, das Zirpen der Zikaden, das Gurren der Tauben, das Bienengesumm variieren die Anmut solcher Orte. [...] Der Charakter des Abgeschirmten, Eingegrenzten, Geborgenen bestimmt den Raum der Idylle.« (Böschenstein 1967: 8)

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Die Beispiele reichen hier von Julio Cortázar RAYUELA (1963) über Walter Abish HOW GERMAN IS IT? (1980) und Umberto Eco L’ISOLA DEL GIORNO PRIMA (1994) bis Thomas Pynchon AGAINST THE DAY (2006).

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Für die Möglichkeiten aus der Etymologie einmal richtig: »Art und Weise« und einmal falsch: »Bildlichkeit« abzuleiten, vgl. Böschenstein 1967: 2-4.

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den werden, wie diese Ununterscheidbarkeit gerade von Texten der Postmoderne in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Machart für sich in Anspruch genommen wird, ja deren Textualität ebenso wie ihren Weltbezug ausmacht. 7 Zumindest bieten sich diese beiden Aspekte auch dazu an, nach den Möglichkeiten und Funktionen von Referenzen zur Idylle in Texten zu fragen, in denen Ansprüche, Hoffnungen und Verwerfungen der Moderne aus einer Perspektive der Postmoderne aufgenommen und ggf. kritisch oder ironisch, affirmativ oder destruktiv, mitunter vielleicht auch nur provokativ und/oder unterhaltend gestaltet werden bzw. zu erneuter Reflexion Anstoß geben können.

I. Insbesondere im Blick auf solche Leitfiguren auf dem Weg zur Moderne wie der oben bereits angesprochene Michel de Montaigne aber auch Erasmus von Rotterdam und François Rabelais hat jüngst der Sozialwissenschaftler Werner van Treeck den neuzeitlichen Einsatzpunkt dessen, was dann im 18. Jahrhundert als ein im Fortschreiten begriffener Prozess der Aufklärung, seit dem 19. Jahrhundert in einer selbstreflexiven Betrachtung als »Moderne« und im 20. Jahrhundert in einer Art funktionaler Versachlichung als Modernisierung/Rationalisierung bestimmt wurde, so beschrieben: »Als buchstäblich verrückt muss sich erleben, wer die Erde aus ihrer Zentralstellung im Kosmos herausgerückt sieht. Der Horizont dessen, was Aufmerksamkeit erzwingt, erweitert sich unaufhörlich. […] Wenn die göttlich verbürgte Ordnung an Selbstverständlichkeit und Verbindlichkeit ihrer Geltung einbüßt, dann wird die Entwicklung neuer Ordnungsleistungen und Lebensentwürfe notwendig. Die Bemühungen um gesellschaftlich-moralische Sinngebung müssen zwischen alten Abhängigkeiten und neuen Autonomien hindurch, mit ambivalenten Wirkungen: Krisenerfahrung und erwachendes Selbstbewusstsein, angstvolles Nichtigkeitsgefühl und beflügelnde Neugier.« (van Treeck 2015: 61f.)

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Hanns-Josef Ortheil spricht hier von der »Tätigkeit eines Konstrukteurs« (Ortheil 1994: 131).

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Angesichts aktueller medialer und damit öffentlicher Inszenierung von Ignoranz, Ressentiment und Dominanzbegehren mögen dieser Orientierungsbedarf, das durch die Postmoderne in den Blick gerückte »Ende« der mit der Moderne verbundenen »großen Erzählungen« von Fortschritt, Emanzipation und Gleichberechtigung (vgl. Lyotard 1986: 112ff.), und die daran anschließende Leerstelle im Blick auf Sinnfragen und -antworten aktuell noch einmal dringlicher in Erscheinung treten als in jenen von der Ankunft der Postmoderne in Europa bestimmten Debatten der 1980er Jahre, in deren Zusammenhang Jürgen Habermas seine Zeitdiagnosen unter dem Stichwort einer »neuen Unübersichtlichkeit« vorgelegt hatte und damit vor allem auf die »Erschöpfung« der mit der Neuzeit einsetzenden, mit der Moderne verbundenen »utopischen Energien« hinzuweisen suchte: »Wir erfahren täglich, dass sich Produktivkräfte in Destruktivkräfte, Planungskapazitäten in Störpotentiale verwandeln. Deshalb nimmt es nicht wunder, daß heute vor allem jene Theorien an Einfluß gewinnen, die zeigen möchten, daß dieselben Kräfte der Machtsteigerung, aus denen die Moderne einst ihr Selbstbewußtsein und ihre utopischen Erwartungen geschöpft hat, tatsächlich Autonomie in Abhängigkeit, Emanzipation in Unterdrückung, Rationalität in Unvernunft umschlagen lassen.« (Habermas 1986: 144)

Wenn sich im Zuge der neuzeitlichen Ausdifferenzierung unterschiedlicher Handlungssysteme und Werthorizonte dann auch das Feld der Literatur in einer gewissen Teilautonomie erst selbst konstituieren konnte und sich dann auch wiederum in sich selbst ausdifferenzierte, so lassen sich, ausgehend von diesem Einsatzpunkt in den Umbruchsprozessen der Neuzeit und dann zur Moderne, auf der einen Seite auch literarische Formen feststellen, die versuchen, dieser Dynamisierung und Öffnung sozialer und auch biographischer und weltanschaulicher Zustände in der Form von Abenteuer-, Erziehungsund Entwicklungsromanen, in Fortschritts- und wohl auch Gelingenserzählungen (von Fénelon über Defoe und Rousseau bis zu Goethe) Rechnung zu tragen und Gestalt zu geben. Geschichten und Erfahrungen werden also erzählt oder auf andere Weise gestaltet, die von einer Welt in Bewegung nicht nur handeln, sondern diese aus der Perspektive eines Subjekts in Bewegung auch für Rezipienten gestalten, die ihrerseits in Bewegung sind und diese Bewegungen in zugleich vermittelbaren Formen sowohl zu fassen als auch zu beherrschen suchen (vgl. Berman 1988: 15-36; Wagner 1995: 23-45).

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Auf der anderen Seite geht es dabei aber auch um Textsorten und Topoi, Bilder und Bildgeschichten, die wie die Idylle, das Höhlengleichnis, die Gattung der Charakterschilderungen von Theophrast bis La Bruyère oder auch die Anekdote von Thales, der in eine Grube gefallen, von einer thrakischen Magd ausgelacht worden sein soll (vgl. Blumenberg 1987), zunächst einmal eine Grundkonstellation menschlicher Erfahrung und Befindlichkeit in ein Bild zu fassen suchen und damit diese auch in den Mittelpunkt stellen und immer wieder auch zum Ausgangspunkt von Weltdeutung und Subjektkonstitution nehmen können. Dabei geht es offensichtlich zunächst einmal um die Stellung des Menschen in der Welt (im Kosmos) und dann natürlich auch zu sich selbst. Texte und Bilder, ja Textsorten dieser Art können dabei gleichsam als Momentaufnahmen angesehen werden. Es handelt sich um Sistierungen, die gegenläufig zu den Prozessen des Umbruchs und der Dynamik an einer Konstellation festhalten bzw. einen Fixpunkt oder eine »Urszene« bestimmen wollen, um bspw. das Verhältnis zu Natur und Geschichte, aber auch zu anderen Menschen und zu sich selbst im Grundsatz zu debattieren. In diesen aus der Suche nach Fixierung gewonnenen Bildern geht es dann um die Erkundung von Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis und nicht zuletzt um die Rolle der Anschauung (theoria) im Blick auf die Welt und auch auf sich selbst. Allerdings lässt sich die bereits in der Anekdote von Thales erkennbare doppelte Beobachtung: der Philosoph, der den Himmel, die Magd, die den Philosophen beobachtet, auch als Reflexion auf einen Rahmen verstehen, die das Geschehen als ein Handeln in (eine) Geschichte und Situation einbringt, welche damit zugleich die Grenzen und die Statik des Bildlichen (eidyllion) sowohl benennt als auch überschreitet. Während der Philosoph, in Kants späterer Perspektive durch die »Erhabenheit der Gestirne« angezogen, vielleicht aber auch der bloßen Neugier verfallen, den Boden unter seinen Füßen aus den Augen und dann ganz verliert, ist es die Magd (aus der Fremde), die hier beides im Blick hat und die in der Folge die sowohl erstaunliche als auch unerwartete Lage des in den Brunnen gefallenen Philosophen mit einem Lachen quittiert. Sie rückt damit den Vorgang also noch einmal in einen anderen Rahmen ein, dynamisiert den Inhalt dieser Geschichte und führt ihn so auch einer weiteren Erkundung und Gestaltung, ja auch Reflexionschance zu.

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II. Rückblickend auf die Entwicklung einer auf Bewegung hin angelegten Literatur der Moderne lässt sich bei ihrer Suche nach zeitgerechten Gestaltungsmöglichkeiten und Entwürfen in ihrem weiteren Fortgang seit dem 18. Jahrhundert der Übergang von einer – um welchen Preis auch immer ermöglichten – Gelingensperspektive zu einer Literatur der Desillusion, schließlich auch der Desintegration beobachten, dem eine zunehmende Reflexivität, Komplexität und auch Unüberschaubarkeit, ja Dezentriertheit der Moderne korrespondieren. Demgegenüber lassen sich Platons Gleichnis, die Anekdote von Thales und so auch Theokrits Idyllen und andere Variationen des Bukolischen, ebenso aber auch die Bilder und Figuren der antiken Mythen und Epen, offensichtlich immer dann wieder aufnehmen, wenn nicht so sehr die historische und soziale Dynamik der Verhältnisse zur Gestaltung ansteht, sondern vielmehr gegenläufig zu diesen entweder nach invarianten Grundlagen gesucht oder eine durch die Dynamik erzeugte Unübersichtlichkeit auf eine Grundkonstellation zurückgeführt werden soll. Hinzu kommt, und insoweit ist die im Titel des Bandes angesprochene Verbindung von »Idyllen« und »Potemkinschen Dörfern« ausgesprochen signifikant, dass sich die Textsorten der Invarianz in der Form gerahmter Bilder sowohl zur Spiegelung und ggf. auch Kompensation einer durch gesteigerte »Flüchtigkeit« charakterisierten Erfahrung fortgeschrittener Moderne eignen als auch wie Terrarien oder Herbarien als Gestaltungsräume und Untersuchungsobjekte für experimentelle, also auf Probe wie auf Imagination gleichermaßen ausgerichtete Erkundungsräume nutzen lassen. Stellt sich »Moderne« in technikgeschichtlicher oder auch industriegesellschaftlicher Hinsicht seit dem 18. Jahrhundert vielfach als eine Einbahnstraße dar, wie sie von den Klassikern der Sozialwissenschaften (Max Weber, Georg Simmel, Herbert Spencer) in verschiedene Formeln gefasst wurde (vgl. Klages 1972: 111-123) und so wohl auch in das Alltagsbewusstsein und Selbstverständnis der Menschen in der Moderne für lange Zeit eingegangen ist, so stellen die diesbezüglichen Aussagen der Künstler gerade innerhalb des Zeitraums der sogenannten »klassischen« Moderne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitaus komplexere, unbestimmtere, z. T. gegenläufige und damit auch problematischere Angaben zur Verfügung. Baudelaires berühmte Bestimmung: »Die Moderne, das ist das Vorübergehende, das Flüchtige, das Zufällige, die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und

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Unabänderliche ist« (vgl. Baudelaire 1983: 286) von 1863 öffnet für die Relativität sowohl der eigenen Position als auch für eine darauf bezogene Annahme einer unendlichen Anzahl möglicher Welten, 8 für die Giordano Bruno im Jahr 1600 noch den Scheiterhaufen in Rom besteigen musste, ebenso die Augen wie der vielfach als Handlungsanweisung verstandene Imperativ Rimbauds »il faut être absolument moderne« gleichermaßen sowohl das Zeitgemäße als auch das zeitenthobene Absolute miteinander verbindet. Dass Hegel in diesem Zusammenhang zunächst als Feind der Idylle in Erscheinung tritt, der er die Stillstellung der Geschichte ebenso vorwirft wie die Reduktion der Welt und des Weltgeschehens auf bloße Gefühle und Stimmungen, einen Weltentwurf als »Privatzustand« (Berr 2013: 212) in ihr sieht, in dem zumal die Funktion der Arbeit an der Natur, die damit verbundene Erfahrung der Entzweiung und einer darauf bezogenen Vergesellschaftung des Menschen fehlt,9 weist ihn als Denker und Protagonisten eben jener Moderne aus, deren Parameter: Fortschritt/Geschichte, eine auch den Menschen transformierende Arbeit an der Natur, Vergesellschaftung und öffentliche Interaktion/Institution sowie funktionale Differenzierung nicht nur in der Idylle fehlen, sondern gerade gegenläufig auch dazu genutzt werden können, den Anachronismus der Idylle, ja ihre Funktionslosigkeit und ihr Fehlen in der Literatur der Moderne zu begründen – wenn man von Versuchen einer bürgerlichen Idyllen-Dichtung bei Gessner, Voß, Maler Müller und namentlich Goethe10 einmal ebenso absieht wie von deren funktionalistischem Gebrauch in Kitsch, Unterhaltungsshows und ideologischer Programmierung.

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Zur Kontextualisierung vgl. Gumbrecht 1978: 110-114.

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Im Blick auf die »neueste Zeit« (1823) schreibt Hegel: »Denn der ganze heutige Weltzustand hat eine Gestalt angenommen, welche in ihrer prosaischen Ordnung sich schnurstracks den Anforderungen entgegenstellt, welche wir für das echte Epos unerläßlich fanden […]. Die epische Poesie hat sich deshalb aus den großen Völkerereignissen in die Beschränktheit privater häuslicher Zustände auf dem Lande und in der kleinen Stadt geflüchtet, um hier die Stoffe aufzufinden, welche sich einer epischen Darstellung fügen könnten. Dadurch ist denn besonders bei uns Deutschen das Epos idyllisch geworden, nachdem sich die eigentliche Idylle in ihrer süßlichen Sentimentalität und Verwässerung zugrunde gerichtet hat.« (Hegel 1970: III, 414, Hervorhebung im Original)

10 »Als naheliegendes Beispiel eines idyllischen Epos«, so Hegel an der soeben zitierten Stelle weiter, »will ich nur […] an Goethes Meisterwerk, Hermann und

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Wenn Jean Paul in seinem SCHULMEISTERLEIN WUTZ (1791) den Ansatz zu einer »Art Idylle«11 unternimmt, so beginnt er ganz bewusst mit dem hierfür notwendigen Ausschluss der nächstliegenden Umstände ebenso wie dem von Geschichte, Gesellschaft und zumal auch der Reflexion: »Jetzt aber, meine Freunde, müssen vor allen Dingen die Stühle um den Ofen, der Schenktisch mit dem Trinkwasser an unsre Knie gerückt und die Vorhänge zugezogen und die Schlafmützen aufgesetzt werden, und an die grand monde über der Gasse drüben und ans Palais royal muss keiner von uns denken…«. (Jean Paul 1975: 422)

In dem Maße freilich, in dem dieser Ausschluss gefordert, gedanklich vollzogen wird und also gleichzeitig doch nicht erfolgt, bleibt auch hier eine doppelte Beobachtung, nicht zuletzt auf der Ebene der Bilder und Beobachtungen des begleitenden Erzählers, erhalten. Sie bietet darüber hinaus geradezu die Folie, vor der die Armseligkeit der sozialen Verhältnisse, die (vielleicht bewusste) Eingeschränktheit des Geistes als Bedingung eines ›vergnügten‹ Lebens und die unauflösbare Todesverfallenheit eben dieses Lebens angesprochen und in Bilder gefasst werden können. Gerade sie ermöglichen es in dieser »Art Idylle« dann auch, Fragen des Sozialen (also auch der Arbeit und der Geschichte) in Verbindung mit moralistischen Annahmen und metaphysischen Versprechungen zu zeigen (vgl. Tismar 1973: 14-18) und in diesem Zeigen, in diesem Entwurf dann auch noch ein sprachkünstlerisches Gebilde zu schaffen, das im Zuge einer Ästhetik der Moderne (vgl. ebd.: 29-33) – gleichsam geradezu ohne weitergehenden Sinn – schon als Form Bestand haben bzw. einen ästhetisch für sich selbst stehenden Wert annehmen könnte.

Dorothea, erinnern. […] Denn meisterhaft hat Goethe die Revolution, obschon er sie zur Erweiterung des Gedichts aufs glücklichste zu benutzen wußte, ganz in die Ferne zurückgestellt und nur solche Zustände derselben Handlung eingeflochten, welche sich in ihrer einfachen Menschlichkeit an jene häuslichen und städtischen Verhältnisse und Situationen durchaus zwanglos anschließen. Was aber die Hauptsache ist, Goethe hat für dieses Werk mitten aus der modernen Wirklichkeit Züge, Schilderungen, Zustände, Verwicklungen herauszufinden und darzustellen verstanden, die in ihrem Gebiete das wieder lebendig machen, was zum unvergänglichsten Reiz in den ursprünglich menschlichen Verhältnissen […] gehört.« (ebd.: 414f., Hervorhebung im Original) 11 So der Untertitel der Erzählung; Jean Paul 1975: 422.

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Natürlich war die Moderne nicht nur Modernisierung, sondern gerade im Blick auf die damit verbundenen künstlerisch-literarischen Unternehmungen, wie dies Marshall Berman nicht zuletzt an Goethes Faust gezeigt hat (vgl. Berman 1988: 37-86), immer auch auf Reflexion hin angelegt. Benjamins Verständnis der Allegorie gehört ebenso zum Deutungsinstrumentarium der Moderne wie seine auf dialektisches Lesen hin angelegten »Denkbilder« (vgl. Schlaffer 1973), und so auch die Bilder Kracauers von den »Straßen in Berlin und anderswo« (Kracauer 1987), nicht zuletzt die an Theophrasts und La Bruyères Charakterbilder anknüpfenden Fotographien August Sanders und das Genre einer auf Bildlichkeit hin angelegten Sozialreportage. Freilich zeigen diese Szenen aus der Welt und ihrem Objektbezug immer auch Geschichte, während die Idylle Kostüme und Masken und eine, wie es Norbert Elias am Schäferroman des 17. Jahrhunderts gezeigt hat, auf vermeintlich anthropologische, in der Regel gendertypologische Grundlagen reduzierte, idealisierte und in ihren Sozialverhältnissen verkleidete Gesellschaft anbietet. »Die Vergangenheit«, so Elias in seiner ursprünglich bereits 1933 fertig gestellten Studie zur Rolle des Schäferromans in der »höfischen Gesellschaft«: »[N]ahm den Charakter eines Traumbildes an. Das Landleben wurde zum Symbol der verlorenen Unschuld, der ungebundeneren Einfachheit und Natürlichkeit; es wurde zum Gegenbild des höfisch-städtischen Lebens mit seiner größeren Gebundenheit, seinen komplizierteren hierarchischen Zwängen und seinen stärkeren Anforderungen an die Selbstkontrolle des einzelnen Menschen.« (Elias 1969: 322)

III. Erst dort, wo die Gesellschaft in ihrer Selbstbeschreibung, und dies trifft dann im Besonderen auf die Gesellschaften in und seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts zu, auf die mediale, also auch bildlich-künstliche Repräsentation ihrer selbst zurückzugreifen sucht, um sich, wenn schon nicht im Realen, dann wenigstens in medialen, bildhaften Formen wahrnehmen bzw. fassen zu können, tritt die »stabilisierende« Funktion gerahmter Bildlichkeit – eben also der Rückbezug auf die Idylle oder auf Referenzen zu ihr – in ihrem Objektcharakter und zugleich als Gestaltungsmittel erneut in Erscheinung und

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kann so auch zu einem Feld und Medium gesellschaftlicher, literarischer Beschreibung, ggf. auch kritisch-reflexiver Erörterung werden. Jean Baudrillard (1929-2007), auf dessen 1978 erschienenen Aufsatz LA PRÉCESSION DES SIMULACRES Michel Houellebecq mit dem Titel seines 2011 erschienenen Romans LA CARTE ET LE TERRITOIRE anspielt, nimmt seinerseits zur Eröffnung seiner Überlegungen auf ein 1961 geschriebenes »Prosastück« des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges (1899-1986) Bezug, um seinen Gedankengang zu entwickeln. In dessen in verschiedenen Sammlungen seiner Erzählungen (u.a. Borges 1982) veröffentlichtem Text VON DER STRENGE DER WISSENSCHAFT wird die Geschichte eines Landes erzählt, in dem »die Kunst der Kartographie eine derartige Vollkommenheit« (Borges 1982) erreichte, dass Karten geschaffen werden konnten, die genauso groß und genauso detailliert waren, wie das Land selbst. Später, so berichtet der Chronist, wurden diese Künste vernachlässigt, die Karten »nicht ohne Verstoß gegen die Pietät, den Unbilden der Sonne und der Winter« ausgesetzt. »In den Wüsten des Westens«, so schließt die kurze Notiz, »haben sich bis heute zerstückelte Ruinen der Karte erhalten, von Tieren behaust und von Bettlern.« (Ebd.) Lässt sich Borges’ vielleicht ironische Erzählung12 von der Kunst des Kartenmachens und von deren Niedergang auch noch selbst in die Perspektive einer Wissens- und Wissenschaftsgeschichte einrücken, die sich selbst – wie diejenige der Neuzeit – in ein, wenn auch Konjunkturen und der Geschichte unterworfenes, so doch stabiles Abbild- und Folgeverhältnis zu einer vorgängig gedachten Wirklichkeit stellt, so sieht Baudrillard in einer von Medien und Simulationen nicht nur bestimmten, sondern eben auch geschaffenen Gegenwart die Verhältnisse geradezu umgedreht: »Die Karte«, so Baudrillard, »ist dem Territorium vorgelagert, ja sie bringt es hervor. Um auf die Fabel [Borges’ Geschichte, W.N.] zurück zu kommen, müsste man sagen, dass die Überreste des Territoriums allmählich Ausdehnung und Umfang der Karte annehmen. Nicht die Karte, sondern die Spuren des Realen leben hier und da in den Wüsten weiter, nicht in den Wüsten des REICHES, sondern in unserer Wüste, in der Wüste des Realen selbst.« (Baudrillard 1978: 8, Hervorhebung im Original)

12 Immerhin gibt Borges auch noch eine Quelle an: Suárez Miranda: Viajes de varones prudentes, IV. Buch, Kapitel XLV, Lérida 1658 (Borges 1982).

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IV. Im Folgenden wird anhand von drei Beispielen zu zeigen sein, wie die Stillstellung der Geschichte in den zeit- und gesellschaftsenthobenen Bildern der Idylle zum einen dazu genutzt werden kann, um in einer durchgängig von künstlich-künstlerischen Bildproduktionen und Narrativen geschaffenen ›Wirklichkeit‹ den Spuren des Realen in den Spiegeln künstlerischer Produktion nachzugehen, und zum anderen in diesen Spiegel-Bildern ggf. einen Reflexionsprozess anzustoßen, der sich im Einzelnen auch als Versuch bestimmen oder lesen lässt, gegenüber einer bewusst programmierenden, also ideologischen Herstellung der Welt einen Gegenentwurf zu schaffen. Dieser bestünde dann darin, gerade in den durchaus als künstlich erkennbaren Bildbezügen der Idylle jene Mechanismen und ggf. die Machttechnik wieder zu erkennen, auf deren Basis ›herrschende‹ Wirklichkeiten konzipiert, konstituiert, legitimiert und medial verbreitet werden – und damit eine Art kritische Reflexion aus dem Spiegelsaal unendlich repetierbarer Bilder anzustoßen. Dieser Ansatz wird freilich schon im ersten Beispiel durchaus strapaziert, denn der russische, dem Moskauer Untergrund der 1980er Jahre entstammende Künstler, Schriftsteller und Theatermacher Vladimir Sorokin (*1955) legte zumal in seinen Interviews aus den frühen 1990er Jahren gerade besonderen Wert darauf, keine politische Position zu haben. Vielmehr ordnete er sich pointiert den Moskauer Konzeptualisten zu, einer russischen (sowjetischen) Spielart der »Pop-Art« unter dem Motto »Subversion durch Affirmation«: »Wir waren unpolitisch gestimmt; wir haben über das gescherzt, was diese Leute ernst nahmen. Wir nannten unsere literarische Richtung ›SozArt‹. Es war praktisch ›Pop-Art‹ mit sowjetischen Stoffen und Inhalten. Das war unsere Form des Ästhetizismus.« (Sorokin 1993: 17) Nimmt man vor diesem Hintergrund den 1994 erschienen Roman ROMAN. ROMAN zur Hand, so irritiert nicht nur die Doppelung im Titel, also die damit angebotene Reflexionslücke und die Möglichkeit einer ja bereits in der Philosophie und Poesie der Romantik entwickelten Aufhebung einer Setzung durch deren Wiederholung. Dadurch werden die Fragen der Parodie, der Ironie, der Affirmation und Subversion, aber auch einer durch Regression/Rekursion zustande gekommenen »mise en abyme« mit diesem Titel zwar aufgeworfen, finden allerdings keineswegs eindeutige Beantwortung, zumal Sorokin selbst einen Wirklichkeitsbezug nahezu ausschließt und sich sogar eher affirmativ – zugleich damit aber subversiv – in einer Traditionslinie zur russischen Literatur

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des 19. Jahrhunderts verortet: »Roman ist der Name der Hauptfigur. Es ist ein Roman über eine große Liebe. Die sowjetischen Realien kommen darin kaum vor. Der Roman ist in der literarischen Sprache des 19. Jahrhunderts geschrieben, in der Sprache Turgenjews. Es ist eine ernsthafte Bemühung um die klassische Tradition.« (Ebd.) Entsprechend zeigt sich dies auch im nahezu idyllischen Beginn des umfangreichen Romans, der zunächst einmal, zwischen Parodie und Plagiat angelegt, alle Versatzstücke versammelt, die gemeinhin einen russischen Roman des 19. Jahrhunderts ausmachen und die dann auch innerhalb der nun folgenden, über weite Strecken parodistisch angelegten Liebes- und Dorfgeschichte immer wieder aufgenommen werden. In deren Verlauf finden denn auch die beiden Protagonisten Roman und Tatjana zueinander, was neben einer Schilderung des russischen Dorfes, wie wir sie auch von Tolstoi, Turgenjew, Bunin oder Gogol kennen, dann auch hier den Raum dazu eröffnet, Geschichten aus der Banja, volkskulturelle Bräuche und Lieder anzubieten und – als Höhepunkt – einer ›echt‹ russischen Hochzeit beiwohnen zu können: »Nichts Schöneres auf Erden«, so beginnt der Roman, »als ein verwilderter russischer Friedhof am Rande eines kleinen Dorfes. Still, von fern kaum zu gewahren, liegt er unter dichten Birkengruppen, verliert sich im Gestrüpp von Weißdorn, Holunder und grauem, seit Jahren nicht mehr abgemähten Grase, welches bis an die Hüfte reicht, wie eine Mauer an Stelle des einstmals hier vorhandenen Zauns.« (Sorokin 1995: 7)

Unscheinbar, aber genau, wird im nächsten Abschnitt dieser Einstimmung bereits auch ein Leser bzw. ein Beobachter konstituiert und damit verbunden auch schon die Funktion der Idylle als eine bildhafte Rahmung und Renaturierung des Gesellschaftlichen benannt: »Der Wanderer, welcher zufällig auf dem schmalen Feldwege vorüberkommt, bemerkt diesen eigentümlichen Zaun, errichtet von Mutter Natur als Ersatz für den zerfallenen, den einst von Menschenhand geschaffenen, bemerkt das schiefe, doch immer gastfreundlich offenstehende Tor, die unauffällig zwischen den dicken Birkenstämmen hervorschimmernden Kreuze, welche den Schritt ungewollt verlangsamen lassen oder gar zum Innehalten zwingen.« (Ebd.)

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Der Friedhof, später von einer dunklen Gewitterwolke überschattet, wird damit nicht nur als ein Ort der Entschleunigung und des Stillstandes erkennbar, das idyllische Ambiente füllt diese Funktion noch weiter aus und schließt sie an die Friedhofsschilderung bspw. in Ivan Bunins Roman DAS DORF (1917) an. Die Idylle des Friedhofs, selbstverständlich zumindest ebenso doppelt kodiert wie der Name dieses Heterotopos selbst, zeigt sich damit als geschlossen bildhafter, also entsprechend auch allegorisch zu lesender Gegenentwurf zu einer ebenfalls durch literarische Versatzstücke vermittelten Wahrnehmung historischer Realität, wie sie sich im stereotypen ebenso wie im ideologischen und auch künstlerischen Gebrauch des Bildfeldes ›russisches Dorf‹ auch ansonsten in diesem Text feststellen lässt. Gleichsam im Muster eines poetischen Realismus beginnt hier voller Affirmation nicht nur ein Liebesroman. Vielmehr besteht der Roman im weiteren Verlauf der Geschichte aus einer Aneinanderreihung imagologischer Versatzstücke aus der russischen Literatur und aus entsprechenden volkskulturell ausgerichteten kulturologischen Arbeiten und Diskursen seit dem 19. Jahrhundert, die insbesondere in den Umbruchszeiten der Perestroika und seitdem gerade auch in ideologischer Hinsicht wieder eine Neuformulierung und Wiederauflage erfahren konnten bzw. können (vgl. Scherrer 2003). Dementsprechend breit wird neben der Liebesgeschichte den Landschaftsschilderungen und den Charakterzeichnungen einzelner Personen Raum gegeben. Allein die Schilderung der Verlobung und Hochzeit, inklusive der zahlreichen Lieder, Toasts und Reden, umfasst knapp zweihundert Seiten und bietet auch Platz für den einschlägigen Kurzschluss von Volks- und Nationalkultur auf der Basis eines gemeinsamen Religionsbezugs mit antisemitischer Auszeichnung, so wie ihn der Hochzeitsgast Anton Petrovič gegen Ende der Hochzeitsfeier noch einmal herstellt: »Slawenbrüder! Traurig, beispiellos traurig ist es, einsehen zu müssen, daß dieser wundervolle Tag verstrichen ist so wie tausend, Millionen andere Tage unseres Erdendaseins verstreichen. Alles, alles vergeht, sagte der Judäer Salomon. Doch etwas vergeht nicht – der Glaube, die Liebe, die Hoffnung und, wir fügen hinzu, die russischen Christen. Sie vergehen nicht und werden nicht vergehen in alle Ewigkeit […].« (Sorokin 1995: 546)

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Durch den Rekurs auf eine behauptete Tradition wie durch deren ideologische Beschwörung soll so der Einbruch der Zeit in die Idylle der Dorfhochzeit abgewehrt bzw. ausgeschlossen werden. Zunächst weisen weitere Wiederholungen des »nicht Vergehens« und insgesamt die rhetorische Ausgestaltung dieser Rede auf eine Nähe von Volkstumsideologie und populistischer Mobilisierung hin. Darüber hinaus aber lässt sich die übermäßig dicht gesteppte Decke der Wörter, so auch an anderen Stellen des Romans, als eine Überdeckung des ›Nichts‹ und der davon ausgehenden ›Angst‹ lesen, die zum einen anthropologisch-philosophisch einen Nihilismus der Weltwahrnehmung sowohl verstecken soll als auch zugleich – und ggf. widerwillig – anzeigt. Die Stillstellung der Zeit im Bild, so wird es dann in den folgenden Sprach-Handlungen des Romans deutlich, erfolgt immer stärker durch Repetition von Sätzen, dann Satzteilen, schließlich Wörtern und durch die von ihnen getragenen Bildbereiche, zuletzt nur noch als Sprach- und Bildfetzen. Dass, ob und in welchem Maße dieser für die Postmoderne, wie dies Roland Barthes in seiner Studie zu dem französischen Historiker Michelet gezeigt hat, charakteristische »Überschuss des Signifikanten« (Barthes 1980: 13) zum anderen doch auch als Kritik zu verstehen ist, als eine Reflexion oder Subversion des für die totalitären Systeme ebenso wie für die postsowjetische Realität maßgeblichen Überformens der Wirklichkeit durch ideologisierten Sprachgebrauch im Sinne einer Schaffung Potemkinscher Dörfer durch die Erfindung und Durchsetzung idiosynkratischer Sprachspiele, muss an dieser Stelle offen bleiben. Immerhin, im weiteren Verlauf des Romans kippt die bislang geschilderte Idylle ebenso wie das im Zuge der Hochzeitsfeierlichkeiten inszenierte Volksstück um: Zunächst ins Groteske, denn statt wie erwartet und allseits gewünscht, die Hochzeitsnacht zu vollziehen, widmen sich die beiden gerade getrauten Eheleute erst einmal ihren Geschenken und nutzen ein literarisches Sprachklischee nach dem anderen, einmal vordergründig um sich gegenseitig ihrer Liebe zu versichern. Zugleich aber steht im Hintergrund die Angst, vielleicht auch Abscheu, vor einer intimen Begegnung: »Lassen sie uns jetzt wirklich allein? – fragte Tatjana.« (Sorokin 1995: 547) Kitsch und Klischee der Liebessemantik ironisieren die Liebesszene und dienen zunächst einmal auch dazu, den anstehenden, angeblich ersehnten ›Vollzug‹ der Ehe aufzuschieben. Das Geschenk eines Glöckchens und einer Axt: »In die Klinge war eingraviert: HAST AUSGEHOLT – NUN HACKE« (ebd.: 559) führt die Protagonisten dann aber auf einen weiteren Weg: Nach und nach locken sie die Gäste ihrer Hochzeitsfeier in ein Zimmer,

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um sie dort mit verteilten Rollen: sie klingelt – er hackt, zu ermorden. » – Was ist geschehen, meine Freunde? – fragte Anton Petrovič und drehte sich zu Roman, doch kaum hatte er sich herumgewandt, als ihm Roman mit aller Kraft die Axt ins Gesicht schlug.« (Ebd.: 561) Der Roman wandelt sich an dieser Stelle vom Volkstück, das mit der Idylle eines friedlichen Friedhofs begann, in das Skript eines Splatter Movies, das in immer gleicher werdenden Sätzen, dann Wiederholungen: sie klingelt, er »schlug ihm die Axt ins Genick« (ebd.) das anschließende Massaker am ganzen Dorf schildert, währenddessen sich die beiden frisch Vermählten immer wieder ihrer ewigen Liebe versichern: » – Du mußt immer bei mir sein, – sagte er. – Ich werde immer bei dir sein, – erwiderte sie und wischte vorsichtig einige Tröpfchen Blut und ein gelblich-rosa Stückchen Hirnmasse von seiner Wange.« (Ebd.: 574) Der Bericht wendet sich dann immer mehr der Zerfleischung der Körper zu und besteht zunehmend in einer Aneinanderreihung von Aussagesätzen: »Roman ging in die Kirche. Roman legte den Ziegelstein auf die Gedärme von Timofej Tverdochlebov. Tatjana klingelte mit dem Glöckchen«, (ebd.: 651), schließlich nur noch in deren immer schematischer werdenden Wiederholung und der blasphemischen Ausweitung der Kampfzone auf Ritualgegenstände und Ikonen aus der Kirche (ebd.: 662ff.). Zuletzt wendet sich die Gewalt auf und gegen die beiden selbst. Nachdem Roman auch Tatjana mit der Axt zerlegt und Teile von ihr gefressen hat (ebd.: 671ff.), beginnt der lange Prozess seines eigenen Sterbens, der über 34 Buchseiten hinweg lediglich noch aus der Aneinanderreihung von Aussagesätzen wie »Roman legte sich auf den Rücken. Roman streckte die Beine aus. […] Roman begann zu masturbieren. Roman ejakulierte sich ins Gesicht. Roman ließ die Beine sinken. Roman verrieb das Sperma im Gesicht. Roman stand auf. Roman ging nach rechts. […] Roman erbrach sich. Roman legte sich auf den Boden« (ebd.: 685) besteht und auf den letzten sechs Seiten dann nur noch Subjekt-Prädikat-Aussagen von der Art »Roman lachte. Roman wackelte« (ebd.: 691) wiedergibt und die schließlich mit dem letzten Satz »Roman starb« enden (ebd.: 695). Die Züge der Idylle, die Sorokin nutzt, um seinen sprachlichen Amoklauf auf den Weg zu bringen, sind ganz dem Papier entnommen und organisieren sie zu einem zunächst einmal ganz affirmativen Bild der russischen Gesellschaft, soweit es der literarischen Tradition zu entnehmen ist und wie sie auch den Ideologie besetzten Vorstellungen von Volkskultur und nationalkulturellem Kitsch unter aktuellen Vorgaben zugehören. Was dabei an

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sprachlichem Aufwand zu viel getan wird, wird aber auf der anderen Seite der hier gestalteten literarischen Kippfigur dann doch auch entweder als Ideologiekritik oder aber als nihilistisches Spiel mit der Sprache und anderen Symbolsystemen sozialer Totalität (oder als beides) erkennbar (Sorokin 1991). Ingeborg Harms hat im Blick auf die Gewaltdarstellungen des Marquis de Sade davon gesprochen, »der Abgesang auf die symbolische Ordnung« nehme hier »szenischen Charakter« an. »Seine sogenannten pornographischen Romane appellieren an die Vorstellungskraft, sie bedienen den inneren Gesichtssinn mit manierierten Arrangements. Zugleich überfordern sie die Einbildung durch ein Zuviel an Aggression.« (Harms 1994) Sorokin geht gleichsam den umgekehrten Weg: Zunächst weckt, leitet und täuscht er die Einbildungskraft durch das lockende, dann übermäßige Aufgebot von idyllischen und volkskulturellen Szenen, die in Zitaten und Parodien der ›großen‹ russischen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu einer Romanhandlung in einem scheinbar ganz dem poetischen Realismus zugehörenden Bezugs- und Gestaltungsmuster angeboten werden. In einem zweiten Schritt wird dann aber der Übergang zur Aggression, die durchaus in den geschilderten gesellschaftlichen Zusammenhängen und in der anthropologischen Ausstattung des Menschen ihren Ort und Ausgang hat, in einer immer minimaler werdenden sprachlichen Ausgestaltung nicht nur mitgeteilt, sondern durch Entzug von Ansatzpunkten für die Einbildungskraft gleichsam als Zumutung und Herausforderung inszeniert, repetiert und in ein ästhetisches Schema übertragen, das es zugleich darauf anlegt, Geduld und Vorstellungskraft zu strapazieren, ja auch selbst in Aggression zu verwandeln. Statt Signifikaten reihen sich nur mehr noch Signifikanten aneinander, die Bildkraft schwindet, Wörter folgen auf Wörter und verenden schließlich in der minimalsten Form einfacher Aussagesätze – ohne Bild, ohne Klang und auch letztlich: ohne Sinn. Auch dies mag als eine Form der Aggression verstanden werden können und im Sinne Baudrillards als Implosion eines sprachlichen Handelns zu sehen sein, das mit der Evokation sprachlich geschaffener Idylle einsetzt. In einem Überfluss bekannter, dann sich immer weiter abnutzender Wörter sucht dieser Text den programmatischen, durch Werbung ebenso wie durch politische Diskurse angereicherten, ja ins Unfassliche gedrehten ideologischen Überbietungen menschlicher Kommunikation einen Spiegel vorzuhalten, bevor er dann in einem Zusammenbruch des Erzählspiels selbst sein Ende findet. Die Idylle kippt in ein Splatter Movie und zeigt so den Konstruktionscharakter beider Formen ästhetischer

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Raumgestaltung. Freilich bleibt in postmoderner Perspektive die Frage des Referenzsystems offen, oszillierend zwischen ästhetischer Provokation und Gesellschaftskritik, einem literarischen Spiel mit Zeichen und Traditionsbezügen oder einer medial vermittelten (dadurch gebremsten oder verschärften?) literarischen und dann vielleicht auch gesellschaftlichen Aggression.

V. Stellt der idyllische Eingang bei Sorokin in diesem Sinne das Lockangebot für den Eintritt in eine literarisch gestaltete Mörderhöhle dar, oszillierend zwischen anthropologischen, sozialkritischen oder ästhetizistischen Deutungsmöglichkeiten, so nehmen die beiden anderen Romane mit ihren Rückbezügen auf die Bildlichkeit und Künstlichkeit der Idylle deutlicher die politischen und sozialen Programme und Projekt-Orientierungen fortgeschrittener Industriegesellschaften zum Ende des 20. Jahrhunderts in den Blick, die freilich im einen Fall als geschichtsphilosophisches und satirisches Erzählspiel (Barnes), im anderen Fall (Houellebecq) als kulturkritisch inszenierter Abgrund (ohne Hoffnung) gestaltet und ggf. interpretiert werden. Im Falle von Julian Barnes, auch hier sind der semantische Überschuss und damit die postmoderne, poststrukturalistische Reflexion des Verhältnisses von Signifikant und Signifikat bereits im Titel ENGLAND, ENGLAND (1999)13 angesprochen, geht es im buchstäblichen Sinn um eine Verdoppelung Englands. Da das alte England: das England der ›little Englander‹ mit seinen ländlich geprägten Landschaften und Menschen, gepflegten Gärten und Parks, seinen Seefahrer- und anderen Heldengeschichten, seinen Landwirtschafts- und Gartenausstellungen im Zuge der Modernisierungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer inzwischen postindustriellen Gesellschaft geworden war, nicht zu vergessen die sozialen Verwerfungen und räumlichen Zerstörungen der traditionellen Industriekulturen in den ›Thatcher-Jahren‹, scheint es für die inzwischen nahezu vierzigjährige Historikerin und Medienberaterin Martha Cochrane nur noch als Erinnerung übrig geblieben zu sein. Eine Erinnerung freilich, die ihrerseits durchaus ›Argwohn‹ und Unbehagen auslöst:

13 Im Folgenden zitiert nach der deutschen Ausgabe Barnes 1999.

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»Wenn eine Erinnerung kein Gegenstand war, sondern eine Erinnerung an eine Erinnerung an eine Erinnerung, parallel aufgestellte Spiegel, dann wäre doch alles, was einem das Gehirn jetzt von dem erzählte, was damals angeblich passiert war, von dem Geschehen der Zwischenzeit gefärbt. Wie bei einem Land, das sich auf seine Geschichte besinnt.« (Barnes 1999: 15)

Das oben angesprochene romantische Motiv reflexiver Spiegelungen wird hier ebenso aufgenommen wie die Möglichkeiten der »mise en abyme«. Nicht zuletzt findet sich auch die bereits bei Sorokin beobachtete Reihung der Gedanken und Beobachtungen in Parallelstrukturen sprachlicher Gestaltung wieder. Dies verbindet sich als Technik einer seriellen Herstellung von Wörtern und Sätzen nicht nur mit dem Verdacht, sondern geradezu mit dem Verfahren der Geschichtsklitterung und der Geschichtserfindung, wie sie mit den postmodernen Impulsen zur Stillstellung bzw. Auflösung linearer Geschichtskonstruktionen seit den 1980er Jahren verbunden ist (vgl. White 1991). Dass dann auch die Idylle nicht ganz weit ist, belegt Marthas nächste Überlegung: »Erinnert sich ein vom Leben enttäuschter an eine Idylle oder an eine Rechtfertigung dafür, dass sein Leben mit Enttäuschung endete? […] Immer schob sich ein Element der Propaganda, von Verkaufstaktik und Marketing zwischen den inneren und den äußeren Menschen.« (Barnes 1999: 15f.) Der postmoderne Verdacht nicht nur gegen den linearen Verlauf der Geschichte, sondern vielmehr die damit verbundene Skepsis gegenüber Erinnerungen und Geschichte im Ganzen und Allgemeinen, gegen individuelle Rekonstruktionen des eigenen Lebens im Besonderen, und die damit zugleich gebotene Chance, ja durch die Märkte angesonnene Verpflichtung sich selbst aufs Neue und immer wieder zu erfinden, führt Martha im weiteren Verlauf der Romanhandlung zunächst dazu, sich als Marketing-Expertin und historische Beraterin dem Themenpark-Projekt eines Multimillionärs anzuschließen, der auf der Isle of Wright das ›alte‹, durch Erinnerungen und Erzählungen konstituierte England angesichts eines Verfalls in der Realität in Form seines Landschafts- und Themenparks wieder herstellen will. Dieser bietet aber im weiteren Verlauf so viele Möglichkeiten, ist so attraktiv, dass immer weitere Bevölkerungsgruppen dort nicht nur ihre Freizeit, sondern eben ihr Leben verbringen wollen; selbst die Königin wird später dorthin ziehen, während das ›wirkliche England‹ im Zuge der weiteren Verlagerung des Landes auf die Insel nicht nur weiter verfällt, sondern am Ende auf eine leicht

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idyllische, vorindustrielle Gesellschaft zurückfällt, die aber angesichts der Ruhe- und Regressionsbedürfnisse Marthas immerhin für sie – und einige andere Aussteiger aus dem Themenpark einer postmodern inszenierten und vor allem vermarktet und verwalteten, erfundenen Vormoderne – aufs Neue an Anziehungskraft gewinnt. Zunächst aber sind es die idyllischen Bilder einer Landwirtschaftsausstellung, die sich bei ihr auf der Suche nach einer ›sicheren‹ Erinnerung einstellen und die gerade wegen ihrer ›schönen‹ Abgeschlossenheit ebenso erneut Fragwürdigkeit und Unruhe mit sich bringen: »Was könnte klarer und unvergessener sein als der Tag der Landwirtschaftsausstellung? Ein Tag mit frivolen Wölkchen auf seriösem Blau.« (Barnes 1999: 16) Wird so die Landwirtschaftsausstellung auch als ein Transit-Raum von der Realität in die Imagination und zurück im Medium einer durch Erinnerung, Lektüre, Familiennarrative und Ideologie konstituierten Idylle erkennbar, so setzt sich damit verbunden Unbehagen in den weiteren Erinnerungen und Erfahrungen fort, etwa an das Puzzle der Karte Englands und die Schwierigkeiten die einzelnen Puzzle-Stücke zu einem ganzen Bild zusammenzusetzen (vgl. ebd.: 13-15) oder auch hinsichtlich des obligatorischen Unterrichts in einer national konsistent ausgerichteten Geschichte Englands, wie sie herkömmlich in der Schule angeboten wird (vgl. ebd.: 21-25).14 Was freilich zunächst wie eine Art Lösung, ja Erlösung aus dem Unbehagen in der Moderne erscheint, die trickreiche und zugleich wie eine innerweltliche Eschatologie sich darstellende Transformation der eigenen Existenz in die künstliche und kunstvoll vollendete Welt des Themenparks »England« auf der Isle of Wright, in deren »Historic Sites« dann etwa mit der Inszenierung »Robin Hood und seine fröhliche Schar« das stattfindet (vgl. ebd.: 192ff.), was wir heute ohne jede Ironie und bspw. in der Tourismuswerbung bei der Erinnerung an die Völkerschlacht in Leipzig 2014 (vgl.

14 In parodistisch reduzierter Form wird dieser Ansatz einer Geschichte als Heimatkunde ›in Beschränkung‹ dann unter den Bedingungen einer Zukunft als Stillstand bzw. Regression gestaltenden Idylle wieder aufgenommen: »Der Schulmeister […] brachte […] seinen Schülern eifrig Bildung bei. Er lehrte sie die heimische Geologie, Volksballaden, die Herkunft der Ortsnamen, die Zugbahnen der Vögel und die Namen der sieben angelsächsischen Königreiche […]. Er machte mit ihnen Ausflüge […] und führte ihnen anhand von Illustrationen in Lexika altmodische Ringergriffe vor.« (Barnes 1999: 319)

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Haude 2015) oder im Zusammenhang fünfhundertjähriger Reformationsfeiern als ›re-enactment‹ erleben können, führt im Weiteren allerdings lediglich in die Zumutungen eines Lebens unter den Bedingungen der Moderne, der Konkurrenz und der Märkte, zurück. Angesichts dessen, dass auch in dieser Kunstwelt Machtkämpfe und alle anderen Laster weiter bestehen, wie Martha sie erlebt, findet sie am Ende zurück auf die ›große‹ Insel, die inzwischen ihren alten Namen »Anglia« wieder angenommen hat und dessen Lebensmöglichkeiten und Alltag sich inzwischen aufgrund des sozialen Verfalls und wirtschaftlichen Niedergangs auf die Welt der Idylle zu- oder zurückbewegen: »Es war Anfang Juni, eine Woche vor dem Dorffest, und das Wetter erweckte einen trügerisch sommerlichen Eindruck. Der Wind hatte sich gelegt, und träge Hummeln torkelten durch die nach trockenem Gras duftende Luft. Ein silberglänzender Kaisermantel kreuzte unbeschwert die Bahn des Großen Ochsenauges.« (Barnes 1999: 313)

»Auf dem Kirchhof«, und dies führt auch zurück auf den Romananfang Sorokins, »herrschte zwangloser Verfall, ein sanftes Nagen des Zahns der Zeit. Ein Wolkenbruch von Hexenzwirn verbarg, dass eine Flintsteinmauer sich gefährlich neigte.« (Ebd.) Allerdings fangen dann auch in dieser, zunächst zwangsweise durch Flucht, Unterentwicklung und wirtschaftlichen Niedergang stillgestellten, ja nahezu friedlichen Welt (der Idylle) die sozialen und ökonomischen Bestrebungen und die daraus folgende Unruhe wieder an. Es beginnt ein langsamer Wiederaufstieg des Gesellschaftlichen, sodass das Ende der Geschichte ebenso wie die Schilderung des Dorfes erneut ins Schwanken geraten: »Das Dorf war weder idyllisch noch dystopisch. Es gab keine bemerkenswerten Idioten […]. Wenn es Dummheit gab, […], dann die alte auf Unwissenheit beruhende, und nicht die neue, die aus Wissen hervorging.« (Ebd.: 333) Die alte Frage nach dem Status der Idylle, so wie sie sich bereits bei Schiller findet,15 taucht auch hier wieder auf: »Konnte man die Unschuld neu erfinden? Oder war sie immer ein Konstrukt, auf die alte Ungläubigkeit aufgepfropft?« (Ebd.: 345) und wird sowohl durch die räumliche als auch mediale Selbstbeschränkung auf eine letztlich ebenso bornierte wie philisterhafte Welt ebenso charakterisiert wie aus der Sicht des Romans parodiert bzw. ironisiert:

15 Vgl. Schiller 1992: 768-776.

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»Es war ein denkwürdiger Tag gewesen. […] Das Dorffest war jetzt eine feste Einrichtung; es schien bereits seine eigene Geschichte zu haben. In zwölf Monaten würde eine neue Maikönigin gekürt und neue Weissagungen würden aus Teeblättern gelesen werden.« (Ebd.: 346)

Marthas Erfahrungen wie auch der Roman enden so mit einer Unentschiedenheit, einem nicht besonders angestrengten Warten auf das was ggf. kommt. Martha befindet sich am Ende ihrer Karriere, wie dies Siegfried Kracauer für die Intellektuellen und Künstler nach den Erfahrungen des Weltkriegs zu Beginn der 1920er in seinem Essay DIE WARTENDEN beobachtet hat, in einem Zustand reservierter Selbstbeobachtung und vorsichtiger Geöffnetheit gegenüber dem, was möglicherweise als nächstes geschieht. 16 Von Fortschritt und linearem Geschichtsprozess ist keine Rede mehr, sodass es sich fast erneut um einen Aufenthalt in und zugleich außerhalb der Geschichte handelt: »Wieder kein Dachs, sondern ein Kaninchen, furchtlos und sich seines Reviers vollkommen gewiß. Martha Cochrane sah ihm ein paar Sekunden lang zu, dann stand sie auf und ging langsam den Hügel hinab.« (Ebd.: 346)

VI. Auch Michel Houellebecqs 2011 erschienener Roman LA CARTE ET LE TERRITOIRE17 berichtet von einem Ausstieg aus den durch Markt, Medien und Macht bestimmten Arenen der modernen Gesellschaft. Auch hier werden die beiden Künstler-Protagonisten (vgl. Sauer-Kretschmer 2014: 376) zunächst in ländliche Gesellschaften mit zum Teil idyllischen Zügen geführt, freilich

16 Im Blick auf die intellektuelle Situation nach 1918, die zwischen prinzipieller Skepsis, verbunden mit Handlungsverzicht, und einem hyperaktiven Streben nach Engagement und Bewährung schwankt, konstatiert Kracauer in der Haltung des »Wartens« eine dritte Option: »Wer sich zu ihr entschließt, der versperrt sich weder wie der trotzige Bejaher der Leere den Weg des Glaubens, noch bedrängt er diesen Glauben wie der Sehnsüchtige, den seine Sehnsucht hemmungslos macht. Er wartet, und sein Warten ist ein zögerndes Geöffnetsein in einem allerdings schwer zu erläuternden Sinne.« (Kracauer 1963: 116) 17 Zitiert nach der deutschen Ausgabe Köln: DuMont 2011.

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ist alles arrangiert, künstlich geschaffen, sei es zur Förderung des Tourismus,18 sei es zur Erneuerung der Lebens- und Siedlungsverhältnisse in ländlichen Räumen, in denen Dorferneuerung und kulturelle Aktivitäten dazu dienen sollen, der Verödung und Abwanderung eine rekonstruierte Idyllik entgegenzusetzen, Feriengästen und Ruheständlern aus der Stadt eine syn19 kretistisch angelegte Ländlichkeit anzubieten: »In regelmäßiger Folge wechselten sich mit alten Dachziegeln gedeckte Kalksteinhäuser, die wohl für diese Region typisch waren, mit weiß gekalkten Fachwerkhäusern ab, die man eher in einer ländlichen Gegend der Normandie anzutreffen erwartet hätte. Die Kirche mit den efeubewachsenen Strebebögen wies Spuren einer eifrig betriebenen Renovierung auf; ganz offensichtlich nahm man das Kulturerbe hier ernst.« (Houellebecq 2011: 245)

18 So verspricht eine Hotel-Werbung: »Dann brauchen Sie nur noch die Augen zu schließen, um die Düfte des Paradieses und das Plätschern des Springbrunnens im Hamam aus weißem Marmor im Gedächtnis zu behalten und nur noch eine Gewissheit durchsickern zu lassen: ›Hier ist das Leben schön.‹« (Houellebecq 2011: 96) 19 Wie nahe Houellebecq mit seiner Schilderung erfundener bzw. synkretistischer Ländlichkeit an den Realitäten des Marktes, der Medien und zeitgenössischer gesellschaftlicher Entwicklungen ist, mag ein aktueller Bericht zur Vergabe der Michelin-Sterne in der französischen Provinz belegen: »Drei Sterne für den ›BauernKoch‹ […] Der 67-Jährige Veryrat setzt in seinem Restaurant ›Maison des Bois‹ bei Manigod in den französischen Alpen auf natürliche Produkte und regionale Wildkräuter. Er bezeichnet sich selbst als ›bäuerlichen Koch‹. In einer kurzen Ansprache warnte Veryrat davor, dass die Alltagsernährung in Gefahr sei. ›Denken wir an unsere Kinder und Enkel‹, rief er den versammelten Branchenvertretern zu.« (Spiegel Online http://www.spiegel.de/reise/europa/guide-michelinfuer-frankreich-drei-sterne-fuer-bauern-koch-marc-veyrat-a-1191446.html). Vgl. dazu auch die Schilderung eines herkömmlichen ländlichen Abendessens in Houellebecqs späterem Roman DIE UNTERWERFUNG, das der Ich-Erzähler François, gerade in den Tagen in der französischen Provinz einnimmt, in denen in Paris eine islamische Partei die politische Macht übernimmt; Houellebecq 2015: 130-138.

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Im Mittelpunkt des Romangeschehens, das von einem namenlosen Erzähler und ebenso teilnahms- wie leidenschaftslosen Beobachter berichtet wird, stehen zwei Künstler: der Maler und Fotograf Jed Martin, dessen Aufstieg zum zeitweilig teuersten und damit also auch anerkanntesten bildenden Künstler sich zeitweise mit dem Ausstieg des bereits weltweit renommierten Schriftstellers Michel Houellebecq aus der Welt der Medien und des Marktes überschneidet. Beide ziehen sich, in unterschiedlichen Phasen ihrer Karriere und ihres Lebens, in die Provinz, in die Landschaften ihrer Kindheit zurück, die freilich inzwischen selbst längst zu ländlich gestalteten Parklandschaften, zu Idyllen als Markt- und Kunstprodukten einer durch Medien vermittelten Moderne bzw. Postmoderne geworden sind. In Aufnahme der oben mit Baudrillard bereits angesprochenen Umkehrung des Verhältnisses von Karte und Territorium: »Die Karte ist dem Territorium vorgelagert, ja sie bringt es hervor« (Baudrillard 1978: 8) gewinnt dann auch der seit langem die Kartografie begleitende Grundsatz: »Die Karte ist nicht das Land« (Clark 2006: 236) eine andere Bedeutung. Denn nun werden die nach medialen Vorgaben gestalteten Landschaften als gleichsam kompensatorische gestaltete Wirklichkeitsbezüge vorgestellt. Dabei handelt es sich inzwischen um eine Aufgabe, die nicht mehr den Künstlern oder Landschaftsarchitekten zufällt, sondern Medienvertretern, die der ›Agonie‹ des Landlebens, ja dem Schwinden seiner Realität, die bildhafte Vielfalt und den symbolisch aufgeladenen Reichtum medial vermittelter bzw. hergestellter Bilder entgegenzusetzen suchen – damit ihre Geschäfte machen und zugleich Sinn- und Erfahrungsbedürfnisse ihres Publikums zufrieden stellen. »Ausgehend von den – brutalen, hektischen, aberwitzigen – Tagesereignissen erfülle Jean-Pierre Pernaut jeden Tag die messianische Aufgabe, den terrorisierten, gestressten Fernsehzuschauer in idyllische Gegenden mit gut erhaltenen Landschaften zu führen, in denen der Mensch noch in Harmonie mit der Natur lebe und sich dem Rhythmus der Jahreszeiten anzupassen verstehe.« (Houellebecq 2011: 225)

Es gehört zu dieser die Postmoderne kennzeichnenden Umkehrung der Verhältnisse von Signifikaten (dem Land) und Signifikanten (Bilder des Ländlichen von der Art der Idylle oder Vormoderne), von Zeichen und Dingen, dass nunmehr die Landschaften nach den Bildern gestaltet sind, die von Werbeagenturen hergestellt werden, während sich deren Abbildung dann auch noch einmal als Substrat ästhetischer Erfahrung nicht nur erkennen lässt,

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sondern in einer weiteren Stufe künstlerischer Bearbeitung den Status von Kunstwerken einzunehmen vermag. Entsprechend lässt sich das Lebenswerk Jed Martins in vier Phasen aufteilen, die jeweils mit einer künstlerischen Krise unterbrochen werden, schließlich mit dem Verzicht auf und dem Erlöschen von Schaffenswunsch und Schaffenskraft enden. Eines seiner ersten Bilder »trug den Titel ›Heuernte in Deutschland‹ (das war ziemlich rätselhaft, denn Jed kannte Deutschland nicht und hatte nie eine ›Heuernte‹ miterlebt […])« (Houellebecq 2011: 33) und leitet eine Phase ein, in der die malerische Gestaltung von traditionellen Berufen und untergegangenem Handwerk, auch Industriearbeit, ihm eine erste Aufmerksamkeit des Publikums, zumindest auch einen Lebensunterhalt als Künstler sichern kann. Stellt dabei der bildnerische Rückbezug auf eine, wenn auch bereits lediglich noch in Vorstellungen und Fotographien vorhandene, zumindest einmal gewesene Realität dar, so findet der Übergang zur Postmoderne in einer zweiten Phase als eine Art Epiphanie statt, die mit dem Kauf einer Regionalkarte von MICHELIN einsetzt: »Diese Karte war geradezu erhaben; bis ins innerste aufgewühlt begann er vor dem Verkaufsständer zu zittern. Noch nie hatte er etwas so Herrliches gesehen, das so reich an Emotionen und Sinn war wie diese Michelin-Karte der Departments Creuse und Haute-Vienne im Maßstab 1:150 000. Die Quintessenz der Moderne, der wissenschaftlichen und technischen Erfassung der Welt, war hier mit der Quintessenz animalischen Lebens verschmolzen. Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Größe entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen – von denen die einen zur Verdammnis und die anderen zum ewigen Leben berufen waren.« (Houellebecq 2011: 50)

Fortan wird Martin nicht nur für MICHELIN künstlerisch gestaltete Bearbeitungen und Abbilder dieser Karten schaffen, sondern damit auch seinen ersten Ruhm begründen, auch den Schriftsteller Houellebecq dafür gewinnen können, für den Katalog einer von MICHELIN gesponserten Ausstellung einen Text zu schreiben. Houellebecq, Alter Ego des Roman-Autors, der bereits zuvor in Irland sehr zurückgezogen gelebt hatte, muss allerdings seinen zunächst zufallsbedingten (vgl. Houellebecq 2011: 190) endgültigen Rückzug in die wie oben

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bereits angesprochen synkretistisch geschaffene Idylle der Landschaft seiner Kindheit schon bald mit seinem Leben bezahlen. Er wird Opfer eines ebenso perversen wie unersättlichen ›gutbürgerlichen‹ Kunstsammlers,20 der es ausgerechnet auf jenes Porträt Houellebecqs abgesehen hat, das Martin teils zur Bezahlung, hauptsächlich aber aus Zuneigung und Verehrung des Menschen Houellebecq gemalt hat. Während Houellebecq im Roman als Objekt, Gesprächspartner und mitunter Projektionsfeld21 der Hauptfigur, eben Jed Martins, fungiert, kommt diesem die Rolle zu, den bereits ja schon im Titel des Romans angesprochenen – indirekten – Möglichkeiten nachzugehen, in denen es Menschen unternehmen, sich ein Bild von der Welt zu machen, und es darüber hinaus darauf anlegen, sich ihrer zu bemächtigen, sie zumindest handhabbar, wenn nicht gar leb- und verstehbar sehen zu können. Diesem Thema ist nicht nur das lange Gespräch gewidmet, das Jed kurz vor dem Freitod seines Vaters, des Architekten Jean-Pierre Martin, der bis dahin vor allem lediglich als Sujet des von Jed in dieser dritten Phase gemalten Bildes »Der Architekt Jean-Pierre Martin gibt die Leitung seines Unternehmens ab« und als Bezugsobjekt in der einzigen familiären Verpflichtung Jeds in Erscheinung getreten ist. Hier nun spricht der Vater über seine (gescheiterten) Versuche, dem seit den 1920er Jahren dominierenden Funktionalismus der ›klassischen‹ Moderne einen ebenso künstlerisch individuellen wie den Utopien des 19. Jahrhunderts verpflichteten lebensweltlichen eigenen Entwurf zur Gestaltung von Natur und Landschaften entgegenzustellen:

20 Adolphe Pettissaud, Chirurg in Cannes: »Er […] besaß 80 Prozent einer Privatklinik, die auf plastische und rekonstruktive Chirurgie für männliche Patienten spezialisiert war. Er lebte allein und war sichtlich wohlhabend. Rasen und Swimmingpool waren äußerst gepflegt…« (Houellebecq 2011: 375) – auf seine Weise nicht nur ›auch‹ ein Künstler, sondern ebenso wie andere Gestalter der Moderne: Architekten, Medienmacher und Politiker mit dem gleichermaßen illusorischen wie unvertretbaren Anspruch auf nahezu unbegrenzte Gestaltungskraft und Geltung: »Er hielt sich ganz einfach für Gott, und er behandelte seine Insektenvölker wie Gott die menschlichen Völker.« (Ebd.: 377) 21 »War er etwa dabei, freundschaftliche Gefühle für Houellebecq zu entwickeln? Dieser Ausdruck wäre wohl übertrieben gewesen […]. Dennoch hatte er ihre Begegnung letztlich durchaus geschätzt […], er war sogar erstaunt, wie groß das intuitive Einfühlungsvermögen des Autors war […].« (Houellebecq 2011: 189, Hervorhebung im Original)

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»Das ist unglaublich primitiv, wenn man mal darüber nachdenkt, ist das ein erschreckender Rückschritt im Vergleich zu jeder beliebigen ruralen Landschaft – die aus einer subtilen, komplexen, sich stets weiterentwickelnden Mischung aus Wiesen, Feldern, Wäldern und Dörfern besteht. Es ist die Sichtweise eines brutalen, totalitären Geistes. Le Corbusier war in unseren Augen genau das: ein totalitärer, brutaler Geist, der eine Vorliebe für das Hässliche hatte; aber seine Sichtweise hat im 20. Jahrhundert den Sieg davon getragen. Wir waren eher von Charles Fourier beeinflusst.« (Houellebecq 2011: 212)

Einer möglichen Gestaltung der Welt – nach Aufgabe seiner Jugendpläne wird der Vater bis zu der im Bild gestalteten Geschäftsaufgabe sein Geld mit der Planung und dem Bau standardisierter Feriensiedlungen machen22 – geht aber nicht nur deren Wahrnehmung voraus, sondern eben auch die Reflexion darauf, dass sich die Wirklichkeit jedweder Welt für Menschen immer nur indirekt, also medial vermittelt und somit indirekt fassen bzw. erkunden lässt. Insoweit arbeiten nicht nur Künstler, Schriftsteller und Architekten mit Bildern, sondern eben auch Landschaftsplaner, Politiker und nicht zuletzt die Medien selbst, deren Funktion (und Geschäft) darin besteht, Bilder zu schaffen und zu vermitteln, in denen sich Menschen wiedererkennen bzw. als wirklich erfahren können (sollen). Dies ist dann auch sowohl der schon im Titel des Romans angesprochene Rahmen, der sich nicht nur auf die oben zitierte Überlegung Jean Baudrillards zur Macht medialer Herstellung von Welt und Wirklichkeit stützen kann, sondern eben auch Martins Versuche in dieser dritten Phase beschreibt, nunmehr mit groß angelegten Porträtgemälden Menschen in entscheidenden Situationen der Gegenwart vor Augen zu stellen, in denen Macht im Sinne eines Handelns an und einer Gestaltung von Wirklichkeit in Erscheinung zu treten vermag. Den Höhepunkt dieser Phase, die mit dem Bild des Vaters anlässlich seiner Firmenaufgabe einsetzt (vgl. Houellebecq 2011: 17) stellt – auch in kommerzieller Hinsicht – dabei das Bild »Bill Gates und Steve Jobs unterhalten sich über die Zukunft der Informatik« (ebd.: 182-186) dar und

22 »[S]ein erster Vertrag im Bereich der Realisierung schlüsselfertig übergebener Ferienwohnungen in Seebädern war ein glänzender Erfolg gewesen. […] dabei hatte er seiner Ansicht nach lediglich in einheitlich mattem Weiß gehaltene Betonwürfel unterschiedlicher Größe aneinandergereiht […].« (Houellebecq 2011: 44)

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die Phase endet mit dem gescheiterten Versuch, den Zustand und die Funktionsstelle der Kunst bzw. des Kunstmarktes mit dem Bild »Damien Hirst und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf« (ebd.: 26) zu gestalten bzw. zu erfassen; Jed Martin zerstört sein eigenes Bild (vgl. ebd.: 27) und widmet sich in der daran anschließenden Phase dem Versuch, mit Hilfe von Videoinstallationen Zeit und Bewegung – gleichsam ohne weiteres Zutun eines Menschen bzw. Künstlers – aufzunehmen, bis er schließlich das Interesse daran ganz verliert. Geht es Jed in allen seinen Versuchen darum, wenn schon nicht die Welt selbst, so dann doch die Möglichkeiten ihrer Abbildung zu erkunden und somit dieser sowohl in ihrer Situierung wie auch ggf. Strukturierung und nicht zuletzt Gestaltung eine Form, ggf. einen Sinn zu geben, so stellt dies zugleich auch das Sujet des Romans dar, der im Blick auf beide Protagonisten davon berichtet, wie dieses Unternehmen an der Zeit ebenso wie an Zufällen und letztlich also an der Kontingenz und Intransigenz der Welt selbst scheitert. In diesem Rahmen stellen die Rückbezüge auf die bildhaften Möglichkeiten der Idylle innerhalb dieses Romans sowohl einen Anschauungsbereich als auch ein Reflexionspotential bereit, das sich – postmodern – aus deren bereits vielfach, u.a. durch die Literaturgeschichte überkommenen Zeichencharakter speist (vgl. Böschenstein 2001; Williams 1973: 23-47) und sich zugleich – modern – doch immer auch noch als Entwurf einer Gegenwelt mit ggf. kritischen, utopischen oder auch unterhaltenden Faszinationskernen erweist. Gerade insoweit als die Idylle sich als zeitenthobene, ja eine in immer gleicher Wiederkehr oder Stillstand befangene Welt darstellt, mit zugleich, wie oben bei Schiller angesprochen, doch auch geschichtsphilosophischer Ausrichtung, stellen sich auch die Idyllenreferenzen in Houellebecqs Roman in drei Zeitdimensionen dar, wobei der kritische, ggf. anstößige Gehalt eines solchen postmodernen Entwurfs (vgl. Thoma 2007) wohl vor allem darin besteht, dass sowohl die Zukunft, gerade aber auch die Gegenwart sich gleichsam als endlose Repetition von Standardvorstellungen und -angeboten darstellen lassen, in denen Konsum- und Kompensationswünsche auf Dauer gestellt, ja punktuell auch bearbeitet, in einem utopischen Verständnis zugleich aber ›niemals‹ bearbeitet werden (können). Am nächsten einer herkömmlichen Idyllen-Vorstellung sind dabei wohl noch die Rückbezüge des Protagonisten auf die Welt seiner Kindheit, in der der spätere Maler und Fotograf zunächst damit begann »Blumen zu zeichnen – und zwar mit Buntstiften in kleine Hefte« (Houellebcq 2011: 31). Es ist

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diese Dimension einer in die Vergangenheit (und aus ihr) erinnerten friedlich-idyllischen Welt, die Jed auch in späterer Zeit, etwa beim Besuch und noch bei der Übersiedlung ins Haus seiner Großmutter und in deren Garten und Park (vgl. ebd.: 396), zumindest ansatzweise und aus Bruchstücken zusammen gelesen23 wiederfindet, den er aber freilich bald schon zu einer Festung ausbauen und absichern lässt; utopische Planungsentwürfe bilden nun den Fluchtpunkt für diese Anordnung/Einschließung, die neben seinem eingezäunten Park24 auch nach dem Modell seines Autos gebildet ist und die ihn schließlich auch von der Welt und anderen Menschen trennt. »Seine an sich schon nicht sehr zahleichen menschlichen Beziehungen würden so eine nach der anderen einschlafen, abbrechen, und dann würde sich das Leben für ihn so ähnlich gestalten wie hier in dieser Fahrgastzelle seines Audi Allroad A6: friedlich, freudlos und endgültig neutral.« (Ebd.: 259) In einer zweiten Dimension wird auch das Bild- und Vorstellungspotential der Idylle im Blick auf Gestaltung einer Zukunft ausgerichtet. Anders aber als bei Schiller steht sie nicht mehr für eine Aufhebung der Geschichte zugunsten eines Paradieses. Vielmehr werden die herkömmlichen Bilder der Idylle bereits gegenwärtig und auf erwartete Dauer in der Tourismuswerbung und als Marketingfaktoren eingesetzt, bestenfalls dann auch noch als Beispiele gelungener Landschaftsplanung unter den Bedingungen von Märkten, Macht und Medien vorgestellt und in einer »Art Idylle« als »Nicht-Ort« (Augé 1994) ebenfalls auf Stillstand – auf ein Aussetzen der Zeit – hin programmiert: »Das Dorf war in seiner für touristische Zwecke ländlichen Vollkommenheit erstarrt, und daran würde sich bis auf das Hinzukommen von ein paar unauffälligen Elementen wie Internet-Terminals und Parkplätzen zur Verbesserung der Lebensqualität jahrhundertelang nichts ändern.« (Ebd.: 349) Aufgrund der inzwischen verbesserten Beständigkeit der Baustoffe und

23 »Im Übrigen hatte er seine Kindheit gar nicht in der Creuse verbracht, sondern nur manchmal die Sommerferien, an die ihm kaum eine Erinnerung blieb, bis auf das Gefühl unbestimmten, jähen Glücks.« (Houellebecq 2011: 388) 24 »Seine hügelige und stellenweise schwer zugängliche Domäne war fast ganz mit Buchen, Kastanien und Eichen bewaldet, in der Mitte befand sich ein Teich mit einem Durchmesser von etwa fünfzig Metern. Jed wartete, bis die starken Fröste vorüber waren, und ließ dann einen drei Meter hohen Metallzaun errichten, der das ganze Gelände umgab. Oben auf dem Zaun verlief ein von einem Niederspannungsgenerator gespeister Leitungsdraht.« (Houellebecq 2011: 397)

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-elemente werden auch Menschen für den direkten Erhalt der Anlagen nicht mehr gebraucht, allenfalls, so wie auch schon in der Schäfer-Literatur des 17. Jahrhunderts (Elias 1969: 345) zur Abwehr der Geschichte. Diese kehrt, wie es Georg Simmel in seinem Essay zur RUINE25 ausgeführt hat, zwar als Natur zurück, wenn sie sich der auf Dauer angelegten Bauten auch im Ländlichen durch die Wiederkehr von Moosen und anderem Pflanzenbewuchs bemächtigt und im Gegenzug durch Menschen (oder Roboter) abgewehrt werden muss: »[D]och konnte es [das Dorf ‒ W.N.] nur dann in diesem Zustand erhalten bleiben, wenn eine intelligente Gattung für die Instandhaltung sorgte und es vor dem Einwirken der Elemente sowie der zerstörerischen Kraft der Pflanzen schützte.« (Houellebecq 2011: 349) Ist die Gegenwart in dieser Weise schon als eine auf Dauer gestellte Zukunft vorausgebildet, bleibt für aktuelle Erfahrungen schließlich nur noch deren Inszenierung als Idylle in den Bildern aus der Geschichte, so wie dies auf einer von ›führenden‹ Medienvertretern, zu denen inzwischen auch Olga gehört, veranstalteten Silvesterparty geschieht, die »unter dem nicht sehr überraschenden Motto: ›Die französische Provinz‹« steht (ebd.: 224) und es sich sogar leisten kann, die sozialrebellischen Bauern aus der Vendée von 179326 nunmehr als folkloristische Statisten (ebd.: 229) aufzubieten. Deren Belanglosigkeit, historisch gilt dies ebenso wie sozial, politisch und erst recht ästhetisch, auch für das übrige ländliche Frankreich, wird später deutlich, wenn die Vertreter des MICHELIN Konzerns ins Blickfeld geraten: »Sie gingen mit lockeren Schritten in einer Dreiecksformation, liefen wortlos an den Bauern aus der Vendée vorbei, im klaren Bewusstsein, dass sie die Macht und die Wirklichkeit der Welt verkörperten. Sie hätten ein gutes Thema für ein Gemälde abgegeben…« (Ebd.: 237) Wenn überhaupt spielen idyllische Aspekte lediglich noch als Staffage, als Erinnerungen, mediale oder auch theatralische Inszenierungen bzw. ästhetische Effekte eine Rolle:

25 »Hier ist das Eigentümliche des Eindrucks, daß die Menschen zwar nicht das Menschenwerk zerstören, daß vielmehr allerdings die Natur dies vollbringt – aber die Menschen lassen es verfallen.« (Simmel [1911] 1985: 107, Hervorhebung im Original) 26 Zur Interpretation der damit verbundenen sozialgeschichtlichen Bezüge vgl. Sauer-Kretschmer 2014: 380f.

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»Die weißen, grünen und braunen Flecke waren gleichmäßig verteilt und vom symmetrischen Netz der Landstraßen durchzogen. Keine Ortschaft hob sich deutlich hervor, alle schienen in etwa die gleiche Größe zu haben; das Ganze vermittelte den Eindruck von Ruhe und Ausgeglichenheit, es hatte fast etwas Abstraktes. […] Angesichts der konkreten Wirklichkeit, dieses unaufdringlichen Nebeneinanders von Wiesen, Feldern und Dörfern hatte er das Gleiche empfunden: Ausgeglichenheit und friedliche Harmonie.« (Ebd.: 233f.)

Aber nicht nur Abstraktion löst hier die Idylle auf, sie geht auch in Serie und zeigt sich – eine dritte zeitliche Dimension der Idylle unter den Bedingungen postmoderner Auflösung von Geschichte ansprechend – damit universal einsetzbar, ja in ihrer Örtlichkeit wie in ihrer Zeitlichkeit ebenso unbestimmbar wie in ihren politischen oder sozialen Funktionen: »[U]nd nur hübsche, blumengeschmückte Häuser, die unter geradezu manischer Wahrung des traditionellen Baustils des Limousin errichtet waren. Überall auf der Hauptstraße wurden in den Auslagen der Geschäfte regionale Erzeugnisse und kunsthandwerkliche Gegenstände angeboten, auf hundert Metern zählte er drei Cafés mit preiswerten Internetverbindungen. Er hatte den Eindruck, auf Ko Phi Phi oder in SaintPaul-de-Vence zu sein und nicht in einem Dorf der Creuse.« (Ebd.: 400)

Unter den Bedingungen der »Hypermoderne« (Augé 1994) wird Idylle zu einem weiteren Nicht-Ort. »Aber vielleicht war die Moderne ja ein Irrtum, sagte sich Jed zum ersten Mal in seinem Leben. Eine Überlegung rein rhetorischer Natur, denn in Westeuropa war die Moderne schon seit langem beendet.« (Houellebecq 2011: 337) Dies mag dann auch die gegen die Moderne entwickelten Vorstellungen von Post- und/oder Hypermoderne mit in einen Maelstrom der Zeichen ziehen und dieser macht freilich dann auch vor jenen Setzungen und Bildlichkeiten nicht Halt, die wie die Idylle auf die Möglichkeiten außerzeitlicher Zeiten und utopischer Orte anspielen.

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VII. Koinzidenz der Zeiten und Erfahrungen, Unterschiede und ggf. hypothetische Gemeinsamkeiten lassen sich in der Parallelsetzung von Karte und Territorium ebenso thematisieren wie sie die Ununterscheidbarkeit der Weltbezüge und Realitätsentwürfe in Diskursen, Imaginationen und ideologischen Setzungen hervorrufen. Die damit geschaffene Unbestimmtheit der Bezüge kann zugleich Unbehagen provozieren, ggf. aber auch Vergnügen hervorrufen und unter Umständen auch die Suche nach Erkenntnis und Kritik anstoßen, wenn nicht gar einfordern. Angesichts einer Welt und Literatur, die auf Dauer gestellt, in Bewegung zu sein scheint, erscheint zunächst auch der »eiserne Käfig«27 der Moderne als ein sistierendes Bild, das sein Korrelat in einer ggf. werbetechnisch, populärkulturell, auch kulturkritisch oder parodistisch aufgenommenen Tradition der Idylle findet. Gerade in ihrer massenmedial geschaffenen, vermittelten Form, die sicherlich zunächst und vor allem auf ökonomische Verwertung hin angelegt ist, vermögen die Rückbezüge auf die Bildhaftigkeit, Machart und Tradition der Idylle, zumal in ihrer Korrelation zur Utopie, dann aber vielleicht doch auch wieder reflektierend, irritierend und kritisch einen Anstoß zu bieten. Wenn Werner van Treeck in den einleitenden Bemerkungen zu seiner Geschichte der Dummheit in der Neuzeit auf die auf dem Weg zur Moderne in Erscheinung tretenden Unsicherheiten und auf deren durch die der Moderne dann eigene Dynamik aufgeworfenen und ggf. zugespitzten Folgeerscheinungen hinweist: »Überall in Europa werden spätestens seit dem 14. Jahrhundert die Konturen bürgerlicher Gesellschaft in traditional-feudalistisch geprägten Verhältnissen verwirrend und widersprüchlich sichtbar: Aufstieg und Wachstum städtisch-bürgerlicher Klassen und ihres neuartigen Geistes, rastlos und systematisch kalkulierend nach Gewinn zu streben und Reichtum anzuhäufen; gleichzeitig Entwurzelung und Verelendung großer Bevölkerungsgruppen und Zersetzung überkommener Gemeinschaftsbeziehun-

27 Für die unterschiedlichen Konnotationen und damit auch Sinndimensionen des Übergangs der von Max Weber genutzten Metapher des »stahlharten Gehäuses« zu Talcott Parsons »eisernem Käfig« vgl. Baehr 2001.

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gen […] Ausgriffe über die europäischen Grenzen hinaus in neue Räume und der Beginn jahrhundertelanger Ausplünderung von Edelmetallen, Rohstoffen und Arbeitskräften mit verheerenden Folgen […]« (van Treeck 2015: 61),

so werden hier Bezugspunkte und Erfahrungsfelder erkennbar, die aktuell – am Ende der mit der Moderne verbundenen Fortschritts- und Emanzipationshoffnungen – erneut die Tagesordnung bestimmen, ggf. den Weg in eine erneuerte »neofeudale« Einbettung einer offensichtlich allein durch den Markt nicht zu regelnden Dynamik und Selbstzerstörungskraft der Moderne zu weisen scheinen. Ob und in welchem Maße ein bewusst eingesetzter, auf die Artifizialität des Kunstbildes der Idylle Bezug nehmender, ja diese ausstellender Rückbezug auf die Künstlichkeit eines jeden Gesellschaftsentwurfs, zumal einer ›vollkommenen‹ Gesellschaft mit paradiesartigen Versprechen, als Korrektiv, Gegenentwurf oder Kritik zu wirken vermag oder aber lediglich Spielmaterial für Unterhaltung und Stoff für die weitere ideologische oder werbetechnische Bindung von Menschen an jeweils machtstrategisch oder sonst wie interessegeleitet ausgerichtete Programme bietet, wird die weitere Lektüre und Diskussion zur Rolle der Idylle unter den Bedingungen einer postmodern reflektierten (Industrie-) Moderne zeigen müssen.

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Rurale ›Randzonen‹ der Geschichte Das ukrainische Dorf als (anti-)idyllischer Erinnerungsort in Maria Matios’ Romanen Nina Weller

Die ukrainische Schriftstellerin Maria Matios wurde mit ihrem Dorfroman SOLODKA DARUSJA (2004, DARINA, DIE SÜSSE) zur Bestsellerautorin.1 Der Roman erzählt in magisch-realistischem Setting eine tragische Familiengeschichte, die sich in einem kleinen Dorf im karpatischen Hinterland in den 1930er und 1940er Jahren vor der historischen Kulisse der gewaltsamen Sowjetisierung und Kollektivierung der Ukraine und den Verbrechen der Roten Armee sowie der deutschen Wehrmacht an der ländlichen Zivilbevölkerung abspielt. Im Zentrum steht die wegen ihrer Stummheit von der Dorfgemeinschaft als nicht ganz normal angesehene Einzelgängerin Darusja, die seit ihrer Kindheit durch die unverschuldeten aber folgenschweren Verwicklungen ihrer Eltern in den Partisanenkampf der UPA (Ukrainische Aufständische Armee) und durch ihren ungewollten Verrat an den Eltern zur schuldlosen Schuld verdammt ist. Auch Matios’ knapp zehn Jahre später erschienener Roman ČEREVYČKY BOŽOJI MATERI (2013b, MITTERNACHTSBLÜTE) widmet sich den komplizierten Macht- und Überlebensverhältnissen in der Bukowina der Kriegs- und Vorkriegszeit – »in der Menschen und Länder

1

Der Roman wurde mit dem Taras-Ševčenko-Preis, dem wichtigsten staatlichen ukrainischen Literaturpreis, und als Buch des Jahres 2007 ausgezeichnet, drei Mal fürs Theater adaptiert und 2015 mit Unterstützung der ukrainischen Regierung verfilmt.

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aussortiert« werden »wie Nüsse« (Matios 2015: 59).2 Protagonistin ist hier ebenfalls eine weibliche Außenseiterin: das an Epilepsie leidende, in Fantasiewelten und volkstümlichem Aberglauben beheimatete Mädchen Ivanka, das seinen Namen nach dem Ivan-Kupala-Fest trägt und nichts anderes kennt, als das in seiner archaischen Rohheit idyllische Dorfleben. Aus der Perspektive des Mädchens erzählt der Roman vom bunten multiethnischen dörflichen Alltagsleben, das von den dramatischen Eingriffen der Okkupationsmächte, von Willkür und Gewalt innerhalb der Dorfgemeinschaft und durch die Ermordung der jüdischen Bevölkerung durch die deutsche Wehrmacht zerstört wird. Matios, die 1959 in Rostoky geboren, also selbst aus der Bukowina stammt und in Černivci (Czernowitz) ukrainische Sprache und Literatur studierte, unternimmt mit der Hervorhebung der dörflichen Perspektiven in beiden Romanen Ansätze zu einer Revision des ukrainischen historischen Gedächtnisses. Dieses ist von mehreren »totalitären Vernichtungserfahrungen« bestimmt (Jilge 2008: 168). Schätzungsweise fünf bis sieben Millionen Menschen fielen in der Ukraine den Verbrechen der wechselnden Besatzungsregimes, dem Holodomor und dem Krieg zum Opfer. Darüber hinaus war die Ukraine einer der Hauptschauplätze des Holocaust. Doch weder in der Sowjetunion noch in der jungen unabhängigen Ukraine wurden die Tabuthemen und Traumata der ukrainischen Geschichte umfassend thematisiert. Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung und die Problematik der Kollaboration von Ukrainern mit den Okkupationsmächten sind auch im heutigen öffentlichen Erinnerungsdiskurs kaum ein Thema. Während es im offiziellen ukrainischen Erinnerungsdiskurs und von nationalistischen Gruppierungen bis heute ausgeblendet wird, sind private und kulturelle Initiativen umso mehr damit beschäftigt, die kontroverse Kriegserinnerung aufzuarbeiten und damit zur Konsolidierung eines pluralen Gedächtnisses beizutragen. In ihren Prosatexten greift Matios die Themen Holocaust und Kollaboration als Teil der tragischen Vergangenheit der Ukraine dezent auf und versucht damit, dem »Krieg der Erinnerungen« (Portnov 2013), der sich in der postsowjetischen Ukraine in einer kontroversen Auseinandersetzung zwischen sowjetisch-ukrainisierender und nationalisierender Heroisierung des Zweiten Weltkriegs (vgl. Hrynevyč 2005) entzündete, mit einer ausgleichenden Haltung zu begegnen. Insbesondere in den Romanen SOLODKA DARUSJA

2

»Перебирають людьми i землями, як горихами« (Matios 2013b: 57).

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und ČEREVYČKY BOŽOJI MATERI, um die es im Folgenden gehen soll, sensibilisiert Matios den Blick für die multiethnische Vergangenheit und für die komplizierten Opfer- und Täterrollen in der Gewaltgeschichte der Ukraine. Dabei unterläuft sie dennoch der Gefahr, wie ich im Folgenden zeigen möchte, eine Deutung der ukrainischen Geschichte zugunsten einer einseitigen Ukrainisierung zu befördern. Damit ist sie in der ukrainischen Literaturlandschaft keine Ausnahme. Wie in einigen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema bereits überzeugend diskutiert wurde,3 greifen zwar einige Autoren in ihren literarischen Projekten des ukrainischen nation building vorsichtig tabuisierte Problematiken der Geschichte auf, tendieren aber in ihren Versuchen, postkoloniale Gegennarrative zu sowjetischen Geschichtsnarrativen zu etablieren, somit recht unkritisch mit der ukrainischen Vergangenheit umzugehen (vgl. Shmyshliaeva 2014: 234). Wie Alexander Kratochvil feststellte, machen beispielsweise die Romane MUZEJ POKYNUTYCH SEKRETIV (2009, MUSEUM DER VERGESSENEN GEHEIMNISSE) von Oksana Zabužko, TANGO SMERTI (2012, IM SCHATTEN DER MOHNBLÜTE) von Jurij Vynnyčuk oder VIDLUNNJA. VID ZAHYBLOHO DO POMERLOHO DIDA (2012, Der Nachhall. Vom vermissten zum verstorbenen Opa) von Larysa Denysenko einen neuen Erinnerungsdiskurs auf, indem sie in der Reflektion der nationalen historischen Traumata »das bisher Verschwiegene miterzählen« (Kratochvil 2015: 164-183). Im »Spannungsfeld von individuellem Erinnern und der Repräsentation kollektiver und offizieller Erinnerungskultur (resp. deren Fehlen)«, so Kratochvil, werden neue Erinnerungsräume konstruiert, die absichtsvoll im »Widerspruch zu Narrativen der sowjetischen Erinnerungskultur präsentiert« werden (ebd.: 166) und den widersprüchlichen Umgang der ukrainischen Gesellschaft mit der Erinnerung an den Holocaust mit aufnehmen. Bei einigen Autoren geht dies aber weniger mit einer kritischen Reflektion der ukrainischen und jüdischen Täter-Opfergeschichte einher, sondern vielmehr mit einer Relativierung der ›Opferkonkurrenz‹. In dem Gedanken, dass die Ukrainer, wie die Juden vor allem Opfer der Besatzungsregimes waren, wird, wie Marija Smyshliaeva etwa am Beispiel von Mykola Rjabčuks Erzählung VOS’MERO JEVREJIV U POŠUKACH DIDUSJA (1998, ACHT JUDEN AUF DER SUCHE NACH IHREM GROßVATER) herausgearbeitet hat (Smyshliaeva 2014), eine Externalisierung der historischen Mitschuld und

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Siehe dazu Shchur (2013), Hofmann (2013), Smyshliaeva (2014), Dubasevych (2015) und Kratochvil (2015).

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die Übertragung der Täterschaft auf die ›fremden‹, vor allem sowjetischen Mächte betont, eine Haltung, die den gesellschaftlichen Diskurs zu den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg auf dem Territorium der Ukraine widerspiegelt (ebd.). Ulrich Schmid spricht in diesem Zusammenhang von der Fortschreibung einer »Strategie der Selbstviktimisierung«, die das Bild der Sowjetmacht als dem absolut Bösen derart zementiere, dass daneben nur begrenzt Raum für eine differenzierte kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bereitstünde (Schmid 2012: 101). Roman Dubasevych spitzt diese Beobachtung mit seiner These von einem »memorialen Ethnozentrismus« in der ukrainischen Literatur zu (Dubasevych 2015), der gerade bei einigen historischen Bestseller-Romanen wie in Oksana Zabužkos MUZEJ POKYNUTYCH SEKRETIV, Jurij Vynnyčuks TANGO SMERTI oder eben auch in Marija Matios’ Erzählband NACIJA (2001, Die Nation) daraus resultiere, dass darin zwar eine durchaus verdienstvolle Annäherung an »den Anderen der ukrainischen Kultur« als Teil eines Demokratisierungs- und Pluralisierungsprozesses des ukrainischen nationalen Selbstverständnisses stattfinde, eine deutlich ukrainozentristische Perspektive letztlich jedoch gegenüber den Schicksalen der jüdischen, polnischen oder auch russischen Figuren dominiere und dabei in »traditionellen und essentialistischen Stereotypen« verhaftet bliebe (ebd.: 209).4 Ich schließe mich diesen Lesarten an und möchte davon ausgehend im Folgenden den Blick zurück auf Matios’ Romane SOLODKA DARUSJA und ČEREVYČKY BOŽOJI MATERI lenken. Meine Ausgangsüberlegung ist, dass sich ihre enorme Popularität nicht allein der Öffnung der Literatur für verdrängte Erinnerungsthemen, sondern vor allem der Tatsache verdankt, dass beide Romane über ihre nostalgische Rückbindung der Geschichte an Bilder einer archaischen Dorfidylle Sehnsüchte nach einem vereinfachten Blick auf die Vergangenheit und nach einem ethno-folkloristischen Bild der Ukraine bedienen, das gerade vor dem Hintergrund der zerklüfteten Erinnerungslandschaft der gegenwärtigen Ukraine als identitätsstiftendes Motiv besonders virulent zu sein scheint. Im Kontext einer postsowjetischen Umwertung der Geschichtsdeutung von einer sowjetisierten übernational-zentralistischen zu einer dezentralisierten dörflich-regionalen Perspektivierung positioniert sich

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Vgl. dazu Tatjana Hofmanns (2013) Untersuchung zu Oksana Zabužkos »Kulturnationalismus«.

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Matios als nationale Autorin, gilt doch das Dorf traditional als ›Wiege der Nation‹ und als Ursprung ukrainischer Identität: »Die Bauernschaft und die Mythologie der bäuerlichen Welt spielten in der Geschichte der ukrainischen nationalen Bewegung eine Schlüsselrolle. Im Verlauf des 19. und während des Großteils des 20. Jahrhunderts waren die Wörter ›Ukraine‹ und ›Dorf‹ häufig Synonyme.« (Portnova 2017: 254)

Dass Matios als nationale Autorin rezipiert wird und als solche politisch aktiv ist, wird auch daran deutlich, dass sie mit ihrem tendenziell antisowjetischen Ansatz noch unter Viktor Janukovyč in Ungnade fiel und für die von Vitali Kličko mitgegründete Partei UDAR (Ukrainische demokratische Allianz für Reformen), die sich später eng mit der Regierungspartei von Petro Porošenko verbündete, 2012 und 2014 als Abgeordnete ins Parlament einzog. Mein Interesse gilt nun weniger einer politischen Einordnung Matios’ als vielmehr der Untersuchung ihrer Dorfromane als Beispiele für gebrochenidyllische Imaginationsräume der Ukraine und ihrer Vergangenheit. Ich möchte zeigen, dass ihre weiblichen Protagonistinnen als Symbolfiguren einer ruralo- und ethnozentristischen Erinnerungslandschaft dienen und ihnen damit eine Vermittlerfunktion für eine homogenisierende Aneignung der sowohl angst- als auch schuldbesetzten Vergangenheit zukommt. Dabei stellt sich die Frage, wie die Tendenz zur Verkitschung der Vergangenheit, die Matios’ magisch-realistischer Idealisierung des ukrainischen Dorfs anhaftet, hinsichtlich ihrer ästhetischen und ideologischen erinnerungskulturellen Dimension einzuordnen ist. Bevor ich auf diese Aspekte ausführlicher eingehe, bedarf es einer kurzen Kontextualisierung des Themas.

ERINNERUNGSLANDSCHAFTEN GALIZIEN UND BUKOWINA Matios siedelt die Handlung ihrer Romane in einem idyllisch abgeschiedenen Landstrich der Bukowina an, in jener Region, die allerdings vom Zweiten Weltkrieg und den Okkupationsregimes des 20. Jahrhunderts als »bloodlands« (Snyder 2010) und von Verbrechen »kontaminierte Landschaften« (Polack 2014) hinterlassen wurden. In der Bukowina, die seit jeher Spielball

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zwischen den Territorialmächten war, wechselten einzelne Orte innerhalb nur weniger Jahre über zehn Mal die staatliche Zugehörigkeit. Bis 1918 war die Bukowina Teil der Habsburgermonarchie, wurde nach dem Ersten Weltkrieg Teil Rumäniens; auf die sowjetische Okkupation 1940, während der Tausende vermeintliche Konterrevolutionäre und Diversanten nach Zentralasien deportiert wurden, folgte 1941 der Einmarsch von rumänischen und deutschen Truppen, die sofort mit neuen Grenzziehungen, ethnisch motivierten Deportationen Tausender von Rumänen und der Ermordung der jüdischen Bevölkerung begannen. Von 1944 bis 1991 war die Region wieder sowjetisch und seit dem Zusammenbruch der UdSSR ist sie Teil der nun unabhängigen Ukraine. Die Bukowina und Galizien sind jenen geographischhistorischen Räumen zugehörig, die »eine besonders intensive literarische Existenz« haben (Marszałek/Sasse 2010: 13). Ein fester Platz in den europäischen Literaturen wurde ihnen über zahlreiche literarische Erinnerungsbilder an die verschwundene multiethnische und multireligiöse Kulturlandschaft und an die ausgelöschten jüdischen urbanen Lebenswelten in Städten wie Czernowitz (Černivci) und Lemberg (L’viv) zuteil. Dass das durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik zerstörte kulturelle Leben des osteuropäischen Judentums einen großen erinnerungskulturellen Stellenwert im westeuropäischen Holocaust-Gedächtnis einnimmt, verdankt sich insbesondere den poetischen Zeugnissen aus Czernowitz stammender jüdischer Dichter und Dichterinnen, wie Paul Celan, Rose Ausländer, Selma MeerbaumEisinger, Georg Drozdowski, Alfred Gong oder den Lebenserinnerungen von Prosaautoren wie Aron Appelfeld oder Edgar Hilsenrath, die über ihre verlorene Heimat und die idyllischen Landschaften der Region schrieben. Zugleich standen und stehen ostgalizische Städte in den divergierenden polnischen und ukrainischen Erinnerungskulturen als Modellfälle für die reiche multikulturelle Vergangenheit im Fokus unterschiedlicher, einander überlagernder imperialer, (national)staatlicher und nicht selten nostalgischer oder einseitig-emphatischer, rückprojizierender pluralistischer Diskurse und kultureller Zuschreibungen (vgl. Büttner/Hanus 2015). So ist innerhalb des postsowjetischen ukrainischen Erinnerungsdiskurses der ›Mythos Galizien‹ als historisches Konstrukt und Symbol der mitteleuropäischen Geschichte seit den 1990er Jahren wieder zum Objekt nationaler oder mitteleuropäischer kultureller Wiederaneignungen geworden. In den literarischen Mythologisierungen einer galizisch-bukowinischen Gedächtnislandschaft sind als imaginäre oder reale Handlungsorte allerdings häufiger Städte als Dörfer markiert,

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die kleine urbanen Inseln in der abgeschiedenen, ruralen, häufig märchenhaft konnotierten Landschaft des Grenzlandes jenseits der großen Zentren darstellen. Ein bekanntes Beispiel für eine Verortung der Bukowina in einen mitteleuropäischer Raum ist Taras Prochas’kos Roman NEPROSTI (2002, Nicht einfache Leute), in dem die imaginierte Kleinstadt Jalivec’ vor den Kulissen der galizischen Karpaten zum Handlungsort einer Familiensaga wird, deren Schicksale eng mit den umgebenden Städten L’viv, IvanoFrankivs’k, Halyč, Rohatyn u.a. verbunden sind.5 Wenn Matios nun mit ihren Romanen auf die ›Leerstellen der Erinnerung‹ aufmerksam macht, so interessiert sie dabei weniger das untergegangene urbane Kulturleben der Region, als vielmehr die multikulturelle Topographie des dörflichen Lebens, die im bekannten ostmitteleuropäischen literarischen Erinnerungsdiskurs eher selten vorkommen. Für die Thematisierung der Geschichte in ihren Romanen spielt das Bild des bukowinischen Dorfs als verlorener Idylle und damit auch als identitätsstiftende Projektionsfläche des historischen Gedächtnisses eine zentrale Rolle.

DAS BUKOWINISCHE DORF ALS VERLORENE IDYLLE UND PROJEKTIONSFLÄCHE DES HISTORISCHEN GEDÄCHTNISSES Handlungszentrum beider Romane – SOLODKA DARUSJA und ČEREVYČKY BOŽOJI MATERI – ist das für die Geschichte der Bukowina repräsentative fiktive Dorf Čeremošne. Vor dem Hintergrund der komplizierten Territorialgeschichte des 20. Jahrhunderts stellt es den Mittel- und Kreuzungspunkt der tragischen historischen Mikroereignisse dar und ist als Modellfall der Geschichte in die ebenso reale wie symbolisch überhöhte Geschichts- und Erinnerungslandschaft der Bukowina eingebettet. Maria Matios entfaltet in beiden Romanen vor der Kulisse der vergessenen dörflichen Vorkriegswelt der Bukowina ein eindringliches Panorama von Schicksalen der multiethnischen

5

Vgl. dazu ausführlich Olena Dvoretskas Untersuchung zur imaginären Stadt und Mitteleuropakonstruktion in Taras Prochas’kos Roman NEPROSTI (Dvoretska 2017).

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Dorfbevölkerung – Ukrainern, Huzulen6, Juden, Polen, Russen und Rumänen –, die zwischen vielfach wechselnden Machthabern zu Opfern, Zeugen oder Mittätern der an der einfachen Bauernschaft verübten Verbrechen werden. Folgt man den Typen und Funktionen von Dorfbildern – den Dörfern des Realen, den Dörfern des Allegorischen und den Dörfern des Fiktiven –, wie sie Werner Nell und Marc Weiland aus Andreas Mahlers Typologie von Stadtbildern ableiten (vgl. Mahler 1999, Nell/Weiland 2014: 37), so lassen sich die realistischen Grundmuster der traditionellen Dorfdarstellung, die beiden Romanen in Bildern des einfachen, von der urbanen politischen Bühne weit entfernten Lebens zugrunde liegen, als Darstellung einer historischen Realität lesen, über die Matios die ruralen Dimensionen der ukrainischen Geschichte von ihren Randzonen her in den literarischen Diskurs zu reintegrieren und in ihren erinnerungskulturellen Dimensionen allegorisch auszuleuchten sucht. Im Jahr 1940 des Romans SOLODKA DARUSJA besteht Čeremošne aus zwei gleichnamigen, durch die zwischen Rumänien und dem deutsch besetzten Polen laufende Grenzziehung getrennten Dörfern, genauer gesagt, Zwillingsdörfern, die sich, wie der Erzähler rückblickend aus der Handlungsgegenwart der 1980er Jahre kommentiert, zu beiden Seiten des Flusses Čeremoš »zwischen die Hügel und bewaldeten Hänge« schmiegen, »wie an den Busen einer Frau« (Matios 2013a: 118).7 Und weiter heißt es: »Але час від часу їхня дідівщина переходила від однієї держави до іншої, мовби безвольна жінка в руки більш удатного чоловіка, – і через те час від часу і багато років, так багато, що вони іноді трамбувалися в століття, люди попід горбамиблизнюками були розділені кордоном, який проходив якраз по середині не причетної до таких змін ріки.« (Matios 2004: 101f.)

6

Huzulen wird die in den Karpaten zwischen der Ukraine, Rumänien und Polen beheimatete Bevölkerungsgruppe genannt, die heute meist als Teil der ukrainischen (ruthenischen) Bevölkerung betrachtet wird. Der huzulische Dialekt gilt als eine ukrainische Mundart, die regional stark mit rumänischen Wörtern durchsetzt ist.

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»[М]іж горбів і кичер, немов у глибокій жіночій пазусі, гніздилися двоє гірських сіл з однаковою назвою – Черемошне« (Matios 2004: 101).

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»Immer wieder geriet ihr Land in den Besitz eines anderen Staates wie eine willenlose Frau in die Hände eines geschickteren Mannes, und deswegen waren die Menschen an den Zwillingshügeln, immer wieder und viele Jahre lang, aus denen manchmal Jahrhunderte wurden, durch eine Grenze mitten im Fluss getrennt. Den Fluss ließen solche Veränderungen unberührt.« (Matios 2013a: 118)

Zum Zeitpunkt der rückblickend rekapitulierten Handlungsgegenwart, im Juni 1940, steht das ›heimatliche‹ Čeremošne am äußersten Ende der Romania Måre zunächst unter rigider rumänischer Herrschaft, die von Stellvertretern der Jåndameria und den Gråniceri sowie durch örtliche Gutsbesitzer ausgeführt wird, während das Zwillingsdorf auf der anderen, galizischen Seite des Flusses, der polnischen Herrschaft und der Schikane der örtlichen Grenzsoldaten (żołnierze) unterworfen ist, bis die Polen im September 1939 den Deutschen und diese später wieder den Sowjets weichen müssen (vgl. ebd.: 119).8 Das weiblich-passive Bild der Bukowina, die den Entscheidungen des männlich assoziierten Agens der historischen Ereignisse ausgeliefert ist, korrespondiert mit dem Bild des Dorfs als einer von der Geschichte überrollten, zerstörten Idylle. Die beiden weiblichen, zur »heiligen Prophetie prädestinierten« Außeneiterfiguren (Klein 2015) übernehmen als allegorische Personifizierungen des tragischen Schicksals der Ukraine Schlüsselfunktion für die Imagination des Dorfs als Erinnerungsort. Das idealtypische Konzept der dörflichen Idylle ist in der europäischen Kultur- und Literaturgeschichte als in sich geschlossene, harmonische kleine Welt des harmlos empfindenden und in der geborgenen Selbstgenügsamkeit der traditionsorientierten sozialen Ordnung aufgehobenen Menschen tradiert (vgl. Wilpert 1989: 403, Langthaler/Sieder 2000: 24), dem die Vorstellung von der Stadt als vielgestaltigem und unruhig dynamischem, meist entsprechend einer machtpolitisch grundierten Ordnung strukturiertem Raum konträr gegenübersteht (vgl. Nell 2014: 175f.). Matios entwirft in beiden Romanen kraftvolle, im Stile des klassischen Heimatromans stereotype Bilder der dörflichen, in sich geschlossenen Gemeinschaft, deren Kolorit sich aus der selbstgenügsamen Naturverbundenheit und naiven Gottesfürchtigkeit, aus den im Aberglauben verankerten Alltagsritualen und der Skurrilität der Dorfbewohner speist. Matios’ Darstellung des abgeschiedenen Lebens von Čeremošne orientiert sich an ausgeprägtem Lokalkolorit, sie rückt traditionelles

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Vgl. Matios 2004: 102.

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(ukrainisches und huzulisches) folkloristisches Brauchtum, Lieder, Feiertagszeremonien und dialektal gefärbte huzulische Redeweisen ins Bild.9 Basis dieser vormals scheinbar intakten Welt ist die normgebende Orientierung an religiösen Festtagen und Alltagsritualen, die im Miteinander unterschiedlicher Konfessionen gegeben ist. Die jüdischen Nachbarn werden als selbstverständlich ins Dorfleben integrierte Mitglieder der Gesellschaft dargestellt, allerdings bleiben sie als stereotype Nebenfiguren – der Schankwirt mit der Kippa, der weise Müller, der jiddisch sprechende Händler, wie in SOLODKA DARUSJA – indifferent im Hintergrund der Handlung. Matios assoziiert die Kultur des bukowinischen Dorfs primär als christlich fundiert. Das zeigt sich bereits an der Beschreibung des Dorfs, die der Erzähler des ersten Romans rückblickend zur Aufklärung des Lesers über die komplizierte Geschichte und staatliche Zugehörigkeit des Ortes einbringt: »Споконвіків мешканці обидвох Черемошних говорили майже однаковою материнською мовою, і однаково складали руки до однакового «отченашу», в один і той же день святкували Різдво і Великдень, і навіть одяг у них був схожий, і клятьби, і подяки, лиш віталися люди по два боки ріки трохи інакше, ото майже і вся різниця.« (Matios 2004: 101) »Seit jeher sprachen die Bewohner in den beiden Tscheremoschnes fast dieselbe Sprache und falteten die Hände in gleicher Weise zum Vaterunser, feierten am selben Tag Weihnachten und Ostern, und sogar ihre Kleidung, ihre Flüche, ihr Dank ähnelten einander, nur in ihren Begrüßungen unterschieden sich die Leute zu beiden Seiten des Flusses leicht, aber das war auch schon der ganze Unterschied.« (Matios 2013a: 118)

Wie wichtig Matios diese Rückbindung der Geschichte an die dörflich-regionale Tradition ist, wird auch an der Gestaltung der ukrainischen Originalausgabe von SOLODKA DARUSJA explizit deutlich: Auf der Innenseite des Einbandes sowie zwischen einzelnen Textteilen sind Porträts, Familien- und

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Es finden sich in beiden Romanen durchgehend Erwähnungen von lokalen Speisen, Kleidungs- und Liedtraditionen, deren folkloristische Spezifik, insbesondere die dialektalen Einfärbungen, auch in der ukrainischen Ausgabe durch viele Fußnoten erläutert wird. Vgl. dazu auch Hofmann 2014: 269.

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Gruppenfotos aus dem Familienarchiv von Maria Matios eingelassen. 10 Die vergilbten nachkolorierten Bilder zeigen einfache, doch stolz in die Kamera blickende Menschen in bäuerlichen huzulischen Trachten. Die Ausschnitte aus einer fast vergessenen Welt übernehmen hier als visuelle Erinnerungsbilder die Funktion von ethnokulturellen Markern, durch die die Romanhandlung bereits prätextuell ins konservierende Licht huzulisch-ukrainischen Brauchtums getaucht wird. Die anachronistische Welt der beiden Romane ist eine vormoderne Welt, in der weder das halb-urbane Leben nahegelegener Kreisstädte noch entfernte städtische Machtzentren als Spiegelungshorizonte auftauchen. Das Dorf wird hier als in sich geschlossenes Zentrum eines ursprünglichen, natur- und traditionsverbundenen, von tagespolitischen Ereignissen weit entfernten Lebens dargestellt, in das die historischen Ereignisse gewaltsam und zerstörend von Außen einbrechen. Die historischen Ereignisse werden in beiden Romanen nicht in datierten und gesellschaftlich debattierten Großereignissen reflektiert, sondern als von ›draußen‹ über die Gewaltinfernos der Okkupanten eindringende Veränderungen der sozialen Ordnungen, deren Verstehen und moralische Beurteilung eigener dörflicher Kriterien bedarf. Aus dem Blickwinkel der postkolonialen Kritik argumentiert, ist hier eine Verschiebung im tradierten Verhältnis von subalterner Peripherie und Zentrum und damit in der Opposition von Partikularem und Universalem wichtig. Die Provinz ist hier nicht das gegenüber dem universalen Zentrum partikulare und subalterne ›Andere‹, sondern – umgekehrt – sind die städtischen Machtzentren, in denen die Geschicke der Zeit fern vom dörflichen Leben gelenkt werden, seien es Moskau oder Berlin, Wien oder Bukarest, Lemberg oder Kiew, als ›das Andere‹ bzw. als das Fremde markiert. Die ›eigene‹ dörfliche Wirklichkeit wird als die ganze Welt imaginiert. Diese wird in beiden Romanen von den Lebenswirklichkeiten der beiden Protagonistinnen her entfaltet. Für die traumatisierte Erinnerung der Darusja im ersten Roman gibt es kein Reflexionsangebot von Außen, über das die Geschehnisse unbefangen aufgeklärt werden könnten. Der Erzähler lässt einen Außenblick nicht zu. Auch Ivanka im zweiten Roman stehen keine Verständnisinstrumente zu, mit denen sie die Vorfälle in ihrem Dorf jenseits der kindlichen und vom dörflichen Leben geprägten Logik verstehen könnte. Das Dorf wird so zur Projektionsfläche eines Erinnerungsdiskurses,

10 Ich beziehe mich hier auf die ukrainische Auflage von 2011, die im Verlag Piramida (L’viv) erschien.

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der die von der Geschichte überrollten Schicksale der Bukowina als passive Opfergeschichten ins Zentrum stellt. Die gestörte Idylle erscheint als Vexierbild einer vormals intakten Idylle.

KONZEPTE VON DORF UND BAUERNSCHAFT ALS SCHLÜSSEL ZUR UKRAINISCHEN IDENTITÄT Matios schreibt sich damit in die lange Tradition positiv konnotierter Bilder vom Dorf und der Bauernschaft ein, die bereits seit dem 19. Jahrhundert die Idee einer ukrainischen Identität in Abgrenzung gegenüber dem meist ›nichtukrainischen‹ Charakter der polnisch oder russisch dominierten Städte im nationalen Diskurs prägten. Die ukrainische Bauernschaft wurde im Laufe der historischen Machtverschiebungen als positiver Held gegenüber feindlichen Nachbarn oder eindringenden Fremden – seien es Polen, Rumänen, Russen oder Sowjets – idealisiert. Sie galt nicht nur als Träger spezifisch ukrainischer ethnischer Merkmale, sondern auch als Repräsentanz des ukrainischen Volkes. Von ukrainischen Nationalbewegungen, wie der Ruch (Volksbewegung der Ukraine)11 wurde der Holodomor (die Hungersnot von 1923/33) als Kernelement eines antisowjetischen Geschichtsbildes gefestigt. Das ukrainische Dorf avancierte zum Hort des von der sowjetischen Führung brutal unterdrückten nationalen Gedächtnisses (Jilge 2007: 24). Auch in der ukrainischen Literatur fand die Identifizierung des Ukrainischen mit dem Ländlichen seinen Niederschlag. Das Bild vom Dorf als Ursprung der ukrainischen Nation wurde in der Literatur immer wieder zur Wiederbelebung des Interesses an der »Dorfkultur als Ursprung der nationalen Traditionen« gepflegt (Portnova 2017: 250). Dies wurde in der Literatur des 19. Jahrhunderts auch dadurch forciert, dass eine eigenständige ukrainische Prosa durch ländlich situierte Autoren an Leben gewann – man denke etwa an die Erzählungen Ivan Kotljarevs’kyj, einer der Begründer der ukrainischen literari-

11 Die Bewegung gründete sich in den 1980er Jahren unter dem Namen Narodnyj Ruch Ukrajiny za perebudovy (Volksbewegung zur Umgestaltung der Ukraine) als ukrainische Version der Perestrojka (ukr. perebudova). Sie definierte ab den 1990er Jahren ihr Hauptziel in der Unabhängigkeit der Ukraine neu und benannte sich in Volksbewegung der Ukraine (Narodnyj Ruch Ukrajiny) um.

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schen Schriftsprache, der wie viele andere Autoren seiner Generation Ereignisse aus dem ländlichen und bäuerlichen Umfeld in den Mittelpunkt seiner Werke stellte.12 Die Vorortung des literarischen Geschehens im bäuerlichen Milieu hatte sich in der Klassik und Romantik zu Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts herauszubilden begonnen: Während ›übernationale‹ Milieus über die russische oder polnische Sprache thematisiert wurden, standen regionale – kulturelle und sprachliche – Eigenheiten der ukrainischen Landbevölkerung, Naturverbundenheit und volkstümlich-folkloristische Lebensweisen im Zentrum ukrainisch schreibender und das nationale Selbstbewusstsein prägender Autoren – allen voran beim ukrainischen Nationaldichter Taras Ševčenko, dessen Dichtung ein »ganzheitliches, ausbalanciertes Idyllenmodell als jenes« profilierte, »das ukrainische Identität etwa von russischer unterscheide« (Koschmal 2000: 4).13 Auch im Frühwerk des russisch schreibenden ukrainisch-stämmigen Nikolaj Gogol’ finden sich Erzählungen, die auf dem ukrainischen Land spielen und von Ukrainismen durchsetzt sind. Für Gogol’ war, wie Walter Koschmal betont, die Ukraine der »idyllische Ort der Ganzheitlichkeit« schlechthin (ebd.). Der Ruralozentrismus und die Idealisierung des ukrainischen Dorfs ist auch heute wieder ein konstitutiver Teil der ukrainischen nationalen Ideologie, die an die präsowjetische Ära anknüpft. Wie Tetiana Portnova in ihrem jüngst erschienenen Beitrag zur Bauernschaft und zum bäuerliche Leben im ukrainischen Intellektuellendiskurs hervorhebt, war das identitätsstiftende Konstrukt des Dorfs in den 1920er Jahren aufgrund der ökonomischen Kluft zwischen Stadt- und Landleben in die Krise geraten, hatte sich in den 1930er bis 1950er Jahren im Zuge der Stalin’schen Zwangskollektivierung nahezu aufgelöst, war in den 1960er bis 1980er Jahren im Zuge der sowjetischen Versuche der Annäherung von Stadt und Land als negatives Phänomen assoziiert und wurde erst seit den 1990er Jahren in der nun unabhängigen Ukraine als zentraler Bezugspunkt einer nationalen Identitätsfindung in Politik und Kultur wieder entdeckt (Portnova 2017). Vor diesem Hintergrund avan-

12 Vgl. dazu auch Kratochvil 2004: 64f. 13 Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren viele ukrainische Dichter und Schriftsteller selbst Bauern oder stammten aus Familien von Leibeigenen. Sie thematisierten in ihren literarischen Werken vor allem Eigenheiten des ukrainischen Dorfalltags als genuin ukrainisches Leben.

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cierte Maria Matios zur einer der bekanntesten Repräsentantin der Wiederbelebung des literarischen Interesses am Dorf und an der dörflichen Idylle als Ursprung der ukrainischen Identität. In ihrer nostalgisch-romantischen Rekursen auf das Bild des präsowjetischen Dorfs überwiegt, wie sich gerade in der Darstellung der gestörten Dorfidylle zeigt, ein Deutungsmuster der Geschichte, das die Bauernschaft als Hauptopfer nicht nur der sowjetischen Gewalt, sondern auch der daraus hervorgehenden Zerstörungsprozesse des dörflichen sozialen Organismus und damit des Fundaments ukrainischer Identität zeigt.

ALLEGORISIERUNG DER GESCHICHTE IM BILD DER ZERSTÖRTEN IDYLLE Matios’ Bild des Dorfs trägt Züge des Anti-Idyllischen dort, wo die Rohheit des Landlebens die umfassende Gewalt der Geschichte im Kleinen weiterträgt oder wo Aberglaube eine Dynamik bösartiger sozialer Ausgrenzung entfaltet – etwa, wenn, wie in SOLODKA DARUSJA, die Dorfnachbarn eine verheiratete Frau wegen offen getragener Haare zur Hexe degradieren oder eine vermeintlich unkeusche Witwe einem schrecklichen Bestrafungsritual aussetzen.14 Die Einbrüche der von Außen eindringenden Gewalt überschreiten solche soziopathologischen Verhaltensweisen in beiden Romanen um Dimensionen der nicht mehr eindeutig zwischen Gut und Böse verortbaren Ereignisse.15 Die Idylle wird »in eine Schädelstätte verwandelt« (Klein 2015) und verweist, so in ihr Gegenteil verkehrt, auf das Unheimliche, Angsteinflößende, Grausame, das mit den ›fremden‹ Mächten Einzug im Dorf hält

14 Das Bild vom rauen und gnadenlosen dörflichen Sozialleben wird in beiden Romanen durch nebenbei eingestreute Episoden untermalt, wie beispielsweise in SOLODKA DARUSJA die Geschichte von Mychajlos Mutter, die als Witwe dem Misstrauen der Nachbarinnen ausgesetzt ist. Aufgrund der Gerüchte, dass sie sexuelle Beziehungen zu deren verheirateten Männern pflege, wird sie zur Strafe nachts an einen Baum gebunden. Sie wird von Wölfen aufgefressen, die Tat hat keine strafrechtlichen Folgen (Matios 2013a: 97f., Matios 2004: 84). 15 »›Ich weiß nicht mehr, was Sünde ist und was… ‹«, lässt Matios den Pfarrer auch in ČEREVYČKY BOŽOJI MATERI sagen (Matios 2015: 142) / »›Я вже сам не знаю, де гріх, а де… ‹« (Matios 2013b: 136)

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und damit die ›eigenen‹ Traditionen zum letzten schützenden Refugium macht. Die beiden Romane sind nun alles andere als sozialkritische Auseinandersetzungen mit der persönlichen Verantwortung für die historischen Verbrechen, die sich in einer anti-idyllischen Allegorisierung des Bösen im Dörflichen anbieten würde. Im Gegenteil, sie verlassen den Bereich des AntiIdyllischen insofern, als erst vor dem Hintergrund der Zerstörung des friedlichen dörflichen Miteinanders eine ganzheitliche idyllische Totalität des ukrainischen Dorfs als Verlust imaginiert wird und als Moment des verlorenen, wenn auch nur noch in seinem Zersetzungsprozess darstellbaren Idealzustands seine ästhetische Wirkung entfaltet. Die Protagonistinnen Darusja und Ivanka – stumm, ergraut und von zersprengenden Kopfschmerzen geplagt die eine, von Ängsten, epileptischen Anfällen und stotternder Sprache in ihrer kindlichen Wissbegier verhindert die andere – personifizieren geradezu plakativ ukrainische Leidensschicksale, die aus der Sowjetisierung und kollektiven Terrorerfahrung, aber auch aus gesellschaftlichem Schweigen und dem (Nicht)Umgang mit den traumatischen Nachwirkungen von selbst erlittener oder mit erlebter Gewalt gegenüber anderen hervorgegangen sind. Die Romanhandlung in SOLODKA DARUSJA setzt in den 1980ern zu einem Zeitpunkt an, da die Erinnerung an die 1930er und 1940er Jahre bereits in die Legendenbildung verdrängt ist und in der wieder hergestellten Idylle sich keiner mehr an die Details der Vergangenheit erinnern kann und will. Der Leser erfährt erst mit den, Mitte des Romans einsetzenden, Rückblenden von der Vorgeschichte und den Gründen für Darusjas Stummheit, ihre chronischen Schmerzen und ihre nach außen hin seltsam scheinenden Rituale, wenn sie zur Schmerzlinderung bis zum Hals ins kalte Wasser des Dorfteichs steigt, auf dem Friedhof Zwiegespräche mit ihrem verstorbenen Vater führt oder sich stundenlang in die Erde eingräbt. Die Gründe sind in der Kindheit und den tragischen Geschehnissen im Jahr 1940 zu suchen, da die Zerstörung der Idylle ihren Anfang nimmt: Der überaus harmonischen Beziehung zwischen den Eltern Darusjas, den einfachen ukrainischen Bauern Matrjonka und Mychajlo – in deren Beschreibung sich viele folkloristische Elemente hinsichtlich Kleidung, Brauchtum, Speisen und Sprache finden16 – kann zunächst weder die Besatzung Čere-

16 Vgl. dazu im ukrainischen Original das Kapitel Mychajlove čudo (Mychajlovs Wunder) (Matios 2004: 79f.) und in der deutschen Übersetzung das Kapitel III.

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mošnes noch die Missgunst der Dörfler etwas anhaben. Ihre liebevolle Zweisamkeit geht friedlich in einem zutiefst traditionsverbundenen Leben und der anspruchslosen gottesfürchtigen Liebe zueinander auf. Sie stehen symbolisch für ein Idealbild der unschuldigen ukrainischen Bauernschaft. Die Geschichte geht ihren Gang, bis die rumänischen Dorfpolizisten durch die Sowjets abgelöst werden, die, von den Bauern zunächst als Befreier wahrgenommenen, dann äußerst rabiat ›Ruhe und Ordnung‹ in der Region durchsetzen. Aus der kurzzeitigen Besetzung durch die deutsche Wehrmacht und der Gefahr der vorbeiziehenden Front geht das Dorf – bis auf die brennenden jüdischen Schenken und eine wahnsinnig gewordene Kuh – halbwegs ungeschoren hervor. »Es war Leben, und es war Krieg, voneinander getrennt und zugleich miteinander verwoben.« (Matios 2013a: 180)17 Die eigentliche irreparable Verstörung erfährt das idyllische Glück des Paares in der Nachkriegszeit durch das harte und beharrliche Vorgehen der Sowjets und ihrer Unterstützer gegen den Widerstandskampf der Partisanen18 (»Aber wir sind geduldig. Keiner ist so geduldig wie die Sowjetmacht und ihre Unterstützer«, ebd.: 188).19 Die Mutter Matrjonka, der Unterstützung zweier flüchtender Partisanen beschuldigt, wird von sowjetischen Soldaten entführt, gefoltert und vergewaltigt (vgl. Matios 2004: 173f.).20 Ihr jahrelanges zähes Schweigen darüber stürzt den Vater in rasende Eifersucht und verleitet ihn zu gewalttätigen Übergriffen gegenüber seiner Frau. Die durch die sowjetische Macht ausgelöste Gewaltspirale und das nicht verarbeitete Trauma werden im Laufe des Romans zum roten Faden einer antisowjetischen Fiktionalisierung der Geschichte: So wird der ukrainische Bauer Mychajlo, Darusjas Vater, erst in Folge der sowjetischen Gewalt selbst zum Gewalttäter. Die Ausbrüche des

(Matios 2013a: 93f.). Viele dialektal geprägte Begriffe werden in der Originalfassung in Fußnoten erklärt. 17 »Життя і війна тривали одночасно, водночас залежні і незалежні одне від одного.« (Matios 2004: 154) 18 Matios schildert detailliert einzelne grausame Szenen, wie etwa die bestialische Ermordung eines jungen Pärchens, das als Unterstützer der Partisanen entlarvt wurde und deren geschändete Leichname öffentlich zur Schau gestellt werden (Matios 2013a: 184, Matios 2004: 157). 19 »Але ми терплячі. Ніхто не є такий терплячий, як радянська влада і її представники!« (Matios 2004: 160) 20 Matios 2013a: 23f.

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Vaters und der von einem sowjetischen Geheimdienstoffizier, dem ehemaligen Peiniger der Mutter, perfide eingefädelte Verrat der kleinen Darusja an den Eltern21 treiben die Mutter in den Freitod und rauben dem Kind Sprache und Verstand.22 Erst über die am Ende des Romans aufgelösten Verstrickungen wird die allegorische Funktion der Figur Darusjas unmissverständlich untermauert: Den unter den Sowjets erlittenen traumatischen Erlebnissen und den aus der Gewaltspirale resultierenden Ereignissen wird die Sprache und damit dem erlittenen Leid jegliche Möglichkeit zur persönlich und kollektiv aufarbeitenden Artikulation entzogen. Das Schweigen der Mutter wird über den Schock des Kindes, das die Mutter aufgehängt an ihrem eigenen ukrainischen Zopf tot auffindet, an dieses weitergegeben. Die Tochter bleibt mit dem unverständlichen ›ererbten‹ Schmerz und mit der über die Generation weiter gegebenen Sprachnekrose allein. Auch in der erzählten Gegenwart der 1980er Jahre ist das Sprechen über die Vergangenheit gehemmt. Die Möglichkeit, über vergangene Pein und Schuld zu erzählen, scheint in Dialogen der Dorfbewohner im Ausklang des Romans allenfalls als Hoffnung für die Zukunft auf. »›Але мовчать люди – дотепер бояться… декому й невигідно правду згадувати.‹ […] ›Щось тобі, дочко таке розкажу, що нікому ще не казала. Але скоро буду вмирати, то мушу виговоритися.‹ […] ›Бабко, а що, ця наша солодка Даруся від роду така німа та дурна?‹ ›Не від роду – від судьби. […] Виростеш – я тобі все уповім. Як дожию…‹« (Ebd.: 181-184) »›Aber keiner sagt was, die Leute haben immer noch Angst… und manche wollen sich lieber nicht erinnern, wie’s wirklich war.‹ […] ›Ich muss dir was erzählen, Töchterchen, was ich noch keinem erzählt habe, denn ich sterbe bald und muss das jetzt los werden.‹ […] ›Großmutter, Darina, die Süße, ist die schon von Geburt an stumm und blöd?‹ ›Nicht von Geburt, vom Schicksal. […]. Wenn du groß bist, erzähl ich dir alles. Wenn ich dann noch lebe…‹« (Matios 2013a: 212-216)

21 Da sie dem Lockangebot eines roten Lutschers, der ihr für den Verrat von einem sowjetischen Offizier angeboten wurde, nicht widerstehen konnte, ist sie vom ›süßen Verrat‹ traumatisiert und trägt fortan den Spitznamen Darina die Süße (Solodka Darusja) (Matios 2013a: 211, Matios 2004: 180). 22 Einige Anregungen zu diesen Überlegungen verdanke ich dem Gespräch mit Roman Dubasevych.

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Eine ähnliche Spirale von physischer und psychischer Gewalt und Artikulationsversagen, das symbolisch für das Schweigen über die traumatischen Erfahrungen steht, ist auch in der vormals heilen Dorfwelt von ČEREVYČKY BOŽOJI MATERI verankert. Hier erfährt die märchenhaft stilisierte und zugleich mystisch-unheimlich dimensionierte Welt des Mädchens Ivanka Irritationen und irreparable Störungen durch die zunächst friedliche, dann in Terror umschlagende Sowjetisierung des Dorfs sowie durch die darauffolgende Ermordung der jüdischen Bevölkerung durch die Deutschen. Die Erzählung folgt den Geschehnissen aus dem kindlichen Blickwinkel des Mädchens. Es wird gezeigt, wie dessen volkstümlicher und unschuldiger Aberglaube und dessen nach Kategorien von ›Gut‹ und ›Böse‹, ›Eigen‹ und ›Fremd‹ wohlgeordnete Welt von der gänzlich unbegreifbaren grausamen Realität aus den Fugen gerät. Der »rote Kommissar«, zunächst bewundertes Idol des Mädchens, wird zum Inbegriff des Bösen – »gestern noch ist er ein guter Mensch gewesen, heut ist er eine Bestie« (Matios 2015: 156).23 Steht am Anfang des Romans noch Ivankas furchtvoll-faszinierte Frage nach dem Sinn der mythischen Gewalt beim Brudermord zwischen Kain und Abel, die sich dem Mädchen im Bild von zwei auf dem Mond stehenden, mit Mistgabeln aufeinander losgehenden Brüdern versinnbildlicht, so folgt später die gleichermaßen naive wie aufrichtige, an den realen Ereignissen entzündete Frage: »Was heißt, die Juden zu Tode prügeln? […] Was ist an diesem jüdischen Gott anders? Und was an Eli anders, bis auf seine Locken?« (Ebd.: 68f.)24 Der Wissbegier und den naheliegenden Fragen des Kindes begegnen die Dorfgemeinschaft und die Eltern ausweichend und mit Unverständnis. »›Ein Mädel soll lange Haare haben und einen kurzen Verstand. Doch bei dir ist alles anders… alles. Das Kind ist nicht von dieser Welt, Gott sei uns gnädig‹.« (Ebd.: 74)25 Matios verknüpft also auch hier das Motiv der Artikulationsstörung mit dem Motiv der zerstörten Idylle. Die Enge des Dorfs und die

23 »[В]чора добрий чоловік, з якого сьогодні зробився звір« (Matios 2013b: 150). 24 »Як то жидiв на смерть бити?! […] Що в тiм жидiвському Боговi iнакшого? I що в Елi iнакшого, крiм кучерiв?« (Matios 2013b: 65f.) 25 »У дівки має бути довгий волос і короткий розум. А в тебе все не так… все не так. …Ця дитина як не від світу цього, Господи прости…« (Matios 2013b: 71)

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archaische Schicksalsergebenheit seiner Bewohner, der ethnische Ressentiments inhärent sind, verlieren im Laufe des Romans durch die hereinbrechende Gewalt endgültig an Unschuld. Die Welt des realen Terrors und die im naiven Aberglauben des Mädchens verankerten mythischen Bilder der Gewalt verschränken sich. Doch es scheitern alle seine Versuche, die Geschehnisse der äußeren Welt mit den Gesetzen der kindlichen und als authentisch assoziierten Vorstellungskraft in Einklang zu bringen. Die Ursprünglichkeit von Ivankas Zugang zur Welt gerät in Konflikt mit der aufgeklärten Welt, in der falsch interpretierter Aberglaube verheerende Folgen haben kann. Denn ihre vergebliche Suche nach der Mitternachtsblüte, so auch der Titel der deutschen Übersetzung des Buches, die das Böse in der Welt wegzaubern soll, führt zur Blutvergiftung. Die heile Welt des Mädchens ist vergiftet, niemand, der in sie eintritt, vermag unschuldig zu bleiben. Der vom Tod bedrohten Ivanka können weder die als Hexe verschriene »Moskoviterin«, Tochter eines von Russen im Ersten Weltkrieg vergewaltigten Dorfmädchens, noch der Dorfheiler helfen. Am Ende ist es der jüdische Wunderdoktor, der ihr das Leben rettet. Dem Mädchen bleiben von der Blutvergiftung zwei Stigmata: epileptische Anfälle und Stottern. Nun wird ihm aber gerade dadurch die Kompetenz des emphatischen Mitleidens mit dem Leid der ›Anderen‹, in diesem Fall der jüdischen Nachbarn, jenseits einer rational einordnenden Sprache zuteil. Dem jüdischen Spielkameraden, der mit den anderen Juden durch die Dorfstraße zur Erschießung getrieben wird, küsst Ivanka spontan die Hand. Am Ende des Romans, als ihre emphatische Hilfsbereitschaft letztlich nicht zur Rettung der jüdischen Nachbarn beitragen kann, irrt sie, durch die ihr fremd gewordene, nicht mehr unschuldige bukowinische Landschaft. An beiden Romanen zeigt sich, dass gerade das Reduktionsmodell des Dorfs prädestiniert ist, die komplizierten historischen Ereignisse in überschaubaren personenbezogenen Handlungszusammenhängen zu imaginieren und in ethisch regulierbaren erinnerungskulturellen Dimensionen auszuleuchten (vgl. dazu Nell/Weiland 2014: 34).26 Mit Norbert Mecklenburg kann man auch bei Matios von einem »hermetische[n] Experimentalraum« und einem fiktionalen »epischen Versuchslabor« sprechen, »das es erlaubt,

26 Werner Nell und Marc Weiland beziehen sich hier auf Jörg Schönerts und Bettina Wilds Untersuchungen zur Modellhaftigkeit und Typologie von Berthold Auerbachs SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN (Schönert 2002, Wild 2011).

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Wirklichkeit« und man kann hinzufügen: historische Wirklichkeiten »auf wenige, leicht kontrollierbare Elemente« zu reduzieren (Mecklenburg 1982).27 Matios’ Dorf ist in diesem Sinne ein Dorf des Allegorischen, um auf die oben eingeführten Typologien des Dorfs nach Nell/Weiland (2014: 37f.) zurückzukommen, dessen erzählte Lebenswelt in überschaubaren semantischen Beziehungen auch ›auf ein anderes‹ als sich selbst verweist und ›etwas außerhalb seiner selbst liegendes‹ symbolisiert. So steht Matios’ Bild der zerstörten Dorfidylle von Čeremošne zum einen für sich selbst als Sehnsuchtsbild einer ukrainischen dörflichen Identität und in den Personifizierungen der Protagonistinnen zum anderen jeweils allegorisch für das verheerende Schicksal, das die Bukowina, hier stellvertretend für die Ukraine, unter dem ›Rad der Geschichte‹ unter den Sowjets und den Deutschen erlitten hat. Darusja und Ivanka sind zugleich als Märtyrerinnen-Figuren angelegt, die das transgenerational ererbte, aber gesellschaftlich unverarbeitete Leid in Schmerz und Sprachlosigkeit erdulden (Darusja) und die Mitschuld an den Martern der Anderen symbolisch auf sich nehmen (Ivanka).

ENTTABUISIERUNG UND VERKITSCHUNG DER VERGANGENHEIT Kommen wir nun zu der Frage nach dem Verhältnis von Fiktionalisierung und Verkitschung der Vergangenheit in Matios’ geschichtsmodellierender Idealisierung des ukrainischen Dorfs zurück. Kitsch tritt da in Erscheinung, wo das fiktionale Erzählen oder Bebildern der Wirklichkeit zu Gunsten der moralischen Einfachheit und mit dem Anspruch einer verallgemeinerbaren Deutung gegenwärtiger oder vergangener Ereignisse bestimmte Stimmungen oder Gefühle in einem überhöhten Maße anspricht. Werke, die über affektiv besetzte Fiktionalisierungen der Geschichte dem Rezipienten einen

27 Zitiert nach Nell/Weiland 2014: 34. Hier folge ich Werner Nells und Marc Weilands Bezugnahme zu Mecklenburgs Verständnis von provinziellen Lebenswelten als raumzeitlich abgeschlossene Räumen (Orientierung an natürlichen, den erzählten Alltag vorstrukturierenden Raum-Zeit-Ordnungen) und sozial geschlossenen Systemen (sozial wirkmächtige Organismus-Metapher der Gemeinschaft). Vgl. dazu Nell/Weiland 2014: 34f. und Mecklenburg 1982: 46f.

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emphatisierenden Zugang zur Deutung der vergangenen Ereignisse vermitteln, sind gerade im Kontext kommerzialisierter erinnerungskultureller Auseinandersetzungen mit Deutungsmustern des Zweiten Weltkriegs ein häufig vorkommendes Phänomen. Bekanntestes Beispiel dafür ist Steven Spielbergs Schindlers Liste, ein Film über den Holocaust, der an bekannte, im kollektiven Gedächtnis gespeicherte Bilder – wie das Tor zum Lager in Ausschwitz, der Schlot des Krematoriums, leere Koffer oder Haufen an Goldzähnen – anknüpft und durch ihre ästhetische Überformung zugleich einen stärkeren Wirklichkeitseffekt zu erzeugen sucht (vgl. Nuy 2012). Einerseits liegen die Gefahren einer solchen ästhetischen Überformung in der trivialen Stereotypisierung von Freund- und Feindbildern und in der sentimentalen Weichzeichnung der traumatischen physischen und psychischen Gewalt, die das ›Unsagbare‹ letztlich im ›Ungesagten‹ belässt. Die schnelle Erzeugung von Gefühlen, die dem Kitsch eigen ist, strebt eine unmittelbare und umfassende Wirkung an,28 bleibt jedoch, wie Walter Killy in seinem VERSUCH ÜBER DEN LITERARISCHEN KITSCH herausgearbeitet hat, einem »poetischen Realismus verhaftet, weil er seinen fundamentalen, märchenhaften Antirealismus überspielen muss« (Killy 1970: 30). Andererseits liegt das Potential des Kitsches darin, als Impulsgeber für das kollektive Gedächtnis zu fungieren und die im Erinnerungsdiskurs oftmals komplex verankerten Themen in die Evidenz der einfachen Botschaften und damit in den ästhetischen Bereich des emphatisch Nachvollziehbaren zu überführen. Wie Wolfgang Braungart formuliert, spekuliert der Kitsch »ganz unverstellt auf diese Fähigkeit zur ästhetischen Evidenz, aber ohne symbolische Komplexität zu beanspruchen […]. Der Kitsch ist einfach da.« (Braungart 2002: 19) Verkitschende Momente treten in Matios’ Romanen in diesem Sinne vor allem da hervor, wo die tragischen Elemente der Erzählung als Teil einer ethno- und ruralozentristischen Erinnerungslandschaft symbolisch überhöht und affektiv aufgeladen oder die schrecklichen Geschehnisse an religiösmystische Dimensionen der Schicksalshaftigkeit rückgebunden werden. So beispielsweise, wenn in SOLODKA DARUSJA die Unausweichlichkeit des Schicksals von Darusjas Eltern bereits durch die folkloristische Tanzmusik zu ihrer Hochzeit besiegelt zu sein scheint, die hier mit Emotionen wie Trauer und böser Vorahnung und zugleich mit den rauen Gesetzen der Natur

28 »Der Kitsch nämlich strebt eine möglichst totale Wirkung an […].« (Killy 1970: 16)

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in Verbindung gebracht werden – einer »unheimlichen Huzulka« (ein ukrainischer Volkstanz), »die stürmisch wie ein Betrunkener, endlos wie ein Trauergesang, wie durch finstere Mächte oder in mitternächtlichen Ausschweifungen die Seele nach außen kehrt« (Matios 2013a: 101f.)29 und einer »Hora Mara« (ein rumänisch-bukowinischer Volkstanz), »die gleich der Trauer auf einer unablässig im Wind wogenden Fichte auf einer Felsspitze nicht zu fassen ist«30 und als »verbrecherische Melodie« den Körper von innen heraus mit dem »Verbot der höchsten Mächte« durchflutet, die »vorgezeichnete Schicksalslinie« zu verlassen (Matios 2013a: 102f.).31 Derartige symbolisch-allegorische Überladungen führen ein Zuviel an Semantik als eine Stimmung vor, die »nicht überfällt, sondern induziert ist und stimulieren soll«, und als solche stets ein »Letztes« und »Absolutes« anvisiert (Giesz, zitiert nach Braun 2002: 106). So sind in beiden Romanen weder die Kollaboration noch die Okkupation oder der Vernichtungspolitik als historisch aufzuarbeitende Ereignisse das eigentliche Thema der Erzählung, sondern eine schlichte »Wahrheitsfindung«, wie Matios in einem von ihr selbst stammenden Motto dem Roman ČEREVYČKY BOŽOJI MATERI als Anliegen voranstellt: »Пробачте… Бо я пробачаю. Усім і все. Але пам’ятаю. Про всіх і все. І хочу правди, бо без правди – не годен. Бо нема пересичення правдою, каяттям і прощенням.« (Matios 2013b: 1)

29 »Після несамовитої, буйної, як п’яний чоловік, і безконечної, як похоронні голосіння,«гуцулки», здатної витрусити душу не гірше, ніж нечиста сила чи опівнічний блуд.« (Matios 2004: 87) 30 »О, хто не знає, чим для гірської людини є ›гора-маре‹, тому ніколи не перекажеш навіть найточнішими словами і барвами дивну, непередавану суміш її суті, ані її невловного трагізму, як не вловиш ніколи печалі у вічно розгойдуваній вітром смереці на вершині скали.« (Matios 2004: 87; Hervorhebung der Autorin) 31 »[М]елодія-злодій« […] »жорстокий, нелюдський припис всевишніх сил про неможливість вийти за лінію наперед визначеної тобі долі…« (Matios 2004: 88)

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»Verzeiht… Denn ich verzeihe. Allen und alles. Doch ich erinnere. Alle und alles. Und ich will Wahrheit, denn ohne Wahrheit geht es nicht. Denn es gibt kein Zuviel an Wahrheit, Reue und Vergebung.« (Matios 2015: 5)

Können wir Matios Herangehensweise als post-memoriale Form einer Ästhetisierung der Vergangenheit deuten, die mittels der Kraft emotionaler Bilder zum problembewussten Nachdenken über die historischen Traumata anregt? Oder haben wir es mit einer Vereinfachung zu tun, deren Potential eher in der affektiven Wirkung des bisher noch nicht Erzählten liegt und deren ästhetische Evidenz nach keiner weiteren Reflexion verlangt? Hier lohnt es sich, einen kurzen Blick auf den Trailer zur Verfilmung von SOLODKA DARUSJA von Alexander Denysenko (2015) zu werfen, der hinsichtlich dieser Frage eine überaus deutliche Sprache im Sinne des Letzteren spricht:32 Was wir hier sehen, ist historisch-folkloristischer Erinnerungskitsch in Reinform: Unterlegt von Klängen einer traditionellen Maultrommel und von dramatischen, permanente Bedrohung suggerierenden Rhythmen, zeigt der Trailer glatte farbenreiche Bilder des märchenhaft in die beschaulich-archaische Karpatenlandschaft eingebetteten Dorfidylls. Die Bilder der ukrainisch-huzulischen Dorfhochzeit zeugen von einem Dasein, das von lokalem Brauchtum und identitätsstiftenden regionalen Ritualen geprägt ist. Die traditionelle Ordnung dieser in ihrer Rauheit heilen Welt, wird sukzessive durch das mit den Sowjets, in Gestalt von stereotypen bösen Offizieren, einbrechende Unheil zerstört. Die Figur der Darusja – als junge, schöne Frau in traditioneller Kleidung, dargestellt von der polnischen Schauspielerin Magdalena Różańska – liefert die pathetisch über das Opferschicksal des ukrainischen Volkes berichtende Erzählerstimme, durch die das gesamte Geschehen in ein gefühlsbeladenes Narrativ der ukrainischen Leidensgeschichte getaucht wird. Im Film werden, wie der Trailer zeigt, die im Roman bereits angelegten verkitschenden Elemente aufgegriffen und visuell überzogen. In beiden Romanen, insbesondere in ČEREVYČKY BOŽOJI MATERI, dient eine simplifizierende, an die Gefühle des Lesers appellierende Ästhetisierung der komplexen historischen Ereignisse zugleich als Brückenschlag zwi-

32 Ein Trailer findet sich in englischer und ukrainischer Sprache auf der Homepage zum Film (Sweet Darusya 2015).

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schen Ukrainisierung der Geschichte und der vorsichtig angedeuteten Integration von Schuld und Täterschaft in das historische Gedächtnis. Dies wird besonders an der Darstellung der Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung im Dorf Čeremošne deutlich, die neben der Schilderung der Deportationen der ukrainischen Bewohnerschaft eine zentrale Stelle im finalen Handlungsverlauf einnimmt. Allein die Tatsache, dass Matios das Thema offen und mit Anteilnahme schildert, ist bemerkenswert, wie Roman Dubasevych bereits im Hinblick auf Matios Erzählband NACIJA feststellte, schreibe sie damit doch das Schicksal der Juden dem ukrainischen Erinnerungskanon ein, dem bisher, wie man an der Bedeutung des Holodomor im ukrainisch Gedenken sehen konnte, ethnische Exklusion angehaftet habe (vgl. Dubasevych 2015: 208). Vor allem mit Blick auf das Ende des Romans kann man sehen, dass sich die rurale multiethnische Geschichte der Gewalterfahrungen – erst unter den »roten Kommissaren«, dann unter der deutschen Wehrmacht – in der Figur Ivankas einerseits symbolisch zu einer gemeinsamen Geschichte verbindet, damit andererseits jedoch in einem übergeordneten Narrativ der Opfergeschichte der Ukraine homogenisiert wird: Das Mädchen Ivanka wird Zeugin, wie die Dorfbewohner zur Deportation gesammelt werden (vgl. Matios 2015: 147f.).33 Die ukrainischen Nationalisten, vermeintliche Diversanten und Mitläufer, sollen als »gefährliche und schädliche Elemente« von den Sowjets in abgelegene Regionen Russlands deportiert werden (vgl. ebd.: 148).34 Unter den willkürlichen Anschuldigungen der sowjetischen Offiziere erscheinen hier alle gleich, egal ob Ukrainer oder Rumäne, Jude oder Christ. Doch das reicht Matios nicht. Als Zeichen der Anteilnahme der Ukrainer am Schicksal der jüdischen Nachbarn führt sie das jüdische und das christlich-ukrainische Schicksal des Dorfs in zwei dramatischen Szenen zusammen: Die hochschwangere Jüdin Chaja flüchtet sich vor der drohenden Deportation ausgerechnet in die orthodoxe Kirche. Dort bringt sie mit Hilfe Ivankas und des Priesters Onufrij ihr Kind zur Welt. Im Namen der Nächstenliebe, so wird hier mehr als deutlich gemacht, wirft selbst der Priester strenge religiöse Gesetze, die der Jüdin Einlass in der Kirche verwehren, über Bord. Es obsiegt die Menschlichkeit über religiöse oder ethni-

33 Matios 2013b: 140f. 34 Matios 2013b: 142.

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sche Differenzen (»Im Leben kommt es manchmal vor, dass ein Menschenleben mehr zählt als eine Sünde vor Gott«, ebd.: 158f.).35 Damit jedoch nicht genug, bricht sich Ivankas überidentifizierendes Mitgefühl beinahe in einem jiddischen »Oi, wej is mir!« Bann (ebd.: 140).36 Mit diesem Akt der symbolischen Opferkomplizenschaft zwischen Ukrainern und Juden glättet Matios die historischen Widersprüche mehr als sie reflektierend zu unterscheiden. Das wird umso deutlicher da, wo sie auch die Frage nach der Zeugenschaft und nach der Mitschuld der Ukrainer am Holocaust in ein symbolisch überzeichnetes Bild der Katastrophe und der Schuldübernahme integriert: Nachdem die Sowjets vor dem Einmarsch der rumänischen und deutschen Truppen geflohen und die Wehrmacht die Macht im Dorf übernommen hat, erfolgt die Massenerschießung der Juden durch die Nazis, passiv begleitet durch die zuschauende Dorfbevölkerung und aktiv unterstützt durch einige Handlanger der Nazischergen: Matios führt mit den Nebenfiguren Petry Klim, Petro Djačuk und den Španjuki-Brüdern explizit einige ukrainische Häscher und damit willige Helfer der deutschen Verbrechen ein, was wohl eher ein Novum in der ukrainischen Literatur sein dürfte. Die detaillierte Schilderung, wie die jüdischen Nachbarn durch das Dorf getrieben und sadistisch ermordet werden, reduziert sich jedoch auf stereotype Zeichnungen der jüdischen Figuren und des gezielt emotionalisierten Leidenspathos, das, eingebettet in ukrainisch-jüdisches Lokalkolorit (die dem Tod Geweihten flehen nun wechselweise auf jiddisch und ukrainisch), im Pathos der selbstaufopfernden Anteilnahme Ivankas verinnerlicht wird. Sie versteht nun auf einmal deutlich, was vor sich geht (»Da war nicht viel zu verstehen: Die Juden wurden getrieben«, ebd.: 181),37 und tritt, trotz Angst vor den Schärgen, dem Unheil mutig entgegen: Ihrem jüdischen Spielkameraden Sisjo, der mit den anderen jüdischen Dorfbewohnern wie Vieh durch das Dorf getrieben wird, küsst sie die Hand, als sie von ihm erfährt, dass die Juden »in den Himmel« gebracht werden (ebd.: 191).38 Ihrem Entsetzen über die Gräueltaten der Nazis und ihrem Weinen begegnet er wiederum, tränenüberströmt, im

35 »У життю часом буває так, що чиєсь життя важить більше, ніж гріх перед Богом.« (Matios 2013b: 153) 36 Matios 2013b: 134. 37 »Богато не було що розуміти – гнали жидів.« (Matios 2013b: 173) 38 Matios 2013b: 183.

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Wissen um den nahenden Tod, mit dem Glauben, an das ›eigentlich‹ Gute im Menschen: »›Я знаю, ти плачеш! Ме тор нит вейнен. Ди бист а гуте. Обер нит але менчн iз гут. Ме тор нит вейнен. Я тобi помахаю з неба крильцями… Местаме, дус из ундзер тейт. Дус из шреклих‹.« (Matios 2013b: 197) »Ich weiß, dass du weinsst! Me tor nit wejnen. Du bist a gute. Ober nit ale mentschn sajnen gut. Me tor nit wejnen. [jidd.] Ich winke dir mit den Flügeln vom Himmel… Misstome, duss is undser tojt. Duss is schreklach.« [jidd.] (Matios 2015: 205)

Was der Roman auf ästhetischer Ebene verspricht, eine Erweiterung des ukrainischen Erinnerungskanons um die Gedächtnisarbeit am verdrängten Thema der jüdischen Schicksale, löst er auf ideologischer Ebene nicht ein. Denn in diesen pathetischen Bildern des Leids und Mitleidens werden die den historischen Ereignissen inhärenten und auch angesprochenen Widersprüchlichkeiten zwar geglättet, aber nicht geklärt. Das Inkommensurable der Geschichte wird in einem Kitsch des Mitleids homogenisiert oder, um mit Ruth Klüger zu sprechen, der »Heiligenschein« der »Unsagbarkeit« des Vergangenen wird durch die gezielte Kultivierung bestimmter Gefühle um ihrer selbst willen in eine »Kitsch-Aura verklärt« (Klüger 2006: 55). Im Schlussbild des Romans, das mit dem letzten, vom Himmel sich »ergießenden« Todesgebet der Juden Sch’ma Israel eingeläutet wird (Matios 2015: 206),39 führt Matios schließlich im überidentifizierenden aufopferungsvollen Mitleiden des ukrainischen Mädchens das Leid der jüdischen ›Anderen‹ mit dem ›eigenen‹ ukrainischen Leiden als dessen Teil zusammen. Überspitzt wird hier das Moment der Überidentifikation dadurch, dass das Mädchen um sich herum alles, selbst die Natur, als jüdisch wahrnimmt – Wind und Wald raunen ihr jiddische Worte zu. Zugleich deutet sich darin auch der Verlust der identitätsstiftenden Heimat an: Beim Versuch, einen letzten Überlebenden, einen jüdischen Jungen, in jener Erdhöhle zu verstecken, die ihr der Großvater als Geheimversteck der ukrainischen Widerstandskämpfer anvertraut hatte, wird Ivanka, wie alle um sie herum, wahnsinnig: Der Pfarrer des Ortes spricht ein Gebet »das selbst er nicht verstand« (ebd.: 207). 40 Ivanka

39 Matios 2013b: 198f. 40 Matios 2013b: 199.

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schreit als kollektives Schuldeingeständnis das Vater Unser in den Wald, das jedoch die »Stille« des ihr nun schon fremd gewordenen Dorfs nicht durchbrechen kann.

FAZIT Die besprochenen Romane von Maria Matios repräsentieren eine gegenwärtige Wiederkehr des Dorfs in der ukrainischen Literatur. Das Dorf dient hier als Projektionsfläche einer Wiederaneignung der ukrainischen Geschichte. Die Wiederaneignung der ruralen Bukowina als stellvertretend für das Schicksal der Ukraine stehendem Lebens- und Erinnerungsraum geht einher mit Bildern einer archaischen Idylle des ukrainischen Dorfs, die durch die traumatischen historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts, durch den Zweiten Weltkrieg, wechselnde Besatzungen, vor allem aber durch die sowjetische Okkupation zerstört wird. Über die ruralen Randzonen der Geschichte schreibt sich Matios damit in einen Erinnerungsdiskurs ein, der als Gegendiskurs zum sowjetischen Narrativ des ›Großen Vaterländischen Krieges‹ sowohl Traumata und Tabuthemen der Geschichte aufgreift, als diese auch in einen neuen nationalen Erinnerungsdiskurs zu integrieren sucht. Die Hinwendung zu lokalen, regionalen und folkloristischen Bezugspunkten der ukrainischen Erinnerungskultur korreliert mit dem Versuch, unaufgearbeitete Themen der ukrainischen Geschichte als gleichwertige Themen in den ukrainischen Erinnerungskanon zu integrieren, und zwar insofern, als das Dorf oberflächlich im Bild der multiethnischen Idylle imaginiert wird. Dennoch scheitert dieser Versuch letztlich an der ethnozentrischen Perspektivierung der Handlung. Die weiblichen Protagonistinnen stehen allegorisch für das Leidensschicksal der Ukraine (insbesondere in SOLODKA DARUSJA) und für das Motiv der Annahme auch des Schicksals der jüdischen Bevölkerung als Teil der ›eigenen‹ tragischen ukrainischen Geschichte (insbesondere in ČEREVYČKY BOŽOJI MATERI). Doch zwischen Enttabuisierung und Verkitschung der Vergangenheit werden die widersprüchlichen und unbearbeiteten Themen der ukrainischen Geschichte weniger reflektiert als vielmehr in einem kollektiven Opferdiskurs homogenisiert. Über das an die Gefühle des Mitleidens appellierende Motiv der Überidentifikation mit dem jüdischen Leid wird das Schicksal der ›Anderen‹ und die Reflektion von

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Schuld und Täterschaft zwar angesprochen, aber in ästhetischer Überformung der Leidensmotive in das ›eigene‹ Leidensschicksal unreflektiert subsumiert. So stehen zwar zum einen die Figur Darusja symbolisch für das Verstummen ganzer Bevölkerungsgruppen in der bukowinischen Grenzregion und zugleich für die von der Eltern- an die Kindergeneration übermittelte traumatische Sprachnekrose, und zum anderen die Figur Ivanka – für die Artikulationsstörungen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über die komplexen Verquickungen von Opfer- und Täterschaft, doch bleibt diese so offensichtlich defizitäre Erinnerung auf der diskursiven Ebene des Romans unaufgeklärt. Wie stark in Matios’ Romanen ein idyllisierendes Bild des bukowinischen Dorfs als Identifikationsraum der ukrainischen Opfergeschichte angelegt ist, über das zum einen der Gedanke von der ukrainischen Bauernschaft als Gegner und Opfer des Sowjetregimes und zum anderen die Sehnsucht nach einer Wiederherstellung der durch fremde Mächte zerstörten ukrainischen Dorfidylle transportiert und in den aktuellen gedächtnispolitischen Diskurs überführt wird, zeigt sich im Trailer zur Verfilmung von SOLODKA DARUSJA: Die Verfilmung des Romans, die 2015 unter der Schirmherrschaft vom Präsident Porošenko entstand und als dezidiert nationales Projekt beworben wird,41 stützt sich in ihrer vereinfachenden Deutung der Vergangenheit mit nationalisierendem Pathos auf jene Elemente der Romanvorlage, die Idealbilder einer ukrainischen Identitätsverortung hinter dem Szenario der zerstörten Idylle und der stereotypen sowjetischen Feindbilder beschwören. Darüber hinaus wird die ukrainische Geschichte im Film noch stärker als im Buch in eine stark heroisierende narrative Rahmung überführt, die die Gegenwart mit der Vergangenheit verbinden soll – der Film ist den »Helden der Ukraine« gewidmet,42 womit eine Brücke zwischen den Opfern der Okkupation in der Ukraine und der sogenannten ›Himmlischen Hundertschaft‹, also den Opfern des Kiewer Majdans 2014, geschlagen wird. Eine derartige nationalistische Opferheroisierung der Geschichte ist zwar weder im Roman SOLODKA DARUSJA noch in ČEREVYČKY BOŽOJI MATERI so explizit gegeben, aber in der ethnozentrischen Allegorisierung der Figuren Darusja und Ivanka

41 Offizielle Unterstützungsschreiben der Regierung und anderer staatlicher Institutionen finden sich auf der Homepage zum Film, der bisher allerdings noch nicht ausgestrahlt wurde (Sweet Darusya 2015). 42 Vgl. Minute 5.49 des Trailers (Sweet Darusya 2015).

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bereits angelegt. Das adaptierte Romansujet der zerstörten, aber als Sehnsuchtsort imaginierten Dorfidylle fügt sich hier in das Schema der positiv konnotierten Mythologie des Dorfs als Ursprung ukrainischer Identität. Die Reaktivierung der Idealisierung des Dorfs untermauert als ideologische Konstruktion den nationalen gedächtnispolitischen Diskurs der Ukraine.

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Landschaftskonzeptionen Vom arkadischen Landschaftsbild zum dynamischen Landschaftsgeschehen Sigrun Langner

Am Wochenende packt den Städter die ›Landlust‹. Er schnappt sich den Picknickkorb und fährt hinaus aufs Land – auf der Suche nach Versatzstücken eines arkadischen Land(-schafts-)bildes mit weiten Wiesenlandschaften, weidenden Schafen, Bauernhöfen, blütenreichen Streuobstwiesen, einer strukturreichen Landschaft im kleinteiligen Wechsel zwischen Äckern, Grünland und Feldgehölzen. Die Suche nach Arkadien gestaltet sich immer schwieriger, da die damit verknüpften und vielmals medial reproduzierten Landschaftsbilder durch Bewirtschaftungsstrukturen und -weisen entstanden sind, die in einer industrialisierten und globalisierten Landwirtschaft zunehmend verschwinden. Die zwischenstädtischen Strukturen dehnen sich entlang der Ausfallstraßen der Städte, aber auch um die Dorfränder, zunehmend aus und verstellen den Blick auf die gesuchte ›schöne‹ und ›harmonische‹ Landschaft. In diesem Beitrag gehe ich zunächst schlaglichtartig auf die Konstituierung eines arkadischen Landschaftsbildes ein, wie es sich beispielsweise in den englischen Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts materialisiert hat und welches als Sehnsuchtsbild in unseren Köpfen noch immer als Folie für ›schöne‹ Landschaften existiert. Dann werde ich die aus einer landschaftsarchitektonischen Perspektive notwendige Erweiterung eines solchen ästhetischen Landschaftsbegriffes zu einem Verständnis von Landschaft als dynamisches Raumgeschehen diskutieren, um schließlich anhand einer Studie zur

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Landschaft in der Mitte Thüringens dieses dynamische Landschaftsverständnis und die damit verbundenen Herausforderungen beim großräumigen Landschaftsentwerfen zu verdeutlichen.

ARKADISCHE LANDSCHAFTSBILDER In einem alltagsweltlichen Gebrauch des Wortes wird Landschaft überwiegend als die ländliche, harmonische Landschaft verstanden – als ein idyllisches Landschaftsbild. Landschaft ist in diesem Verständnis die offene, weite, unbebaute und grüne Gegend, die draußen vor der Stadtgrenze beginnt. Der Geograph Gerhard Hard hat zur alltagssprachlichen Bedeutung des Begriffes Landschaft semantische Untersuchungen durchgeführt, die zeigen, dass ›Landschaft‹ mit einer Reihe arkadischer Assoziationen verbunden ist: »Eine Landschaft [...] ist still, schön, ländlich, grün, gesund und erholsam, harmonisch, mannigfaltig und ästhetisch. Sie ist zudem immer noch von einem Schwarm arkadischer Assoziationen umgeben: Glück, Liebe, Muße, Frieden, Freiheit, Geborgenheit, Heimat [...].« (Hard 1991: 14)

Seine sprachpsychologischen Untersuchungen hatte Hard bereits in den 1970er Jahren vorgenommen, aber sie repräsentieren ein Landschaftsverständnis, das sich bis heute im alltagspraktischen Gebrauch nicht wesentlich verändert hat (vgl. Hokema 2013: 261). Diese Vorstellung von Landschaft thematisiert ein idealisiertes Mensch-Natur-Verhältnis, wie es in der Frührenaissance zum Vorschein kam. Der Aufstieg Petrarcas auf den Mount Ventoux im Jahr 1336 markierte das Auftauchen von Landschaft als ästhetische und kontemplative Kategorie der Neuzeit. Petrarca dokumentierte in seinen Schriften die Betrachtung von Natur aus ästhetischen Gründen. Er beschreibt, wie er durch die Betrachtung der Schönheit der Welt eine kontemplative Innensicht erfahren konnte (vgl. Prominski 2004a: 53ff., Hokema 2013: 36ff. bezugnehmend auf Ritter [1962] 1974). »Den höchsten Berg dieser Gegend [...] habe ich [...] bestiegen. Dabei trieb mich einzig die Begierde, die ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein

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kennenzulernen. [...] Dann aber wandte ich, zufrieden, vom Berg genug gesehen zu haben, die inneren Augen auf mich selbst.« (Petrarca 1336 zitiert in Ritter [1962] 1974: 150)

Dieser Landschaftsbegriff ist eng mit der ästhetischen Wahrnehmung von Natur verbunden. Der Philosoph Joachim Ritter beschreibt Landschaft in diesem Sinne folgendermaßen: »Landschaft ist Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist: Nicht die Felder vor der Stadt, der Strom als ›Grenze‹, ›Handelsweg‹ und ›Problem für Brückenbauer‹, nicht die Gebirge und die Steppen der Hirten und Karawanen (oder der Ölsucher) sind als solche schon ›Landschaft‹. Sie werden dies erst, wenn sich der Mensch ihnen ohne praktischen Zweck in ›freier‹ genießender Anschauung zuwendet, um als er selbst in der Natur zu sein.« (Ebd.: 150f.)

Natur kann erst als Landschaft wahrgenommen werden, wenn sich der Mensch ihr ohne praktischen Nutzen und in genießender Anschauung zuwenden kann. Landschaft wird hier zur Szenerie. Der Begriff der Szenerie entwickelte sich seit dem 15. Jahrhundert als Fachterminus der Landschaftsmalerei. Von einem Standpunkt aus wurden die Einzelheiten in einem Raumzusammenhang gebracht (vgl. Prominski 2004a: 53). Die Landschaftsmalerei der Renaissance prägte auch fest die kulturell verankerten Vorstellungen dessen, was als ›schöne‹ Landschaften zu gelten hatte. Claude Lorrain oder Nicolas Poussin griffen in ihren Landschaftsgemälden auf Arkadien als Sehnsuchtsort zurück und schufen arkadische Idealbilder, die schließlich in den englischen Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts auch baulich-räumlich materialisiert wurden. Ab 1720 entwickelte sich in England ein neuer Gartenstil, der Natur in idealisierter Form nachbildete und überhöhte. Der neue Stil des Landschaftsgartens zeigte sich auch als Gegenbewegung zum Barockgarten, der als Ausdruck eines absolutistischen Machtanspruchs zunehmend auf Ablehnung stieß. Der Landschaftsgarten entstand vor dem Hintergrund der Verbreitung aufklärerischer Ideale in Europa. Damit verbunden war auch ein verändertes Verhältnis zur Natur: Es ging nicht mehr um ein mathematisch-abstraktes Verständnis, verbunden mit der Vorstellung der Naturbeherrschung, sondern um ein idealisiertes Naturbild, das mit dem Freiheitsbegriff der Aufklärung

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korrespondierte: Natur repräsentierte gleichsam die individuelle Freiheiten und Ideale der Aufklärung (vgl. Steenbergen u. Reh 2003). In den englischen Gärten wurde diese zum Freiheitssymbol überhöhte Natur in Abgrenzung zum Barockgarten durch eine neue Gestaltsprache repräsentiert: geschwungene Formen und unbeschnittene Vegetation wurden zu neuen Schönheitsidealen. Die Bilder der Landschaftsmalerei des 17. Jahrhundert fanden als dreidimensionale Entwürfe einen direkten Eingang in die Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts. Der englische Landschaftspark von Stowe ist beispielsweise als eine Abfolge verschiedener Bilder entworfen, die sehr stark an die Landschaftsgemälde des 17. Jahrhunderts erinnern. Hawkwellfield in Stowe ist ein wohlkomponiertes Hirtenbild mit einer Palladiobrücke als direkten Bezug auf die Antike. Die Elysischen Gefilde wurden als idyllisches Naturbild geschaffen, das auf den Totenfluss Styx anspielt: ein künstliches Tal mit natürlich modellierter Uferlinie. Die emblematischen Raumbilder in Stowe wurden durch den Architekten und Maler William Kent entworfen. Er begann landschaftliche Gärten als »begehbare Bühnenbilder« zu schaffen. Die von ihm entworfenen Bilder und Szenen repräsentierten einen idealisierten Blick auf eine ›zivilisierte‹ Natur (vgl. ebd.: 281). Abb. 1 Hawkwellfield in Stowe von Kent

Foto: Sigrun Langner

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Lancelot Capability Brown, ein Vertreter der klassischen Phase des Landschaftsgartens, in der der englische Stil schließlich zur bestimmenden Modeerscheinung in Europa wurde, ging es weniger darum, eine Folge bedeutsamer Gartenbilder zu schaffen, sondern er verbesserte die natürlichen Gegebenheiten so, dass ein perfektes harmonisches und natürlich wirkendes Landschaftsbild entstand. Diese natürlich wirkenden Wiesen- und Seenlandschaften wurden mit einem enormen technischen Aufwand hergestellt, kleine Bachläufe wurden zu Seen angestaut, feuchte Wiesen durch unterirdische Grabensysteme entwässert, Bodenmodellierungen vorgenommen, um sanft geschwungene Hänge und künstliche Täler zu konstruieren. Abb. 2 Parkanlage Crome von Brown, sanft modellierte Wiesenflächen

Foto: Sigrun Langner

Diese natürlich wirkenden bildhaften Kompositionen aus Seen, Wiesen mit Baumgruppen, sanft geschwungenen Hängen sowie sorgfältig komponierten Blickbeziehungen in die umgebende ländliche Szenerie prägen noch immer stark unsere Vorstellung von harmonischen und schönen Landschaften. Diese Idee von Landschaft als arkadisches Bild bleibt dabei nicht auf die Gartenanlage um das Herrenhaus beschränkt, sondern weitet sich wie beispielsweise beim Dessau-Wörlitzer Gartenreich über Wegeverbindungen, Blickbeziehungen, Kleinarchitekturen, durch Baumgruppen strukturierte Weideflächen etc. auf die gesamte Region aus.

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LANDSCHAFT ALS DYNAMISCHES RAUMGESCHEHEN Innerhalb der zeitgenössischen Landschaftsarchitektur wird angesichts der umfassenden räumlichen Veränderungen Kritik an einer statischen Landschaftsvorstellung sowie an dem kulturell geprägten Bildvorrat der Landschaft geäußert und ein erweitertes Landschaftsverständnis entwickelt, um aktuelle räumliche Realitäten als Handlungsfeld einer gestaltenden Landschaftsarchitektur erfassen zu können (vgl. Hokema 2013: 65). Der Landschaftstheoretiker Martin Prominski verdeutlicht das Dilemma zwischen einem alltagsweltlichen Verständnis von Landschaft und der aktuellen Landschaftstheorie: »Auf der einen Seite stehen die klassischen Vorstellungen einer harmonischen, grünen Landschaft, die das Gegenüber von Bebauung darstellt, auf der anderen Seite die Versuche, eine Landschaftsauffassung zu entwickeln, die auf Vorstellungen irgendeines Gegenübers verzichtet und die Mélange der Zwischenstädte, die immer weiter verwebenden Infrastrukturen, die bunten Ausfallstraßen – mit anderen Worten: die Landschaften unserer Kultur – integrieren kann.« (Prominski 2004b: 34)

Prominski beschreibt Landschaft in einem erweiterten Sinne als ein dynamisches System menschengemachter Räume (vgl. Prominski 2004a: 71). Er bezieht sich hierbei auf den amerikanische Landschaftsforscher John Brinckerhoff Jackson. Jackson kritisierte ein szenisches Verständnis von Landschaft als zu eng und statisch. Er bezeichnet diese Sicht auf Landschaft, die sich mit dem Beginn der Renaissance herausbildete als »Landschaft Zwei«. Landschaft Zwei ist das Fundament für das Verständnis von Landschaft als arkadisches Bild. »Its spaces, rural and urban, are clearly and permanently defined and made visible by walls and hedges or zones of open greenery or lawn. [...] Landscape Two sets a great score on visibility; that is why we have that seventeenth-century definition of landscape as ›a vista or view of scenery of the land‹- landscape as a work of art, as a kind of supergarden.« (Jackson 1984: 152)

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Die meisten uns umgebenden Alltagsräume haben allerdings wenig mit diesem statischen Landschaftsbild der »Landschaft Zwei« gemein. Jackson beschreibt daher die zeitgenössischen amerikanischen Landschaften mit dem Begriff »Landschaft Drei« als System menschengemachter Räume, das ständigen Veränderungen unterworfen ist.1 »[L]andscape is not scenery, it is not a political unit; it is really no more than a collection, a system of man-made spaces on the surface of the earth [...] it is always artificial. Always synthethic, always subject to sudden or unpredictabel change.« (Ebd.: 156)

»Landschaft Drei« entsteht dabei durch ein Reagieren auf Zwänge und gegebene Bedingungen ohne einen langfristigen Horizont und ohne ein Bewusstsein für Geschichte und Vergangenheit. Die Verwertungs- und Veränderungszyklen in unserer zeitgenössischen Landschaft sind schnelllebig und ohne Gedächtnis: Fast-Food-Ketten, die nach einem Jahr abgerissen werden, Felder, auf denen je nach Weltmarkt- oder Subventionslage entweder Korn oder Soja angebaut wird, Ausbau und Umbau der Infrastrukturlandschaften.

1

Mit »Landschaft Eins« beschreibt Jackson die frühe mittelalterliche Landschaft, »Landschaft Zwei« steht für die Landschaft, die sich im 15. Jahrhundert herauszubilden beginnt und mit »Landschaft Drei« sucht Jackson die Phänomene zeitgenössischer amerikanischer Landschaften zu beschreiben (vgl. Jackson 1984: 152).

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Abb. 3 »Landschaft Drei« in der Nähe von Erfurt

Foto: Sabine Rabe

Jackson beschreibt die zeitgenössischen amerikanischen Landschaften nicht nur mit dem Begriff »Landschaft Drei«, sondern formuliert gleichzeitig die Forderung, diese mit der notwendigen Aufmerksamkeit zu betrachten und sie als Aufgabenfeld der Landschaftsarchitektur zu begreifen. Dabei macht er deutlich, dass wir in der Betrachtung von Landschaft noch Kinder der »Landschaft Zwei« sind. Nach Jackson versuchen wir »Landschaft Zwei« zu imitieren, wenn wir Landschaft produzieren. Die Produktion von Landschaft ist mit einer statischen, konservativen sozialen Ordnung und einer gewissen Nostalgie verbunden. Von dieser Betrachtungsweise müssen wir uns lösen, um »Landschaft Drei« als Handlungsfeld für die Landschaftsarchitektur überhaupt begreifen zu können. Voraussetzung dafür ist es, sich mit den Dynamiken der »Landschaft Drei« auseinanderzusetzen (vgl. ebd.: 155). »I would like to think that in the future the profession of landscape architecture will expand beyond its present confines (established by Landscape Two) and involve itself in making mobility orderly and beautiful. This would mean knowing a great deal about

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land, its uses, its values, and the political and economic and cultural forces affecting its distribution. The environmental designer should be concerned with the spatial changes taking place.« (Ebd. 1984: 155)

Jacksons »Landschaft Drei« ist ein Konzept, welches Landschaft weiter fasst als den grünen Raum außerhalb der Stadt und als die idyllische Kompensation einer als künstlich und naturfremd wahrgenommenen Moderne. Das Konzept der Landschaft als dynamisches System menschengemachter Räume schwingt in einer Reihe aktuell diskutierter Raum-/Landschaftskonzeptionen mit.2 Das Landschaftsverständnis hat sich im aktuellen Fachdiskurs gewandelt: von einem ästhetischen und statischen Landschaftsbegriff, der sich auf ein arkadisches Landschaftsbild bezieht, zu einem prozessualen Landschaftsbegriff, der die dynamischen Wechselbeziehungen zwischen (natur)räumlichen und gesellschaftlichen Prozessen und die damit verbundenen Raumtransformationen in den Blick nimmt. Ein prozessuales Landschaftsverständnis schließt die ästhetische Wahrnehmung nicht aus, sondern bindet sie in einen Prozess der Konstruktion von Landschaften ein. Menschen werden dabei als »Mehrfach-Konstrukteure« von Landschaft begriffen (vgl. Seggern/Werner 2008: 198). Landschaft entsteht durch den konstruierenden Blick des Menschen. Durch Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse werden dabei Menschen und Güter zu Räumen (vgl. Löw 2001: 159) bzw. Landschaften zusammengefasst. Neben der sozialen und kulturellen Konstruktion von Landschaft verändert der Mensch den materiell-physischen Raum durch sein Handeln und Wirtschaften und er ist immer selbst als Handelnder, in seiner Performanz zugleich Teil von Landschaft. Landschaft wird in diesem Sinne als »mannigfaltiges, topologisches Geschehen und als eine Weise, ein gesamtes dynamisches Raumgeschehen zu beschreiben« verstanden (Seggern/Werner 2008: 198). Dieses Verständnis erlaubt es, die verschiedenen Dimensionen des Raumes zu einem relationalen Gefüge zusammenzubringen, das dann als Landschaft gelesen werden kann. Das Verständnis von Landschaft als »topologisches Geschehen« stellt die Verbindungen und Zusammenhänge zwischen

2

U.a. Zwischenstadt (Sieverts 1997), Urbanes System/ Netzstadt (Baccini/Oswald 1998), Territorium (Corboz 2001), urbane Landschaften (Seggern/Werner 2008).

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Raumeinheiten, unterschiedlichen Nutzungsanforderungen, zwischen Wahrnehmungsebenen und Akteuren in den Fokus. Bei der Qualifizierung und Entwicklung von Landschaften müssen diese Beziehungen aufgedeckt und in ein produktives Verhältnis gebracht werden. Das bedeutet vor allem für das großräumige und regionale Landschaftsentwerfen weniger bildhaft, kompositorisch zu arbeiten, sondern Relationen in einem sich wandelnden Beziehungsgefüge zu gestalten.

DIE LANDSCHAFT IN THÜRINGENS MITTE ALS DYNAMISCHES LANDSCHAFTSGESCHEHEN Veränderungen in der Bewirtschaftung der Landschaft, in der Nutzung von Infrastrukturen und in der Art, wie wir leben, machen es nötig, Landschaften als ein dynamisches Geschehen zu verstehen. Digitalisierung und Energiewende, globalisierte Produktions- und urbane Lebensweisen, Industrialisierung und Zentralisierung der Landwirtschaft, aber auch die Suche nach dem ›guten Leben‹ bilden treibende Kräfte der Veränderung. Die damit verbunden räumlichen Entwicklungen stehen oftmals im Kontrast zu vielfach geteilten Imaginationen von Landschaft als arkadische Idylle. Mit der Studie »Raumbild für Thüringens Mitte«3, sollten Veränderungsprozesse der Thüringer Landschaft im Raum um und zwischen Erfurt, Weimar und Jena untersucht und verdeutlicht werden. Die Studie stellt Besonderheiten des Raumes und des Veränderungsprozesses dar und fragt danach, wie und wo man ansetzen kann, um mit diesen Prozessen Landschaft zukunftsfähig zu gestalten. Ziel der Studie war es, verschiedene Nutzungs- und Wahrnehmungsperspektiven auf den Raum in einen landschaftlichen Zusammenhang zu stellen und so Synergien und Bezüge zwischen bisher getrennt gedachten Systemen aufzudecken. Ein vielfach geteiltes Bild der Landschaft in der Mitte Thüringens ist das einer strukturreichen Kulturlandschaft. Dieser touristische Imaginations- und Sehnsuchtsraum einer arkadischen Landschaft lässt leicht vergessen, dass

3

Das Raumbild entstand 2016 im Auftrag der IBA (Internationale Bauausstellung) Thüringen. Bearbeitung Raumbild durch: Stein + Schultz, Station C23, rabe landschaften. Die folgenden Ausführungen basieren auf der Studie »Raumbild für Thüringens Mitte« (Autoren: Langner, Rabe, Schultz, Stein).

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diese Landschaft eine hocheffiziente und intensiv genutzte Landschaft ist. Über 80 Prozent der Flächen in der Mitte Thüringens sind land- und forstwirtschaftlich bewirtschaftete und hochproduktive Landschaften. Die Landschaft ist Ressource für ganz unterschiedliche Akteure und Unternehmungen. Viele dieser Landschaftsnutzungen sind als in sich geschlossene, optimierte Systeme organisiert, die in ihren eigenlogischen Strukturen funktionieren, oft aber wenig Bezüge zu ihrem Umfeld bzw. anderen Nutzungen aufnehmen. So bewirken sie räumliche Fragmentierungen. Konflikte zwischen Flächennutzern und ihren Interessen nehmen zu. »Raum entsteht nur als optimierter Funktionsraum, für die Landnutzung, für den Transport oder als Schutzgebiet – Landschaft als Zusammenhang von Vielfalt aber entsteht zunächst nicht.« (Schöbel-Rutschmann 2011: 54)

Die Ressource Landschaft wird von vielen beansprucht und ist doch begrenzt. Um den Blick für die verschiedenen, sich überlagernden und auch konkurrierenden Perspektiven auf den Landschaftsraum zu öffnen, wird mit dem Raumbild die Landschaft Mitte Thüringens in verschiedene Nutzungsperspektiven entschichtet und kartographisch interpretiert. Die thematischen Karten zeigen die Landschaft aus der Eigenlogik verschiedener Nutzungsoptionen als ErnteLAND, InfraLAND, WohnLAND, SehnsuchtsLAND sowie SchutzLAND. Diese aus einer bestimmten Nutzungsperspektive erfassten MonoLÄNDER unterliegen jeweils eigenen Transformationsprozessen und werfen spezifische Zukunftsfragen auf. Mit Hilfe des Raumbildes sollen Wege aufgezeigt werden, wie Landschaft als gesamtgesellschaftliche ›Unternehmung‹ und Verantwortungsraum betrachtet werden kann. Wie kann ein mehrdimensionales MultiLAND entstehen? Von Interesse sind daher vor allem jene Zukunftsfragen, die auf eine kooperierende, multifunktionale und verantwortungsvolle Landnutzung abzielen. So wird im ErnteLAND der Flächenbedarf der Agrarindustrie weiter steigen und die technische/digital gesteuerte Optimierung der Bewirtschaftung zunehmen. Es sind immer weniger Menschen in der Agrarindustrie tätig. Schläge werden in guten Bodenlagen größer. Die Notwendigkeit, Bodenerosion zu vermeiden, steigt. Energieernte, Projekte zur Umsetzung der EUWasserrahmenrichtlinie (2000/60/EG), die Nahrungsmittelproduktion konkurrieren um Flächen. Zukunftsfragen innerhalb des ErnteLANDES, die

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auch andere Nutzungsinteressen berühren, sind beispielsweise: Wie können Windenergiefelder zum Vorteil für die Dörfer werden, z.B. durch Teilhabe an der Energieernte? Welche Rolle können ›widerspenstigen Störer‹ (Feldgehölze, Bäche, Feuchtgebiete, Wiesenhänge) in einem optimierten Ernteland der Zukunft spielen? Wie können sie für die Agrarlandschaft produktiv werden, wie können sie z.B. helfen Bodenerosion vorzubeugen, Wasserspeicherfähigkeit zu erhöhen und gleichzeitig einen strukturreichen und vernetzten Landschaftsraum zu erzeugen? Abb. 4 ErnteLAND

Quelle: Stein+Schultz/Station C23/rabe landschaften

Das ErnteLAND steht vielmals in Flächenkonkurrenz zum SchutzLAND: Über 30 Prozent der Flächen in der Mitte Thüringens besitzen einen Schutzstatus (dazu gehören Naturschutz-, Wasserschutz-, Vogelschutzgebiete sowie das geschützte Kulturerbe an Burgen, Schlössern und UNESCO-Weltkulturerbestätten). Trotz der Naturschutzflächen wird der Artenrückgang weiter voranschreiten. Die ›Stars der Natur‹, wie z.B. die Orchideen, sind in Schutzgebieten eingehegt, vor allem die unscheinbaren Arten der Agrarlandschaften werden jedoch weiter rapide zurückgehen. Wie kann die Agrarin-

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dustrielandschaft ökologisch verbessert werden? Wie ließen sich beispielsweise Synergien zwischen Hochwasserschutz, Bodenerosionsschutz und Artenschutz durch die Renaturierung der Vielzahl an Gräben und kleinen Bachläufen in der Ackerlandschaft erzielen? Das InfraLAND ist geprägt durch Infrastrukturtrassen, Gewerbegebiete und zentrale Einrichtungen der Ver- und Entsorgung, Bildung und Gesundheit. Die Zentralisierung der Infrastruktur (zentrale Klärwerke, Schulstandorte, Gesundheitseinrichtungen, Einkaufsmärkte etc.) wird noch weiter zunehmen. Die globalisierten und standardisierten Kisten der Gewerbegebiete verschließen sich und werden ohne landschaftliche Bezüge ausgebildet. Die schnellen Durchläufer (ICE-Trassen, Stromtrassen und andere digital organisierte Strukturen) besitzen wenig Bezug zur Region und bilden eine eigene isolierte und zerschneidende Transitlandschaft. Abb. 5 SchutzLAND

Quelle: Stein+Schultz/Station C23/rabe landschaften

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Abb. 6 InfraLAND

Quelle: Stein+Schultz/Station C23/rabe landschaften

Zukunftsfragen an ein kooperierendes InfraLAND könnten sein: Wie können globale, geschlossen und in sich optimierte Strukturen wie die Logistikkisten Verantwortung für die Landschaft übernehmen (z.B. durch multifunktionale Nutzung der großen versiegelten Dach- und Parkplatzflächen als Gründächer, zur Wasserreinigung und -speicherung etc.)? Abb. 7 Einbindung von monofunktionalen Gewerbekisten in die Landschaft

Quelle: Stein+Schultz/Station C23/rabe landschaften

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Welche Chancen erwachsen aus innovativen, dezentralen Infrastrukturkonzepten für eigenverantwortliches Gestalten in den Kommunen? Wie können z.B. Stoff- und Energiekreisläufe innerhalb der Kommune gestärkt werden? Können beispielsweise dezentrale Abwasserlandschaften als Abwasserpark gleichzeitig wichtige Infrastrukturaufgaben erfüllen und schöne sowie ökologisch wertvolle Dorfränder entstehen lassen? Abb. 8 multifunktionale Dorfränder als »Dorfrandpark« mit dezentralen (Ab-)Wasserinfrastrukturen, Spiel- und Sportflächen, ökologisch wertvollen Landschaftsstrukturen (Hecken, Streuobstwiesen)

Quelle: Stein+Schultz/Station C23/rabe landschaften

Aber auch der ›arkadische‹ Blick auf die Landschaft spielt in der Landschaft Mittelthüringens eine bedeutende Rolle, sowohl in der Selbstwahrnehmung als auch im Tourismus. Im SehnsuchtsLAND ziehen ›baukulturelle Stars‹ mit hoher Strahlkraft wie die Landschaftsgärten in den Flusstälern, das UNESCO-Kulturerbe von Weimar und auch die Leuchtenburg überregional Menschen an. Das Flusstal der Ilm und die Hänge der Saale sind reich an kulturellen Besonderheiten und attraktiv für Radtouren und Naherholung. Hier spiegelt das SehnsuchtsLAND das perfekte Bild unserer idealisierten Landschaftsimaginationen. Neben den ›leuchtenden Promi-Orten‹ gibt es jedoch eine Vielzahl an denkmalwerten Kirchen, Burgen, Schlössern, Dorfkernen und Bahnhofsgebäuden, um deren Erhalt gekämpft wird. Wie können

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hier beispielsweise die vielen kleinen Dorfkirchen in die Zukunft getragen werden? Welche Rolle könnten sie für den Naturschutz, die Dorfgemeinschaft und die Landinfrastruktur spielen? Abb. 9 SehnsuchtsLAND

Quelle: Stein+Schultz/Station C23/rabe landschaften

Die zentrale These der Studie ist, dass im Zusammenwirken der einzelnen MonoLÄNDER vielfältige Landschaften entstehen können, die ökonomisch, ökologisch, sozialräumlich wie auch gestalterisch wertvoll sind. Die Vision eines MultiLANDES entsteht durch die Suche nach und durch die Umsetzung von vernetzten Lösungen, durch die bisher getrennt gedachte Funktionen und Nutzungen in einem landschaftlichen Zusammenhang gebracht werden können. Die IBA Thüringen sollte mit ihren Projekten dieses Zusammenwirken befeuern und aufzeigen, wo sich Schnittstellen auftun und welche Vorteile durch das Miteinander entstehen können.

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Abb. 10 MutliLAND: synergetisch wirkende Projekte stellen Verbindungen zwischen funktionsoptimierenden Einzelperspektiven auf Landschaft her MultiLAND

SchutzLAND

InfraLAND

SehnsuchtsLAND

ErnteLAND

WohnLAND Quelle: Stein+Schultz/Station C23/rabe landschaften

BEZIEHUNGEN IM LANDSCHAFTSGESCHEHEN ENTWERFEN In der Beschreibung der Landschaft in Thüringens Mitte kommt ein Verständnis von Landschaft als ein dynamisches Raumgeschehen zum Ausdruck. Anstatt Landschaft als statisches Bild zu erfassen und gestalten zu

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wollen, wird Landschaft über Beziehungsgefüge und Dynamiken beschrieben. Dieses In-Beziehung-Setzen erfolgt sowohl auf der Ebene der Wahrnehmung und Erfahrung (welche Raumfragmente können in einen alltagsweltlichen Zusammenhang gebracht werden und als Einheit gelesen werden?) als auch auf funktionaler Ebene (was gehört funktional zusammen und bildet ein System? Welche ökosystemaren Zusammenhänge bestehen?) sowie auf einer zeitlichen Ebene (durch welche Prozesse entstehen räumliche Beziehungen?). Die Fähigkeit, durch eine integrierende Betrachtungsweise Beziehungen zu beschrieben, ermöglicht auch das Aufdecken produktiver Verbindungen in vormals isoliert betrachteten Elementen des Raumes. Gerade beim großräumigen Landschaftsentwerfen kommt ein flächendeckendes, bildhaft- komponierendes Entwerfen bzw. ein Entwerfen, das auf bekannte Bilder und Typologien zurückgreift an seine Grenzen. Das Entwerfen innerhalb eines dynamischen Raumgeschehens erfordert vielmehr ein an bestehende Beziehungsgefüge ›anknüpfendes‹ und ein in dynamischen Beziehungsgeschehen ›tastendes‹ Entwerfen. Es kann als ein (Re-)Designen von etwas bereits vorhandenem beschrieben werden (vgl. Latour 2010: 24) oder als ein (Re-)Konfigurieren von Wissen (vgl. Nowotny et al. 2004) bzw. als ein Neuformulieren von Realität (vgl. Shannon 2006: 158). Ein solches topologisches Raum- und Entwurfsverständnis erweitert die Betrachtungsperspektive, um Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Dimensionen des Raumes zu erkennen und diese in ein produktives Verhältnis zu bringen – auch die zwischen Natur und Kultur, zwischen Stadt und Land, zwischen dem Globalen und dem Lokalen. Arkadien als eine »sinnstiftende Utopie von der gelingenden Balance zwischen Natur und Kultur« (Grosse-Bächle 2009: 94) bleibt in dieser Perspektive nicht ausgeschlossen. Allerdings müssen wir uns von den überkommenen Bildern einer idyllischen Ländlichkeit verabschieden, die nur durch eine konservierende und musealisierende Kulturlandschaftspflege zu erhalten wäre. Die Suche nach Arkadien äußert sich vielmehr im Entwerfen von Landschaften, in denen eine solche Balance erfahren werden kann, ohne dabei die Wirkungskräfte und Dynamiken globaler Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse zu negieren und auszublenden.

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LITERATURVERZEICHNIS Baccini, Peter/Oswald, Franz (1998): Netzstadt: Transdiziplinäre Methoden zum Umbau urbaner Systeme, Zürich: vdf Hochschulverlag. Corboz, André (2001): Die Kunst, Stadt und Land zum Sprechen zu bringen, Basel: Birkhäuser. Grosse-Bächle, Lucia (2009): »Nacktschnecken in Arkadien«, in: Ulrich Eisel/Stefan Körner (Hg.), Befreite Landschaft. Moderne Landschaftsarchitektur ohne arkadischen Ballast? Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, Bd. 18, Freising: Lehrstuhl für Landschaftsökologie, S. 81-96. Hard, Gerhard (1991): »Landschaft als professionelles Idol«, in: Garten+Landschaft 3/91, S. 13-18. Hokema, Dorothea (2013): Landschaft im Wandel? Zeitgenössische Landschaftsbegriffe in Wissenschaft, Planung und Alltag, Wiesbaden: Springer. Jackson, John Brinckerhoff (1984): »Concluding with Landscapes«, in: ders., Discovering the vernacular Landscape, New Haven and London: Yale University Press. Latour, Bruno (2010): »Ein vorsichtiger Prometheus? Design im Zeitalter des Klimawandels«, in: arch+ 196/197, S. 22-27. Löw, Martina (2001): Raumsoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Nowotny, Helga/Scott, Peter/Gibbson, Michael (2004): Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewissheit, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Prominski, Martin (2004a): Landschaft entwerfen. Zur Theorie aktueller Landschaftsarchitektur, Berlin: Reimer. Prominski, Martin (2004b): »Dilemma Landschaft«, in: Stadt und Grün 3/2004, S. 34-39. Ritter, Joachim ([1962] 1974): »Landschaft«, in: ders., Subjektivität, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 141-190. Schöbel-Rutschmann, Sören (2011): »Landschaftsbilder zwischen Bewahren und neuer Gestalt«, in: Raumbilder für das Land 1/2, lpb (Landeszentrale für politische Bildung Baden-Würtemberg), S. 50-56. Seggern, Hille von/Werner, Julia (2008): »Fokus: Urbane Landschaften, Entwerfen und Innovationsstrategien«, in: dies./Grosse-Bächle, Lucia (Hg.), Creating Knowledge. Innovationsstrategien im Entwerfen urbaner Landschaften, Berlin: jovis, S. 196-209.

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Das Dorf Eine Übersetzungsgeschichte (Goldsmith, Crabbe, Droste-Hülshoff) Marcus Twellmann

DAS GENEALOGISCHE POSTULAT In Renate Böschenstein-Schäfers IDYLLE findet sich ein Abschnitt über die »poetae minores« des 19. Jahrhunderts. Zustimmend wird darin die These erwogen, die Dorfgeschichte sei aus der Idylle hervorgegangen (vgl. Böschenstein-Schäfer 1977: 139f.). Diese seit Friedrich Theodor Vischers einschlägigen Verlautbarungen geläufige Ableitung (vgl. Hermann 1987: 18) findet sich auch bei Friedrich Sengle: Die Entstehung der Dorfgeschichte sei als das »biedermeierliche Hauptereignis« einer »Episierung der Idylle« zu verstehen (Sengle 1972: 764). Zwar habe sich der für die Idylle wesentliche Charakter des Räumlich-Zuständlichen ebenso wenig erhalten wie der des bewusst Eingeschränkten; die Dorfgeschichte wolle vielmehr menschliches Leben in seiner Dynamik und Totalität zeigen, darüber war man sich einig. Auch Uwe Baur sieht hier eine »Konstante der Dorfgeschichte: Sie stellt das Leben im Dorf als gegenwärtiges und im geschichtlichen Prozeß befindliches dar«, und dies sei »unvereinbar mit der Zeitferne der vorgeschichtlichen Welt der Idylle« (Baur 1978: 87f., Hervorhebung im Original). Doch befriedige die neuere Gattung, so Böschenstein-Schäfer, eben jenes Interesse an der bäuerlichen Welt, das durch die Idylle einmal geweckt worden sei, und zwar weitaus besser. Erlaube die Prosa es doch, diese Welt »in unstilisierter Natürlichkeit« (Böschenstein-Schäfer 1977: 139) darzustellen. Im »Verlan-

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gen, dem dargestellten Gegenstand gerechter zu werden« (ebd.) wird der Beweggrund für eine Abwendung von der älteren Tradition der Versdichtung vermutet. Weitere Nachforschungen haben inzwischen ergeben, dass die Anfänge der Dorfgeschichte mehrzählig sind, erwähnt sei nur die andere Tradition der Volksaufklärung (vgl. Kuhn 2004, Böning 2016). Auch hat die Rückführung auf die Idylle zur Verfestigung der irrigen Annahme beigetragen, die Leserverleitung zur Flucht in heile Scheinwelten kennzeichne die Gattung durchgehend. Das genealogische Postulat verdient gleichwohl noch immer Interesse, zumal es die Aufmerksamkeit auf die andere Seite einer Leitunterscheidung lenkt, die im deutschsprachigen Raum zu einer gewissen Blickstarre geführt hat. Besonders wirksam war in dieser Sache die schnell zum Dogma verhärtete und in die Fundamente der Literaturgeschichtsschreibung tief eingelassene Lehre Hegels, das Epos sei unmodern, der Roman habe als die »modern[e] bürgerlich[e] Epopöe« (Hegel 1986: 392, Hervorhebung im Original) zu gelten. Dieses modernistische Narrativ lässt eine progressive Vorhut ins Profil treten, die, ins formal Ungebundene prosaischer Schreibweisen strebend, eine konservative Nachhut hinter sich lässt, die an der Versform auch dann noch festhält, als es mit der Poesie angeblich schon zu Ende ist. Zugleich lässt die Auszeichnung des Romans, der an der Seite der Novelle bald zum Inbegriff der Erzählung wurde, aus dem Blickfeld der Forschung geraten, dass der geschichtsphilosophischen Lehre zum Trotz weiterhin und mannigfaltig in Versen erzählt wurde. Dass der Vers »am Anbeginn aller Literaturen dem Epischen ebenso nahe [steht] wie dem Lyrischen: er kann von Anfang an erzählen« (Fischer 1964: 29, Hervorhebung im Original), daran muss heute eigens erinnert werden. Längst ist es keine Selbstverständlichkeit mehr. »Wenn heute eine erzählende Dichtung, bei der ein starkes Interesse auf der Handlung liegt, in Versen geschrieben wird, empfinden wir dieses Vorgehen als unnatürlich.« (Ebd.: 28) Dementsprechend bereitet es Mühe, die Perspektive jener Autoren des 19. Jahrhunderts zu erschließen. Als Beispiel für die Abwendung vom Vers führt Böschenstein-Schäfer den schwäbischen Dichter Melchior Meyr an. Dieser veröffentlichte 1835 WILHELM UND ROSINE, EIN LÄNDLICHES GEDICHT, das vom Nördlinger Ries handelt. Später hat er diese Landschaft und ihre Bewohner in Dorfgeschichten dargestellt, so in LUDWIG UND ANNEMARIE aus dem Jahr 1852. Für Meyr dürfte die Nähe des metrisch gebundenen Erzählens zur Prosaform noch

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selbstverständlich gewesen sein. In der Vorbemerkung zu seinen ERZÄHLUNGEN AUS DEM RIES bemerkt er 1856, WILHELM UND ROSINE könne »eine Dorfgeschichte in Hexametern genannt werden« (Meyr 1856: 4). Auch Wolfgang Müller kennzeichnet seine 1852 erschienene MAIKÖNIGIN im Titel als DORFGESCHICHTE IN VERSEN. Dieser Befund soll hier zum Anlass genommen werden, die Suche nach Anfängen der Dorfgeschichte im Bereich der Versdichtung fortzusetzen. Dabei gilt es von einer zweiten Unterscheidung abzusehen, deren blickleitende Macht seit der Entstehung der heranzuziehenden Texte in Jahrzehnten des aufkommenden Nationalismus ebenfalls stark zugenommen hat: jener zwischen deutscher und ausländischer Literatur. Sie zu vernachlässigen, mag im vorliegenden Zusammenhang besonders schwer fallen. Die Dorfgeschichte trägt ein nationales Gepräge. In anderen Literaturen ist eine Gattung dieses Namens zumeist unbekannt, jedenfalls weitaus weniger prominent.1 Darum suchen Historiker vornehmlich in der deutschen Geschichte nach den Anfängen dieser vermeintlich autochthonen Hervorbringung. Indessen lohnt ein Blick auf die andere Seite der Unterscheidung auch hier. In einer weniger vergleichenden als vielmehr translationsgeschichtlichen Perspektive lässt sich eine Genese der Dorfgeschichte aus der Idylle sehr viel besser belegen, als dies bislang möglich war.

ANFÄNGE DER DORFDICHTUNG IN ENGLAND Wer die englische Literatur etwa in den Blick nimmt, der muss nicht lange suchen. Das Thema Dorf etabliert sich hier im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts (vgl. Patton 1974: 4). Eines der berühmtesten Gedichte dieser Zeit, von Oliver Goldsmith verfasst und 1770 erschienen, trägt den Titel THE DESERTED VILLAGE.2 Das Dorf wurde zu dieser Zeit eine gesellschaftliche Angelegenheit, über die es zu verhandeln galt. Die Entstehung von Goldsmiths

1

Die Bezeichnung conte oder roman villageois begegnet im Französischen nur vereinzelt. Neben der Germanistik kennt einzig die Slawistik mit der derevenskaja proza des 20. Jahrhunderts eine literarische Formation, die auf ähnliche Weise durch ihren thematischen Bezug auf das Dorf bestimmt ist; vgl. Parthé 1992.

2

Nach Patton ist Goldsmith »the poet to whom the subsequent literature of the village owes its greatest debt. The Deserted Village contains the essence of all that

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Gedicht über ein fiktives Dorf namens Auburn ist im historischen Zusammenhang eines Geschehens zu verorten, das Historiker später als agricultural revolution beschreiben sollten. Eine beispiellose Leistungssteigerung der landwirtschaftlichen Produktion wurde nicht zuletzt durch die Hegung offener Felder und Gemeinheiten befördert (vgl. Overton 1996: 20). Das enclosurement gehörte neben der Entwässerung von Feuchtgebieten und der Trockenlegung von Mooren zu einer ganzen Reihe, vielfach zu Lasten der ärmeren Bevölkerung gehender Maßnahmen, die man als improvement zu rechtfertigen suchte. Mit Goldsmith trat indes ein Kritiker der Überführung von Gemeinbesitz in Privateigentum auf den Plan: »Those fenceless fields the sons of wealth devide, / And even the bare-worn common is denied« (Goldsmith [1770] 1966: V. 307f.). Was zuvor vielen gehörte, wird so zum Besitz eines einzelnen Herrn: »One only master grasps the whole domain« (ebd.: V. 39). Neben der ökonomischen wurden die enclosures mit einer ästhetischen Verbesserung des Landes in Verbindung gebracht (vgl. Guillory 1991: 5). Tatsächlich nimmt der Dichter weniger an der Hegung landwirtschaftlich genutzter Äcker und Felder für Zwecke der Ertragssteigerung Anstoß als vielmehr an einer besonderen Form des enclosurement: dem emparkment. Es ist der »barren splendour« (Goldsmith [1770] 1966: V. 286) luxuriöser Gärten, gegen den er seine Verse richtet: »The man of wealth and pride, / Takes up a space that many more supplied; / Space for his lake, his park’s extended bounds« (ebd.: V. 275f.). Vorbild für Auburn war vermutlich das bei London gelegene Nuneham Courtenay. Im Jahr 1760 war es vollständig abgerissen worden. Der Earl of Harcourt hatte das Landgut, zu dem es gehörte, erworben und das bescheidene Gutshaus durch eine prächtige Villa ersetzen lassen. Um der Aussicht willen wurden, außer Hecken und Gestrüpp, auch Bauernhöfe sowie das besagte Dorf beseitigt (vgl. Batey 1968). Nachdem etwa sechzig Familien umgesiedelt worden waren, widmete Lord Harcourt sich der Anlage von Nuneham Park.

has been written since 1770 concerning the village and villagers of England; it contains the germ of that literature of a restricted locality, of a simple and unsophisticated society, which constitutes village literature in its essence.« (Patton 1974: 86)

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Nach John Montague handelt es sich bei THE DESERTED VILLAGE um eines der ersten »statements of a great modern theme: the erosion of traditional values and natural rhythms in a commercial society; the fall of Auburn is the fall of a whole social order« (Montague 1984: 103). Goldsmith konnte auf die Tradition der Pastoraldichtung zurückgreifen – das Motiv der Enteignung und Vertreibung findet sich in Vergils erster Ekloge –, um Protest gegen jene Veränderungen zu erheben, die von den Whigs im Namen des improvement vorangetrieben wurden. Angesichts des aufkommenden Handelskapitalismus idealisiert der Dichter im Sinne eines Tory-Konservatismus die alte Ordnung der ländlichen Verhältnisse und greift damit ein Motiv mehr noch der GEORGICA als der BUCOLICA auf (vgl. Storm 1970): »Sweet Auburn« (Goldsmith [1770] 1966: V. 287) wird als eine Gemeinschaft freier Bürger geschildert, die ihr Land bewirtschaften und mit leichter Arbeit den Eigenbedarf decken können, ohne auf »sports« verzichten zu müssen. Die erste Strophe endet indes abrupt: »But all these charms are fled.« (Ebd.: V. 34) Nach dem Vergil’schen Schema eines Goldenen Zeitalters ist das alte Auburn zeitlich in einer Vergangenheit vor der Übermacht des Handels verortet. An jene Zeit wird in einem elegischen Modus erinnert: »A time there was, ere England’s griefs began, / When every rood of ground maintained its man; / For him light labour spread her wholesome store, / Just gave what life required, but gave no more. // But times are altered; trade’s unfeeling train / Usurp the land and dispossess the swain« (Goldsmith [1770] 1966: V. 5762). Versgruppen, die emotional bewegend das einstige Landleben schildern, wechseln sich ab mit solchen, die mit dem verlassenen und ruinierten Dorf eine gegenwärtige Misere vor Augen stellen: »Sunk are thy bowers in shapeless ruin all, / And the long grass o’ertops the mouldering wall, / And trembling, shrinking form the spoiler’s hand, / Far, far and away thy children leave the land« (ebd.: V. 47-50). Wie im letzten Drittel des Gedichts deutlich wird, wandern die Landbewohner, so sie dem moralischen Niedergang in Englands Städten (vgl. ebd.: V. 309-336) entgehen, nach Amerika aus. Nicht allein Dörfer wie Auburn sind demnach durch die ökonomische Entwicklung gefährdet, bedroht ist die gesamte Nation. Die politische Botschaft des Gedichts – es appelliert an »ye friends to truth, ye statesmen who survey« (ebd.: V. 265) – lautet in zwei Versen: »Ill fares the land, to hastening ills a prey, / Where wealth accumulates, and men decay« (ebd.: V. 51f.).

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Bei den 430 Versen dieser Dichtung handelt es sich um paarweise gereimte jambische Fünfheber. Man bezeichnet diese Form im Englischen als heroic couplet. Aufgrund ihrer Gravität galt sie seit dem 17. Jahrhundert als besonders angemessen für epische Heldendichtungen (vgl. Hunter 2001: 22). Seit dem späten 16. und bis ins frühe 19. Jahrhundert war sie in der englischen Dichtung vorherrschend: Schätzungsweise die Hälfte, wenn nicht zwei Drittel der in diesem Zeitraum geschrieben poetischen Zeilen, waren couplets unterschiedlicher Art, wobei der fünfhebige Jambus alle anderen in einem Verhältnis von vier oder drei zu eins überwog (vgl. ebd.: 33). Das heroic couplet, so erläutert William Bowman Piper, war in erster Linie ein »medium for public discourse«. Aufgrund der beständigen Ordnung ihrer Elemente war diese Form dazu geeignet, strittige Angelegenheiten zu formulieren und Argumente abwägend einander gegenüber zu stellen: »[T]he great and central achievements in closed-couplet literature from its very beginnings are [...] articulations of public communication – of personal conversation, polite address or political oratory.« (Piper 1969: 23f.) Im Augusteischen Zeitalter, als die gebundene Rede noch ein gebräuchliches Mittel der öffentlichen Rede war, ging von der Wahl dieser Form eine Signalwirkung aus: »[A]s the expected, almost obligatory mode for serious poetry, the couplet signaled ambition and seriousness, indicated the express intention of engaging in extended argumentative discourse, and promised the basis for systematic consideration of important issues.« (Hunter 2001: 15)

Die von Goldsmith angestoßene Diskussion über das Dorf ist dafür exemplarisch. Sie wurde bald transatlantisch geführt. Schon 1772 legte Philip Freneau THE AMERICAN VILLAGE vor, 1794 ließ Timothy Dwight ‒ zu dieser Zeit Pastor in Fairfield, Connecticut, ein Jahr später dann Präsident des Yale College ‒ GREENFIELD HILL erscheinen, ein Poem in sieben Büchern, deren zweites THE FLOURISHING VILLAGE betitelt ist. Noch 1825 antwortete der Kanadier Oliver Goldsmith II. mit THE RISING VILLAGE. George Crabbes 1783 erschienenes Gedicht THE VILLAGE argumentiert auch poetologisch. Auf Goldsmiths idealisierende Darstellung des alten Auburn reagiert Crabbe mit der anti-idyllischen Forderung, die ländliche Misere nicht länger zu beschönigen. Indes formt auch er die 553 Verse seines Gedichts als heroic

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couplets. Das vorgegebene Muster imitativ wiederholend und sich gleichwohl poetologisch gegen »[m]echanic echo’s of the Mantuan song« (Crabbe [1783] 1988: V. 157) wendend, erhebt Crabbe den Wahrheitsanspruch mimetisch abbildender Dichtung: »I paint the cot, / As truth will paint it and as bards will not« (ebd.: V. 158). Anstatt literarische Vorlagen zu reproduzieren, wendet der Dichter sich dem realen Elend der Dorfbevölkerung zu, um es detailliert zu beschreiben. Dass der in Aldeburgh an der Küste von Suffolk geborene Verfasser als Landarzt und später als Landseelsorger tätig war, mag in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein. Die zunehmende Aufmerksamkeit für ländliche Armut veränderte im 18. Jahrhundert jene »structure of feeling«, die für Pastoraldichtung bestimmend war (vgl. Williams 1973: 70). Crabbe, der das Landleben aus eigener, alltäglicher Anschauung kennt, fordert die Leser solcher Dichtung auf, es selbst in Augenschein zu nehmen, um literarisch tradierte Wunschbilder zu prüfen: »Ye gentle souls, who dream of rural ease, / Whom the smooth stream and smoother sonnet please; / Go! if the peaceful cot your praises share, / Go look within, and ask if peace be there.« (Crabbe [1783] 1988: V. 162) Gegenüber der antiken Überlieferung gewinnt die Erfahrung im Sinne von Eigenwahrnehmung auch im Bereich der Literatur an Gewicht, und zwar ohne die klassizistische Versform zu sprengen. Eine Dorfprosa kam um 1820 auf. Mary Russell Mitfords OUR VILLAGE: SKETCHES OF RURAL CHARACTER AND SCENERY erschien von 1824 bis 1832 in fünf Bänden. Eine eigenständige Gattung formierte sich jedoch nicht. »[L]iterature dealing with the village is too diversified«, so konstatiert Patton mit Blick auf England, »to constitute a distinct genre: it has no unity of conception, no common form, no single and characteristic medium« (Patton 1974: 135). So trat die Dorfprosa auch nicht an die Stelle versförmigen Erzählens. 1827 erschien THE SHEPHERD’S CALENDAR, WITH VILLAGE STORIES AND OTHER POEMS aus der Feder des dichtenden Bauern John Clare. Bei seinen village stories handelt es sich um tales in verse. Mit solchen trat zu dieser Zeit auch George Crabbe wieder hervor. Nach dem 1783 gedruckten Dorfgedicht, seiner ersten Erfolgspublikation, hatte er zwanzig Jahre lang nichts veröffentlicht. Dem Zeugnis seines Sohnes zufolge schrieb Crabbe in dieser Zeit drei Romane, die er allerdings verbrannte (vgl. Huchon 1968: 207). Zwischen 1807 und 1819 brachte er dann vier Sammlungen mit Versdichtungen in den Druck: THE PARISH REGISTER (1807), THE BOROUGH (1810), TALES

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IN VERSE (1812) und TALES OF THE HALL (1819), 1834 erschienen seine COL-

POEMS. Die Aktualität dieser Dichtung erwies sich eben zu einer Zeit, als die Begeisterung für das Versepos – das epochale great poem war nicht geschrieben worden – merklich absank und die Prosa sich im Bereich der Erzähldichtung zunehmend ausbreitete (vgl. Fischer 1964: 262-266). Zurückblickend auf drei Jahrzehnte des heute so genannten Romanticism kam Francis Jeffrey 1829 in der EDINBURGH REVIEW auf »the perishable nature of modern literary fame« zu sprechen: »[W]e have seen a vast deal of beautiful poetry pass into oblivion […] The novels of Scott have put out his poetry.« ([Jeffrey] [1829] 1846: 567) LECTED

GOLDSMITH, CRABBE UND DIE EMERGENZ DER DORFGESCHICHTE IM DEUTSCHEN Zwar ist »das Fehlen einer ausgeprägten Dorfgeschichtentradition in der englischen Literatur im Sinne der deutschen Gattungsdefinition, d.h. einer möglichst realistischen Darstellung des Lebens auf dem Lande unter Einbeziehung der Schattenseiten und damit einer deutlichen Distanzierung von Elementen der Idylle«, nicht abzustreiten. Die damit verknüpfte Behauptung, der ländliche Raum sei in England vor Thomas Hardy »kaum mit den unteren Schichten identifiziert oder zum Schauplatz ausgeprägter sozialkritischer Studien eben dieser unteren Schichten gewählt« (Wild 2011: 27) worden, muss jedoch berichtigt werden. Ein solcher Eindruck mag sich bei ausschließlicher Betrachtung von Prosatraditionen einstellen. Wer abseits davon Ausschau hält, wird jedoch sehr wohl fündig. Ihre besondere Aktualität verdankten die Versdichtungen Crabbes in der Zeit einer abflauenden Romantik just einer realistischen Hinwendung zum Leben ländlicher Unterschichten und dem damit verbundenen »plebeian pathos« ([Jeffrey] [1829] 1846: 567). Nun könnte eine Gattungsgeschichte des Erzählens vom Dorf wohl auf die Kenntnisnahme von solchen Entwicklungen in anderen Literaturen verzichten, wären diese ohne Wirkung auf die deutsche geblieben. Dem ist aber nicht so. Goldsmiths Gedicht, um damit zu beginnen, erregte auf dem Kontinent große Aufmerksamkeit. Bekannt war der Verfasser den Deutschen durch seinen Roman THE VICAR OF WAKEFIELD geworden, das am häufigsten nachgedruckte englische Werk des Jahrhunderts (vgl. Willenberg 2008: 123f.). 1772 erschien eine Frankfurter Ausgabe des Dorfgedichts. Johann

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Heinrich Merck, der Verleger des Sturm und Drang, machte THE DESERTED VILLAGE damit nicht nur dem jungen Goethe zugänglich. Dieser begann sogleich mit einer Übersetzung, die nicht erhalten ist, anders als die nachfolgenden Übertragungen von Johann G. Schlosser ([1772] 1779), Johann F. Gildemeister (1779), Samuel G. Bürde (1796) und Johann G. Seume (1843). Auch George Crabbe war deutschen Lesern kein Unbekannter. 1820 ließ der dänische Reiseschriftsteller und Kulturvermittler Friedrich Johann Jacobsen BRIEFE AN EINE DEUTSCHE EDELFRAU ÜBER DIE NEUESTEN ENGLISCHEN DICHTER erscheinen. Nach dem Vorbild von Madame de Staëls DE L’ALLEMAGNE sind darin Lebensbeschreibungen von Thomas Moore, William Wordsworth, Robert Southey, Walter Scott, George Crabbe, Samuel Rogers und George Gordon Byron versammelt. Die BRIEFE enthalten auch lange Passagen aus THE VILLAGE, versehen mit einer deutschen Übersetzung. Ausführlich wird Francis Jeffreys Kritik von THE BOROUGH aus dem Jahr 1810 zitiert: »Er [d.i. Crabbe] unterscheidet sich von allen anderen Dichtern sowohl durch die Wahl seiner Gegenstände, als durch die Art, wie er sie behandelt. Alle seine Personen sind aus den niedrigsten Ständen genommen, und alle seine Scenerien sind von den ganz gewöhnlichen Gegenständen der Kunst und der Natur. Seine Charaktere und Incidente sind auch so alltäglich, als wie die Elemente niedrig sind, aus welchen er sie bildet. Er hat weder Erstaunenswürdiges noch Wunderbares in seinen Darstellungen, sondern hat diesem Pöbelstoff gar nicht einmal ein poetisches Colorit gegeben.« (Jacobsen 1820: 402)

In Brockhaus’ CONVERSATIONS-LEXIKON wird Crabbe 1822 als »einer der berühmtesten lebenden Dichter in England, und vielleicht unter allen der populärste« (N.N. 1822: 750) vorgestellt: »Die Gattung der Poesie, in welcher Crabbe glänzt, ist ganz originell und von ihm selbst erst erschaffen. Seine Muße bewegt sich in der niedrigsten und alltäglichen Sphäre des Lebens, und es scheint ihre Tendenz zu sein, das Unpoetische darzustellen. […] Mit besonderer Vorliebe besucht Crabbes Muse die Hütten der Armuth und des Elends, und schildert sie und ihre Bewohner mit herzzereißender Wahrheit und Nacktheit.« (Ebd.: 751)

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Erwähnung findet auch das frühe Gedicht: »The Village schildert die Scenerie und das Leben eines englischen Dorfes, recht eigentlich anti-idyllisch.« (Ebd.: 752) Allan Cunninghams Geschichte der neueren englischen Literatur, ab 1834 lag sie in deutscher Übersetzung vor, charakterisiert Crabbe als den »Dichter der Wirklichkeit, der Wirklichkeit des niederen Lebens; alle Illusionen der Muse verabschiedet er auf einmal, und singt die ehrliche, offene, unverschleierte Wahrheit.« (Cunningham 1834: 23) Dass der Dorfgeschichte bei der Herausbildung des poetischen Realismus in Deutschland eine Vorreiterrolle zukam, ist bekannt. Schon Julian Schmidt sah im Erfolg der Gattung rückblickend ein erstes »erfreuliches Zeichen unserer Sehnsucht nach Realität« (Schmidt 1855: 341). Der neueren Forschung zufolge ist die Dorfgeschichte als »das wichtigste Exerzierfeld eines ›Protorealismus‹« (Schönert 2002: 331) anzusehen, von dem auch der programmatische Realismus seinen Ausgang nahm. Eine neuartige Wirklichkeitsnähe gewinnt diese Erzählform durch die Bezugnahme auf konkrete, in vielfältigen Einzelheiten sowie mit Anspruch auf Wahrhaftigkeit geschilderte Räume, auf die ihre Betitelung vielfach verweist: »Der ›reale Boden‹ wurde in der vormärzlichen Dorfgeschichte durch die wissenschaftlich vertretbare lokale, soziale und geschichtliche Einbettung des Geschehens gewonnen.« (Baur 1978: 186) Daher sahen bereits zeitgenössische Leser ihr Aufkommen mit jener anthropologischen Wende verknüpft, die seit dem mittleren 18. Jahrhundert eine Empirisierung, Naturalisierung und Historisierung des Wissens beförderte. »Damit der Bauer ein poetisches Wesen werden konnte«, so bemerkt Hermann Hauf 1856, »mußte zuvor der wissenschaftliche Begriff vom Wesen des Menschen überhaupt ein anderer geworden seyn.« (Hauff 1856: 1130) Nachdem man beim »tieferen Studium alles Menschlichen auch den dritten Stand angefaßt« (ebd.: 1132) habe, sei das literarische Erzählen – besonders bei Berthold Auerbach stellt der Kritiker einen »Fleiß der Beobachtung« (ebd.: 1134) fest – ebenfalls auf die Realität verwiesen: »So ist denn namentlich und zunächst die Dorfgeschichte offenbar geradezu das Corollarium aus wissenschaftlichen Sätzen.« (Ebd.: 1132) Gustav Freytag betont einige Jahre später eine Wirkung, die von Seiten des Erzählens auf die Statistik und Volkskunde ausging:

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»Die reiche Literatur des Landes und der Leute wurde durch die Freude an den Dorfgeschichten wesentlich gefördert. Häufig blieb sie Dilettantenarbeit, welche mehr Unterhaltung als Belehrung bezweckte, aber oft wurde sie in engstem wissenschaftlichen Sinn unternommen.« (Freytag 1862: 252)

Die Emergenzschwelle der neuen Gattung lässt sich um 1840 ausmachen. In dieser Zeit verbinden sich literarische Elemente unterschiedlicher Herkunft zu einer besonderen, reproduzier- und rekognoszierbaren Erzählform, die sich – das verdankt sich nicht zuletzt der eben jetzt aufkommenden und rasch gebräuchlich werdenden Bezeichnung »Dorfgeschichte« – bald stabilisiert. Ein literaturgeschichtliches Ereignis: In relativ kurzer Zeit taucht etwas qualitativ Neues auf, das nicht mehr in seine Bestandteile zerlegt auf Vorhergehendes zurückgeführt werden kann. Ende 1841 publizierte Wilhelm Pochhammer unter dem Pseudonym Wilhelm Martell in der URANIA für das Jahr 1842 DER LAHME HANS als DORFGESCHICHTE. Im April 1842 erschien in der ZEITUNG FÜR DIE ELEGANTE WELT Berthold Auerbachs DES SCHLOSSBAUERS VEFELE. EINE SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTE. Im selben Jahr brachten auch die Zeitschriften DER FREIHAFEN und EUROPA Erzählungen von Auerbach, die durch ihren Untertitel ebenfalls als SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN ausgewiesen sind. Von größerer Bedeutung ist ihr gesammeltes Erscheinen unter dem Buchtitel SCHWARZWÄLDER DORFGESCHICHTEN im Folgejahr. Anhand von Rezeptionszeugnissen kommt Baur zu dem Schluss: »Als Dorfgeschichten empfand man erst nach dem Erfolg von Auerbachs erstem Sammelband (Ende 1843) die Erzählungen von Weill, Rank und später jene Gotthelfs etc.« (Baur 1978: 31)

FRÜHREALISMUS, DIE JUDENBUCHE ZUM BEISPIEL Diese ereignishafte Entwicklung erfasste auch rückwirkend Texte, die sich nicht selbst als Dorfgeschichte ausweisen. Im Frühjahr 1842 wurde im MORGENBLATT FÜR GEBILDETE LESER Annette von Droste-Hülshoffs DIE JUDENBUCHE gedruckt. Wie die seit 1839 schon erschienenen Dorfgeschichten des Elsässers Alexandre Weill, ist auch Drostes Text noch mit der Angabe EIN SITTENGEMÄLDE versehen; die regionale Herkunftsangabe lautet hier: AUS DEM GEBIRGICHTEN WESTPHALEN. Gleichwohl konnte später auch dieser

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Text als Dorfgeschichte eingeordnet werden, handelt er doch von dem namentlich nicht genannten »Dorf B.«, wobei die »malerische Schönheit seiner Lage« in einem »abgeschlossenen Erdwinkel ohne Fabriken und Handel, ohne Heerstraßen« (Droste-Hülshoff 1978: 3), wie auch das Hirtentum der Hauptfigur Friedrich Mergel als Reminiszenzen an die Idyllendichtung zu verstehen sind. Doch wird im Folgenden »ein doppelt kodierter Raum eröffnet, in dem die Idylle von der Anti-Idylle durchzogen ist« (Liebrand 2008: 222) – es geht um Diebstahl und Mord. Drostes Erzählung gehöre, so schreibt etwa Hermann Marggraff im Jahr 1860, »bis auf den etwas unbefriedigenden, die Sache nicht ganz klar austragenden oder doch zu abrupten Schluß sicherlich zu den interessantesten Dorfgeschichten, die wir besitzen« (Marggraff 1860: 626). Im Vorjahr hatte Wolfgang Menzel bemerkt, der Text sei, »was man jetzt eine Dorfgeschichte nennen würde, ein Blick in die Nachtseite des Volkslebens« (Menzel 1859: 370). Die konjunktivische Formulierung macht den Anachronismus der Zuordnung indes deutlich. Aus einem Abstand von bald 20 Jahren gesehen – die Gattung hat sich inzwischen fest etabliert – kann der Text ihr zugeordnet werden. Als die Verfasserin ihn wohl im Frühjahr 1840 fertiggestellte, war das Gattungskonzept noch nicht geläufig. Insofern kann von »Verhandlungen mit der Vorgabe ›Dorfgeschichte‹ in Drostes Erzählung« (Liebrand 2008: 219) eigentlich nicht gut die Rede sein. Vorgaben nahm die Westfälin, das soll das Folgende zeigen, vielmehr aus der englischen Literatur auf. Droste las etwas Italienisch sowie Französisch und Englisch; Jane Austen, Washington Irving und Walter Scott waren auch für ihr eigenes Schreiben von Bedeutung; vor allem mit Byron ist sie immer wieder verglichen worden (vgl. Guthrie 1990). Seit 1833 war sie mit dem Münsteraner Professor Christoph Bernhard Schlüter befreundet, der gemeinsam mit Levin Schücking Gedichte von Samuel Taylor Coleridge übersetzte. Im November 1834 schickte Schlüter ihr Cunninghams Literaturgeschichte als Lektüreempfehlung. Droste hat sie gründlich studiert und Notizen gemacht, auch zu Crabbe (vgl. Droste 1998: 379). Darüber hinaus hat sie einige englische Gedichte, die in die deutsche Übersetzung eingeblendet sind, nachübersetzt, darunter einige Verse aus THE VILLAGE (vgl. ebd.: 394). Auch Jacobsens BRIEFE mögen ihr bekannt gewesen sein. Bei der »deutschen Edelfrau«, an die sie gerichtet waren, handelt es sich um die Byron- und Scott-Übersetzerin Elise von Hohenhausen, in deren Berliner Salon Rahel Varnhagen und Henriette

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Herz, Adelbert von Chamisso und Heinrich Heine verkehrten. Um 1840 befreundete Droste sich mit ihrer Tochter Elise Rüdiger, die in Münster ebenfalls einen Salon unterhielt (vgl. Dollinger 1998). Ihm war ein literarischer Zirkel angegliedert, den sie mit leichter Geringschätzung die »Heckenschriftsteller-Gesellschaft« nannte. Die Lektüre war breit gefächert. Neben deutschen Autoren las man etwa Honoré de Balzac und George Sand. Hier kam Droste mit Schücking in Kontakt, der bald gemeinsam mit Ferdinand Freiligrath, einem der besten Kenner und aktivsten Übersetzer englischer Literatur, das Vorhaben fasste, eine Zeitschrift mit dem Titel BRITANNIA herauszugeben. Für die Entstehung des poetischen Realismus in Deutschland ist dieses starke Interesse an englischer Literatur von Bedeutung. Eine translationsgeschichtlich erweiterte Gattungsgeschichte des Erzählens vom Dorf muss Übersetzungen im engeren Sinne der sprachlichen Übertragung besondere Aufmerksamkeit schenken. Im November 1842, einige Monate nach dem Erscheinen der JUDENBUCHE im MORGENBLATT FÜR GEBILDETE LESER, wurden eben dort BILDER AUS DEM LEBEN DES ENGLISCHEN LANDVOLKS geboten. Es handelt sich um deutschsprachige Fassungen von Crabbes THE VILLAGE und Wordsworths MICHAEL. A PASTORAL POEM (1800). Der verantwortliche Redakteur Hermann Hauff präsentiert die englischen Autoren in einem Vorwort als Hauptvertreter einer »Poesie der Häuslichkeit, der Beschaulichkeit, des Ernstes und der anspruchslosen Einkehr in die ungefärbte Wirklichkeit der Natur und des menschlichen Wesens« ([Hauff] 1842: 1049). Hauff unterscheidet diese Poesie von einer neueren »Poesie des Schimmers, der Leidenschaft, der Sinnlichkeit und der Ueberschwänglichkeit« (ebd.), welche er u.a. durch Byron und Shelley vertreten sieht. Was Crabbe anbelangt, ist diese Darstellungen nicht überraschend; »sein Hauptgrundsatz scheint gewesen zu seyn: nicht zu idealisieren« (ebd.). Schon von den Zeitgenossen war er als letzter Augustan und programmatischer Antiromantiker wahrgenommen worden. Überraschend ist allerdings die Zusammenstellung mit Wordsworth, der sich nach dem Erscheinen von THE PARISH REGISTER in einem Brief an Rogers kritisch darüber geäußert hatte:

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»I am happy to find that we coincide in opinion about Crabbe’s verses; for poetry in no sense can they be called […] The sum of all is that nineteen out of 20 of Crabbe’s Pictures are mere matters of fact; with which the Muses have just about as much to do as they have with a Collection of medical reports, or of Law cases.« (Wordsworth [1808] 1969: 268, Hervorhebung im Original)

Tatsächlich weist Crabbes Dichtung – Jerome McGann bezeichnet sie als eine »poetry of discovery and investigation, of empirical research« (McGann 1985: 306) – in ihrer Aufmerksamkeit für das Partikulare und dessen detaillierter Beschreibung eine Nähe zur wissenschaftlichen Empirie auf: »Thus Crabbe’s is a poetry of science in a very particular sense: his work illustrates a modern scientific method not in its synthetic or theoretical phase, but at its fundamental inductive and critical stage, when the necessary data are being collected.« (Ebd.: 303) Einige Zeitgenossen wie Jeffrey sahen durchaus eine Notwendigkeit, der Literatur vermittels Deskription bislang kaum erfasste Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erschließen: »The poet of humble life must describe a great deal,– and must even describe, minutely, many things which possess in themselves no beauty or grandeur.« ([Jeffrey] [1810] 1846: 310, Hervorhebung im Original) Die Dichter der Romantik aber vermissten an derart wissenschafts- wie auch rechtsaffinen Beschreibungen – an »Law cases« ließen sie Wordsworth denken – die poetische Qualität. Pointiert brachte Coleridge dies zum Ausdruck: »Crabbe’s poems are founded on observation and real life […] But in Crabbe there is an absolute defect of the high imagination; he gives me little or no pleasure.« (Coleridge [1834] 1936: 432f.) Auch Hauff äußert Vorbehalte gegenüber dem didaktischen Zug der Dichtungen Crabbes. Der »Sitten- und Charakterschilderer«, »dessen Werke allen möglichen Mißbräuchen und Uebelständen einen strafenden Spiegel vorhalten« ([Hauff] 1842: 1050), wolle lediglich belehren, nicht aber durch Verklärung erheben: »[W]enn aber die Aufgabe oder das Wesen der Poesie überhaupt nicht darin besteht, unmittelbar zu belehren, sondern durch Erhebung des Gemüths über die gemeine Wirklichkeit es für das Schöne, Wahre und Gute, für das Ideale empfänglich zu machen, welches nicht der verneinende Gegensatz der Wirklichkeit, sondern ihre Potenzierung und Verklärung ist: so muß man allerdings eine Poesie, welche ausdrücklich darauf ausgeht, Illusionen zu zerstören, ohne eine beruhigende Wahrheit an ihre Stelle

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zu setzen, in ihrem innersten Wesen für antipoetisch erklären, was auch sonst ihre Vorzüge seyn mögen.« (Ebd.)

Daher stellt Hauff ihm Wordsworth weniger als »Gegensatz« gegenüber denn ausdrücklich als »Ergänzung« zur Seite: Der letztere sei mit der Kraft begabt, »das ächt Menschliche in verklärendem Licht zu schauen« (ebd.). In ihren wesentlichen Zügen ist die Programmatik jenes späteren, poetisch idealisierenden Realismus, der oftmals als eine deutsche Besonderheit angesehen wird, in den hier angeführten Zeugnissen der Rezeption englischer Dichtung bereits zu erkennen. Der Weg bis zu Äußerungen wie der folgenden, im Jahr 1860 von Julian Schmidt in den Druck gegebenen, war nicht weit: »Der Zweck der Kunst, namentlich der Dichtkunst, ist, Ideale aufzustellen, d. h. Gestalten und Geschichten, deren Realität man wünschen muß, weil sie uns erheben, begeistern, ergötzen, belustigen usw.; das Mittel der Kunst ist der Realismus, d. h. eine der Natur abgelauschte Wahrheit, die uns überzeugt, so daß wir an die künstlerischen Ideale glauben.« (Schmidt 1860: 481)

Im Vorjahr hatte Schmidt sich über DIE JUDENBUCHE geäußert und Droste für ihre Beobachtungsgabe gelobt: »Die Naturwahrheit zeugt von einer Meisterhand; sämmtliche Figuren reden, denken und handeln, wie sie in der Wirklichkeit reden, denken und handeln, und es ist um so merkwürdiger, da die Geschichte sich durchweg in den niedrigen Volkskreisen bewegt: wo die vornehme, kränkliche Dame das beobachtet haben mag, ist räthselhaft; geradezu erfinden läßt sich so etwas nicht. (Die gleiche Schärfe der Beobachtung zeigen auch die ›Bilder aus Westphalen‹ 1840.)« (Schmidt 1859: 449)

Bezeichnenderweise moniert der Programmatiker des poetischen Realismus bei aller Beobachtungsschärfe und Wirklichkeitsnähe einen Mangel an Idealisierung: »[W]ir ahnen keine leitende Idee, keine Nothwendigkeit des Schicksals, die uns mit den zahlreichen Greueln versöhnte.« (Ebd.) Aus heutiger Sicht ist das, was nicht nur Schmidt als defizitär einschätzt, »der nackte, prosaische Realismus, dem noch durchaus die poetische Verklärung fehlt« (Fontane [1853] 1963: 8), als eine besondere Qualität mancher Literatur zu begreifen, die in der ersten Jahrhunderthälfte verfasst wurde.

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PROSA UND VERS Wie sich mit Blick auf die Literatur Englands erweist, war der Übergang von der Versdichtung zur Prosa keine Voraussetzung der Hinwendung zur Wirklichkeit, zu jener der ländlichen Unterschichten insbesondere. In der Idyllendichtung hatte diese Wendung sich längst angebahnt. Zwar ist ihr hoch artifizieller Charakter auf langen Strecken ihrer Geschichte bestimmend. Doch war ihr Realitätsbezug, wie Böschenstein-Schäfer mit Blick auf Theokrit und Vergil feststellt, stets ein zentrales Moment solcher Dichtung: »Aus der Verbindung des Differenzierten und Artistischen mit einer noch lebendigen ursprünglichen Beziehung zu einfachen Lebensformen ist das Hauptproblem der Gattung abzuleiten, das Verhältnis zur Wirklichkeit.« (BöschensteinSchäfer 1977: 11) Insofern ist die Möglichkeit einer »realistischen Wende« wie sie für das 18. Jahrhundert beschrieben wurde, seit jeher in dieser literarischen Form angelegt. Der Germanistik hat allen voran Johann Heinrich Voß Beispiele für eine solche Neuorientierung geliefert: In der Zeit des Sturm und Drang hat er die Idylle der ländlichen Realität seiner Zeit geöffnet und so eine niedere Wirklichkeit mit einer klassischen Form der gehobenen Versdichtung in Verbindung gebracht (vgl. Kubisiak 2013). Ähnliches leistete in Frankreich André Chénier mit LA LIBERTÉ (1787) (vgl. Winkler 1998). In England hat diese Wendung sich in Form der counter-pastoral vollzogen. Die Idylle stirbt hier nicht etwa deshalb ab, weil das durch sie geweckte Interesse durch eine andere, ungebundene Form besser befriedigt würde. Vielmehr wendet Crabbe sich in THE VILLAGE unter Wahrung der hergebrachten Form poetologisch gegen eine Verklärung der ländlichen Wirklichkeit. Auch nach der Jahrhundertwende, als er mit den tales in verse einen Gegentyp zur romantischen Verserzählung entwickelte, griff Crabbe, der als der letzte konsequente Praktiker dieses Versmaßes gilt, darauf zurück. »Crabbe was able to turn the closed couplet to narrative use«, so befindet ein konservativer Formalist, »without seriously undermining its form or integrity.« (Piper 1969: 421) Auch Byron hat ihm dafür Respekt gezollt: »[W]e are all wrong except Rogers, Crabbe, and Campbell« (Byron [1820] 1991: 110) – Worte, die nach Herrmann Fischer »nicht nur das persönliche Bekenntnis eines Mannes sind, der die klassizistische Schule gegen die Formauflösung der Romantik vertritt, sondern […] einem weitverbreiteten Gefühl des Unvergnügens an der poetischen Leistung der Zeit entsprechen« (Fischer

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1964: 262f.). Uneinigkeit bestand freilich hinsichtlich jener anti-idyllischen Wirklichkeitszuwendung, die Crabbe derart formstreng vollzog. Byron indes hat seine Verdienste auch in dieser Hinsicht gewürdigt, ja besungen: »Though Nature’s sternest Painter, yet the best.« (Byron [1809] 1980: 256) Bekanntlich dichtete auch Annette von Droste-Hülshoff weit überwiegend in Versen. Sengle (1972: 628) erinnert daran, dass das Epos als traditionell vornehmste Gattung für eine feudale und klerikale Oberschicht von größter Anziehungskraft war. DIE JUDENBUCHE war der erste Prosatext, mit dem die Angehörige eines der ältesten Adelsgeschlechter des Münsterlandes hervortrat. Der Publikation ging ein langwieriger Entstehungsprozess voraus, dessen Anfänge wohl um das Jahr 1820 liegen. Ein LEDWINA betitelter Roman, an dem sie 1819 und 1825 arbeitete, blieb Fragment. Stattdessen erschienen 1838 in der Aschendorff’schen Buchhandlung zu Münster halbanonym – als Autorin wird »Annette Elisabeth v. D… H…« genannt – GEDICHTE. Das Buch enthält drei Epen – die Verfasserin verwandte meist die Bezeichnung »längere Gedichte« –, nämlich DAS HOSPIZ AUF DEM GROSSEN ST. BERNHARD, DES ARZTES VERMÄCHTNISS und DIE SCHLACHT AM LOENER BRUCH, 1623, sowie einige kleinere, vor allem geistliche Gedichte. Droste selbst schätzte ihre Verse offenbar höher ein als die sehr viel später erst zu großer Bekanntheit gelangte Prosaerzählung, mit der man ihren Namen heute vor allem verbindet. Der 1844 im Verlag J.G. Cotta als letzter zu Lebzeiten erschienene Band GEDICHTE VON ANNETTE VON DROSTE-HÜLSHOFF nimmt die drei Verserzählungen wieder auf und enthält außerdem Lyrik, nicht aber DIE JUDENBUCHE. Dabei ist auch der letztere kein reiner Prosatext. In der Endfassung sind dem Erzähltext zwölf Verszeilen vorangestellt. Sie müssen in einer späten Arbeitsphase beigefügt worden sein, erst in der letzten Reinschrift sind sie zu finden: »Wo ist die Hand so zart, daß ohne Irren Sie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren, So fest, daß ohne Zittern sie den Stein Mag schleudern auf ein arm verkümmert Seyn? Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen, Zu wägen jedes Wort, das unvergessen In junge Brust die zähen Wurzeln trieb, Des Vorurtheils geheimen Seelendieb?

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Du Glücklicher, geboren und gehegt Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt, Leg hin die Wagschal’, nimmer dir erlaubt! Laß ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt! –« (Droste-Hülshoff 1978: 3)

Vielfach sind diese Zeilen mit Blick auf die nachfolgend erzählte Geschichte deutend ausgelegt worden. Weit weniger Aufmerksamkeit hat ihre Form auf sich gezogen. Auch Winfried Woesler macht nicht viel Aufhebens davon: »Der Vorspruch besteht aus zwölf Versen; es sind fünfhebige Jamben mit meist männlichem Ausgang, also der klassische deutsche Vers, der Blankvers, der aber zusätzlich gereimt ist.« (Woesler 2009: 106) Wie das Vorstehende deutlich gemacht haben sollte, könnte der Vers, der den Germanisten allzu vertraut anmutet, mit gleichem, ja besserem Recht klassisch englisch heißen. Nicht nur ist der jambische Pentameter der anderen Literatur ebenso alt bekannt. Bei dem »zusätzlichen« Reim, der Drostes Verse vom Muster des Blankverses oder blankverse gerade unterscheidet, handelt es sich, genauer besehen, um einen paarigen Endreim. Ein eben solcher verbindet Verse zu couplets. Diese strengere ist mit der freieren »blanken«, eben reimlosen und darum von manchen als prosanah angesehenen Form nicht zu verwechseln. Byron legte auf diesen Unterschied besonderen Wert: »Prose poets like blank-verse, I’m fond of rhyme, / Good workmen never quarrel with their tools« (Byron [1819] 1986: 73). Dass die Dichterin dem Vorspruch zur JUDENBUCHE diese Form gab, verdient Aufmerksamkeit, zumal sich, wie Lothar Köhn bemerkt hat, paarweise gereimte jambische Fünfheber aus ihrer Feder sonst allein in der Binnenerzählung von DES ARZTES VERMÄCHTNISS finden, und zwar lediglich in einer freieren Spielart mit unregelmäßigem Reim. Köhn hat in diesem Zusammenhang auf Lord Byrons Gedicht THE CORSAIR (1814) als ein mögliches Vorbild hingewiesen (vgl. Köhn 2000: 40). Tatsächlich hatte der englische Aristokrat »the good old and now neglected heroic couplet«, »not the most popular measure certainly« (Byron [1814] 1981: 149), und damit eine streng regelmäßige Form aufgegriffen, um von einem gesetzlosen Freibeuter zu handeln (vgl. Wolfson 1997: 133-163). Vieles spricht hingegen dafür, in dem Prolog-Gedicht der JUDENBUCHE eine imitative Bezugnahme auf George Crabbes Dichtung zu sehen. Darauf wollte Lionel Thomas die Forschung vor Jahrzehnten bereits aufmerksam machen. »At least the comparison indicates that Droste’s approach to her subject is close to that of a typical English poet

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of the eighteenth century« (Thomas 1969: 354), zu diesem Schluss gelangt Thomas aufgrund seines Befunds, dass vermutlich der mehrfach ins Deutsche übersetzte Roman PAUL CLIFFORD von Edward Bulwer-Lytton als Vorlage diente. Dem ersten Kapitel sind hier zwölf Verse aus THE VILLAGE vorangestellt: »Hatt’ Euch phantastisch Leid schon so gepreßt, Bei zänk’schem Nerv, der Euch nicht ruhen läßt, Daß auf dem Dunenbett Ihr nicht könnt schlafen Und scheu von fern Euch dienen Eure Sclaven, Daß Eures Arzts gelehrter Schädel brennt, Weil Eurer Krankheit Grund er nicht erkennt, Daß Ihr Geduld erheuchelt unter Klagen, Mit denen ächten Schmerz man könnt’ ertragen: Wie wollt Ihr dann wohl ächten Schmerz besiegen, Wenn Ihr müßt pfleglos, hülflos, sterbend liegen? Wie wird von Euch dann sel’ges End’ erreicht, Wenn alles Weh den Pfad zum Tod Euch zeigt? CRABBE« (Bulwer-Lytton, zit. n. Thomas 1969: 353)

Tatsächlich fällt es bei vergleichender Betrachtung nicht schwer, Ähnlichkeiten zu konstatieren; insbesondere der moralische Appell an privilegierte Leser von Literatur fällt sogleich ins Auge. Der Rückgriff auf die Form des heroic couplet kündigt bei Droste noch einmal eine Stellungnahme in einer öffentlichen Streitsache an. Historisch ist die Dorfgeschichte der Westfälin grosso modo in eben jenem Zusammenhang zu verorten, aus dem schon Goldsmiths Dorfgedicht hervorgegangen war. Allerdings waren es in den preußischen Westprovinzen des 19. Jahrhunderts nicht Felder, sondern Wälder, um deren Nutzung gerungen wurde. Die Hauptfigur Friedrich Mergel wird eines Mordes bezichtigt, der auf unklare Weise mit bandenmäßigem Holzdiebstahl zusammenhängt. Damit griff Droste ein zu ihrer Zeit vieldiskutiertes Thema auf; Holzdiebstahl war »das zentrale Massendelikt im 19. Jahrhundert schlechthin« (Blasius 1978: 16). Auch Berthold Auerbach handelt davon in seiner Dorfgeschichte BEFEHLERLES, die wenige Monate nach dem Erscheinen der JUDENBUCHE, am 4. bis 8. Oktober 1842, als Fortsetzungsgeschichte in der ZEITUNG FÜR DIE ELEGANTE WELT gedruckt wurde.

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Die Freiin Annette von Droste-Hülshoff – damit wäre auch Julian Schmidts Frage beantwortet, woher die »vornehme, kränkliche Dame« vom Leben in »niedrigen Volkskreisen« (Schmidt 1859: 449) wusste –, war von ihrer Verwandtschaft auf dieses Thema gebracht worden. Die Freiherren von Haxthausen lagen in dieser Sache seit dem 16. Jahrhundert mit dörflichen Gemeinden im Rechtsstreit. Die Rationalisierung der Forstwirtschaft ging mit einer Verschärfung solcher Konflikte einher, die gesetzgeberische Maßnahmen nach sich zog. Zusammen mit einer Gemeinheitsteilungsordnung wurde im Juni 1821 ein Holzdiebstahlsgesetz erlassen, demzufolge ein Straftäter dem Waldbesitzer den vierfachen Wert des entwendeten Holzes zu erstatten hatte; andernfalls sollte er unbezahlte Forstarbeit leisten oder mit Gefängnis bestraft werden (vgl. ebd.: 43); ein Gesetzesentwurf aus dem Jahr 1841 sah eine weitere Verschärfung der Strafen vor (vgl. Blasius 1976: 110). Anders als Goldsmith oder Crabbe war Droste aufgrund ihrer familiären und Standeszugehörigkeit in dieser Angelegenheit auf Seiten der Besitzenden positioniert. In einem Brief an August von Haxthausen spricht sie mit Bezug auf den »ansässigen Adel« von »unsrer Parthey« (Droste-Hülshoff 1992: 203).3 Gleichwohl bringt sie mit ihrer Erzählung eine im Volk verbreitete Meinung zu Gehör: Das angeblich rechtswidrige Sammeln von Holz stelle tatsächlich altes Recht wieder her, sei den Gemeinden doch ein großer Teil der Holzungen, welche früher in ihrem Besitz waren, durch die Gutsbesitzer nach und nach widerrechtlich entzogen worden (vgl. Blasius 1976: 47). Als unrechtmäßig mussten die gutsherrschaftlichen Ansprüche auf alleinige Verfügung über den Wald und das Wild nicht zuletzt deshalb gelten, weil sie sich auf Dinge bezogen, welche ohne Zutun menschlichen Fleißes von der

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Zugleich beschwert sie sich über ihren Onkel Werner von Haxthausen, der 1833 als Abgeordneter im Westfälischen Provinziallandtag tätig gewesen war: »Man ist jetzt am Reguliren der Jagdgerechtigkeiten, und Wernern stehen die Haare zu Berge vor Wichtigkeit. – Das ist Alles ganz gut, man soll sich Nichts nehmen lassen, aber ich wollte, die Herrn dächten auch zuweilen an allgemeinere LandesInteressen; – es empört den Bürger- und Bauernstand, daß sie auf den letzten Landtagen Nichts als ihre Jagdgeschichten haben zur Sprache kommen lassen, weder Schulen, Pfarreyen, noch Sonstiges. Werner wird das nicht so gewahr, da er nur mit dem Adel umgeht, aber ich höre es desto öfterer.« (Droste-Hülshoff 1992: 202)

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Natur hervorgebracht worden waren. Diese Auffassung legt Droste der Mutter Friedrichs in den Mund: »Höre Fritz, das Holz lässt unser Herrgott frei wachsen, und das Wild wechselt aus eines Herren Lande in das andere: die können Niemand angehören.« (Droste-Hülshoff 1978: 8) Die westfälische Dichterin wandte sich damit an eben jenes Lesepublikum, dass auch Karl Marx im Oktober und November 1842 mit seinem Fortsetzungsartikel zu den Debatten des rheinischen Landtags über das Holzdiebstahlsgesetz in der RHEINISCHEN ZEITUNG zu erreichen suchte. Sein Appell an den Gesetzgeber, »nicht in ein Verbrechen zu verwandeln, was erst Umstände zu einem Vergehen machen« ([Marx] [1842] 1976: 120, Hervorhebung im Original), mag Drostes Beifall gefunden haben, stellt ihre Schilderung doch auf die »Umgebungen« ab, in denen Friedrich Mergel geboren wird, und auf die »kümmerlichen Umstände« (Droste-Hülshoff 1978: 5), unter denen er aufwächst. Darauf wollte sie nicht zuletzt auch die eigenen Verwandten aufmerksam machen, die im Rahmen einer Patrimonialgerichtsbarkeit, wie sie in ihrer Geschichte der Gutsherr ausübt, selber über Fälle von Holzdiebstahl entschieden. »Mein Onkel hatte, wie alle dortigen Gutsbesitzer«, so heißt es im Entwurf einer später gestrichenen Rahmenerzählung, »die Gerichtsbarkeit in Händen« (Droste-Hülshoff 1984: 261). Dass Werner von Haxthausen gesellschaftliche Angelegenheit aus beschränkter Perspektive betrachtete, »da er nur mit dem Adel umgeht« (Droste-Hülshoff 1992: 202), beklagte sie ausdrücklich. Offenbar wollte sie eine andere Sichtweise vermitteln. Doch schlägt Droste sich in dieser Streitsache nicht etwa auf die Seite der anderen Partei. Indem sie verworrene Rechtsverhältnisse schildert und eine unaufgeklärte Kriminalgeschichte erzählt – dass »mancher Umstand im Dunkeln bleibt« (Schmidt 1859: 449), hat darin seinen Sinn –, macht sie vielmehr die Grenzen des menschlichen Urteilsvermögens für den Leser erfahrbar. Eben darauf zielt der Vorspruch: Eindringlich wird der Leser mit Verweis auf das Neue Testament davor gewarnt, über ein »arm verkümmert Seyn« (Droste-Hülshoff 1978: 3), wie die folgende Erzählung es schildert, zu urteilen. In den öffentlichen Verhandlungen über das Recht der Dörfler am Wald, tritt Droste gleichsam als eine Fürsprecherin auf, die sich gegen das Richten wendet. Dabei stellt sie genau so, wie die Handbücher der Rhetorik es für eine Gerichtsrede empfehlen, der narratio causae ein prooemium voran; nach Quintilian (1995: 407, Hervorhebung im Original) sollte es die Hörer, vor allem den Richter, »wohlwollend, gespannt und aufnahmebereit«

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machen. Zu diesem Zweck wird in der JUDENBUCHE noch einmal die poetic diction eingesetzt: »In Gestalt des heroic couplet«, so erläutert Eckhard Lobsien die neoklassizistische Logik der Form, »stiftet der Reim eine Ordnung, die den notwendigen Abstand zwischen poetischer und praktischer Sprache herstellt, um so eine gesteigerte Anteilnahme am dramatischen Geschehen oder eine intensivierte Aufmerksamkeit gegenüber den vorgetragenen Argumenten zu erzeugen.« (Lobsien 1988: 207) Dass im vorliegenden Fall aus dem mittleren 19. Jahrhundert nur der Vorspruch noch eine solche Ordnung aufweist, stellt eine interpretatorische Herausforderung dar, die im Rahmen dieses Aufsatzes nicht angenommen werden kann. Der rhetorische Aspekt wäre dabei wohl zu vertiefen. Mag eine Zeitschriftenpublikation auch vergleichsweise situationsabstrakt sein, so ist doch zu bedenken, dass der Gesichtspunkt des aptum für die Wahl der Versform maßgeblich gewesen sein könnte. Nicht nur die Sache, auch die Adressaten – darunter ihre Verwandten und andere Standesgenossen – hatte die Verfasserin zu beachten: »Du Glücklicher, geboren und gehegt / Im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt« (Droste-Hülshoff 1978: 3), so wird offenkundig ein Privilegierter angerufen, den es in angemessener Form auf jene Fallgeschichte vorzubereiten galt, die nachfolgend dann in einer populären, ungebundenen Form dargeboten wird. In historischer Hinsicht ist Drostes Formwahl hingegen als eine Stellungnahme zur literarischen Tradition zu verstehen. Dass closed couplets im Zusammenhang der englischen Dichtung nach 1800 für Traditionalisten »something of a cultural fetish« (Keach 1986: 184) waren, müsste dabei berücksichtigt werden. Der geschichtliche und überdies kulturelle Abstand, aus dem Droste auf diese Form zurückgriff, war weitaus größer. Kundigen Lesern dürfte der Prolog der JUDENBUCHE aufgrund dieser Distanz und der dadurch bedingten Fremdheit als ein Formzitat kenntlich gewesen sein, das es als solches zu deuten galt. Aus Sicht einer Übersetzungsgeschichte des Erzählens vom Dorf stellen Drostes couplets vor allem einen Verweis dar, der die deutsche Dorfgeschichte zur älteren englischen Dorfdichtung in Beziehung setzt. Das war hier zu zeigen.

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Der Widerstand einer Gattungspoetik Adam Naruszewiczs Idylle FOLWARK Erik Martin

DIE IDYLLE IN DER POLNISCHEN AUFKLÄRUNG Im Jahre 1778 erschien in der Warschauer Druckerei von Michał Gröll ein Fürst Adam Czartoryski gewidmeter Prachtband mit zahlreichen Kupferstichen unter dem Titel SIELANKI POLSKIE Z RÓŻNYCH AUTORÓW ZEBRANE (Gesammelte polnische Idyllen verschiedener Autoren).1 Neben den Klassikern polnischer Idyllendichtung wie Szymon Szymonowic (Simon Simonides), Szymon Zimorowic und Jan Gawiński sowie der Übersetzung der genreprägenden EKLOGEN von Vergil durch Ignacy Nagurczewski enthält der Band auch zwei Texte des Schweizers Salomon Gessner, die von Adam Naruszewicz ins Polnische übertragen wurden. Diese zwei Idyllen – PACIERZ STARUSZKA (Das Gebet eines Greises) und FOLWARK (Gutshof) – hatte Naruszewicz bereits früher an anderen Orten veröffentlicht (vgl. Platt 1967: 105ff.). Dass diese Übersetzungen in einen Band Eingang gefunden haben, welcher offensichtlich auf die Kanonisierung der Gattung in Polen abzielte, zeigt, welche hohe Stellung Gessner und mit ihm Naruszewicz in der polnischen Literatur dieser Zeit genossen haben. Obwohl Naruszewiczs Texte nur einen geringen Seitenumfang haben, erscheint sein

1

Es handelte sich um die bereits dritte Ausgabe, deren Erstdruck 1770 in Leipzig erfolgte. Die aufwändige Ausgabe von Gröll sowie die Widmung an Czartoryski zeugen von der anhaltenden Beliebtheit der Idylle und ihrer prominenten Stellung in der polnischen Literatur.

138

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Porträt in der Mitte des Frontispizes, von anderen Dichtern des Bandes umgeben. Was Gessner betrifft, so vermerkt Gröll im Vorwort des Bandes, er sei »ohne Zweifel der erste unter den Idyllendichtern in Deutschland«.2 Tatsächlich war der heute lediglich einem Fachkreis bekannte Schweizer Dichter und Landschaftsmaler Salomon Gessner (1730-1788) seinerzeit ein weitbeachteter Autor. Seine IDYLLEN (1756) wurden in praktisch alle europäischen Sprachen übersetzt und lösten regelrechte Begeisterungswellen aus. Auch fand er eine geneigte Leserschaft bei einigen der besten Köpfe der Aufklärung wie Diderot, Rousseau oder Mendelssohn. Um diesen Erfolg zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass Idyllen seit der Renaissance bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in sämtlichen europäischen Literaturen eine »heute kaum noch vorstellbare Hochkonjunktur« hatten (Garber 1976: XIII). Allerdings war mit Gessner bereits der Wendepunkt dieser Hochkonjunktur erreicht, denn gerade an seiner Person und Dichtung entzündete sich die vernichtende Kritik der Idylle, die zu einem nachhaltigen Niedergang dieser Gattung beigetragen hat. Die Neuauflage der SIELANKI POLSKIE… erscheint vor dem Hintergrund des einsetzenden Niederganges des Genres bereits wie ein Anachronismus. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass Naruszewicz in seinen Übertragungen nicht so sehr das polnische Publikum mit den sentimentalistischen und bürgerlichen Ideen von Gessner vertraut machen wollte, als vielmehr versuchte, sie in die Poetik des Klassizismus zu integrieren, und so ein zusätzliches archaisierendes Moment schuf. Besonders deutlich scheint dieses Verfahren in FOLWARK (Gutshof) am Werk zu sein, wo Naruszewicz Gessners Idylle DER WUNSCH bereits im Titel transformiert und an retrograde polnische Realia angepasst hat. Platt bemerkt zurecht, dass »der Wunsch eines vom Stadtleben ermüdeten Bürgers unter der Feder Naruszewiczs in den Traum eines Adeligen vom eigenen Gutshof abgewandelt wird« (Platt 1967: 106).3 Nun ist es zwar durchaus so, dass im historischen Rückblick Naruszewiczs Poetik als ein Residuum des ancien régime erscheint, während Gessners bürgerliche Idylle den Keim einer neuen politischen Ordnung in sich

2

»Pierwszy z Sielskich Poëtow [sic!] Niemieckich iest bez wątpienia sławny Gesner.« (Gröll 1778: unpaginiert)

3

»[Ż]yczenie

mieszczanina

zmęczonego

życiem

miejskim

pod

piórem

Naruszewicza zostaje zmienione w marzenia szlachcica o własnym folwarku«.

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| 139

trägt, doch möchte ich in der folgenden Analyse einen anderen Zugang wählen. Ich vertrete die These, dass Naruszewiczs ›Klassizismus‹ und Gessners ›Sentimentalismus‹ zwei synchrone poetische Ausprägungen der spezifischen Genremöglichkeiten der Idylle darstellen, von denen sich keine für spätere Transformationen des Genres als anschlussfähig erwiesen hat. Vielmehr gilt es mit Frühsorge festzuhalten, dass auch »von den Gessnerschen Idyllen kein Weg in die sogenannten realistischen Idyllen des 18. Jahrhunderts« führt (Frühsorge 1989: 180f.). Um diese These zu verfolgen, werde ich zunächst die Poetik und Kritik der Idylle im 18. Jahrhundert abrisshaft skizzieren und dann einen Vergleich zwischen Naruszewiczs FOLWARK und Gessners DER WUNSCH anstellen.

DIE IDYLLE ZWISCHEN ›EINFACHHEIT‹ UND METAPOETIK Gattungsbestimmungen sind stets prekär, vor allem wenn es sich um Gattungen mit einer langen Tradition handelt, wie im Fall der Idylle. Bei der Idylle kommt erschwerend hinzu, dass ihre Gattungseigenschaften durch die kritische Haltung des Sturm und Drang sowie der Romantik oftmals verzerrt dargestellt und bis heute durch dieses Prisma wahrgenommen werden. Am Anfang der Polemik gegen die Idylle, die sich als derart erfolgreich erwies, dass sie diese Gattung praktisch vernichtete, steht Herder mit dem 1767 erschienenen Aufsatz THEOKRIT UND GESSNER. Dieser Text liefert das nahezu gesamte Arsenal der Kritik, aus dem sich spätere Gattungstheoretiker bedienten.4 Wie im Titel angedeutet, macht Herder einen fundamentalen Unterschied zwischen dem griechischen Original und seinem Schweizer Nachahmer auf, freilich zu Ungunsten des Letzteren:

4

Bis hin zu Jean Pauls »Vollglück in der Beschränkung«, welche sich »bald auf die der Güter, bald der Einsichten, bald des Standes, bald aller zugleich beziehen« kann (Jean Paul 1995: 258, Hervorhebung im Original), sowie Hegels vernichtendem Urteil über die Idylle im Allgemeinen und Gessner im Besonderen: »Kahler schon ist Vergil in seinen Eklogen am langweiligsten, aber Geßner, so daß ihn wohl niemand heutigentags mehr liest und es nur zu verwundern ist, daß die Franzosen jemals so viel Geschmack an ihm gefunden haben, daß sie ihn für den

140

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»Die Süßigkeit des Griechen ist noch ein klarer Wassertrank aus dem Pierschen Quell der Musen; der Trank des Deutschen ist verzuckert. Jenes Naivete ist eine Tochter der einfältigen Natur; die Naivete im Geßner ist von der idealistischen Kunst geboren; jenes Unschuld redet in Sitten des Zeitalters; die Unschuld des letzten erstreckt sich bis auf die Gesinnungen, Neigungen, und Worte. Kurz! Theokrit malt Leidenschaften und Empfindungen nach einer verschönerten Natur: Geßners Empfindungen und Beschäftigungen nach einem ganz verschönerten Ideal […].« (Herder 1985: 359, Hervorhebung im Original)

Herder bringt an dieser Stelle gleich zwei Grundvorstellungen des Sturm und Drang in Anschlag: das Originalgenie und das Natürliche. Bezeichnenderweise geht Herder von dem Begründer der Idylle, Theokrit, aus, nicht von dessen römischem Nachfolger Vergil, obwohl gerade Vergil für die europäische Tradition der Idylle prägend gewesen ist. In diesem »Ordnungsruf […] ›Zu den Quellen!‹« (Blumenberg 2009: 6) sind auch die zahlreichen Naturmetaphern Herders gehalten, mit denen er eine Überlegenheit des griechischen Originals Theokrit behauptet (»Wasser«, »Quelle«, »Tochter« etc.). Mit diesem Vergleich wird einerseits die Idylle als Gattung historisiert, aber andererseits wird ihr Ursprung gleichsam in das Reich des Natürlichen verlegt und somit absolut gesetzt. Die Historisierung enthält zudem eine gattungstechnische Pointe, »denn nicht der Gattung als solcher schreibt Herder den Zwang zur Idealisierung zu, sondern den historischen Umständen« (Burk 1981: 14). Das »Unhistorisch-Abstrakte des Idyllenmenschen« (ebd.: 16) wird von Herder zwar als eine – persönliche – Verfehlung Gessners angesprochen, gleichzeitig wird aber auch die Forderung nach einem darzustellenden Inhalt der Idylle, welcher eben die – zeitlose – Natur sein soll, erhoben: »[J]e näher ich der Natur bleiben kann, […] je schöner ist meine Idylle: je mehr ich mich über sie erheben muß […], desto mehr verliert sie an poetischer Idyllenschönheit« (Herder 1985: 356). Die Festlegung der Idylle auf ihren ›Inhalt‹ beeinflusst die Forschung bis heute, sodass die Literaturwissenschaft zuweilen »die Beschreibung des 18. Jahrhunderts samt ihrer – mal positiv, mal negativ gewendeten – ›Naturhaftigkeit‹ der Idylle [reproduziert]. Rhetorizität, Artifizialität, Fiktionalität und Theatralität der Idylle entfallen als Untersuchungsgegenstände, die Setzung

höchsten deutschen Dichter halten konnten« (Hegel 1986: 391f., Hervorhebung im Original).

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der Natürlichkeit als Ideal bleibt unhinterfragt.« (Heller 2018: 22) Gegen die »Setzung der Natürlichkeit« führt Heller in seiner Dissertation die Allegorik als Gattungsmerkmal der Idylle ins Feld, die sich bis zur sogenannten bürgerlichen Idylle, der auch Gessner zugerechnet wird, als dominantes Verfahren behauptet hat. Weit davon entfernt, sich von Herders Vorwurf eines »verschönerte[n] Ideal[s]« treffen zu lassen, hat die Idylle mit der Allegorie ein Reflexionsmedium bereitgestellt, in dem sie die Möglichkeiten ihrer eigenen »Rhetorizität, Artifizialität, Fiktionalität und Theatralität« verhandeln konnte. Ohne auf alle Schwierigkeiten der Gattungsbestimmung der Idylle im 18. Jahrhundert eingehen zu können (vgl. dazu Böschenstein-Schäfer 1967), lassen sich doch zwei Strömungen interpolieren: Hirtendichtung oder Bukolik und Landlebendichtung oder Georgik. Während sich die Schäferdichtung auf Vergils EKLOGEN bezieht, ist für die Georgik die zweite Epode des Horaz (Beatus ille, qui procul negotiis) traditionsbildend gewesen. Die Bukolik, zu welcher auch die Schäferspiele des Rokoko gehören, wird am ehesten mit der Allegorie in Verbindung gebracht: »Seit Vergil lebt die Schäferdichtung von der fraglos gewordenen Übereinkunft, im Dichter selbst oder andere nichtschäferische Personen oder gesellschaftliche Gruppen zu verkörpern.« (Garber 1976: XII) Auf Grund dieser Tradition, den Dichter unter der Maske des Schäfers figurieren zu lassen, stellt Wolfgang Iser bereits für die Bukolikdichtung der Renaissance fest, dass sie keineswegs eine Abbildung oder gar Idealisierung des Menschen in der Natur sei, sondern vielmehr als »Mimesis von Dichtung« (Iser 1993: 70) figuriere und als solche Teil einer (selbst)reflektierten Auseinandersetzung mit den Systemen der Literatur, der Politik und der Anthropologie sei (vgl. ebd.: 59f.). In Bezug auf diese metapoetische Ebene scheint die Georgik einen Gegensatz zur Bukolik zu bilden: »Die Landlebendichtung hingegen kennt wohl – wie die Schäferdichtung – die idealisierende Stilisierung und poetische Verklärung des Bauernstandes, kaum jedoch dessen bewusste Allegorisierung.« (Garber 1976: XII) Tatsächlich wird in der Landlebendichtung, und so auch in Gessners DER WUNSCH, ein Prärogativ der Wirklichkeit suggeriert, welches sich darin zeigt, dass Gessners Text sich bewusst in zahlreiche faktuale Diskurse, etwa den der Physiokraten oder der Moralistik, einschreibt. Doch auch wenn die Allegorik keine offensichtliche Dominante des Gessner’schen Textes bildet, wirkt sie dennoch aus der Latenz heraus. Diese Latenz der Allegorik zeigt sich bei Gessner – und in der Idylle überhaupt –

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gerade in der poetischen Herstellung des Einfachen, in der von Herder so prononciert angesprochenen »Naivete« der Idylle. Die idyllische Darstellung von einfachen Hirten und Bauern in einer ruralen Umgebung, mithin des locus amoenus verfügt freilich immer über eine doppelte Kodierung. Heller sieht gerade in der Naivität ein Reflexionsverfahren am Werk: »Indem der Schäfer allgemeine und allgemeinmenschliche Gedanken, die sich vor allem an Konkreta orientieren und die Ebene der Abstraktion meiden, zum einfachen Ausdruck bringt, verschafft er dem Rezipienten einen doppelten Genuss. Der Leser erfreut sich am einfachen Gedanken und daran, diesen einfachen Gedanken selbst vollständig zu erfassen, und im Rahmen des ihm möglichen Reflexionsprozesses zu durchdringen.« (Heller 2018: 89)

Gerade diese doppelte Kodierung, die nicht nur für die Idylle, sondern für die gesamte ›Mediologie‹ des 18. Jahrhunderts gilt,5 versucht Herder zu verabschieden, wenn er die Darstellung der »einfältigen Natur« in der Idylle propagiert. Dieser Zug von Herder ist selbst freilich alles andere als naiv. Vielmehr emuliert Herder die allegorische Poetik der Idylle, wenn er die ›Einfachheit‹ seines eigenen Textes konstruiert. So ahmt etwa der elliptische ›Primitivismus‹ der Satzkonstruktionen (»[j]enes Naivete« [...] »jenes Unschuld« etc.) einen rastlosen (»Kurz!«) und darum ›einfältigen‹ Redefluss nach, der jedoch durch die starke Verfremdung der Schriftsprache das Lesen gerade dadurch hemmt und so sein eigenes Verfahren zugleich reflektiert und bloßstellt.

5

Zur doppelten Kodierung von Natur und Kultur im 18. Jahrhundert vgl. etwa: »Dabei erweist die Beziehung zwischen den Termen ›Natur‹ und ›Kultur‹, auf die jede kulturelle Selbstreflexion rekurriert, ihren zutiefst doppeldeutigen Status. So antizivilisatorisch viele zeitgenössische Äußerungen klingen, so wenig bleibt doch der mit Argwohn behandelte Kulturprozess auf die Attribute des Ungenügens und des Mangels beschränkt. Er produziert seine eigene Antithese und legt damit das Fundament für ein Denken in kulturkritischen Kategorien, indem er, und zwar merkwürdigerweise mit den gleichen ›naturwidrigen‹ Mitteln, denen die Kritik gilt, einer zweiten Natur zum Leben verhilft. Diese zweite Natur ist weder eine Verlängerung der ersten noch eine einfach supplementäre Anfügung an sie; sie setzt sich an deren Stelle.« (Koschorke 1999: 431, Hervorhebung im Original)

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Trotz einiger poetologischen Anlehnungen von THEOKRIT UND GESSNER an die Gattungstradition der Idylle beginnt mit Herder die Tendenz, die Idylle lediglich auf ihren ›einfältigen Inhalt‹ zu reduzieren und ihre metapoetischen Reflexionen auszublenden. Diese Tendenz wird umso stärker, als, im Zuge der Auflösungen der Genregrenzen am Ende des 18. Jahrhunderts, die Idylle als Gattung durch das Idyllische als Ideologem substituiert wird (vgl. Schiller 1962 [1795]: 466ff.). Diese Transformation der Idylle hatte weitreichende Implikationen insbesondere für die Poetik der Romantik, nicht aber für die Poetik des langen 18. Jahrhunderts, mithin den Klassizismus in Polen. Eine vergleichende Analyse von Naruszewiczs FOLWARK und Gessners DER WUNSCH unter der Annahme einer ungebrochenen Dominanz der Allegorie als genrespezifisches Merkmal scheint im Folgenden daher angebracht.

ADAM NARUSZEWICZS FOLWARK UND SALOMON GESSNERS DER WUNSCH Salomon Gessners Idylle DER WUNSCH ist der letzte Text seiner 1756 erschienen IDYLLEN. 1762 wurde dieser Text im Rahmen der Gesamtübersetzung der IDYLLEN von Michel Huber ins Französische als LE SOUHAIT übertragen (vgl. Hubert 1762: 134-154). Hubers Übersetzung diente wiederum Naruszewicz als Grundlage für seine eigene Nachdichtung (vgl. Szyjkowski 1914: 13).6 Dabei verwandelte Naruszewicz die – rhythmisierte – Prosa des Originals und die – einfache – Prosa der französischen Übersetzung in einen dreizehnsilbigen Vers, was schon formal eine Anpassung an die Konvention der polnischen sielanka darstellt. Gessners Text handelt von dem Wunsch eines gebildeten Stadtmenschen, sich auf das Land zurückziehen zu können. Damit folgt Gessner der Horaz’schen Tradition des Beatus ille… Neben dem konventionellen laus ruris wird in DER WUNSCH, anders als in den übrigen Idyllen der Sammlung, nicht nur die Stadt zum Land bzw. zur arkadischen Landschaft in Kontrast gesetzt, sondern der Ich-Erzähler der Idylle greift tätig in die Natur ein, um sein tägliches Überleben zu sichern: »Enten, Hennen und Bienen, die Arbeit im Garten, die Anlage eines Weinbergs und eines Kornackers erfordern Kenntnisse

6

Der erste Übersetzer Gessners ins Polnische war Abraham Trotz, der im Jahre 1768 einige der Gessner’schen Idyllen herausgab (vgl. Platt 1967: 89).

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und Planung, erfordern wirtschaftliches Denken, das in allen anderen Idyllen fehlt.« (Burk 1981: 47) DER WUNSCH steht damit nicht nur in der Tradition der Landlebendichtung, sondern partizipiert an den aktuellen literarischen und philosophischen Diskursen seiner Zeit. Zunächst reiht sich DER WUNSCH in einen größeren Versuch ein, die Schweiz als Landschaft literarisch aufzuwerten: »Noch zum Ende des 17. Jahrhunderts waren die Alpen in den Erwartungen europäischer Reisender eine Region, die man nur schnell durchqueren musste, um nach Italien zu gelangen. Die Alpenbewohner galten zu diesem Zeitpunkt als roh und die zu überwindende Landschaft als gefährlich.« (Röben de Alencar Xavier 2006: 42) Gessners Zeichnungen und Texte hatten einigen Anteil daran, aus diesem locus terribilis einen locus amoenus zu machen, indem sie ihn als Kulturraum präsentierten.7 Dieser Umwertungsprozess war zwar in der Hauptsache ästhetischer Art, wurde aber von (semi-)faktualen Diskursen flankiert. Eine wichtige Rolle spielte etwa der Schweizer Landwirt Jakob Gujer, der einen vernachlässigten Gutshof in einen Musterlandwirtschaftsbetrieb verwandelte. Gujer wurde mit einem Buch des Zürcher Arztes Hans Caspar Hirzel DIE WIRTHSCHAFT EINES PHILOSOPHISCHEN BAUERS (1761) weit über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannt. Das weite Interesse an der Landwirtschaft (auch als moralisch erstrebenswerte Lebensform) spiegelt sich auch in den Ideen der Physiokraten wieder, die in der Schweiz eine hohe Popularität genossen, etwa in der Helvetischen Gesellschaft. Die Natur wurde von den Physiokraten bekanntlich als ursprüngliche, ja im Grunde einzige, Quelle der Wertschöpfung angesehen; die Rolle aller anderen Produktions- und Distributionsarten der Wirtschaft wie Handel oder Gewerbe für die Wertschöpfung wurde heruntergespielt. Damit wurden das Land bzw. das Dorf als Ort der Entstehung von gesellschaftlichem Reichtum gegenüber der Stadt aufgewertet. Zudem figurierte die Natur in der Aufklärung und dort vor allem bei Rousseau auch als Quelle der Moral und des Rechts und wurde so zum Ausgangspunkt für politische Forderungen: »An den Begriff der Natur knüpfte der sensus communis, d.h. der Verstand an, der zugleich ihr Effekt wie auch ihre Tugend war. Der sensus communis stellte sich gegen das alte Regime und forderte es

7

»Noch für Goethe war die Schweiz das Land der Naturfreiheit und Gessner hat unstrittig zu diesem Bild beigetragen.« (Burk 1981: 33)

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heraus: zunächst im Namen der Rechte von Herz und Vernunft und später im Namen der Bürgerrechte.« (Platt 1967: 82)8 Vor diesem Hintergrund wird DER WUNSCH auch zum literarischen Reflexionsmedium sozialer und ideologischer Diskurse. Für Gessner ist das Land oder, wenn man so will, das Dorf (und nicht die Stadt) der utopische Motor der Transformation des Menschen. Gessner strebt in dieser Idylle danach, eine Synthese von paradiesischem Ursprung und gesellschaftlichem Fortschritt aufzuzeigen: »Es handelt sich im Wunsch letztlich um eine Wiedererrichtung des Goldenen Zeitalters auf der Basis positiver Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft.« (Burk 1981: 48) Doch alle ideologischen und faktualen Diskurselemente sowie der utopisch-moralische Ernst sollten nicht vergessen machen, dass der Text als Ganzes noch in der Poetik der idyllischen Allegorik steht. Bereits der Titel thematisiert den metaliterarischen Charakter des Textes. Bezeichnend ist hier vor allem der erste Satz der Idylle: »Dürft’ ich vom Schicksal die Erfüllung meines einigen Wunsches hoffen.« (Gessner 1756: 120) Nicht nur ist der Wunsch konjunktivisch formuliert (auch eine expressive Illokution wäre denkbar: »[I]ch wünsche, dass...«), auch drückt ihn Gessner mit einem ausgedehnten semantischen Pleonasmus aus (»Erfüllung«, »Wunsches«, »hoffen«), womit die Erfüllbarkeit gewissermaßen schon gleich zu Anfang suspendiert wird. Vielmehr bildet der Konjunktiv gleichsam einen diegetischen Rahmen, der der intradiegetischen Schilderung der Wonnen des Landlebens einen fiktionalen Status explizit zuweist. Die Verhandlung der ›Möglichkeit von Fiktion‹ wird auch intradiegetisch aufgegriffen. So etwa als der Ich-Erzähler seinen Garten imaginiert: »Hinten am Hause sey mein geraumer Garten, wo einfältige Kunst, den angenehmen Phantasien der Natur mit gehorsamer Hülfe beysteht, nicht aufrührisch sie zum dienstbaren Stoff sich macht, in groteske Bilder sie zu schaffen.« (Gessner 1756: 122) Hier klingt die doppelte Kodierung der Natur bereits voll an. Denn nicht um die Darstellung der ursprünglichen Natur geht es dem 18. Jahrhundert, sondern um eine Natur, der die »einfältige Kunst«

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»Natura w tym ujęciu łączyła się z sens commun, tj. rozsądkiem, który był jej wynikiem, oraz cnotą. Sens commun stanowi także przeciwstawienie starych zasad, burzył je najpierw w imię praw rozumu i serca a później praw obywatelskich.«

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schon immer »beygestanden« hat und von der bereits Pope sagte, sie sei »Nature still, but Nature Methodiz’d« (Pope 1711: 8). Diese literarische Konvention läuft auch den Physiokraten zuwider: Nach ihrer Ideologie ist Natur etwas, was – im Gegensatz zur Kultur – sich selbst hervorbringt und nicht hervorgebracht werden muss. An der zitierten Stelle erhält die Kunst die Natur mit »gehorsamer Hülfe« gleichsam in ihrem Sein. Die ›ursprüngliche‹ Natur ist hier durch die ›schöne‹ Natur ersetzt, die eine menschliche Ordnung enthält, allerdings eine solche, die ihr Gemachtsein unter der Maske des Einfachen und Natürlichen verbirgt. Nicht nur die Natur, auch die Bauern werden zur ›Einfachheit‹ und ›Natürlichkeit‹ stilisiert. In einer pseudo-ethnographischen Szene werden die Schweizer Bauern bei Scherz und Spiel gezeigt: »Kunz erzehlt izt, wie er grosse Reisen gethan hat, bis weit in Schwaben hinaus, und wie er Häuser gesehen, noch grösser und schöner als die Kirch im Dorf, und wie einen Herren sechs schöne Rosse in einem gläsernen Wagen gezogen haben, schöner als das beste das der Müller im Thal hat, und wie die Bauern da mit grünen Spizen-Hüten gehn. So erzehlt’ er vieles, indeß daß der junge Knecht, aufmerksam den offenen Mund auf die unterstüzende Hand gelehnet, bald vergessen hätte, daß sein Mädchen an seiner Seite sizt, hätte sie ihn nicht lachend in die Wange gekneipt. Dann erzehlt Hans, wie seinen Nachbar ein Irrwisch verfolgt hat, und wie er ihm auf den Korb gesessen, er hätt’ ihn bis unter die Dachrinne verfolgt, wenn er nicht eins geschworen hätte. Aber izt gehen sie aus der Hütte, um beym Mondschein zu tanzen, bis die Mitternacht sie zur Ruhe ruft.« (Gessner 1756: 128)

Der typische Ventriloquismus,9 d.h. die Eigenart der Idylle, die durch die Maske der Schäfer und Bauern den Dichter selbst und die höheren Gesellschaftsschichten sprechen lässt, macht auch an dieser Stelle eine allegorische Fallhöhe auf: Gessner spielt hier, anders als bei der Darstellung des Ich-Erzählers, der aus demselben sozialen Milieu wie der implizite Leser

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William Empson hat nicht nur auf einen Ventriloquismus im postkolonialen Diskurs, sondern auch auf eine strukturelle Verwandtschaft der Idylle mit der ›proletarischen Kunst‹ hingewiesen: »Proletarische Literatur hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der pastoralen Dichtung« (Empson 1976: 464) und zwar insoweit, dass sie in der Regel über das Proletariat spricht, aber weder vom Proletariat noch für das Proletariat geschrieben ist (vgl. Empson 1976: 465).

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stammt, mit der Distanz zwischen dem – gebildeten – Leser und dem naiven Standpunkt der Bauern. Die Bauern selbst bleiben freilich Staffage und das vermeintliche Lokalkolorit besteht in einer doppelten Kodierung: Hinter der Maske des ›Hinz und Kunz‹ stecken sozusagen ›Daphnis und Phyllis‹ – die typisierten Personen der Idylle und nicht die realen Bauern. Im Wesentlichen steht also dem thematischen ›Fortschritt‹ bei Gessner wie der Verhandlung der bürgerlichen Tugenden, dem Physiokratismus sowie der ›realistischen‹ Bauern das Gattungssystem der Idylle gegenüber, welches noch weitgehend intakt ist und den Inhalt der Allegorik unterwirft. Die Dominanz der Allegorik gilt in noch größerem Maße für Naruszewicz. Wie bereits erwähnt verlagert er den ›bürgerlichen‹ Traum eines Stadtbewohners in die Sehnsucht eines szlachcic (Landadligen) nach einem eigenen folwark. Naruszewicz bereitet den polnischen Leser also nicht auf den ›bürgerlichen‹ Inhalt vor, sondern passt den ›progressiven‹ Inhalt an bestehende Traditionen an. Der metapoetische Rahmen wird dabei beibehalten und dadurch verstärkt, dass der Konjunktiv nicht nur am Anfang auftaucht, wie bei Gessner, sondern durch die Wiederholung der Partikel ›-by‹ den gesamten Text strukturiert. Auch wo sich Gessner an – vorgeblichen – Realia orientiert, greift Naruszewicz zu konventionellen Topoi. So etwa an einer Stelle, als Gessner die eitle Geschwätzigkeit der Stadtbewohner kritisiert (und vielleicht die große Politik selbst): »Aber fern sey meine Hütte von dem Landhaus, das Dorantes bewohnt, ununterbrochen in Gesellschaft zu seyn. Bey ihm lernt man, daß Frankreich gewiß nicht kriegen wird, und was Mops thäte, wenn er König der Britten wäre, und bey wohlbedekter Tafel werden die Wissenschaften beurtheilt, und die Fehler unsers Staats, indeß daß majestätischer Anstand vor der leeren Stirne schwebt.« (Gessner 1756: 123)10

10 Die französische Übersetzung hält sich weitestgehend an den Tonfall des Originals: »Mais que ma cabane soit placée loin de la maison de campagne, où se retire Dorante pour n’être point interrompu dans ses graves conversations: c’est chez lui qu’on apprend que la France ne songe point à faire la guerre; on y peut entendre tout ce que Mopse feroit s’il étoit Roi de la Grande-Bretagne; & tandis qu’autour d’une table bien servie, on prononce sur toutes les sciences & sur les défauts de notre Gouvernement, la majestueuse importance est empreinte sur le front vuide des conviés.« (Huber 1762: 138)

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Naruszewicz orientalisiert diese Stelle, indem er ihr jeglichen realpolitischen Bezug nimmt und sie gemäß der Orientmode des 18. Jahrhunderts ausschmückt: »Ty, proszę, nie postań nigdy w mojéj chacie Z kobuzim nosem, głodny, panie literacie! Będziesz mi dzikie rzeczy z kwaśną miną gadał, Będziesz nowe projekty ustawnie układał: Jak srogą wielki Moguł weźmie w ten czas cięgę, Gdy nań wywrze Syamski król całą potęgę; O jakąby przyprawił Chińczyków utratę, Gdyby w swym kraju posiał Perski szach herbatę [...].« (Naruszewicz 1778: 495) »Du, sei mir nicht willkommen in meinem Haus / Falkennasiger, hungriger Herr Literat! / Du wirst mir wildes Zeug erzählen mit sauerer Mine / Und neue Projekte ausführlich darlegen: / Welchen harten Schaden der Großmogul erleiden würde, / Wenn der König von Siam gegen ihn mit aller Macht vorginge; / Und welcher Verlust den Chinesen beigebracht wäre, / Wenn der persische Schah Tee anbauen würde [...].« (Übersetzung des Autors)

Solche Zuflucht vor zeitgenössischen Bezügen in literarische Konventionen nimmt Naruszewicz, wo immer sie sich ihm bieten. Auch poetologisch bleibt Naruszewicz konventionell: Während Gessner in DER WUNSCH zeitgenössische Dichter wie Klopstock, Bodmer, Breitinger oder Wieland11 als Muster literarischer Geschmacksbildung anführt (Gessner 1756: XXX) werden in FOLWARK an einer ähnlichen Stelle nur die Klassiker Theokrit, Vergil und Horaz erwähnt (vgl. Naruszewicz 1778: 496f.). Naruszewiczs poetischer und politischer Konservatismus wird bei der Naturbeschreibung besonders deutlich. Zwar kritisiert er ebenso wie Gessner die Gesellschaft der Stadt wie des Adels, doch gibt es in FOLWARK einen mehr oder weniger subtilen Subtext, der eine monarchische Ordnung favorisiert:

11 In der französischen Übersetzung versieht Huber die betreffenden Namen mit erklärenden Fußnoten (vgl. Huber 1762: 146ff.).

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»Tymczasem czujny kogut z czerwonym szyszakiem Chodząc pomiędzy kwoczek czubatym orszakiem, Godzinyby opiewał i powietrzne zmiany, Lepiéj niźli kalendarz gdzieś tam drukowany.« (Ebd.: 493) »Derweil würde mir der wachsame Hahn mit der roten Sturmhaube, / Der unter dem reichen Hennengefolge stolziert, / Die Zeit und den Wetterwechsel weit besser ansagen / Als ein Kalender, der sonst wo gedruckt wurde.« (Übersetzung des Autors)

Hier wird nicht nur die ursprüngliche Zeit der Natur gegen die gehetzte Zeit der Kultur ausgespielt, sondern auch das Prinzip einer hierarchischen gesellschaftlichen Ordnung naturalisiert. Diese Tendenz kommt – scheinbar – viel deutlicher im folgenden Passus zutage: »W kąciku méj ubogiéj spokojne zagrody Będą pszczółki do ulów smaczne znosić miody. O jak to miło patrzéć na rzeczpospolitą, Tak zgodną w cząstkach swoich i tak pracowitą! Tu wszyscy spólnie robią: wierna strzeże rada, Jeśli który daremnie trąd miodu nie zjada; Jeden rządzi wszystkiemi, a dobrocią rzadką I królem jest swych dziatek i kochaną matką.« (Ebd.: 493) »Im Winkel meines einfachen Gehöfts werden ruhig/ Die Bienen schmackhaften Honig zu den Stöcken tragen. / O wie schön ist es, auf dieses Volk [rzeczpospolitą] zu schauen, / Das so einträchtig und so arbeitsam ist! / Es macht alles gemeinsam: Treu wacht der Rat / Darüber, dass kein Drohn den Honig umsonst isst; / Einer herrscht über alle, und ist durch seltene Güte / Sowohl der König seiner Kinder, als auch geliebte Mutter.« (Übersetzung des Autors)

Doch bereits hier greift die Allegorik der Idylle ein, die es nicht erlaubt, in diesem Abschnitt eine buchstäbliche politische Aussage zu sehen. Zwar scheint die Darstellung einer einträchtigen rzeczpospolita ([Adels-]Republik) mit einem Monarchen an der Spitze in der Ordnung eines Bienenvolks naturalisiert zu werden, doch es gibt zwei intertextuelle Verweise, die ihr entgegenlaufen. Zunächst sind Bienen, seit Platons ION, eine feste Trope für den Dichter – die Bienenmetapher verliert also dadurch ihre naturalisierende

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Stoßrichtung. Zweitens könnte mit den Bienen auch Mandevilles FABLE OF THE BEES evoziert sein, die ein monarchisches Prinzip im Staat sowie die Tugend der Untertanen obsolet macht. Aber auch ohne Hilfe fremder Texte, arbeitet die zitierte Stelle von sich aus gegen den Effekt einer vollständigen Naturalisierung, da ihr letztes Bild eine semantische – gleichsam ›widernatürliche‹ – Inkongruenz zwischen »König« und »Mutter« ist. Das allegorische Spiel mit dem Natürlichen bzw. Einfachen und seiner Herstellung durchzieht den ganzen Text und wirkt zuweilen recht subtil. So etwa in den folgenden Versen: »Tobie-m winien, mój Dafni, jeśli pod te czasy Brzmią głosem pieśni moich nadwiślane lasy I mają jakążkolwiek sławę; twoim smakiem Pobudzony, zostałem Febowym surmakiem.« (Ebd.: 496) »Dir bin ich schuldig, mein Daphnis [mój Dafni], wenn zuweilen / Die Wälder an der Weichsel mit meiner Lieder [pieśni moich] Stimme tönen / Und irgendeinen Ruhm haben; durch deinen Geschmack / Erweckt, bin ich zum Surma-Spieler des Phöbus [Febowym surmakiem] geworden.« (Übersetzung des Autors)

Unter »Daphnis« figuriert hier höchstwahrscheinlich der Fürst Adam Czartoryski selbst, dem die Idylle ursprünglich auch gewidmet war. Seit der ersten Vergilschen Ekloge, in der Augustus vom Dichter unter der Maske des Schäfers Tityrus verherrlicht wird, ist die Panegyrik ein Bestandteil der Idylle. In der zitierten Stelle wird die Beziehung zwischen dem Dichter und seinem Gönner in eine intrikate Konstellation gebracht. Offenbar wird der Dichter durch Daphnis’ Geschmack zum Surma-Spieler des Phöbus. Hierin liegt eine implizite Analogie zwischen dem Menschen Daphnis und dem Gott Phöbus Apollon, die sicher auch eine Art politische Synthese bzw. Apotheose impliziert (roi soleil). Die Periode endet also mit einer maximalen Opposition von Gott vs. Mensch, Genius vs. Werkzeug, Erde vs. Sonne. Im Gegensatz zu dieser Opposition, deren Machtzentrum auf Daphnis liegt, steht der Anfang des Satzes. Die Opposition »tobie« (»dir«) vs. »mój« (»mein«) scheint die Machtverhältnisse umzukehren, zumal der Name Daphnis nach dem Possessivpronomen(!) quasi kupiert erscheint; »mój Dafni« (»mein Daphnis«) und als pseudo-weibliche Form die Sage von Apoll und Daphne

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evoziert. Daphnis wird in dieser Leseweise vom Agens zum Patiens verwandelt. »[M]ój Dafni« wird zusätzlich zu den Kommata durch zwei Zäsuren aus der Zeile hervorgehoben. Das »pieśni moich« (»meiner Lieder«) aus der nächsten Zeile bildet durch die gleiche metrische Stellung in der Zeile (auch wenn die erste Zäsur fehlt) dazu einen Chiasmus, der »Dafni« und »pieśni« äquivalent setzt. Damit wird nicht nur der Dichter zum ›Erzeugnis‹ des »Geschmacks« von Daphnis, sondern auch Daphnis zu einem Geschöpf des Dichters. Mit einem ähnlichen Schlüssel lässt sich auch die Wendung »Febowym surmakiem« (»Surma-Spieler des Phöbus«) lesen, in der die Äquivokation eines genitivus subjectivus bzw. objektivus steckt: Einmal ist der Dichter Sprachrohr Gottes, ein anderes Mal besingt der Dichter den Gott – unabhängig ob er fiktiv oder real ist. Auf diese Weise transformiert sich konventionelle Panegyrik in metareflexive Allegorese, die gleichsam die Fiktionalitätsbedingungen der Panegyrik literarisch verhandelt. Sowohl bei Gessner als auch bei Naruszewicz erweist sich die Allegorik der Idylle als hochgradig virulent, sodass die Gegenüberstellung von Sentimentalismus und Klassizismus vom Gattungsstandpunkt aus nicht statthaft ist. Das ›Einfache‹ und ›Natürliche‹ ist in beiden literarischen Systemen eine hochkonventionelle Chiffre gewisser allegorischer Verfahren. Die poetologische Verhandlung und Herstellung dieses Einfachen regelt die Idylle innerhalb ihrer Genregrenzen selbst. Poetologisch gesehen kann man also weder Gessners ›Bürgerlichkeit‹ noch Naruszewiczs ›Hofpoesie‹ auf Seiten des ›Inhalts‹ positiv bzw. negativ verbuchen: Vielmehr scheint hier, im Einklang mit der (spät)klassizistischen Poetik, der Stoff durch die metapoetische bzw. allegorische Form vollständig ›vertilgt‹ zu sein.

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Patois, Emotional Ties, and the Peasant Question Staging the Rustic in 1760s Russia1 Alexei Evstratov

The villages and towns, decorated on the Prince Grigorii Potemkin’s orders for Catherine II’s journey through the Crimean Peninsula in 1787, epitomise a mode of publicity characteristic of the absolutist court culture. In Richard Wortman’s seminal study of the representations of power in Russian monarchy, this trip is described as a »spectacular confirmation of the motifs of conquest and transformation«: »This was a voyage not of exploration but of display, made up of a squadron of seven galleys, each provided with an orchestra, eighty ships resembling Roman galleons, and three thousand troops. Catherine and her entourage beheld the spectacle of happiness along the banks staged by Potemkin, the governor-general of Azov and New Russia, of the Crimea and Ekaterinoslav, ›the Viceroy of the South‹. Groups of peasants, Cossacks, and townspeople greeted her in villages decorated with wreaths and flowers and triumphal arches. […] In Ekaterinoslav, Archbishop Ambrosii’s oration translated myths into fact. Catherine’s rule had ›turned infertile deserts into inhabited villages and cities, defending this country from foes, and securing the well-being of the subjects.‹« (Wortman 1995: 141)

1

I am grateful to Roger Bartlett, who shared with me his unpublished study on Pastor Eisen and Catherine the Great, and to colleagues who commented on this paper at various stages of my work. All translations are mine unless indicated otherwise.

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Participants of this phantasmagorical journey and other contemporaries of Potemkin drew attention to the gap between these conspicuous celebrations and the socio-economic reality of the land. As Aleksandr Panchenko has suggested, this criticism could be politically oriented (Panchenko 1983). Catherine II herself thematised the rumours about the devastation of the territories on the Southern borders of the country in one of her unfinished comedies tentatively dated 1787. A ridiculed character in the play gives a list of the caricatural hostile reports: »Корабли на море лишь двое малые, и те гнилые. […] Денег нет, травы сожжены, воды засохли, лес не растет, люди укрываются в землянках, понеже строения не начаты« (»There are only two small ships in the sea, and those are rotten. […] There is no money, the grass has been burned, the waters have dried up, the woods are not growing, people find shelter in dugouts, because construction has not been started]«) (quoted in Pogosian 1997: 522). Elena Pogosian, who comments on these lines from Catherine’s play, sees in the Crimean journey a perfect contradiction of these rumours. While Pogosian’s reconstruction of the Empress’s intention seems accurate, the contemporaries of the latter were not easy to convince. Indeed, what some historians described as the »longest, most congenial, most productive, and most celebrated voyage« proved to raise controversy among foreign diplomats and Russian courtiers (Griffiths 2008). Even if, as Panchenko points out, Potemkin did not try to hide the staged nature of the public celebrations organised for the imperial visit, it was their value as representation that was at stake. In other words, the controversy was less about what this land was, and more about the extent to which the way of representing the newly acquired territory in public realm was adequate in regards to the Russian imperial transformative presence. In this respect, the ›Potemkin villages‹ were emblematic of the anti-Russian criticism that had emerged many decades earlier: the young empire appeared in these writings as a façade, the theatrical imitation of a Europeanized society in a natural and political environment that was clearly unsuitable for the coming about of such society (see Bérélowitch 2001). To an extent, these critical utterances could be provoked by the mode of representation selected by Potemkin on the occasion of the Crimean tour – the enthusiastic farmers, who welcomed their monarch in the recently conquered land of the nomads, could be perceived as outdated form of encomiastic idiom.

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From the mid-18th century onwards, the decorative images of land-workers cultivated in the court pastoral have been submitted to a series of reevaluations in fictional texts and economic treatises (Wyngaard 2004). These new representations contrasted with the genre paintings of the Northern school and comically condescending literary depictions insofar as they integrated sympathy into the revised version of the rapport between the reader (spectator) and the peasant characters. In this study, I will focus on a new critical agency that the peasant character was granted in the dramatic texts presented to the audience of the court theatre in St Petersburg in the mid1760s, more than twenty years before the proverbial villages were erected. During the beginning of the reign of Catherine II (r. 1762-1796), long before Aleksandr Radishchev’s radical PUTESHESTVIE IZ PETERBURGA V MOSKVU (JOURNEY FROM PETERSBURG TO MOSCOW, 1790), the oppressed and suffering serf emerged as a character on the stage of the court theatre. The rustic, whose role in the representations sponsored by the imperial authorities had been restrained to a more or less silent – if joyful – justification of the existing order, suddenly voiced complaints and deployed his own system of values. In what follows, I will interpret these first attempts to give the peasant character a distinctive voice, reconstructing the political meanings of the studied plays in the economic and moral debate of the 1760s.

PEASANT AS THEATRICAL EVENT On November 10, 1764, the Russian theatre company of Her Imperial Majesty performed in the Opera House in the Winter Palace, the main theatrical stage of St Petersburg. The show included a comedy, »in Mr. Visen’s translation«, a ballet performed by the students of the dance school, and a translation of Molière’s SGANARELLE, OU LE COCU IMAGINAIRE (SGANARELLE, OR THE IMAGINARY CUCKOLD, 1660; see Zhurnaly 1764: 217, Poroshin 2004: 87). Both the Empress Catherine II and her son, the ten-year-old Great Duke Paul, attended the show. According to a witness, the latter enjoyed the spectacle: »За ужином разговаривали мы о комедии. Его высочеству сегодняшнее зрелище понравилось; особливо понравился крестьянин, что в большой пьесе« (»At dinner we talked about the comedy [i.e. the entire performance]. His Highness liked today’s show; and in particular the Peasant in the big play«) (Poroshin 2004: 87). The »big play« (»bol’shaia

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p’esa«), the one that started the show, was Jean-Baptiste-Louis Gresset’s comedy SIDNEY, first performed in the Parisian Comédie-Française in 1745 and published the same year.2 The Russian adaptation of the play, performed under the same title but featuring as KORION in its posthumous publication, was the theatrical debut of Denis Fon Vizin (1745-92).3 Fon Vizin is the only eighteenth-century Russian playwright who made it into the school version of the literary canon – though not as the author of SIDNEI.4 In both the original comedy and its Russian adaptation, the characters who provoked the prince’s comment are perfectly peripheral to the plot, that of a sentimental moralising comedy. In SIDNEI, the Peasant appears on stage only twice. His interlocutor, a domestic servant named Andrei, helps to articulate the impression that the first encounter with the character should make on the spectators of the play. Andrei initially perceives the Peasant as an exotic »wonder« (»chudo«): »Да что за чудо мне в глаза теперь попало? / Какое странное и глупое лицо« (»What kind of wonder has just caught my eye? / What a peculiar and silly face«) (I, i) (Fonvizin 1959: 6). This internal

2

One of the first editions indicates The Hague as the place of publication on the title page – a regular feature of unlicensed drama publications in the 18th century. This edition entered the library of the theatrical company of the Russian court, arguably shortly after publication (Otdel redkikh knig i rukopisej. SanktPeterburgskaia teatral’naia biblioteka. XVI.5.50). While no performance of Gresset’s play in French has been documented, it is highly likely that it appeared on the court stage by 1764. The play is mentioned in a list titled RÉPERTOIRE GÉNÉRAL (General repertoire), put together after 1776 and arguably reflecting the

state of the French company’s drama book and manuscripts possessions (Rossiiskii gosudarstvennyi istoricheskii arhiv (St Petersburg), f. 468, opis’ 36, delo 38, p. 268). 3

The drama was first published in 1835 in a popular literary magazine BIBLIOTEKA DLIA CHTENIIA

4

(The Library for Reading, 1835, t. XIII, p. 121-160).

I henceforth use this transliteration of the Russian title, to distinguish from the French version of SIDNEY. On Fon Vizin and his first performed play, see Pigariov 1954, Makogonenko 1961, Strycek 1976. In the eighteenth century, the name of the author was spelled in Russian as »Fon(-)Vizin« or »Vizin« (from original von Wiesen). I have chosen to follow the transliteration »Fon Vizin«, despite the late nineteenth century canonisation of »Fonvizin«.

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remark hints at a conspicuous transformation of the actor’s features – possibly some make-up, such as a fake beard. In Gresset’s original play, set in England, the gardener Henri is asked to carry a letter from the countryside to London and he willingly accepts it: »Deux, Monsieur, s’il le faut…« (»[I would carry] two [letters], Sir, if you needed…«) (I, viii) (Gresset 1745: 13). In Fon Vizin’s adaptation, the action is set in the protagonist’s property in the Moscow region and the gardener Henri is replaced by the nameless serf, a »Peasant«. Unlike Henri the gardener, the Peasant of the Russian adaptation is very reluctant to fulfil the request to carry a letter from the estate to Moscow: he affirms that it is not his turn to go to the city. Then comes a more general complaint about the injustice experienced by peasants and the statement that the entire community has been brought to ruin by the abuses of the local authorities: »Платя-ста барину оброк в указны сроки, Бывают-ста еще другие с нас оброки, От коих уже мы погибли-сто вконец. Нередко ездит к нам из города гонец, И в город старосту с собою он таскает, Которого-сто мир, сложившись, выкупает. Слух есть, что сделан вновь в приказе приговор, Чтоб цасце был такой во всем уезде сбор. Не мало и того сбирается в народе, Цем кланяемся мы поцасту воеводе, К тому жа сборщики драгуны ездят к нам И без посцады бьют кнутами по спинам, Коль денег-ста когда даем мы им немного.« (Fonvizin 1959: 14f.) »While we are paying obrok by the deadline, There are other obroks we have to pay, [The ones] that have totally ruined us. It is not rare that a messenger from town comes here And drags the village head back with him, And the whole community has to pool money to buy him [the village head] back. There is a rumour that a decision has been made in the prikaz To make these collections more frequent in the entire county. There is another important pick-up among us

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That we often offer to the voivode; In addition, dragoon collectors come over here And use their whips on our backs pitilessly, Should we ever give them only so much money.«

The Peasant’s criticism is directed against the local judicial administration (prikaz) and the local executive power, military governor (voivode) and dragoons (separately), who abuse their authority. He explains that, although the quit-rent (obrok) is paid to the landlord in time, there are »other tributes« to be paid – meaning bribes – and offers a picture of corrupted officials using hostage-taking and physical violence to gather money illegally. Thirteen lines recited by the Peasant suffice to transform Andrei’s initial bewilderment into sympathetic acknowledgment of the distress of a social group. The servant expresses some sympathy for the hardships of the peasant’s life: »Какую бедную крестьяне жизнь ведут, / Коль грабят их и те, которым предан суд!..« (»What a miserable life the peasants lead, / If those who are trusted to perform justice rob them!..«) (I, vii) (ibid.: 15). Why the Great Duke Paul enjoyed the peasant character so much is a question open to speculation: no evidence about the cast, acting or any other aspects of performance, is available. The prince’s appreciation transmitted by a member of his attendance is also the only known record of the contemporary reception – with the exception of a satirical poem by Iakov Kniazhnin which merely confirms that Fon Vizin’s translation has been noticed. Only one further performance of the play in the 18th century has been documented: in August 1769, SIDNEI was staged in Moscow (see El’nitskaia 1977: 449). As a result, in our study, the Peasant, a dramatic character and an actor involved in the staged performance, is bound to be but a discursive construction: the character is shaped by what he says and by what is said about him by other characters. How the Peasant articulate his complaint is by no means less important than what he says. In his adaptation of the French play, Fon Vizin introduces features of a ›peasant language‹ – particles »-sta« and »-sto« and phonetic distortions of the norm (he pronounces [tch] as [ts]). The Peasant’s language has been considered in the literary history as a form of patois – the term that today can be used to refer both to local dialects (cf. govor) and to socialects. Joyce Hertzler’s dated definition will be a useful starting point, revealing political tensions behind the phenomenon:

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»A patois is a distinctly illiterate speech belonging to the lower classes. Those who speak the patois understand the cultural form of the general language, but speak only its special form. The kind of English spoken by former Negro slaves in the United States, or the present ›French‹ spoken by the Negro peasantry of Haiti, are instances of this.« (Hertzler 1965: 307)

The serf, i.e. slave, character from SIDNEI has frequently attracted the attention of drama specialists, historians of language, and even social historians. Indeed, both the form and content of the character’s diatribe were unprecedented, which is hardly surprising given the quantitative rarity of comic drama in Russia in the mid-1760s on the one hand, and the fact that the play was premiered on the court stage on the other hand. Also, the Peasant was the first in a series of characters speaking in the peculiar idiom. Three lines of interpretations have been explored in scholarship so far. The first of them suggests that Russian playwrights, inspired by the ideas of the European Enlightenment, sought to give voice to the most numerous and most oppressed social group. The language of dramatic peasantry is, according to this reading, more or less ethnographically relevant (see Vsevolodskii-Gerngross 1960: 66). An authoritative Soviet scholar of Russian comedy, for instance, argues that while »peasant language« was a common feature in French comedy, applying this device to Russian dramatic production was meant to make an important step towards »nature« (»natura«), that is to the depiction of social reality (Berkov 1947: 23). This reality being one of serfdom, many Soviet scholars regarded Fon Vizin’s mimetic endeavour as giving voice to what one would today call ›subaltern‹. Writing in a later article about the general trend in the drama of the 1760s-1770s, Pavel Berkov is more critical about the accuracy of these theatrical reconstructions: »It seemed that the authors, who tried to render the language of the peasants, did not have an accurate idea of the singularities of a specific dialect, and ›created‹ fictional ›peasant‹ language, mechanically putting together everything they knew about the differences between the language of the village and the literary or, at any rate, the urban norm.«5

5

»Создавалось впечатление, что авторы, пытавшиеся передать язык крестьян, не имели точных представлений об особенностях какого-либо определенного говора, но ›создавали‹ условный ›крестьянский‹ язык,

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In a similar vein, the second approach casts doubt on the relevance of the manner of speaking for the history of language, and interprets it as a distinctive stylistic phenomenon, i.e. a ludic deviation from the linguistic norm. Boris Uspenskii, in his study of linguistic views in eighteenth-century Russia, links the fascination with anomalies to the process of normalization of the Russian language and intense reflection on this process among the educated elites (Uspenskii 1985: 6). According to this theory, the peasant’s manner of speaking structurally belongs to the same category as the macaronic language, flourishing in the 1760s in Russia, typically in the form of a comic mixture of French and Russian words. This latter stylistic device is featured, for instance, in the comic plays written by Aleksandr Sumarokov in the 1750s. However, the discourse of gallomaniac characters who mix bad Russian with bad French is an object of comic disqualification in Sumarokov’s dramas: nobody would expect them to produce a remotely relevant utterance. More specifically, the typical complaint voiced by these gallomaniac characters is that Russia is not France (see Offord 2015). The Peasant in SIDNEI, on the other hand, succinctly addresses the issues of local administration and moral order. He pinpoints a major problem of local administration, corruption of officials, and the social injustice that it entails. In other words, linguistic deviations may be structurally comparable phenomena, but their pragmatic function in the dramatic texts cannot be reduced to comic entertainment only. How should we interpret what reaches beyond this essential function of the court performance? From the vantage point of social history, the third major interpretative frame, Elise Kimerling Wirtschafter draws on a corpus of Russian drama in order to seize the social psychology of the Russian nobility. Representatives of this social group generally both authored plays and composed the majority of the court theatre audience. The serf character, in Wirtschafter’s reading, is an important component of the paternalistic universe as promoted by Russian theatre, whose main mission was the reconciliation of conflicting ideas of and about society: »The reconciliation of social differences and the justification of social hierarchies – these were fundamental attributes of the good society envisioned by Russian Enlightenment theater« (Wirtschafter 2003:

механически соединяя все, что им было известно об отличиях языка деревни от литературной или, по крайней мере, от городской нормы.« (Berkov 1949: 43)

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53). In SIDNEI, the social order underlying relations between individual characters and between social groups is disturbed by the Peasant’s disruptive monologue. Marginal in terms of plot, this critical utterance remains without response, and the tension so manifested – unresolved. Thus, although all three directions of analysis appear important and productive, the most immediate synchronic context of the first appearance of the talking serf in Russian drama, which evokes oppressed and suffering landworkers, has not been reconstructed. This despite its intriguing aspects. It is worth emphasising that, unlike Radishchev’s novel, printed with a private press, Fon Vizin’s Peasant emerged on the stage of the Imperial court theatre to criticise elements of the order whose guarantor, the Empress Catherine II, was present in the audience. Rural life, against all expectations, is depicted in the comedy as not being free from the complexity and corruption of urban civilisation. To look at what made this monologue possible is the objective of this study. As we shall see, such reconstruction requires a closer examination of two elements of the theatrical event: first, internal to the text – the stylistic feature used in Fon Vizin’s adaptation, the patois; and, second, external to the text – the »peasant question« as it emerged in the beginning of Catherine II’s reign.

PATOIS AND PATERNALISM Representations of ›popular‹ speech similar to Fon Vizin’s treatment of the rustic soon appeared in other comic plays in Russian – such as Aleksandr Sumarokov’s OPEKUN (The Tutor) or Vladimir Lukin’s SHCHEPETIL’NIK (The Jeweler), both published in 1765 (see Vinogradov 1982: 141f.). They all came after the success of SIDNEI in November 1764. The ›stage rustic‹, adapted to the Russian stage by Fon Vizin with such success, first appears in the French drama. In Gresset’s SIDNEY, Henri the gardener comments on the plot when discusses the suicidal tendencies of the local nobles, speaks with ungrammatical elements and phonetic deviations: »Je ne sçai si chez vous c’est la même rubrique Comme en ce pays-cy; mais je voïons des gens Qu’on ne soupçonnoit pas d’être foux en dedans, Qui sans aucun sujet, sans nulle maladie,

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Plantiont là brusquement tout la compagnie… […] Tenez, défunt son pere, honneur soit à son ame, C’étoit un home d’or, humain comme une femme, Semblable à son efant comme deux gouttes d’iau, Si bien donc qu’il s’en vint dans ce même châtiau…« (1, VIII) (Gresset 1745: 14; emphasis is mine – A.E.)

Cf. with the American translation published in 1801, where these deviations have no equivalent: »I don’t know whether you have got the same customs in France that we have got here: but I have seen folks that nobody would take to be out of their head, who, without any cause; without any malady, have left the company at a broad-side… […] His deceas’d father, Lord have mercy upon us, was a man of gold, as mild as a lady, and as like his own child here as two eggs: well he came down to this castle of ours.« (Gresset 1801: 166)

There are two features of the dramatic peasant language in the cited fragment: incorrect conjugation (the verbs appear in plural, whereas the pronouns are singular) and peculiar pronunciation ([io] instead of [o]). Gresset was by no means the inventor of this literary device. These features had been widespread in French drama since the mid-17th century – Pierrot in Molière’s DON JUAN OU LE FESTIN DE PIERRE (DON JUAN OR THE FEAST WITH THE STATUE, 1682) is probably the most famous example of the ›stage rustic‹. It is understood that the idiom of this and other characters reflects, at least to some extent, local dialects, patois, but does so in the form of dramatic sociolects. At the same time, this speech has a literary genealogy. Molière was well acquainted with Cyrano de Bergerac’s comedy LE PEDANT JOUÉ (THE FOOLED SNOB, published in 1654), which eighteenth-century histories of theatre considered to be the first drama featuring a Peasant character, appearing in the form of the character Gareau, who speaks »his village’s jargon« (»le jargon de son village«). The Parfait brothers, who authored the quoted history of theatre, also call Gareau the most comic and the most original character of the play (Parfaict 1746: 26f.).6

6

On Molière’s borrowings from Bergerac’s comedy, see http://moliere.parissorbonne.fr/base.php?Le_Pédant_joué. Fon Vizin, whose theatrical erudition was

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In a broader literary context, the genealogy of the comic patois leads back to the pamphlets from the corpus of the Mazarinades, circulated during the civil war known as the Fronde (1648-53) (see Deloffre 1957). Indeed, one of the interlocutors in the first dialogue of the pamphlet titled AGRÉABLES CONFÉRENCES DE DEUX PAYSANS DE SAINT-OUEN ET DE MONTMORENCY SUR LES AFFAIRES DU TEMPS (PLEASANT CONVERSATIONS BETWEEN TWO PEASANTS FROM SAINT-OUEN AND FROM MONTMORENCY ABOUT CURRENT AFFAIRES, 1649) is called Piarot. And a few expressions from this Mazarinade have been identified in Molière’s DON JUAN.7 It is significant for our analysis that, in the French history of the literary device, the latter first emerged in a pamphlet, that is, in a polemical text addressing current political circumstances, and that it was introduced as an efficient rhetorical tool. In the domain of dramatic literature, the patois integrated the post-Molière theatre: Dancourt, amongst others, used rustic local colour extensively in his popular comedies (see Blanc 1984: 217-221, 320f.). His plays were regularly performed in Russia in French language (see Evstratov 2016). There was, however, a more immediate precedent for the peasant character appearance, chronologically close to the first performance of SIDNEI: another character spoke a thick patois on the stage of the Russian court theatre in 1764, some ten months before the performance of Fon Vizin’s adaptation of the French comedy. The comedy LE TESTAMENT (THE WILL, 1764), by Jean-Antoine Lange, is chronologically the first in the corpus of drama in French written for the St Petersburg theatre (see Evstratov 2016: 142-151). The play received all possible kinds of support from authorities: not only was it staged in the court theatre, but its first performance, on 9 January 1764 at the Opera House in the Winter Palace, was attended by the empress (see Lange 1764, Zhurnaly 1764: 10). Moreover, 150 copies of Lange’s comedy were published – probably prior to the performance – by the Cadet Corps

outstanding and who thought of himself as of a founder of the original Russian comedy, could have been aware of the reputation that Bergerac’s comedy enjoyed in the history of the genre. 7

See http://moliere.paris-sorbonne.fr/base.php?Don_Juan_ou_le_Festin_de_pier re.

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publishing house (see Svodnyi 1985: 125).8 In 1765, the court actors twice performed another comedy by Lange, known as LE BIENFAIT RENDU or LE BIENFAIT RECOMPENSÉ (THE GOOD DEED RETURNED OR THE GOOD DEED REWARDED) – but it was not published (see Lange 1765). The author, Lange (or L’Ange), came to Russia in 1759 to join the French company where, in the 1760s, he played lovers and fops in comedies.9 To perform and edit his play, he needed the support of the court administration. The decision to promote the play appears mysterious if one considers its literary qualities alone. The plot of THE WILL is built on a conventional matrimonial intrigue: the play is remarkably uneventful, and the will carries the role of a typical deus ex machina restoring the temporarily disturbed social order. The play is set in Durville family’s chateau located some forty kilometres from Paris. The will of Durville’s mother, which gives the comedy its title, helps to instigate the nuptials of her rich young son and Julie, a noble and virtuous, but impoverished young woman. The will confirms the moral order, which the fictional lovers and the real audience are meant to accept as both desirable and rightful. According to this system of values, the young couple with a shared amorous culture, emancipated from the mercantile logic, subjects itself to the judgments of the previous generation, however conservative its views may be. The will thus helps to avoid open conflict and to reconcile the beliefs and conventions of this paternalistic community, with female characters in the lead. Despite being very predictable in terms of plot, this play is important for our discussion, as it offers a reflection on the manner of speaking and its wider implications – both in the fictional world and beyond. The main conflict is conventionally reflected in the story of socially inferior characters, in this case the pair of secondary protagonists, Nanette and Arlequin. The terms that Nanette, the daughter of Lucas the gardener, and Arlequin, Durville’s servant, use to discuss their relationship are predictably different from the main couple’s tender idiom. Unlike their masters, they do

8

This edition alone would make the text unique in the history of local dramatic production in French: no locally crafted Francophone drama was published until twenty years later.

9

See Ekaterina II 1901: 241; Otdel redkih knig i rukopisej. Sankt-Peterburgskaia teatral’naia biblioteka. XVIa.3.84; ibid. XVIa.4.37. According to at least one spectator, the Austrian envoy, his acting was not particularly skillful (see D’Arneth/Flammermont 1891: 370).

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not mention their feelings towards each other. Nevertheless, in their case as in that of Durville and Julie, the difference in social standing within the couple proves to be the main obstacle to their marriage. In a way, this conflict is more sophisticated than that of the noble protagonists: the case of Nanette and Arlequin introduces the broader discussion of social mobility, while Julie and Durville are separated solely by money. Lucas, Nanette’s father, is firmly opposed to the idea of marrying his daughter to a servant who, in addition to the social difference in his status, intends to take Nanette to Paris. Lucas tells Arlequin: »M. Arlequin Nanette n’est pas pour vous tant que vous porterai [sic] un habit qui n’vous appartiendra pas« (»Mr. Arlequin, Nanette is not for you, as long as you wear clothes that don’t belong to you«) (Lange 1764: 19). The gardener finds his profession (»mequié [i.e. métier]«, as he puts it) more respectable than that of the servant, because he cultivates the land and is therefore independent of the masters’ caprices. In addition, he wants his daughter to belong to the same social estate as himself. He replies to Arlequin’s plans to take Nanette to the city and to place her in a wealthy lady’s house: »J’entendons comme fille de chambre, je ne voulons pas de ça. Alle [Elle] apprendroit á faire la demoiselle et pis, quand j’yrions à Paris alle rougiroit de reconnoitre son pere oh! oh! que nanin, alle sera Jardiniere comme moi, note [notre] femme Jacqueline, sa grand mere Jeanne et toute la famille des Lucas.« (Lange 1764: 20) »I understand as a lady’s maid, I do not want this. She will learn to act as a lady and, worse, when I’ll come to Paris, she will be ashamed to recognize her father. Oh! oh! no way, she will be a gardener, like me, my wife Jacqueline, her grandmother Jeanne, and the entire Lucas family.«

In response, Arlequin calls Lucas’s attitude »roturière« (i.e., opposed to noble ones, lowly) and argues for the prestige of Parisian life. To support his plan of upward social mobility, he also presents his ancestral lineage, which does not particularly impress Lucas. The lack of success with the father notwithstanding, Arlequin urges Nanette to share his aspirations and expresses some concern about the way she talks: »[I]l faudroit te defaire de tous ces mots je disons, je savons, je fesons, ce n’est pas comme ce-la [sic] qu’on parle à Paris« (»You should rid yourself of all these words ›I says, I knows, I does‹, this is not how people speak in

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Paris«) (Lange 1764: 24, emphasis in original). He thus brings the feature of Lucas’s and Nanette’s spoken style into explicit discussion, and to the centre of their debate about social ascent. At this point, Arlequin’s advice to Nanette makes explicit the way dramatic text performs itself: dramatic characters are shaped by their speech; the character is its speech (see Larthomas 1980: 229). To criticize somebody’s manner of speaking therefore means to contest their social identity. Lucas and Nanette speak a dramatic patois characteristic of the representatives of the geographic and social periphery, while the nobility speaks standard French, also used (and promoted) by the socially liminal figure of the valet. In Pierre Bourdieu’s terms, the dispute between Arlequin, Lucas and Nanette is one over legitimate language and »deviation« (see Bourdieu 1991: 43-65). In the context of the play, this debate manifests an opposition between the city and the countryside. Whereas Arlequin associates distinction with the »standard« language of the prestigious capital city, both the gardener and his daughter defend their deviations. The latter appear as distinctive features of Lucas and Nanette’s moral rejection of the idea of social mobility, which is also formulated in geographic terms. The dispute is also about power and domination: »[J]e donnois á votre fille des leçons de françois et de politesse« (»I gave to your daughter a lesson in French and in civility«), says Arlequin to Lucas (Lange 1764: 26). Using his social knowledge, the servant seeks to occupy a position of authority and thus shakes the paternalistic frame, which is defended in the play. Not surprisingly, his subversive move fails and he eventually can marry Ninette on her father’s terms. The comedy’s plot supports and validates the gardener’s discourse, which frames the action – the first and the last cues of the play are delivered by Lucas – and provides a moral commentary on it. Lucas appears on stage to speak for an entire social stratum, and his personal affiliation with it, as revealed by his language, proves the authenticity of his social persona and validates his moral statement about the existing social order. Lucas criticizes Arlequin’s social standing and argues for the superiority of his own position. More generally, Lucas juxtaposes country and the city, custom and social mobility, sincerity of feelings and social display. The rapport between speech and social status is not merely thematised in THE WILL, it is explicitly problematised. When the gardener’s daughter defends her manner of speaking, she characterizes her letters to Arlequin (sent while he was away) as honest: »Je ne fesons pas de biaux raisonemens,

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ça est vrai, mais j’eсrivons à la bonne franquette ce que j’avons dans le coeur« (»I do not make nice phrases, that’s true, but I write without any fuss what I have in my heart«) (Lange 1764: 24). The defects of her expression are, in her view, less important than the sincerity of what she says. If one recognises here the intellectual framework of Jean-Jacques Rousseau’s writings, its use in the Russian court theatre, as we will further see, had little to do with the philosophe’s political programme. Thus, if in the Russian SIDNEI the Peasant is explicitly critical of existing administrative practice of the local authorities, in THE WILL the farmer’s amorous emotions and private feelings become dramaturgically relevant – a few decades before Nikolai Karamzin pictured a female peasant able to love in BEDNAIA LIZA (POOR LIZA, 1792). Even more significantly, the gardener and his daughter do not complain about their condition and actively defend the status quo in both linguistic and social domains. Indeed, in one of the most intriguing passages of the play, Lucas makes a claim for a certain independence arguing that his well-being is separated from a master’s expenditure. »Non morgué je sarvons [sers] la terre ça est vrai, mais aussi quand je l’y avons donnè tout ce qui l’y faut, sans nous gronder all[elle]’ nous paye avec usure; au lieu qu’avè[c] vos maitres, en les servant bian, y vous grondent souvent, vous payent mal, vous habillent trop bian, ou vous laissent tout nuds.« (Lange 1764: 20) »No, zounds, I serve the land, it’s true, but also when I gave it everything that has to [be given], it pays us back with interests without scolding us; and with your masters instead, when you serve them well, they tell you off often, don’t pay you well, dress you up or leave you absolutely naked.«

Thus, according to his own words, Lucas is involved in direct economic transactions with the land, and he does not have to report on his work to the landlord, who – to make the contrast sharper – happens to be Arlequin’s master. In this arrangement, the peasant’s productive labour is profitable for everybody; Lucas senses a sort of freedom, which only better connects him to the master. In effect, his claim of independence notwithstanding, Lucas is sad when he sees that the social ties linking him to the landlords are going to be cut. The expression of his grief opens the play: »Madame, qu’avons-je entendù dire? l’oncle de Monsieur Durville a vendû le chatiau et j’allons vous

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pardre, j’en ons le coeur tout gros...« (»Madame, what have I heard? Monsieur Durville’s uncle has sold the chateau and I am going to lose you; I am heavy-hearted about this...«) (Lange 1764: 3). And when the happy ending is achieved, he concludes in satisfaction: »J’en fis s’tapendant [cependant] venû á mes fins, jarniguè je n’nous sentons pas d’aise, qu’eu plaisir d’avoir un maitre quand il est aussi bon« (»I have, however, got what I wanted, Jesus! I did not feel easy; what a pleasure to have a master when he is so good«) (Lange 1764: 53). Thus, the play that was written for the same audience as Fon Vizin’s adaptation and that thematises the use of patois in French less than a year before the first appearance of the Russian serf on the stage of the court theatre employs the effect of linguistic authenticity to a very different end. Much like the Russian Peasant, the French gardener is reluctant to leave the village, but his rationale has nothing to do with complaints about the abuses of the local authorities: Lucas glorifies the status quo, structured around his financial relationship with the land and emotional ties with his master. The next perspective that I am going to introduce – that of political debate about the rural economy in general and about the status of peasants in particular – will help us to link together these two appearances of the patois on the stage of St Petersburg theatre, both analogous and dissimilar.

THE PEASANT QUESTION The audience of the St Petersburg court theatre in the Winter Palace was composed essentially of the noble elite. The serfs were banned from the Opera House, even when the rules of access allowed for some diversity (see Evstratov 2016: 187-195). Both the Peasant from Fon Vizin’s play and Lucas from THE WILL spoke from the stage to landlords and those who economically depended on various forms of serf labour. Both plays make an explicit and meaningful distinction between domestic servants on one hand and those attached to the land, i.e. the peasant serf and the gardener, on the other hand. Indeed, the latter two allegorically stand for the same social group – land-workers – and feature two versions of this condition. While the Russian play exposes the actual state of the rural economy, the French comedy depicts a desirable reality embodied in the feudal allegory of the chateau. In the ideal version of the rural world, the land-

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worker is attached to the land that is apparently in his temporary possession and wishes to bequeath his status to his offspring. The farmer here is proud of his independence from the landlord’s caprices and resists what in eighteenth-century Russia was called otkhod – peasant’s work away from home and, often, away from the land. The Russian peasant reality represented in SIDNEI is exactly the opposite: in the quit-rent system (obrok), the farmer is exposed to all sorts of abuses and resists the task of delivering a message because his work is already constantly interrupted. As I will next demonstrate, land-workers appeared on the stage of the Imperial theatre in order to promote a particular economic vision of the performance’s sponsors. This same vision was later outlined in a project of state administration: the dramatic representations of the rustic had introduced key themes into the major social policy debate of the beginning of Catherine II’s reign, the first emergence of what will be later called the »peasant question«. In the socio-cultural environment of the eighteenth-century Russian Empire, the human agency that the farmers manifest in both comedies was not a given. According to a special study (Bartlett 1996), the attitudes towards serfs that circulated among the Russian elites in the 18th century were informed by four principles. First, peasants were considered lazy and lacking in competence. Second, the possession of serfs was regarded as an inalienable right of the nobles. Third, according to paternalistic views, peasants, like children, needed to be taken care of. Finally, serfdom was perceived as a state phenomenon, on which the social hierarchy, law and order, and the common good were based. Indeed, peasants commonly appeared as a minor form of human existence in the writings of landlords: the former were usually thought not to be able to properly think, speak, or feel. Peter I, who appreciated the peasantry as a valuable resource for the state, nevertheless famously commented on the project of the introduction of local self-administration in Russia: »Из крестьянства умных людей нет« (»There are no clever men among the peasants«) (Bartlett 1996: 67, Bogdanov 2006: 105f.). In this respect, the Russian ruler was not necessarily in contradiction with European trends. The political economist Johann Heinrich Gottlob von Justi wrote in his treatise DIE GRUNDFESTE ZU MACHT UND GLÜCKSELIGKEIT DER STAATEN (THE FOUNDATIONS OF POWER AND HAPPINESS OF STATES, 1760-1761), attentively read by Catherine II and translated into Russian in the 1770s: »Подлый народ мало имеет добродетели и столь же мало любви к отечеству, а об

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истинной чести не имеет ни малейшего понятия« (»Low people have not much virtue and also not much love of the fatherland, and have no idea of true honour«).10 Michael Confino’s study of the Russian nobility’s perceptions of peasants, based essentially on the analysis of the Free Economic Society Proceedings, comes to the conclusion that the landlords could admit that a particular peasant had certain (good) qualities, but they were convinced that as a group the peasants were characterized by vices and defects (see Confino 1961: 63). These tendencies notwithstanding, Russian authorities did attempt to rethink the foundations of the countries’ wealth production; some of them defended greater access to personal freedom and property amongst land-workers. According to the Empress Catherine II’s notes dating back to around 1760, she considered serfdom to be a major social and moral injustice (Sbornik 1871: 84). While she never planned an act of instant emancipation, the beginning of her reign was marked by a broad public discussion of the issues of serfdom, the state economy, and the management of private and crown’s estates. Catherine’s statesmen submitted their reviews of the issues of serfdom along with possible solutions (see Semevskii 1888: 13-37). Among the various issues of landlord-peasant relations discussed within different frames in Russia, two questions were most frequently raised – that of the emancipation of serfs and that of their property rights. In 1766, Catherine II started circulating among a selected circle of Russian nobility the manuscript of her INSTRUCTION TO THE LEGISLATIVE COMMISSION (НАКАЗ…, ДАННЫЙ КОМИССИ О СОЧИНЕНИИ ПРОЕКТА НОВОГО УЛОЖЕНИЯ), which was meant to provide the basis for a new code of laws. In paragraphs 259 and 260 of chapter XI, touching upon the history of serfdom and the rights of slaves, the empress stated that one must not grant freedom to a large number of people at once and by the force of a single law (see Ekaterina II 1914: 76). The writer Aleksandr Sumarokov commented on the chapter: »Сделать русских крепостных людей вольными нельзя... [...] А это примечено, что помещики крестьян, а крестьяне помещиков очень любят, а наш низкий народ никаких чувствий еще не имеет« (»One must not emancipate Russian serfs… […] It has been noticed that landlords like

10 Quoted in Bogdanov 2006: 284, where the Russian edition is mistakenly dated as 1760.

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peasants and that the peasants like landlords very much, whereas our common people do not have any senses yet«). To which Catherine added: »[И] иметь не может в нынешнем состоянии« (»[A]nd it cannot have [senses] in its present condition«) (Sbornik 1872: 86). Sumarokov’s phrase looks somewhat ambiguous, as he distinguishes between peasants and nizkii narod, literally »low people«. But this is precisely the point of agreement between Sumarokov and Catherine II. Both the empress and a defender of noble privileges posit that common people had neither political, nor even proper human agency outside of the emotional link between the peasant and the landlord (see also Fedosov 1967: 133-136). The tension between the modernization of the entire society and the danger of social disorder caused by the weakening of the ties linking peasants and landlords, underlay the discussion of the serfs’ condition. Catherine II’s INSTRUCTION also declared that »[a] Law may be productive of public Benefit, which gives some private Property to a Slave« (XI, 261) (Reddaway 1931: 262). In 1766 this idea, in the form of the question was announced in the format of a prize competition by the Free Economic Society. Founded a year earlier, the Free Economic Society for the Promotion of Agriculture and Household Management would become the first forum for the public discussion of the Russian nobility’s economic condition with a certain level of formal independence from the Catherine II’s supervision but still under the empress’s auspices. The question of peasant property, for instance, was suggested to the Society through an anonymous letter in November 1765. The letter was signed »I.E.«, which is sometimes deciphered as ›Imperatrica Ekaterina‹ (›the Empress Catherine‹) (Leckey 2011: 65f.). The author suggested that the question be presented to the public, and sent as accompaniment to the letter 1,000 gold pieces to reward the most enlightening responses. While the letter revealed a general interest in the notion of property, the question itself was posed as the following: »…What does the property of a farmer consist of – the land on which he works or his moveable property, and how can he be granted the right to one or the other for the good of all society?« (Leckey 2011: 66) The responses to the peasant property competition continued up until 1768 and came from Russia and from abroad, making it the most commented-on episode in the Society’s history. Russian submissions to the competition were very few among the general number of 162 received essays, mostly in German. Only one Russian language response made it to the short

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list of 15 finalists, nine of which were in German and five in French (see Leckey 2011: 66-68, Beliavskii 1960). According to Colum Leckey’s study, »the competition opened the floodgates for all the critics of Russian serfdom. Most of the proposals came down to favour of property rights and personal freedom«. The winning essay authored by the Aachen jurist Beardé de l’Abbaye was published in a Russian translation in 1768. It declares the inseparable union of freedom and property (§28) and praises the government that will change the condition of forever poor peasants (§29), suggesting a gradual and cautious reform (see Beardé de l’Abbaye 1862: 114, Leckey 2011: 68-70). According to Aleksei Polenov, the only Russian author whose essay made it to the final 15, to free peasants without land would mean to expose them to the corruption of the cities where they would become »accustomed to idleness and render themselves incapable of enduring village labour« (quoted in Leckey 2011: 70). Polenov’s and some other essays thus shed light on the conflict around social mobility played between Arlequin, Nanette and Lucas in Lange’s comedy THE WILL. Moreover, the play attests to the awareness of these tensions around the peasant condition as early as January 1764.11 In their attempts to give a grounded response to these questions, the participants in the ongoing debate reflected on the peasant’s nature, on their essential qualities as human beings. The dramatic text that placed the status quo supporting gardener at the centre of the action and deployed both his independence and emotional attachment to his masters made a claim in a debate that had yet to take place publicly. This observation does not explain, however, the critical eruption of Fon Vizin’s Peasant and his bitter complaints about the local administration. Indeed, both the top-down approach of the participating writers and the statesponsored nature of the competition did not encourage institutional criticism, despite the sense of mutual dependence of the nobles and serfs expressed in the public discussion. This criticism, as I will next argue, was coming from the Imperial Palace.

11 According to Soviet historians, in the mid-18th century the population of peasants who were not involved in farming (»nepashennye«) was growing, especially in Moscow and St Petersburg regions (see Indova 1964: 47).

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THEATRE AND PROPAGANDA In January 1766, before the Free Economic Society announced the essay competition, Catherine II’s secretary and Obergofmeister Ivan Elagin prepared a project involving a social experiment.12 Drawing on the economic principles common to cameralists and physiocrats, according to which the growth of the population is the key factor for the wealth of the nation, he suggests that property rights will awake useful sentiments in peasants (see Bartlett 2017). Three sections of this treatise offer a general introduction, a critical overview of the current situation and of shortcomings in the sphere of the housekeeping, and a detailed presentation of the suggested ways of improvement. Considering in the first section three main sources of the country’s wealth – population growth, mining, and external commerce – Elagin posits the primordial importance of animal husbandry and farming, the foundation for any other wealth-generating activity (see Elagin 1859: 12-17). The framework of this writing was ›populationist‹, defined by a leading scholar of Catherine II’s population policies as follows: »Peasants are valuable and productive; it is desirable to have as many as possible, to keep them healthy, well-fed and contented. But they must also be kept in their appointed place and at their appointed task.« (Bartlett [2018]) More specifically, the measures suggested in Elagin’s memorandum responded to the question of peasant property later submitted by the Free Economic Society to public dis-

12 The project was published twice in 1859, amidst debates about the emancipation of serfs. A manuscript copy is conserved in the archives (Rossiiskii gosudarstvennyi arkhiv drevnikh aktov (RGADA), fond 10, opis’ 3, delo 191) (see Maksimov 1989). For a detailed exposition, see Semevskii 1901: 110-117. As one can conclude from the forms of address used (see, for instance, Elagin 1859: 19), it was addressed to the Empress directly under the full title …ОБ ОПРЕДЕЛЕНИИ В НЕОТЪЕМЛЕМОЕ ВЛАДЕНИЕ ДВОРЦОВЫМ КРЕСТЬЯНАМ ЗЕМЛИ И О РАЗДАЧЕ КАЗЕННЫХ ДЕРЕВЕНЬ, ЗА ИЗВЕСТНУЮ ПЛАТУ, НА ВРЕМЕННОЕ И ОПРЕДЕЛЕННОЕ ВЛАДЕНИЕ ВОЛЬНЫМ СОДЕРЖАТЕЛЯМ

(…Con-

cerning the determination of land for the Court peasants in irremovable tenure, and the distribution of state villages for a known payment, exceeding present levies, and in temporary and specified tenure, to free holders).

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cussion. According to Elagin’s argument, the introduction of inherited property right would allow the most urgent problems of the agricultural management to be tackled and would raise the land’s productivity: »[С]поспешествующия скотоводству и земледелию правила, на каких бы полезных разсуждениях, на каких бы непреложных опытах ни основывались, и как бы вразумительно истолкованы, и строго подлыми поселянами от правительства предписаны ни были, во исполнение приводимы быть не могут, естьли крестьяне собственнаго недвижимаго ничего не имеют, и следственно не могут надежно оставлять его детям своим, и естьли нет при них присутственно властей, коих бы они прямо помощниками своими почитая, исполняли повеленное от них с любовию и страхом; также естьли и оныя власти своею собственною корыстью не обязаны употреблять всевозможные способы, труды и попечения к наставлению и поощрению землевладельцев к землепашеству. Ибо к приведению земледелия и скотоводства в совершенное состояние должны как крестьяне, так и определяемыя к ним власти равномерно и неусыпно трудиться. Одни непрестанно к работе неутомленные простирая члены; другие посредством разума, наук и знания облегчая и упрощая им работы. А к сему без собственныя корысти ни те, ни другие принуждены быть не могут, потому что всякое принуждение не по естественной склонности, но страха ради человеком исполняется: следовательно ни земледельцы, не имеющие собственнаго ничего, к трудам поощрены, ни определяемыя к ним власти без своего обогащения к доброму управлению привлечены никогда не бывают, а стараются только первые как нибудь настоящее препроводить время, а другие, пользуясь приказным порядком, безответно разорять их. Сию истину прозрев, многия благоуправляемыя государства давно уже с пользою преобратили коронныя свои земли в земли крестьянския, учинив их вечными и потомственными оных обладателями.« (Elagin 1859: 17f.; emphasis is mine – A.E.) »[T]he rules in favour of animal husbandry and farming, on whatever useful considerations or unconditional experiences they are based, however clearly explained, and however strictly prescribed to the low-born villagers by the government, cannot be applied, if peasants have no real property and therefore cannot safely bequeath it to their children, and if there are no constantly present authorities, that they [peasants] would consider as their assistants, executing what they [authorities] request with love and fear; also, if these authorities must not apply – for their own interest – all possible means, efforts and care to educate and encourage landowners to farming. For, to bring

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farming and animal husbandry to perfection, those peasants and authorities assigned to them must equally and ceaselessly work. The former – by constantly directing their unwearied members to work; the latter – by easing and facilitating their chore with the help of reason, sciences and knowledge. And neither the former nor the latter can be forced to do so without benefitting, because a man follows any constraint out of fear and not out of natural inclination: therefore neither the farmers, who have no property and are ever encouraged to work, nor the authorities that are assigned to them, are compelled to adopt good management without the possibility of enriching themselves, and both only seek to somehow make the time pass (the former), and to ruin those with impunity, using chancery procedures (the latter). After having realised this fact, many well-governed states had long turned their crown lands into peasant lands, making them [peasants] permanent and hereditary owners of those.«

In this paragraph, Elagin emphasises the necessity of approaching the questions of peasant property and of a non-coercive system of mutual benefit between the farmers and the local administration. In the second section of the memorandum, the Obergofmeister identifies what prevents this project from being successful in the current circumstances. The lack of property on the farmed land is not the only problematic point. According to Elagin, the unclear system of taxation is the other fundamental evil (§18). The obrok is a poor practice for two reasons. First, it reduces the peasants’ interest in farming the land that they cannot bequeath to their children, which entails a very limited use of the land’s resources. Second, it leaves the peasants the possibility of working in the city, where they can earn the necessary contribution in a less exhausting manner (§20-23). Drawing this picture, Elagin emphasises the threat that both landlords and local managers present: »[В]ластен суровый помещик на удовольствие своих роскошей ограбить дом беднаго своего крестьянина, и отдаленный от верховной власти дворцовой управитель безответно может разорить его« (»[T]he severe landlord has the power to rob the house of his poor peasant to entertain his opulence and a palace steward removed from the sovereign power can ruin him [the peasant] with impunity«) (Elagin 1859: 21f.). In the third section of his project, Elagin presents the concrete measures that would increase the profits from the land. In the 1760s, there were around 10 million serfs, only 5 percent of which were Palace or Court peasants,

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dvortsovye, who were relatively less oppressed. This group would be, according to Elagin, a touchstone for the further social and human reform. 13 A positive example having thus been set by the Crown, Elagin expected landlords to follow suit given the comparable benefits for them personally and for the country at large (§27). To guarantee the success of the entire endeavour, the author of the memorandum suggested rental lease of the Court lands to private holders under precisely defined conditions (§32). This would have a major didactic effect, as landlords would not be tempted by greed. Indicating that these lands would be granted to the most zealous state servants only, Elagin clearly attempts to address the anxiety that the 1762 Manifesto on the emancipation of nobility caused the Empress. Elagin’s activity, focused on the promotion of this project, was, I believe, the driving force behind the emergence of the land-worker figures, the stage rustics, in the St Petersburg court theatre.14 Indeed, of all known writings on the »peasant question«, Elagin’s memorandum brings together the themes of both studied comedies. On one hand, the text mentions how the abuses of landlords and of the local administration can and do, the project implies, cause peasants’ ruin. On the other hand, Elagin’s suggestion is to grant the latter the irremovable tenure on the land they cultivate, using this as a motivational tool to raise their productivity. In SIDNEI and in THE WILL, the landworkers, whose condition was not the same in legal terms (the Peasant is a serf, whereas Lucas is a free man), have a similar function. They are spokespersons for the ideal order (represented in Lange’s play and suggested in Fon Vizin’s adaptation of Gresset’s comedy), in which all abuses and corruption will be prevented due to the sincere emotional links between the land and the labourer, and between the labourer and his master. The patois in French and in Russian plays stands for the authenticity of the characters, who represent the social other of their suggested reform.

13 Elagin was a head of the Chief Chancellery for Court Estates, Glavnaia dvorcovaia kanceliariia, from the beginning of Catherine II’s reign until 1775 (see Indova 1964: 294f.). These Offices administered the property of the imperial family, including its lands and serfs. 14 Elagin’s project has not been implemented, but he certainly remained involved in the discussion of the topic. Some historians suggest this he was the author of the letter sent to the Free Economic Society with the question of peasant property, as the initials match his name (see Bartlett 1998: 196f).

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*** Lange’s and Fon Vizin’s comedies premiered just as the peasant question was becoming a topic of major public discussions. Despite significant differences in social practices and categories between the French and Russian societies, the common dramatic idiom was considered suitable to stage concepts and narratives relevant to the absolutist order. It is not a coincidence that both the theatrical representations of the peasant and a discussion of serfdom initiated by Russian elites emerged when the Physiocrats were particularly active in France. Their economic theory placed the land-working class at the center of the social classification as »productive« and emphasized the role of private property (Maza 2013: 36-39). As Amy Wyngaard has demonstrated, the économistes used »sentimental theater as the crux of their propaganda campaign« (Wyngaard 2004: 88). The studied plays, essays, and memorandum all look at the modes of coexistence of peasants and landlords that would improve both economic and moral condition of the society at large. Although the sponsors of the comedies’ publication are unknown, there is no doubt that they were part of the imperial court and represented the ruling elite of the country. Karl Sivers, the marshal of the court, was in charge of the court theatre’s supervision during the beginning of Catherine II’s reign. Colonel Rambourg (probably EtienneNicolas, see Mézin/Rjéoutskii 2011: 697) managed the French company (RGADA, fond 17, opis’ 1, ed. khr. 322, l. 75). Finally, and most importantly for my argument, Ivan Elagin was involved in the supervision of the imperial theatre from the early 1760s onward, which was acknowledged in his nomination, in 1766, as director of imperial spectacles and music. It seems very likely that Elagin decided to use the theatre as a terrain for the pre-publication of his ideas. Put in perspective, THE WILL appears to be one of the earliest attempts to bring the discussion about the laboureurs to the attention of a limited number of privileged landowners. The pastoral genre, which had been imported relatively recently to Saint Petersburg, transformed by the French actor into a comedy, would then emerge as a touchstone in a hundredyear-long debate about serfdom.15 It might well be that Catherine II personally either suggested or approved the use of theatrical performances to tackle such a fundamental issue, in the spirit of her notes of 1761: »Souvent il faut

15 For recent overviews of the debate, see Bartlett 2003, Medushevskii 2005.

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mieux inspirer que commander des réformes« (»It is often better to inspire reforms than to order their enactment«) (Sbornik 1871: 101). Drama and theatre were integrated in her social reforms as a component of the nobility’s moral education, disseminated in particular in theatrical scenarios that helped to interiorize the existing social order. Ivan Elagin played a key role in this process, not only as a theatre manager, but also as a patron of the group of young writers also known as »Elagin’s circle« (Berkov 1977: 61f). Denis von Vizin was a part of this constellation of authors; from autumn of 1763 onwards, he worked as Elagin’s secretary and in 1764 he started translating and writing plays based on a new principle of dramatic mimesis (see Evstratov 2013) The self-reflective peasant character became a regular feature in the (self-)justification of the existing social and political order. The representations of the most numerous and the most socially and politically excluded part of the population reminded audiences of the strong and sincere emotional link that allegedly existed between the ruler and the farmer, pervading all social strata. THE WILL offered a representation of the social order that the country’s elite was supposed to translate into relevant local categories. But it was only the first stage of an experiment: the symbolic economy of social links was very quickly transferred to the Russian stage. Having become a generic character in the 1760s, the peasant would then feature as a hero in the national mythology of the early nineteenth century. The French language and the language of French drama in particular had, however, a clear cultural function: they provided a system allowing for the transfer of new notions. And this resulted in the paradoxical situation, in which the very first land-worker to speak to Russian landlords did so in French. And he did it to confess his love of his land and of his master. In the long run, Catherine II, who was, as we have seen, attentive to the peasant question, was by no means an advocate of this large social group: according to the imperial historian Semevskii, »serfdom was intensified in depth and extent« under her reign (Leckey 2011: 62). The love of the land expressed by the fictional land-workers did not necessarily lead to the idea of their personal freedom, especially if there is no heavy economic argument for the revision of the status quo. Responding to Denis Diderot in the 1770s, the empress did not acknowledge the necessity of emancipation, taking a relativistic »Je ne sais pas un pays où le cultivateur aime plus la terre et son foyer qu’en Russie. Nos provinces libres n’ont guère plus de grains que celles

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qui ne le sont pas; chaque État a ses défauts, ses vices et ses inconvénients« (»I do not know a country where the farmer loves the land and his household more than in Russia. Our free provinces do not have more grains than those that are not free; every state has its own defects, its own vices and disadvantages«) (quoted in Tourneux 1899: 541).

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Idiomatische Idylle Translingualität und Oralität in Wincenty Dunin-Marcinkiewiczs SIELANKA Yaraslava Ananka

Zwischen den polnischen antirussischen Erhebungen von 1830/1831 und 1863/1864 tritt auf dem Gebiet der nordwestlichen Gouvernements des Russischen Kaiserreichs die Periode einer relativen politisch-ökonomischen Stabilität ein, die man ›Zwischenaufstandszeit‹ nennen könnte. Der dortige Adel versucht sich – nach der ersten Phase der Verarbeitung der Niederlage von 1831 und der darauffolgenden Repressionen – mit seiner Lage abzufinden und in den Alltag zurückzukehren. In dieser diskursiven Situation zwischen nostalgischer Resignation, Normalisierungszwang und vorsichtigen Zukunftsvisionen kündigen sich neue Formen regionaler Identitätsstiftung an. In den 1840-1850er Jahren entsteht das Projekt ›Belarus‹, zu dessen wichtigem Medium und Generator die Literatur sowie der metaliterarische Diskurs werden. Das Belarus-Projekt wird von den Abkömmlingen der Region mitgestaltet, die dienstlich oder aus politischen Gründen in Paris, Krakau oder Sankt Petersburg leben, allen voran jedoch von einigen Amateuren und Enthusiasten, die in dieser Zeit im Dreieck zwischen Wilna, Pinsk und Mogiljow aktiv werden. Es entstehen erste, retro- und prospektive (Re-)Konstruktionen einer belarussischen Sub-Literatur im Kontext der größeren polnischen Literatur und Volksdichtung, wobei das Adjektiv ›belarussisch‹ mal soziolinguistische, mal territoriale Referenzen hat (vgl. Rypiński 1840, Podbereski 1844, Chrapowicki 1845, Wiszniewski 1851: 460-484). Es erscheinen mehrbändige Folkloresammlungen (z.B. Jan Czeczot 1846) bzw. polonisierte Nachahmungen der ›dialektalen‹ Volkslieder und -legenden, die, wie

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z.B. bei Jan Barszczewski1 (1844-1846), von einem spätromantischen Transgenre-Metatext umrahmt werden, in dem der ethnographische Duktus auf die Stilisierungen von Volkssagen trifft. Genau in diesem (meta-)diskursiven Feld zwischen Projekt und Desiderat sind auch die literarischen Aktivitäten von Wincenty Dunin-Marcinkiewicz (1808-1884), dem Hauptheld des vorliegenden Beitrags, zu lokalisieren.2

1

Hier und im Weiteren wird die polnische (und nicht die retrospektive belarussische) Namensorthographie benutzt.

2

Erste literaturhistorische Konstruktionen zur Dichtung dieser Region als einem autonomenen Phänomen sowie die Unterstreichung der Pionierrolle DuninMarcinkiewiczs setzen Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts an, und zwar sowohl im polnischssprachigen (vgl. Kirkor 1874: 50-55) als auch im russischsprachigen Metadiskurs (vgl. Dovnar-Zapol’skij 1909a und 1909b, Karskij 1903: 437-440). Zum wichtigen Erinenrungsort in Belarus selbst werden dabei die Feierlichkeiten zum 25. Todestag des Schriftstellers: Man verlegt Dunin-Marcinkiewiczs (allerdings nur belarussischsprachige) Texte wieder (Marcinkiewicz 1910), die wohl relevanteste nationale Zeitung NAŠA NIVA (1910) widmet dem Schriftsteller eine Spezialausgabe. Es beginnt eine über die Grenzen eines metaliterarischen Diskurses hinausgehende Kanonisierung des Schriftstellers als Gründervater der belarussischen Literatur, die in der sowjetischen Zeit fortgesetzt wird. Diese ›Heiligsprechung‹ bewirkt jedoch keine wirkliche Intensivierung der entsprechenden Studien, eher umgekehrt: Es kommt zwar immer wieder zu Publikationen über Dunin-Marcinkiewicz, allerdings handelt es sich dabei um mehr oder weniger ideologisierte Artikel bzw. Kapitel in Überblickswerken (exemplarisch: Žylunovič 1931, Larčanka 1958: 193-232, Kavalenka 1975: 125-168, Usikaŭ 1975); hinzu kommt die ebenfalls in para-marxistischen Floskeln der sowjetischen Literaturwissenschaft verharrende Untersuchung zu Dunin-Marcinkiewiczs Leben und Werk von Scjapan Majchrovič (1955). Das Interesse der belarussischen Academia für Dunin-Marcinkiewicz, die davor im Vorzeichen der sowjetischen Literaturgeschichtsschreibung stand, nimmt gegen die Zeit der Perestrojka zu, innerhalb von fünf Jahren erscheinen drei Bücher zu seinem Leben und Werk (Kisjalёŭ 1988, Januškevič 1991, Navumenka 1992). In diesen faktischen und textologisch interessierten Monographien werden viele bio- und bibliographische Befunde summiert und systematisierend erweitert. In den 2000er Jahren erscheinen darüber hinaus zwei Sammelbände zu Dunin-Marcinkiewicz

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Dunin-Marcinkiewicz, dessen Werk den Belarus-Diskurs entscheidend mitprägte, wählt einen alternativen – performativen – Weg, jenseits direkter Anknüpfungen an die dem polnisch-slavophilen Volkstümlichkeitsdiskurs verpflichteten Schreibweisen und genealogischen Konstruktionen belarussischer (Volks-)Dichtung. In den 1840er und 1850er Jahren schreibt er einige Lustspiele und andere launig-scherzhafte – hauptsächlich dramatische – Texte, deren Komik sich nicht nur auf Vaudeville- und Operettensujets, sondern auch auf ihre burleske polnisch-belarussische Translingualität aufbaut. Dunin-Marcinkiewiczs literarische Experimente werden dabei mal als Kuriosum eines makkaronischen Spiels mit einem marginalisierten Soziolekt an der Peripherie der polnischen Literatur, mal als ein zivilisatorischer Beitrag zur Aufklärung ungebildeter Bauern deklariert und legitimiert. Der folgende Beitrag fokussiert Verhandlungen von Translingualität in Dunin-Marcinkiewiczs Debüt-Drama SIELANKA (Idylle, 1846), in denen die präfigurierte ›Idylle des Regionalismus‹ – soweit die zu überprüfende These der Untersuchung – ihrer Inszeniertheit selbstironisch vorgeführt wird. 3

(Rahojša/Chaŭstovič 2005, Maksimovič 2008). Nach dem Erlangen der Unabhängigkeit des Landes (1991) werden alte neue Konstrukte der (trans-)nationalen Literaturgeschichtsschreibung aktuell, sowohl hinsichtlich größerer kulturgeschichtlicher Abschnitte (vgl. Bahdanovič/Zaprudski 2012; Kavalëŭ 1993, 2002, 2010, Nekrašėvič-Karotkaja 2015) als auch in Bezug auf die Literatur des 19. Jahrhunderts (vgl. Chaŭstovič 2001, 2012; Kisjalёva 2007). In diesen Untersuchungen wird die Dichtung der Region mal in den Paradigmen des minoritären Schreibens beschrieben, mal im Kontext der Kosmopolitismus-Diskurse, mal im Fahrwasser postkolonialer Kritik. Dabei werden zwar wichtige, wenn auch unzureichende Korrekturen sowjetischer literaturhistorischer Literaturgeschichtschreibungschablonen vorgenommen, aber es bleibt vorwiegend bei einer retro- und prospektiven taxonomischen Herangehensweise und Sicht auf die Literatur der Region. 3

Die vorliegende Beitrag stellt eine intensiv überarbeitete Fassung meines Artikels zu Dunin-Marcinkiewiczs Figurationen polnisch-belarussischer Translingualität dar (vgl. Ananka 2017).

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INSZENIERUNGEN DER ZWEISPRACHIGKEIT Dunin-Marcinkiewiczs Drama SIELANKA reproduziert das gängige Sujet einer Situationskomödie: Verkleidung der Herren als Diener.4 Der junge Herr, Karol Latalski, der in Frankreich weilt, muss auf Verlangen seines Vormunds zum eigenen Landgut zurückkehren. Die Tochter des örtlichen Vormunds Julia, die von Kindheit an Latalski mochte, befürchtet, dass sich der junge Mann in Paris verändert hat und ihr nun französische Mädchen vorziehen wird. Damit sich Karol in sie verliebt, aber auch für seine arrogante Vernachlässigung des Landlebens bestraft wird, entwickelt Julia einen schlauen Plan, in den gewollt und ungewollt alle Handlungspersonen des Stücks involviert werden. Sie gibt sich taktisch als einfache junge Bäuerin Johasia aus, die sowohl die einfache (belarussische) Mundart der Bauern als auch das Polnische des Adels perfekt beherrscht. Gute Manieren und das Beherrschen des Polnischen erklärt ›Johasia‹ damit, dass sie am Hof der jungen Herrin erzogen wurde. Die Realisierung des Vorhabens wird von einer Reihe sentimental-komischer (Rollentausch-)Situationen, Verkleidungen und Verwechslungen begleitet und ist letztendlich von Erfolg gekrönt: Latalski verliebt sich ins ›Fräulein Bäuerin‹, heiratet sie und bleibt auf dem heimatlichen Landgut wohnen. Alle gesellschaftlichen Schichten sollen gemeinsam die Geschicke ihres Landes in die Hand nehmen und die Idylle des Regionalismus hier und jetzt verwirklichen, soweit die unkomplizierte Moral dieser Operettenparabel.5

4

Das bekannteste Beispiel slavischer Literatur dieses Musters stellt beispielsweise Aleksandr Puškins Erzählung BARYŠNJA-KREST’JANKA (FRÄULEIN BÄUERIN, 1831) dar.

5

Dunin-Marcinkiewiczs inszenierte Idylle spielt in der Gegenwart. Der Verfasser schreibt die konkrete Zeit der Handlung vor: In der VIII. Szene wird aus einem Brief vorgelesen, aus dem hervorgeht, dass sich die Ereignisse am 15. Mai 1842 abspielen (Dunin Marcinkiewicz 1846: 26f.). Auch den Handlungsort kann man mehr oder weniger genau markieren bzw. topographisch umreißen: Es ist der Teil des einstigen ›Litauen‹, in dem das Volk ›Belarussisch‹ spricht (Dunin-Marcinkiewiczs Landgut lag im Minsker Landkreis). Einige Sujetnuancen mögen weitere nicht unwichtige Anspielungen bergen: So mag die Tatsache, dass Latalski einen Vormund hat, indirekt darauf hindeuten, dass sein Vater tot ist oder – was politisch brisanter wäre – während des Novemberaufstandes 1830/31 ums Leben

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Die entscheidende poetische Besonderheit von Dunin-Marcinkiewiczs Text liegt in der paratextuell deklarierten Transgenre-Beschaffenheit des Stücks. Fingiert der Titel die Zugehörigkeit zur polnischen dörflichen Idylle, so kommuniziert der Untertitel – »Opera we dwóch aktach« (»Oper in zwei Akten«) – seinerseits die theatralisch-musikalische Ausrichtung des Textes. Die Idylle – Dunin-Marcinkiewicz betitelt sein Drama mit einer metapoetischen Geste nach einer Genrebezeichnung – ist ein in der Mitte des 19. Jh. bereits müde gewordenes Genre, dessen Gattungsbezeichnung in dieser Zeit aus der Literatur in den Alltag expandierte, dabei die einstigen hochliterarischen Ambitionen der Idylle einbüßte und mit einem idiomatischen Automatismus als Synonym für ein harmonisches (Dorf-)Leben gebraucht wurde. Dunin-Marcinkiewiczs Stück markiert zwar diese Entliterarisierung der Idylle, macht jedoch indirekt auf deren gattungsbildende Ambiguitäten aufmerksam: Die Idylle, die ein mehr oder weniger fest vorgeschriebenes Genremuster vorsieht, poetisiert die Immanenz des Poetischen, verweist jedoch inhaltlich programmatisch auf einen vor- bzw. außerliterarischen – anthropologischen – Zustand. Der als idyllisch gepriesene rural-pastorale Urzustand und Chronotopos ist jedoch selbst von einer utopischen Immanenz geprägt. Der alltägliche, profane Gebrauch des Wortes ›Idylle‹ persifliert und parodiert somit deren Urbedeutung sowie deren Inflation im ›belarussischen Biedermeier‹. Der prinzipielle Achronismus des Idyllischen wird von DuninMarcinkiewicz mit dem Anachronismus der Idylle selbstironisch verbunden.6 Diese Subversionen des Idyllischen bzw. der Idylle werden durch den Untertitel bekräftigt. Dabei ist allein die doppelte Genrebezeichnung ambig. Wenn bereits der Haupttitel – »Idylle« – nicht ironiefrei gelesen werden kann, gibt es dann auch keine Sicherheit, dass die »Oper in zwei Akten« auch

kam. Das ganze Stück könnte auch als Appell an diejenigen adligen Landbesitzer verstanden werden, die nach der Niederschlagung des Aufstandes das Land Richtung Frankreich verlassen haben und nun – statt von Paris aus über die Unzivilisiertheit ihres Heimatlandes zu lästern – zurückkehren und es aufbauen sollen. 6

Während Dunin-Marcinkiewiczs Stück die Idylle selbstdekonstruktiv konzipiert, wird sein Debüt-Drama in der späteren Rezeption andere, in vielerlei Hinsicht entgegengesetzte Implikationen bekommen: Sein Text wird zum (meta-)idyllischen Chronotopos der Geburt der belarussischen Literatur erklärt.

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nicht ein Kniff sein könnte. Das Verkleidungssujet des Dramas selbst unterstützt diese ästhetisch produktive Selbstverunsicherung. Zumindest erlangt Dunin-Marcinkiewicz mit seinem paratextuellen Spiel ein Libretto-Alibi, das ihn von den Vorwürfen des Dilettantismus befreit. Denn das Libretto besetzt eine genre-diskursive Interposition zwischen literarischem Text (als Drama) und paraliterarischem Text (als Operetten-Szenario).7 Auf die Vertonung und musikalisch-theatralische Realisierung angewiesen,8 positioniert sich das Libretto als eine a priori sekundäre und als angewandtes Genre konnotierte Textsorte. Diese genre-paratextuell angelegten und den Haupttext transformierenden Diskrepanzen sorgen für zusätzliche (meta-)poetische Verschiebungen und Spannungen: Die inflationäre bzw. kompromittierte Literarität der Idylle und die genre-unzuverlässige Para-Literarität (de-)stabilisieren einander. Die wohl entscheidende Innovation von Dunin-Marcinkiewiczs Drama liegt in ihrer im Plot verankerten und zur Schau gestellten Translingualität, die den ansonsten zutiefst epigonalen Text verfremdet.9 Die genre- und sujetmotivierten sozialen Verkleidungen und Rollenspiele transformieren sich

7

Zur Frage nach der problematischen literarischen Autonomie des Librettos vgl. Gier 1986, 1998.

8

Die Aufführungserlaubnis für SIELANKA wurde noch vor der Publikation erteilt (Januškevič 2008: 565), d.h. die theatralisch-musikalische Realisierung des Dramas war für Dunin-Marcinkiewiczs Anliegen von zentraler Bedeutung. SIELANKA

konnte allerdings erst Jahre später (1852) im Minsker Amateurtheater aufge-

führt werden (vgl. Januškevič 2007b: 468) und wurde sofort von der Stadtverwaltung verboten (vgl. Januškevič 2007a: 12f.). 9

Charakteristisch ist, dass die belarussische Belarussistik die Translingualität der Literatur dieser Region Jahrzehnte lang ignorierte (und stellenweise immer noch ignoriert) und dabei oft Grundprinzipien philologischer Kultur missachtete; vgl. die Kritik von Nekrašėvič-Karotkaja (2017). So zitierte man (und zitiert immer noch) oft in diesen Arbeiten polnischsprachige Texte bzw. sogar polnischsprachige Stellen in bilingualen Texten in einer homogenen belarussischen Übersetzung; die diese Texte konstituirende Translingualität wurde ausgeklammert. Auch viele perspektivenreiche westliche Ansätze werden in den Arbeiten der belarussischen Belarussistik entweder eklektisch vereinfachend rezipiert oder völlig außer Acht gelassen, auch wenn sie – bei einer entsprechenden kritischen Übertragung auf die belarussischen Verhältnisse – viele spannende Befunde versprechen, sei

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in (meta-)sprachliche. Fungiert dabei das Polnische als Sprache etablierter literarischer und Leserparadigmen, so tritt das Belarussische als eine Mundart und Noch-Nicht-Sprache jenseits literarischer Implikationen auf. DuninMarcinkiewiczs Stück wird zum Generator einer Translingualitätsästhetik, die in den chiastischen Kategorien der ›literarischen Mündlichkeit‹ und ›mündlichen Literatur‹ (u.a. in der etymologischen Bedeutung der Literarität als orthographischer Fixiertheit und Schriftlichkeit, vgl. Levin 1960) oxymoral zum Vorschein kommt. Nimmt man stimmhafte Vor- und Ausführung (Vokalismus und Performanz-Interpretation) als Kriterien bzw. Bedingungen, welche die Problemkategorie der oralen Dichtung mittragen und konkretisieren (vgl. Zumthor 2010: 242-247), so kommt der Libretto-Lizenz bei den Verhandlungen von Oralität und Literarität eine besondere Rolle zu: Die graphische Wiedergabe des Dialekts wird dadurch begründet, dass der Text für die szenische Reproduktion bestimmt ist. Dunin-Marcinkiewiczs SIELANKA werden paratextuell-metalinguistische Bemerkungen und Anweisungen beigefügt, in denen instruktiv erläutert wird, wie die Leser, aber auch die künftigen Schauspieler und Sänger einzelne Laute des Belarussischen zu artikulieren und zu deklamieren haben.10

es – um exemplarisch bei dem Problemfeld der Translingualität zu bleiben – bei der Problematik der Polyphonie, Exophonie, Heteroglossie und sozialen Mehrsprachigkeit und Anderssprachigkeit (vgl. Kellmann 2000, Stockhammer/ Arndt/Naguschewski 2007; Bürger-Koftis/Schweiger/Vlasta 2010; Yildiz 2012) oder bei den postkolonial inspierierten Hinterfragungen der Di- und Polyglossie, Deformationen und Appropriationen der Metropolensprache oder bei den Konzepten des postkreolischen Kontinuums (vgl. Bickerton 1975, Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2003). 10 Mit der Verschriftlichung des ›Belarussischen‹ waren gewisse typographische Schwierigkeiten verbunden, die in den Autorenanweisungen kurz angesprochen wurden, wie z.B. das Fehlen des »у ze znamieniem« (»ý mit diakritischem Zeichen«, Dunin Marcinkiewicz 1846: 6) in den Druckfahnen. Im Gegensatz zur fixierten polnischen Betonung ist die belarussische frei, der Autor und die Druckerei mussten auf der Suche nach den Diakritika zur Wiedergabe der betonten Vokale improvisieren. Einen besonderen Block bildet eine umfangreiche Auflistung der Druckfehler am Ende des Buches: 25 Fälle auf 109 Seiten (vgl. ebd.: 111). Die meisten von ihnen betreffen die ›belarussischen‹ Abschnitte des Textes (Akanje-Fälle bzw. andere Fehler unter dem Einfluss der polnischen Grammatik

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Eine sprachhistorische und kulturgeschichtliche (Selbst-)Ironie dieser paratextuell ausgetragenen Spannungen im Dreieck ›Literarität – Oralität – Libretto‹ mag darin liegen, dass die Rechtschreibung des Belarussischen bis heute nach dem phonetischen Prinzip funktioniert. Das Belarussische bleibt in dieser Hinsicht eine Art Librettosprache, welche transliterationsorthographische Artikulationsanweisungen beinhaltet: für die Fremden und für die Eigenen, darunter auch für diejenigen, die es zwar für ihre (Ur-)Muttersprache halten, faktisch jedoch eine andere sprechen, in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Polnische, heute das Russische.

SPRICHWÖRTLICHE REPRODUZIERBARKEIT Dunin-Marcinkiewiczs Poetik des Dilettantismus sieht ein metapoetisches oder in den Text selbst integriertes Zugeständnis bzw. Bekenntnis zum Epigonentum vor. Auf der Genre-, Sujet- und Stilebene reproduziert die »Idylle« narrative bzw. dramaturgische Folien der polnischen Literatur und – ferner – ihrer europäischen Muster. Diese Sekundarität wird angeblich durch die innovative Translingualität deformiert, wobei der belarussischsprachige Teil des Stücks beansprucht, die (volkstümlich konnotierte) Originalität zu repräsentieren. Diese Verschiebung der Imitationsparadigmen wird jedoch als ein weiterer illusorischer Kniff desavouiert. Zur Metonymie der Volkssprache, die Dunin-Marcinkiewiczs Text widerzugeben glaubt (bzw. vorgibt), wird die Idiomatik. Als Hauptträger des Dialekts tritt ein komischer Protagonist mit dem sprechenden Namen Naum Pryhaworka (dt. Sprichwort) auf. Sein Name hebt sich dabei von den anderen sprechenden Namen des Stücks ab. So verweisen die Namen der polnischsprachigen Herren (»pany«) hauptsächlich auf den Charakter der Person. Der Kommissar Wykrętacz (vom polnischen »wykręcać się«: sich wegducken, rumdrucksen) versucht die ganze Zeit, seine Machenschaften zu vertuschen; Julias Vater, der Vormund Dobrowicz (vom polnischen »dobry«: gut, gutmütig) erweist sich als ein Mensch mit Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn; Herr Latalski (vom polnischen »latać«:

und Orthographie). Diese Liste illustriert die Unerfahrenheit der Drucker bei der Veröffentlichung von Texten in der ›einfachen Sprache‹.

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fliegen) ist ein leichtsinniger und träumerischer junger Mann, den eine plötzliche Verliebtheit ändern kann; sein Diener Gębacz (vom polnischen »gęba« – Maul und »gębacz« – Schwätzer) ist ein frecher Faseler, der seinem Herrn in allem zustimmt und dessen Rede konform paraphrasiert. Die belarussischsprachige Bauernautorität wird dagegen schlicht Cit genannt, der Schenkwirt heißt einfach Icek, was eine (pejorative) Bezeichnung für Juden ist. Unter den Protagonisten, die ›die einfache Sprache‹ sprechen, hat nur Naum Pryhaworka das Privileg, einen Nach- bzw. Spitznamen zu haben. Dabei verweist Naum Pryhaworkas Name nicht auf den Charakter der Person, sondern auf die Spezifik seiner Rede: Der Charakter des Bauern – Charakter auch im Sinne des ›character‹ als dramatischer Handlungsperson (personnage) – bleibt unbekannt und für jegliche Bestimmungen versperrt. Nicht die individuelle Autonomie des Helden, sondern seine idiomatisch entpersonalisierte Rede ist das einzige (Nicht-)Differenzierungsmerkmal:11 »Dóbra káże pryhaworka: i Bóha chwalí i czertá nia hniawí. Ale dość balákać, tréba i mnie zrabíć, jak tam Pany káżuć: dość tahó łajdáctwa, pójdziam u karczmú, da napiómsia harélki: bo sztoś duszy nie wiadziécca! Ale nie ma czahó kazáć, jenó czy wypiesz, czy nie, rabíć niechóczecca; czaławiek sztoś adwyk użé ad dziéła. Dóbra káże pryhaworka: nia piu, nia moh; a wypiu, ni ruk ni noh. (Odchodzi, nócąc) Znájesz Páńsku pryhawórku i t.d.« (Dunin Marcinkiewicz 1846: 22f.) »Gut sagt es das Sprichwort: Lobe Gott und ärgere den Teufel nicht. Aber genug des Geredes, ich muss auch mal etwas tun, wie sagen es die Herren: genug dieses Nichtstuns, gehen wir mal in die Schenke und besaufen wir uns mit Schnaps, weil die Seele nach etwas verlangt! Aber genug geredet, es ist doch egal, ob man was trinkt oder nicht, arbeiten will man trotzdem nicht; der Mensch hat sich das Tun abgewöhnt. Gut sagt es das Sprichwort: Ohne Alkohol kann man nicht arbeiten; aber betrunken umso weniger. (Er geht weg und summt). Kennst du das Sprichwort der Herren? usw.«12

11 Der Gebrauch von Bauernmaximen in der Idylle – diese Praxis geht auf den Begründer der polnischen Idylle Szymon Szymonowic zurück – wurde bereits beim ersten großen polnischen Idyllentheoretiker, Kazimierz Brodziński, hervorgehoben (vgl. Brodziński 1966: 369). 12 Soweit nicht anders vermerkt, stammt die Übersetzung von der Verfasserin.

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Die Reden des Gemeindevorstehers bzw. Dorfältesten (»wójt«) Pryhaworka, dieses Proverbums in Person, werden lediglich als mechanisierte assoziative An- und Aufeinaderreihungen einander generierender Sprichwörter und Sinnsprüche, in Prosa und gereimt, aufgebaut. Ein solches Sprechen, das indirekt die symbolische Figur der Volksweisheit verkörpert und sie zugleich parodiert, schließt jegliche Möglichkeit eines individuellen Sprechens aus. Die Auffädelung proverbialer Formeln wird mit der ›Bühnenanweisung‹ »usw.« (»i t.d.«) versehen: Der assoziative Strom des parömischen Sprechens funktioniert im Autopilotmodus, lässt jedoch einen Spielraum für mögliche Variationen und Improvisationen (des Schauspielers): Dem Regisseur bzw. Schauspieler wird es überlassen oder angeboten, das proverbiale Repertoire Pryhaworkas zu ändern oder zu ergänzen. Dieses Repertoire ist unendlich, und das ist das Problem: Im zitierten Abschnitt artikuliert die parömische Rede Pryhaworkas seine eigene Abhängigkeit von der Idiomatik. Der Wójt unterbricht seinen proverbialen Monolog als Gequatsche und Muße (»dość balákać«, »dość tahó łajdáctwa«). Den Selbstlauf der Sprichwörter will er paradoxerweise mit einem anderen Strom von Proverbien stoppen. Dabei versucht Pryhaworka in seinen parömischen Improvisationen (was ein Oxymoron für sich darstellt) die Illusion zu wecken, dass er sein eigenes (leeres) Sprechen in Sprichwörtern bestreitet und überdenkt. Zwei Sätze von insgesamt vier beginnen in der zitierten Passage mit dem adversativen »aber« (»ale«), anschließend kommt es jedoch zu keiner Revision oder Distanzierung; die vorgespielte Adversivität erweist sich als eine kopulative Konjunktion, als ein weiteres Glied in der sich metonymisch re- und degenerierenden Verkettung von Idiomen. Am Ende einer solchen zum Scheitern verurteilten Autodekonstruktion kommen einfach weitere Sprichwörter. Sprichwörter als Träger einer per definitionem autoritativen Rede lassen keine anderen metasprachlichen Autoritäten zu. Pryhaworkas Sprechen entfaltet sich in den engen Grenzen einer parömischen Collage. Er kann nicht aus dem Teufelskreis der proverbialen (Schein-)Kommunikation ausbrechen und wird dafür seitens anderer Protagonisten ironisiert und kritisiert. Immer wieder wird Pryhaworka unterbrochen, wie z.B. vom Bauern Cit in der Schenke: »Atczapísia Naúm! ty użé swaími prymaukami da pryhaworkami usím abryd« (»Lass das, Naum! Alle haben schon deine Sinnsprüche und Sprichwörter satt«, ebd.: 14). Können die Subalternen sprechen? Das ist eine rhetorische Frage: Das notorische Per-

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petuum mobile der Idiomatik unterminiert Dunin-Marcinkiewiczs deklarierten Versuch, dem Subalternen das (literarische) Mitspracherecht zu geben. Die Tautologizität parömischen Sprechens lässt jegliche souveräne Stimme, jegliche ›lebendige Sprache‹ nicht zu. Die Bauernrede reduziert sich fast ausschließlich auf das kontextbedingte Komponieren von Idiomatik, sie ist zur zitierenden Reproduktion – auch in Walter Benjamins (1980) Verständnis der Reproduzierbarkeit – von vorgefertigten semantischen Formeln verdammt, die einem (Nicht-)Sprechenden die Illusion eines autoritativen Sprechaktes geben. Cits Einwand gegen Pryhaworka ist dabei ein für das Drama seltener, jedoch wichtiger Versuch, das Problem der idiomatischen Rede bzw. deren Wiedergabe als authentische Sprache des Volkes zu markieren. Auch die komisch wirkende Anhäufung von einander kontinuierenden, aber auch unterbrechenden Sprichwörtern in Pryhaworkas Rede signalisiert deren selbstdekonstruktives Potenzial. In Dunin-Marcinkiewiczs Drama wird die mit der (de-)stabilisierenden Selbstironie angekündigte ›Idylle‹ experimenteller Translingualität inszeniert, jedoch im selben Zug ihrer Inszeniertheit vorgeführt.

REDE-WENDUNGEN. DIALEKTOLOGIE DER PARÖMIEN In den reziprok-chiastischen Ironisierungen einer Idylle der Idiomatik und idiomatischer Idylle hat man mit Verhandlungen von ›Idiom‹ in zweifacher Bedeutung dieses Wortes zu tun: Idiom als feste, in ihrer hermetischen Formel- und Zitathaftigkeit funktionierende Redewendung, und Idiom als spezifische Mundart und Dialekt. Das von Dunin-Marcinkiewicz präferierte Verfahren zur (Re-)Präsentation des Idioms (des Belarussischen) durch Idiome (phraseologische Wendungen und Proverbien) folgt zum Teil den damaligen, im folkloristisch-ethnographischen Diskurs herausgearbeiteten Praktiken des Aufschreibens der Mündlichkeit. Die orale Rede wird auf parömische Präfabrikate reduziert und konserviert. Das Aufzeigen des Improvisationspotenzials der ›einfachen Sprache‹ beschränkt sich dabei auf die (ironisch wirkende) Demonstration des angeblichen quantitativen und qualitativen Reichtums der folkloristisch konzipierten Idiomatik. Das in Idiomen lebende belarussische Idiom ist somit nur eine Sprachmaske, die repetitiv

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fremde bzw. angeblich eigene Rede zitiert und wiedergibt, eine Maske, hinter der sich allerdings kein (Gesichts-)Ausdruck verbirgt, und hier korrespondiert die Maskeninszenierung der einfachen Sprache mit dem Inszenierungssujet des Dramas selbst. Die so aufgefasste Idiomatik ist zugleich Metaidiomatik. Zum häufigsten Bindeausdruck und rhetorischen Motor von Naum Pryhaworkas Rede gehören Meta- und Kon-Proverbien wie »Dóbra káże pryhaworka« (»Gut sagt es das Sprichwort«), jedoch auch »Znájesz Páńsku pryhawórku« (»Kennst du das Sprichwort der Herren«, Dunin Marcinkiewicz 1846: 23). Sogar in der idiomatischen Sprache des Folklore-Repetitivs verweist die Bauernrede auf die Erfahrungen und Autorität der Herrensprache und steigert somit den Wert der Aussage (in den Augen anderer Bauern). Außerdem glaubt Pryhaworka dabei, durch seine marginale metaidiomatische Redewendungen das symbolische Recht zu erlangen bzw. bereits zu besitzen, an der Sprache der Herren – am ›Haupttext‹ – zu partizipieren (zumindest in den eigenen Augen). Andererseits wird die parömische Rede des Subalternen von DuninMarcinkiewicz, einem (Guts-)Herrn, ›zitiert‹; sie repräsentiert somit die Vorstellungen des Hegemonen, des Herrn Schriftstellers, über die Sprache des Subalternen. Dieses verwickelte chiastische Konstrukt reziprok-rekursiver sprachlich-diskursiver Autoritäten avanciert zu einer Metafigur, die den Versuch, in der ›einfachen Sprache‹ zu schreiben bzw. sie zu verschriftlichen, selbstironisch unterminiert. Dabei markiert die (Sprach-)Person Pryhaworkas zum einen das Problem der literarischen Insuffizienz des Dialektalen. Zum anderen ist Pryhaworka (und das Sprichwort) die Identifikationsfigur des Autors selbst. Ähnlich dem, wie Pryhaworka unfähig bleibt, lebendigen Text zu produzieren und auf die Zitatautorität der Parömien angewiesen ist, ist Dunin-Marcinkiewicz nicht im Stande, Charaktere im Belarussischen zu kreieren, und ist letztendlich darauf beschränkt, bereits existente phraseologische Kombinationen einer ethnographisch-folkloristisch konzipierten Volkssprache zu zitieren. In SIELANKA wird Naum Pryhaworka zum Träger des Belarussischen nominiert, der in seiner Funktion als Gemeindevorsteher bzw. -sprecher zur Mittlerfigur zwischen diversen sozialen bzw. soziolingualen Ständen mit ihren jeweiligen Interessen avanciert und dabei seine idiomatisch maskierte mimikry- und chamäleonhafte (Meta-)Rede einsetzt. Ein Beispiel für den Einsatz dieser Konnotationen und Funktionen der Idiomatik stellt Pryhaworkas verbales Verhalten während des Streits zwischen dem Juden Icek und

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dem Bauern Cit dar, bei dem der Schenkwirt von Cit verlangt, seine Trinkschulden zu bezahlen. Pryhaworka nimmt an der Auseinandersetzung teil und vertritt mal die eine, mal die andere Seite: »Icek. / Nu Cit! cy majes hrosy? Naum. / Kalí májesz hrószy, to nia búdziesz bósy. Icek. / Oj! moj ty Naúmka! i ja skażú prymouku: muzyk pijéć, jak u léjku lijéć; a jak prydziacca placíć, to jak dúrań majcyć. Cy hétak dóbra? Naum. / Niemá czahó kazáć, Pánie Alendáru! rynuu slaucóm jak piarcóm; a szto napíszesz piarcóm, to nia wyrubisz taparcóm.« (Ebd.: 12) »Icek. / Nun, Cit, Hast du Geld? / Naum: / Wer Geld hat, läuft nicht barfuß. / Icek. / Oj! Mein lieber Naum! Auch ich sage ein Sprichwort: Der Bauer trinkt wie aus einer Gießkanne; wenn man aber zahlen muss, dann schweigt der Dummkopf. Ist das gut? / Naum. / Nichts hinzuzufügen, Herr Alendar! Dein Wort ist scharf wie Pfeffer; und was mit Pfeffer geschrieben ist, das kann man mit keiner Axt weghacken.«

Durch den Gebrauch der Mim- und Maskensprache der Idiomatik gewinnt Icek Pryhaworkas Gunst. Dabei wird das ›Belarussische‹ des schlauen Schenkwirts Icek, der die Bauern zu Alkoholikern und ewigen Schuldnern macht, zusätzlich durch Iceks Jiddisch bedingte ›Artikulationsdefekte‹ verfremdet, die ebenfalls verschriftlicht werden (statt »hrószy« – »hrosy«; statt »mużyk« – »muzyk«; statt »majczyć« – »majcyć« usw.). Icek tritt hier als doppelter Subalterner (und entsprechend mit doppelter Mimikry) auf: Er spricht Belarussisch und nicht das Polnische der Herren, und er spricht es mit einem spürbaren Akzent.13 Es ist heute schwer rekonstruierbar, wie das damalige Publikum die ›einfache Sprache‹ rezipierte, ob sie komisch-exotische Effekte hervorrief

13 Die Fremdheit Iceks für die Bauern illustriert dessen Parallelisierung mit den (polnischen) Herren. So verwendet der Bauer Cit die Metapher des Blutsaugers sowohl für die Gutsherren als auch für Icek: »Jákże nam [mużykam] być szczyrymi, kalí jany [pany] z pad nóhcia krou nam wysysájuć« (»Wie sollen wir [die Bauern] anständig sein, wenn sie [die Herren] uns das Blut aus den Nägeln saugen«, Dunin Marcinkiewicz 1846: 11) und in derselben Szene über Icek: »Ty jak pijáuka usiúb krou z nas wyssau!« (»Du würdest gern wie ein Blutegel unser ganzes Blut aussaugen!«, ebd.: 13).

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und/oder als etwas Bekanntes empfunden wurde, was durch die Text- und Bühnenverfremdung an ästhetischer Originalität und Autonomie nur gewann. In jedem Fall wäre ein solches Erkennen zugleich eine Anerkennung, sei es die Anerkennung der Selbstständigkeit des ›Belarussischen‹ oder die seiner literarischen Effizienz. Dunin-Marcinkiewicz hatte zumindest keine Berührungsängste mit dem ›Belarussischen‹, wenn er sich schon entschloss, es zusätzlich, in Iceks Rede, zu deformieren. Bezeichnend ist, dass die artikulatorisch defizitären Repliken Iceks am Anfang von SIELANKA erscheinen. Gleich zum Auftakt des Dramas führt Dunin-Marcinkiewicz ›präventiv‹ die Figur einer verzerrten Sprache ein: nicht zuletzt als Blitzableiter der Komik. Das kann nicht lustig sein, wenn es selbst parodiert wird. Das Faktum der Parodie bestätigt die Souveränität des parodierten Originals und hebt die Aureole des Komischen auf. Die Legitimation der Literarizität des ›Belarussischen‹ via Parodie korrespondiert dabei mit dem Performativ der parömischen Sprache Pryhaworkas. Zwar artikulieren die Proverbien in SIELANKA das Defizitäre der ›Mundart‹, aber allein die Einführung der ›unmündigen Mundart‹ in die theatralische (Sprech-)Handlung verwandelt einen Sprechakt in einen dramatischen und somit ästhetisch autonomen. Nach seiner idiomatischen Improvisation fragt Icek Pryhaworka, ob sie gut sei. Iceks Frage bezieht sich sowohl auf die zu verhandelnde Angelegenheit (ob es gut ist, die Schulden nicht zu bezahlen) als auch auf seinen Gebrauch der Idiomatik etwa in der Bedeutung ›Habe ich es gut gesagt?‹ bzw. ›Habe ich die Idiome gut verwendet?‹. Pryhaworka antwortet halbbejahend und halbausweichend, betont jedoch in jedem Fall die Macht der idiomatischen Formelhaftigkeit und freut sich indirekt über Iceks Teilnahme am parömischen Sprechen.14 Dabei lobt das ›Sprichwort‹ (Pryhaworkas) sich selbst für seine Präzision und Schärfe

14 Dem Juden Icek wird in der sozialen Landschaft der SIELANKA die tradierte und antisemitisch gefärbte Rolle des Wirts und Verkäufers zugeschrieben. Er ist sowohl aus der Idylle ausgeschlossen als auch darin eingeschrieben. Zum einen tritt er angeblich als ein böser Außenseiter auf, der die Trinksucht der Bauern ausnutzt und vorantreibt. Zum anderen sind jedoch die Szenen in der jüdischen Schenke wohl die authentischsten. Genau hier, in der Schenke, im neutralen Reflexionsraum werden Diktionen und Dialoge generiert, in denen der dörfliche Alltag nicht als inszenierte Idylle, sondern als Knotenpunkt akuter sozialer Probleme kritisiert wird.

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und akzentuiert die Egalität seiner Autorität mit jener des schriftlichen Wortes. Das ›volkssprachliche‹ Idiom wird zur Substitution der legislativen Schriftsprache (der Herren). Die Dunin-Marcinkiewiczs Text konstituierenden Rekursionen spitzen sich hier zu: Die idiomatische Mündlichkeit Pryhaworkas, die sich performativ mit der Schriftsprache gleichsetzt, wird im schriftlichen Text des Dramas selbst fixiert. Das Verschriftlichte, Textualisierte, Veröffentlichte bekommt den Status eines dokumentierten (literarischen) Faktums. Die spielerischen Kollisionen beider Sprachen agieren mal als Sujetvehikel, mal als Motivierung komischer Situationen; zusammen mit der den Text konstituierenden maskierten (Meta-)Idiomatik fixieren und parodieren sie die ästhetisch-begriffliche Problemhaftigkeit der Kategorie der »mündlichen Literatur« und arbeiten deren unproduktive, aber reproduzierbare Paradoxien ab.15

STANDES- UND STANDARDSPRACHE Während Naum Pryhaworka eine sprechende und schweigende Metatrope der ›einfachen Sprache‹ dar- und vorstellt (und zwar hier auch in der theatralischen Bedeutung des Wortes ›Vorstellung‹), so führt die Hauptheldin von SIELANKA Julia-Johasia Figurationen idyllischer Diglossie vor. Das ›Fräulein Bäuerin‹ kann glänzend sowohl Belarussisch als auch Polnisch sprechen. Sie veranstaltet eine Inszenierungsaktion mit Standes- und Sprachverkleidungen, dabei steht ihre sprachliche Camouflage in Opposition und zugleich in einer Kontiguitätsrelation zu Naum Pryhaworkas parömischem Chamäleontum. Beide verbindet das mimikry-karnevaleske Modell einer Maskerade,

15 Es sei an dieser Stelle dahin gestellt, ob die proverbiale Zitation einer an sich zitathaften Volksrede ihrerseits einen Verzicht auf die Autorschaft zugunsten der Autorität der ›Volksweisheit‹ voraussetzt, die jedoch, reduziert auf die Präfabrikate der Idiomatik, In- und Kohärenzen mit der dilettantisch-epigonalen Imitationsmimetik aufweist. Eine Problematisierung der dilettantisch konnotierten bzw. konstituierten Sekundarität und Reproduzierbarkeit wirft die Frage auf, inwiefern die polysemantisch und metalingual aufgeladene Kategorie des Idioms – als Phraseologismus und als Mundart – zur inneren Metafigur der dilettantischen Mimetik wird, dank welcher der Dilettantismus die Paradoxie eines autoritativen Epigonentums behauptet.

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das metapoetisch auch das ganze Diglossie-Projekt Dunin-Marcinkiewiczs dekonstruiert. In den Dialogen mit der bilingualen Julia wird die für die Mitte des 19. Jahrhunderts zentrale Standesproblematik mit der sprachlichen amalgamiert sowie die Effizienz dieser Amalgamierung verhandelt. In der Х. Szene bemerkt Naum Pryhaworka, nachdem er hört, dass Julia (Johasia) auch perfekt Polnisch spricht: »[D]ak wásza i pa pańsku umiéjesz szczebietáć. […] wászaja daczká snać [sic] pánskaho chówu« (»Ihre Tochter kann ja auch in der Herrensprache [bzw. auf Polnisch] zwitschern! Ihre Tochter hatte wohl die Ausbildung einer Adligen«, ebd.: 34). Die Definition »pa pańsku« (»in der Herrensprache«) verweist auf die Konzipierung und Wahrnehmung des Polnischen als eines Soziolekts, als Sprache eines anderen, höheren Standes. Das Beherrschen dieser Standes- und Standardsprache wird als ein Signal der Zugehörigkeit zur Szlachta (zum Landadel) oder zumindest zur Adelserziehung verstanden. Eine ähnliche Reaktion auf das Polnische eines ›einfachen Mädchens‹ hat auch Herr Latalski. Neben den Ähnlichkeiten zu Pryhaworkas Wahrnehmung von Julias Polnisch sind hier jedoch vor allem Differenzen von Bedeutung: »Lecz, jak uważam, płynnie dość mówisz po polsku, i nawet nieźle się tłómaczysz« (»Aber, wie ich merke, sprichst du ziemlich fließend Polnisch und kannst dich sogar nicht schlecht ausdrücken«, ebd.: 43). Aus der Sicht des Adels, für den Karol Latalski steht, ist dessen eigene Sprache »Polnisch« (»po polsku«): Das »Belarussisch« sprechende Volk ist aus einer imaginierten Polonität eigentlich ausgeschlossen. Julias Sozio-Bilingualität bringt dem polnischen (Szlachta-)Zuschauer des Dramas das Vergnügen, ja die Schaulust am ›Belarussischen‹ bei, die ›Volkssprache‹ wird attraktiv und ästhetisierungstauglich gemacht, und zwar nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen (und hinter Julias Maskerade steht Pragmatik): Für die Gutsherren ist es vorteilhaft, die Mundart, das Idiom des für den Adel nützlichen und für seine Existenz unabdingbaren Bauerntums zu verstehen und zu achten. Metapoetisch wirkt Julias Projekt als Versuch einer bi- bzw. translingualen Interaktion zwischen der polnischen literarischen Sprache und der indigenen ›Volkssprache‹. Es repräsentiert den ersten ernsthaften Versuch des Polnisch sprechenden, lesenden und schreibenden Adels, das noch nicht direkt beim Namen genannte ›Belarussische‹ zu literarisieren, und zwar nicht nur als Sprache folkloristischer Parömien (wie bei Naum Pryhaworka), sondern auch als lebendige lakonische Rede aus dem Munde einer Adligen. Die intendierte oder unwillkürliche (Selbst-)Ironie, die

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Dunin-Marcinkiewiczs Libretto auf mehreren Textebenen durchdringt, besteht allerdings genau darin, dass Julia ihr ›Belarussisch‹ eigentlich nur in der Konversation mit Naum Pryhaworka spricht bzw. übt; mit den Herren spricht sie ja gerade Polnisch, um ihnen das Wunder der bilingualen Loyalität des Bauerntums zu kommunizieren. Julias ›Belarussisch‹ ist aber sujetgemäß instrumental, es ist ein Täuschungsmanöver, mit dem sie (und mit ihr die Szlachta) das Bauerntum motivieren will, am Szlachta-Projekt zur Modifikation der sozial-ästhetischen Identität des Adels teilzunehmen. Auch hier tritt Julia neben ihrer sprachlichen Doppel- und Metarolle als Dunin-Marcinkiewiczs Doppelgängerin auf, und zwar im (meta-)dramatischen Sinne: Sie denkt sich die ganze innere theatralische Inszenierung der Idylle aus, sie ist die Drehbuchautorin, Regisseurin und Hauptdarstellerin in ihrem Spektakel. Über die Absichten ihrer Performanz äußert sie sich unmissverständlich in der VIII. Szene im Gespräch mit ihrem Vater (Dobrowicz), den eher regional-patriotische Sorgen plagen: »Dobrowicz. / Skażonych obyczajów człowiek wszystkiemu przygania, co tylko z Francyi nie pochodzi; kmiotków zaś gorszej od bydląt uważa i ma ich w pogardzie. […] Julia. / Zobaczysz, mój ojcze, że uda mi się zwycięztwo; i sławniejsze będzie, bo pod postacią jednej wieśniaczki, z tej kasty ludzi, którą on gardzi, owładnę go sobie. […] Dobrowicz. / Obyś zdołała wybić mu z glowy tę frankomanię, a przywiązać go do rodzinnego kraju!« (Ebd.: 28-30) »Dobrowicz. / Ein Mensch verdorbener Sitten schimpft auf alles, was nicht aus Frankreich kommt, und hält die Landleute [Bauern] für schlimmer als Vieh und verachtet sie. […] Julia. / Mein Vater, du wirst sehen, dass ich den Sieg erringe; und es ist besser, wenn ich ihn in der Gestalt einer Bäuerin, aus der Menschenkaste, die er verabscheut, gewinne. […] Dobrowicz. / Hauptsache ist, dass du ihm seine Frankomanie aus dem Kopfe treibst und ihn an sein Heimatland bindest!«

Julia benutzt die Attrappe der Idylle, um ihre persönlichen Interessen zu verwirklichen, ihr Vater Dobrowicz – ein weiteres Alter Ego DuninMarcinkiewiczs – sieht in der ganzen Inszenierung vor allem eine Chance für sein primär ideologisches, kollektive Identität stiftendes Anliegen: die

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Wiedergewinnung des Adels für dessen regionale Identifikation. Beide Ansätze komplementieren einander. Karols Einstellung, alles zu verachten, was nicht französisch sei, verlangt nach einem effektvollen verfremdenden Szenario. Die ästhetische Komponente steht im Vordergrund: Karol ist das Landleben zu »langweilig« (»nudn[y]«, ebd.: 26). Um die Langeweile des Gewohnten und Bekannten zu verfremden und es somit wieder ästhetisch spannend zu machen, soll eine Schau, ein Schauspiel veranstaltet werden: eine didaktische und unterhaltsame Performanz-Persuasion. Zur ästhetischideologischen Alternative des von Karol idealisierten Frankreich, das hier für die selbstexotisierende Selbsteuropäisierung steht, wird das idyllische heimatliche Dorfleben, das von Julia im wahrsten Sinne personifiziert – ›verkörpert‹ – wird. Nur sie ist das romantisch-aufklärerische Ideal. Die metapoetische Botschaft dieser Moral liegt ebenfalls auf der Hand: Um das eigene literarische Selbst zu finden, braucht man nicht blind und epigonal europäische Muster zu übernhemen: Die echte Europäisierung ist ein einheimisches Projekt. Die Genderfigurationen konstituieren dabei die konfliktären Identitätsund Zivilisationsverhandlungen. Ein Beispiel dafür sind Überlegungen Karols gegenüber seinem Diener Jan Gębacz während einer (ästhetischen) Promenade bzw. gleichzeitig (ökonomischen) Begehung des Landguts (hier werden Ästhetik und Ökonomie wieder eins): »Karol. / Dla czegoż kraj nasz dotąd jeszcze nie może nabrać tej cywilizacyi, jaką się Francya odznacza? […] Tam każda, by najprostsza wieśniaczka oświeceńsza jest od tutejszej jakiejś tam obywatelki. O Francyo! Francyo!« (Ebd.: 36, 38) »Karol. / Warum kann unser Land immer noch nicht die Zivilisation annehmen, die Frankreich auszeichnet? […] Dort ist die einfachste Bäuerin aufgeklärter als eine hiesige Bürgerin. Oh Frankreich! Frankreich!«

Nach der Verurteilung des Dorfes geht Karol sofort zur Kritik der einheimischen Bäuerinnen über, die für den jungen (Pseudo-)Franzosen zu genderkonnotierten Figurationen des Rural-Provinziellen werden. Ungebildete

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Dorfmädchen können nicht mit den zivilisierten französischen konkurrieren.16 Das Dorf (»wieś«) ist im Polnischen weiblich: Die Grammatik favorisiert und forciert die gegenseitige, rekursive und chiastische (sexistische) Feminisierung des Ruralen und die Ruralisierung des Femininen. Die Maskerade des Fräulein Bäuerin Julia hält diese Genderimplikationen geschickt aufrecht, will jedoch ihre Semantik zu ihren Gunsten ins Positive verkehren.

POTEMKINSCHE POLYSEMIEN DER IDYLLE Diese Personifikation des Provinziell-Dörflichen mag an die bilinguale Polysemie des Dramentitels appellieren: SIELANKA bedeutet im Polnischen ›Idylle‹ und im Belarussischen bzw. Regional-Altpolnischen ›Dorfbewohnerin‹ mit ihren Konnotationen der Volksmuse der Idylle. 17 Die Polysemie der Genrebezeichnung ist im Rahmen des zweisprachigen Experiments DuninMarcinkiewiczs von großer Relevanz. Der zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Polnischen veraltete Regionalismus ›sielanka‹ taucht im Stück zwar nicht selbst auf, das Wort ›sieło‹ (»Dorf«) erscheint jedoch gleich im ersten »belarussischen« Bauerndialog (vgl. ebd.: 8). Die Bezeichnung »sielanka« funktioniert im Kontext des Dramas neben der primären Bedeutung als Idylle auch in der Bedeutung einer gebildeten und aufgeklärten, intelligenten und schönen Bäuerin, die mit den Französinnen mithalten kann. Zugleich ist die aufgeklärte, zivilisierte Bäuerin Synonym und rekursive Metonymie der zivilisierten Idylle selbst. Im Lichte des Inszenierungs- und Täuschungssujets des Dramas ist »sielanka« jedoch wiederum ein Signifikant ohne Signifikat, Nachahmung des nicht vorhandenen Originals, Paratext ohne Text, ein Idiom, das die Absenz der Sprache entdeckt und verdeckt: Die Idylle ist programmatisch keine reale, sondern ideale und ideelle Referenz.

16 Julia bezeichnet die Realisierung ihres Vorhabens als »Kampf« (»walka«, Dunin Marcinkiewicz 1846: 27). Vgl. auch zahlreiche Repliken von Karol Latalski und Jan Gębacz über die Bäuerin Julia, die in Sachen Manieren und Schönheit in jedem Pariser Salon bestehen würde (ebd.: 44). 17 Vgl. Henryk Życzyńskis (1934: 224) und Heinrich Kirschbaums (2017: 229-231) Überlegungen zur Genealogie des Wortes ›sielanka‹ als ›Idylle‹ als Analogiebildung zu ›sielanka‹ als ›Bäuerin‹.

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Das ›Antiidyllische‹ der vorhandenen Verhältnisse wird im Drama immer wieder artikuliert: Karols Invektiven gegen die Unkultiviertheit und Langeweile der regionalen sozialen und natürlichen Landschaft werden von den Aussagen seines Dieners Jan untermauert, der dortige Schenken als echte Ställe (»czyste chlewy«) bezeichnet. Ihnen werden die französischen Osterien [sic!] gegenüber gestellt, die wie Paläste (»jak pałac«) aussähen (ebd.: 36). Seine Rede zur Degradierung des Dorfes untermauert er mit einem vernichtenden Lied: »Pjany kmieć pod ławą leży, W zbłoconej, zdartej odzieży; Żona jego jeszcze czuwa, … Dziecko jadem z pierś zatruwa – Owoż obraz tej gawiedzi.« (Ebd.: 37) »Der besoffene Bauer liegt unter der Bank, / Im schmutzigen, zerrissenen Kleid; / Seine Frau ist noch bei Bewusstsein, / […] Sie vergiftet ihr Kind mit dem Gift aus ihrer Brust – / Das ist das Bild dieses Packs.«

Das Lied des Standesrenegaten (und noch eines Chamäleons des Dramas) Jan Gębacz, der an der Selbsteuropäisierung seines Herrn partizipiert und sich vom »Pack« der Bauern distanziert, verdammt die Verderbtheit und Trunksucht der Landbevölkerung. Seine Urteile korrespondieren semantisch mit jenen in der humoristisch-satirischen Szene in der Schenke, wenn der Bauer Cit und der Dorfschulze Pryhaworka mit dem Schenkwirt über die Alkoholschulden sprechen, wobei es auch zu einer Verteidigung des Alkoholismus als Verzweiflungsgeste des vernachlässigten Bauerntums kommt. Von diversen Personen des Dramas werden akute soziale Probleme der Bauern angesprochen. Das reale Dorf, präsentiert in der angeblich belanglosen Vaudeville-Form, ist weit von der Idylle entfernt: Es ist bevölkert mit misstrauischen, die Arbeit sabotierenden und trinkenden Bauern einerseits und mit Kommissaren, die sowohl die Bauern als auch den Adel bestehlen, andererseits; der Adel selbst will nichts davon wissen und amüsiert sich im aufgeklärten Paris.

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Der Titel von Dunin-Marcinkiewiczs Stück legt im Laufe der Handlung immer mehr nicht nur sein kritisches, sondern auch autosubversives Deutungspotenzial offen. Julia baut für Karol ein potemkinsches Dorf auf: die feierliche Begrüßung des heimgekehrten Herrn seitens seiner glücklichen Untertanen. Sorgfältig plant sie ihre erste ›zufällige‹ Begegnung mit Karol: Dabei muss er zusehen, wie sie, in Bauernkleidung, Blumen pflückt, die die dankbare Bäuerin dann dem Wohltäter-Gutsherrn schenken möchte (ebd.: 29f.). Julia bittet den Vater, das Dorf so herzurichten und vorzubereiten, dass es in einem Superlativ erscheint: Bauern sollen ihren Herrn mit dem aufrichtigsten, offensten und freundlichsten Herzen empfangen (»najszczérszém, najotwartszém i najprzychylniejszém sercem«, ebd.: 29). Die ganze XV. Szene des ersten Akts ist der festlichen Rückkehr Latalskis in das Heimatdorf gewidmet: Bauern und Dienstpersonal, aufgestellt auf dem Hofplatz, empfangen ihn mit Begrüßungsliedern, zum jungen Herrn laufen zwei kleine Mädchen und streuen Blumen (vgl. ebd.: 49). Nach den gegenseitigen Freudebekenntnissen und der Entgegennahme der bäuerlichen Gaben gehen alle zusammen – Bauern, Dienstleute und Adlige – eine unmissverständlich an den Schluss des Mickiewicz’schen PAN TADEUSZ erinnernde Polonaise tanzen.18

18 Diverse Funktionen der Mickiewicz-Intertextualität in Dunin-Marcinkiewiczs Werk können an dieser Stelle nicht besprochen werden. Viele direkte und indirekte Mickiewicz-Reminiszenzen sind bereits bei Józef Gołąbek (1932) markiert. Die 1932 erschienene Dunin-Marcinkiewicz-Monographie von Gołąbek (1932) restauriert sorgfältig das Mosaik ethnographisch-folkloristischer Diskurse in und über Belarus in der Mitte des 19. Jahrhunderts, um anschließend Dunin-Marcinkiewiczs Werk darin zu kontextualisieren (Gołąbek 1932: 5-31, 42-96). Gołąbek sind ebenfalls primäre Systematisierungen polnisch- und belarussischsprachiger Texte Dunin-Marcinkiewiczs zu verdanken. Außerdem skizziert Gołąbek potenzielle Problematisierungen von Dunin-Marcinkiewiczs Poetik und weist dabei auf deren epigonal-intertextuelle Komponente, vor allem in Bezug auf dessen Mickiewicz-Anspielungen, hin (ebd.: 97-110). In derselben Zeit führt Stanisław Stankiewicz (1933, 1936) den Begriff der »belarussischen Schule« (»szkoła białoruska«) in Analogie zur Selbstbezeichnung der so genannten »ukrainischen Schule« (»szkoła ukraińska«) der polnischen Romantik der 1820–1840-er Jahre ein. Der Krieg unterbricht die Arbeit an diesen faktographisch interessierten, je-

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Allein Naum Pryhaworka macht zwar mit, kommentiert jedoch diese Inszenierung der Liebe und Harmonie mit einem ironischen Sprichwort: »Dóbra pryhaworka káże: / Wielíć pan, to skaczy wráże« (»Gut sagt es das Sprichwort: / Hat der Herr befohlen, dann springt selbst der Teufel«, ebd.: 57). Die Skepsis des Bauerntums gegenüber den vorgespielten Annäherungen zwischen Landadel und Volk wird sprichwörtlich. Pryhaworkas pfiffige Parömienmontage demontiert, entlarvt und führt die Idylle-Aufführung vor. Und in diesem Verfahren ist Dunin-Marcinkiewicz wieder (selbst-)ironisch gegenüber seinem eigenen literarisch-aufklärerischen Vorhaben der Inszenierung der ›Idylle‹ (und der »Idylle«) in einem (Zwangs-)Bauerntheater. Die Demonstration der Idylle (seitens Julias oder Dunin-Marcinkiewiczs) will nicht Karol (den polnischen Adel) täuschen und das Landgut als idyllisch präsentieren, sondern vielmehr im Konjunktiv der sozio-lingualen Situationskomödie das idyllische Potenzial des Rural-Regionalen rehabilitieren und zeigen, wie das Dorf und das Landleben sein könnten, wenn der junge Adel nur sein »Frankreich« aufgeben und sich dem Heimatland widmen würde. Metapoetisch betrifft es auch die polnische (Adels-)Literatur selbst: Sie soll ihre Identitäten, Sujets und Narrationen nicht in ewiger und lächerlicher Sekundarität zu westlichen Modellen entwerfen, sondern allem

doch nicht ideologisierten Zugängen zur Literatur der Region, und es hat gedauert, bis die Polonistik in den 1990er Jahren Stankiewiczs Konzept wieder aufgriff, und zwar in Person von Mieczysław Jackiewicz (1996) und Maria Janion (2001). Die Autoren der so genannten »belarussischen Schule« werden dann immer wieder zum Gegenstand polonistischer Romantik-Forschung zur ›regionalen Literatur‹ (›literatura krajowa‹, vgl. Janion/Maciejewski/Gumkowski 1992) bzw. zur – begrifflich viel problematischeren – ›Literatur der Grenzgebiete‹ (›literatura kresowa‹, Hadaczek 2011: 93-159). Es entstehen ebenfalls faktographisch orientierte Arbeiten zur polnischsprachigen Folkloristik der Region (vgl. Olechnowicz 1986) sowie zum Literaturbetrieb Minsks dieser Epoche (vgl. Zienkiewicz 1997). Die deutsche Belarussistik, konzentriert in Oldenburg, arbeitet in der jüngsten Zeit produktiv an den Problemen der belarussischen Literaturgeschichte im Kontext der Ansätze zu den ›kleinen slavischen Literaturen‹ (vgl. Kohler/Navumenka 2012, Kohler/Navumenka/Grüttemeier 2012). Das Desiderat ›belarussische Literatur‹ ist somit als solches markiert. Der vorliegende Artikel hofft, einen Beitrag zur auf der Agenda der westlichen Slavistik stehenden Neuerschließung der Literatur dieser Region zu leisten.

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voran die ästhetischen Ressourcen des Heimatlich-Ländlichen schätzen und nutzen lernen, zu dem auch die polnisch-belarussische soziale und linguale Diglossie harmonisch gehört.

PHANTOME UND HETERONYME DES DILETTANTISMUS Die in Dunin-Marcinkiewiczs Vaudeville entworfene polnisch-belarussische Idylle hatte eine Performanz-Coda. Am 25. Oktober 1856 spielte sich in Minsk eine bemerkenswerte Szene ab; Dunin-Marcinkiewicz empfing seltene Gäste: den Musiker Apolinary Kątski (1825-1879), den Schriftsteller Władysław Syrokomla (1823-1862) und den Komponisten Stanisław Moniuszko (1819-1872). Hier die Rekonstruktion des Events von Józef Gołąbek: »Na przyjęcie gości sproszono liczne grono artystów i literatów i pospolitej rzeszy płci obojga i gospodarz, wystąpiwszy na czele trzech dziewic, swych córek, przystrojonych po wiejsku, niosących wieńce i bukiety złożył hołd Moniuszce i Kąt[s]kiemu, przemawiając do nich wierszem, który otrzymał tytul: ›Wiersz Nauma Pryhaworki‹.« (Gołąbek 1932: 34) »Zum Empfang der Gäste wurden mehrere Artisten, Literaten und einfache Leute beiderlei Geschlechts engagiert und der Gastgeber trat zusammen mit drei Mädchen, seinen Töchtern auf, die als Bäuerinnen gekleidet waren [und] Kränze und Sträuße brachten, die er zu Ehren Kątskis und Moniuszkos [zu ihren Füßen] niederlegte und sich an sie mit einem Gedicht wandte, das den Titel ›Das Gedicht von Naum Pryhaworka‹ erhielt.«

Die ritualisierte Rezeption der Ehrengäste – Rezeption in allen Bedeutungen des Wortes, von Wahrnehmung bis Empfang – seitens der »Bauern«, mit Blumen und feierlichen Gelegenheitsgedichten, realisierte unmissverständlich eine Szene aus SIELANKA: den von Julia organisierten Empfang für Latalski. Nun, zehn Jahre später, inszeniert Dunin-Marcinkiewicz selbst die Inszenierung Julias, die im Bühnenanweisungsparatext des Dramas folgendermaßen beschrieben wurde:

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»Zmiana dekoracyi: wielki dziedziniec; z prawéj strony dom mieszkalny; po bokach gospodarskie budowy; z jednéj strony stoją wieśniacy i wieśniaczki [...]. Gdy wschodzi Karol, poprzedzają go dwie dziewczynki, sypiąc mu kwiaty pod nogi.« (Dunin Marcinkiewicz 1846: 49) »Dekorationswechsel: ein großer Hof; rechts ein Wohnhaus, seitlich Wirtschaftsgebäude; auf der einen Seite stehen Bauern und Bäuerinnen [...]. Wenn Karol eintritt, gehen ihm zwei kleine Mädchen voran und streuen Blumen.«

Diese Szene, ja Szenerie aus SIELANKA war zumindest einem der Gäste gut in Erinnerung: Moniuszko schrieb die (nicht erhaltene) Musik zu DuninMarcinkiewiczs Oper.19 Das Gedicht WIERSZ NAUMA PRYHAWORKI (Naum Pryhaworkas Gedicht, Dunin Marcinkiewicz 1857c), das der verkleidete Dunin-Marcinkiewicz zum Empfang der werten Gäste vorlas, hatte einen Untertitel: »Na uczczenie przybycia do miasta Mińska Apolinarego Kątskiego, Władysława Syrokomli i Stanisława Moniuszki« (»Zu Ehren der Ankunft von Apolinary Kątski, Władysław Syrokomla i Stanisław Moniuszko in der Stadt Minsk«, ebd.: 115). Das belarussischsprachige WIERSZ NAUMA PRYHAWORKI stellt ein poetisches Lob an drei »Falken« dar, die »auf unsere Fluren« (»na nászu níwu«) geflogen sind. Das Gedicht preist das kleine slavische Land (»Sławiańśkaja ziamníca«), das an »großen Sängern« (»Wialíkija dudáry«) reich ist und Neidgefühle bei den »Überseesöhnen« (»syny zamórski«) hervorrufen kann (ebd.: 115-117). Der slavophile gemeinsame Nenner hebt die Differenzen zwischen den dreien, je nach ihren »Fachgebieten« und ihrer Herkunft jedoch nicht auf: Der Warschauer Kątski komme von den Lachenfluren (»Láckaja níwa«), Syrokomla vom Wilnaer Landgut, das »einer Mutter« mit jenem Dunin-Marcinkiewiczs sei (»bytcam adnój máci«; seit 1853 lebte Syrokomla auf dem Landgut Borejkowszczyzna bei Wilna) und schließlich, Moniuszko, der wahre Landsmann des Gastgebers, der »unter uns« aufgewachsen war und dem das heimatliche Minsker

19 Es sind Hinweise auf mindestens drei Operetten Moniuszkos, zu denen DuninMarcinkiewicz Libretto-Texte verfasste, erhalten geblieben: WODA CUDOWNA (Das Wunderwasser), WALKA MUZYKÓW (Der Musikantenwettstreit), POBÓR REKRUTA

(Die Rekrutenaushebung). Vgl. dazu Januškevič 2007b: 466.

Moniuszkos Musik zu SIELANKA ging mit Ausnahme von ein paar Episoden verloren (ebd.: 468).

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Land die Mutter sei (»mieź námi uzrós«, »Jamú Mínskaja ziamélka ródnieńkaja mátka«, ebd.: 116). Die selbstironische Inszenierung sollte die Gäste, allen voran »Karol« Moniuszko ästhetisch und ideologisch überzeugen, ihre künstlerischen Kräfte in das von Dunin-Marcinkiewicz entworfene Belarus-Projekt zu investieren. In Dunin-Marcinkiewiczs literarischen Belarus-Verhandlungen kristallisiert sich die für die Spätromantik zentrale Problematik defizitärer Autorschaft, und zwar in der Identifikationsgestalt von Naum Pryhaworka heraus. Die zunächst werkimmanente fiktionale Handlungsperson Pryhaworkas (Dunin-Marcinkiewicz 1857b: 77-79, 1857c) wird zur literarisch-theatralischen Maske von Dunin-Marcinkiewicz selbst: So spielt der Schriftsteller bei den Amateueraufführungen seiner Stücke Pryhaworka. Eine neue Stufe dieser spielerischen Performanzen wird erreicht, wenn, wie oben skizziert, Dunin-Marcinkiewicz, als Pryhaworka verkleidet, den Komponisten Stanisław Moniuszko auf seinem Landgut empfängt und somit das Verkleidungssujet des Dramas in der Praxis des literarischen Alltags realisiert. 20 Dunin-Marcinkiewicz unterschreibt sogar einige literarische Texte, aber auch persönliche Briefe und Widmungen mit Pryhaworka, auch wenn letzterer eigentlich – sujetgemäss – nicht schreiben kann. Parallel und komplementär zu diesen kostümierten Alter-Ego-Simulationen und Stimulationen des mündlichen ›Autors aus dem Volk‹ entwirft Dunin-Marcinkiewicz weitere sozial-sprachliche Doppelgängerprojektionen des dilettantischen Selbst. Die ›authentischste‹ Phantomgestalt ist dabei die autobiographisch beglaubigte – im Sinne des autobiographischen Pakts (Lejeune 1994) – polnischsprachige Erzählinstanz und Handlungsperson des Schriftstellers »Wincenty« (Dunin Marcinkiewicz 1857a: 24). Dadurch

20 Vgl. die zu Dunin-Marcinkiewiczs Lebzeiten nicht veröffentlichte VaudevilleFarce ZALOTY (Flirten): Laut der Kopie Bronisław Epimach-Szypiłłos (18591934), die anhand von Dunin-Marcinkiewiczs Manuskript gemacht wurde, wird als ›Autor‹ des Vaudevilles »Naum Pryhaworka« genannt (vgl. Januškevič 2007b: 481). Mit Naum Pryhaworka ist auch die dem Schriftsteller und Ethnographen Aleksander Jelski (1834-1916) geschenkte Photographie Dunin-Marcinkiewiczs signiert: »Towarzyszowi na ciernistej drodze w pielgrzymce żywota, w dowód braterstwa ofiaruje Naum« (»Dem Kameraden auf dem dornigen Weg in der Lebenspilgerschaft, als Zeichen der Brüderschaft widmet Naum [diese Photographie]«, ebd.).

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kommt es zu weiteren, hier nicht näher zu problematisierenden Interkationen und Spannungen zwischen diesen imaginierten Ersatzsprechern und Duplikatsautoren. Diese Personifizierungen werden dabei mit einer konsequenten autoparodistischen Komik entworfen: Diese präventive Selbstironie zeugt von der fundamentalen Verunsicherung seines ›idyllischen‹ Projekts und versucht zugleich, es in Chiasmen und Paradoxien performativer Autorschaft zu fingieren. Es entfalten sich – bereits in der SIELANKA angedeutete – metapoetische Dynamiken und Simulacrum-Wandlungen von Spin-Off-Protagonist zu Spin-Off-Autor, von Person zu Pseudonym, von Heteronym zu Begriffsperson. Mit einer zum Teil karnevalesk anmutenden Selbtironie verletzten und bestätigen diese Maskierungen und Inszenierungen Grenzen zwischen Literatur und literarischem Alltag und offenbaren dabei die dilettantisch defizitäre Subjektivität. Dabei wird die Figur des dilettantischen NichtSchreiben-Könnens offen gelegt und realisiert. Denn die beiden Autor-Projektionen Dunin-Marcinkiewiczs können eigentlich nicht schreiben: Pryhaworka wörtlich als Analphabet und Wincenty im übertragenen Sinne als Dilettant. Dunin-Marcinkiewiczs Idylle des Regionalismus erweist sich als eine Allegorie des Dilettantismus.

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Realism as Technique Idyll, Allegory, and the Melancholic Gaze in Gogol’s STAROSVETSKIE POMESHCHIKI (OLD-W ORLD LANDOWNERS) Kirill Ospovat

A phenomenon revisited with growing interest by today’s scholarship, Russian literary realism famously emerged as a dominant literary aesthetic in the works of Gogol. Even before the appearance of his prose epic, MERTVYE DUSHI (DEAD SOULS, 1842), Gogol’s early tales, published in VECHERA NA KHUTORE BLIZ DIKAN’KI (EVENINGS ON A FARM NEAR DIKANKA, 1831-1832) and MIRGOROD (1835), marked the beginning of an important shift in the Russian literary practice of the period, known as the transition from poetry to prose. Speaking in the Formalists’ terms, before Gogol the system of Russian literature was dominated by poetry and poets, represented (not least for Gogol himself) first and foremost by Pushkin’s towering figure (see Eichenbaum 1969). Gogol’s own first attempt to establish himself as a writer was a narrative poem, the verse idyll GANZ KÜCHELGARTEN (1829), quickly recognized as a failure but nonetheless indicative of deeper aesthetic patterns which governed his early trajectory from poetry to prose and underwrote the poetics of representation in his mature works. While his early poetic attempt stayed Gogol’s secret, the prose of DIKANKA and MIRGOROD won him the support and personal friendship of Pushkin and Vasilii Zhukovskii, the established leaders of the very same poetic tradition which his prose voice was about to supplant. What might seem an odd yet insignificant biographical occurrence, is, I would argue, symptomatic of the complex origins and make-

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up of prose as an aesthetic form as it was re-emerging on the Russian literary scene through Gogol’s works. In what follows I will explore the issues and challenges Gogol confronted: in a literary culture which privileges poetry, how can prose claim aesthetic value? What are its legitimate aesthetic goals and appropriate means? To be sure, I will not claim that there was only one possible solution, or a single coherent set of solutions to these challenges. Rather, Gogol’s early writing encompasses a variety of possible options of what an aesthetics of prose could look like. Specifically, I will discuss STAROSVETSKIE POMESHCHIKI (OLD-WORLD LANDOWNERS), a MIRGOROD story which points us to the focal issues of realist representation. Indeed, one major premise of Gogol’s prose effort is that prose, unlike poetry, fulfills itself in the representation of the material world as a framework for human action and emotion. It is this type of representation, or mimesis, which has been defined as »realism«, a concept which for a time dominated Gogol scholarship and whose emergence in Russia can be traced back to the first responses to Gogol’s prose (see Gukovskii 1959). While one must be wary of perpetuating a dogmatic understanding of this concept, the issues behind it are nonetheless – or even more so – worthy of investigation on different methodological grounds. If we do not take the idea of reality for granted but recognize it as a texture of representations, our questions to a realist text like OLD-WORLD LANDOWNERS would be: what does it show that its audience accepts as reality? How does ›reality‹ of this kind become an aesthetic object? How does the reader’s perspective on the text mold into, and interact with, a beholder’s gaze upon what is represented as a real world existing outside of the text?1 Already the first critics of the story noted the striking discrepancy between its artistic virtuosity and the insignificance of its subject matter. Vissarion Belinskii, who was rapidly advancing to become Russia’s most prominent literary critic, wrote about OLD-WORLD LANDOWNERS in his highly influential essay O RUSSKOI POVESTI I POVESTIAKH G. GOGOLIA (On the Russian Tale and the Tales of Mr. Gogol, 1835), later approved by Gogol himself:

1

For similar recent readings of early Russian realism see: Kliger 2013, Vdovin 2016.

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»И так сильна и глубока поэзия г. Гоголя в своей наружной простоте и мелкости! Возьмите его ›Старосветских помещиков‹: что в них? Две пародии на человечество в продолжение нескольких десятков лет пьют и едят, едят и пьют, а потом, как водится исстари, умирают. Но отчего же это очарование?« (Belinskii 1976: 169) »How powerful and profound is Mr. Gogol’s poetry with all its overt simplicity and pettiness! Take his ›Old-world Landowners‹: what’s there? Two parodies of humanity, who in the course of several decades drink and eat, eat and drink, and who then, as has always been the custom, die. But where does this charm come from?«2

The following is an attempt to resolve Belinskii’s question, revealing the constructive principles of Gogol’s story as an act of representation, a masterful deployment of theoretically charged modes of mimesis and effect debated in aesthetic criticism, mostly German. The tension between the triviality of ›realistic‹ subject matter and its aesthetic suggestiveness, captured in the Russian criticism of the 1830s by the concept »poetry of reality«, poeziia deistvitel’nosti, was an important issue in German discussions of representation from Schiller and Jean-Paul to Hegel, largely inherited by twentiethcentury criticism (see Benjamin 1996, Benjamin 2006, Auerbach 2003, Iser 1978). In DER ERZÄHLER (THE STORYTELLER, 1936), where Leskov, Gogol’s disciple in ornamental narrative, features prominently, Walter Benjamin understands the story as a genre which inscribes everyday human existence into »natural history«, a materialized and secularized iteration of metaphysics. Reflecting a world »in which man could believe himself to be in harmony with nature«, defined with a reference to Schiller as »the period of naïve poetry«, the story represents this epoch and its perspective on the material world as »expired« (Benjamin 2006: 369f.). In his famous essay ÜBER NAIVE UND SENTIMENTALISCHE DICHTUNG (ON NAÏVE AND SENTIMENTAL POETRY, 1795) Friedrich Schiller argues that a »naïve« harmony impossible in modernity is reimagined by the nostalgic »sentimental poetry«, associated with the elegy and the idyll (see Schiller 2004a).3 In these and similar genres, the distance between imaginary past and the reality of modernity is redoubled by

2

Unless otherwise stated, the translations are mine.

3

On Gogol’s knowledge of Schiller see Keil 2011.

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the discrepancy between the meaningless quotidian materiality and the signification it can acquire in poetic fiction. Building on the theories of the Romantic age and re-inscribing them in their baroque origins, Benjamin in URSPRUNG DES DEUTSCHEN TRAUERSPIELS (THE ORIGIN OF THE GERMAN TRAGIC DRAMA, 1925) identified this discrepancy as a central element of allegory (as opposed to the symbol, defined by an essential unity between the object and its signification) (see Benjamin 1985). As I would argue, OLD-WORLD LANDOWNERS belongs to a particular historically situated aesthetic developed on the crossroads of the idyllic and the allegorical, an aesthetic central to both Schiller’s and Benjamin’s theories (which in important respects resonate with the best of Gogol scholarship). In what follows, I will first outline the links of Gogol’s story with the contemporary idyll and their implications for the emerging aesthetics of prose. Drawing on Benjamin, I will then illuminate the allegorical nature of Gogol’s mimesis. Finally, I will explore the implications of Schiller’s idea of sentimental poetry and Benjamin’s concepts of allegory and melancholy for the aesthetic effect of OLD-WORLD LANDOWNERS as it unfolds through the story’s »implied reader« and is documented by the early critical responses to it.

PROSE AND THE IDYLL OLD-WORLD LANDOWNERS is an idyll (Poggioli 1975). Pushkin called it a »humorous and touching idyll« (»шутлив[ая], трогательн[ая] идилли[я]«, Pushkin 1962: 108), and Mikhail Pogodin defined it in explicitly Schillerian terms as a »beautiful idyll and elegy« (»прекрасная идиллия и элегия«, quoted in Gukovskii 1959: 78). Gogol himself admits as much when he claims to introduce the reader to the »lowly bucolic existence« (»в низменную буколическую жизнь«) of Afanasii Ivanovich and Pulcheriia Ivanovna Tovstogub (Gogol’ 1937: 14, Gogol 1985: 2). Gogol’s doubleedged formula places the idyll in the focus of the complex negotiation of the aesthetics of prose: while the epithet »lowly« locates the Tovstogubs’ existence outside of the realm of the aesthetic, the adjective »bucolic« places it within the well-developed literary convention of the idyll (Gukovskii 1959: 79). Indeed, in the two decades preceding the appearance of MIRGOROD, the verse idyll had established itself in Russian letters as an experimental genre

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whose recourse to quotidian subjects and mundane vocabulary challenged the accepted notions of the poetic (see Vatsuro 2000). This development was represented by Zhukovskii’s translations from Johann Peter Hebel as well as Nikolai Gnedich’s original and translated idylls. Gogol himself later praised these works as exemplary (Gogol’ 1952a: 487), and Belinskii approvingly cited their renderings of the »poetry and prose of the everyday life of commoners« (»проза и поэзия простонародного быта«, Belinskii 1978: 329). Gogol’s own 1829 verse idyll, a direct precursor to OLD-WORLD LANDOWNERS, was based on Johann Heinrich Voß’s LUISE (1795), a realistic description of a German pastor’s family life and household. Translated into Russian in 1827, LUISE was unanimously acknowledged by Russian and German critics alike as the genre’s seminal work.4 The subject matter of OLD-WORLD LANDOWNERS as outlined in its very first lines corresponds to the conventions of the idyll which, according to Jean Paul’s authoritative definition, had to represent »perfect happiness in limitation« (»das Vollglück in der Beschränkung«) so that »passion insofar as it has hot storm-clouds behind it, cannot introduce its thunderclaps into this quiet heaven« (Jean Paul 1973: 187f.; »kann die Leidenschaft, insofern sie heiße Wetterwolken hinter sich hat, sich nicht mit ihren Donnern in diese stillen Himmel mischen«, Jean Paul 1990: 260). Accordingly, Gogol’s story begins as follows: »Я очень люблю скромную жизнь тех уединенных владетелей отдаленных деревень, которых в Малороссии обыкновенно называют старосветскими, которые, как дряхлые живописные домики, хороши своею пестротою и совершенною противоположностью с новым гладеньким строением [...]. Я иногда люблю сойти на минуту в сферу этой необыкновенно уединенной жизни, где ни одно желание не перелетает за частокол, окружающий небольшой дворик, за плетень сада, наполненного яблонями и сливами, за деревенские избы, его окружающие, пошатнувшиеся на сторону, осененные вербами, бузиною и грушами.« (Gogol’ 1937: 13)

4

On Gogol’s use and adoption of German theories and practices of the idyll in GANZ KÜCHELGARTEN see Iurii Mann’s extensive commentary to the poem (Gogol’ 2001: 571-586). On the continuities between GANZ KÜCHELGARTEN and THE OLD-WORLD LANDOWNERS see Gippius 1994.

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»I am very fond of the modest manner of life of those solitary owners of remote villages who in Little Russia are commonly called ›old-fashioned‹, who are like tumbledown picturesque little houses, delightful in their simplicity and complete unlikeness to the new smooth buildings [...]. I like sometimes to descend for a moment into that extraordinarily secluded life in which not one desire flits beyond the palisade surrounding the little courtyard, beyond the hurdle of the orchard filled with plum and apple trees, beyond village huts surrounding it, lying all aslant under the shade of willows, elders, and pear trees.« (Gogol 1985: 1)

We are then introduced to two such landowners, an old and childless couple, Afanasii Ivanovich and Pulcheriia Ivanovna Tovstogub, their household, and their way of life, which amounts to constant meals made possible by a fabulous abundance of victuals produced by the fertile Ukrainian soil. In his seminal discussion of Gogol, Yuri Lotman illuminates the particular symbolic economy of OLD-WORLD LANDOWNERS, which unfolds in a space markedly separated from the outside world, excluded from historical time, and endowed with a double aesthetic status which varies depending on interchanging perspectives which we might recognize as, respectively, »naïve« and »sentimental«: this space simultaneously appears as quotidian, prosaic to its inhabitants and poetic to the onlookers (see Lotman 1992). The capacity to mediate between these extremes made the rural household a touchstone for the emerging Russian prose as form and aesthetic principle. It figures prominently in Pushkin’s EVGENII ONEGIN (1825-1832), a paradox-ridden novel in verse which quite explicitly negotiates the tension between poetry and prose (see Tynianov 1977, Toddes/Chudakov/Chudakova 1977: 415-420). In his own experiment in poetry of reality, Pushkin self-consciously evokes the idyllic convention, quoting a Gnedich idyll in his footnotes. In GANZ KÜCHELGARTEN Gogol combines borrowings from Voß with evident imitations of ONEGIN, while the admittedly »bucolic« OLDWORLD LANDOWNERS might have been modeled on Pushkin’s stanzas depicting the everyday life of countryside landowners, the Larins. Although their marriage had been once concluded against the wishes of the bride, they found happiness in seclusion (II, 31-36): »Разумный муж уехал вскоре В свою деревню, где она, Бог знает кем окружена,

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Рвалась и плакала сначала, С супругом чуть не развелась; Потом хозяйством занялась, Привыкла и довольна стала. Привычка свыше нам дана: Замена счастию она. Привычка усладила горе, Не отразимое ничем; Открытие большое вскоре Ее утешило совсем: Она меж делом и досугом Открыла тайну, как супругом Самодержавно управлять, И все тогда пошло на стать. Она езжала по работам, Солила на зиму грибы, Вела расходы, брила лбы, Ходила в баню по субботам, Служанок била осердясь – Все это мужа не спросясь. […] Но муж любил ее сердечно, В ее затеи не входил, Во всем ей веровал беспечно, А сам в халате ел и пил; Покойно жизнь его катилась; Под вечер иногда сходилась Соседей добрая семья, Нецеремонные друзья, И потужить, и позлословить, И посмеяться кой о чем. Проходит время; между тем Прикажут Ольге чай готовить, Там ужин, там и спать пора, И гости едут со двора. […]

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И так они старели оба. И отворились наконец Перед супругом двери гроба, И новый он приял венец. Он умер в час перед обедом, Оплаканный своим соседом, Детьми и верною женой.« (Pushkin 1960: 49-51) »Her clever husband on the morrow / took her to his estate, where she, / at first with God knows whom to see, / in tears and violent tossing vented / her grief and nearly ran away. / Then, plunged into the housekeeper’s day, / she grew accustomed, and contented. / Instead of happiness, say I, / custom’s bestowed on us from high. / For it was custom that consoled her / in grief that nothing else could mend; / soon a great truth came to enfold her / and give her comfort to the end: / she found, in labours and in leisure, / the secret of her husband’s measure, / and ruled him like an autocrat – / so all went smoothly after that. / Mushrooms in brine, for winter eating, / fieldwork directed from the path, / accounts, shaved forelocks, Sunday bath; / meanwhile she’d give the maids a beating / if her crossed mood was at its worst – / but never asked the husband first. […] Her husband, loving her with passion, / left her to follow her own line, / trusted her in lighthearted fashion, / and wore his dressing-gown to dine. / His life went sailing in calm weather; / sometimes the evening brought together / neighbors and friends in kindly group, / a plain, unceremonious troop, / for grumbling, gossiping and swearing, / and for a chuckle and a smile. / The evening passes, and meanwhile / here’s tea that Olga’s been preparing; / after that, supper is served, and so / bed-time, and time for guests to go. […] And so they lived, two aging mortals, / till he at last was summoned down / into the tomb’s wide open portals, / and once again received a crown. / Just before dinner, from his labors / he rested – wept for by his neighbors, his children and his faithful wife.« (Pushkin 1977: 58-60)

Like Gogol’s Tovstogubs, Pushkin’s Larins live in a happy marriage and lead a life shaped by the everyday needs of the estate and the agrarian rhythms of gluttony. In Gogol’s story, the old couple’s day is organized by the various meals they have: »Оба старички, по старинному обычаю старосветских помещиков, очень любили покушать. Как только занималась заря […] они уже сидели за столиком и пили кофий. […] После этого Афанасий Иванович возвращался в покои и

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говорил, приблизившись к Пульхерии Ивановне: ›А что, Пульхерия Ивановна, может быть, пора закусить чего-нибудь?‹ […] За час до обеда Афанасий Иванович закушивал снова, выпивал старинную серебряную чарку водки, заедал грибками, разными сушеными рыбками и прочим. Обедать садились в двенадцать часов.« (Gogol’ 1937: 21f.) »Both the old people were very fond of good food as was the old-fashioned tradition of old-world landowners. As soon as the sun had risen […] they were sitting down to a little table, drinking coffee. […] After this Afanasy Ivanovich would go back indoors, and going up to his wife would say: ›Well, Pulkheria Ivanovna, isn’t it time perhaps for a snack of something?‹ […] An hour before dinner Afanasy Ivanovich would have another snack, would empty an old-fashioned silver goblet of vodka, would eat mushrooms, various sorts of dried fish, and so on. They sat to dinner at twelve o’clock.« (Gogol 1985: 8f.)

Similarly, Pushkin comments on Larins’ rural way of life (V, 36): »Мы время знаем В деревне без больших сует: Желудок – верный наш брегет […].« (Pushkin 1960: 109) »I like to tell the time by dinner / and tea and supper: there’s an inner / clock in the country rings the hour; / no fuss: our belly has the power / of any Breguet […].« (Pushkin 1977: 132)

As Belinskii (1976: 169) was quick to notice, both texts also share the same psychology of marriage. Like Pushkin, Gogol opposes the amorous passions characteristic of city life to the omnipotent habit of the aging spouses. Describing Afanasii’s relentless grief after his wife’s death, Gogol writes: »[A]t that moment all our passions seemed like child’s play beside this effect of long, slow, almost insensible habit« (Gogol 1985: 20; »в это время мне казались детскими все наши страсти против этой долгой, медленной, почти бесчувственной привычки«, Gogol’ 1937: 36). In his characteristic ironic diction Pushkin contrasts the prosaic texture of countryside life with the conventional modes of its poetic glorification in the idyll and the epos, the classical mimetic genres evoked in the passages dedicated to the Larin household. However, as Lotman demonstrates in his

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penetrating analysis of the poetics of representation and poetry of reality in EVGENII ONEGIN, Pushkin refused to privilege poetry over prose or vice versa, but rather merged them in an aesthetic of representation which erased the very contradiction between truth of life and poetic value (see Lotman 1995: 419-424, 615f.). This effect underlies the lengthy obituary of the novel’s second major protagonist, the poet Vladimir Lenskii. Commenting on his death in a range of styles and tones, Pushkin outlines the various possible life paths he could have taken (VI, 39): »А может быть и то: поэта Обыкновенный ждал удел. Прошли бы юношества лета: В нем пыл души бы охладел. Во многом он бы изменился, Расстался б с музами, женился, В деревне, счастлив и рогат, Носил бы стеганый халат; Узнал бы жизнь на самом деле, Подагру б в сорок лет имел, Пил, ел, скучал, толстел, хирел, И наконец в своей постеле Скончался б посреди детей, Плаксивых баб и лекарей.« (Pushkin 1960: 126f.) »Perhaps, however, to be truthful, / he would have found a normal fate. / The years would pass: no longer youthful / he’d see his soul cool in its grate; / his nature would be changed and steadied, / he’d sack the Muses and get wedded; / and in the country, blissful, horned, / in quilted dressing-gown adorned, / life’s real meaning would have found him; / at forty he would have got the gout, / drunk, eaten, yawned, grown weak and stout, / at length, midst children swarming round him, / midst crones with endless tears to shed, / and doctors, he’d have died in bed.« (Pushkin 1977: 158)

Married life and death in a countryside household are implicitly styled as ›prosaic‹ and expressly opposed to poetry – but only as it is represented by Lenskii’s own trivial poetic voice, not the novel’s experimental poetry of reality. By the early 1830s when EVGENII ONEGIN was finished and Gogol was planning OLD-WORLD LANDOWNERS, Pushkin himself had married, and

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Gogol cited his example in an apology for marriage addressed to his friend A. S. Danilevskii. Responding to Danilevskii’s marriage plans in two letters from 1832, which Gukovskii (1959: 87f.) has insightfully linked to OLDWORLD LANDOWNERS, Gogol described marriage as a synthesis, ensemble, of poetry and prose, and went on to compare it to Pushkin’s poetry, in his world the highest possible aesthetic achievement: »Прекрасна, пламенна, томительна и ничем не изъяснима любовь до брака […]. Эта любовь не полна; она только начало […]. Но вторая часть или, лучше сказать, самая книга – потому что первая только предуведомление к ней – спокойна и целое море тихих наслаждений, которых с каждым днем открывается более и более, и тем с большим наслаждением изумляешься им, что они казались совершенно незаметными и обыкновенными. […] Любовь до брака – стихи Языкова: они эффектны, огненны и с первого раза уже овладевают всеми чувствами. Но после брака любовь – это поэзия Пушкина […]. Сильная продолжительная любовь проста, как голубица, то есть выражается просто, без всяких определительных и живописных прилагательных, она не выражает, но видно, что хочет что-то выразить, чего, однако ж, нельзя выразить, и этим говорит сильнее всех пламенных красноречивых тирад.« (Gogol’ 1940a: 227, 1940b: 252) »Beautiful, fiery, exhausting, and inexplicable is love before marriage […]. This love is not complete; it is only a beginning […]. But the second part, or better, the book itself – because the first is only the advance announcement of it – is calm, an entire sea of quiet pleasures which open up more and more each day; and you are amazed by them with all the more pleasure because they seemed absolutely insignificant and ordinary. […] Love before marriage is the poetry of Yazykov: it is effective, fiery; and already in the first moment it possesses all one’s feelings. But love after marriage is the poetry of Pushkin […]. Strong lasting love is as simple as a dove, that is, it expresses itself simply without any defining and picturesque adjectives; it does not express, but it is apparent that it wants to express something which, however, it is impossible to express – and by this it speaks more powerfully than any fiery eloquent tirades.« (Gogol 1967: 41-43, translation amended)

Notably, a discussion of marriage is only thinkable for Gogol in terms of art (he speaks of an »artist in love with a work of a great master«), representation and aesthetic effect. Marriage is a »book« or, more specifically, poetry of

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Pushkin’s kind (quite possibly a direct reference to the Larins). The »poetry of marriage« subsumes its »prose« and derives pleasure from the trivial, which is recognized as a counterintuitive vehicle for the ineffable. As Belinskii’s comments attest, this was precisely the effect achieved by Gogol himself in OLD-WORLD LANDOWNERS. This mode of expression and expressivity, in many ways central for any literary mimesis, mirrors the structure of a trope: allegory.

MIMESIS, ALLEGORY, AND DEATH The space of the Tovstogub household, a focal point of the emerging poetry of reality, reveals a complex set of aesthetic and symbolic implications: in Lotman’s words, »as any bucolic it is juxtaposed for the nineteenth-century reader with myth but differs from it in its quotidianness, mundaneness, nonfantasticity« (Lotman 1992: 429). While on the one hand the evoked idyllic convention justifies an overabundance of trivial material detail in Gogol’s story, on the other hand this materiality acquires an all but otherworldly symbolic significance. According to Benjamin’s analysis of Goethe’s 1809 novel, the house represents a central element of a »mythic world« defined by the »incorporation of the totality of material things into life« so that here »the life of seemingly dead things acquires power« (Benjamin 1996: 308). Indeed, the image of the family house proves central for the interplay between poetic trope, prosaic realism, allegory, and myth. In the very first lines of OLD-WORLD LANDOWNERS, this material space is introduced as an allegorical equivalent of human life: »Я очень люблю скромную жизнь тех уединенных владетелей отдаленных деревень, которых в Малороссии обыкновенно называют старосветскими, которые, как дряхлые живописные домики […].« (Gogol’ 1937: 13) »I am very fond of the modest manner of life of those solitary owners of remote villages who in Little Russia are commonly called ›old-fashioned‹, who are like tumbledown picturesque little houses […].« (Gogol 1985: 1)

Starting with a reference to human beings – the landowners – and evoking the houses as a mere simile, Gogol than objectifies this simile, recasting it as

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a segment of material reality worthy of elaborate mimetic depiction. Conversely, mimetic, or realistic, emphasis on material detail does not exclude – but rather directly entails – a second, meta-physical plane of signification. In this respect, OLD-WORLD LANDOWNERS aligns with well-known features of Gogol’s later realist prose. Gogol’s dismal depictions of Russian everyday life in works like SHINEL’ (THE OVERCOAT, 1842) or MERTVYE DUSHI (DEAD SOULS, 1842) famously drew on theological tropes largely inspired by the Ukrainian Church baroque. In particular, Gogol adopted concepts and tropes which served to emphasize the distance between temporal reality and religious transcendence (see Vaiskopf 2002, Oklot 2009, Shapiro 1993). To give one example, Mikhail Vaiskopf demonstrates that the concept of »dead souls«, which in Gogol’s poema ostensibly refers to Chichikov’s dead serfs, was used in theological discourse as a term for lives immersed in worldly concerns (Vaiskopf 2003: 146-163). Gogol, then, fits well into what Erich Auerbach defines as the religious type of mimesis, which he opposes to classical plasticism. Christ’s story, according to Auerbach, destroys the classical hierarchy of styles and »[…] engenders a new elevated style, which does not scorn everyday life and which is ready to absorb the sensorily realistic, even the ugly, the undignified, the physically base. Or – if anyone prefers to have it the other way around – a new sermo humilis is born, a low style … which now reaches out far beyond its original domain, and encroaches upon the deepest and the highest, the sublime and the eternal […].« (Auerbach 2003: 72).

It is this tension which informs and shapes Gogol’s ›realist‹ work as well as the trajectory that famously led him to assume the role of a religious writer. Religious mimesis as described by Auerbach and practiced by Gogol himself implied that the two planes of a trope, image and signification, correspond to the two planes of existence, the temporal and the metaphysical, so that a reader’s trajectory from image-sign to meaning would correspond to the trajectory of a religious awakening. In OLD-WORLD LANDOWNERS as well as in ONEGIN, however, this tension unfolds in ways that all but invert Auerbach’s definition. Already in Pushkin’s novel, the ›realistic‹ image of a household visited by death, twice evoked as a setting for an idyllic, or prosaic, existence, reappears for a third time in a startlingly different function in yet another stanza commemorating Lenskii:

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»Недвижим он лежал, и странен Был томный мир его чела. Под грудь он был навылет ранен; Дымясь из раны кровь текла. Тому назад одно мгновенье В сем сердце билось вдохновенье, Вражда, надежда и любовь, Играла жизнь, кипела кровь, – Теперь, как в доме опустелом, Все в нем и тихо и темно; Замолкло навсегда оно. Закрыты ставни, окны мелом Забелены. Хозяйки нет. А где, бог весть. Пропал и след.« (Pushkin 1960: 124) »He lay quite still, and strange as dreaming / was that calm brow of one who swooned. / Shot through below the chest – and streaming / the blood came smoking from the wound. / A moment earlier, inspiration / had filled this heart, and detestation / and hope and passion: life had glowed / and blood had bubbled as it flowed; / but now the mansion is forsaken; / shutters are up, and all is pale / and still within, behind the veil / of chalk the pane-windows have taken. / The lady of the house has fled. / Where to, God knows. The trail is dead.« (Pushkin 1977: 155)

Pushkin could have found his simile in Jean Jacques Rousseau’s famous LETTRE A M. D’ALEMBERT SUR LES SPECTACLES (LETTER TO M. D’ALEMBERT ON SPECTACLES, 1758), which includes a lengthy discussion of the ethics of marriage: »When the mistress of a family rambles abroad, her house is like a lifeless body which is soon corrupted« (Rousseau 1759: 115; »Une maison dont la maîtresse est absente est un corps sans âme qui bientôt tombe en corruption«, Rousseau 1865: 237). Adopting this parallel, Pushkin emphasizes its allegorical potency which is then retained by Gogol as he unfolds his own panorama of a rural household. The stylistic status of Pushkin’s stanza is ambivalent. On the one hand, it is contrasted with commonplace, »Lenskian« poetic metaphors of death ironically recycled in the preceding stanza. In this sense, the image of the forsaken house with all of its realistic detail is certainly marked as prosaic (see Lotman 1995: 681). On the other hand, Pushkin’s image derives a genuine

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poetic energy from its use of allegory, a trope which treats visible objects as signs for abstract ideas. Specific material details, closed windows for instance, acquire poetic significance precisely because they point towards an idea which is substantially foreign to them: the idea of death. The decaying house evidently stands for the human body, while the mistress who has forsaken it is the soul, Psyche. Quite notably, though, Pushkin’s use of allegory displays an evident contradiction between the structure of the trope and its message. A veiled reference to the soul, the human’s immortal element, is undermined by the stanza’s final lines, which question rather than assert its immortality. Although the trope achieves a sublime aesthetic effect thanks to its promise of metaphysical insight, it in fact calls into question the very existence of the metaphysical. Gogol, who quoted this ONEGIN stanza in a letter from the 1830s, builds his OLD-WORLD LANDOWNERS on a similar pattern of representation and signification. Despite the ostensible presence of Christian religious institutions in the world of the story, Renato Poggioli was right to remark: »The most significant trait of OLD-FASHIONED LANDOWNERS is its absence of religious feeling: its lack of faith, as well as of charity and hope« (Poggioli 1975: 259). If the first part of the story describes at great length the material environment of the household which defines and shapes the Tovstogubs’ existence, the second part narrates their deaths. Pulkheriia dies first, Afanasii spends several more years grieving for her in a declining household and then dies himself, leaving the house and the estate to utter ruin. The story’s narrative development is driven much less by a plot (Belinskii found it lacking) than by the unfolding of a trope, the transition from tangible materiality to aesthetic transcendence. »Realistic« representation derives its aesthetic effect from the tension and distance between image, trope, and meaning. Instead of Auerbach’s religious mimesis relying on the firm assumption of a metaphysical reality, Gogol evokes the particular semantics of allegory. In an essay with the telling title »The Rhetoric of Temporality«, Paul de Man argues that Romantic allegory, defined by the distance between the sign and the signified, »necessarily contains the negative moment« which can take the form of »the loss of self in death« (de Man 1983: 207). De Man builds upon Walter Benjamin’s vehement rehabilitation of allegory in THE ORIGIN OF THE GERMAN TRAGIC DRAMA. Similarly to Auerbach, Benjamin suggests that as the subjects of representation, material objects of »the profane world« are »both elevated and devalued« by their capacity to become

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signs of something else. Unlike religious mimesis, however, allegory points to death, as in its guise human existence »does not assume the form of the process of an eternal life so much as that of irresistible decay« which is »expressed in a face – or rather in a death’s head«. »Death digs most deeply the jagged line of demarcation between physical nature and significance […], if nature has always been subject to the power of death it is also true it has always been allegorical.«

A paradigm of allegorical signification is found, consequently, in representations of death: »[I]f it’s in death that the spirit becomes free, in the manner of spirits, it is not until then that the body too comes properly into its own. For […] the allegorization of the physis can only be carried through in all its vigour in respect of the corpse. And the characters of the Trauerspiel die, because it is only thus, as corpses, that they can enter into the homeland of allegory […]. It is not only in the loss of limbs, not only in the changes of the aging body, but in all processes of elimination and purification that everything corpse-like falls away from the body piece by piece.« (Benjamin 1985: 175, 178, 166, 217, 218)

Gogol’s story seems to reenact these patterns of representation and signification. A detailed account of Tovstogubs’ material existence culminates in a powerful assertion of the omnipotence of death and physical decay. Pulkheria’s death has catastrophic consequences for both her husband and her estate: »Но Пульхерия Ивановна ничего не говорила. Наконец, после долгого молчания, как-будто хотела она что-то сказать, пошевелила губами – и дыхание ее улетело. […] По истечении сказанных пяти лет после смерти Пульхерии Ивановны, я, будучи в тех местах, заехал в хуторок Афанасия Ивановича […]. Когда я подъехал ко двору, дом мне показался вдвое старее, крестьянские избы совсем легли набок, без сомнения, так же, как и владельцы их […]. Навстречу вышел старик. Так это он! я тотчас же узнал его; но он согнулся уже вдвое против прежнего. Я вошел за ним в комнаты; казалось, всё было в них попрежнему; но я заметил во всем какой-то странный беспорядок, какое-то ощутительное отсутствие чего-то; словом, я ощутил в себе те странные чувства,

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которые одолевают нами, когда мы вступаем первый раз в жилище вдовца, которого прежде знали нераздельным с подругою, сопровождавшею его всю жизнь. Чувства эти бывают похожи тогда, когда видим перед собою того человека, которого всегда знали здоровым, без ноги. Во всем видно было отсутствие заботливой Пульхерии Ивановны […].« (Gogol’ 1937: 32-35) »But Pulkheria Ivanovna said nothing. At last, after a long silence, she seemed trying to say something, her lips stirred – and her breath flew away. […] At the end of the five years after Pulkheria Ivanovna’s death I was in those parts and drove to Afanasy Ivanovich’s little farm […]. As I approached the courtyard the house seemed to me twice as old as it had been: the peasants’ huts were lying completely on one side, as no doubt their owners were too […]. An old man came out to greet me. Yes, it was he! I knew him at once; but he stooped twice as much as before. […] I followed him indoors. It seemed as though everything was as before. But I noticed a strange disorder in everything, an unmistakable absence of something. In fact I experienced the strange feelings which come upon us when for the first time we enter the house of a widower whom we have known in old days inseparable from the wife who has shared his life. The feeling is the same when we see a man without a leg whom we have always known in health. In everything the absence of careful Pulkheria Ivanovna was visible […].« (Gogol 1985: 17-19; translation amended)

This account of Pulkheriia’s death – which reproduces the basic elements of Pushkin’s trope – is shaped by the tension between two contrasting planes and modes of representation: graphic, ›realist‹ depiction of quotidian material detail, and a quasi-mystical pneumatism which as a figure of speech and fiction replaces the absent metaphysical certainty. It is ultimately the framework of allegory that first imprints Pulkheria’s dying body with an expectation of utterance, and then compensates for its impossibility with the act of death, as »her breath flies away«, a formula which comes closer to Homeric paganism than to Christian orthodoxy. Later on, Afanasii himself dies after he hears a voice calling his name and decides that it is Pulkheria calling him from beyond the grave. Gogol comments that according to popular belief this means that »a soul [is] grieving for a human being and calling him« (Gogol 1985: 20; »душа стосковалась за человеком и призывает его«, Gogol’ 1937: 37). Gogol is characteristically unclear about whose soul that might be, but he clearly revives the dual symbolism of a transcendent soul and Afanasii, or any human, as a material body distinctly different and spatially

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separated from it. In the scene I have quoted above, a practical explanation of the household’s unfortunate condition – Afanasii is a widower who is not accustomed to living without his spouse – is similarly counterpoised by a suggestion of the immaterial and indefinite: »[A]n unmistakable absence of something«. A realistic description of the decaying house functions as a set of signs that indicate something outside of them, an exterior referent: the immaterial void left by Pulkheriia, the factuality of death. The estate driven by the will and energy of its mistress, just as her body is, provides a deceptively transparent framework of representation which aligns human death with material decay and vice versa. The reference to the peasants’ huts which sink to the ground just like their owners revives the allegorical analogy between a human being and a house. While the peasants are not dead but just avoid their agrarian duties, their condition amounts to a moral lethargy. A similar trope shapes the appearance of Afanasii Ivanovich himself: we first see the house that has grown twice as old since Pulkheriia Ivanovna’s death and then the old man who »stooped twice as much as before«. The amalgamation of the human with the material does not only govern the inner mechanic of Gogol’s mimesis but also emerges as the story’s manifest theme. If the house declines just like its master, Afanasii himself – who, much to Belinskii’s indignation, spent decades between sleep and meals – appears as little more than a body of insensible flesh destined to nothing but physical decay. As a schoolboy Gogol (Gogol’ 1940c: 98) passionately derided the meaningless life of »существователи«, people who vegetate without a higher purpose – before he chose them as a subject of poetic scrutiny, not to say glorification, in OLD-WORLD LANDOWNERS. While recognizing Pulkheria as an allegory of the soul which has left the body provides aesthetic coherence to the story’s often contradictory modes of meaning and style, the apparent mysticism of this narrative trope is subverted by a mode of representation which assimilates human essence with inanimate matter. This is manifested in Gogol’s medical simile. Afanasii’s grief for his spouse, described as a mystical communication between the living and the otherworldly, can just as easily be reinterpreted as a matter of lifeless flesh: »The feeling is the same when we see a man without a leg whom we have always known in health.« A departed soul is interchangeable

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with a lost limb – a motif which Benjamin specifically links to the allegorical emphasis on the frailty of the human body – from a perspective which recognizes the transience of all creation as its only message.

THE MELANCHOLIC GAZE Wondering about the »charm« of Gogol’s story, Belinskii identified its effect on the audience as its most important achievement, disproportionate as it is to the ostensible insignificance of the subject matter. Indeed, I would argue that this discrepancy was self-consciously embedded in the story’s narrative strategy, which explicitly links mimetic representation to a particular scenario of reader response. Drawing on the overlapping devices of the idyll and the allegory, Gogol’s aesthetics of prose in OLD-WORLD LANDOWNERS – as the earliest responses to the story uniformly confirm – unfold by engaging the reader in a particular symbolically and emotionally charged perspective on material reality. This strategy is explicated in Gogol’s essay on Karl Briullov’s painting »The Last Day of Pompeii«, written simultaneously with OLD-WORLD LANDOWNERS in 1834. Praising Briullov for revealing the »mysterious music […] in ordinary, insensitive objects« (»тайная музыка в предметах обыкновенных, бесчувственных«), Gogol then discusses his depiction of general ruin: »Вообще во всей картине выказывается отсутствие идеальности, т. е. идеальности отвлеченной, и в этом-то состоит ее первое достоинство. Явись идеальность, явись перевес мысли, и она бы имела совершенно другое выражение, она бы не произвела того впечатления; чувство жалости и страстного трепета не наполнило бы души зрителя, и мысль прекрасная, полная любви, художества и верной истины, утратилась бы вовсе. Нам не разрушение, не смерть страшны; напротив, в этой минуте есть что-то поэтическое, стремящее

вихрем

душевное

наслаждение;

нам

жалка

наша

милая

чувственность, нам жалка прекрасная земля наша.« (Gogol’ 1952b: 111f.) »Generally speaking, the whole picture shows a complete absence of idealism, i. e. abstract idealism, and herein lies its main virtue. If idealism had been incorporated into it this would have been entirely different, and it would have produced the wrong

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impression; the onlooker’s soul would not be filled with a feeling of pity and passionate trepidation, and that beautiful thought, so full of love, art and genuine truth would have been lost forever. It is not destruction and death that we fear; on the contrary, at that moment there is a certain poetic, spiritual enjoyment which sings up like a whirlwind; we pity the sensuality which we hold so dear, and we pity our beautiful earth.« (Gogol 1982: 204, 207f.)

A representation of reality as devoid of transcendence is justified by a desired emotional effect which both mirrors and reveals a particular emotional setup of the audience: the »spiritual enjoyment« of »destruction and death«. This is precisely how Benjamin defines melancholy, a fundamental fear of death construed as cultural and aesthetic experience and produced and perpetuated by allegory: »Mourning is the state of mind in which feeling revives the empty world in the form of a mask, and derives an enigmatic satisfaction in contemplating it« (Benjamin 1985: 139; on melancholy in early nineteenthcentury Russian letters see Vinitsky 1997). In his discussion of Briullov, Gogol is concerned with similar issues as he attempts to explain why a representation of death and ruin produces poetic pleasure rooted in the audience’s experience of its own transient humanity. Similar to allegorical signification as defined by Benjamin and de Man, the aesthetic effect of OLD-WORLD LANDOWNERS originated, according to its first readers, from the discrepancy between the low status of represented material reality and its ability to offer itself to the reader’s gaze as a counterintuitive sign for higher truths. Pushkin himself wrote in a review of MIRGOROD: »[С] жадностию все прочли и ›Старосветских помещиков‹, эту шутливую, трогательную идиллию, которая заставляет вас смеяться сквозь слезы грусти и умиления […].« (Pushkin 1962: 108). »[A]ll of us avidly read ›Old-World Landowners‹, this humorous and touching idyll which makes us laugh and shed tears of sadness and affection […].«

Characteristically, Pushkin describes a reaction which is not individual but common to the story’s readership – necessitated by the text as its effect on a shared cultural experience. In fact, his assessment of the story reiterates

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common Romantic definitions of humor. Jean Paul writes in the respective chapter of his VORSCHULE DER ÄSTHETIK (INTRODUCTION TO AESTHETICS, 1813): »Wenn der Mensch, wie die alte Theologie tat, aus der überirdischen Welt auf die irdische herunterschauet: so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen, wie der Humor tut, die unendliche ausmisset und verknüpft: so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist.« (Jean Paul 1990: 129) »When man looks down, as ancient theology did, from the supernal world to the earthly world, it seems small and vain in the distance; when he measures out the small world, as humor does, against the infinite world and sees them together, a kind of laughter results which contains pain and greatness.« (Jean Paul 1973: 92)

While laughter is the natural reaction to material reality, in aesthetic theory and literary practice it has to be amalgamated with and counterpoised by its opposite, a reference to the infinite which resonates with Auerbach’s definition – and Gogol’s later practice – of religious mimesis. The convergence of laughter and tears, Pushkin’s formula for OLD-WORLD LANDOWNERS, was in fact central for the emerging aesthetics of Russian realist prose. In Pushkin’s writings of this period it reappears as a definition of melancholy, a state of mind and a literary mode associated with disillusioned portrayals of contemporary Russia (see Vatsuro 1994). While the emphasis of THE OLD-WORLD LANDOWNERS lies far both from the social realism of DEAD SOULS and the religious didacticism of SELECTED PASSAGES FROM CORRESPONDENCE WITH FRIENDS, its mimetic mode was certainly related to melancholy. The charismatic intellectual Nikolai Stankevich, a friend of Belinskii’s and an accomplished reader of German idealist philosophy and criticism, commented upon reading Gogol’s story: »How well is the beautiful human feeling captured here amidst an empty and worthless existence!« (»Как здесь схвачено прекрасное чувство человеческое в пустой, ничтожной жизни!«, quoted in Mann 1998: 269). The particular feeling Stankevich refers to is Afanasii’s grief over the death of his wife, a grief which is shared by the reader and thus – presumably – reveals the common essence of humanity. A similar argument is found in Belinskii’s comments on the story partially quoted earlier. Having defined Gogol’s figures as parodies of humanity, Belinskii continues:

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»Вы видите всю пошлость, всю гадость этой жизни, животной, уродливой, карикатурной, а между тем принимаете такое участие в персонажах повести, смеетесь над ними, но без злости, и потом рыдаете с Филемоном о его Бавкиде, сострадаете его глубокой, неземной горести […]. Отчего это? […] оттого, что автор нашел поэзию и в этой пошлой и нелепой жизни […] вы плачете о них, о них, которые только пили и ели и потом умерли! О, г. Гоголь истинный чародей, и вы не можете представить, как я сердит на него за то, что он и меня чуть не заставил плакать о них, которые только пили и ели и потом умерли!« (Belinskii 1976: 169f.) »You see all the banality, all the ugliness, of this bestial, misshapen, ridiculous existence; but at the same time you take a real interest in the characters of the story, you laugh at them, although without spite, and then you sob with Philemon over his Baucis, you share his profound, unearthly grief […]. Why is this?... Because the author has found poetry even in this vulgar and stupid existence... You weep for people who only ate and drank and then died! Oh, Mr. Gogol is a true wizard, and you cannot imagine how angry I am at him for almost having forced me to weep for people who only ate and drank and then died!«

Renato Poggioli, quoting this passage in his lengthy treatment of OLDWORLD LANDOWNERS, proceeds to claim that Belinskii was »certainly wrong in praising […] a pathos which is not there, and which is instead replaced by a conscious bathos, by the bathos of life rather than by that of art« (Poggioli 1975: 261). This reading, which has resurfaced in scholarship time and again, fails to recognize an aesthetic effect which derives precisely from a discrepancy between image and meaning, the represented object and the gaze of the reader which is itself crafted by the writer’s art: »Mr. Gogol is a true wizard«. Indeed, the emotion that Poggioli discards as Belinskii’s invention is explicitly present in Gogol’s text. One of its first paragraphs reads: »Я до сих пор не могу позабыть двух старичков прошедшего века, которых, увы! теперь уже нет, но душа моя полна еще до сих пор жалости, и чувства мои странно сжимаются, когда воображу себе, что приеду со временем опять на их прежнее, ныне опустелое жилище, и увижу кучу развалившихся хат, заглохший пруд, заросший ров на том месте, где стоял низенький домик – и ничего более. Грустно! мне заранее грустно!« (Gogol’ 1937: 14)

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»To this day, I cannot forget two old people of a past age, now, alas! no more. To this day I am full of regret, and it sends a strange pang to my heart when I imagine myself going sometime again to their old, now deserted dwelling, and seeing the heap of ruined huts, the pond chucked with weeds, an overgrown ditch on the spot where the little house stood – and nothing more. It is sad! I am sad of the thought!« (Gogol 1985: 2)

Evidently, the narrator – all but identical to the implied reader – offers his audience a specific emotional perspective on a reality they are only about to encounter, a perspective which can be identified as melancholy. Engendered by an allegorical vision of the material world as a sign of its own transience, this melancholy is at the same time conditioned by the spatial and temporal framework of Schillerian ›sentimental‹ poetry. Gogol’s narrator apparently looks on the Tovstogubs from a distance which is not only geographical: »Их лица мне представляются и теперь иногда в шуме и толпе среди модных фраков, и тогда вдруг на меня находит полусон и мерещится былое.« (Gogol’ 1937: 14) »I can see their faces sometimes even now among fashionable dress coats in the noise and crowd, and then I sink into a half-dreaming state, and the past rises up before me.« (Gogol 1985: 2)

As the very title OLD-WORLD LANDOWNERS indicates, the reader’s gaze is directed to the past from the present and to the countryside from the city, more specifically the imperial capital St. Petersburg where Gogol lived and published his MIRGOROD. Similarly, for Schiller, sentimental representation exploits and perpetuates the perceived distance between nature and culture, the world of the reader and the nostalgic imaginary. The value of the idyll is explained as follows: »Es sind nicht diese Gegenstände, es ist eine durch sie dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eigenen Gesetzen, die innere Nothwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst. […] Sie sind also zugleich Darstellung unsrer verlornen Kindheit, die uns ewig das Theuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmuth erfüllen. […] Wir sehen alsdann in der unvernünftigen Natur nur eine glücklichere

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Schwester, die in dem mütterlichen Hause zurückblieb, aus welchem wir im Uebermuth unserer Freiheit heraus in die Fremde stürmten. Mit schmerzlichem Verlangen sehnen wir uns dahin zurück, sobald wir angefangen, die Drangsale der Kultur zu erfahren, und hören im fernen Auslande der Kunst der Mutter rührende Stimme.« (Schiller 2004a: 695, 707) »It is not these objects, it is an idea represented through them, which we love in them. We love in them the quietly working life, the calm effects from out itself [sic], existence under its own laws, the inner necessity, the eternal unity with itself. […] They are […] a representation of our lost childhood, which remains eternally most dear to us; hence, they fill us with a certain melancholy […] We see then in nature devoid of reason only a fortunate sister, who remained behind in the maternal home, out of which we stormed in the high spirits of our freedom into foreign parts. With painful desire we long to return thence, so soon as we’ve begun to experience the distress of culture and hear in the foreign country of art, the moving voice of the mother.« (Schiller 1990: 308f., 319)

OLD-WORLD LANDOWNERS suggests and relies upon precisely this kind of illusory nostalgia: »Жизнь их скромных владетелей так тиха, так тиха, что на минуту забываешься и думаешь, что страсти, желания и те неспокойные порождения злого духа, возмущающие мир, вовсе не существуют, и ты их видел только в блестящем, сверкающем сновидении. […] всё это для меня имеет неизъяснимую прелесть, может быть, оттого, что я уже не вижу их и что нам мило всё то, с чем мы в разлуке.« (Gogol’ 1937: 13f.) »The life of their modest owners is so quiet, so quiet, that for a moment one is lost in forgetfulness and imagines that those passions, desires and restless promptings of the evil spirit that trouble the world have no real existence and that you have only beheld them in some lurid dazzling dream. […] they have an inexpressible charm to me, perhaps because I no longer see them and because everything from which we are parted is dear to us.« (Gogol 1985: 1f.)

The narrator of OLD-WORLD LANDOWNERS could be easily associated with Schiller’s trajectory of culture’s subject from maternal home to »foreign parts«. Gogol’s authorial position in DIKANKA and MIRGOROD was shaped

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by his own trajectory: as he duly informs the reader, he had moved from Ukraine to the imperial capital and was now portraying his home country for the gaze of the Petersburg public. Even more significantly for an understanding of Gogol’s realism, Schiller understands this idyllic »nature« as a cultural construct rather than a tangible reality, a feat of representation which selfconsciously exploits and perpetuates modernity’s anxieties and longings. Only artful fiction can and must impose a meaningful perspective on the indifferent and symbolically worthless reality of mute objects in an all but allegorical fashion. As Schiller writes in another essay, in poetry an image adopted from nature must »become a sensuous representation of reason’s own actions; nature’s mute text will become a living language of the mind, and the same book of phenomena will be read in entirely different ways by the inward and by the outward eye« (Schiller 1988: 406; »der todte Buchstabe der Natur wird zu einer lebendigen Geistersprache, und das äußere und innere Auge lesen dieselbe Schrift der Erscheinungen auf ganz verschiedene Weise«, Schiller 2004b: 1000).

CONCLUSION As one of the initiating texts of Russian realism, Gogol’s OLD-WORLD LANDOWNERS shaped some of its crucial, if under-appreciated, undercurrents which built on Schillerian aesthetics of the idyll and sentimental melancholy. The formula of melancholy as a mixture of tears and laughter evoked by Pushkin to define the story’s aesthetic effect was later famously adopted by Gogol himself in DEAD SOULS to describe the essential goals of his satirical epic and its mode of representation: »And for a long time still I am destined by a wondrous power to walk hand in hand with my strange heroes, to view the whole of hugely rushing life, to view it through laughter visible to the world and tears invisible and unknown to it.« (Gogol 2004: 152; »И долго еще определено мне чудной властью итти об руку с моими странными героями, озирать всю громадно-несущуюся жизнь, озирать ее сквозь видный миру смех и незримые, неведомые ему слезы!«, Gogol’ 1951: 134). Juxtaposing bitter contemporary reality with a fabulous traditional past, the sentimental melancholic gaze retained its implications for strategies of mimesis developed by the mature Gogol and later realist writers. From the second volume of the DEAD SOULS to ANNA KARENINA, the idyllic space of

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the estate absorbed the hopeless longing for moral, economic, and aesthetic counterweights to the realities of urban and imperial modernity which realism had set out to explore. As an indication of this pattern, Tovstogubian old childless couples reappear time and again in nineteenth-century novels of progress, including Ivan Turgenev’s NOV’ (VIRGIN SOIL, 1877) and Ivan Goncharov’s OBRYV (THE PRECIPICE, 1869). In the last instance, a critique of modernity is amalgamated with sentimental nostalgia in the figure of the novel’s protagonist, Raiskii. An urbanite author and artist, he returns (like Gogol) to his grandmother’s rural estate, driven both by a poeticized longing for a personal and historical past, and by a morally destructive civilizing urge. If in THE PRECIPICE the rural idyll seems to offer a viable antidote to the social woes of modernity, another of Goncharov’s novels reveals the illusory, that is, fundamentally aesthetic nature of this salutary vision. In a famous chapter of OBLOMOV (1859), Ilya Il’ich flees the stresses of urban existence to his estate in Oblomovka, a magically self-contained space of long-gone childhood which only appears in a dream, a clear meta-trope of inescapable fictionality.

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›Bewirtschaftete Natur‹ ‒ Idyllisches im Roman CHŁOPI (DIE B AUERN) von Władysław Reymont Birgit Krehl

Den Versuch einer Neuinterpretation von Władysław St. Reymonts Roman CHŁOPI (1902-1908/09; dt. DIE BAUERN, 1912) leitet der Krakauer Literaturhistoriker und Kritiker Kazimierz Wyka in den 1960er Jahren mit einer Metapher ein: »Die Bauern […] sind eine große epische Uhr.«1 Von dieser These ausgehend deckt Wyka die »Ordnungen der Zeit« im Text auf und nimmt, abweichend von den bisher vorherrschenden literarhistorischen und ästhetischen Zuordnungen zu Naturalismus und Realismus (vgl. Wyka 1979: 122), eine doppelte Verortung des Romans in der Literatur der Jahrhundertwende, der sogenannten Młoda Polska (Junges Polen), vor: in stilisierter ›jungpolnischer‹ Narration2 und in mythenbildender Bedeutung.

1

»Chłopi Władysława St. Reymonta to wielki zegar epicki [...].« (Wyka 1979: 119) Die monographische Arbeit Wykas zu Reymont ist innerhalb eines Jahrzehnts bis Mitte der 1970er Jahre entstanden, blieb jedoch unvollendet und wurde von Barbara Koc posthum herausgegeben. Hier wird aus jenem Kapitel zitiert (»Próba nowego odczytania Chłopów Reymonta«), das er bereits 1968 in einer Zeitschrift veröffentlicht hat.

2

Wyka verwendet den Begriff »stylizator młodopolski« (»jungpolnischer Stilist«), den Boronowski in seiner umfangreichen Reymont-Studie im Deutschen mit »neoromantischer Stilist« wiedergibt (Boronowski 1994: 129). Boronowski knüpft damit offensichtlich an Einschätzungen Julian Krzyżanowskis an, der in

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Beide Aspekte dominieren die nachfolgende Reymont-Forschung. Der Auffassung des Romans als idyllischer Stilisierung des bäuerlichen Lebens steht diese jedoch skeptisch gegenüber: »Kreacja chłopskiego bohatera [...] jest wyraźn[ą] idealizacj[ą]: nie idąca wszakże w kierunku protekcjonalnej sielanki, jak to się zdarzało w przeszłości, lecz w kierunku zdecydowanego wywyższenia statusu chłopa, w którym widzi się herosa lub nawet królewskiego potomka: Piasta.« (Podraza-Kwiatkowska 1992: 231) »Die Kreation des bäuerlichen Helden […] ist eine deutliche Idealisierung: Sie bewegt sich allerdings nicht in Richtung einer protektionistischen Idylle, wie das in der Vergangenheit der Fall war, sondern vielmehr in Richtung einer dezidierten Erhöhung des Status des Bauern, in dem ein Heros oder sogar ein königlicher Nachkomme gesehen wird: ein Piast.«3

Maria Podraza-Kwiatkowska schlägt hier den Bogen zu den in frühen Chroniken fundierten Gründungsmythen des polnischen Staates, während sich für German Ritz die Beschreibung »im Bild der Natur und in der Zeichnung der Einzelschicksale zum Symbolischen« verdichtet und die »Darstellung das um die Jahrhundertwende typisch Mythische [berührt]«. »[N]ostalgisch eine neue Idylle« suche der Roman mithin nicht und er sei auch »keine Idyllendichtung in der Art, wie frühere Literaten es liebten, über das Landleben zu schreiben.« (Ritz 2012) Die hier geäußerten Absagen an das Idyllische in Reymonts Roman CHŁOPI widersprechen nicht der diesem Beitrag zugrundeliegenden These. Die Idyllisierung ist bei Reymont weder mit bukolischer Dichtung noch mit wohliger Heimatidylle gleichzusetzen und entzieht sich ebenso einer gattungsbestimmten Zuordnung zur ›Landlebendichtung‹.4 Vielmehr soll im

seiner literarhistorischen Darstellung Reymonts Schaffen unter die »Neoromantik«, von ihm als Epochenbezeichnung für die Literatur der Jahrhundertwende benutzt, einordnet (Krzyżanowski 1972: 526-532). Da Młoda Polska gerade für eine Vielfalt künstlerischer Strömungen und Stilrichtungen steht, unter denen die Neoromantik zweifellos eine künstlerische Hauptströmung markiert, wird in diesem Beitrag die wörtliche Übertragung der Terminus von Wyka benutzt. 3

Soweit nicht anders vermerkt, stammt die Übersetzung von der Verfasserin.

4

Zur Gattung der ›Landlebendichtung‹ siehe Lohmeier 1976: 123-140.

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Folgenden die Darstellung und Herstellung von Landschaft auf idyllisches Potential hin diskutiert werden ‒ konkret geht es um die Konstruktion und Wahrnehmung ›bewirtschafteter Natur‹ als idealisierte Landschaft, als ›Enklave‹ des Idyllischen im Roman. Bachtin hat bereits in seinen Betrachtungen zum »idyllischen Chronotopos im Roman« auf eine Einflussnahme der Idylle verwiesen, bei der »in den Roman lediglich einzelne Momente des idyllischen Komplexes eindringen« (Bachtin 2008: 171), und Renate Böschenstein hebt dezidiert die Relevanz einer Differenzierung von Idylle und Idyllischem hervor: »[Es] muss unterschieden werden zwischen der Idylle als Gattung […] und ›dem Idyllischen‹, das sich auch in anderen visuellen und literarischen Formen realisiert […]. Diese Unterscheidung ist von größter Wichtigkeit, da das Idyllische sich gerade als Enklave in größeren Werken, von Homers Odyssee über Goethes Faust II (1832) bis zu Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (1930-1952) besonders bedeutsam entfaltet hat.« (Böschenstein 2001: 120)

Bevor dem Idyllischen in den ›Naturbeschreibungen‹ in Reymonts Roman CHŁOPI nachgegangen wird, sollen einige kurze Anmerkungen zu biographischen Kontexten und zur Rezeption des Romans in die Thematik einführen. In der ersten größeren monographischen Arbeit zu Reymonts künstlerischem Werk aus dem Jahr 1937 beklagt der Literaturhistoriker Julian Krzyżanowski das Fehlen einer Biographie und betont, dass diese am besten von Reymont5 (1867-1925) selbst, der jedoch nur wenige autobiographische Skizzen hinterlassen habe, hätte verfasst werden sollen (vgl. Krzyżanowski 1937: 1). Ein halbes Jahrhundert später hat sich diese Situation grundlegend gewandelt, wird aber nicht weniger problematisch eingeschätzt:

5

Reymont wurde als Stanisław Władysław Rejment geboren. Erst mit dem Beginn seiner literarisch-publizistischen Tätigkeit verändert er den Nachnamen leicht mit einem Hauch ins Französische und stellt die Reihenfolge seiner Vornamen um. Sehr ausführlich geht u.a. Wyka im ersten Kapitel (»Od Rejmenta do Reymonta«) seiner Monographie auf die Namensänderung ein (Wyka 1979: 5-26).

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»Reymont zählt heute zu den schwierigen Schriftstellern, obwohl bzw. weil sich mehrere Forschergenerationen mit seinem Werk beschäftigt haben. Innerhalb der polnischen Literaturgeschichte bildete sich ein Forschungszweig heraus, den man gelegentlich als ›Reymontologie‹ bezeichnet. Die Schwierigkeiten ergeben sich aus der fatalen Verknüpfung von Werk und Biographie.« (Boronowski 1994: 4)

Konkreten Ausdruck findet die »fatale Verknüpfung« für Boronowski in Zuschreibungen wie »Bauernschriftsteller« (»pisarz chłopski«) oder »Sohn der Erde« (»syn ziemi«) (ebd.). Reymonts besonderes politisches und künstlerisches Interesse galt zweifellos über längere Zeit den Bauern ‒ neben dem Roman CHŁOPI veröffentlichte er bereits in den 1890er Jahren Dorfnovellen ‒, dem polnischen Bauerntum entstammte er indessen nicht: »In der Genealogie beider Familien lassen sich keine bäuerlichen Vorfahren nachweisen. Die Kontakte zum polnischen Bauerntum beschränkten sich im Elternhaus des späteren Autors der ›Chłopi‹ auf die Gesindestube.« (Ebd.: 2) Der Vater war Dorforganist, die Mutter kam aus dem verarmten Landadel und Reymont verbrachte immerhin seine Kindheit auf dem Dorf.6 Der Stilisierung zum »Bauernschriftsteller« leistete Reymont selbst keinen Widerstand, sondern trug mit seinen autobiographischen Aufzeichnungen wohl eher dazu bei. Von der (Pseudo-)Verwurzelung im Bauerntum7 zur Verwandlung des Autors in einen Bauern war es dann nur noch ein kleiner Schritt, den die Literaturkritik vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten

6

Schon 1880 verließ er dieses, um bei einem Verwandten in Warschau eine Schneiderlehre zu absolvieren. Es folgte dann ein abwechslungsreiches, unstetes Leben; Reymont zieht mit Theatergruppen übers Land und wird schließlich Bahnwärter – eine Anstellung, die er erst 1893 aufgibt.

7

In einer Einführung in die deutsche Ausgabe des Romans von 1916 ‒ erstmals auf Deutsch wurde der Roman 1912 von dem Verleger Eugen Diederichs in Jena herausgegeben ‒ schrieb der Übersetzer Jean Paul d’Ardeschah (Pseudonym für Jan P. Kaczkowski): »Es mögen hier beispielsweise einige Namen von Bedeutung auf dem Gebiete der polnischen Dichtung folgen, die alle mit dem Bauerntum unmittelbar zusammenhängen; ich nenne Jan Kasprowicz, Stanislaw Przybyszewski, Wladislaw Stanislaw Reymont, den Verfasser des vorliegenden großen Bauernepos.« (d’Ardeschah 1917)

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nach der Veröffentlichung von CHŁOPI verwirklicht sah und mit dem »äuerlichen, Authentischen und aus der realen Welt Gegriffenen«8 untermauerte (Wyka 1979: 122). Um die Jahrhundertwende zeigten sich polnische Intellektuelle, vornehmlich Künstler und Schriftsteller, fasziniert von der Ursprünglichkeit, Vitalität und Natürlichkeit dörflichen Lebens und bäuerlicher Kultur; sie erblickten im polnischen Bauerntum den Urgrund der Nation und das Gegenmodell zu städtischer Zivilisation sowie technischem Fortschritt. Diese sogenannte ›chłopomania‹9 (Bauernbesessenheit, Bauernkult) hallt in Reymonts Romanepos nach, ohne jedoch in folkloristischer Staffage zu versinken oder eine Fraternisierung von Bauern und Intelligenz zu forcieren. Das führte zunächst bei einem Teil der Leserschaft zu Irritationen, so dass sich Ignacy Matuszewski als leitender Literaturredakteur der Zeitschrift TYGODNIK ILUSTROWANY (Illustrierte Wochenzeitschrift) ‒ hier erschien Reymonts Roman in Fortsetzung ab Januar 1902 ‒ genötigt sah, die Leser mit dem Vorwurf zu konfrontieren, nur die »Krakowiak tanzenden« und »Dumka singenden« Bauern aus dem Ballett oder Melodrama zu akzeptieren, nicht aber die wahren, von Reymont erschaffenen Bauern (Ziejka 1991: CIII). Die anfängliche Ablehnung einiger Leser wich rasch den überaus positiven Urteilen einer renommierten Kritikerschar, die von Warschau bis Krakau reichte und später durch deutsche, russische, französische und skandinavische Stimmen erweitert wurde.10

8

Eine authentische Bauernliteratur bildete sich erst in der Zwischenkriegszeit heraus; Schriftsteller bäuerlicher Herkunft waren beispielsweise Stanisław Czernik und Stanisław Piętak.

9

Literarisch in Szene gesetzt wurde der ›Bauernkult‹, allerdings bereits mit deutlich kritischem Impetus, in dem Drama WESELE (1901; Die Hochzeit) von Stanisław Wyspiański. Zwei seiner Freunde, Włodzimierz Tetmajer und Lucjan Rydel, hatten Bauerntöchter geheiratet und sich auf dem Dorf niedergelassen. Insbesondere Rydels Hochzeit hat Wyspiański zu seinem Drama inspiriert. Rydel wiederum schrieb unmittelbar nach dem Erscheinen von Reymonts CHŁOPI Teil 1 und 2 in einem Band (1904) eine Rezension für den KURIER WARSZAWSKI (Warschauer Kurier) und gab ein äußerst positives Urteil ab (vgl. Ziejka 1991: CIV).

10 Bereits 1910-1912 erschien eine russische Übersetzung des Romans; 1912 folgte die deutsche Übersetzung des Gesamttextes, in Frankreich wurden zunächst Auszüge übersetzt und veröffentlicht. In Schweden bemühte sich ab 1918 vor allem

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Seiner Sympathie für die Bauern und ihrer besonderen Rolle im Ringen um nationale Souveränität verlieh Reymont bereits gut ein Jahrzehnt vor Erscheinen des ersten Teils von CHŁOPI (1901/02) durch Veröffentlichungen in der Warschauer literarisch-politischen Wochenzeitschrift GŁOS (Die Stimme) Ausdruck, in der er 1893 auch seine erste Dorfnovelle ŚMIERĆ (Der Tod) publizierte. Mit dem politisch-geistigen Klima dieser Zeitschrift, einer antipositivistischen und national-demokratischen Haltung, konnte sich Reymont, der politische und künstlerische Gruppierungen eher mied, identifizieren.11 Zu einer Annäherung an national-konservative Positionen kam es ‒ maßgeblich durch die Ereignisse der Revolution von 1905 und damit verbundene Massendemonstrationen in den russisch besetzten Gebieten Polens eingeleitet ‒ bei Reymont um 1907. Künstlerisch war das Bauern-Thema für ihn nach dem Roman CHŁOPI obsolet, der Bauernschriftsteller blieb er hingegen.

LANDSCHAFT ALS BEWIRTSCHAFTETE NATUR In Reymonts vierteiligem Roman wird das Leben der bäuerlichen Gemeinschaft in dem polnischen Dorf Lipce ‒ mit der Familie des Großbauern Maciej Boryna im Mittelpunkt ‒ im Wechsel der Jahreszeiten und den damit verbundenen bäuerlichen Arbeiten, kirchlichen Festen und typischen Bräuchen vor dem Hintergrund sozial-ökonomischer Veränderungen am Ende des 19. Jahrhunderts dargestellt. Naturbeschreibungen nehmen innerhalb des konfliktreichen und detailliert erzählten Romangeschehens nur eine untergeordnete Rolle ein. Der Romantext rückt wiederholt in introduzierender Funktion an Kapitelanfängen oder in kurzen, die Handlung unterbrechenden Sequenzen, Landschaft12 in den Blick; erstmals schon nach wenigen Seiten, wenn das Dorf inmitten herbstlicher Felder und Wälder eingeführt wird:

der Literaturkritiker Frederik Böök um eine Übersetzung in Schwedische, was zur Veröffentlichung des ersten Teils 1920 führte, allerdings folgten die weiteren Teile erst 1923 und 1924 (vgl. Ziejka 1991: CXIII-CXVII). 11 In einem Brief schrieb Reymont 1894: »Wenn ich hier Verwandte habe, dann nur bei der ›Głos‹ […]« (»Jeżeli mam pokrewnych tu, to tylko w ›Głosie‹«, Reymont 2009: 147). 12 Als Grundlage des Begriffs ›Landschaft‹ wird in diesem Beitrag auf die folgenden Ausführungen Bezug genommen: »Die Landschaft ist nicht Land, sondern eine

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»A pod nimi, jak okiem ogarnąć leżały szare pola niby olbrzymia misa o modrych wrębach lasów – misa, przez którą, jak srebrne przędziwo rozbłysłe w słońcu, migotała się w skrętach rzeka spod olch i łozin nadbrzeżnych. Wzbierała w pośrodku wsi w ogromny podłużny staw i uciekała na północ wyrwą wśród pagórków; na dnie kotliny, dokoła stawu, leżała wieś i grała w słońcu jesiennymi barwami sadów – niby czerwono-żółta liszka, zwinięta na szarym liściu łopianu, od której do lasów wyciągało się długie, splątane nieco przędziwo zagonów, płachty pól szarych, sznury miedz pełnych kamionek i tarnin – tylko gdzieniegdzie w tej srebrnawej szarości rozlewały się strugi złota – łubiny żółciły się kwiatem pachnącym, to bielały omdlałe, wyschłe łożyska strumieni albo leżały piaszczyste senne drogi i nad nimi rzędy potężnych topoli z wolna wspinały się na wzgórza i pochylały ku lasom.« (Reymont 1991: 1, 8f.) »Und unter diesen Wolken, soweit das Auge reichen konnte, ruhte graues Ackerland, eine riesige Schale mit eingekerbtem Rand bläulicher Wälder, durch die gleich silbernen, in der Sonne aufflirrenden Gespinsten der Fluß mit seinen Windungen zwischen Erlen und Uferweiden hervorblitzte. Er staute sich mitten im Dorf zu einem großen länglichen Weiher und lief nach Norden durch eine Schlucht zwischen den Hügeln; im Talkessel rund um den Weiher lagerte sich das im Sonnenschein schillernde Dorf in der Pracht seiner herbstlich bunten Baumwipfel, gleich einer rotgelben zusammengerollten Raupe auf einem grauen Lattichblatt. Lange Gewebe etwas wirrer Ackerhufen, Plantücher grauer Felder mit Schnüren von Rainen voll Steinhaufen und Schlehdornbüschen streckten sich vom Dorf bis zu den Wäldern. Hin und wieder nur ergossen sich Rinnsale von Gold in das silbrige Grau, Lupinenfelder breiteten ihre gelben

bestimmte Art, sie als wahrnehmungsmäßig und ästhetisch organisierte Ganzheit zu betrachten, zu beschreiben oder zu malen […]. Ein Zugang zu ihrer tatsächlichen Gestalt erschließt sich nur über die Wahrnehmung und Darstellung. Insofern geht es für das Verständnis oder die Einschätzung einer künstlerischen Landschaft weniger um den Vergleich mit einem möglichen Referenten (dem ›ausgedehnten Land‹) als um die Art und Weise, wie sie gezeigt und zum Ausdruck gebracht wird. […] Es handelt sich um eine imaginäre, auf keiner Karte verzeichnete Linie, deren Konturen zum einen von objektiven Faktoren (die Erhebungen im Gelände und etwaige Bauwerke) und zum anderen von der Perspektive eines Subjekts abhängen.« (Collet 2015: 154f.)

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Flächen voll duftender Blumen, ausgedörrte Strombetten entblößten ihre weißlichen Sandgründe und müde lagen die sandigen Wege. Mächtige Pappeln stiegen in Reihen an ihren Rändern langsam die Hügel empor den fernen Wäldern zu.« (Reymont 1958: 9)

Einen locus amoenus evoziert diese Naturbeschreibung freilich nicht: In der Begrenzung (»eine riesige Schale mit eingekerbtem Rand bläulicher Wälder«), in der Parzellierung (»Plantücher grauer Felder«) und Vermessung (»mit Schnüren von Rainen«) scheint wenig Arkadisches auf und doch formt sich aus dem »grauen Ackerland« im Zusammenspiel mit den Windungen des Flusses »zwischen Erlen und Uferweiden«, mit Schlehdornbüschen und Lupinenfeldern, mit dem um den Weiher lagernden »im Sonnenschein schillernde[n] Dorf« in auffallender Sichtbarmachung des Verschmelzens von ›bewirtschafteter Natur‹ und ›Naturgegebenheiten‹ Ideallandschaftliches ‒ in Differenz zur bewohnten Natur der Antike und zugleich auf diese rekurrierend.

BEWOHNTE NATUR UND BEWIRTSCHAFTETE NATUR Natur ist in der antiken Dichtung immer, wie Robert Curtius in seinen Ausführungen zur Ideallandschaft hervorhebt, bewohnte Natur, Orte, an denen »der Mensch sich gerne niederläßt« (Curtius 1993: 194). Diese Orte mit schattigem Baum, »sprudelndem Quell oder Bach zur Labung« und einem »Rasenpolster als Sitz« (ebd.) bedurften der Bewohner, denn »Natur als solche ist unsichtbar; wahrgenommen wird sie nur in ihren Darbietungen – in Form einer unwillkürlichen Darbietung als Landschaft«, stellt der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt (2006: 77) fest. Und so bevölkerten die antike Dichtung Hirten mit Bindung zur Natur und Muße zur Dichtung. Explizit bezugnehmend auf Vergils BUKOLICA und GEORGICA markiert die Kulturwissenschaftlerin Ute Seiderer Arkadien in ihren Betrachtungen zur agrarwirtschaftlichen Raumordnung der Antike als Gegenraum: »Möglicherweise ist ›Arkadien‹ prinzipiell als Gegenwelt zur vermessenen und kultivierten Landschaft entwickelt worden und damit gleichsam als Symbol gegen jede Form der Politisierung und Vergesellschaftung von Lebensraum.« (Seiderer 2013: 29f.) Wenn allerdings, wie im Falle Vergils, der Dichter der römischen

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Kaiserzeit zugleich auch Gutsherr ist und notwendigerweise Landwirtschaft betreibt, vermessene und kultivierte Landschaft also befördert, muss die »Landschaftswahrnehmung dann ebenfalls ambivalent ausfallen: einerseits hymnisch, andererseits pragmatisch« (ebd.: 30; Hervorhebung im Original). Diese Feststellung rekurriert letztlich auf die beiden immer wieder diskutierten oder auch in Frage gestellten Grundmodelle der Idylle resp. des Idyllischen, die eine Musterausprägung in Vergils BUKOLICA und GEORGICA haben. Hymnische Landschaftswahrnehmung, so ließe sich auch formulieren, ist in der Inszenierung ›bewohnter Natur‹ und in der Gattung der Idylle fundiert, während pragmatische Landschaftswahrnehmung in der Darstellung ›bewirtschafteter Natur‹ gründet und eher im Idyllischen als in der Idylle zu verorten ist. Auch wenn diese strikte Trennung zweifellos eine modellhafte Vereinfachung ist, so kann sie in Bezug auf die Wahrnehmung von Natur doch die Formulierung von Grundsätzlichem befördern. Da in Reymonts ›Naturbeschreibungen‹, wie die eingangs zitierte Textpassage belegt, ›bewirtschafteter Natur‹ eine formende Funktion zukommt, soll diese nun zunächst historisch in den Blick genommen werden. In Bezug auf Vergils GEORGICA, insbesondere in jenen als »Lob des Landlebens« (laudes vitae rusticae resp. laus ruris) bezeichneten Versen (2, 458-550),13 wird die oben dargestellte Differenz und Ambivalenz häufig hinterfragt, handelt es sich doch um Verse, »in denen der gepriesene Bereich des Landes mit der paradiesischen bukolischen Welt gleichsam ineinander verfließt« (Kettemann 1977: 11). Gleichwohl sind »Ruhe und Frieden und ein Leben ohne Trug […] auf weiten Feldern in Muße« (2, 468 und 469) für den ›Landmann‹ in den GEORGICA eingebunden in die »Jahresarbeit«, wenn dieser »die Erde mit dem krummen Pflug [furcht]« oder »Sicyons Ölfrucht in der Presse [quetscht]« (2, 513 und 519). Natur, sofern sie in den Blick gerät, erfährt hier eine Fragmetarisierung, die die Wahrnehmung von Landschaft unterbindet: »Wer arbeitet, der sieht nicht Landschaft, sondern Äcker, Brachen, Wald, Jagdrevier, Fruchtbarkeit oder Magerheit. So gibt es zunächst für den Nutzer der Erde, für den Bauern, keine Landschaft.« (Burckhardt 2006: 114) Die ›bewirtschaftete Natur‹ in Vergils GEORGICA wie auch in dieser Tradition stehende Texte des 16. bis 18. Jahrhunderts, ein glückliches Leben auf dem Lande evozierend, machen

13 Hier zitiert nach Vergil 1994: 67-71.

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Natur als Landwirtschaft, nicht aber als Landschaft sichtbar. In der polnischen Literatur figurieren die Schriften des polnischen Renaissancedichters Mikołaj Rej oder das spätklassizistische Versepos von Kajetan Koźmian als prominente Beispiele, durchaus auch als Vorläufertexte Reymonts verifizierbar,14 weshalb die Darstellung ›bewirtschafteter Natur‹ in ihren Texten in einem Exkurs diskutiert werden soll. Ebenfalls seit der Renaissance gab es eine in der polnischen Literatur an die antike bukolische Tradition anknüpfende Idyllendichtung, die hier aufgrund des zentralen Themas ›bewirtschafte Natur‹ nicht eingehender behandelt, aber kurz umrissen wird.15

14 Rejs ŻYWOT CZŁOWIEKA POCZCIWEGO (Das Leben eines ehrbaren Menschen) gehört bereits um 1878 zur Lektüre Reymonts (vgl. Koc 2000: 11). Koźmian las Reymont nachweislich in Vorbereitung auf seinen Roman ROK 1794 (Das Jahr 1794); vgl. ebd.: 153. Es ist deshalb anzunehmen, dass Reymont das Versepos Koźmians vertraut war. 15 Den Beginn markiert die polnische Literaturgeschichtsschreibung mit Jan Kochanowskis Zyklus PIEŚŃ ŚWIĘTOJAŃSKA O SOBÓTCE (Johannisnacht-Lied, 1586). Die polnische Bezeichnung für bukolische Idyllen prägte nur wenig später Szymon Szymonowic mit dem Band SIELANKI, das zwanzig Idyllentexte vereint. Diese Texte wie auch die Idyllendichtung des polnischen Barock entwerfen ein ruhiges, fröhliches Dorfleben in der Verbindung mit einheimischer Natur. Auch wenn die Idylle als Gattung an Bedeutung verliert, bleibt sie beispielweise in zum Teil ironischer Prägung in Adam Mickiewiczs PAN TADEUSZ auch über das 18. Jahrhundert hinaus virulent. Die Idylle (poln. sielanka) allerdings als dominierend bis ins 20. Jahrhundert zu bezeichnen, wie bei Matthias Freise zu lesen ist, ist m. E. problematisch: »Allen Epochenschwellen zum Trotz blieb die Sielanka 350 Jahre lang die Dominante der polnischen Literatur.« (Freise 2014: 134) Freise stützt sich dabei auf Czesław Miłosz und dessen Äußerungen in den 1972 erschienenen PRYWATNE OBOWIĄZKI (Private Verpflichtungen). Miłosz spricht hier mit explizitem Bezug auf den polnischen Frühromantiker Kazimierz Brodziński (zu Brodziński siehe Kirschbaum 2017) vom »bukolischen Reflex« der polnischen Kultur und von der Idylle als Geist der polnischen Poesie (Freise 2014: 132f.).

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EXKURS: REJ UND KOŹMIAN Rejs ŻYWOT CZŁOWIEKA POCZCIWEGO (Das Leben eines ehrbaren Menschen)16 und Koźmians ZIEMIAŃSTWO POLSKIE (Der polnische Gutsadel)17 trennen zweieinhalb Jahrhunderte, der Entwurf ländlichen Lebens auf dem Gutshof als Idealtypus einer funktionierenden polnischen (Adels-)Gesellschaft sowie eine didaktisch-moralische Textperspektivierung eint sie. In beiden Texten wird expressis verbis auf antike Vorbilder – Vergil, Horaz, Lukrez ‒ verwiesen; das in dialogischer Form präsentierte und mit Agrarwissen verwobene Lob des Landlebens generiert wie auch schon Vergils GEORGICA ein harmonisches Leben in durch bäuerliche Arbeit geordneter Natur. Und ebenfalls wie bei Vergil geht es in ihren Texten weder um die Weitergabe landwirtschaftlichen Fachwissens noch um die Lobpreisung der bäuerlichen Arbeit, sondern – wie Alfred Gall für Koźmians Versepos formuliert ‒ »um die Erneuerung gesellschaftlicher Beziehungen«, einer im Text proklamierten »Vergesellschaftung«, deren tragende Schicht der Landadel ist (vgl. Gall 2010: 46). Die Arbeit auf dem Lande ist somit in allen drei Texten in höchstem Maße politisch aufgeladen: Vergils laus ruris entstand »vor dem Hintergrund der Agrarreform des Augustus« (Seiderer 2013: 25) und propagiert das Kleinbauerntum; Rej entwirft den »ehrbaren Menschen« als polnischen Landadeligen in einer Zeit, als um die polnisch-litauische Adelsrepublik (Rzeczpospolita), insbesondere um die Machterweiterung des Adels, gerungen wurde und die Adelsgüter der Szlachta im Vergleich zu den von Verwaltern und Pächtern geführten Gütern der Magnaten für wirtschaftlichen Aufschwung sorgten (vgl. Bogucka 1999: 140); und Koźmians Versepos bewegt sich im Spannungsfeld der historischen Katastrophe der Teilungen und

16 Den umfangreichsten Teil seines 1567/68 erschienen ŹWIERCIADŁO (Der Spiegel) bilden die drei Bücher ŻYWOT CZŁOWIEKA POCZCIWEGO. Als ›Lob des Landlebens‹ mit einer Beschreibung der ländlichen Arbeit im Wechsel der Jahreszeiten kann insbesondere das Kapitel 16 des 2. Buches gelten. Vgl. Rej 1956: 353-371. 17 Koźmians ZIEMIAŃSTWO POLSKIE erschien erstmals vollständig (4 Gesänge) im Jahr 1839 in Breslau. Zwei Gesänge, die Koźmian später stark bearbeitete, wurden bereits 1812 in GAZETA WARSZAWSKA abgedruckt. Eine kommentierte Textausgabe aller vier Gesänge mit einem umfangreichen Nachwort von Piotr Żbikowski ist im Jahr 2000 erschienen.

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des Verlusts der staatlichen Eigenständigkeit Polens, aber eben auch der Folgen der »Konstytucja Księstwa Warszawskiego« (Verfassung des Herzogtums Warschau) von 1807, in der formal die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, ohne die Frage der Eigentumsverhältnisse zu regeln (vgl. Żbikowski 2000: 347, 353). Die ländliche Arbeit wird, um an den Terminus der »Vergesellschaftung« bei Alfred Gall anzuknüpfen, mit der Kreierung des ›Landmannes‹ als Textperspektive zum Raum sozialer Interaktion. Der ›Landmann‹ kann als ein integratives Konzept bezeichnet werden, das eigne Erfahrung mit Landwirtschaft und Rechtswissen des Autors ‒ sowohl Rej als auch Koźmian besaßen ein Gut, Rej war Abgeordneter des Sejm, Koźmian Jurist und Rechtspfleger im Ministerrat des Herzogtum Warschau sowie nachfolgend bis 1830 Rechtsberater im Königreich Polen ‒ und Arbeit auf dem Lande zusammenbindet. Żbikowski spricht in Bezug auf Koźmians Versepos von einem »erfahrenen Landwirt-Gutsbesitzer« (»wytrawny rolnik-ziemianin«), wobei »rolnik« als Bedeutungsvariante den (Acker-)Bauern einschließt (ebd.: 363). Bei Rej bleibt der »ehrbare Mensch« eindeutig der Adlige (szlachcic), geht es ihm doch um die Aufwertung des den eigenen Gutshof ›bewirtschaftenden‹ Gutsherrn. Allerdings tritt dieser bei der Darstellung ländlicher Arbeit im Wechsel der Jahreszeiten hinter den landwirtschaftlichen Tätigkeiten zurück, forciert durch die ständige wörtliche Textpräsenz von »gospodarstwo«, dessen unbestimmtes semantisches Feld vom konkreten Gutshof bis zu landwirtschaftlichem Betrieb, Landwirtschaft oder Wirtschaft allgemein reicht. Durch die Perspektive des »gospodarz« wie auch des »rolnik-ziemianin« imaginieren die Texte eine Teilhabe an ländlicher Arbeit wie sie bereits in Vergils GEORGICA sichtbar und von Renate Böschenstein-Schäfer als »Modell der appropriierten notwendigen Arbeit« (Böschenstein-Schäfer 1981: 10) herausgearbeitet wird. Es impliziert einerseits die Identifizierung des Ausübenden mit der notwendigen Arbeit, so dass diese als autonome empfunden wird (vgl. ebd.), und andererseits wird diese Arbeit als »Tätigkeit im Einklang mit der Natur [gesehen]« (ebd.: 16). Arbeit wird damit – wie Böschenstein-Schäfer festhält ‒ »zu einer Fundamentalkategorie des idealischen Lebens« (ebd.) und ›bewirtschaftete Natur‹, so ließe sich fortsetzen, Teil des Idyllischen. Zugleich jedoch zeigt sie die Grenzen der Verbindung von Arbeit und Idylle auf:

›Bewirtschaftete Natur‹ | 261

»Ein zentrales Problem bleibt die Begrenztheit der Idyllenwelt. In der Idylle kann Arbeit nur in bestimmten beschränkten Formen geschildert werden. […] Ja, es ist wahrscheinlich, daß die Integration der Arbeit in die Idylle beigetragen hat zu dem allmählichen Niedergang der Gattung, als werde sie von dem verschlungenen Element von innen heraus zersetzt.« (Ebd.: 26)

In Bezug auf Rejs und Koźmians Lob ländlicher Arbeit scheint die »innere Zersetzung« in untrennbarem Zusammenhang mit einer Textperspektive der Teilhabe an ländlicher Arbeit zu stehen: In dieser dominiert in der Darstellung und Wahrnehmung ›bewirtschafteter Natur‹ Pragmatisches ‒ so sehr das Lob der ländlichen Arbeit auch mit »rozkosz« (Genuss) und »krotofila« (Vergnügen) bei Rej verknüpft sein mag ‒ und verzehrt Hymnisches. ›Bewirtschaftete Natur‹ wird ausschließlich als Landwirtschaft sichtbar, schafft Raum für die Politisierung der Arbeit, denn Landwirtschaft ist untrennbar mit sozio-ökonomischen und politischen Prozessen verbunden.

LANDSCHAFT ALS DORFLANDSCHAFT Bei Reymonts Beschreibungen ›bewirtschafteter Natur‹ wäre eine Fortsetzung dieser Tradition zu erwarten, agiert der »Bauernschriftsteller« doch in einer hoch explosiven und von sozio-ökonomischen Umbrüchen aufgeladenen Zeit, in der sich die Bauern in weiten Teilen des von den Teilungsmächten besetzten Polens als soziale und politische Kraft formierten.18 Obgleich nur ca. zehn Prozent des Gesamttextes in Reymonts CHŁOPI auf sie entfallen (Rzeuska 1950: 44), attestiert die literaturwissenschaftliche Reymont-Forschung diesen Textpassagen eine auffällig andere, besondere poetische Qualität. Dass sie in einem Bezug zum Idyllischen steht, wird in den folgenden

18 Bereits 1893 entstand Związek Stronnictwa Chłopskiego (Bund der Bauernpartei), allerdings nur im von Österreich besetzen Teil Polens. 1895 entwickelte sich daraus Stronnictwo Ludowe (Bauernpartei), die ab 1903 Polskie Stronnictwo Ludowe (polnische Bauernpartei) heißt und diesen Namen bis heute führt. Auch wenn die im russischen Teilungsgebiet agierende Polskie Stronnictwo Ludowe Wyzwolenie (polnische Arbeiterpartei Befreiung) erst 1915 gegründet wurde, gab es dort Vorläuferorganisationen, wie der bereits ab 1842 bestehende Związek Chłopski (Bauernbund).

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Betrachtungen, die vor allem auf zwei Aspekte des Idyllischen – Exklusion und Muße ‒ eingehen, erläutert. Zunächst soll die Aufmerksamkeit auf das für die Idyllisierung grundlegende Konzept räumlicher Geschlossenheit gelenkt werden, das sich laut Norbert Mecklenburg dann als Idyllisierung darstellt, wenn »die Komplexität der Wirklichkeit in der Weise reduziert wird, daß zentrale Problem- und Konfliktbereiche zugunsten der Suggestion einer gesellschaftsjenseitigen oder enklavenhaften ›heilen Welt‹ ausgeblendet werden« (Mecklenburg 1982: 50). Das Ausblenden betrifft in der Darstellung von Landschaft bei Reymont vor allem drei »Konfliktbereiche«: die Stadt, den Gutshof und ‒ fast paradox anmutend in einem Roman, dessen Geschehen sich weitgehend über die Darstellung bäuerlichen Lebens konstituiert – die bäuerliche Arbeit. Für die Literatur der Jahrhundertwende wenig überraschend kann Reymonts Landschaft unschwer als Gegenentwurf zu städtischer Urbanisierung gelesen werden. Wie im bereits eingangs aufgeführten Zitat sind auch die weiteren Landschaftsdarstellungen frei von entfremdeter Arbeit und technischem Fortschritt, was ein weiteres Textbeispiel aus dem dritten Teil des Romans WIOSNA (FRÜHLING) eindrücklich belegt: »Bliżej zaś, dokoła wsi, wielgachnym kręgiem leżały lipeckie ziemie, pokrajane w pasy, kieby te postawy zgrzebnego płótna, rozciągnięte pod wzgórza i poćwiartowane na działki. Pola wiły się i wydłużały przy polach, porozdzielane krętymi miedzami, na których gęsto rozrastały się grusze rozłożyste, górzyły się kamionki cierniem obrosłe, w złotawym świetle ostro wyrzynały się szare i utytłane kiej ścierki ugory; to płachty zielonawe ozimin, to zeszłoroczne kartofliska czerniały albo i już latosie podorówki, miejscami zaś po dołkach siwiały wody i wlekły się kiej to szkliwo roztopione; za młynem rozlewały się łąki rudawe, po których brodziły bociany raz wraz poklekujące, i kapuśniska tak jeszczech pod wodą, że jeno grzbiety zagonów przemiękłych łyśniły się kiej piskorze, [...].« (Reymont 1991: 2, 11) »Noch näher aber, rings um das Dorf herum in einem großen Kreis lagen die zu Lipce gehörenden Äcker in Streifen geschnitten wie ausgebreitete Ballen von Sackleinwand bis an die Hügel hin; sie waren ein jedes für sich in Parzellen abgeteilt. Felder schlängelten sich und breiteten sich neben Feldern aus, von krummen Rainen voneinander getrennt, auf denen vielfach breitästige Birnbäume wuchsen, mit Dornsträuchern überwucherte Steinhaufen sich aufrichteten, und schmutzgraue Brachfelder schnitten

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scharf ins goldige Licht hinein; dann wieder sah man wie grüne Fächer die Saatenfelder, schwärzliche Kartoffeläcker noch vom vorigen Jahr her oder auch schon diesjähriges Ackerland. Aus den Niederungen schimmerten weißlich die Gewässer und zogen sich wie geschmolzener Glast dahin; hinter der Mühle lagen die gelben Wiesen, auf denen hin und wieder klappernd Störche wateten; die Kohlfelder lagen noch so tief unter Wasser, daß nur die Rücken der durchweichten Beete hier und da aufgliederten wie rote auftauchende Fischleiber […].« (Reymont 1958: 526f.)

Allerdings reicht die Kreierung eines solchen Gegenraums über die Landschaft hinaus und umfasst den dörflichen Raum im Roman insgesamt – Errungenschaften der modernen Zivilisation wie Eisenbahn, Zeitung oder Verwaltungseinrichtungen (darunter auch Schulen) sind nicht Teil der Romanwelt, obgleich nicht nur mit dem realen Dorf Lipce eine Nähe zur Stadt suggeriert wird (das Dorf befindet sich nur knapp 50 km von Łódź entfernt), sondern auch durch das Weggehen von Bettlern und anderen Figuren in die Stadt sowie deren teilweise Rückkehr. Auch wenn die Exklusion der Stadt im Text offensichtlich ist, reichen ihre Spuren über die Bewegung der Figuren in den Raum des Dorfes hinein, so dass dieser durchaus als Gegenraum zur Stadt fungiert, nicht aber zu einer ›gesellschaftsjenseitigen‹ Wirklichkeitssicht führt. Die Abwesenheit der Stadt befördert zweifelsohne im Entwurf bäuerlicher Lebensweise mit ihren festen ethischen und religiösen Verhaltensmustern, ihrer urwüchsigen Vitalität sowie mit ihrer Natur verbundenen, nicht entfremdeten Arbeit eine Idealisierung der letztlich solidarischen Dorfgemeinschaft unter Führung des Großbauerntums. Die Idealisierung des Bauerntums verweist aber auf Mythisierung und nicht auf Idyllisierung. In den Darstellungen dieser Landschaft fehlen jegliche Spuren der Stadt und darin liegt eine bisher wenig beachtete Differenz. Landschaft wird ausschließlich als Dorflandschaft, auch als dorfnahe Landschaft ‒ fast immer taucht zwischen den Feldern das Dorf auf ‒, imaginiert und vor allem als abgeschlossene Einheit präsentiert. Selbst dann, wenn Dörfer in den Blick geraten, bedeutet dies nur eine Dehnung der Abgeschlossenheit, nicht deren Durchbrechung: »Die Dörfer, die noch wie ertrunken in dem erdennahen Dämmer schienen, wurden hie und da gegen das Morgenrot sichtbar.« 19 (Ebd.: 522) Wege, die nach außen, in die Stadt führen könnten, durchkreuzen

19 »[Z]aś wsie, potopione w mrokach przyziemnych, wyzierały gdzieniegdzie pod zorze [...].« (Reymont 1991: 2, 6)

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Reymonts Landschaften nicht. Der Ausschluss jeglicher Indizes moderner Gesellschaft in der Darstellung von Landschaft weist in der stark vereinfachten Wirklichkeitsstruktur auf idyllische Inszenierung hin. Nicht nur die Exklusion von Stadt und Urbanität vermindern die Komplexität dargestellter Wirklichkeit in der Landschaftsbeschreibung ‒ auch der Gutshof wird ausgeblendet. Auf der Handlungsebene des Romans ist der Gutshof hingegen über die konfliktreiche, zumeist im Dorf stattfindende Auseinandersetzung zwischen Bauern und Gutsherrn um den Gemeinschaftswald überdeutlich präsent. Nicht mehr der Gutshof fungiert als Topos polnischen Gemeinwesens bzw. der polnischen Nation, sondern der (Groß-)Bauernhof und das Dorf.20 Dass der Gutshof, der sich in Polen als selbständige bauliche Einheit zumeist außerhalb von Dörfern zwischen Feldern, Wiesen usw. befand, ebenfalls aus der Landschaftsdarstellung ausgeschlossen wird, lässt vor diesem Hintergrund erneut eine reduzierte Komplexität erkennbar und die Idealisierung der Landschaft als Dorflandschaft sichtbar werden. Mit dem dritten Bereich der Exklusion rückt die Darstellung ›bewirtschafteter Natur‹ und damit ein zentrales Element der Landschaft in Reymonts Roman in den Blick. Während bei Rej und Koźmian die Darstellung bewirtschafteter Natur das landwirtschaftliche Tätigsein und die ländliche

20 Diese Verschiebung ist bei Reymont bis in die Bezeichnung von ›Gutsherr‹ und ›Landwirt‹ nachvollziehbar: Wie bereits im Zusammenhang mit Rejs »ehrbarem Menschen« erwähnt, wird vom 16. Jahrhundert an bis tief in das 19. Jahrhundert hinein ‒ prominentestes Beispiel ist Mickiewiczs PAN TADEUSZ ‒ in der Literatur der Gutsherr als ›gospodarz‹ bezeichnet, was die Bedeutungen Landwirt, Herr, Gastgeber einschließt und mit einer positiven Konnotation versehen ist; bei Reymont wird nun der Großbauer Maciej Boryna zum »gospodarz«, während der Gutsherr mit »dziedzic« neutral und somit distanziert betitelt wird, wobei polnische Wörterbücher (u.a. Dubisz 2006) als Haupt- bzw. erste Bedeutung »der Erbe« angeben und »Gutsherr« erst als zweite Bedeutung folgt. Die hier skizzierte Verlagerung der Bezeichnungen impliziert eine Bedeutungsverschiebung, die die Bauernschaft und nicht mehr den Adel zum Hüter und Träger der polnischen Nation macht. Innerhalb der polnischen Gesellschaft blieb der Adel indessen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine treibende politische und wirtschaftliche Kraft, zwar wurden die Adelsprivilegien durch die Verfassung von 1921 abgeschafft, doch besaß der Adel auch dann noch erhebliche Anteile an Ackerboden.

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Arbeit fokussierte, wird die bäuerliche Feldarbeit – wie übrigens auch der Bauernhof ‒ in der Darstellung bewirtschafteter Natur bei Reymont weitestgehend unsichtbar. Diese Feststellung zielt weniger darauf ab, dass das bäuerliche Personal und Arbeitsmittel wie Pflug oder Fuhrwerke völlig ausgeblendet werden, sondern auf die Darstellung der ›bewirtschafteten Natur‹ als menschlich-harmonischer Lebensraum und nicht als landwirtschaftlich genutztes Areal. In der eingangs zitierten Textpassage einer dörflichen Herbstlandschaft wird die schwere körperliche Arbeit, die beim Ablesen der Steine von den Äckern verrichtet wird, ebenso wie der Umstand, dass häufig Frauen und Kinder diese Arbeit leisten, verschwiegen. Die »Raine voll Steinhaufen« (Reymont 1958: 9; »sznury miedz pełnych kamionek i tarnin«, Reymont 1991: 1, 8) fungieren als Feldbegrenzungen gleich den wild wachsenden und zur Grenzbepflanzung in der Landwirtschaft eingesetzten Schlehdornbüschen.21 Ähnliches ließe sich in der angeführten Frühlingslandschaft für die »Kartoffeläcker« und »Kohlfelder« (Reymont 1958: 526) konstatieren, die als Nahrungsmittel und Erwerbsquelle für die Dorfbewohner geradezu dafür prädestiniert sind, soziales Leben in den Blick zu nehmen, in dem erwähnten Zitat jedoch ›bewirtschaftete Natur‹ vor allem als schön strukturierter und menschlich bearbeiteter Wahrnehmungsraum, der soziale Realität ausblendet, imaginieren. Mit dem Exkludieren von bäuerlicher Arbeit erfährt die ›bewirtschaftete Natur‹ gewissermaßen eine Sublimierung, die die dörfliche Landschaft als harmonisches Ganzes, losgelöst von den erzählten Konflikten, erscheinen lässt. In der Erzeugung von Dorflandschaft zeigt sich bei Reymont in den beschriebenen Exklusionsverfahren eine extreme Harmonisierung gesellschaftlicher Beziehungen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits anachronistisch wirkt, andererseits freilich den Raum für die Entfaltung des Idyllischen schafft. Das Ausblenden der sozialen Realität bäuerlicher Arbeit resp. Feldarbeit scheint für diese Tendenz konstitutiv zu sein, denn diese würde eine Politisierung befördern.22 Jenem von Mecklenburg für die »realistische

21 Vgl. Pflanzenlexikon 2011-2017. 22 Es bestätigt zudem die These von Böschenstein-Schäfer (1981: 27), dass nur bestimmte Formen der Arbeit, zu denen gewiss kunsthandwerkliche und künstlerische gehören, ›idylleverträglich‹ sind.

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Idylle« des 19. Jahrhunderts beschriebenen Muster folgen die Naturbeschreibungen Reymonts in puncto Integration »sozialer Problematik« (Mecklenburg 1982: 51) nicht. Als ein anderes der Idylle »weitgehend fremde[s] Element«, das aber zunehmend Eingang in diese finde, benennt er das »neue poetische Material heimischer Nahwelt« (ebd.). Inwiefern »heimische Nahwelt« für die idealisierte Darstellung von Landschaft in CHŁOPI prägend ist, soll hier kurz diskutiert werden. Als Komponenten dieser Nahwelt kommen bei der Beschreibung ›bewirtschafteter Natur‹ einheimische Flora und Fauna in Frage. Neben den bereits erwähnten Schlehdornbüschen tauchen in der Herbstlandschaft zwischen dem »grauen Ackerland« (»szare pole«) gelbgefärbte und duftende Lupinen (»łubiny żółciły się kwiatem pachnącym«, Reymont 1991: 1, 8) auf. Lupine und Schlehdorn dürften in der Umgebung von Łódź verbreitete Pflanzen sein. Die gelbe Lupine ist zudem nicht nur »duftende Blume«, sondern ab dem Ende des 19. Jahrhunderts eine zunehmend als Futter verwendete Pflanze. Die später im Roman auftauchenden »Lupinenschober« machen die Nutzung und damit die Verbindung zur bewirtschafteten Natur evident. Ähnliches gilt wiederum für die Kartoffeläcker und Kohlfelder – sowohl die Kartoffelernte als auch das Kohlschneiden sind in die Handlung des Romans eingebettet, aus der Landschaftsdarstellung jedoch ausgeschlossen. Bei der spärlich mit Pflanzen versehenen ›Winterlandschaft‹ werden dafür ›dorfnahe‹ Tiere wie Hase und Rebhühner erwähnt: »[T]o stadko kuropatw skrzykiwało się pod zasypanymi krzami i płochliwie, czujnie ciągnęło chyłkiem ku ludzkim siedzibom, pod brogi pełne; gdzie znów, ale nieczęsto, zajączek jaki zaczerniał, kicał po śniegach, stawał słupka i drapał stwardniałą skorupę dobierając się do zboża [...].« (Reymont 1991: 1, 354) »[E]ine kleine Schar Rebhühner lockte sich unter den verschneiten Büschen und schlich scheu und wachsam zu den menschlichen Behausungen hin, unter die vollen Scheuern; ab und zu, aber selten, hob sich ein Hase dunkel vom weißen Gelände ab, er hüpfte auf dem Schnee, machte Männchen und scharrte an der harten Erdkruste, um an die Wintersaat zu gelangen […].« (Reymont 1958: 312)

›Bewirtschaftete Natur‹, so kann an dieser Stelle festgehalten werden, hebt in den Naturbeschreibungen des Romans nicht auf Landwirtschaft ab, sondern konstituiert Landschaft als ›natürliche‹ Dorflandschaft, als organische

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Einheit von menschlich gestalteter Natur und Naturgegebenheiten. In einem Moment der Unbestimmtheit schwingt in dieser »heimische Nahwelt« mit, ohne jedoch darauf reduziert zu werden. Die Darstellung der Dorflandschaft im Roman erschöpft sich allerdings nicht in der bisher beschriebenen Reduktion und Harmonisierung der sozialen Welt des polnischen Dorfes, vielmehr ist sie in ein hochartifizielles Gewebe eingebunden, das seinen Ausdruck im »jungpolnischen Stilisten« findet.

DORFLANDSCHAFT UND ›MUSSERAUM‹ Kazimierz Wyka verbindet in seinem Modell narrativer Strukturen des Romans den »jungpolnischen Stilisten« mit jener narrativen Ebene, die sich von dem textdominierenden »wsiowy gaduła« (Dorfplauderer, Dorferzähler) einerseits und dem deutlich seltener präsenten »realistyczny obserwator« (realistischen Beobachter) andererseits unterscheidet (Wyka 1979: 130, 139) Den ›Plauderer‹ als Erzählerinstanz abzugrenzen, erscheint unproblematisch: Er figuriert als intimer Kenner aller dörflichen Sitten, Bräuche, Gepflogenheiten sowie Personen und konstituiert sich im Erzählen häufig über eine mündliche Rede imaginierende und sozio- sowie (pseudo-)dialektal geprägte Sprache.23 Schwieriger ist die Differenzierung zwischen »realistischem Beobachter« und »jungpolnischem Stilisten« in Wykas Modell. Letzterer entzieht sich als heterodiegetische Erzählerinstanz in der Fokalisierung jeglicher ›Mitsicht‹ durch Figuren und ist weder in die Handlung noch in das Erzählen von Handlung involviert. Wyka attestiert ihm eine metaphorischsymbolistische und poetisch-intellektuelle Verfasstheit,24 die ihn nicht nur

23 Auf die Tatsache, dass Reymont keinen existierenden Dialekt für seine mundsprachliche Figurenrede nutzte, sondern eine Mischung vornimmt, ging bereits 1911 Kazimierz Nitsch ein. Ausführlich stellt Boronowski dieses Phänomen und die folgende Diskussion unter funktionalem Aspekt dar (vgl. Boronowski 1994: 273-280). 24 Die Schwierigkeit, Reymonts Prosa künstlerisch zu verorten, fasst Dietrich Scholze treffend zusammen: »Polnische Literaturhistoriker haben den künstlerischen Ort Reymonts mit der beinah paradox wirkenden Formel umrissen, der Schriftsteller hätte die realistische Thematik bei naturalistischer Detailtreue mit impressionistischer Technik und expressionistischer Dynamik des Wortes zu vereinen

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zum »Mythenbildner«, sondern auch zum »Naturverwandler« mache: »Er [der jungpolnische Stilist] bedient im Prinzip auch mythenschaffende Bilder und die Wandlungen von Landschaft sowie Natur, zu deren Empfinden Kontemplation und Distanz unerlässlich sind, dem über Pflug oder Sense gebeugten Menschen wenig zugänglich.«25 Wyka charakterisiert das Erzählen von Landschaft und Natur in ähnlicher Weise wie Burckhardt die Wahrnehmung von Landschaft aus soziologischer Sicht beschreibt: »[E]s ist der Städter, der die ›bewirtschaftete Natur‹ als Landschaft erlebt. Nur die Distanz zur Natur und zur Produktion schafft jenes Verhältnis, unter welchem landwirtschaftliche Produktion sowie natürliches Wachstum in einem Bilde der Landschaft gesehen werden.« (Burckhardt 2006: 38) Ob es tatsächlich ein »Städter« sein muss, sei dahingestellt.26 Die Imagination von Landschaft, resp. Wykas »Naturwandlung«, bedarf hingegen wohl unstrittig der Distanz und besteht, wie Burckhardt an anderer Stelle formuliert, »im Desengagement, in der Nicht-Arbeit, die der Betrachter dort leistet« (ebd.: 114). In der Idyllendichtung der Antike fungierte die ›Muße‹ als jenes distanzstiftende Moment, das Natur als Ideallandschaft wahrnehmbar werden ließ. Gäbe es im Polnischen ein Wort für Muße,27 so hätte Wyka es gewiss für das notwendige Empfinden von »Kontemplation und Distanz«

gewußt. Tatsächlich offenbart sich in dieser Wertung die modernistische Stilmischung, die Reymont unwillkürlich praktizierte.« (Scholze 1981: 269) 25 »On [stylizator młodopolski] też zasadniczo obsługuje mitotwórcze obrazy i przemiany krajobrazu oraz przyrody, do których odczucia konieczna jest kontemplacja i dystans, mało dostępne człowiekowi pochylonemu nad pługiem i kosą.« (Wyka 1979: 140) 26 Nell und Weiland halten fest, dass in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts »die erzeugten und vermittelten Dorfbilder sich zuvörderst auch an städtisches Publikum [richteten]« (Nell/Weiland 2015: 28). 27 Hasebrink und Riedl verweisen in ihrer Einleitung darauf, dass der Begriff Muße nur schwer in andere Sprachen zu übersetzen sei (vgl. Hasebrink/Riedl 2014: 1). Das trifft auch auf das Polnische zu. Deutsch-polnische Wörterbücher geben ihn entweder mit »wolny czas« (Freizeit, freie Zeit) oder in analoger Bedeutung mit »wolne chwile« (freie Momente/Augenblicke) an. Im vierbändigen zweisprachigen Wörterbuch von 1847 ist ebenfalls die Übersetzung »wolny czas« zu finden (Troiański 1847: 919).

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bei der »Wandlung von Landschaft und Natur« (vgl. Wyka 1979: 140) verwendet. Für Böschenstein-Schäfer (vgl. 1981: 10) ist Muße eine seit der Antike feststehende Komponente idyllischer Dichtung, gleichwohl der Begriff selbst schwer zu fassen ist und in der neueren Forschung immer wieder die konnotative Uneinheitlichkeit in den verschiedenen Begriffsfeldern hervorgehoben wird (vgl. Gimmel/Keiling 2016: 6). Somit werden sich meine Betrachtungen zur Muße im Kontext von Reymonts »Naturwandlung« auf Räumlichkeit beschränken: »Doch Mußeräume sind anders. Sie sind Enklaven, die das normale Leben ausschließen und deshalb auf betonte Weise Räume sind.« (Figal 2014: 30) In Reymonts Roman CHŁOPI figuriert die Dorflandschaft ob der verminderten Komplexität als ein dem Romangeschehen ›enthobener‹ Raum und als »Mußeraum« vermöge der imaginierten Textperspektive des Betrachtens: »Und unter diesen Wolken, soweit das Auge reichen konnte« (Reymont 1958: 9; »A pod nimi, jak okiem ogarnąć«, Reymont 1991: 1, 8); »Noch näher aber, rings um das Dorf herum« (Reymont 1958: 524; »Bliżej zaś, dokoła wsi«, Reymont 1991: 2, 11). Die Landschaften lösen sich gewissermaßen aus dem narrativen Kontext – in den sie immer wieder geschickt übergeleitet werden, beispielsweise durch ein Überführen in die Mitsicht von Figuren ‒ und kommen gattungsmäßig lyrischer Prosa nahe. Im Betrachten, das den Betrachter in das Betrachtete einschließt, wird die »Distanz« und »Nicht-Arbeit«, die sich als notwendige Voraussetzung der Wahrnehmung ›bewirtschafteter Natur‹ als Landschaft manifestiert, in einem geistig-künstlerischen Tätigsein aufgehoben. Wyka unternimmt den Versuch, diese Textinstanz als narrative Instanz zu beschreiben, indessen hebt die Bezeichnung »jungpolnischer Stilist« auf eine sprachlich-künstlerische und nicht narrative Verfasstheit ab. Dennoch erfasst er damit ein wichtiges Moment des Betrachtens: Der Reduktion von Wirklichkeitskomplexität auf der einen Seite steht eine starke Ästhetisierung gegenüber, die im »jungpolnischen Stilisten« bereits eine Tendenz zum Ästhetizismus andeutet. Das ›Schöne‹ bahnt sich in einem Gemisch literarischer Stilrichtungen der Jahrhundertwende und ihren künstlerischen Verfahren seinen Weg ‒ im Spiel von Farben und Licht bricht die Wahrnehmung der Wirklichkeit in impressionistischer Augenblickshaftigkeit hervor (»und schmutzgraue Brachfelder schnitten scharf ins goldige Licht hinein; dann wieder sah man wie grüne Fächer die Saatenfelder«, Reymont 1958: 526; »w złotawym świetle ostro wyrzynały się szare i utytłane kiej ścierki ugory; to płachty

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zielonawe ozimin«, Reymont 1991: 2, 11), auf symbolistischen Verfahren basiert die Vielzahl von Metaphern und Vergleichen bis hin zur Synästhesie (»durch Blütenduft sich gelb färbende Lupinen«28; »łubiny żółciły się kwiatem pachnącym«, Reymont 1991: 1, 8). Die ästhetizistische Neigung, das Insistieren auf den Eigenwert der Kunst findet in der Textperspektive des »jungpolnischen Stilisten« Ausdruck und formt die Dorflandschaft als Raum »eines freien Verweilens« (Hasebrink/Riedl 2014: 3), als ›Mußeraum‹, dem freilich im Konnex des Romangeschehens etwas Ephemeres zukommt. Analog zu Arkadien ‒ und darin fundiert idyllisch ‒ sind die Landschaftsbeschreibungen »geistige Landschaft« (Snell 2009: 257)29, eine bäuerlich geformte Landschaft, die allerdings den Prozess der Formung, das heißt die Realität bäuerlicher Arbeit, ausschließt. Hier ist ein fundamentaler Unterschied in der Darstellung ›bewirtschafteter Natur‹ im Vergleich zu Rejs und Koźmians Texten zu sehen, da Reymonts Beschreibungen gerade nicht die Bewirtschaftung, sondern das Resultat, das bloße Erscheinungsbild dorfnaher Landschaft fokussiert, gleichsam eine bäuerliche Landschaft ohne Bauern. Als ›Bauernroman‹ scheint der Text in der Darstellung von Dorflandschaft mithin nicht auf. Eine sozialkritische Intension ist dieser Landschaft fremd, eine zivilisatorische freilich nicht ausgeschlossen, denn auf der Darstellungsebene bleibt die ›Bewohnung‹ der Dorflandschaft unbestimmt und somit offen. In dem Roman ZIEMIA OBIECANA (1899, Das gelobte Land), der CHŁOPI unmittelbar vorausgegangenen ist, stellt Reymont die wirtschaftlich explodierende Stadt Łódź als Moloch in das Zentrum einer Urbanismus- und Entfremdungskritik und beleuchtet dort auch die mit der rasanten Industrialisierung in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einsetzende Landflucht. Das Idyllische der Dorflandschaft ließe sich unter diesem Aspekt betrachtet durchaus

28 Hier wird eine am Original orientiert wörtliche Übersetzung benutzt. In der autorisierten Übersetzung geht die synästhetische Qualität der Metapher verloren: »Lupinenfelder breiteten ihre gelben Flächen voll duftender Blumen« (Reymont 1958: 9). Allerdings wird wiederum vom Übersetzer Jean Paul d’Ardeschah wesentlich häufiger als im Original von der rhetorischen Figur der Personifikation bzw. der Anthropomorphisierung Gebrauch gemacht. 29 Snell bezeichnet das Arkadien Vergils als »geistige Landschaft« (Snell 2009: 257).

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als »korrektives Ideal einer unentfremdeten humanen Existenz« (Birkner/Mix 2015: 2) auffassen. Der Textumfang dieser zum ›Bauernroman‹ gegenläufigen Tendenz ist jedoch stark begrenzt und verringert sich überdies zum Romanende hin. Ob hier ein Zusammenhang zur national-konservativeren Orientierung Reymonts nach der Revolution von 1905 besteht, kann nur gemutmaßt werden, auffällig ist indessen die Reduktion der Landschaftsbeschreibungen neben einer Verflachung der Konfliktstruktur auf der Handlungsebene insbesondere im vierten Teil LATO (SOMMER), der erst ab 1908 erschien. Da konzipierte Reymont bereits seinen nächsten, thematisch national-beschwerten Roman ROK 1794 (Das Jahr 1794), eine Trilogie um die Ereignisse der Dreiteilung Polens und den Verlust staatlicher Souveränität. Das Idyllische ist nicht nur eine ephemere Erscheinung des Romans CHŁOPI, sondern auch in Reymonts künstlerischem Gesamtschaffen. Gleichwohl beförderte die idealisierte Dorflandschaft zweifellos den Erfolg des 1924 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Romans, evozieren die Textpassagen doch Dorflandschaft als intakten menschlichen Lebensraum jenseits zerstörerischer Modernität und verorten sie zugleich in ihrer künstlerisch-künstlichen Prägung in der beginnenden Moderne.

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Das zionistische Idyll in der polnisch-jüdischen Literatur der Zwischenkriegszeit Alina Molisak

Eine der grundlegenden Prämissen des (historischen) Zionismus war die radikale Emanzipation der jüdischen Diaspora, mit der sich häufig die Forderung nach einer Veränderung der beruflichen Möglichkeiten der Juden verband.1 Die in der europäischen Diaspora jahrhundertelang vorherrschenden Berufe sollten durch andere ersetzt werden, wobei das Landleben und die Feldarbeit zu den bevorzugten Existenzmodellen gehörten.2 Seit dem ersten Kongress in Basel (1897) lautete eine wichtige Parole der Zionisten: »Ein

1

Neben ihrem Streben nach Autonomie für die jüdische Bevölkerung im Osmanischen Reich propagierten die Zionisten landwirtschaftliche Ansiedlungen, Industrie und eine neue hebräische Kultur. Zeichen der Zugehörigkeit zur Bewegung war ein jährlicher Beitrag, der sogenannte Schekel. Die Zionisten gründeten eine eigene Bank und den Jüdischen Nationalfonds (Keren Kayemeth Le-Israel). Die ersten zionistischen Organisationen auf polnischem Boden entstanden in den 1880er Jahren sowohl im russischen als auch im österreichischen Teilungsgebiet.

2

Das Phänomen der jüdischen Bauern existierte schon länger und ist von Historikern, die sich mit der Geschichte der polnischen Teilungsgebiete befassen, recht ausführlich beschrieben worden. Vgl. Tomaszewski/Żbikowski 2001, Bałaban 1931: 10-17, Stecka 1921: 11-21, Borzymińska 1995: 14-26. Siehe auch: https://sztetl.org.pl/pl/slownik/rolnictwo.

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Land ohne ein Volk für ein Volk ohne ein Land.« (Gorny 1987: 5) 3 Der geplante neue Staat sollte sich durch ein grundlegend neues Gesellschaftsmodell von der Diaspora unterscheiden. Die Reformpläne betrafen nicht nur die Organisation der Institutionen (Verwaltung, Armee, Schulwesen), sondern auch Lebensmodelle und Werte. Theodor Herzl entwarf in seinem 1922 erschienenen Roman ALTNEULAND eine utopische Vision des neuen Staates, in dem die ideale soziale Ordnung verwirklicht werden sollte. Eine der Hauptfiguren des Romans, Dr. Eichenstamm, erklärt einem europäischen Neuankömmling in Jerusalem: »Es ist doch eine der merkwürdigsten Thatsachen im modernen Leben der Juden. In verschiedenen Städten Europas und Amerikas haben sich Gesellschaften gebildet, die so genannten Liebhaber von Zion, mit dem Zweck, hier in unserem alten Lande die Juden zu Ackerbauern zu machen. Es gibt schon eine Anzahl solcher jüdischer Dörfer. Auch einige reiche Wohltäter haben der Sache Geld zugewendet. Unser alter Boden trägt wieder Früchte. Besuchen Sie diese Niederlassungen, bevor Sie Palästina verlassen.«4 (Herzl [o. J.]: 51, Hervorhebung der Autorin)

Zu den Formen des Widerstands gegen die bisherige Existenz in der Diaspora gehörte für die Zionisten somit auch der Entwurf eines agrarisch geprägten Lebens. Diese Idee bot den Nährboden für idyllische Visionen. Man schuf eine Alternative zum bisherigen Ausharren im Galut (hebräisch für jüdische Diaspora): die Erzählung von einem Ideal, von der Rückkehr auf den – im oben zitierten Herzl-Text angesprochenen – »alten Boden«, der »wieder Früchte trägt«. Die Literaturwissenschaft interpretiert das Genre der Idylle allgemein als Gegenentwurf zur Erfahrung der städtischen Zivilisation (Witkowska 1995). Die bukolischen Bilder und das Lob des ländlichen Lebens in der polnischjüdischen Literatur5 der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts resultieren aber

3

Als Urheber der Parole »Ein Land ohne ein Volk für ein Volk ohne ein Land« gilt der britische Zionist und Schriftsteller Israel Zangwill.

4

Wenige Monate nach Veröffentlichung des deutschen Texts erschien unter dem Titel TEL-AVIV Nachum Sokolows hebräische Übersetzung. Diesem Titel verdankt die 1909 gegründete Stadt ihren Namen.

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Eugenia Prokop-Janiec definiert polnisch-jüdische Literatur allgemein als Literatur, die von jüdischen Autoren in polnischer Sprache geschrieben wurde. In einem

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maßgeblich aus dem Einfluss zionistischer Ideen, die für sich beanspruchten, eine moderne jüdische Identität zu prägen. Die Entstehung von Gedichten und Prosa, die den Reiz des Landlebens und der agrarischen Tätigkeit besangen, sind daher stärker durch politische Ideale inspiriert als durch die literarische Tradition. Hier steht das ländliche Idyll nicht gegen Stadt und Zivilisationsmüdigkeit, sondern erscheint als Teil einer radikal anderen Opposition: Dem Leben der jüdischen Community in der (meist städtischen und kleinstädtischen) Diaspora werden die wahr gewordenen Träume der Siedler in Eretz Israel, das Gefühl der Verbundenheit mit dem Land und das Lob der Gründung agrarischer Kommunen gegenübergestellt. Ein – für das Genre der literarischen Idylle typisches – zentrales Element ist dabei die Idealisierung des ländlichen Lebens, die Darstellung vor allem seiner verlockenden Seiten. In vielen Kunstgattungen – in der Literatur wie in der bildenden Kunst – versuchte man die besondere Erfüllung und den geistigen Frieden darzustellen, die in der Gemeinschaft der im Land der Väter gegründeten agrarischen Siedlungen erreicht werden konnten. In den Archiven sind viele zionistische Plakate erhalten. Oft handelt sich um Spendenaufrufe für Eretz Israel.6 Ein anschauliches Beispiel zeigt ein buntes Schachbrettmuster beackerter Felder in einem malerischen Tal, darunter ein Appell in hebräischer Sprache: »HaGalil! Mo’etset ha-morim lema’an ha-keren ha-kayemet le-yisrael« (»Nach Galiläa! Unterstützt das Lehrerkomitee für den Jüdischen Nationalfonds«).7 Das Plakat zeigt den Weg in die von Hügeln umsäumte fruchtbare

engeren Sinne kommt ein zusätzliches Kriterium hinzu: Die entsprechenden Werke müssen Themen des jüdischen kulturellen Erbes oder der modernen jüdischen Identität aufgreifen. In der Zwischenkriegszeit in Polen existierte neben dem polnischen ein autonomer jüdischer Literaturbetrieb in polnischer Sprache (vgl. Prokop-Janiec 1992: 15-21). 6

Vgl. die Sammlung zionistischer Plakate unter https://www.pinterest.com/ loriarbel/zionist-posters/.

7

Der Jüdische Nationalfonds Keren Kayemeth Le-Israel wurde 1901 auf dem fünften Zionistenkongress geschaffen. Seine Aufgabe war es, Geld zum Ankauf von Land und zum Bau jüdischer Siedlungen zu sammeln. Der Nationalfonds leistete auch einen maßgeblichen Beitrag u.a. zur Gründung und zum Ausbau von Tel Aviv sowie zur Gründung von Kibbuzim in der Jesreelebene. Die sumpfige Ebene wurde angekauft und trockengelegt; die gesamte Region hatte für die zionistische Bewegung besondere symbolische Bedeutung.

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Ebene Galiläas. Neben den lebendigen Farben der bewirtschafteten Felder sieht man kraftvoll arbeitende Bauern und einen fahrenden Traktor, offensichtlich eine Allegorie der modernen Landwirtschaft. Das Plakat hat propagandistische Funktion, es ruft zu Spenden für die Gründung agrarischer Siedlungen in Galiläa auf. Eine anders geartete, gleichwohl ebenfalls typische Gestaltung des Motivs der Idylle findet sich auf einem Propagandaplakat aus den 1930er Jahren, das dem Leben in der als Ort von Entfremdung und Identitätsverlust verstandenen Großstadt das herrliche, in leuchtenden Farben erstrahlende Leben auf dem Land in Eretz Israel gegenüberstellt.8 Das Plakat konfrontiert nicht zuletzt durch die Farbgebung zwei ganz unterschiedliche Welten miteinander: Auf der linken Seite sehen wir in Grautönen eine Großstadt, die den sie betrachtenden Neuankömmling förmlich erdrückt: Die Hochhäuser verdecken dabei den von Rauch oder Wolken verhangenen Himmel. Die Wolkenkratzer könnten den Eindruck vermitteln, es handele sich um die von den osteuropäischen Juden mythologisierte ›goldene medine‹ (›das goldene Land‹), d.h. die Großstädte Amerikas. Der düsteren Darstellung ist eine Warnung beigefügt, dieses Mal in Jiddisch, das in der Diaspora der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allgemein verbreitet war: »Er hot shoyn fargesen un geyt in a nayem goles. Gedenk yid! Yeder goles firt tsum untergang.« (»Er hat schon vergessen und geht in ein neues Galut. Bedenke, Jude, jedes Galut führt zum Untergang!«) Im Kontrast dazu zeigt die rechte Seite des Plakats ein Bild von Eretz Israel, das die Perspektive eines Lebens in einem freundlichen ländlichen Raum eröffnet. Dieses Bild arbeitet mit kräftigen Farben, es zeigt einen großflächigen blauen Himmel und Feldfrüchte, die vom Wohlstand, der Fülle und dem Reichtum des Heimatlandes zeugen. Unterstrichen wird diese farbenfrohe Verheißung eines radikal anderen Lebens durch die Aufforderung: »Shoyn genug! Kh’vil a heym!« (»Es reicht! Ich will ein Zuhause!«) Schon das Beispiel der beiden angeführten Plakate zeigt deutlich, welch großer Stellenwert der landwirtschaftlichen Arbeit und der Herausbil-

8

Die Abbildung ist zu finden unter https://thecharnelhouse.org/tag/zionism/.

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dung einer neuen, an den Boden und die Landschaft des Heimatlandes gebundenen Identität in den Entwürfen einer neuen jüdischen Existenz beigemessen wurde.9 Wenn man über die Verfasser zionistischer Idyllen in der Blütezeit der polnisch-jüdischen Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts spricht, muss man auch fragen, unter welchen anderen Aspekten (außer dem ideellen, mitunter auch ideologischen) diese Werke aus dem Erbe der Gattungstradition hervorstechen. Ein interessanter Autor in diesem Kontext ist Alfred Nossig, ein wichtiger gesellschaftspolitischer Aktivist, dessen kurz nach Erscheinen auch ins Deutsche übersetzter Text PRÓBA ROZWIĄZANIA KWESTII ŻYDOWSKIEJ (Versuch zur Lösung der jüdischen Frage, 1887) in Polen eine Diskussion über die zionistische Bewegung auslöste.10 In einem 1901 veröffentlichten Gedicht mit dem Titel PIEŚŃ ZMARTWYCHWSTANIA (Lied von der Auferstehung) deklariert er: »My już nie wzdychamy! W ręce bierzem sierp i pług I w wolny lud się przemieniamy!« (Nossig 1996: 49f)

9

Zwar gab es auch in der Geschichte der Diaspora jüdische Bauern (vgl. Fußnote 2), doch dominierten in ihr eindeutig Handwerk, Handel, Dienstleistungen und freie Berufe.

10 Alfred Nossig (1864-1943) vertrat zunächst die Idee der Assimilation, wovon die von ihm herausgegebene Tageszeitung OJCZYZNA (Heimatland) in polnischer Sprache zeugte. Später wandte er sich dem Zionismus zu. 1887 veröffentlichte er die erste polnische zionistische Schrift VERSUCH ZUR LÖSUNG DER JÜDISCHEN FRAGE. Ende des 19. Jahrhunderts war Nossig Korrespondent der in Paris erscheinenden GAZETA LWOWSKA (Lemberger Zeitung). Er nahm am ersten Zionistenkongress in Basel teil (1897), wo er mit Theodor Herzl in Konflikt geriet. 1902 gründete er in Berlin den Verein für Statistik der Juden. Nossig war auch Mitherausgeber der Zeitschrift PALÄSTINA (1902-1938), im Jahr 1908 Mitbegründer der bis zum Ende des Ersten Weltkriegs in Berlin sehr aktiven Allgemeinen Jüdischen Kolonisationsorganisation zur »Förderung jüdischer landwirtschaftlicher Kolonisation in Palästina, Syrien und der Sinai-Halbinsel« und 1928 Mitgründer der jüdischen Abteilung des Friedensbundes der Religionen. 1933 verließ Nossig Berlin und ging zurück nach Polen.

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»Wir seufzen nun nicht mehr! / In die Hände nehmen wir Sichel und Pflug / Und verwandeln uns in ein freies Volk!«11

Die radikale Transformation des jüdischen Lebens und die Erfüllung des Traums von Freiheit für das jüdische Volk verbinden sich hier sowohl mit der Aufgabe der passiven Sehnsucht nach dem Heimatland als auch mit konkretem Handeln, mit der Beglaubigung des Wandels durch Landarbeit und den Einsatz der im Text genannten landwirtschaftlichen Werkzeuge. Bei Nossig zeigt sich wohl am deutlichsten, was die idyllischen Visionen im Kontext der zionistischen Idee des aktiven Handelns von der klassischen literarischen Idylle unterscheidet. Die nachfolgenden Strophen enthalten präzise kulturelle und historische Verweise: »Syjonie! nasze chaty Ochroni świętych gór twych cień, Gdy w twą ziemię wetkniem łopaty, Wzejdzie nowy dla świata dzień […] Praojców groby tam błyszczą I rajska powietrza tam woń! Proroków widzenia się ziszczą I spocznie tułacza tam skroń […].« (Ebd.: 49) »Zion! Unsere Hütten / Schützt deiner heiligen Berge Schatten, / Wenn in deine Erde wir die Schaufeln stoßen, / Bricht für die Welt ein neuer Tag an / […] / Dort leuchten der Urväter Gräber / Und paradiesisch duftet die Luft! / Der Propheten Visionen werden wahr / Und ruhen wird dort des Wanderers Haupt [...].«

Das Gedicht enthält zahlreiche Verweise und Anspielungen nicht nur auf das symbolische Zion, sondern auf die jüdische Tradition und das Erbe des Judaismus. Die »heiligen Berge« gewähren den Ankömmlingen Schutz, und ihre Gegenwart in Eretz Israel wird als Erfüllung der Visionen der biblischen Propheten verstanden. Es handelt sich um eine gleichsam doppelte Versicherung: Die Landarbeit bedeutet eine Verwandlung, eine spezifische Metanoia

11 Soweit nicht anders vermerkt, stammt die Übersetzung vom Übersetzer des Artikels.

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(»Bricht für die Welt ein neuer Tag an« – bemerkenswert ist hier auch die Dimension des Projektes: Die Veränderung betrifft nicht nur die Juden in der Diaspora, sondern die ganze Welt), darüber hinaus aber auch die Erfüllung der Verheißungen der alten Propheten. Eine ähnliche Auffassung vom kulturellen Erbe des Judaismus manifestiert sich in Karol Rosenfelds12 Gedicht PSALM: »Czeka nas pług na własnej roli I rozśpiewany gaj, Duch tam Praojców nas wyzwoli, Tam nam zakwitnie maj.« (Rosenfeld 1996) »Uns erwartet der Pflug auf eigenem Boden / Und ein singender Hain. / Der Vorväter Geist wird uns dort befreien, / Dort erblüht uns der Mai.«

Zu den polnisch-jüdischen Autoren der Zwischenkriegszeit, die am häufigsten die imaginierte idyllische Landschaft von Eretz Israel beschreiben, gehört Roman Brandstaetter.13 Sein poetischer Brief aus Palästina ist vor allem eine Schilderung der neuen Landschaft und der in sie eingeschriebenen Existenz der Ankömmlinge aus der Diaspora. Das »nach Myrrhe duftende« Land, wo Zedern wachsen, Obstgärten »üppig im Grün der runden Melonen rauschen« und »im Schatten des Pardes«14 die Bienenstöcke brummen, erscheint als besonderer Ort, als gleichsam paradiesisches Terrain (Brandstaetter 1996a: 160). Bemerkenswerterweise enthält der Text aber auch Verweise auf den polnischen ländlichen Raum – der Obstgarten trägt »reiche Blüte, wie die Birnen in den polnischen Gärten« (ebd.: 160). Der Aufruf an die Adressaten, sich in Eretz Israel anzusiedeln, wird folgendermaßen begründet:

12 Karol Rosenfeld, Dichter, aktiv in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und in der Zwischenkriegszeit in Krakau. Autor von Kabarett-Texten, patriotischen Kriegsgedichten (im Ersten Weltkrieg) sowie zionistischer Poesie. Vgl. Prokop-Janiec 1992: 314. 13 Roman Brandstaetter (1906-1987), Dichter, Prosaiker und Publizist, Vertreter der polnisch-jüdischen Literatur, Redakteur der Warschauer Zeitschrift OPINIA (Die Meinung). In seinen Lyrikbänden aus der Zwischenkriegszeit finden sich zahlreiche zionistische Gedichte. 14 Pardes (hebr. ‫ – )פרדס‬bedeutet etwa Obstgarten.

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»[…] Więc, nuże, przybywaj tu do nas, Najdroższy mój przyjacielu, i w świętej mowie biblijnej Śpiewaj tę pracę miedzianą, potęgę łopat hebrajskich Trud pługów, co ci jest bliższy, niż lniane skiby Mazowsza.« (Ebd.: 161) »Nun komm doch also endlich zu uns, / mein teuerster Freund, und in der heiligen Sprache der Bibel / besinge diese kupferne Arbeit, die Kraft der hebräischen Schaufeln / die Mühe der Pflüge, die näher dir ist als die linnenen Schollen Masowiens.«

Hier erscheint ein weiteres Motiv, das die Idylle ein wenig stört, denn es zeigt sich, dass das Leben auf dem heimatlichen »duftenden Land«, zwischen Äckern, Obstgärten und Haustieren (Kühe, Geflügel, aber auch Esel) mit Mühe und Anstrengung verbunden ist. Neben der Begeisterung und den Bildern des neuen, mit dem zionistischen Ideal übereinstimmenden Lebens steht das Bewusstsein der mühevollen und trotz des Einsatzes moderner Geräte harten landwirtschaftlichen Arbeit: »A tu zaś pola zielone! Wiecznie zielone i płowe! Gdy na te skiby dziś patrzę i ciężko mknące traktory I na winnice złociste, oliwki i studnie, i cedry, Raduje się serce moje, że wszystko tutaj wokoło Jest wreszcie nasze, ojczyste […].« (Ebd.: 161) »Hier aber sind grüne Felder! Ewig grün und goldgelb! / Wenn ich heute diese Schollen betrachte und die schwer dahineilenden Traktoren / Und die goldenen Weinberge, Oliven und Brunnen und Zedern, / Dann freut sich mein Herz, dass ringsum hier alles / Endlich unser ist, heimatlich […].«

Diese Gestaltungsweise der Idylle entspricht allerdings durchaus antiken Darstellungen von Arkadien: Die Erfahrung des Leidens, der Mühen und des Bösen war auch ihnen schon eigen (vgl. Przybylski 1966). Auch zionistische Prosaautoren arbeiteten mit vergleichbaren rhetorischen Kunstgriffen und Darstellungsweisen. Ein anschauliches Beispiel dafür sind die Erzählungen des polnisch-jüdischen Autors Rubin Feldszuh (vgl. Antosik-Piela 2011a, 2011b). Sein unter dem Pseudonym Ben Szem erschienener Band NOCE PALESTYŃSKIE (Palästinische Nächte, 1928) enthält einige

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Passagen, die zeigen, mit welch großen Mühen der Alltag in den neuen jüdischen Siedlungen in Eretz Israel verbunden ist – sei es die Feldarbeit oder die Notwendigkeit, die von den jüdischen Siedlern in Besitz genommenen Territorien zu verteidigen. Wie Antosik-Piela schreibt, zwar »[…] deklarierten die Hechaluzim sich als Menschen des Orients […], die trotz der kulturellen Unterschiede die Gegenwart der Araber respektieren«, 15 doch selbst das Gefühl einer gewissen Zusammengehörigkeit und die Wahrnehmung der beiden ethnischen Gruppen als »Söhne dieses Landes« habe die Konflikte nicht überwinden helfen können (Antosik-Piela 2011a: 57). Die titelgebenden »palästinischen Nächte« werden von zwei radikal unterschiedlichen Erfahrungen bestimmt: Auf der einen Seite stehen Angst und die Inbrunst der Gewalt, mit der die jüdischen Siedlungen verteidigt werden, auf der anderen Seite sind sie erfüllt von Liebe und erotischer Faszination, die in der Erzählung oft mit besonderer Leidenschaft hervorgehoben wird. Die Protagonisten bewegen sich meist in außerstädtischen Räumen – in Orangenhainen, zwischen Palmen, auf dem »harten, aber üppig Frucht tragenden« Land (Feldszuh 1928: 15). Oft wird die innere Veränderung der Figuren in der Szenerie des ›altneuen‹ Heimatlandes betont: Sie erleben eine zweite Geburt, gewinnen Selbstsicherheit, Entscheidungskraft und Mut – Eigenschaften, die nun die im Vergleich zur Diaspora komplett gewandelte jüdische Community charakterisieren sollen. Selbst die im Kampf davongetragenen Wunden stärken das Band zwischen Siedlern und dem Land Israel: »W mokrej glebie, prawie już wsiąknięta, ale jeszcze świeżo zarysowana, błyszczała czerwona, młoda, ożywcza krew żydowska. Błyszczała jego pierwsza krew przelana za ojczyznę.« (Ebd.: 27) »Im feuchten Boden glänzte, fast eingesickert, aber noch frisch umrissen, rotes, junges, belebendes jüdisches Blut. Glänzte sein erstes für das Vaterland vergossenes Blut.«

Das Motiv des Heimatlandes und des fernen, sakralisierten Bodens begegnet uns in vielen Texten, unter anderem in Brandstaetters Lyrik. Oft nimmt es emblematische Formen an, bleibt aber der neuen, zionistischen Symbolik

15 »[C]haluce deklarowali się jako ludzie Wschodu […] którzy pomimo różnic kulturowych, uznają obecność Arabów jako naturalną«.

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verhaftet. In einem Gedicht mit dem Titel OJCZYZNA (Heimatland) erscheinen Figuren, die auf israelischem Boden wirtschaften – beispielsweise die stolze und starke »Pionierin« (»chaluca«),16 die »bei den Kühen arbeitet«, mit »süßer Freude« die Ernte beobachtet oder sich ausruht, »wenn die anbrechende Dämmerung die Füße in den Fluss taucht / Und Emek, Hulda, die Mühen Hebrons in den Schlaf wiegt« (»Gdy zmierzch zapadający nurza stopy w rzece, / Kołysząc do snu Emek, Chuldę, znój Hebronu«, Brandstaetter 1996b: 183). Eine andere emblematische Darstellung der ›altneuen‹ Heimat findet sich in einem Gedicht mit dem Titel ŻNIWIARZOM ŻYDOWSKIM SPOCZYNEK PO PRACY (Den jüdischen Erntearbeitern Rast nach getanem Werk), in dem der Dichter die Arbeit der »jüdischen Bauern« im Emek-Tal besingt, die in brütender Hitze die Ernte einbringen. Dabei zieht Brandstaetter Vergleiche zu polnischen Landschaften. An einer Stelle heißt es, im Emek-Tal gedeihe das Korn »wie im podolischen Lehmboden« (»jak w podolskiej glinie«), an anderer Stelle wünscht er den erschöpften Pionieren: »[U]nd mögen die Erntearbeiter rasten im Schatten heiterer Sterne / wie im kühlen Schatten der in Czarnolas gewachsenen Linde« (»[I] niech spoczną żniwiarze w cieniu gwiazdpogodnych, / jak w chłodnym cieniu lipy z czarnoleskiej ziemi«, Brandstaetter 1996c: 176).17 Die Idealisierung des Heimatlandes, des Landes Israel, ist bei Brandstaetter stark emotional gefärbt, was insbesondere im bereits zitierten Gedicht OJCZYZNA sichtbar wird:

16 Der im Polnischen gebrauchte Ausdruck »chaluca« bezeichnet eine Frau (ein Mädchen) aus dem Hechaluz (von hebr. ‫ החלוץ‬dt. Pionier, Siedler), einer 1914 in Russland gegründeten zionistischen Jugendorganisation, deren Ziel darin bestand, die zionistische Bewegung wiederzubeleben und die Rückkehr der Juden aus der Diaspora ins Land Israel vorzubereiten. 17 Für Leser, die mit der polnischen Literatur vertraut sind, ist die Anspielung auf den Renaissance-Dichter Jan Kochanowski und dessen kanonisches Gedicht NA LIPĘ

(Auf eine Linde), ein Loblied auf das Landleben im Gutshof des Dichters in

Czarnolas, evident. Die Bedeutung des Motivs der »Linde von Czarnolas« in der polnischen Kultur zeigt sich unter anderem darin, dass Dichter wie Juliusz Słowacki (Reise in den Osten) oder Leopold Staff (Die Linde) in ihren Werken darauf zurückgreifen.

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»Święta moja ojczyzno! Gdy wśród parnych nocy Wspomnisz te dni, jak dźwięki w zapomnianym śpiewie, Wiedz, że tam na dalekiej, pochmurnej północy Szalonymi słowami modlę się za ciebie. […] Bo chcę abyś mi była czysta i anielska, Wawrzynowa i gniewna, groźna i wspaniała, Wonią mirry owiana, biała i niebieska Tak, jak we mnie wyrosłaś i we mnie dojrzałaś.« (Brandstaetter 1996b: 183) »Du mein heiliges Vaterland! Wenn du in feuchtwarmen Nächten / Dich der Tage erinnerst wie Klängen eines vergessenen Liedes, / Dann wisse, dass im fernen, finsteren Norden / Ich mit wahnsinnigen Worten für dich bete. […] / Denn ich möchte, dass du mir rein und engelsgleich bleibst, / Lorbeerbekränzt und zornig, bedrohlich und erhaben, / Von Myrrheduft umweht, weiß und blau / So, wie du in mir wuchsest und in mir reiftest.«

Brandstaetter, der viele poetische Texte zu Fragen der jüdischen Identität verfasste, kontrastiert mitunter aber auch die Räume des Eretz Israel und der polnische Diaspora. In einem längeren Gedicht mit dem Titel AUTOPORTRET ŻYDA (Selbstporträt eines Juden) werden in Form der Anrufung einer höheren Macht sowohl die Geschichte der frühen Jahrhunderte und des Bundes mit Gott als auch die späteren schweren Jahre in der Diaspora beschrieben, deren hoher Preis nicht nur in den erlittenen Verfolgungen bestand, sondern auch im Verlust der Heimatsprache zugunsten jener Sprache, die dort gesprochen wird, wo »weiß der Störche Klappern und silbern der Weichsel Tiefe leuchten« (»bieli się klekot bociani i srebrzy głębina Wisły«). Zwei Abschnitte handeln von den beiden einander gegenübergestellten Räumen: dem »goldgelben polnischen Land« (»polskiej pszenicznej ziemi«) und der alten jüdischen Heimat (Brandstaetter 1996d: 159). Im Schlussteil des Gedichts wendet sich das lyrische Subjekt an den Höchsten: »Byś mnie powrócił łaskawie na łono mojej ojczyzny, Abyś pozwolił mi spocząć pod smukłej palmy koroną, Nad jordanowym sitowiem i w ciszy złotego łanu, I wchłonąć w nozdrza woń cedrów […].« (Ebd.: 159)

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»Führe mich gnädig zurück in den Schoß meiner Heimat, / Lasse mich ruhen unter der schlanken Palme Krone, / im Schilf des Jordan und in der Stille des goldenen Feldes, / Und lasse mich atmen den Duft der Zedern […].«

In den bereits zitierten Erzählungen Rubin Feldszuhs erhält die Gegenüberstellung von neuer und alter Heimat eine weitere Dimension. Eine Figur, die mit der Waffe in der Hand die landwirtschaftlichen Ansiedlungen in Eretz beschützt, erinnert sich an Demütigungen und erlittene Gewalt. Der Erinnerung an die Pogrome in der osteuropäischen Diaspora verbindet sich mit einer überaus radikalen wertenden Reflexion. In jenen, nun schon weit entlegenen Räumen starben »Tausende seiner ermordeten Brüder […] ohne Ziel und Wert« (»Tysiące jego zabitych braci umierało bez celu i wartości«, Feldszuh 1928: 27). Die Hechaluzim indes, die ihre Siedlungen in der neuen Heimat verteidigen, werden zusammengeschweißt durch die tiefe, von der Liebe zu diesem konkreten, eigenen Ort gestützte Überzeugung von der Sinnhaftigkeit und Zweckmäßigkeit ihres Handelns: »[O]bjął okiem pełnem […] silnej miłości, tę ziemię Erec-Izrael, to niebo palestyńskie, tę kolonję żydowską, to powietrze Kanaanu, i objął siebie, młodego Żyda, szomra, i dusza dziękczynnie uderzyła we wszystkie dzwony […].« (Ebd.: 20) »[E]r sah mit einem Blick voller […] starker Liebe auf dieses Land Eretz Israel, den palästinischen Himmel, die jüdische Kolonie, die Luft Kanaans, und er sah auf sich, den jungen Juden, den Schomer, und seine Seele schlug dankbar alle Glocken an […].«

Die idyllischen Visionen der gemeinsamen Feldarbeit und der Transformation von Wüsten und Sümpfen in fruchtbares Ackerland geht einher mit der Reflexion, in der sich die Erinnerung an die Vergangenheit und die noch frischen Diaspora-Erfahrungen erlittenen Unrechts mit der Aussicht auf die Gestaltung einer idealisierten Zukunft verbinden. Die geplante Verwirklichung der Ideale wird oft zu früheren Epochen, zum biblischen Zeitalter in Bezug gesetzt. Die jungen Männer, die die Siedlungen schützen, erhalten Unterstützung – von tapferen jungen Frauen: »I nagle, zobaczył przed sobą młody szomer biblijną Ester i apokryficzną Judytę, która pędzi z narażeniem własnego życia i własnej czci, do obozu wroga, by krwią

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własną i honorem okupić życie i honor setek swych braci. […] Córa Izraela na ziemi Izraela.« (Ebd.: 32f.) »Und plötzlich sah der junge Schomer vor sich die biblische Ester und die apokryphe Judith, die unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Ehre ins Lager des Feindes eilt, um mit ihrem Blut und ihrer Ehre das Leben und die Ehre hunderter ihrer Brüder zu retten. […] Israels Tochter im Lande Israel.«

Ähnliche Bezüge in den imaginierten Visionen des Landes Israel, in denen die idyllischen Projektionen mit zionistischen Ideen unterfüttert waren, gibt es auch in poetischen Texten. Wie in der angesprochenen Prosa, so werden auch in der Lyrik die idyllischen Visionen in der biblischen Tradition verankert und (wie in Brandstaetters Lyrik) metaphysisch legitimiert. Auch die Gedichte des in Jiddisch und Polnisch schreibenden Dichters Maurycy Szymel (1903-1942) sind reich an biblischen Referenzen. Im Gedicht PRZYMIERZE (Der Bund) wird die Landschaft durch »den Glanz des Himmels« (»blask nieba«), »warme Weinberge« (»ciepłe winnice«), Haine und Gärten, oder »grüne Dämmerungen« (»zielone zmierzchy«) charakterisiert. Ruhe und Frieden verbinden sich mit dem Bewusstsein, »im Schatten des eigenen Baumes« (»pod cieniem własnego drzewa«) zu leben, und mit der Freude über den »Wein meiner Früchte« (»wina moich owoców«) und das »Brot meines Landes« (»chleb mojej ziemi«). All das macht es leichter, die alte Geste zu wiederholen: »Z ojczyzną odnawiam przymierze W noc pełną mistycznych znaków – Na czoło kładą mi ręce Abraham, Izaak i Jakub.« (Szymel 1996c) »Ich erneuere den Bund mit der Heimat / In einer Nacht voller mystischer Zeichen – / Auf die Stirn legen die Hand mir / Abraham, Isaak und Jakob.«

Eine direkte Anknüpfung an die biblische Tradition bildet Szymels Gedicht SIELANKA (Idylle), das die Geschichte von Boas und Ruth aufgreift. Mit der Referenz auf das Schicksal biblischer Gestalten verbindet sich die dieser poetischen Gattung immanente Sehnsucht nach einer Rückkehr zum Ursprung, der durch die Visionen idyllischer Landschaften markiert wird. Bei Szymel

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werden die abendlichen Räume durch »das Spiel der Lichter« (»gra świateł«), »duftendes Heu« (»pachnące siano«) und den auf das Getreide herabfallenden »frischen Tau« (»rześka rosa«) charakterisiert (Szymel 1996d). Im poetischen Schaffen der über Eretz Israel schreibenden polnisch-jüdischen Autoren lassen sich zwei weitere Modelle hervorheben. Zum einen sind dies dem politischen Zionismus nahe Visionen, wie sie sich beispielsweise in einigen Gedichten Anda Ekers finden. Die Lemberger Dichterin besingt zwar ebenfalls die Schönheit des Landes und den Reiz der dortigen Natur. Sie rühmt etwa »[…] die duftendsten Palmen in diesem hellen Land, / deren Blätter fließender, warmer Glanz vergoldet« (»[…] najwonniejsze palmy w tamtym jasnym kraju / wyzłacane na liściach płynnym, ciepłym blaskiem«, Eker 1996b). Oder sie sieht »[…] – Winnice czerwone i złote – domy jasne, szerokie i nowe ‒ Kolonie w tym słońcu rozkwitłe – skwarna spieka upalnych twych żniw – – Lepkie figi, migdały, daktyle – ogrody pomarańczowe – […].« (Eker 1996a) »[…] – Die roten und goldenen Weinberge – die hellen und geräumigen neuen Häuser – / Die Kolonien, die in dieser Sonne erblühten – die brütende Hitze deiner sengenden Ernte – / Die klebrigen Feigen, Mandeln, Datteln – die Orangengärten – […].«

Die Protagonisten von Ekers Gedichten über Eretz Israel sind oft junge jüdische Siedler, die Willenskraft, Energie, Arbeitseifer und den Wunsch, eine neue Wirklichkeit zu schaffen, demonstrieren: »Idziemy równym szeregiem, idziemy w zwartej kolumnie, Przy siostrze – siostra błękitna, przy bracie błękitnym – brat – Idziemy młodzi i piękni, radośni, zdrowi i dumni, I patrzą na nas trybuny i cały widzi nas świat – W ramionach krzepkich, brązowych, nabrzmiałych siłą i mocą, Niesiemy sztandar nasz z gwiazdą – największy, najdroższy cud – To te ramiona i ręce z twardą się ziemią szamocą To one wiedzą co znaczy miłość i walka i trud! – […].« (Eker 1996c)18

18 Das Gedicht ist datiert: »Haifa, am 18 März 1932«.

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»Wir gehen in Reih und Glied, eine kompakte Kolonne, / Bei der Schwester – eine blaue Schwester, beim blauen Bruder – ein Bruder – / Wir gehen jung und schön, freudig, gesund und stolz, / Und die Tribünen schauen auf uns und uns sieht die ganze Welt – // Mit den rüstigen, braunen Armen, angeschwollen von Stärke und Kraft, / Tragen wir unsere Standarte mit dem Stern – das größte, teuerste Wunder – / Diese Arme und Hände, sie ringen mit der harten Erde / Sie wissen, was Liebe bedeutet und Kampf und Mühe! – [...].«

Das zweite Modell besteht in einer überaus interessanten Verbindung des Polnischen und des Jüdischen in Bildern, die zionistischen Projekten nahestehen. Im Zusammenhang mit der aus den Gedichten Szymels herauszulesenden extrem anti-industriellen Vision des Landes Israel hat Władysław Panas auf die »Kontamination der Landschaft« und auf die Parallelen zur Darstellung des Dorfes in den Bildern des polnischen Malers Józef Chełmoński hingewiesen (vgl. Panas 1996: 37). Ein offensichtliches Beispiel dafür finden wir in Szymels Gedicht DWIE OJCZYZNY (Zwei Heimatländer), das mit einem charakteristischen Bild endet: »Lecz wiem, że pójdę, że zbuduję chatę białą, Gdzie obok winnic będzie polski klon wyrastał; Gdybym wpadł w rozchwiej wspomnień oszalałą, Niech przejdzie nocą cień białego Piasta.« (Szymel 1996a) »Doch weiß ich, ich werde gehen, ich werde eine weiße Hütte bauen, / Wo neben Weinbergen polnischer Ahorn emporwachsen wird; / Und sollte mich der Sturm der Erinnerungen packen / So möge in der Nacht der weiße Schatten des Piasten vorbeiziehen.«

Der Genrekonvention der Idylle entspricht ein weiteres Gedicht Szymels, KOŁYSANKA (Wiegenlied), in dem vom »bunten und stillen Dorf« die Rede ist, das in Samarien, Hebron oder Jericho verortet wird, wo Bäume rauschen und wo neben »Mandeln, Zypressen« auch »in der Sonne gebleichte, vom Wind geblähte Zelte« wachsen. Das Gedicht steht ganz in der Tradition der idyllischen Darstellung:

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»Grają pastusze fujarki, cisze grają i spokój – Jak blisko przepływa niebo nakrapiane czerwienią obłoków. Dzień się otwiera niebieski, ojczysty i rzeczywisty – Napiszemy dzisiaj do Polski pogodne wesołe listy.« (Szymel 1996b: 263) »Die Hirten spielen auf Flöten, sie spielen Stille und Frieden – / Wie nah zieht der vom Rot der Wolken gesprenkelte Himmel vorbei. / Der Tag öffnet sich himmlisch blau, heimatlich und wirklich – / Wir schreiben heute nach Polen heitere fröhliche Briefe.«

In ähnlich heiterem Ton, der freilich auch die Ferne des träumenden Subjekts erkennen lässt, ist das Anda Eker gewidmete Gedicht WOŃ MLEKA I MIODU (Der Duft von Milch und Honig) gehalten. Die Evokation der Vorstellung vom Land, »in dem Milch und Honig fließen«, das heißt von einem fruchtbaren Reich der Fülle, verweist auf das biblische Land Kanaan, das gelobte Land. Der Text arbeitet mit einem Parallelismus: Neben der Aussage über die »goldgelben polnischen Fluren« (»płowy, polski łan«) steht folgende Formulierung: »Błogosławię was, o łąki moje nieznane, Rozrzucone w ojczyźnie, która jest daleko […].« (Szymel 1996e) »Ich segne euch, ihr meine unbekannten Wiesen, / Verstreut über das Heimatland, das fern ist […].«

Die hier besprochenen Texte bilden nur einen Bruchteil der in polnischer Sprache verfassten Literatur polnisch-jüdischer Autoren, die – zu zionistischen Idealen tendierend – ein Bild des ›altneuen‹ Heimatlandes als idyllischen Raumes zu zeichnen versuchten. In dieser Sichtweise wird Eretz Israel nicht nur als Ort der Heimkehr in die alte Heimat figuriert, sondern auch als Chance zur Anknüpfung an die mythischen Uranfänge des jüdischen Volkes entworfen. Den idyllischen Bildern stehen gelegentlich Schilderungen erlebten Leids zur Seite. Das ändert aber nichts an der grundlegenden Vision – der Verwirklichung der zionistischen Ideale und die Schaffung einer modernen (säkularen) jüdischen Identität. Wesentlich ist, dass die neue Gemein-

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schaft, die es aufzubauen gilt, mit einem konkreten Ort verbunden wird, einem Raum, der sich von den bekannten Lebenssphären der groß- oder kleinstädtischen Diaspora deutlich unterscheidet: »Ramionami ją objęliśmy. Ją... naszą glebę. Ją, jedyną, która potrafi nam przywrócić spokój, cześć przed sobą samym, godność, pewność, takt i duszę, prawdziwą, szczerą zdrową duszę. Duszę Izraela i Palestyny, pełną wiary i wzniosłości. Ona... nasza Gleba!« (Feldszuh 1928: 86) »Wir nahmen sie in die Arme. Sie… unsere Erde. Sie, die einzige, die uns Frieden, Selbstachtung, Würde, Sicherheit, Takt und Seele zurückgeben kann – eine echte, offene und gesunde Seele zurückgeben kann. Die Seele Israels und Palästinas, die erfüllt ist von Glauben und Größe. Sie… unsere Erde!«

Die im vorliegenden Text präsentierten Werke stammen alle aus den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen. Sie weisen die besonderen Merkmale der von den polnisch-jüdischen Autoren entwickelten Spielart der literarischen Idylle auf: die ideologische Motivierung durch den Zionismus, die metaphysische Bindung an das Land Israel, das Gefühl des Verwurzeltseins in der biblischen Tradition und – vielleicht paradox, aber auf überaus interessante Weise integriert – die Elemente der polnischen dörflichen Landschaft.

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

LITERATURVERZEICHNIS Antosik-Piela, Maria (2011a): »Egzotyzm w polsko-żydowskiej literaturze narodowej«, in: Alina Molisak/Zuzanna Kołodziejska (Hg.), Żydowski Polak, polski Żyd. Problem tożsamości w literaturze polsko-żydowskiej, Warszawa: Elipsa, S. 52-60. — (2011b): »Powieść syjonistyczna w Europie. Analiza wybranych problemów«, in: Eugenia Prokop-Janiec/Sławomir J. Żurek (Hg.), Literatura polsko-żydowska. Studia i szkice, Kraków: Wydawnictwo UJ, S. 71-82.

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Bałaban, Majer (1931): Kiedy i skąd przybyli Żydzi do Polski, Warszawa: Menora. Borzymińska, Zofia (1995): Studia z dziejów Żydów w Polsce, Warszawa: DiG. Brandstaetter, Roman (1996a): »List do przyjaciela«, in: Prokop-Janiec, Międzywojenna poezja polsko-żydowska, S. 160f. — (1996b): »Ojczyzna«, in: Prokop-Janiec, Międzywojenna poezja polskożydowska, S. 182f. — (1996c): »Żniwiarzom żydowskim spoczynek po pracy«, in: ProkopJaniec, Międzywojenna poezja polsko-żydowska, S. 176. — (1996d): »Autoportret Żyda«, in: Prokop-Janiec, Międzywojenna poezja polsko-żydowska, S. 158-160. Eker, Anda (1996a): »Sen egzotyczny«, in: Prokop-Janiec, Międzywojenna poezja polsko-żydowska, S. 429. — (1996b): »List fantastyczny«, in: Prokop-Janiec, Międzywojenna poezja polsko-żydowska, S. 404. — (1996c), »Biało-błękitni«, in: Prokop-Janiec, Międzywojenna poezja polsko-żydowska, S. 432. Feldszuh, Rubin [alias Ben Szem] (1928): Noce palestyńskie, Warszawa: Wydawnictwo E. Gitlina. Gorny, Yosef (1987): Zionism and the Arabs, 1882-1948, Oxford: Oxford University Press. Herzl, Teodor [o. J.]: Altneuland, siebente Auflage, Berlin und Leipzig: Hermann Seemann Nachfolger. Nossig, Alfred (1887): Próba rozwiązania kwestii żydowskiej, Lwów: Drukarnia Polska. — (1996): »Pieśń zmartwychwstania«, in: Prokop-Janiec, Międzywojenna poezja polsko-żydowska, S. 49f. Panas, Władysław (1996): Pismo i rana. Szkice o problematyce żydowskiej w literaturze polskiej, Lublin: Wydawnictwo Dabar. Prokop-Janiec, Eugenia (1992): Międzywojenna literatura polsko-żydowska jako zjawisko kulturowe i artystyczne, Kraków: Universitas. Prokop-Janiec, Eugenia (1996) (Hg.), Międzywojenna poezja polskożydowska. Antologia, Kraków: Universitas, Przybylski, Ryszard (1966): Et in Arcadia ego. Esej o tęsknotach poetów, Warszawa: Czytelnik.

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Rosenfeld, Karol (1996): »Psalm«, in: Prokop-Janiec, Międzywojenna poezja polsko-żydowska, S. 78. Stecka, Maria (1921): Żydzi w Polsce, Warszawa: Menora. Szymel, Maurycy (1996a), »Dwie ojczyzny«, in: Prokop-Janiec, Międzywojenna poezja polsko-żydowska, S. 264. — (1996b): »Kołysanka«, in: Prokop-Janiec, Międzywojenna poezja polskożydowska, S. 262f. — (1996c): »Przymierze«, in: Prokop-Janiec, Międzywojenna poezja polsko-żydowska, S. 250. — (1996d): »Sielanka«, in: Prokop-Janiec, Międzywojenna poezja polskożydowska, S. 251. — (1996e): »Woń mleka i miodu«, in: Prokop-Janiec, Międzywojenna poezja polsko-żydowska, S. 293. Tomaszewski, Jerzy/Żbikowski, Andrzej (2001): Żydzi w Polsce. Dzieje i kultura. Leksykon, Warszawa: Cyklady. Witkowska, Alina (1995): »Wstęp«, in: Idylla polska. Antologia, Wrocław: Ossolineum, S. IV-LVI.

Im Irrealis der Idylle Die polnische Brueghel-Ekphrastik zwischen Zeugenschaft und Metapoetik Heinrich Kirschbaum

IDYLLE, EKPHRASIS, SELBSTREFERENZIALITÄT Am Anfang war die falsche Etymologie. »Eidyllion« bedeutet zwar eigentlich bloß »kleines Einzelgedicht«, und so waren in den antiken Ausgaben die kurzen Hexametergedichte Theokrits überschrieben (vgl. Böschenstein 1977: 2f.), jedoch hatte eine solche – zu deskriptive, auf die äußeren Parameter zugeschnittene – Genrebezeichnung wenig Überlebenschancen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich bereits früh eine andere, konzeptionelle (Wunsch-)Etymologie des Wortes ›Idylle‹ durchsetzt: das ›Bildchen‹. Diese falsche Ableitung, die dann Jahrhunderte lang – bis zur Postmoderne – viele Theoretiker und Praktiker der Idylle inspirierte, akzentuiert indirekt die Intermedialität des Verhältnisses zwischen der Idylle und dem Idyllischen. Indem das idyllische Schreiben vor der Aufgabe steht, ein/das Bild(-chen) zu textualisieren, offenbart es seine ekphrastische Beschaffenheit.1

1

An einer anderen Stelle (Kirschbaum 2018) habe ich bereits die Grundzüge der im Folgenden interessierenden Problematik der ekphrastischen Metapoetik im Allgemeinen und der polnischen Brueghel-Ekphrastik im Besonderen skizziert sowie Zbigniew Herberts Beitrag zu diesem Diskurs diskutiert. Im Einführungskapitel des vorliegenden Beitrags werden einige wichtige Befunde des erwähnten Artikels rekapituliert und erweitert.

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Als eine Figur, die nach dem Prinzip der mnemonisch-virtuellen, visualisierenden Re-Imagination funktioniert, rekurriert die Ekphrasis auf ein (utopisches) (Eben-)Bild, auf ein Selbstporträt der Dichtung, in dem Immanenz und Transzendenz wieder eins werden sollen. Die der Ekphrasis inhärente Reflexivität, in der die Sekundarität der ekphrastischen (Re-)Vision zum Vorschein kommt, offenbart indirekt das Autoreferenzielle und Autoreflexive der Idylle. Das Metapoetische der sich ekphrastisch konstituierenden Idylle (und der sich idyllisch konstituierenden Ekphrasis) präsentiert sich nicht nur in der dem Verfahren innewohnenden (Erzähl-)Geste einer kontemplativ-meditativ konzipierten Betrachtung, sondern nicht zuletzt auch im Moment der (Re-)Referenzialisierung eines anderen Bildes als imaginierten Gemäldes, das zur Projektionsfläche der eigenen Poetik wird. Die Idylle der Selbstreferenzialität ist fragil, und ihr Scheitern ist narrativ prädestiniert. Das ›nachzudichtende‹ Bild kippt zur Ikone der Lyrik selbst, zum Projektor und Reflektor ihrer Autopoiesis, die von den ekphrastischen (Selbst-)Reflexionschiasmen zusätzlich profitiert. Tropologisch gesehen bestimmen die metaphorische Translation des Bildes und dessen metonymische Transformation das Verfahren der Ekphrasis.2 Im produktiv konfliktären Wechselspiel von intermedialen Translatio-Metaphern und Denominatio-Metonymien entstehen weitere rhetorische Formationen, die immer komplexere ikonisch-indexikalische und zugleich symbolische (Selbst-)Reflexionsfiguren generieren. Die sich dabei herausbildenden metapoetischen Allegorien des Dichtens werden zugleich zu Allegorien des Lesens (De Man 1988) als einer ekphrastisch zu begreifenden Fehllektüre. Die interfigurative Autoreflexivität der Ekphrasis wird umso aktueller in Zeiten, in denen sich die Dichtung in einer Identitätskrise begreift: Die programmatisch intermedial angelegte Konstitution der idyllischen Ekphrasis führt dann zu Transformationen und Transfigurationen der Autopoetik (und Autopoiesis) selbst. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges kann sich die europäische Lyrik den Luxus einer expliziten Selbstbezogenheit nicht mehr leisten. Die unter dem Generalverdacht des Solipsismus stehende Poesie findet jedoch in der intermedial angelegten Ekphrastik einen Genreraum, in dem sie ihre tabuisierte Selbstreferenzialität fortschreiben kann.

2

Zur Ekphrasis im Allgemeinen bzw. zur Problematik der Bild-Text-Rhetorik vgl. Davidson 1983, Kranz 1973, Hoek/Meerhoff 1995.

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Exemplarisch stehen dafür die im polnischen Literaturraum der Nachkriegszeit immer prominenter werdenden Ekphrasen im Allgemeinen und die Pieter-Brueghel-Bildtexte im Besonderen.3 Die wichtigsten Dichter Polens, von Aleksander Wat über Czesław Miłosz und Tadeusz Różewicz bis zu Jacek Kaczmarski, zollen der Brueghel-Ekphrastik ihren Tribut. Im Zentrum der polnischen Brueghel-Reflexion steht das Gemälde DIE LANDSCHAFT MIT DEM STURZ DES IKARUS.4 Die Brueghel-inspirierte ›Ikaromanie‹ erreicht ihren Höhepunkt Mitte der 1960er Jahre.5 Bereits vor dem

3

Vgl. den wichtigen Sammelband von Cieślikowska/Sławiński 1980. Zu einem Durchbruch in der polonistisch interessierten Ekphrasis-Forschung kommt es in den letzten Dekaden nach 2000. Vgl. Czermińska 2003, Dryglas-Komorowska 2012, Heck 2008, Krawczyk 2006, Krysowski 2002, Lisak-Gębala 2014, Mrowcewicz 2014, Mrugalski 2004 und 2005, Przybylska 2009, Stańczyk 2009. Neben den einzelnen Fallstudien zu ekphrastischen Experimenten in der älteren und neueren polnischen Poesie stellen die Untersuchungen von Aneta Grodecka (2009) und vor allem Adam Dziadek (2004) hier wichtige Bezugspunkte dar. In Anlehnung an Roland Barthes (1982) (Selbst-)Kritik strukturalistischer Systemhaftigkeitszuschreibungen und Julia Kristevas (1978) Transpositionsbegriff versucht Dziadek anhand von ausgewählten Beispielen polnischer Bildgedichte die der Ekphrasis bzw. Hypotyposis inhärenten intermedialen Signifikationsprozesse zwischen Deskription und Evidenz zu beschreiben. Im Laufe seiner Recherchen markiert Dziadek (2004: 114-133) auch das Faktum intensiver Brueghel-Textualisierungen in der polnischen Literatur, die dem Forscher schließlich jedoch nur exemplarisch für seine Nuancierungen der eher theoretisch interessierten Ekphrasis-Semiologie dienen. Bei den Fragestellungen dieser wichtigen Pionierbzw. Pilotstudien der polnischen Ekphrasiologie fehlt jedoch die für den vorliegenden Beitrag zentrale Problematisierung der metapoetischen Selbstreferenzialität der Ekphrasis.

4

Ob das Gemälde wirklich von Brueghel stammt, ist unklar. Jüngste Erkenntnisse und Argumente dafür und dagegen sind in Kockaert 2003, Roberts-Jones/Reisse/Roberts-Jones-Popelier 2006 und Currie/Allart 2012 sachkundig und polemisch zusammengefasst. Für die polnischen Ekphrasen ist die Frage insofern irrelevant, da man von einer Brueghel-Autorschaft des Gemäldes ausging.

5

Ein kritisches Zeugnis dieses Trends stellt Ernest Brylls Text WCIĄŻ O IKARACH GŁOSZĄ

(Immer noch spricht man von Ikaren, 1966) dar (Bryll 1988). Im Laufe

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Krieg inspirieren das meta-mythische Substrat sowie die kompositorische (Pseudo-)Marginalisierung des titelgebenden Helden des Bildes den polnischen Schriftsteller Jarosław Iwaszkiewicz zu einem Brueghel-Gedicht (BREUGHEL, 1938), in dem das (selbst-)reflexive Potenzial der Ekphrasis sondiert wird. Während des Krieges kehrt Iwaszkiewicz zum Bildtext-Genre zurück und verfasst die Erzählung IKAR (Iwaszkiewicz 2001; dt. IKARUS: 1982). Diese ein autobiografisch-dokumentatorisches Zeugnis transportierende Ekphrasis (vgl. Ritz 1996: 212-214) entwickelt sich bei Iwaszkiewicz zu einer mehrschichtigen Parabel, in der nicht nur die Banalität des Terrors, sondern auch – selbstreferenziell – das Versagen und Verstummen der Kunst und Literatur reflektiert wird.6 Im vorliegenden Beitrag soll dieser kurze Text, der im Epizentrum der polnischen ›Brueghelomanie‹ und ›Ikaromanie‹ steht, näher betrachtet und auf die sich darin vollziehenden Verhandlungen von Idylle, Ekphrasis und Selbstreferenzialität hin untersucht werden.

der Zeit werden praktisch alle Brueghel-Bilder zu intermedialen (Selbst-)Reflexionsflächen der polnischen Ekphrastik. Wisława Szymborska, schreibt neben dem ›ikarozentrischen‹ Gedicht UPAMIĘTNIENIE (ERINNERUNG, 1970a) ihre wohl bekannteste Brueghel-Ekphrasis DWIE MAŁPY (DIE ZWEI AFFEN, 1970b). Der zur ethisch-politischen Stimme seiner Generation gewordene Liedermacher Jacek Kaczmarski verfasst und vertont mehrere Brueghel-Lieder – darunter PRZYPOWIEŚĆ O ŚLEPCACH ENICĄ

(Das Gleichnis von den Blinden, 1975) und PEJZAŻ Z SZUBI-

(Landschaft mit Galgen, 1978) (Kaczmarski 2012a, 2012b). Im Vorfeld

der Solidarność und nach dreißigjähriger Geschichte geht das Genre der Brueghel-Ekphrasis mit Kaczmarski in die gesellschaftlich-politisch engagierte Kunst über; die Diskrepanzen zwischen Bild und Text werden um neue Komponenten – Musik und Gesang – erweitert und erlangen somit eine neue intermediale Performativität. Als Schlussakkord dieser Entwicklung kann Kaczmarskis Album WOJNA POSTU Z KARNAWAŁEM (Der Krieg zwischen Fasten und Karneval, 1992) gelten, in dem das wieder unabhängige Polen in Person Kaczmarskis, mit dem ekphrastischen ›Passwort‹ von Brueghels Bilderwelt im Munde, sein ultimatives Bekenntnis zur europäischen Kulturgeschichte artikuliert. 6

Die 1945 geschriebene, jedoch erst 1954, d.h. ein Jahr nach Stalins Tod, im Jahr des Rücktritts des autoritären Regierungschefs Bolesław Bierut publizierte Erzählung wird zudem auch als eine unverhoffte oder äsopische Beschreibung der willkürlichen Repressionen, Inhaftierungen und Hinrichtungen sowie als eine (Selbst-)Anklage der gesellschaftlichen Indifferenz und Ignoranz gelesen.

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DESKRIPTION UND (IN-)DIFFERENZ Die Kurzgeschichte Iwaszkiewicz’ beginnt programmatisch mit einer expliziten Ekphrasis-Geste: »Istnieje pewien obraz Breughla, zatytułowany ›Ikar‹. Kiedy się na ten obraz patrzy, spostrzega się chłopa orzącego ziemię na wysokim brzegu morza, pastucha pasącego obojętnie swoje stado, wędkarza, który wyciąga z morza swoje wędki, miasto spokojne w oddali. Morzem płynie statek z rozwiniętymi żaglami a na jego pokładzie kupcy rozmawiają o interesach. Słowem, widzimy życie z jego codziennymi troskami i codziennym natężeniem zwykłych ludzkich zajęć i kłopotów. Gdzież jest Ikar? Gdzież ten, który usiłował wylecieć w słońce? I dopiero kiedy dobrze przyjrzymy się obrazowi, w pewnym kącie morza spostrzegamy dwie nogi wyzierające z wody i parę piór w powietrzu nad wodą leżących, wyszarpniętych siłą upadku z bezmyślnie skonstruowanych skrzydeł. Przed chwilą nastąpił upadek Ikara. Śmiałek, który przyprawił sobie skrzydła – podług greckiej legendy – wzniósł się wysoko, tak wysoko, że znalazł się w pobliżu słońca. Promienie słoneczne stopiły wosk, którym przymocował sobie rzędy piór do skrzydeł, i młodzieniec spadł. Dopełnia się tragedia – oto właśnie tonie i zanurza się w morzu, ale ludzie tego nie zauważyli. Ani chłop orzący ziemię, ani kupiec płynący w dal, ani gapiący się na niebo pasterz – nikt nie spostrzegł śmierci Ikara. Jeden tylko poeta czy malarz ujrzał tę śmierć i przekazał ją potomności.« (Iwaszkiewicz 2001: 385f.) »Es existiert ein [gewisses] Bild von Brueghel, das ›Ikarus‹ heißt. Wenn man dieses Bild betrachtet, so bemerkt man einen auf dem hohen Meeresufer die Erde pflügenden Bauern, einen gleichgültig seine Herde bewachenden Hirten, einen Angler, der seine Schnüre einholt, eine friedliche Stadt in der Ferne. Über das Meer zieht ein Schiff mit gesetzten Segeln und auf seinem Deck sprechen Kaufleute über Geschäfte. Mit einem Wort, wir sehen das Leben mit seinen täglichen Kümmernissen und der täglichen Anspannung gewöhnlicher menschlicher Beschäftigungen und Sorgen. Wo aber ist Ikarus? Wo ist der, der versuchte, in die Sonne hinauszufliegen? Erst wenn wir das Bild genau betrachten, bemerken wir am Rand des Meeres zwei aus dem Wasser ragenden Beine und ein Paar in der Luft über dem Wasser liegende Federn, herausgerissen durch die Gewalt des Sturzes aus den sinnlos konstruierten Flügeln. Einen Augenblick davor fand der Sturz des Ikarus statt. Der Draufgänger, der sich – nach der griechischen Legende – die Reihen der Flügel angeheftet hatte, war so hoch aufgestiegen, so hoch, dass er der Sonne nahe kam. Die Sonnenstrahlen schmolzen das Wachs, mit

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dem er die Reihen der Federn an den Flügeln befestigt hatte, und der Jüngling stürzte ab. Es kommt zu einer Tragödie – da ertrinkt und versinkt er im Meer, aber die Menschen haben es nicht bemerkt. Weder der die Erde pflügende Bauer, noch der in die Ferne segelnde Kaufmann, noch der in den Himmel starrende Hirte – niemand hat Ikarus’ Tod bemerkt. Allein der Dichter oder Maler hat diesen Tod erblickt und ihn der Nachwelt überliefert.«7

Gleich die ersten Sätze der Novelle geben die anfängliche narrative Ausgangssituation einer explizit ekphrastischen Beschreibung des Brueghel’schen Gemäldes vor. Die Ekphrasis will sich zunächst als eine rein deskriptive präsentieren: Der Erzähler versucht seine Neutralität durch unpersönliche, anonym-objektive man-Formen zu signalisieren (»istnieje« / »es gibt, es existiert« bzw. »się patrzy« / »man betrachtet«). Eine kleine, zunächst kaum registrierbare Verschiebung und Erweiterung dieser Impersonalität geschieht beim Verb »widzimy« (»wir sehen«). Hier wird zwar ebenfalls eine Suggestion der Objektivität vorgespielt, der Erzähler schließt jedoch ›uns‹, die Leser und imaginierten Betrachter des idyllischen Bildes von Brueghel, unterschwellig ein. Auf den ersten Blick handelt es sich dabei um eine beinahe fremdenführerartige Floskel (›Auf dem Bild sehen wir…‹): Diese Konnotationen der Galeriensprache heben jedoch die stattgefundene Inklusion des imaginierten Lesers (Zuschauers) nicht auf. Die narrative Neutralität des Erzählens ist jedoch Trug und Täuschung: Mitten in den scheinbar nur beschreibenden Sätzen lauern Lexeme, die in sich eine einschleichende Axiologisierung der Enunziation tragen. So stellt das Adverb »obojętnie« (»gleichgültig« bzw. »teilnahmslos«) das Schlüsselwort dar, das die simulierte Deskriptivdiktion deformiert und in eine wertend-interpretatorische Richtung lenkt. Hier lassen sich die ersten rhetorischen Inkohärenzen des Textes feststellen: Differenzierung und Partizipation werden durch Markierung der Indifferenz erreicht. Der Erzähler will die ethische Problematik seiner kurzen Novelle nicht gleich in einem Substantiv und

7

Als Vorlage für die in der vorliegenden Studie verwendete Übersetzung diente mir die gute und gängige deutsche Übersetzung von Henryk Bereska (vgl. Iwaszkiewicz 1982), die jedoch angesichts der für meine Untersuchung relevanten grammatikalischen Besonderheiten von Iwaszkiewicz’ Text zugunsten einer möglichst wörtlichen Wiedergabe des Originals – auch auf Kosten der Ästhetik – intensiv überarbeitet wurde.

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Verb mit ihrer privilegierten semantischen Stellung im Satz präsentieren, sondern versteckt sie vorerst in einem Adverb, in den Umständen, die angeblich nur periphere Bedeutungen transportieren und eher Nebenschattierungen stiften. Der Hirte bewacht seine Herde teilnahmslos. Diese Indifferenz des pastoral konnotierten Hirten geht dabei einher mit einem hermetischen Versunkensein in die eigenen Geschäfte und Tagessorgen. Der Erzähler wiederholt zweimal das Possessivpronomen »swój« (»sein«): Der Hirte bewacht »seine Herde« (»swoje stado«), der Angler holt »seine Schnüre« (»swoje wędki«) ein. Man ist mit sich selbst beschäftigt. Am besten, am sichersten ist die Immanenz in der Anästhesie und Amnesie der Idylle aufgehoben. Die Prosa des Lebens ist idyllisch. In den Relationen zwischen ›einfachem Leben‹, landwirtschaftlichem Alltag und der expliziten oder verborgenen Erhabenheitsdiktion der Idylle profiliert sich auch das agonale Verhältnis zwischen Prosa und Poesie. Die poetisch angelegte Idylle ästhetisiert ja das urtümlich Prosaische des Idyllischen; sie dichtet das Prosaische nach, dem die höchste moralische Poetizität innewohnen soll, so die Prämisse des idyllischen Schreibens. In Iwaszkiewicz’ Brueghel-Ekphrasis trifft der Realismus auf das Irrealis-Projekt der Idylle. Der pastoral-rurale Chronotopos wird von einem latenten, besonnenen Imperativ der Selbstbezogenheit konstituiert. Die Ikone der Idylle evoziert Referenz und Evidenz, Potenz und Transzendenz in einem und behauptet von sich, sowohl Präteritum (goldenes Zeitalter) und Präsens (augenblickliche Aktualität) als auch Futurum (Ziel, Modell, Ideal) zu sein. Gewöhnliches und Natürliches werden zu Kategorien des Sakralen, und es gehört wohl zur Eschatologie der Idylle, dass dabei ein Ausstieg aus dem historischen Geschehen utopisch mitgedacht wird. Als Genre und Ethos unterminiert die Idylle die Geschichte, und zwar sowohl im Sinne der Historie als auch im narratologischen Sinne der Geschichte als Erzählung. Die Idylle braucht keinen Plot, die Ereignislosigkeit und Sujetlosigkeit gehören zu ihrem Konstitutionsmerkmal. Es soll nicht erzählt, sondern aufgezählt werden, hier schlägt die Stunde der ekphrastischen Deskription. So wie die Menschen auf Brueghels Bild ihren »gewöhnliche[n] menschliche[n]« (»zwykłych ludzkich«) (Alltags-)Sorgen nachgehen, will die Erzählung vorerst auch ihre deskriptive Gewöhnlichkeit fingieren. Die idyllische Landschaft ruht in einem ruralen Rhythmus, und die Stadt in der Ferne liegt ebenfalls still und friedlich (»spokojne«). Der Erzähler scheint erstmal

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die Ruhe zu bewahren, und die Narration gibt vor, radikale rhetorische Kontrastierungsgesten zu meiden. Semantisch wirksame Gegenüberstellungen und diskrete Dissonanzen entfalten sich zwar im Text ebenfalls, sie werden jedoch nicht zur Schau gestellt. Es scheint nur, dass der Erzähler ›uns‹ (nicht) entscheiden lässt, ob die Gleichgültigkeit – und nicht zuletzt auch die idyllische Gleichzeitigkeit der sich landschaftlich entfaltenden, regulierten und das Leben regulierenden und frequentierenden Repetitivität – beruhigend oder beunruhigend ist. Die Imperfektivität korrespondiert dabei mit der Impersonalität. Allein die Qual der Wahl der Lesererwartung könnte als alarmierend empfunden werden. Die erstmal zu bewahrende Erzählruhe suggeriert und retardiert Erwartungen des potenziellen narrativen (Um-)Bruchs. Der Erzähler selbst wird auch ungeduldig und unterbricht sich selbst: »Słowem« (buchstäblich: »mit einem Wort«, »also«). Dieses parenthetische Adverb leitet eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Aussage, in diesem Fall die Beschreibung des Brueghel’schen Bildes, ein und kündigt zugleich indirekt den bevorstehenden Diktions- oder Themawechsel an. Die Ekphrasis hat der Deskription ihren Tribut gezollt. Die suggerierte und forcierte Ruhe der Beschreibung ist Ruhe vor dem Sturm. Zugleich impliziert jedoch das IkarusSujet auch das Ende des Sturms. Nach der erzählten Explosion des Sujets soll die Erzählung wieder zur Ruhe kommen: Vor der Katastrophe ist nach der Katastrophe. Nach dem vorgezogenen Protokoll der Ekphrasis kommt es zum plötzlichen, dynamischen, einmaligen Ikarus-Ausfall: »Gdzież jest Ikar?« (»Wo aber ist Ikarus?«). ›Wir‹ – die vom Erzähler imaginierten Leser – werden scheinbar aufgefordert, für einen Augenblick der Narration die Idylle zu verlassen und nach Ikarus zu suchen und/oder auf die Antwort des Erzählers auf diese, von ihm selbst gestellte, verdächtig rhetorische Frage zu warten. Dadurch sind ›wir‹ noch mehr sensibilisiert und emotional in das Erzählen selbst involviert. Die Frage »Wo ist aber Ikarus?« annonciert eine Narrationswende und realisiert sie zugleich: Nach langen deskriptiven Affirmativsätzen kommt ein Fragesatz, zudem noch – proportional gesehen – ein extrem kurzer. Zum grammatisch-semantischen Marker dieser Transformation wird das winzige Synsemantikon »ż«, angehängt an das die Aussage konstituierende Fragewort (»gdzież« / »wo aber«). Ein winziger Wermutstropfen, ein ganz kleiner Buchstabe kann die Idylle zum Kippen bringen: Das Synse-

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mantikon »ż« agiert hier als eine Partikel, die für die emotionale Hervorhebung der Aussage sorgt, ist aber auch eine adversative und somit mit dem bisherigen Erzählfluss polemisierende Konjunktion. Das Bindewort verbindet, indem es polarisiert. Dieses Synsemantikon ist quantitativ sehr klein und ist, wie Ikarus auf dem Bild Brueghels, kaum zu sehen, qualitativ verändert es aber alles. En miniature verkörpert dieser angeblich nur synsemantische Satz das ganze Bild(-chen). Die Idylle erweist sich als trügerisch und brüchig. Der Auftakt der Narration wird endgültig zur Exposition apostrophiert. Das erzählende Ich der Ekphrasis, das davor diszipliniert im Schatten der Deskription stand, meldet sich zu Wort, macht seine Position sichtbar, wird zum Subjekt. In den offenbarten Spannungsfeldern zwischen Exposition und Position, Behauptung und Hinterfragung, dem Schattenerzähler und dem Subjekt wird relevant, wie sich der geoutete Erzähler zu Ikarus, kontrastiv zum davor beschriebenen idyllischen Imago positioniert und was er als Nächstes über den Zerstörer dieser Idylle, Ikarus, sagen wird. Seine Ikarus-Enunziation, die zugleich die Denunziation des Idyllischen impliziert, artikuliert der Erzähler wiederum in der Form eines Fragesatzes, der dem ersten (»Wo aber ist Ikarus?«) hinterherläuft (»Gdzież ten, który usiłował wylecieć w słońce?« / »Wo ist der, der zur Sonne zu (heraus- bzw. hinaus-)fliegen versuchte?«). Die semantische Betonung verlagert sich hier von ›wo‹ auf ›wer‹, von der impersonellen Beschreibung der Landschaft zur Person und somit auch zum personellen – persönlichen, personalisierten – Erzählen. Die Wiederholung der Frage, die ihrerseits das Repetitiv-Iterative in den Beschreibungen des Bauern, Anglers und Kaufmanns pervertiert, emotionalisiert die Aussage. Somit bekommt der in die Narration eingeführte Leser die erste autorisierte ›Definition‹ Ikarus’ in der Form einer zweimal wiederholten Frage. Die Affirmativität des Nebensatzes (»der in die Sonne zu fliegen versuchte«) steht im Kontrast zu seiner Interrogativität und unterstützt sie zugleich. Die Verdoppelung der so affirmierten Frage lässt eine angeblich rhetorische Frage in einen verzweifelten Vorwurf verwandeln. Die durch die syntaktische Steigerung herbeigeführte Verzweiflung wird zusätzlich von der Semantik der Ikarus-Charakteristik unterstützt. Ikarus wollte wegfliegen: Für den Flug des Ikarus wird das Verb »wylecieć« (»herausfliegen« bzw. »hinausfliegen«) benutzt. Dieses Verb der Befreiung ist im Text perfektiv und perdurativ gebraucht, es trägt in sich bereits grammatisch

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die Bedeutung einer eine Zeit lang (an-)dauernden, jedoch zugleich abgeschlossenen Handlung: des Verlassens der Idylle hin zur daraus resultierenden Katastrophe. Grammatisch gesehen ist die Handlung abgeschlossen, semantisch wird sie jedoch abgebrochen. Die Aktion ist gescheitert, und das Scheitern des Perfekts ist zugleich die Perfektion des Scheiterns, soweit die chiastische Dramatik des semantischen Verhältnisses zwischen Grammatik und Sujet und die – eher aporetisch-paradoxe als dialektische – grammatischpoetische Teleologie des Katastrophismus, die der Text hinterfragt. Während der Bauer, der Hirte oder der Angler ihren (Un-)Tätigkeiten in der ruralen Routine des Durativs, im indifferent-imperfektiven Ewigkeitsiterativ nachgehen, wagt Ikarus als einziger eine einmalige, perfektive, spontane und zugleich perfektionistische Aktion, die bereits sprachlich – auf der Ebene des Aspekts bzw. der Aktionsart – den Anfang einer Handlung hervorhebt. Der Appell, der beinahe moralistisch klingende Akzent liegt dabei auf dem plötzlichen, impulsiven und provokativen Akt der Entscheidung, im Willen zum Ausbruch aus dem Paradigma. Der Text konstituiert sich selbst, indem er die entstehenden Held-Subjekt-Diskrepanzen dokumentiert. Das Verhältnis zwischen Wort und (Un-)Tat wird neu verhandelt. Das Wort ist nicht zu halten. Der Text behauptet sich selbst und stellt sich selbst in Frage, wobei diese letzte, interrogative Destabilisierung mehr Affirmationseffekt hat als direkte Affirmation. Zusätzlich zur tradierten polnischen Dichotomie und Synthese von ›słowo i czyn‹ (›Wort und Tat‹) kommt dabei ein drittes, ekphrastisches Element ins Spiel: das Bild, das Bildchen. Die Brueghel-Umdeutung ist mehr als ein ekphrastisches Alibi für die tabuisierte Selbstreferenzialität der Nachkriegsliteratur. Im (Zerr-)Spiegel des nachzudichtenden Bildes wird das akut gefährdete Subjekt der Narration im eigentlichen Moment der Gefährdung reflektiert und verbildlicht: prä- und postfiguriert. Seinerseits bringt das Bild nicht nur die Semantik des Sehens mit sich, sondern auch jene der Vorsehung und Ausblendung. In einer ikarusartigen Verblendung des Erzählers ist die Katastrophe zunächst noch ausgeklammert, wenn auch grammatisch und semantisch heraufbeschworen. Der fatalistische Versuch, aus der Gegenwart – aus dem immerwährenden, repetitivtautologischen Präsens (und der Präsenz) des Pflügers, Anglers oder Hirten – heraus hin zur unerreichbaren Zukunft auszubrechen, endet im Präteritum des Scheiterns. Es ist die Rache des Futurs, das nicht einmal selbst chronotopisch, zeitlich und räumlich, den Ungeduldigen bestrafen muss,

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sondern die Hinrichtung der vorgezogenen und vollkommenen, perfektiven und in diesem Sinne perfektionistischen Vergangenheit überlässt. Die grammatisch-rhetorische Figur, die der Textpassage zu Grunde liegt und sie effizient (de-)stabilisiert, könnte man (pseudo-)rhetorische Frage nennen. Die meta-tropologische und meta-grammatische Erkenntnis der Brueghel-Ekphrastik besteht unter anderem darin, dass jede Frage, formuliert in der hermetischen Sprechsituation des pseudodialogischen Monologs, ja des autodiskursiven Selbstgesprächs, sowohl eine offene Frage sein kann als auch eine rhetorische. Es ist eine Scheinfrage und doch eine echte. Sie kann zugleich suggestiv oder pseudosuggestiv sein. Bei der Suggestivfrage wird der Befragte durch die Art und Weise der Fragestellung beeinflusst, eine Antwort mit vorbestimmtem Aussageinhalt zu geben, die der Fragesteller erwartet. In einem monologisch-dialogischen Selbstgespräch ist der Befragte auch für die ausbleibende Antwort zuständig. Iwaszkiewicz’ Text, inspiriert von Brueghels Gemälde, demonstriert wie die Rhetorizität und die Grammatizität der Frage sich selbst in Frage stellen, die ihrerseits als Fehlfrage dekonstruiert wird. Die Antwort auf die (pseudo-)rhetorische Frage wird nämlich vom Fragenden bestimmt, wodurch sie als selbstverständlich und zugleich ›selbstunverständlich‹ gilt. Die poetische (pseudo-)rhetorische und somit auch antirhetorische Frage, hier ›verbildlicht‹, verdoppelt und gesteigert durch die ekphrastische Projektion, ist nicht-informativ und informativ zugleich: Sie gibt Aufschlüsse und bietet Einblicke in die konstitutive Selbstbezogenheit der Dichtung. Man kann in der Literatur keine Frage beantworten, gleich wie sensitiv sie sein mag, sehr wohl aber die Verantwortung für deren Fraglichkeit und Fragwürdigkeit übernehmen oder von sich weisen. Die Literatur behauptet sich somit als das ultimative Medium des (Sinn-)Verlustes. Nach dem Muster einer genuin rhetorischen und ihre Rhetorizität subvertierenden Frage verhält sich die Allegorie. Die in der Allegorie anvisierte Sinnstiftung wird zwar in der Funktion der Figur vorprogrammiert, jedoch im Prozess der Signifikation aufgegeben, und zwar so, dass das Signal, Zeichen, Signifikant mit der unbeantworteten, offenen und zugleich (ab˗)geschlossenen Frage nach der eigenen figurativen Identität zu sich selbst zurückkehrt. Man findet zu sich selbst, indem man (sich) verliert, so das

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Oxymoron des Allegorischen. Der Versuch der Allegorese scheitert, Ikarus stürzt ab, und der zur Autoreferenzialität verdammten Allegorie bleibt nichts anderes übrig als dieses Scheitern, das Versagen der Figuration aufzuzeichnen.

GRAMMATIK DER GESCHEITERTEN IDYLLE Ikarus’ Tat wird als ein (meta-)poetischer Ausbruch aus der stabilen Prosa des Lebens konzipiert. Wohin versucht(e) Ikarus aber »hinauszufliegen«? Das Bild wird pathetisch radikalisiert: nicht einmal »zur Sonne«, sondern »in die Sonne« (»w słońce«). Allein die Richtung der theomachischen Rebellion Ikarus’ würde genügen, der Erzähler forciert jedoch den suizidalen Zusammenprall: Vertikal und zugleich frontal will Ikarus in die Sonne stürzen. Die Katastrophe, die im ersten Teil der Phrase ausgeblendet wurde, wird nun herbeigerufen. Die Semantik der Explosion wird von derjenigen des Lichts überblendet; der Leser wird selbst blind, er kann nicht mehr entscheiden, ob es sich um das Licht der Sonne handelt oder ob die Quelle des Lichts von der Explosion kommt. Er weiß nicht mehr, ob er eine hermeneutische Erleuchtung spüren und feiern oder eine interpretatorische Niederlage, ja eine exegetische Resignation verkraften muss. Wenn der Satz – ein Fragesatz, eine Figur der Suche und des Verlustes – zu Ende kommt, bleibt allein das Pathos und Ethos der Rebellion in Erinnerung, das jenem der Idylle entscheidend widerspricht und es zugleich kontrastiv hervorhebt. Semantische Belege und Garantien für eine Deutung, ja Deutungshoheit erteilt uns der Text nicht: außer dem inneren eschatologisch-imperativen Aufflug und Sturz der Aussage selbst. Der Text gab anfangs vor, eine neutrale ›bildgetreue‹ Ekphrasis von Brueghels Gemälde zu sein. Im Laufe der Narration ändert sich jedoch das Verständnis der Ekphrasis. Um sich zu vergewissern, dass die Präferenzen des Erzählers auf Seiten Ikarus’ liegen, braucht man zunächst nicht einmal nach qualitativen Epitheta zu suchen, mit denen Ikarus und seine Tat beschrieben werden. Die kompositorischen Quantitäten sprechen eine unmissverständliche Sprache: Im Gegensatz zu Brueghel nimmt die Beschreibung des Ikarus mehr Platz, Raum und Zeit in Anspruch (fast die Hälfte des ersten Absatzes) als die der idyllischen Landschaft. Die bei Brueghel bedeutungs-

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stiftend ausgeklammerte Vorgeschichte des Sturzes wird dabei in Iwaszkiewicz’ Text skizzierend nacherzählt, obwohl der mythische Stoff bekannt ist. Der erste, explizit ekphrastische Absatz der Novelle stellt somit eine Inversion von Brueghels Komposition dar, das Ikarus-Sujet wird bei Iwaszkiewicz quantitativ und somit auch qualitativ präferiert. Dabei wird diese Privilegierung durch einen expliziten Rückgriff auf die ekphrastische Beschaffenheit der Textstelle eingeleitet (»I dopiero kiedy dobrze przyjrzymy się obrazowi« / »Erst wenn wir das Bild genau betrachten«). Die Kontemplation wird zur Reflexion von Komposition und Perspektive. Die polnische Nachkriegsliteratur, für die hier Iwaszkiewicz spricht, begreift sich selbst in einer Identitätskrise, und Brueghel gibt ihr die lebensnotwendige Möglichkeit, die semantischen Proportionen zwischen Haupt- und Nebensujet, Referenz und Selbstreferenz, Polysemie und semantischer Zentrifugalkraft, (Pseudo-)Zentrierung und (Pseudo-)Marginalisierung, Akzentuierung und Relativierung provisorisch und illusorisch zu demontieren. Die Literatur findet in Brueghels (De-)Montage eine prinzipielle Unentschlossenheit, ja Unentscheidbarkeit, die von einer (Selbst-)Verunsicherung der Literatur zeugen soll. Sie manifestiert sich sogar im geläufigen Titel des Gemäldes: DIE LANDSCHAFT MIT DEM STURZ DES IKARUS (polnisch: PEJZAŻ Z UPADKIEM IKARA). Die Privilegierung des Nominativs (Landschaft) und die Verbannung des Ikarus-Sujets in den Annex des Dativs (im Deutschen) bzw. Instrumentals (im Polnischen) kann eine Täuschung sein, muss sie aber nicht: Für eine latente Aufforderung zu einer interpretatorischen Umdrehung der semantischen Gradationen liefert Brueghel prinzipiell keine Anknüpfungspunkte. Natürlich könnte man die kompositorischen Akzente einfach umtauschen, und in vielerlei Hinsicht widersteht der Text von Iwaszkiewicz dieser Versuchung nicht. Aber auch bei der Privilegierung des Ikarus-Sujets, die sich unter anderem im Titel der Kurzgeschichte (IKARUS) niederschlägt, wird die (Un-)Möglichkeit notiert, die entstehende Diskrepanz zwischen angeblicher Ent- und Rehierarchisierung als dynamisch-dialektisch, polysemantisch und/oder aporetisch zu begreifen. Was bleibt bzw. bleiben soll ist der Effekt des Tragischen. Die IkarusBeschreibung dominieren zwei unterschiedliche Partizipien: die »aus dem Wasser ragenden Beine« (»wyzierające z wody«) und »ein Paar in der Luft über dem Wasser liegende Federn« (»w powietrzu nad wodą leżących«), die selbst durch die Gewalt des Sturzes aus den sinnlos konstruierten Flügeln herausgerissen (»wyszarpniętych«) wurden. Dem Partizip liegt ohnehin eine

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morphologisch-syntaktische Diskontinuität zwischen Verb und Adjektiv, Vorgang und Zustand, Handlung und Eigenschaft zu Grunde. Im Text kommt es dazu noch zu einer semantischen Konfrontation zwischen Partizip Präsens und Partizip Präteritum: Weder der die Erde pflügende (»orzący ziemię«) Bauer, noch der in die Ferne segelnde (»płynący w dal«) Kaufmann, noch der in den Himmel starrende (»gapiący się na niebo«) Hirte haben den Tod von Ikarus bemerkt (»spostrzegł«). Die (An-)Dauer ihrer Tätigkeiten steht in der ganzen Textpassage in Opposition zum perfektiven Aufstieg und Fall von Ikarus, hier jedoch wird die Durativität auch dafür genutzt, um das perdurativ bestimmte Ende hinauszuzögern. Die Partizipien differenzieren ihre Zuständigkeiten nicht nach dem Modus, sondern nach ihrem Verhältnis zur Zeitlichkeit, zur Perfektion der Vergänglichkeit. In diesem Sinne werden allein auf der Ebene der Partizipien allegorische Fragestellungen verhandelt. Dabei schließt die hier zur Allegorese stehende Vergänglichkeit nicht nur die Fragilität (des Menschenlebens) oder die Nichtigkeit bzw. den bloßen Schein, also nicht nur Vanitas Vanitatum ein, sondern nicht zuletzt die »Fälligkeit« der Tropen selbst: Der Fall, das Zeitraffer-Fallen, die (un-)erwartete katastrophistische Kadenz des Ikarus ist allegorisch fällig. Ikarus nutzt die einmalige, perfekte (perfektive, perfektionistische) (Un-)Möglichkeit zu fallen. Die verbalen Kollisionen des Absatzes schlagen sich auch auf der Ebene des Nomens nieder. Ikarus wird zum Subjekt des Falls, dies steht zumindest grammatisch außer Frage: »[I] młodzieniec spadł« (»[U]nd der Jüngling fiel«). Ikarus steht – eigentlich: fällt, fiel – im Nominativ und wird erst dadurch zu einem namentlichen Subjekt der Handlung, zum ausführenden Autor der Tat. Der Text thematisiert dabei das diathetische Oxymoron des Ereignisses, die kognitiv-semantische Dissonanz zwischen Leide- und Tätigkeitsform, zwischen Passivität und/oder Aktivität von Ikarus’ Fall. Natürlich kennt die Sprache (und die Sprachkunde) zahlreiche ähnliche Fälle von der so genannten medialen Diathese, wenn eine Zustandsänderung dem Satzsubjekt mehr oder weniger ohne externes Agens widerfährt (›Das Seil reißt‹ etc.).8 Hier realisiert aber der Text diese sprachliche

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Bezeichnend ist allerdings, dass die Linguistik in der Diathesetheorie über semantische bzw. thematische Rollen spricht (vgl. Rauh 1988, Dowty 1991, Primus 2012). Iwaszkiewicz’ Text, der das Tragische neu definiert, versucht zu zeigen, dass die dabei verwendete theatralische Bild-Sprache (Rollen) keineswegs als ›bloß‹ metaphorisch abgestuft werden kann.

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Gegebenheit und subvertiert sie zugleich, denn der namentlich genannte Ikarus opponiert den anonymen (Nicht-)Aktanten der Idylle (Bauer, Fischer, Kaufmann), die eher als Objekte denn (und wenn schon, dann passive) Subjekte ihrer Tätigkeiten erscheinen. Die Subjekthaftigkeit von Ikarus wird dabei – im metapoetischen Rückschluss – zur Projektionsfläche der Subjekthaftigkeit der Erzählstimme. Auch im Weiteren wird die Grammatik zum Träger und Generator der Frage nach der (Nicht-)Perfektion, die mit der Problematisierung der Beschaffenheit der Tragödie verknüpft wird. Die polnische Phrase »Dopełnia się tragedia« kann man unterschiedlich übersetzen – »Es findet eine Tragödie statt«, »Es kommt zu einer Tragödie«, buchstäblich aber: »[Eine] Tragödie erfüllt sich«. Das polnische Verb suggeriert auf der grammatischen Ebene (aspektisch) imperfektive Perdurativität: Die Handlung dauert an, nimmt jedoch von vornherein ihr Ende ins Visier. Der Erzähler zieht mit allen Kräften der Grammatik das unvermeidliche Fiasko in die Länge: »[O]to właśnie tonie i zanurza się w morzu« (»Da ertrinkt und versinkt er im Meer«). Die Verben des eigentlich zum Perfekt verurteilten Ikarus stehen im rein durativen Imperfekt, aber die Menschen, und hier wird die Zukunft forciert und zur endgültigen Vergangenheit gemacht, haben die Katastrophe im Perfekt »nicht bemerkt« (»ale ludzie tego nie zauważyli«). Parallel beschwört die poetologische Bezeichnung des geschilderten Sujets als »Tragödie« das thanatopoetische Finale der Geschichte herauf. Die ganze Szene wird erst zur »Tragödie«, in dem sie einen/ihren Zuschauer bzw. Betrachter findet. Der Platz, der Standort des Zuschauers ist reserviert, so die metapoetische Präsupposition der Ekphrasis. Die Beschreibung wird nicht zufällig von den Wörtern aus dem semantischen Feld des Sehens, der Betrachtung etc. dominiert: »man bemerkt« (»spostrzega się«), »wir sehen« (»widzimy«), »wir betrachten« (»przyjrzymy«), »wir bemerken« (»spostrzegamy«), »er erblickt« (»ujrzał«) usw. Die Ekphrastik gibt der Literatur die zusätzliche Motivation, mit den Kategorien der Betrachtung und des Blicks zu operieren, in denen die epistemologische Metaphorik von Blendung und Einsicht verhandelt wird. Was bei diesen auto-allegorischen und interrogativ-ironischen Lektüremöglichkeiten erhalten bleibt und nicht dekonstruiert wird, ist die Binarität der beiden entworfenen Sujets, die Dichotomie zwischen Idylle und Katastrophe. Die Kontrastierung wird renoviert und stabilisiert, indem sie kritisiert und aufgehoben wird. Somit profiliert sich ein nicht direkt artikuliertes Subjekt der (anti-)rhetorischen Fragestellung und der damit verbundenen

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Dychotomisierung: Zu einer solchen Autorität erhebt sich der poetische Text selbst und – metonymisch – der Dichter. Dem Erzähler liegt ja sehr viel daran, den ersten, explizit ekphrastischen Absatz der Novelle mit einem direkten metapoetischen Selbstlob abzuschließen: Allein der/ein/irgendein Dichter oder Maler habe den Tod von Ikarus gesehen und ihn der Nachwelt überliefert. Der Dichter (Erzähler) gehört zwar zu den ›Menschen‹ und identifiziert sich zugleich mit Ikarus, ist aber im Gegensatz zu den beiden ein anderer, ein dritter. Er ist der intendierte und imaginierte, in jedem Fall obligatorische Zuschauer der ekphrastischen Performanz, deren Teilnehmer und zugleich Chronist, der sie zu einer solchen macht, er ist der sprechende Zeuge der Dreieinigkeit von Wort, Bild und Tat. Die Ekphrasis gibt dem Dichter die Chance, das vermeintliche Dilemma von Referenz und Selbstreferenz der Dichtung nicht in binären, wenn auch reziproken Bewegungen zu sondieren, sondern in multiplen Konstellationen. Die Dichtung wird dabei als eine zu überliefernde Beobachtung, ja Bemerkung ›definiert‹. In dieser indirekten ›Definition‹ wird die den Text konstituierende Spannung zwischen Dauer und Perfektivität, Tradierung und Ereignishaftigkeit, Idylle und Katastrophismus aktualisiert. Die (Zeugen-)Aussage endet bei all ihrer Selbstreferenzialität nicht mit dem Dichter, der zwar als (Meta-)Subjekt behauptet wird, sondern mit dem ›Gegenstand‹ der Überlieferung und deren Objekt, das am privilegierten, letzten Platz des Absatzes steht: Der Dichter »sah diesen Tod und überlieferte ihn für die Nachwelt« (»ujrzał tę śmierć i przekazał ją potomności«). Das polnische Wort für die Nachwelt (›potomność‹) ist von einem Adverb (›potom‹, ›potem‹) gebildet. Die Sprache fand kein Substantiv, kein eigenes Wort für die ›Nachwelt‹ und griff zur Substantivierung eines Adverbs, eines Umstands- und Nebenwortes. Adverbien liefern sonst ergänzende oder schmückende Angaben zu Ereignissen und Eigenschaften, sie sind grammatikalisch sekundär und somit gar nicht obligatorisch. Der Text von Iwaszkiewicz akzentuiert jedoch gerade dieses Wort in seiner substantivierten Gestalt, ein Wort, das sich jenseits der Opposition von Imperfektivität und Perfektivität positioniert, das erste Wort des Absatzes, das die Zukunft und nicht die Gegenwart oder die Vergangenheit bezeichnet und somit deren Dychotomisierung auflöst, ähnlich wie das Bild die Binarität von Wort und Tat zu einer Trinität reformiert.

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EKPHRASIS UND EREIGNIS(-LOSIGKEIT) Die Beschreibung des Brueghel’schen Gemäldes ist eine Bild-Text-Folie, ein intermedialer Hintergrund, vor dem die eigentliche Geschichte anschließend erzählt wird. Die Motivation für den ekphrastischen ›Exkurs‹ wird gleich im ersten Satz des folgenden Absatzes geliefert: »Obraz ten przypomina mi się zawsze, ilekroć pomyślę o pewnym moim przeżyciu« (»Dieses Bild kommt mir immer in den Sinn, sooft ich an ein bestimmtes Erlebnis denke«, Iwaszkiewicz 2001: 386). Nicht die Ekphrasis erinnert an ein Ereignis, sondern das Ereignis, das den Erzähler nicht loslässt, erinnert an Brueghels Bild, Mnemonik trifft auf Projektion, (Selbst-)Reflexion auf den Reflektor, auf den Spiegel des ekphrastisch zu erzählenden Gemäldes. Die Erzählinstanz ändert sich bruchartig, vom ekphrastisch objektiven Erzähler des Prologabsatzes zu einem sich autobiographisch und testimonial profilierenden Subjekt der IchPerspektive. Die Autorität der Ekphrasis macht Platz für die Authentizität und Autorschaft des Zeugnisses. Die eher ahistorisch-anthropologische Problematik von Indifferenz und Rebellion, Idylle und Katastrophe, die die Nacherzählung des Brueghel’schen Gemäldes dominierte, wird aktualisierend in den Diskursen und Diktionen von Zeugenschaft und Gedächtnis verortet. Die Ekphrasis führt somit in eine episch-essayistische Narrativierung von privaten und kollektiv-historischen Schicksalen ein. Das direkte dokumentierende Zeugen-(Aus-)Sprechen ist auf die Ekphrasis angewiesen: Das nacherzählte Bild des flämischen Malers wird nachträglich zu einer Projektionsfläche erhoben, deren mnemonisch-parabolisches, metaphorisch-allegorisches Potenzial bei der Erinnerung und Verarbeitung eines (kränkenden) Ereignisses, oder wie der Text sagt, »Erlebnisses«, dringend gebraucht wird. Die Ekphrasis stellt eine therapeutischen Distanzierungs- und zugleich Annäherungsinstanz dar, die eine Auseinandersetzung mit dem »Erlebnis« erst möglich macht. Abstrahierung und Konkretik stehen dabei – und das ist das Besondere einer ekphrastischen ›Ikone‹ – in einem reflexiv- bzw. reflektorisch-rekursiven Verhältnis zueinander. Wie bei Brueghel bzw. in der ekphrastischen Nacherzählung des ersten Absatzes wird die Deskription zu einem Retardierungsverfahren. Wir erfahren noch nicht, was geschah. Das zu erzählende »Erlebnis« wird dezidiert lange und langsam konturiert. In den nächsten drei Zeilen werden zunächst Zeit und Ort des Ereignisses markiert: Der Vorfall fand abends an einem Junitag im Jahre 1942 oder 1943 (»Był to czerwiec roku 1942 czy 1943«) statt,

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d.h. noch vor dem Warschauer Aufstand von 1944, im Zentrum von Warschau (»Piękny letni wieczór zapadał nad Warszawą«, ebd.: 386). Bedeutungskonstituierend ist jedoch, dass sich der erinnernde Zeuge nicht genau an das Jahr erinnert, nicht genau an die historische Zeit, wohl jedoch an einen/den (idyllischen) Ort, der aus der Geschichte herausfällt. Darauf folgt eine genaue topographische Lokalisierung: Etwas (wir wissen noch nicht was) geschah an der Straßenbahnhaltestelle an der Ecke der Trębacka-Straße und der Krakauer Vorstadt (»Stałem na rogu ulicy Trębackiej i Krakowskiego Przedmieścia, na przystanku tramwajowym«, ebd.: 386). Allmählich kommt der Erzähler zu sich intensivierenden Steigerungen und Kontrastierungen: Zunächst werden Bilder von Menschen entworfen, die wie in Friedenszeiten die überfüllten Straßenbahnen stürmen. Die Normalität wird durch deren Bedrohung zur mnemonisch-nostalgischen Idylle, und um diese idyllische Normalität zu suggerieren, muss der Erzähler vergessen – ausblenden, dass die Menschen vor der Ausgangssperre nach Hause eilen (»przed policyjną godziną«, ebd.: 386). Für einen Moment (der Erzählung) könnte es scheinen, dass die Stadt frei von Besatzern sei (»przez chwilę wydawać się mogło, że miasto wolne jest od okupanta«, ebd.: 386). Es ist ein trügerischer Konjunktiv bzw. ein Konjunktiv des Trugs, der lebensnotwendigen Selbsttäuschung, das Irrealis der Idylle. Der Erzähler, der Zeuge, braucht eine Atempause, eine Verschnaufpause, er ist auf die brüchige Illusion der Normalität, auf eine kurzzeitige Vision der akut gefährdeten Idylle angewiesen: »Musiałem dość długo czekać na jakiś wóz, do którego można się było łatwiej dostać. A kiedy już nadszedł taki, nie chciało mi się wsiąść do niego, zasmakowałem nagle w tym tłumie, który mnie otaczał, obojętnie przyjmując do świadomości moje istnienie.« (Ebd.: 386) »Ich musste ziemlich lange auf eine Bahn warten, in die ich leichter einsteigen könnte. Und als eine solche kam, war mir nicht danach, in sie einzusteigen, ich genoss es, plötzlich in der Menge zu sein, die mich umgab, ohne von meiner Existenz Kenntnis zu nehmen.«

In dem sich der Erzähler (und zugleich Protagonist) entschließt, nicht in die nächste Straßenbahn einzusteigen und noch ein wenig den schönen warmen

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Sommerabend zu genießen, steigt er aus dem kriegsterrorisierten Alltagsrhythmus aus und gerät in einen mystischen, Musil’schen ›anderen Zustand‹, in dem er zumindest kurz – aber solange wie nur möglich – verweilen möchte. Es ist ein Ausstieg aus der Zeitlichkeit, aus der Historizität und Narrativität mit ihrer Selbstlaufmechanik. Dieser Zustand resultiert dabei nicht aus einem Willen, sondern aus einem Affekt: Die Phrase »Es war mir nicht danach« (»nie chciało mi się«) ist unpersönlich, das Ich ist kein Subjekt der Handlung und der Aussage, es steht im Empfänger-Dativ der idyllischen Transzendenz. Die ›Gleichgültigkeit‹ der Menschen ist ihre Involviertheit in den Alltag – wie beim Bauern, Angler und Kaufmann auf Brueghels Bild. Erst diese Indifferenz der anonymen Protagonisten der Idylle ermöglicht das Herausfallen bzw. Sich-Herausfallen-Lassen, sie motiviert und forciert die momentan-provisorische Selbstexklusion des Erzählers. Ihm kommt dabei – angesichts der ekphrastischen Folie dieser Passage – die Rolle des Betrachters – des Idyllikers – zu, die ihrerseits der des aussteigenden Ikarus kohärent ist. Die entpersonifizierte Menge, von der sich der Erzähler distanziert und mit der er sich zugleich, sich anonymisierend, identifiziert, merkt das Dabeisein und Dasein des ›Subjekts‹ nicht. Der Zeuge ist unsichtbar. Der Exodus aus dem Zeitgeschehen ist vollzogen, es kommt zu einer Kontemplation der ahistorischen Realität, zur das Chronische und Chronikalische negierenden Gegenwart (des Erzählens). Auf Vergleiche und auffällige Metaphern wird dabei entschieden verzichtet. Der festzuhaltende Augenblick ist so wertvoll und zerbrechlich, so bis zur Selbstvergessenheit intim, dass ihn der Gebrauch von Tropen (mit ihrer gebrandmarkten Rhetorizität und Literarizität) entweihen würde. Der Text stellt dar und zeichnet nach, zeugt und dokumentiert: Die schlichte Beschreibung, die einfache Schilderung, die Ekphrasis der Wirklichkeit als angeblich kümmerlichste Form der Darstellung genügt. Die Ekphrasis postuliert die Selbstsuffizienz des Schreibens. Die (Um-)Welt und das Leben, die nun mehr als ›Referenzen‹ sind, so die unterschwellige Botschaft der Passage, kann und soll man bei der Rekonstruktion solcher Momente nicht figurativ verbildlichen. Das Bild darf nicht zum Sinnbild degradiert werden, erst dann kann es hoffen, noch Sinn zu besitzen. Das Moment des anderen Zustands darf nicht offensiv und nicht offensichtlich (in Metaphern), sondern in aller Bescheidenheit der Deskriptivität, in der ›Beschränkung des Vollglücks‹ reflektiert werden. Soweit das Bekenntnis zur Idylle.

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Der Verzicht auf Bildsprache bedeutet jedoch nicht den Verzicht auf Metapoetizität und Autoreferenzialität: »Vor mir stand hoch auf seinem Sockel Mickiewicz« (»Przede mną wysoko stał na swoim cokole Mickiewicz«, ebd.: 385). Das Mickiewicz-Monument, ein Denkmal der Dichtung und des Dichters, gehört zum Monumentalismus des Augenblicks. Das Pathos des Monumentalen wird jedoch nicht speziell hervorgehoben, so das Vermächtnis der Idylle, ihr Bescheidenheitsgebot. Die (monumentale) Metapoetizität wird nicht metaphorisch und somit symbolisch und ideologisch, sondern metonymisch suggeriert. Eine metonymische Kettenreaktion wird aktiviert: Dichten, Gedenken, Da-Sein – Poetik, Mnemonik, Ontologie – werden eins, die monumental-poetische Statik ist hier soweit eine Präsenz des Zeitlichen, insofern sie auch dessen Absenz ist. Es kommt zu einer allegorischen Garantie des Augenblicks, zu einer Versteinerung und zugleich Verkörperung des Vergänglichen und Unvergänglichen in einem. Die Dynamik des Alltags oder – metapoetisch – des Erzählens erweist sich jedoch auch als Routine, aus der man zu einer subjekthaften und zugleich anonymen Metaposition unwillkürlich ausbrechen kann, und zwar mit Hilfe der scheinbar kargen Deskription. In den darauffolgenden Beschreibungen waltet uneingeschränkte Imperfektivität. Den Verben der ultimativen, illusorischen Dauer kommen dabei – wie beim ekphrastischen Auftakt der Kurzgeschichte – Adverbialpartizipien zu Hilfe, die die Semantik von Infinität transportieren. Die Blumen rings um das Monument blühten und dufteten (»kwitły«, »pachniały«), die Autos bogen (»skręcały«) kreischend vor der Karmelitenkirche, die Jungs, laut schreiend (»wykrzykując głośno«), verkauften (»sprzedawali«) Zeitungen, die Zigaretten- und Kuchenhändler wimmelten, drängten sich (»roili się«) vor dem glänzenden (»połyskującym«) Laden. Alle – Menschen, Tiere, Gegenstände – genießen ihr Präsens und ihre Präsenz, die provisorische Omnipräsenz des Idyllischen: »[Z] hałasem zasuwano żaluzje i zaciągano kraty na drzwiach i oknach magazynów, w ogródku, zapełnionym do ostatnich miejsc na ławkach przez starych i młodych, ćwierkały wróble, równie gęsto osadzone po wątłych drzewinach – wszystko to zanurzało się powoli w niebieskim mroku letniego wieczoru. W tej chwili słyszałem bijące serce Warszawy i mimo woli ociągałem się wśród ludzi, aby jeszcze trochę pobyć z nimi razem i razem z nimi odczuwać ten miejski letni wieczór.«

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»Mit Gepolter ließ man die Jalousien herab und zog Eisengitter vor die Türen und Fentster der Geschäfte, im Garten, von alt und jung bis auf den letzten Platz auf den Bänken besetzt, tschilpten die Spatzen, die ebenso dicht auf den kümmerlichen Bäumchen saßen – all dies versank langsam in der blauen Dämmerung des Sommerabends. In diesem Augenblick hörte ich das Herz Warschaus schlagen und gegen den Willen zögerte ich inmitten der Menschen, um noch ein wenig ein Weilchen mit ihnen zusammen zu sein und zusammen mit ihnen diesen städtischen Sommerabend zu spüren.«

Hier baut Iwaszkiewicz’ Text ekphrastische Allusionen auf, die nicht nur zur LANDSCHAFT MIT DEM STURZ DES IKARUS, sondern auch bis hin zu den anderen Gemälden Brueghels reichen, vor allem zu seinen Skizzen des dörflichen oder kleinstädtischen Alltags. Das Idyllische, ein Terrain, ja eine Domäne des Ruralen wird auf das Urbane übertragen. Es kommt dabei zu einer indirekten Liebeserklärung gegenüber der Stadt, die 1945, im Moment der Niederschrift der Erzählung in ihrer alten Gestalt nicht mehr existierte, nur im mnemonisch-allegorischen Minus-Modus präsent war: Warschau wurde während des Kriegs (1944, d.h. nach dem zu berichtenden Fall) total zerstört. Der erzählende Held der Geschichte zögert, nach Hause zu gehen, und die Erzählung zögert mit. Retardierungen führen zu Kondensierungen, Stagnationen zu Steigerungen. Das Idyllische, so die Logik der Komposition in Iwaszkiewicz’ Erzählung, ist eine Exposition, die nicht nur eine Peripetie, nicht nur eine Handlung vorbereiten, sondern auch ihren Widerwillen suggerieren soll, bloß eine Vorgeschichte (der eigenen Katastrophe) zu sein. Mit allen grammatischen und narrativen Mitteln wird eine zerbrechliche, wehrlose Durativität heraufbeschworen, die zwar sujetbedingt von ihrer eigentlichen Perdurativität weiß, zugleich jedoch nichts davon wissen will. Schließlich – endlich kippt die Rede ins Perdurative mit dem Verb »pobyć« – »eine Weile (dabei) sein«, »eine Weile da-sein«, für einen Moment existieren, und zwar im mystischen, ich-losen Infinitiv des Verbes, d.h. in seiner, des Verbs, reinsten Form, in seiner grammatischen Abstraktion, ja Abstrahierung von Zeitlichkeit und Subjekthaftigkeit. Die meditative Diktion des Zauderns, das das unverhoffte Intervall, das glückliche und somit brüchige Dazwischen zu evozieren versucht, wird von den deminutiv wirkenden Partikeln und Phrasen wie »jeszcze trochę« (»noch ein wenig«) unterstützt, mitgetragen und zusätzlich am Leben gehalten, bis es zur Auflösung der Idylle kommt – ja kommen muss. Die Narration braucht und missbraucht das Idyllische für ihre

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Zwecke: Die Selbstsuffizienz des Idyllischen wird heimtückisch von der Narration eingeholt. Je weniger ein Subjekt ahnt, dass es ein Objekt der Geschichte wird, umso dramatischer wird diese Transformation. Schließlich gehört genuin zur Katharsis-Konstitution ein ›zynischer‹ Utilitarismus. Die Tragödie braucht ein unschuldiges Opfer, um ihre dramaturgisch-narrative Gewalt zu demonstrieren.

DIE GEFAHR DER LEKTÜRE Der Bruch der Idylle wird zunächst geheim gehalten und diskret vorbereitet. Der Blick des Erzählers, der die Menschen als lebendiges Getümmel betrachtete, fokussiert sich nun auf einen: »Auf einmal bemerkte ich einen jungen Burschen […]. Er war fünfzehn, höchstens sechzehn Jahre alt« (»W pewnej chwili spostrzegłem młodego chłopca [...]. Miał lat piętnaście, szesnaście najwyżej«, Iwaszkiewicz 2001: 387). Es kristallisieren sich – auf der Aspektebene der eingesetzten Verben – erste Dissonanzen heraus: Das erzählende Subjekt ›agiert‹ bereits im Perfekt (»ich bemerkte« / »spostrzegłem«), das Objekt der Betrachtung ist jedoch noch tief in die unschuldige Illusion der durativen Idylle versunken. Von der Bednarska-Straße kommend (»idąc«), überquert er leichtfertig (»nierozważnie«) die Straße, stehenbleibend (»stanąwszy«) auf einer Verkehrsinsel, mit dem Gesicht zur Bahn und mit dem Rücken zu den Schienen. Der Grund dieser Ahnungs- und Sorglosigkeit ist das Lesen, so der weitere, entscheidende metapoetische Griff der Erzählung. Der Junge ist in die Lektüre vertieft und kann seine Augen nicht vom Buch trennen, mit dem er aus der Dämmerung auftauchte (»w dalszym ciągu nie odrywał oczu od książki, z którą razem wynurzył się z szarzejącego zmroku«, ebd.: 387). Der Text entfaltet unwiderruflich seine rekursive (Selbst-)Ironie: Wir lesen eine Geschichte, in der das Lesen zu einem sujetbildenden Metathema wird. Es naht ein/das Ereignis, der Vorfall, der von der anbrechenden Finsternis angekündigt wird. Die Dämmerung, die den schönen Sommerabend verdunkelt und (aus dem Gedächtnis) auslöscht, verheißt nichts Gutes. Der Betrachter, der aus einem Chronisten der Idylle zum Chronisten der Geschichte wird, notiert kleinste Details und Umstände, betont jedoch immer mehr, dass der Junge im Moment des Ereignisses ein Buch las. Lesend (»czytając«, ebd.: 387) wirft der Junge hin und wieder seinen hellblonden Schopf zurück, das

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Lesen lässt ihn die lauernde Gefahr nicht erkennen. Idyllisch sieht der Lesende die Welt, die ›Realität‹ nicht. In Zeiten des Krieges – des Überlebens – ist er mit weltfremdem Lesen beschäftigt. Immer mehr wird suggeriert, dass das, was geschehen wird, mit der Virulenz der Lektüre zusammenhängt. Ganze Sätze widmet der Erzähler der Rekonstruktion der möglichen Herkunft und des möglichen Inhalts des verhängnisvollen Buches: »Zdobył ją zapewne przed chwilą od jakiegoś kolegi czy też w tajnej wypożyczalni i, nie czekając na powrót do domu, chciał się z jej treścią zaznajomić na gorąco, na ulicy. Żałowałem, że nie widziałem, jaka to była książka, z daleka wyglądała na podręcznik, ale chyba żaden podręcznik nie budzi w młodzieńcu takiego zainteresowania. Może to były wiersze? Może jakaś książka ekonomiczna? Nie wiem.« (Ebd.: 387) »Sicher hat er es [das Buch] kurz davor von einem Bekannten [Kollegen] oder in der Geheimbibliothek bekommen, und, ohne zu warten, bis man nach Hause kommt, wollte er sich sofort, auf der Straße mit dem Inhalt des Buches vertraut machen. Ich bedauerte, dass ich nicht wusste, welches Buch es war, aus der Ferne sah es wie ein Lehrbuch aus, aber ein Lehrbuch würde bei einem Jungen kaum ein solches Interesse wecken. Vielleicht waren es Gedichte? Oder irgendein Buch über die Wirtschaft? Ich weiß es nicht.«

Wir wissen noch nicht, was geschehen wird: Die Kulmination, das Kippen der Idylle (des Lesens) wird hinausgezögert. Der Erzähler will jedoch unwillkürlich, dass es sich dabei um ein poetisches Buch handelt, um Gedichte. Das ist seine erste, spontane Vermutung, ja Wunschvorstellung. Zugleich ist der Erzähler aber selbst erschrocken von seiner metapoetischen, poesiezentrischen Rekonstruktion. Hier gleicht er dem eigenen Protagonisten, der wegen der Literatur die Welt draußen ignoriert. Der Erzähler, der Epiker ertappt sich dabei, die Lyrik, das Poetische auf dem Altar der Narration opfern zu wollen. Die Poesie ist hier zum einen ein Sündenbock, zum anderen das heilige Lamm, das den tragischen Wert des Opfers steigert. In jedem Fall will der Erzähler seine Hypothese sofort, wenn auch ungern, korrigieren oder relativieren: Vielleicht ist es doch ein Buch über Ökonomie gewesen. Der Erzähler ›verspricht sich‹ zweifach: Indem er die Dichtung an die privilegierte Stelle seiner Vermutungen stellt, und, mehr noch, indem er seinem Litera-

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tur- bzw. Poesiezentrismus auf die Schnelle ein (unglaubwürdiges) Alibi kreieren will. Es entsteht dabei eine komplexe metapoetische, wiederum rekursive Konstellation: Wir lesen, wie der Dichter, der Betrachter, der vor dem Mickiewicz-Monument steht, den Leser der Dichtung im gefährlichen Augenblick der wirklichkeitsfremden Lektüre sieht und beschreibt. Seinerseits liest der Leser Gedichte, d.h. einen Dichter, der, wie man aus dem ekphrastischen Prolog weiß, alleine im Stande ist, das von allen verpasste und ignorierte Ereignis (den Tod von Ikarus) zu bemerken und zu notieren. In die Lektüre vertieft (»pogrążony w czytaniu«), nicht fähig, sich vom Lesen zu trennen (»nie odrywał oczu od książki«), immer noch mit dem Buch vor der Nase (»wciąż z tą książką pod nosem«) macht der Junge plötzlich (»nagle«) einen Schritt auf die Fahrbahn, genau vor ein heranbrausendes Auto (ebd.: 387). Mit Entsetzen bemerkt der Erzähler, dass es ein Häftlingswagen der Gestapo ist (»Z przerażeniem spostrzegłem, że była to karetka gestapo«, ebd.: 387). Die Geschichte hat die zeitlose Idylle im Griff. Der Junge mit dem Buch (»młodzieniec z książką«) – sogar hier vergisst der Erzähler das Buch, die unwillkürliche ›Ursache‹ der kommenden Tragödie nicht – versucht an dem Wagen vorbeizukommen, jedoch zu spät, vergeblich. Aus dem Wagen steigen zwei schreiende »Individuen« mit Totenköpfen an den Helmen (»w hełmach z trupimi główkami«) und bieten dem Jungen höhnisch (»z szyderstwem«) an, in den Wagen einzusteigen (ebd.: 387f.). Der plötzliche, unerwartete, lektüreverschuldete Untergang – metonymisch materialisiert in den Totenköpfen an den Gestapohelmen – ist da, und es gibt kein Entkommen – referenziell nicht (vor der tödlichen ›Wirklichkeit‹) und metapoetisch nicht (vor der unheilvollen Allegorie): »›Ja nic nie zrobiłem – zdawało się, mówi – ja tylko tak...‹ Wskazywał na książkę, jako na przyczynę swojej nieuwagi. Jak gdyby tutaj można było coś wytłumaczyć. Nie chciał wejść do karetki ostatnim odruchem traconego życia.« (Ebd.: 388) »›Ich habe nichts gemacht – schien er zu sagen – ich bin nur...‹ Er zeigte auf das Buch als Grund seiner Unaufmerksamkeit. Als ob man hier etwas erklären könnte. Er wollte in den Wagen mit dem letzten Reflex des verwirkten Lebens nicht einsteigen.«

Bei allen indirekten und expliziten Literatur-Schuldzuweisungen und Selbstgeißelungen, die der Text zu evozieren versucht, ist die Wirklichkeit in Person der Gestapo diejenige Instanz, die das schuldig-unschuldige Lesen (und

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somit auch das Schreiben) bestrafen und das Versagen der Literatur stigmatisieren will. Der Literatur wird ein schneller Prozess gemacht. Der Junge wird in den Wagen gesteckt und weggefahren. Der autobiographische und autopoetologische Betrachter, der Schriftsteller schaut um sich um, Verständnis und Mitgefühl suchend (»szukając«) für das, was sich hier eben ereignete (»co się tutaj zdarzyło«). Aber alles geschah so schnell, so blitzartig (»tak szybko, tak błyskawicznie«), dass niemand merkte, wie der »Junge mit dem Buch umkam« (»młodzieniec z książką zginął«). Der Thanatoperfektionismus des Perfekts reißt willkürlich einen aus der idyllischen Fata Morgana der Imperfektivität heraus. Nur der Erzähler allein – und mit ihm die Literatur, die Dichtung – war/ist der einzige wahre Zeuge, mitten in der schuldig unschuldigen Indifferenz der Anderen. Alle sind in und mit ihrer hektischen Durativität beschäftigt, als das Perfekt des Unglücks, der punktuelle fatalistische Eingriff stattfindet. Und erneut skizziert der Erzähler anschließend, wie die Anderen ihren Beschäftigungen nachgehen. Die langen Beschreibungen, die die Kürze des davor stattgefundenen Ereignisses kontrastiv akzentuieren, korrespondieren dabei mit der Darstellung des schönen Sommerabends aus dem ersten Teil der Erzählung. Die Entführung des Jungen wird somit von zwei ›ekphrastischen‹ Bildern umgeben. Die Narration ertrinkt in den Deskriptionen der Durativität nach dem Muster des Brueghel-Bildes. Die idyllische Imperfektivität der Normalität steht nun, im Gegensatz zum Anfang der Erzählung, für die negative Indifferenz, die der Verweis auf die gleichgültige Unbeweglichkeit des Mickiewicz-Monuments krönt: »Mickiewicz stał spokojnie i kwiaty pachniały, i brzózki, i jarzębiny obok pomnika poruszały się od lekkiego wiatru, zniknięcie tego człowieka nie znaczyło nic dla nikogo. Ja jeden zauważyłem, że Ikar utonął.« (Ebd.: 389) »Mickiewicz stand ruhig da, und die Blumen dufteten, und die Birken und Ebereschen neben dem Denkmal bewegten sich vom leichten Wind, das Verschwinden dieses Menschen bedeutet für niemanden etwas. Ich allein bemerkte, dass Ikarus ertrunken war.«

Der Fall von Ikarus ist ein Vorfall – Zufall – Unfall, und das (jedes) Opfer muss beim Namen genannt werden; die Geschichte und die Erzählung brau-

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chen einen Namen auch für eine namenlose anonyme Figur, für einen unwillkürlichen ›Helden‹ wider Willen, für den zufälligen Protagonisten der Tragödie. Der Erzähler gibt in seinen Gedanken dem entführten Jungen einen Namen: Michaś. Sonst würde die Namenlosigkeit, seine Anonymität zu sehr mit der Anonymität seines Todes korrespondieren. Es ist die Aufgabe der (literarischen) Sprache, Menschen und Dingen Namen zu geben, zumindest als einen provisorischen Post-mortem-Marker von Individualität und Identität. Dies soll die Rekonstruktion vom Vergessenen und Verdrängten ermöglichen: Erst nachdem der Erzähler seinem Protagonisten einen tentativen Namen gegeben hat, rekonstruiert er im Weiteren sowohl das voraussagbare Ende des Jungen als auch das vergebliche Warten seiner Familie, die niemals erfahren wird, was mit ihm geschah (»oni nigdy nie dowiedzą się, jakim sposobem zginął ich syn«, ebd.: 388). Eine Sinngebung, eine Sinnstiftung und entsprechend die Deutung und Bedeutung bleiben aus: Die sinnlose Grausamkeit der Entführung erschüttert den Erzähler; die unheilbare Wunde der Erinnerung bleibt bis zum heutigen Tag (»Bezmyślne okrucieństwo tego porwania poruszyło mnie do głębi, porusza jeszcze do dziś dnia«, ebd.: 389). Jeglicher Sinn ist entführt und eliminiert. Dem Erzähler bleibt dabei die Rolle eines deutenden Betrachters und Lesers des Geschehnisses, und die ganze Erzählung dokumentiert sein lebensexegetisches Versagen, seine ›negative Hermeneutik‹, seine interpretatorische Ohnmacht. Gibt es doch einen Trost? Heilt die Zeit? Wie sollen das Leben und die Erzählung weitergehen, nachdem das geschah als wäre nichts geschehen: »Wieczór nadszedł, miasto usypiało gorączkowym, niezdrowym snem... Ruszyłem wreszcie spod mojego słupa, minąłem pomnik Mickiewicza, poszedłem do domu piechotą... A w myśli wciąż prześladował mnie obraz Michasia kręcącego głową, jak gdyby powiadał: ›Nie, nie, to tylko ta książka temu winna... już teraz będę uważał...‹« (Ebd.: 389) »Es wurde Abend, die Stadt verfiel in einen fiebrigen, ungesunden Schlaf... Ich verließ endlich die Haltestelle, ging am Mickiewicz-Denkmal vorüber, lief zu Fuß nach Hause... Aber in Gedanken verfolgte mich das Bild Michaś’, der den Kopf schüttelte, als ob er sagen wollte: ›Nein, nein, dieses Buch ist an allem schuld... Ich werde jetzt vorsichtiger...‹«

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Die Erzählung klingt unwiderruflich aus, ohne ein hinnehmbares Ende gefunden zu haben. Die Auslassungspunkte markieren das Verstummen. Effektvolle Metaphern und weise Sentenzen sind verboten. Ein Misstrauen gegenüber der Literatur ist für immer da, es ist in der Literatur selbst verankert. In der erneuten Erwähnung des Mickiewicz-Denkmals ist im Gegensatz zum Auftakt der Erzählung ein Vorwurf hörbar, ja ein Selbstvorwurf gegenüber der Dichtung als des stummen Zeugen. Der wahre Zeuge jedoch muss berichten und bezeugen, und Iwaszkiewicz’ Erzählung deklariert nicht nur ihren Dokumentationsanspruch, sondern integriert das Sujet des Versagens der Literatur in ihre testimoniale und zugleich metapoetische Narration. Für die Verhandlungen zwischen Wirklichkeit und Literatur, zwischen Welt und Wort, braucht man eine dritte Instanz – keinen Anwalt und keinen Ankläger, sondern einen Zeugen: das Bild(-chen) – ein Brueghel-Bild, das Bild Michaś’ (»obraz«) – eine Ikone, einen (Zerr-)Spiegel der eigenen Schuld und Unschuld, der (Un-)Tätigkeit und Mittäterschaft. Indem der Erzähler sich zu seiner poetischen und zugleich hermeneutischen Katastrophe bekennt, überwindet er sie nicht, macht aber sein Zeugnis glaubhaft. Für die Kommunikation seiner Ratlosigkeit und Sprachlosigkeit benötigt er ein Bild. Über diese ekphrastisch-mythische Reflexions- und Projektsfläche will die (Nachkriegs-)Literatur wieder sprechen, wieder zur Sprache kommen: Das letzte Wort in Iwaszkiewicz’ Erzählung gehört bezeichnenderweise nicht dem Erzähler, sondern Ikarus-Michaś, dem namenlosen und zugleich namentlichen Opfer, das in seiner Verzweiflung das Buch – die Idylle der Literatur und der Lektüre – anklagt. Offen und zugleich rhetorisch bleibt die Frage, ob die nun in das Selbst-(Miss-)Verständnis der Literatur integrierte Selbstanklage deren Selbstreferenzialität unterminiert oder vor- und fortschreibt.

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Fliegen in der Milch Alhierd Bacharevič

Ich bin ein Stadtmensch, durch und durch. Ich bin in einer Großstadt geboren – und ich fühle mich nur in der Großstadt heimisch. Ich bin schon deshalb Städter, weil ich diesen Text mit einer Lüge begonnen habe. Einem Dörfler wäre so etwas unmöglich.

*** Wenn ein Belarusse behauptet, er wäre ein Stadtmensch durch und durch, ist Skepsis angebracht. Soll er erst einmal seine Ausweispapiere vorzeigen – in Belarus ist das durchaus üblich, der Belarusse wird so häufig gebeten, irgendwelche Papiere vorzulegen, dass er sie bereitwillig aus seiner Tasche zieht und sie von sich aus auf der richtigen Seite aufschlägt. Schon fliegt der Schwindel auf: Seine ganze Mischpoke lebt auf dem Dorf, seine Mutter stammt vom Lande, der Vater auch, und nur er, sieh an, ist plötzlich Städter durch und durch. Wann hat er das nur hinbekommen? Echte belarussische Städter sind tatsächlich so rar, dass die Stadt, würde man alle zusammen aufs Land verfrachten, nichts davon mitbekäme. Wohl jeder von uns ist, ob es ihm gefällt oder nicht, dem Dorf mit hunderten feiner Fädchen verbunden, die die Stadt nicht zu zerreißen vermag. Die Stadt versucht es auch gar nicht. Sie tut so, als hätte es in ihrer Geschichte nie ein Dorf gegeben. »Unsere Vaterstadt« ‒ so bezeichnet sich Minsk gegenüber seinen

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Bewohnern, aber die Zahl derer, die hier geboren sind und deren Vorfahren schon in dieser Stadt lebten, ist doch sehr überschaubar. Lügen, so tun als ob, spielen mit Wörtern und Anmutungen, sich eine Geschichte erfinden und darüber vergessen, was Scham ist – all das ist städtisch: das Doppelbödige, Lasterhafte, Flinke, Unstete. Das Unverbindliche. Deshalb lebt die Kunst in der Stadt. Deshalb lebt die Wahrheit auf dem Dorf. Deshalb glauben sie in der Stadt nur sich selbst. Deshalb glauben sie auf dem Dorf an Gott und Obrigkeit. Und so taumeln wir daher: zwischen Kunst und Wahrheit, Bildern und Bedürfnissen, Freiheit und Glauben. Wessen alter Opel Kadett jagt da über die Dorfstraße und wirbelt Wolken von Staub in die Luft? Da kommt der belarussische Städter zu seinen Verwandten aufs Dorf gefahren, in die Kartoffeln. Er wird sein gesamtes Wochenende auf der Kartoffelplantage zubringen und am Montag wieder zur Arbeit gehen, den Buckel immer noch krumm. Genau wie sein Vorgesetzter. Was ist das für eine Gestalt, die sich da, mit Beuteln behängt, in die überfüllte Elektryčka quetscht? Da schleppt der belarussische Städter Eier, Speck und Tomaten heim in den Kühlschrank – was das Dorf hergibt. Verwandtschaft auf dem Dorf ist genauso viel Wert wie die Tante in Amerika. Wer stopft sich da den Kofferraum voll mit Kornäpfeln und Antonaŭkas, um daheim, in der Stadt, drei Tage lang auf russischem Gas und belarussischem Zucker Mus einzukochen? Er ist es, der belarussische Städter, Metropolenbewohner in erster Generation und williger Konsument städtischer Verlockungen. Mental ist er im Dorf geblieben, sein physischer Leib verlangt nach Dorfkost, seine städtische Hülle ist dünn – schrei ihn einmal an und sie zerreißt. Er legt Wintervorräte an und hortet sie auf der Toilette: Kompott, Gurken, Tomaten und sonstiges Eingemachtes. Das tut er, weil es die Dorfkultur so verlangt. Die Basis allen Dorflebens ist das Überleben, nichts fürchtet das Dorf mehr als Hunger und Krieg. In einer Winternacht knallen dann die Einmachgläser, aus der Toilette hallen dumpfe Schüsse. Der belarussische Städter steht senkrecht im Bett und greift sich ans Herz. Ist nun etwa wirklich Krieg? Nein. Noch mal Glück gehabt. Wir, Belarussen, friedfert’ge Menschen… Unser Panzerzug steht auf dem Abstellgleis – und das Eingemachte auf der Toilette.

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Das Ereignis des Jahres ist für den belarussischen Städter gekommen, wenn bei ihm im Dorf die Sau abgestochen wird. Das klingt paradox, ist aber so. Der belarussische Städter isst Schweinefleisch und wiederholt jahraus, jahrein: Das Dorf stirbt. Aber vorerst stirbt nur die Sau. Und irgendeine entfernte Großmutter um drei Ecken, zu der man auf Waldwegen ins Nirgendwo fahren muss. Von dieser Großmutter bleibt nur ein leeres Häuschen mitten im Wald. An die Hauptstadthipster verkaufen oder vergammeln lassen? Das ist das Dilemma des Stadtmenschen. In den Adern des heutigen Minsk fließt leckeres, sättigendes, nahrhaftes Dorfblut.

*** Nach dem letzten Krieg hat sich die Urbanisierung in Belarus dermaßen beschleunigt, dass Minsk in Rekordzeit zu einer Millionenstadt anwuchs. Aus Hunderttausend wurde eine Million, dann sogar zwei, der deutsche Osteuropahistoriker Thomas Bohn hat ein interessantes Buch über Stadtplanung und Urbanisierung in Minsk nach 1945 geschrieben, das unlängst auch in belarussischer Übersetzung unter dem Titel MINSKI FENOMEN erschienen ist.1 Vor dem Dorf gibt es in Belarus kein Entkommen. Auch nicht für mich. Mein Vater kam 1950 in einem Dorf im Westen von Belarus zur Welt, er zog Anfang der 1970er Jahre nach Minsk. Meine eine Großmutter, sie ist inzwischen verstorben, war 1949 vom Dorf nach Minsk übergesiedelt. Und hatte dort meine Mutter geboren. Meine zweite Großmutter hat ihr ganzes Leben auf dem Dorf verbracht. Ihre Geschwister leben alle auf dem Dorf. In einem der Tschernobyldörfer kam meine Frau zur Welt. Die Minsker sind mehrheitlich so wie ich.

1

S. Bohn, Thomas (2008): Minsk – Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945, Köln/Weimar/Wien: Böhlau.

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*** Wie jedes sowjetbelarussische Kind wurde auch ich früher jeden Sommer aufs Dorf zu den Großmüttern gebracht. Mal zu der einen, mal zu der anderen. Manchmal auch zu einer Dritten – die belarussische Familie ist in der Regel groß und patriarchal geführt. Zu meinen frühesten und prägendsten Eindrücken gehört die Milch auf dem Dorf. Fettig, frisch, fast gelblich, die Sahne obenauf. Wir Kinder wurden gezwungen, das zu trinken: Für uns Stadtkinder war das Dorf eine Art Sanatorium. Das Einmachglas mit der Milch stand auf dem Tisch mit der hier und da eingeschnittenen Wachstuchdecke. Oben auf der Milch schwammen drei oder vier schwarze Punkte. Ich ging näher heran und schaute in das Glas. Das waren Fliegen. Die schwarzen Fliegenleichen schwammen auf der Milch wie Buchstaben auf einem weißen Bogen Papier. Trink einen Schluck Milch, sagte mein Dorfkumpel zu mir. Ich kann nicht. Da sind Fliegen. Fliegen? Du stellst dich vielleicht an. Dann hol sie raus. Hier, schau, du nimmst sie mit den Fingern, dann kannst du trinken. Das schmeckt… Er fischte die Fliegen heraus, warf sie auf den Boden und schüttelte seine schmutzigen Finger mit den riesigen, schwarz glänzenden Nägeln aus, dass mich die weißen Tropfen trafen. Das wars. Jetzt trink. Ich sehe diese Fliegen noch immer. Aber nicht nur sie, sondern noch deutlich spannendere, wohlgefällige Bilder. Ein Nachthimmel, sternenübersät, von dem wir einen prächtigen Ausschnitt sehen konnten, als ich mit meinem Vater unterm Dach im Stroh übernachtete. Das Dach war löchrig, ringsum herrschte Armut, vor der die Jugend in die Stadt floh. Der Anfang der Neunziger war eine schwierige Zeit für Dorf und Stadt. Schlafen im Stroh unterm Sternenhimmel, der durch ein Loch im Dach hereinschaut – so etwas schenkt dir das Dorf ohne zu zögern. Ich sehe die scharfen Zähne der Nutrias, die meine anderen Großeltern sich hielten. Sie ließen sie mich füttern, einmal hat mir eine Nutria fast einen Finger abgebissen. Ich sehe die zottigen Stachelbeersträucher, die wirken wie

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lebendige Wesen, böse, stachlig und komisch. Ich sehe unanständig weiße Äpfel, die direkt vor dem Fenster wachsen, dass man sich nach dem Aufstehen einfach einen vom Baum pflücken kann, und der Tag ist gerettet. Und ich sehe noch einmal den sternenübersäten Nachthimmel – in der Stadt bekommst du so etwas nicht zu sehen, und wir beide stehen da, die Köpfe im Nacken, und es sind unsere Flitterwochen, Flitterwochen auf dem belarussischen Dorf… Aus Hamburg zurückgekehrt, lerne ich dich kennen und entdecke mein Land neu. Ich bin Städter. Durch und durch. Ein Strohdach mit klaffendem Loch. Einem Loch, so groß wie ein belarussisches Dorf. Mein Dorf. Nicht schrecklich ist es. Zauberhaft. Verborgen im Dunst unserer städtischen Gleichgültigkeit.

*** Aber als Kind konnte ich das Dorf nicht leiden. Und ich leistete erbitterten Widerstand, wenn sie mich dorthin schicken wollten. Das Dorf hielt Äpfel bereit – ich wollte Bananen. Es bot mir den Himmel – mir fehlte der Fernseher. Das Dorf war tatsächlich ein Sanatorium für mich, ein Sanatorium, in dem Antihygiene die Regel war und die Arbeit Gesetz, in dem Langeweile herrschte und schmutzige Kinder herumstrolchten. Sie waren höchstens sieben, rauchten aber schon Belоmor, tranken Selbstgebrannten und fluchten wie die Arbeiter in den Minsker Automobilwerken. Die Arbeit war Gesetz für die Menschen auf dem Dorf, aber nicht für mich, den intelligenten Stadtjungen. Während meine Altersgenossen ihren Eltern auf Feld und Hof, am Küchenofen, im Stall und auf dem Heuboden halfen, verschlang ich, der Minsker Gierschlund, Quark, Brötchen und Mus, las Bücher, spielte Fußball gegen mich selbst und wusch mir andauernd die Hände. Das Dorf erschreckte mich mit seinem Schmutz und seiner Arbeitsmanie. Mit seiner Natürlichkeit und seiner Brutalität. Ich träumte davon, erwachsen zu sein und nie wieder hierher fahren zu müssen. Dort auf dem Dorf formulierte ich meine Erklärung der Menschenrechte: Der Mensch hat ein Recht auf Faulheit. Dörfler stehen früh auf und machen sich an die Arbeit. Ein ›Wochenende‹ existiert nicht in ihrem Wortschatz.

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Sie arbeiten so viel, dass es manchmal wirkt wie eine Trägheitsbewegung. Eine Bewegung, die seit den ersten slawischen Stämmen mit ihrer primitiven Ökonomie beharrlich weiterläuft. Dörfler sind physisch außer Stande, nicht zu arbeiten, sonst wissen sie nicht wohin mit ihren Händen, sie werden ihnen fremd. Dörfler arbeiten, um dem Zerfall der Person und des Körpers zu entgehen. Müßiggang ist auf dem Dorf eine Todsünde. Die Sünde des Selbstzerfalls, der sinnentleerten Existenz. Diese Manie der körperlichen Arbeit in Verbindung mit der tiefen Ehrfurcht vor der Bildung hat mich schon immer schwer beeindruckt. Dörfler sind erdverwachsen. Mit Beinen, Armen, Geist und Blut. Und dadurch sind sie unfrei. Erwachsene arbeiten, Alte, Kinder. Meine Frau, Lyrikerin und Übersetzerin von Whitman, Poe, Sylvia Plath und anderen, Fotografin und Magistra der Literaturwissenschaft, ist auf dem Dorf geboren und aufgewachsen. Wenn sie mir, nicht ohne Stolz, erzählt, wie sie als Kind Kühe gemolken und Rüben gejätet hat, wie sie mit ihrer Schwester barfuß durch den Modder gerannt ist, wenn sie ihre Arbeit im Stall und am Küchenofen beschreibt, dann kann ich ihr nicht glauben. Das kann einfach nicht wahr sein. Meine Frau ist nicht so. Ich will die Fliegen in der Milch nicht sehen. Aber sie sind da. Das belarussische Dorf kann Wunder wirken, und das größte Wunder ist es, sich befreien zu können aus seiner Umarmung. Die so kräftig ist wie die Umarmung der Erde.

*** Stadtkinder, die ihren Sommer auf dem Dorf verbracht hatten, brachten die belarussische Sprache mit zurück nach Minsk. Nicht die Sprache, natürlich, aber doch Sprachbrocken, die ihnen noch lange in den Kinderhälsen stecken sollten. Brocken jener Sprache, von der sich ihre Eltern so gerne auskuriert hätten, denn Städter sein bedeutete in Belarus, lupenreines Russisch zu sprechen. Die Kinder kamen von ihren Großmüttern zurück, gingen wieder in die Schule, und dort wurde offenbar, dass sie sich auf dem Dorf eine heimtückische Infektion eingefangen hatten: belarussische Lexik und einen belarussischen Akzent. Die Russischlehrerinnen nahmen mit Schrecken und Stirnrun-

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zeln zur Kenntnis, wie ihre Schülerinnen und Schüler ›Dorf‹-Vokabular verwendeten und den städtischen Plosivlaut, das ›reinrussische g‹ nicht mehr aussprechen konnten. Nach einem Monat intensiver Arbeit ließ die Erkrankung allmählich nach, bis zum nächsten Sommer und der nächsten Fahrt zu den Großeltern ›von der Kolchose‹, die es in ihrem ganzen Leben nicht fertiggebracht haben, ordentlich Russisch zu sprechen. Zwei Jahrhunderte Russifizierung haben immer noch nicht ausgereicht, ›russische Menschen‹ aus ihnen zu machen. Das belarussische Dorf ist so zählebig wie seine Sprache. Das gesamte zwanzigste Jahrhundert hindurch galt gerade das Dorf als jenes verlorene belarussische Paradies, in das zurückzukehren die Pflicht eines jeden echten Patrioten war. Im Paradies wird Belarussisch gesprochen, lautete das so schöne wie unsinnige Postulat des belarussischen Nationalismus. Das Dorf mit seinen Mundarten wurde als Quell der wahren, lebendigen belarussischen Sprache angesehen, die gegen die ›städtische‹, standardisierte, künstliche Literatursprache abgegrenzt wurde. Hochsprachliches Belarussisch ist bis heute auf dem Dorf kaum zu hören. Und die Literatursprache wird ständig um Dialektismen erweitert, die der Städter ohne den Griff zum Wörterbuch teilweise gar nicht verstehen kann. Ohne das Dorf stirbt die Sprache – das ist die Grundangst der Nationalisten. Ohne das Dorf stirbt die Kultur. Ohne das Dorf gehen wir unserer ungebärdigen Identität verlustig. Ohne das Dorf sind wir nichts und niemand. Wie ohne unsere Dichtergrößen. Jene grau melierten Gestalten, die in der sozialistischen Stadt Karriere gemacht haben mit Versen über Wälder, Fluren und Holzhäuschen. Die Klassiker der belarussischen Literatur des 20. Jahrhunderts waren mehrheitlich Dorfkinder. Und man erwartete entsprechende Texte von ihnen. Texte, die die heimische Natur und das Landleben besangen, das Hohelied des Kampfes der armen Landbevölkerung gegen die Pans [aus dem Polnischen: Gutsherren, Anm. d. Red.] und die Besatzer, von der Schönheit der Muttersprache – das alles verband sich auf wundersame Weise mit hymnischen Gesängen auf die stalinsche Kollektivierung und Industrialisierung und auf den Führer höchstselbst. Mit sklavischen Oden an Moskau und die kommunistische Partei. Bereits im 19. Jahrhundert galt für die belarussische Literatur das Gesetz, vom Dorf zu lernen und sich dessen Sprache, Moral und Weltsicht anzueignen. Die belarussische Literatur mochte die Stadt nicht und stand ihr in feindseliger Abwehr gegenüber.

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»Ne ljublju ja mesta, pa-rasejsku horad, / Nadta tam cjasnota i vjaliki smorad«, sagt der Held eines Gedichtes von Francišak Bahušėvič, der im 19. Jahrhundert lebte und wirkte: Nein, ich mag die Stadt nicht, Russisch heißt sie gorod / dort ist’s allzu enge, und es stinkt erbärmlich. Fremd fühlt sich in Wilna auch Onkel Antos’,2 einer der beliebtesten Helden der belarussischen Literatur, der in die inoffizielle belarussische Hauptstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts gefahren ist, um etwas zu regeln. Ständig eckt er irgendwo an, wie in einem fremden, dunklen Zimmer. Der erste urbane Dichter belarussischer Sprache, der in Minsk geborene Maksim Bahdanovič, hat sich sein kurzes Leben lang gequält, da er spürte, wie es ihn zerriss zwischen dem Dorf, an das er als Nationalist zu glauben verpflichtet war und der Stadt, wo er sich in seinem Element fühlte. Zwischen Moderne und dörflich-naiver Romantik, die den Boden bereitete für die erste belarussische Wiedergeburt. Erst in den 1960er Jahren, während des Tauwetters unter Chruschtschow, begannen belarussische Schriftsteller zaghaft, die Stadt in ihre Texte einzubeziehen. Die Kinder der Dörfer und Kleinstädte zogen nach Minsk und erschlossen sich seine finsteren Plätze und weiten Prospekte. Dieses Phänomen wurde später nach dem gleichnamigen Titel einer Erzählung des vielleicht interessantesten und rätselhaftesten belarussischen Schriftstellers Michas’ Stral’coŭ als »Heu auf dem Asphalt« (Siena na asfal’ce) bezeichnet. Auf dem Asphalt der belarussischen Städte ist längst kein Heu mehr zu finden. Ende der 1980er Jahre hatte die urbane Literatur in Belarus endlich Gestalt angenommen und sich vernehmlich zu Wort gemeldet. Die verspätete belarussische Moderne hatte die verspätete nationale Wiedergeburt eingeholt in einer Zeit, da die Welt in das Zeitalter der Postmoderne eintrat. Und die belarussische Stadt wurde zur Bühne heftiger kultureller Konflikte zwischen den Generationen, drängte das Dorf, die vormals wichtigste Kulisse, die Gottheit von einst, ins Abseits. Aufs Altenteil. Oder in die Frischzellenkur zur Herausbildung neuer Lebensformen.

2

Aus Novaja ziamla (Neue Erde, 1923) von Jakub Kolas.

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*** Vor einigen Jahren erschien mein Roman ŠABANY. DIE GESCHICHTE EINES VERSCHWINDENS, der sich mit einer Erscheinungsform des Urbanen auseinandersetzt, die zuvor in Belarus noch keine Beachtung gefunden hatte. Šabany ist eine sogenannte Schlafstadt im südöstlichen Teil von Minsk. Umgeben von Fabriken, Wäldern, Feldern und der Fernstraße. Ein verseuchtes Industrieghetto und bis in die jüngste Vergangenheit eines der kriminellsten Viertel von Minsk. Ist das nun eine Stadt? Ja. Dort ist Minsk, dort gibt es alles, was der Stadtmensch zur Verfügung hat, und die nächste Metrostation ist nur zehn Busminuten entfernt. Dort bin ich aufgewachsen – die Eltern meiner Klassenkameraden waren mehrheitlich Städter in der ersten Generation. Immer noch ziehen im großen Stil Leute aus dem Dorf zu und füllen hier die unlängst hochgezogenen Wohnburgen aus. Das Viertel erfährt einen dauerhaften Zustrom dörflicher Arbeitskraft, und das Dorf bringt seine Ansichten über den Lebenswandel mit. Über Werte und Kultur, über Politik und Ästhetik. Šabany sickert in die Stadt ein, verändert sie unmerklich von innen heraus. Šabany ist ein Phänomen der belarussischen Urbanisierung: formal Stadt, inhaltlich Dorf und in Wahrheit weder noch, eine neue Lebensform, eine vormals gänzlich unbekannte Variante des belarussischen Volkes, die sich erst Ende der 1980er Jahre langsam herausschälte. Auch diese Form von Leben verdient ihre eigene Literatur.

*** Die Bezeichnung Šabany geht auf den Namen des Dorfes zurück, das es früher dort gab. Die Etymologie dahinter liegt im Dunkeln, weder im Belarussischen noch im Russischen weckt der Name besondere Assoziationen, deshalb war es ihm beschieden, bis in unsere Zeit zu überdauern. Hunderte anderer belarussischer Dörfer hatten weniger Glück, darunter solche mit langer Geschichte – seit den 1930er Jahren und bis zum Ende der Sowjetunion wurden Dörfer in Belarus gnadenlos umbenannt. Weil ihre Namen nicht wohlklingend genug waren. Über Wohl- und Missklang befand freilich die kommunistische Obrigkeit. Triste Namen wurden durch forsche, sonnige ersetzt, Orte, die nach Krankheiten klangen, erhielten medizinisch einwandfreie, sterile Namen, klassenfeindliche Bezeichnungen wurden ideologisch auf Linie gebracht. So kam Belarus zu Dutzenden Sonečnys, Kastryčnickis, Illičs,

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Kamunists, Čyrvony S’cjahs, Pryvolnys, Vjasjolkis, S’vetlys, Radasnys. Das Regime wollte die Fliegen aus der Milch des nationalen Glücks fischen. Niemand hatte sich überlegt, wie sich der Optimismus der Namen zur grauen Realität des Sozialismus verhalten würde. Die Namen waren neu, aber anderntags schwammen schon wieder Fliegen in der Milch. Auch im lustigen Dorf Vjasjolki starb man an Perspektivlosigkeit und Schwermut, auch im sonnigen S’vetly konnte man im Suff enden. Wie man ja auch glücklich sein konnte, wenn man sein ganzes Leben im hinterletzten Pahanki verbrachte.

*** Das belarussische Dorf ist unterschiedlich. Alte, verlassene Weiler im Norden, unweit der litauischen Grenze. Hier greift niemand in die Natur ein, ringsum nur wilde Schönheit und kein Hauch von Kollektivierung. Akkurate Holzhäuser im Westen, wo die Menschen in die katholischen Kirchen gehen, auf ein ästhetisches Äußeres achten und im Miteinander den Geist des alten belarussischen Städtchens bewahrt haben, der den Städtern verschlossen bleiben muss. Kleine, eigentümliche Dörfer um Hlybokaje, wo anstelle von Zäunen häufig dünne Schnüre vor dem Haus gespannt werden und man sich stundenlang in der Betrachtung der Zierleisten über den Fenstern verlieren kann. Erholungsgebiete am Narač und um Braslaŭ, die belarussische Schweiz – die Ortschaften um die Seen laufen dort über von Menschen und Autos, die Holzhäuser aufgekauft von vermögenden Belarussen und Ausländern, alles riecht nach Geld. Aber du brauchst nur einen Kilometer weit in den Wald zu gehen, und du bist verloren, wirst Stunden umherirren, bis dir eine Menschenseele begegnet. Das dicht besiedelte Minsker Gebiet, immer geschäftig, an Straßen gelegen, die in alle Ecken Europas führen. Schmucke Höfe im Gebiet Homel, ordentlich und gepflegt, erwärmt von der tätigen Sorge ihrer wortkargen Herren. Es gibt auch die winzigen, unscheinbaren Dörfer ohne eigene Stromversorgung, in denen Suff und Hoffnungslosigkeit regieren, und in denen es jedem zufälligen Besucher schon beim Anblick der verdreckten, bösartigen

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Kinder (die Armut lässt seltsamerweise die Geburten ins Unermessliche steigen) die Schamesröte ins Gesicht treibt. Diese Kinder mag niemand leiden, außer den Fliegen. Den Fliegen und dem Staat, der erklärt, er setze sich unermüdlich für die junge Generation ein, dabei aber stets nur die Stadt im Auge hat. Und weitere Dörfer, menschenleer, aber lebendig. Längst evakuierte Tschernobyldörfer ganz im Südosten des Landes. Dort wuchert die Natur, eine entfesselte, wilde Kraft, die Zeit läuft dort rückwärts. In Schulruinen leben junge Bäume, Moos bedeckt die eingestürzten Dächer. Durch die leeren Häuser streicht der Waldwind, lässt herausgerissene Türen und morsche Dielen knarren. Der Asphalt der alten sowjetischen Straßen geht auf im großen Grün, und das Astwerk neigt sich immer tiefer zur Erde, als wollte es die Spuren eines Verbrechens bedecken. Hier findet das belarussische Dorf sein Ende. Hier könnte eine Moral ihren Anfang nehmen. Aber die dörfliche Moral ist dem Städter fremd. Die Stadt täuscht sich selbst genauso geschickt wie die anderen.

*** Das Dorf kommt in Mode in Belarus. Bestickte Hemden offenbaren die nationale Identität ihrer Träger in der Stadt, die Volksmusik erlebt eine neue Blüte, junge Leute kaufen sich alte, verlassene Häuser. Politische Ansichten verschieben sich nach rechts, man wird konservativ, nicht nur beim Eingemachten. Immer mehr Menschen wollen ihr Innenleben mit Leinen, Kartoffeln, Kornblumen und Weizenähren auskleiden und ihre geplagten Gehirne von Büchern, Fragen und Zweifeln befreien. Dass die bestickten Hemden das dörfliche Patriarchat symbolisieren und die Zugehörigkeit zu alten Traditionen markieren, kommt dem Stadtmenschen nicht in den Sinn. Er sieht in der Tradition die Errettung vor allen globalen Problemen. Er bemerkt nicht, dass Tradition immer Entsetzen bedeutet, Schrecken und Unfreiheit. Anderthalb Jahrhunderte lang hat die belarussische Kultur verzweifelt um die Stadt gerungen, dreißig Jahre davon waren nötig, eine moderne intellektuelle Elite auszuformen. Und nun kehrt diese Kultur an ihren Ausgangspunkt zurück: das Dorf. Die Kultur verweigert sich dem kritischen Denken, sie verlangt wieder nach dem Pastoralen.

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Sie kehrt zurück zu Ikonen im Herrgottswinkel, die das hiesige Heidentum kaschieren sollen, zu Ethno-Sekten mit ihren Kollektivgesängen slawischer Mantren, zur sowjetischen Dorfklassik in Kunst und Literatur. Zur Verehrung der Stammesältesten, zum Glauben an den einen, einzig wahren belarussischen Sonderweg, der nur beschritten werden kann, indem man die alten Gottheiten wieder zum Leben erweckt. Indem man die Hierarchien erneuert, die unter dem Druck der Stadt zu zerfallen drohen. Indem man das kranke Stadtbewusstsein mit dem Dorf kuriert. Das belarussische Dorf weiß nichts von alledem. In seiner arbeitsfreien Zeit hängt es im Internet und verfolgt, was in der Welt geschieht. Terroranschläge, gleichgeschlechtliche Ehen, Krieg in der Ukraine, Inflation, ›Islamischer Staat‹, Gebietsansprüche, Brexit-Popexit… Die Welt ist in Aufruhr. Das belarussische Dorf liest und greift sich ans Herz. Aber es greift nicht ein. Es greift nie irgendwo ein. Die Welt hat einfach nichts mit ihm zu schaffen. Als existierte es überhaupt nicht. Die Stadt hätte sich längst über ihre Unsichtbarkeit beklagt, die Stadt hätte von sich reden gemacht, aber die Stadt ist weit weg. Es gibt uns nicht – Gott sei Dank, denken sie auf dem belarussischen Dorf. Morgen heißt es früh aufstehen. Die Arbeit ruft. Der Monitor erlischt wie der Himmel über Belarus. Die Rücken neigen sich der Erde zu. Im Hof klirrt der Hund mit der Kette, im Stall unterhält sich in seiner simplen Sprache das Vieh. Unter den Dielen scharrt eine Maus. In der Küche wird die Milch sauer, und die letzte Sommerfliege stößt gegen die Scheibe. Wie in hunderten, tausenden, wie in Milliarden Nächten zuvor.

Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler

Blindfleck Belarus Yaraslava Ananka und Nina Weller im Gespräch mit dem belarussischen Autor Alhierd Bacharevič und seinem Übersetzer Thomas Weiler

Jahrhundertelang wurde Belarus als dörflicher (Un-)Ort zwischen Polen und Russland beschrieben. Selbstironisch, aber daher nicht weniger tragisch, versucht die belarussische Gegenwartskultur aus dem Teufelskreis der ruralen Stigmatisierungen auszubrechen. Entscheidend ist dabei der Faktor Sprache: Das Belarussische mit seinen Konnotationen eines ›dörflichen Dialekts‹ und einer ›unmündigen Mundart‹ gilt heute auch als Sprache der unabhängigen, den kulturellen und sprachlichen Russifizierungen widerstehenden, hauptstädtischen Künstler- und Intellektuellenszene. Sie ist Code und Passwort für politisch, ethisch und ästhetisch Gleichgesinnte. In unserem Gespräch über Belarus mit dem belarussischen Prosaiker und Essayisten Alhierd Bacharevič und seinem deutschen Übersetzer sowie Belarus-Kenner, Thomas Weiler, diskutieren wir die Zusammenhänge von Dorf, Sprache und Literatur im heutigen Belarus. YA/NW: Alhierd, du schreibst Gedichte, Essays und Romane. Thomas, du arbeitest als Übersetzer und Autor. Welche Gattung würde Eurer Meinung nach das Selbstbewusstsein von Belarus, seine innere Form am präzisesten vermitteln? Ein Gedicht, eine Erzählung, ein Roman, eine Tragödie oder eine Komödie? Eine Elegie oder eine Idylle? Oder ein Märchen? Bacharevič: Tja, welche Gattung? Wahrscheinlich ein Nachwort. Also, wir in Belarus haben sehr viele Vorworte. Und wir benutzen immer Vorworte,

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wir präsentieren uns, wir stellen uns vor, was Belarus ist, und wer wir sind. Aber Nachworte, etwas nachzusagen, das ist etwas, was uns wirklich fehlt. Weiler: Ja, das ist, gleich zu Anfang, eine schwierige Frage. Ich fand es sehr spannend, als ich beim Übersetzen des Textes FLIEGEN IN DER MILCH gleich gemerkt habe, dass ich auf der Suche nach dem Ton für diesen Text bin, was ja sicher auch mit der Gattung zu tun hat. Es ist ein Essay und ich glaube, das könnte als Gattung ganz gut passen, jedenfalls zu meinem Zugang zum Belarussischen, der ja immer noch ein Suchen und Versuchen ist: Was ist die richtige Form, womit habe ich es da eigentlich zu tun? Ihr habt mich als ›Belarus-Kenner‹ vorgestellt, das würde ich gerne in dicke Anführungszeichen setzen. Ich glaube, es ist immer noch ein Sich-Annähern an dieses komplizierte Feld, an die komplizierte belarussische Sprache und an die komplizierte belarussische Literatur. YA/NW: Alhierd, dein Essay heißt FLIEGEN IN DER MILCH und die Figur der Milch ist der rote Faden, der sich durch den ganzen Text zieht, oder genauer gesagt, der weiße Faden. Im Essay zeigst du ausführlich, wie die Stadt das Dorf ›melkt‹, sich energetisch davon ernährt. Ein symbolischer diskursiver Melkertrag ist auch dein Essay und überhaupt unser heutiger literarischer Abend zur ›Idylle‹ des belarussischen Dorfes, der bezeichnenderweise im Zentrum der Megapolis Berlin stattfindet. Es ist unser urbanes Bedürfnis und unser städtischer Luxus, über das Dorf zu reden und uns danach zu sehnen. Es ist klar, was wir vom Dorf bekommen, aber zugleich fragen wir uns und Euch, und uns alle: Bekommt das Dorf etwas von uns zurück? Bacharevič: Die Stadt ›melkt‹ das Dorf und was bekommt das Dorf von der Stadt zurück? Was bekommt die Kuh von dem Menschen, der sie melkt? Ich weiß nicht genau, vielleicht bekommt das Dorf von der Stadt die Freiheit. Städtische Menschen sind freie Menschen. Und bei der Begegnung mit der Stadt und den Städtern befreien sich die Dörfler von der sowjetischen Sklaverei, der sowjetischen Mentalität, die auf dem Lande weiterlebt. Diese Mentalität verschwindet sehr langsam. Und junge Dörfler kommen in die Stadt, machen neue Erfahrungen und sehen, wie die Städter in der ganzen Welt leben.

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Weiler: Du schreibst ja auch in deinem Text, dass das Dorf ganz froh ist, dass es weit weg ist von der Stadt und schön im Windschatten bleibt. Ich glaube, da hat sich schon inzwischen einiges geändert, nicht zuletzt über das globale Dorf ›Internet‹, da man sich informieren kann, ohne direkten Kontakt zu der Stadt herzustellen. Ich glaube, es gibt wenig und zunehmend weniger Kontakt zwischen Dorf und Stadt. Das ist jedenfalls mein Eindruck. In den Begegnungen zwischen Dorf und Stadt, die du auch aus deiner Kindheit beschreibst, da findet auch kein nachhaltiger Kontakt statt. Die Städter fahren aufs Land, sind bei den Großmüttern, aber immer nur für diese paar Wochen im Sommer, kommen wieder zurück und danach wird ihnen alles ausgetrieben, was sie aus dem Dorf an bösen Sachen, ›Infektionen‹ eingesammelt haben. Die Fliegen müssen raus, damit alles wieder sauber ist. Ich glaube aber, dass sich das Dorf via Internet von der Stadt holen kann, was es braucht, dabei muss es sich nicht mit allem beschäftigen, was in der Stadt passiert. Das ist ein Weg für das Dorf, an das städtische Leben heranzukommen. Der Weg funktioniert aber nicht direkt, sondern nimmt einen Umweg. YA/NW: Thomas, ist in der belarussischen Gegenwartsliteratur nicht auch eine gewisse ›Selbstexotisierung‹ im Dörflichen für den Westen zu beobachten? Und inwieweit – du hast die Frage im Vorfeld bereits gestellt – besteht für die belarussischsprachige Gegenwartsliteratur die Gefahr, es sich im idyllischen Sumpf gemütlich zu machen? Man bleibt unter seinesgleichen, sucht nicht den Kontakt zur Außenwelt, genügt sich selbst? Weiler: Es mag sicher Autoren geben, die versuchen, für bestimmte Märkte oder Leserschaften zu schreiben. Wenn Autoren in Belarus versuchen, für den deutschen Markt zu schreiben, dann kann das eigentlich nur schiefgehen, weil die allerwenigsten auch nur im Entferntesten eine Vorstellung haben, wie hier gelesen wird und wie der Literaturmarkt hierzulande funktioniert. Wenn man die Prämissen nicht kennt, dann kann man sie auch nicht bedienen. Ich glaube auch nicht, dass die Verlage hierzulande auf den belarussischen Dorfroman warten; sie wollen Literatur haben, die sie interessiert, aus welchen Gründen auch immer. Und sie muss nicht aus Belarus kommen, sondern sie muss literarisch wertvoll sein, sie muss etwas Neues anbieten und auch irgendwo anknüpfen können an das, was schon da ist. Ich glaube, es wäre keine gute Strategie, in Belarus für ausländische Märkte zu schrei-

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ben, das wird nicht funktionieren. Und Alhierd sagte ja schon: Das funktioniert nicht mal im Land selbst. Es sind irgendwelche Moden, die man versuchen kann, zu bedienen, aber das haut so nicht hin. Was ich auch mit dem ›sich Einrichten im Sumpf‹ meinte, ist eher die Frage: Inwieweit nimmt man Teil an den literarischen Prozessen in anderen Ländern? Rezipiert man in Belarus Literatur aus anderen Ländern? Ist man mit Übersetzern in Kontakt? Macht man Empfehlungen, wenn neue Bücher erscheinen? Da habe ich oft das Gefühl, dass man in Belarus sehr stark unter sich bleibt. Es gibt die Szene, die sich gegenseitig liest, bespricht, kritisiert, aber es geht sehr wenig nach außen. Es existiert eher die Erwartungshaltung: Kommt doch, interessiert euch für uns und entdeckt uns. Das begegnet mir immer wieder und dagegen kämpfe ich seit langem, weil das sehr mühsam ist, gerade weil ich als Übersetzer eben in dem Dazwischen bin und irgendwie vermitteln muss. Ich kann mir aber nicht alles selber erschließen, was da ist, sondern ich bin auch darauf angewiesen, dass vermittelt wird. Denn es gibt für die belarussische Literatur keine Agenten, die diese Vermittlungstätigkeit übernehmen, wie das in größeren Sprachen der Fall ist. Und in den Verlagen hierzulande gibt es kaum Menschen, die in die Originale reinschauen können. Das fehlt einfach komplett. Und deswegen wäre es umso wichtiger, dass man eben nicht bei sich im Sumpf bleibt, sondern auch raus aufs Festland kommt. Das wünsche ich mir sehr. Es ist schwierig, das jetzt hier anzubringen, denn die Adressaten sind eigentlich andere. YA/NW: Kehren wir zum Dorf zurück: In Deutschland spricht man gegenwärtig einerseits vom Verschwinden des Dorfes, andererseits aber auch von seiner Wiederentdeckung. Alhierd, deinem Essay konnte man entnehmen, dass es auch eine ähnliche Bewegung in Belarus gibt: Die Städter werden konservativ oder sehnen sich nach einem einfachen Leben, gehen aufs Land, entdecken das Dorf nach den alten, tradierten Mustern wieder. Daher die Frage, ob es tatsächlich so etwas wie eine neue Dorfliteratur in Belarus gibt. Natürlich gibt es eine große (sowjetische) Tradition der Dorfliteratur. Aber gibt es tatsächlich ein neues Sprechen über das Dorf, das mit einer ruralen Rückbesinnung verbunden wäre? Das kann man z.B. in der heutigen deutschen Literatur sehr gut beobachten. In Polen dagegen zu Beispiel kaum. Bacharevič: Es gibt keine Dorfliteratur in Belarus. Die städtische Literatur in Belarus entwickelt sich dagegen sehr gut: neue Autoren, neue Themen,

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viele Bücher, neue Verlage. Es gibt aber auch viele Probleme. Für mich z.B. ist die Literatur der kleinen Städte in Belarus interessant. Also aus den ehemaligen Schtetlech, wie es auf Jiddisch heißt. Aber 90 Prozent der belarussischen Autoren leben in Minsk, in der Hauptstadt, und alle wollen nach Minsk. Minsk ist die Hauptstadt von Belarus und das große Kulturzentrum des Landes. Aber im Dorf? Nein. Ich kenne praktisch keinen Autor, der im Dorf lebt und schreibt. Es gibt einen Hippster, der in einem Dorf lebt und etwas schreibt, aber ich weiß nicht, ob wir das als Literatur bezeichnen können... YA/NW: Gibt es in Belarus regionale Identitäten, die in der Literatur erkennbar wären? In deinem Essay wird sehr schön dargestellt, wie unterschiedlich die Dörfer sind. Wir sprechen ständig von ›Stadt‹ und ›Land‹ und es scheint so, als wäre alles homogen. Du schreibst dagegen, dass die ehemaligen Tschernobyl-Dörfer im Osten ganz anders kulturell verankert sind als die Dörfer im Westen an der Grenze zu Polen und, dass es beispielsweise im Norden viele verlassene Weiler gibt. Das heißt, wir haben es doch mit sehr unterschiedlichen Landschaftsbildern und auch unterschiedlichen Dörfern und Dorfgeschichten zu tun. Bacharevič: Man kann hier vielleicht die Hrodna- oder Homel-Literaturschule erwähnen. Homel befindet sich im Südosten und Hrodna im Westen von Belarus. Polazk, wiederum, ist eine sehr alte Stadt im Nordosten. Es gibt vielleicht zehn Autoren aus Polazk, die eine Mafia bilden. Sogar in Minsk. Ein Autor aus Polazk hilft einem anderen Autor aus Polazk immer. Diese provinziellen Autoren hassen uns (die Minsker) ein bisschen. Wir sind Snobs, wir sind aus der Hauptstadt, wir fahren nach Berlin und lesen hier unsere Essays über ›Fliegen in der Milch‹ und sie leben wie Fliegen in der Milch in Polazk, Homel und Hrodna. Belarus ist literarisch und kulturell sehr zentralisiert. Es gibt kleine Auseinandersetzungen zwischen dem Westen und dem Osten, vielleicht auch deswegen, weil der Osten mehr russifiziert ist. Der Westen ist näher an der EU, an Polen, an der katholischen Kirche. Vielleicht spielt das auch eine Rolle. Aber mehrheitlich ist Belarus zentralisiert. Wir haben ein Herz, das Herz heißt Minsk, und wir leben in diesem Herzen. Anders ist es aber z.B. in Mahiljou, einer relativ großen Stadt im Nordosten von Belarus, nahe an der russischen Grenze. Einmal waren ich und drei weitere anerkannte belarussische Autoren in Mahiljou: Wir haben

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dort eine große Bücherei im Stadtzentrum besucht und wir haben kein einziges Buch auf Belarussisch gefunden. Alle Bücher waren auf Russisch und 99 Prozent kamen aus Russland. Wir haben in Belarus keinen großen belarussischsprachigen Buchmarkt, russische Autoren sind überall vertreten, der Staat macht jedoch nichts, um der belarussischen Literatur zu helfen. YA/NW: Alhierd, in deinem Essay wird für die Beschreibung der belarussischen Sprache die Metapher der Dorf-Infektion verwendet: Auf dem Land steckt man sich an. In deiner linguistischen Dystopie – in dem Roman DZECI ALINDARKI (Alindarkas Kinder) – greifst Du eine andere medizinische Metapher, sogar eine Allegorie auf: Ein faschistoider Arzt, ehemaliger Musiker, hat die manische Idee, die belarussische Bevölkerung von einer Geschwulst im Hals zu heilen. Seiner Meinung nach ist diese Geschwulst der Grund für den belarussischen Akzent, für die seltsame Aussprache, die die russische Sprache verunstaltet. Woher kommt diese medizinische Metaphorik? Versuchst du als Schriftsteller, eine Diagnose zu stellen? Und wenn ja, dann wem und welche? Oder sind deine Romane (und die belarussischsprachige Literatur überhaupt) schon ein Medikament, eine Arznei? Bacharevič: Wisst ihr, ich bin selbst ein Patient. Jeder von uns ist ein Patient und wir haben alle sehr viel medizinische Erfahrungen. In einem bekannten Roman heißt es: »Die Krankheit macht aus uns Menschen.« Wenn ich Schmerz fühle, kann ich nicht ohne medizinische Metaphern schreiben. Ich erzähle Euch eine kleine Geschichte, die ich mag: Im September war ich mit meiner Frau sieben Tage in einem Dorf in Slowenien. Sieben Tage hatte ich Zahnschmerzen. Und am letzten Tag war meine Wange geschwollen. Nun stellt euch bitte vor: Ich und meine Frau, wir sind in Slowenien, so weit von unserer Heimat, von Minsk. Es ist Nacht, eine sehr schöne slowenische Nacht und du bist in dieser Nacht mit so einer dicken Wange. Und die Sprache kommt aus dem Mund, wo die Schmerzen ihren Anfang haben. So entsteht die Literatur.

Autorinnen und Autoren

Ananka, Yaraslava, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »Das Dorf als Imaginationsraum und Experimentierfeld im östlichen Europa« am Institut für Slavistik der Universität Potsdam (seit 2015). 20042011 Journalistik- und Literatur-Studium in Minsk und Moskau, 2018 Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin (Dissertationsthema: KAINS FERIEN. DIE POETIK DES DAZWISCHEN IN VLADISLAV CHODASEVIČS BERLINER LYRIK). Forschungsschwerpunkte: russische Lyrik, belarussische und ukrainische Gegenwartsliteratur, ostslavisch-polnische Kulturkontakte, Exilpoetik, russisches Berlin, dilettantisches Schreiben. Bacharevič, Alhierd, belarussischer Schriftsteller, Essayist, Dichter und Übersetzer. 2011-2014 Kolumnist für Radio Free Europe/Radio Liberty, 2014 Teilnehmer der Europäischen Schriftstellerkonferenz in Berlin. Stipendiat des Internationalen Hauses der Autoren in Graz (IHAG), des Baltic Center for Writers and Translators in Visby (Schweden), des P.E.N.-Zentrums Deutschland und der Heinrich-Böll-Stiftung. Autor der Romane ŠABANY (Schabany, 2012), DZECI ALINDARKI (Alindarkas Kinder, 2014), SABAKI ĖUROPY (Die Hunde Europas, 2018) u.a. Der Roman SAROKA NA ŠYBENICY (DIE ELSTER AUF DEM GALGEN) erschien 2010 in der Übersetzung von Thomas Weiler im Leipziger Literaturverlag. Evstratov, Alexei, Dr., Adjunct Professor (maître-assistant) für Russische Literatur an der Université de Lausanne (seit 2017). 2000-2012 Studium in Moskau und Paris, 2012-2017 Forschungsstipendiat an der École des Hautes Études en sciences sociales in Paris, am Wissenschaftskolleg zu Berlin, an

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der University of Oxford und an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des europäischen Dramas, Theater und Zuschauerschaft, artistic dispositifs. Neuere Buchpublikationen: LES SPECTACLES FRANCOPHONES À LA COUR DE RUSSIE (1743-1796): L’INVENTION D’UNE SOCIÉTÉ (2016), THE CREATION OF A EUROPEANIZED ELITE IN RUSSIA, 17621825: PUBLIC ROLE AND SUBJECTIVE SELF (Hg. mit A. Zorin und A. Schonle, 2016). Kirschbaum, Heinrich, Prof. Dr. habil., Assistenzprofessor für Slavische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel (seit 2017). 1995-2003 Studium an der Universität Regensburg, 2007 Promotion, 20072011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für slavische Literaturen und Kulturen der Universität Passau, 2013-2017 Junior-Professor für Westslawische Literaturen und Kulturen an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2014 Habilitation. Forschungsschwerpunkte: Slavisch-westeuropäische und interslavische Literatur- und Kulturbeziehungen (mit Fokus auf Russland, Polen, Belarus, Ukraine). Neuere Buchpublikation: IM INTERTEXTUELLEN SCHLANGENNEST. ADAM MICKIEWICZ UND POLNISCH-RUSSISCHES (ANTI‑)IMPERIALES SCHREIBEN (2016), WIEDERGÄNGER, PILGER, INDIANER. POLENMETONYMIEN IM LANGEN 19. JAHRHUNDERT (Hg., 2017). Krehl, Birgit, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaft (Schwerpunkt Polonistik) an der Universität Potsdam. 1980-1984 Studium in Leipzig und Prag, 1988 Promotion an der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: polnische und tschechische Lyrik des 20. Jahrhunderts, Verstheorie, Gründungsmythen. Neuere Buchublikationen: SLAVISCHES DRAMA UND THEATER IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART (Hg., 2012), DIE UNERTRÄGLICHE LEICHTIGKEIT DES HAIKU. DER KÜNSTLER KAREL TRINKEWITZ (Hg. mit A. Kliems und C. Gölz, 2016). Langner, Sigrun, Jun.-Prof, Dr., Leiterin der Professur für Landschaftsarchitektur-/planung an der Bauhaus-Universität Weimar (seit 2013); stellv. Direktorin des Instituts für Europäische Urbanistik (seit 2015); Mitglied Studio Urbane Landschaften – Plattform für Lehre, Forschung, Praxis (seit 2005); Partnerin Station C23 – Architekten und Landschaftsarchitekten Part-

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nerschaftsgesellschaft, Leipzig (seit 2003). Forschungsschwerpunkte: »Rurbane Landschaften« als Ergebnis urban-ruraler Beziehungsgeflechte, entwurfsorientierte Kartografie im großräumigen Landschaftsentwerfen. Marszałek, Magdalena, Professorin für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaft (Schwerpunkt Polonistik) an der Universität Potsdam (seit 2011), Leiterin des Forschungsprojekt »Das Dorf als Imaginationsraum und Experimentierfeld im östlichen Europa« im Rahmen des von der Volkswagenstiftung geförderten Verbundprojekts »Experimentierfeld Dorf«. Studium in Krakau und Bochum, 2002 Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin, 2006-2011 Juniorprofessorin an der HU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Polnische Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, polnisch-jüdische Kulturgeschichte, factual fiction, memoriale und postmemoriale Ästhetiken in der Literatur und Kunst, Geographie und Literatur. Neuere Buchpublikationen (u.a.): GEOPOETIKEN. GEOGRAPHISCHE ENTWÜRFE IN DEN MITTEL- UND OSTEUROPÄISCHEN LITERATUREN (Hg. mit S. Sasse, 2010); SEIEN WIR REALISTISCH. NEUE REALISMEN UND DOKUMENTARISMEN IN PHILOSOPHIE UND KUNST (Hg. mit D. Mersch, 2016) und ÜBER LAND. AKTUELLE LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN AUF DORF UND LÄNDLICHKEIT (Hg. mit W. Nell und M. Weiland, 2018). Martin, Erik, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Literaturwissenschaften/Ost an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder. Studium der Philosophie, Mathematik und Ostslavischen Philologie an der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: russische und polnische Literatur des 19. Jahrhunderts, Wechselwirkungen von Literatur und Philosophie, literarische und ästhetische Theorien der Avantgarde. Molisak, Alina, Dr. habil., Hochschullehrerin am Institut für Polnische Literatur an der Universität Warschau. 2004 Promotion, 2017 Habilitation. Forschungsschwerpunkte: Polnische und Jiddische Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, polnisch-jüdische Kulturgeschichte, Räume und Literatur. Neuere Buchpublikationen (u.a.): ŻYDOWSKA WARSZAWA ‒ ŻYDOWSKI BERLIN. LITERACKI PORTRET MIASTA W PIERWSZEJ POŁOWIE XX WIEKU (2016); POMNIKI PAMIĘCI. MIEJSCA NIEPAMIĘCI (Hg. mit K. Chmielewska,

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2017); TURYSTYKA I POLITYKA. IDEOLOGIE WSPÓŁCZESNYCH OPOWIEŚCI O PRZESTRZENIACH (Hg. mit J. Wierzejska und D. Sosnowska, 2017); THE TRILINGUAL LITERATUR OF POLISH JEWS FROM DIFFERENT PERSPECTIVES (Hg. mit Sh. Ronen, 2017). Nell, Werner, Prof. Dr., geboren in St. Goar am Rhein, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Adjunct Associate Professor an der Queen’s University in Kingston (Ontario), Kanada; Vorstand des Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism). Sprecher des von der Volkswagenstiftung geförderten Verbundprojekts »Experimentierfeld Dorf«. Forschungsschwerpunkte: Literatur in transnationalen Prozessen, überseeische Literaturbeziehungen, vergleichende Regionalitätsstudien, Literatur und Gesellschaft. Neuere Buchpublikationen: ATLAS DER FIKTIVEN ORTE (2012); ZWISCHENWELTEN. DAS RHEINLAND UM 1800 (Hg. mit V. Gallé, 2012); IMAGINÄRE DÖRFER. ZUR WIEDERKEHR DES DÖRFLICHEN IN LITERATUR, FILM UND LEBENSWELT (Hg. mit. M. Weiland, 2014); VOM KRITISCHEN DENKER ZUR MEDIENPROMINENZ? ZUR ROLLE VON INTELLEKTUELLEN IN LITERATUR UND GESELLSCHAFT VOR UND NACH 1989 (Hg. mit C. Gansel, 2015) und ÜBER LAND. AKTUELLE LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN AUF DORF UND LÄNDLICHKEIT (Hg. mit M. Marszałek und M. Weiland, 2018). Ospovat, Kirill, Dr., Assistant Professor für Russische Literatur an der University of Wisconsin-Madison (seit 2018). 2005 Promotion an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau, 20062007 Forschungsstipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 2011-2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin und 2016-2018 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: russische Literatur des 18-19 Jh., russische und deutsche Kultur, Literatur und Politik. Neuere Buchpublikation: TERROR AND PITY: ALEKSANDR SUMAROKOV AND THE THEATER OF POWER IN ELIZABETHAN RUSSIA (2016). Twellmann, Marcus, PD Dr., wissenschaftlicher Koordinator im Exzellenzcluster 16 »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz. Studium in Bielefeld, Paris und New York, 2004 Promotion an der

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Universität Frankfurt/Oder, 2010 Habilitation an der Universität Bonn. Forschungsschwerpunkt: Literatur in transnationalen Prozessen. Neuere Buchpublikationen: BERECHNEN/BESCHREIBEN. PRAKTIKEN STATISTISCHEN (NICHT-)WISSENS, 1750-1850 (Hg. mit G. Berg und B. Zs. Török, 2014); WISSEN, WIE RECHT IST. BRUNO LATOURS EMPIRISCHE PHILOSOPHIE EINER EXISTENZWEISE (Hg., 2016); MODERNISIERUNG UND RESERVE. ZUR AKTUALITÄT DES 19. JAHRHUNDERTS (Hg. mit M. Neumann, A.-M. Post und F. Schneider, 2017). Weiler, Thomas, Literaturübersetzer. Übersetzerstudium in Leipzig, Berlin und St. Petersburg. Arbeitsschwerpunkte: russische, polnische und belarussische Literatur des 21. Jahrhunderts, Kinderliteratur, Lyrik. Neuere Buchpublikationen: SCHALOM: EIN SCHELMENROMAN (2015) von Artur Klinaŭ, MOVA (2016) von Viktor Martinowitsch, HINTER DER BLAUEN TÜR (2016) von Marcin Szczygielski, MORDOR KOMMT UND FRISST UNS AUF von Ziemowit Szczerek (2017). Weller, Nina, Dr., Postdoktorandin an der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien der Ludwig-Maximilians-Universität München (seit 2018). Studium der Germanistik und Russistik in Berlin und Moskau, 20122014 wissenschaftliche Koordinatorin und Beauftragte für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Osteuropainstitut der Freien Universität Berlin, 2014 Promotion am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: russische, ukrainische und belarussische Literatur und Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts, Erinnerungskulturen und (post-)memoriale Ästhetiken in Osteuropa, Stadt- und Dorfliteratur, alternativgeschichtliches Erzählen. Neuere Buchpublikation: ZWISCHENZEIT. KONTINGENZ-ERFAHRUNG UND TRANSITORISCHE LEBENSENTWÜRFE IN DEN ROMANEN V VOZDUCHE VON SERGEJ BOLMAT UND MATISS VON ALEKSANDR ILIČEVSKIJ (2017).

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Elisabeth Bronfen

Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4

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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)

Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5

Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3

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