Zugänge zum Text: Herausgegeben:Bassola, Péter; Drewnowska-Vargáné, Ewa; Kispál, Tamás; Németh, János 9783631646786, 9783653041989, 363164678X

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Zugänge zum Text: Herausgegeben:Bassola, Péter; Drewnowska-Vargáné, Ewa; Kispál, Tamás; Németh, János
 9783631646786, 9783653041989, 363164678X

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Inhaltsverzeichnis
Zur Einführung: Zugänge zum Text
I. Sprachwissenschaftliche Zugänge
Nominale Satelliten an der Leine. Nominalphrasen-, Satz- und Textbereich
Abstract
1 Einführung
2 Phrasenebene
3 Satzbereich
4 Textbereich
Textbeleg 1
Textbeleg 2
Textbeleg 3
Textbeleg 4
Textbeleg 5
Textbeleg 6
Textbeleg 7
5 Ergebnis und Ausblick
6 Literatur
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
7 Abkürzungen
Die Linguistik des Textes in der Poetik von Aristoteles
Abstract
1 Abriss der Problematik
1.1 Die Ebene des Lautes
1.2 Die Ebene der Silbe
1.3 Die Ebene des Lexems bzw. die des Bezeichneten
2 Literatur
Realien und Intertextualität
Abstract
1 Einleitung
2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Zum Begriff der Realien
2.2 Zum Begriff der Kultur
2.3 Kultur und Intertextualität
2.4 Zu den Intertextualitätskonzepten
2.5 Realien und Intertextualität
3 Lieder als intertextuelle Elemente
4 Terézia Mora und die Lieder
4.1 „Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und die Dörfer …“
4.2 „Ich sitze in meinem Zimmer, traurig und allein …“
4.3 „Komm, ich will dich mit Lust umfassen …“ − „Ich bete an die Macht der Liebe …“
4.4 „Jahre vergehn unter sonnigen Bäumen …“
4.5 „Das Radio ist an.“
4.6 „Im Gefängnis scheint keine Sonne …“
4.7 „Ausgerechnet Bananen …“
4.8 „O wunderbare, geheimnisvolle Nacht …“
4.9 „’s ist ein Ros’ entsprungen …“
5 Abschluss
6 Ausblick
7 Literatur
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur
Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Pressediskurs
Abstract
1 Einleitung
1.1 ,Argumentativer Topos‘ und ,Argumentation‘
1.2 Die besondere Aussagekraft des ,argumentativen Topos‘ und die Relevanz der ,Topik‘ in sprachwissenschaftlichen Untersuchungen
2 Problematisches in der Methodik einschlägiger sprach- und kulturvergleichender Untersuchungen
3 Kienpointners Typologie als Ausgangspunkt für empirische sprach- und kulturvergleichende Untersuchungen
4 Strukturmomente des ,Topos‘, illustriert an Belegen und Ergebnissen einer sprach- und kulturvergleichenden Untersuchung
4.1 Einführung in die Belange der besagten Untersuchung
4.2 Begriffsbestimmung und Exemplifizierung der Strukturmomente des Topos
4.2.1 ,Habitualität‘
4.2.2 ,Potentialität‘
4.2.3 ,Intentionalität‘
4.2.4 ,Symbolizität‘
5 Ein Vorschlag für den methodischen Weg bei unterschiedlichen Konstellationen des internationalen Diskursvergleichs
6 Fazit
7 Literatur
Anhang
Beleg 1
Beleg 2
Beleg 3
Beleg 4
Beleg 5
Fraktale Texte. Selbstähnliche Texte als Bausteine
Abstract
1 Fraktalität als Gestaltungsprinzip
2 Textuelle Prinzipien und Fraktalität
3 Analysen fraktaler Texte
3.1 Dichterische Texte
3.1.1 Fraktale Bauweisen in der Lyrik
3.1.2 Fraktale Bauweisen in der Epik
3.1.2.1 Johann Wolfgang Goethe: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“
3.1.2.2 Walter Kempowski: Das Gesamtwerk
3.2 Fraktalität in gebrauchssprachlichen Textsorten
3.2.1 Wissenschaftliche Texte und ihre Abstracts als Beispiele für absteigende Graduierung
3.2.2 Theologische Abhandlungen als Beispiele thematisch zentrierter wissenschaftlicher Texte
3.2.3 Zeitungstexte als Beispiel für aufsteigende Graduierung
4 Fazit: Fraktalität als Bauprinzip
5 Literatur
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
Textkompetenzen beim Lehren und Lernen von modernen Fremdsprachen
Abstract
1 Textkompetenz. Definition und Abgrenzung
2 Textkompetenz und ihre Bedeutung für die Optimierung von Lehr- und Lernprozessen im DaZ-Bereich
3 Textkompetenz und ihre Bedeutung für die Optimierung von Lehr- und Lernprozessen im DaF-Bereich
4 Textkompetenz der Lehrenden im DaZ/DaF-Bereich
5 Fazit
6 Literatur
Copy-and-Paste – Oder einige Überlegungen zur Multimodalität softwaregestützter Schülerpräsentation in der gymnasialen Oberstufe
Abstract
1 Der digitale Schreibkontext als Herausforderung für die Didaktik der Textproduktion im Sekundarbereich
2 Die softwaregestützte Schülerpräsentation in der gymnasialen Oberstufe
3 Die softwaregestützte Schülerpräsentation als multimodale textuelle Handlungseinheit
4 Das illustrative Bild
5 Das illustrative Bild im Präsentationsvortrag
5.1 Einige Angaben zum Analysekorpus
5.2 Analyse eines Präsentationssegments
6 Einige Schlussbemerkungen
7 Literatur
Der gesprochene Text. Das öffentliche Rundfunkgespräch als interaktive Konstitution der Wirklichkeit
Abstract
1 Einleitung, Textdefinitionen
2 Textbeschreibung, Methode
3 Transkription
4 Analyse
5 Auswertung
6 Schlussbemerkungen
7 Literatur
Satzintegration in neuhochdeutschen Texten. Zum Schnittstellencharakter der Integration vorangestellter Adverbialsätze
Abstract
1 Einleitung
2 Grade der syntaktischen Integration vorangestellter Adverbialsätze
2.1 Zur Terminologie der Stellungstypen
2.2 Satzintegration im Rahmen des Stellungsfeldermodells
3 Zur historischen Entwicklung der Stellungstypen
3.1 König / van der Auwera (1988)
3.2 Axel (2002)
3.3 Lötscher (2005 bzw. 2010)
4 Integration vorangestellter Adverbialsätze im Nhd.
5 Zusammenfassung
6 Literatur
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
Kaffee oder Tee? Textkorpusbasierte Kollokationsforschung und ihre Realisierung in der Lernerlexikographie
Abstract
1 Kollokationen
2 Korpusbasierte Kollokationsforschung in der Lexikographie
3 Kollokationen in Wörterbüchern
3.1 Kollokationen im LGwDaF
3.2 Kollokationen im PGwDaF und im WGwDaF
4. Fallstudien über Kollokationen in deutschen Lernerwörterbüchern
4.1 Methodologie zu den Fallstudien
4.2 Kollokationen zu Kaffee
4.2.1 Adjektivische Kollokatoren zur Basis Kaffee
4.2.2 Substantivische Kollokatoren zur Basis Kaffee
4.2.3 Verbale Kollokatoren zur Basis Kaffee
4.3 Kollokationen zu Tee
4.3.1 Adjektivische Kollokatoren zur Basis Tee
4.3.2 Substantivische Kollokatoren zur Basis Tee
4.3.3 Verbale Kollokatoren zur Basis Tee
5 Fazit
6 Literatur
6.1 Wörterbücher
6.2 Sekundärliteratur
Framesemantik als Basis textsemiotischer Analyse
Abstract
1 Die multimodale Verfasstheit der Kommunikation
2 Textbegriff
3 Framesemantische Prämissen
3.1 Frames sind kognitiv verankert
3.2 Frames sind intern strukturiert
3.2.1 Leerstellen (slots)
3.2.2 Prädikationen (filler)
3.3 Frames können durch Zeichenformen unterschiedlicher Art und Modalität aktiviert und modifiziert werden
3.4 Frames entstehen im kollektiven Zeichengebrauch
4 Fragen und Methoden der Analyse semiotisch komplexer Texte
4.1 Das semiotische Zusammenspiel verschiedener Zeichenmodalitäten im multimodalen Text
4.2 Bedeutungsanalyse
4.2.1 Argumentationsanalyse
5 Fazit und Ausblick
6 Literatur
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
Makrolinguistik. Möglichkeiten und Grenzen der Theoriebildung bei der Text- bzw. Diskurslinguistik
Abstract
1 Universelle Korrelationen der Entitäten verschiedener Sprachebenen
2 Die Satzebene
3 Autonome und nichtautonome Texttheorien und deren „Denkmodi“
3.1 Der „Denkmodus“ nicht-autonomer Texttheorien ersten Typs: vom Satz zum Text
3.2 Der „Denkmodus“ autonomer Texttheorien ersten Typs: vom Text zum Satz bzw. zur Aussage/Äußerung und weiter zur grammatischen Form bzw. zum Wort und Morphem
3.3 Der „Denkmodus“ autonomer Texttheorien zweiten Typs: Exklusivitätsanspruch der Textebene
3.4 Der „Denkmodus“ nicht-autonomer Texttheorien zweiten Typs: vom Diskurs zum Text
4 Die Text- und Diskurslinguistik auf dem Hintergrund der Kriterien der Theoriefähigkeit des Forschungsobjekts Sprache
5 Fazit zur „Theoriefähigkeit“ der Sprachwissenschaft aus der Sicht der Textlinguistik
6 Beispiele praktischer Anwendung des makrolinguistischen Ansatzes
6.1 Das Phänomen der Afinitheit aus textlinguistischer Perspektive
6.2 „Artfremde“ Kohärenzen bzw. Kohäsionsmittel bei Textsorten
6.3 „Artfremde“ Textgestaltung bei Textsorten
7 Fazit zur praktischen Anwendung textlinguistischer Ansätze und zu deren Grenzen
8 Literatur
Ermittlung von Textillokutionen beim Zeitungskommentar durch Mutter- und Fremdsprachler(innen)
Abstract
1 Ausgangspunkt und Fragestellungen
2 Das empirische Datenmaterial
2.1 Durchführung der Untersuchungen
2.2 Die Texte
2.3 Aufgabenstellung für die Testpersonen
3 Die Testpersonen
3.1 Anzahl der DaM- vs. DaF-Sprecher(innen) an den einzelnen Orten
3.2 Muttersprachen der DaF-Sprechenden 2008
3.3 Grad der Sprachbeherrschung der DaF-Sprechenden 2008
3.4 Geschlecht und Altersstruktur
3.5 Kennzeichnung zur anonymisierten Auswertung
4 Wiedergabeperspektiven
5 Wiedergegebene Propositionskomplexe
6 Einordnung der Befunde
7 Literatur
Persuasion und politische Kommunikation. Zwischen Anpassung und „seriöser Radikalität“ in NPD-Redetexten
Abstract
1 Persuasion und Akzeptanzwerbung
2 Rechtsextreme Tendenzen
3 Polarisierende Agitation vs. kontrollierte Argumentation?
3.1 Persuasion, Selbstdarstellung und Provokation
3.2 Forcierte Konfrontation
4 Heterogenes Erscheinungsbild
5 Literatur
6 Anhang
(1) Rede von Tino Müller (NPD), Schwerin 16.12.2011
(2) Rede von Holger Apfel (NPD), Dresden 24.3.2011
Aggregative Negation bei negativ-implikativen Satzregentien in neuhochdeutschen Texten
Abstract
1 Einleitung
2 Diachrone Entwicklung und Erklärungsversuche
3 Nebensatzintegration
3 Korpusanalyse
4 Schluss
5 Literatur
5.1 Primärliteratur
5.2 Sekundärliteratur
Vom Text zum einzelnen Wort. Ein ‚umgekehrter‘ Blick auf die Diskursanalyse am Beispiel der deutschen Berichterstattung zu Schulamokläufen
Abstract
1 Vorschlag zu einer methodischen Schwerpunktverlagerung
2 Das Phänomen: Theoretische Begründung und Geschichte
2.1 Öffentliche Kommunikation als Problemlösungsstrategie
2.2 Ein kurzer Abriss der Geschichte der Schulamokläufe in Deutschland
3 Zwei Analysebeispiele
3.1 Vorstrukturierung des Korpus durch Erstellung einer Übersicht von Titeln bzw. Überschriften
3.2 Entstehung und Funktion der Textsorte Chronik im Schulamoklaufdiskurs
4 Zusammenfassung und Fazit
5 Literatur
Substantivvalenz auf Textebene. Vorüberlegungen zu einer empirischen Untersuchung
Abstract
1 Einleitung
2 Interpretationen der Substantivvalenz
3 Auf dem Weg zu einem eigenen multidimensionalen Konzept zur Beschreibung der Substantivvalenz
3.1 Erste Grundgedanken
3.1.1 Zwischenbilanz I
3.2 Probleme des Argumentbegriffs und weitere Grundgedanken
3.2.1 Zwischenbilanz II
3.3 Weiteres zu den formalen Aspekten
3.3.1 Zwischenbilanz III
4 Korpusbelege zur Demonstration der Argumentrealisierung auf verschiedenen Ebenen
4.1 Belege für die Argumentrealisierungen auf den einzelnen Realisierungsebenen
4.1.1 Komplementrealisierung innerhalb eines Kompositums
4.1.2 Komplementrealisierung innerhalb der Nominalphrase
4.1.3 Komplementrealisierung außerhalb der Nominalphrase, aber innerhalb des betreffenden Satzes
4.1.4 Komplementrealisierung außerhalb des betreffenden Satzes
4.2 Statistische Auswertung der Argumentrealisierung auf den verschiedenen Realisierungsebenen
5 Zusammenfassung und Ausblick
6 Literatur
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
7 Abkürzungen
Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation. Sprachkontrastive und -typologische Perspektivierung eines nominalen Klassifikationssystems
Abstract
1 Einführung und Zielsetzung
2 Relationen zwischen Numerusklassen im Deutschen: Transposition
3 Sprachvergleiche
4 Semantische und formale Transparenz der Numerusklassen
4.1 Transparenz der Numerusklassen im Deutschen
4.2 Typologie der Numerusklasse-Genus-Korrelationen
5 Bedeutungsvarianz: kontextuelle oder lexikalische Bedeutungsspezifikation?
5.1 Der grammatische Ansatz
5.2 Der ontologische Ansatz
5.3 Der konzeptuell-semantische Ansatz
5.4 Der kontextuelle Ansatz
5.5 Zusammenfassung und Auswertung
6 Transparenz der Transposition im Deutschen
7 Ausblick: Sprachkontrastive und sprachtypologische Perspektiven
8 Literatur
Die Sortenhaftigkeit von Texten im Spiegel der stilistischmotivierten Abweichungen vom Textmuster
Abstract
1 Einleitung
2 Der Text-Textmuster-Bezug als Kategorie der linguistischen Intertextualität
3 ABWEICHEN als stilistische Kategorie
4 Analyse der Texte mit stilistisch motivierter typologischer IT
4.1 Zur Terminologie
4.2 Das Analysemodell
4.3 Ergebnisse der Analyse
5 Fazit
6 Literatur
7 Anhang
Text und Grammatik – Allianz oder Mesalliance?
Abstract
1 Einführung
2 Was erwarten wir unter der strikten Deutung für Textgrammatik?
2.1 Das spezifisch Grammatische sind Regeln bzw. Beschränkungen (constraints)
2.2 Das spezifisch Grammatische ist die Gegliedertheit
2.3 Das spezifisch Grammatische ist die Formbezogenheit
2.3.1 Beispiel Anaphorik
2.4 Der Zusammenhang der drei Konzepte
3 Gibt es eine Ellipsengrammatik im strikten Sinne?
3.1 Sequenzellipsen und kontextablösbare KM ohne Finitum als Textphänomene
3.2 Der Beispieltext
3.3 Die strukturellen Typen von Sequenzellipsen und ihre textgrammatische Analyse
3.4 Kontextablösbare KM ohne Finitum im Beispieltext und Mischformen
4 Fazit
5 Schlussbemerkung
6 Literatur
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
II. Literatur- und rechtwissenschaftliche Zugänge
Einleitung zum Podiumsgespräch über „Zugänge zum Text“
Literarische Kohärenz
1 Einführende Bemerkungen
2 Literarische vs. nichtliterarische Erklärung
3 Kohärenztheorie der Wahrheit und die literarische Erklärung
4 „Mögliche Welten“ – aus logischer Sicht
5 „Wiederholung“ − eine spezifische Form literarischer Kohärenz
6 Literatur
An der Schnittstelle von Texten. Intertextualität und Textanalyse
1 Die Karriere eines Begriffs
2 Intertextualitätskonzeptionen
2.1 Text als Intertext
2.2 Intertextualität als textanalytischer Begriff
3 Intertextualität: semiotische Konzeption
4 Intertextualität in kulturellen und medialen Kontexten
5 Literatur
„gesetzt, verordnet, vereinbart, gefordert, erörtert, erläutert und entschieden“. Zugänge zu Rechtstexten (mit strafrechtlichen Schwerpunkten)
1 Einführung
2 Textsorten (Gattungen) – stark von dem jeweiligen Rechtsbereich beeinflusst
3 Einführung in die juristische Textauslegung – juristische Methodenlehre als Origo für juristisches Denken
4 Intertextualität von Texten im materiellen Strafrecht
4.1 Grundlagen zur Diskussion
4.2 Beispiele für die Intertextualität materiellen Strafrechts
4.2.1 Intertextualität innerhalb des ungStGB
4.2.2 Intertextualität durch Einbeziehung von Normen anderer Rechtsbereiche – Blanketttatbestände
4.2.3 Horizontale Intertextualität: Gesetz – Rechtsprechung (Dogmatik)
4.2.4 Horizontale Intertextualität: Gesetz – Verfassung
5 Literaturverzeichnis
Autorenverzeichnis

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Péter Bassola, DSc an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest, Professor am Institut für Germanistik der Universität Szeged (Ungarn). Ewa Drewnowska-Vargáné, Habilitation an der Universität Szeged (Ungarn), ebenfalls dort Dozentin am Institut für Germanistik. Tamás Kispál, Promotion an der Universität Szeged (Ungarn), ebenfalls dort tätig am Institut für Germanistik. János Németh, Promotion an der Universität Szeged (Ungarn), am Institut für Germanistik der Universität Veszprém und als Freiberufler tätig. György Scheibl, Promotion an der Universität Szeged (Ungarn), ebenfalls dort Dozent am Institut für Germanistik.

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SSGL 03_264678_Bassola_TH_A5HCk PLE.indd 1

ISBN 978-3-631-64678-6

Szegediner Schriften zur germanistischen Linguistik

Textbezogene Forschungsfragen werden im Spannungsfeld von unterschiedlichen sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen, wie z.B. Grammatik, Pragmalinguistik, kognitive Linguistik, Lexikologie, Sprachgeschichte, Kontrastive Linguistik, Kontrastive Textologie, Text- und Diskurslinguistik, Textdidaktik, Bildlinguistik und Übersetzungstheorien in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes behandelt und diskutiert. Eine solche Ausrichtung bedeutet bereits innerhalb der Sprachwissenschaft eine gegenseitige interdisziplinäre Bereicherung, welche durch das Heranziehen der germanistischen Literaturwissenschaft und der Rechtswissenschaft an die Diskussion um diverse Text-Fragen für die moderne Textforschung nur von Gewinn sein kann. Demzufolge sind hier über das engere sprachwissenschaftliche Fachgebiet hinaus literatur- und rechtswissenschaftliche Beiträge ebenfalls vertreten.

P. Bassola / E. Drewnowska-Vargáné / T. Kispál / J. Németh / Gy. Scheibl (Hrsg.) · Zugänge zum Text

3

Péter Bassola Ewa Drewnowska-Vargáné Tamás Kispál János Németh György Scheibl (Hrsg.)

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Band 3

14.02.14 13:34

Péter Bassola, DSc an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest, Professor am Institut für Germanistik der Universität Szeged (Ungarn). Ewa Drewnowska-Vargáné, Habilitation an der Universität Szeged (Ungarn), ebenfalls dort Dozentin am Institut für Germanistik. Tamás Kispál, Promotion an der Universität Szeged (Ungarn), ebenfalls dort tätig am Institut für Germanistik. János Németh, Promotion an der Universität Szeged (Ungarn), am Institut für Germanistik der Universität Veszprém und als Freiberufler tätig. György Scheibl, Promotion an der Universität Szeged (Ungarn), ebenfalls dort Dozent am Institut für Germanistik.

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Szegediner Schriften zur germanistischen Linguistik

Textbezogene Forschungsfragen werden im Spannungsfeld von unterschiedlichen sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen, wie z.B. Grammatik, Pragmalinguistik, kognitive Linguistik, Lexikologie, Sprachgeschichte, Kontrastive Linguistik, Kontrastive Textologie, Text- und Diskurslinguistik, Textdidaktik, Bildlinguistik und Übersetzungstheorien in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes behandelt und diskutiert. Eine solche Ausrichtung bedeutet bereits innerhalb der Sprachwissenschaft eine gegenseitige interdisziplinäre Bereicherung, welche durch das Heranziehen der germanistischen Literaturwissenschaft und der Rechtswissenschaft an die Diskussion um diverse Text-Fragen für die moderne Textforschung nur von Gewinn sein kann. Demzufolge sind hier über das engere sprachwissenschaftliche Fachgebiet hinaus literatur- und rechtswissenschaftliche Beiträge ebenfalls vertreten.

P. Bassola / E. Drewnowska-Vargáné / T. Kispál / J. Németh / Gy. Scheibl (Hrsg.) · Zugänge zum Text

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Péter Bassola Ewa Drewnowska-Vargáné Tamás Kispál János Németh György Scheibl (Hrsg.)

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Band 3

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SZEGEDINER SCHRIFTEN ZUR GERMANISTISCHEN LINGUISTIK Herausgegeben von Ewa Drewnowska-Vargáné und Péter Bassola

BAND 3

Péter Bassola / Ewa Drewnowska-Vargáné / Tamás Kispál / János Németh / György Scheibl (Hrsg.)

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISSN 2192-6859 ISBN 978-3-631-64678-6 (Print) E-ISBN 978-3-653-04198-9 (E-Book) DOI 10.3726/978-3-653-04198-9 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2014 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH. Peter Lang – Frankfurt am Main · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Dieses Buch erscheint in der Peter Lang Edition und wurde vor Erscheinen peer reviewed. www.peterlang.com

Inhaltsverzeichnis Bandherausgeber Zur Einführung: Zugänge zum Text .................................................................... 9

I. Sprachwissenschaftliche Zugänge ......................................................... 15 Péter Bassola Nominale Satelliten an der Leine. Nominalphrasen-, Satz- und Textbereich ... 17 Árpád Bernáth Die Linguistik des Textes in der Poetik von Aristoteles ................................... 35 Erzsébet Drahota-Szabó Realien und Intertextualität ............................................................................... 45 Ewa Drewnowska-Vargáné Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Pressediskurs ........................ 71 Hans-Werner Eroms Fraktale Texte. Selbstähnliche Texte als Bausteine ........................................ 101 Ilona Feld-Knapp Textkompetenzen beim Lehren und Lernen von modernen Fremdsprachen .. 127 Olaf Gätje Copy-and-Paste – Oder einige Überlegungen zur Multimodalität softwaregestützter Schülerpräsentation in der gymnasialen Oberstufe ........... 151 Zsuzsanna Iványi Der gesprochene Text. Das öffentliche Rundfunkgespräch als interaktive Konstitution der Wirklichkeit ......................................................................... 173 Péter Kappel Satzintegration in neuhochdeutschen Texten. Zum Schnittstellencharakter der Integration vorangestellter Adverbialsätze .. 193

6

Inhaltsverzeichnis

Tamás Kispál Kaffee oder Tee? Textkorpusbasierte Kollokationsforschung und ihre Realisierung in der Lernerlexikographie ......................................................... 217 Nina-Maria Klug Framesemantik als Basis textsemiotischer Analyse ........................................ 247 Michail L. Kotin Makrolinguistik. Möglichkeiten und Grenzen der Theoriebildung bei der Text- bzw. Diskurslinguistik ............................................................... 273 Hartmut E. H. Lenk Ermittlung von Textillokutionen beim Zeitungskommentar durch Mutter- und Fremdsprachler(innen) ...................................................... 295 Heinz-Helmut Lüger Persuasion und politische Kommunikation. Zwischen Anpassung und „seriöser Radikalität“ in NPD-Redetexten ............ 321 Orsolya Rauzs Aggregative Negation bei negativ-implikativen Satzregentien in neuhochdeutschen Texten ............................................................................... 343 Paul Reszke Vom Text zum einzelnen Wort. Ein ‚umgekehrter‘ Blick auf die Diskursanalyse am Beispiel der deutschen Berichterstattung zu Schulamokläufen ..................................... 359 Ágnes Sántáné-Túri Substantivvalenz auf Textebene. Vorüberlegungen zu einer empirischen Untersuchung ................................... 381 György Scheibl Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation. Sprachkontrastive und -typologische Perspektivierung eines nominalen Klassifikationssystems ......................................................... 413 Roberta V. Rada Die Sortenhaftigkeit von Texten im Spiegel der stilistisch motivierten Abweichungen vom Textmuster ..................................................................... 439

Inhaltsverzeichnis

7

Gisela Zifonun Text und Grammatik – Allianz oder Mesalliance? .......................................... 469

II. Literatur- und rechtwissenschaftliche Zugänge ................................. 497 Gerhard Stickel Einleitung zum Podiumsgespräch über „Zugänge zum Text“ ......................... 499 Károly Csúri Literarische Kohärenz ..................................................................................... 503 Magdolna Orosz An der Schnittstelle von Texten. Intertextualität und Textanalyse ................. 513 Krisztina Karsai / Zsolt Szomora „gesetzt, verordnet, vereinbart, gefordert, erörtert, erläutert und entschieden“ Zugänge zu Rechtstexten (mit strafrechtlichen Schwerpunkten) .................... 525

Autorenverzeichnis ...................................................................................... 539

Zur Einführung: Zugänge zum Text Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht der Text als originäre Form der Kommunikation und als zentraler Begriff verschiedener Teildisziplinen v.a. auf dem Gebiet der Sprachgermanistik. Über dieses engere Fachgebiet hinaus sind germanistische Literaturwissenschaft und Rechtwissenschaft ebenfalls vertreten. Die einzelnen Beiträge sind auf Grund der Vorträge und der Podiumsdiskussion eines interdisziplinären, linguistischen Kollegs, das den Titel „Schnittstelle Text“ trug, entstanden. Das Kolleg fand im Dezember 2012 in Szeged statt. Es wurde vom Institut für Germanistik an der Universität Szeged mit der Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung veranstaltet. Bei der thematischen Konzeption des Bandes, welche mit der des Kollegs in vieler Hinsicht übereinstimmt, kamen wir davon aus, dass der Text als zentrale Kommunikationsform ein genuines interdisziplinäres Phänomen bildet. Ferner ist der Text bekanntlich einem ständigen Wandel unterworfen, was immer neue Herausforderungen an die Vertreter unterschiedlichster Ansätze mit sich bringt. Um den Textwandel wissenschaftlich fundiert zu erfassen, muss die Textforschung ihren Stand ständig revidieren und sich für neue Lösungen öffnen. In diesem Sinne unternehmen wir einen Öffnungsversuch, indem textbezogene Forschungsfragen im Spannungsfeld von unterschiedlichen sprachwissenschaftlichen Teildisziplinen, wie z.B. Grammatik, Pragmalinguistik, kognitive Linguistik, Lexikologie, Sprachgeschichte, Kontrastive Linguistik, Kontrastive Textologie, Textund Diskurslinguistik, Textdidaktik, Bildlinguistik und Übersetzungstheorien in den einzelnen Beiträgen des Bandes behandelt und diskutiert werden. Eine solche Ausrichtung bedeutet bereits innerhalb der Sprachwissenschaft eine gegenseitige interdisziplinäre Bereicherung, welche durch das Heranziehen der germanistischen Literaturwissenschaft und der Rechtswissenschaft an die Diskussion um diverse Text-Fragen für die moderne Textforschung nur noch von Gewinn sein kann. Somit setzen wir uns zum Ziel, die Einheit Text in einem breiteren interdisziplinären Spektrum in Bezug auf gegenwärtige textbezogene Forschungsfragen, -theorien, -methoden und -ergebnisse zu präsentieren. Die Vorstellung dieses Spektrums erfolgt in zwei Teilen, aus denen unsere „Zugänge zum Text“ bestehen: 1) Der erste Teil („Sprachwissenschaftliche Zugänge“) umfasst zwanzig Beiträge, die aus den Kollegs-Vorträgen erwachsen sind. Um pauschale thematische Zuordnungen zu vermeiden, sind die Beiträge alphabetisch nach Autorennamen geordnet.

10

Einführung

2) Der zweite Teil („Literatur- und rechtwissenschaftliche Zugänge“) beinhaltet vier Beiträge einer Podiumsdiskussion, welche zum Abschluss des Kollegs zwischen zwei Literaturwissenschaftlern, Károly Csúri und Magdolna Orosz sowie zwei Rechtswissenschaftlern, Krisztina Karsai und Zsolt Szomora stattfand. Geleitet wurde die Diskussion von dem Sprachwissenschaftler, Gerhard Stickel, auf dessen thematische Einführung in die interdisziplinäre Pointe unseres Bandes an dieser Stelle verwiesen sei. Vor der Lektüre des ersten Band-Teiles möchten wir die Leser(inn)en zu einer ,Kostprobe‘ in Form des folgenden thematischen Überblicks über die zwanzig Beiträge einladen: Péter Bassola bedient sich in seinem Beitrag einer Leine-Metapher zur Substantivvalenz. Die Leine symbolisiert die Entfernung und zugleich auch die Intensität der Beziehung zwischen dem Nomen und seinen Satelliten im Sinne „fest“, „weniger fest“, „locker und dünn“. Der Autor analysiert zahlreiche Belege auf drei Ebenen, d.h. auf der Ebene der Nominalphrase (NP) sowie auf der Satzund auf der Textebene. Die Ergebnisse der Untersuchung lassen die folgende Hypothese des Verfassers bestätigen: „von der NP durch den Satz bis hin zu dem Textbereich lässt die Festigkeit der Leine nach.“ Árpád Bernáth zeigt, dass Aristoteles in seiner Poetik nicht nur eine allgemeine Darstellung zu einer Grammatik der griechischen Sprache geboten, sondern auch zu Grundlagen einer Texttheorie beigetragen hat. Mit Zurechtlegung von problematischen deutschen Übersetzungsstellen wird dieser Fragekomplex in ein neues Licht gestellt. Erzsébet Drahota-Szabó geht in ihrem Beitrag von ihrer breiten Realienauffassung aus und untersucht Lieder als kohärenzbildende Intertextualitätselemente. Als Korpus dient eine deutschsprachige Erzählung von Terézia Mora bzw. die ungarische Übersetzung dieses Textes. Es wird erschlossen, in welchem kulturellen Makrodiskurs die beiden Texte eingebettet sind, mit welcher Strategie die Übersetzerin Erzsébet Rácz arbeitet. Auf der Basis ausgewählter Ergebnisse eines umfangreichen Parallelvergleichs argumentativer Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs begründet unterbreitet Ewa Drewnowska-Vargáné einen methodischen Analyseweg, der Anwendungsmöglichkeiten in unterschiedlichen weiteren sprach- und kulturkontrastiven Vergleichen von Diskursen anstrebt. Demnach erachtet die Autorin zunächst eine Untersuchung aller Topoi in einer formal-abstrakten Hinsicht und dann einen expliziten Schritt von formal-abstrakten zu kontextspezifischen Topoi für angebracht. Hans-Werner Eroms untersucht einen besonderen Fall der Intertextualität, nämlich diejenigen Querverbindungen bei Texten eines einzelnen Autors, die

Zugänge zum Text

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sich durch Ausdehnung oder Verdichtung von Texten ergeben. Solche Mechanismen lassen sich als fraktale Bauprinzipien erfassen. Musterfälle sind dabei bestimmte Texte der Lyrik. Der Autor geht den Regularitäten dieses Bauprinzips nach und zeigt, dass Fraktalität ein wichtiges Moment im Aufbau der Texte und dadurch auch ein hocheffektives Mittel der Textanalyse ist. Der Beitrag von Ilona Feld-Knapp befasst sich mit der Anwendungsmöglichkeit und -notwendigkeit der Textkompetenz(en) im Fremdsprachenunterricht. Ausghend von der Definition und Abgrenzung wendet sich die Autorin speziell didaktischen Methoden im Unterricht von Deutsch als Zweit- und Deutsch als Fremdsprache zu, wobei sie die Textkompetenz beider Seiten, die der Lernenden sowie der Lehrenden unter die Lupe nimmt. Olaf Gätje untersucht, wie die medientechnischen und medienkulturellen Veränderungen der vergangenen ca. 20 Jahre die Voraussetzungen der Textproduktion und die Struktur der Textprodukte selbst verändern und diskutiert die didaktisch relevante Frage nach dem Verhältnis von Sprache und visuellen Darstellungsformen. Am Beispiel der Verwendung des illustrativen Bildes in der softwaregestützten Schülerpräsentation der gymnasialen Oberstufe zeigt er, dass die Visualisierungstendenzen im Internet nicht nur die Wahrnehmungsmuster von Anwendern verändern, sondern dass diese „Bilderflut“ im Netz auch Auswirkungen auf die Textproduktion von SchülerInnen am vernetzten Computer hat. Zsuzsanna Iványi widmet sich in ihrem Beitrag der Frage, ob gesprochener Text zum Untersuchungsgebiet der Textlinguistik gehört und ob Gespräch auch als Text gelten kann. Sie diskutiert verschiedene Ansichten zum Verhältnis von Text und Rede. Mit den Methoden der Konversationsanalyse zeigt sie am Beispiel eines Rundfunkgesprächs, welche Merkmale eine in öffentlichen Medien gesendete Kommunikation hat, mit welchen Verfahren und Methoden die interaktive Konstitution der Wirklichkeit verläuft, um soziale Ordnung in einem gesprochenen Text herzustellen. Sie kommt zum Schluss, dass Gespräch eine durchaus textuelle Struktur aufweist. Péter Kappels Aufsatz „Satzintegration in neuhochdeutschen Texten. Zum Schnittstellencharakter der Integration vorangestellter Adverbialsätze“ befasst sich mit der Frage, inwieweit die Erfassung der Integration über ein rein grammatisches Erklärungsmodell hinausgehen sollte. Der Autor argumentiert für die Beschreibung des anvisierten Phänomens „in einem variationslinguistischen Rahmen“ und weist den Einfluss der „Nähe-Distanz-Dimension“ auf bestimmte Bereiche der Integration nach. Kollokationen wird in der korpuslinguistisch ausgerichteten Lernerlexikographie immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Tamás Kispál geht in Form von zwei Fallstudien der Frage nach, wie sie in DaF-Wörterbüchern behandelt wer-

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Einführung

den und inwieweit sie den Erwartungen einer korpusbasierten lexikographischen Erfassung entsprechen. Die im Deutschen Referenzkorpus angewandte Kookkurrenzanalyse und die statistisch signifikanten Kollokatoren stehen häufig nicht im Einklang mit den kodifizierten Einträgen in den Lernerwörterbüchern. Die untersuchten drei Lernerwörterbücher zeigen auch untereinander große Unterschiede bei der Kollokationserfassung, im Hinblick auf ihre Markierung sowie die Quantität und Qualität der Einträge. Nina Maria Klug plädiert in ihrem Beitrag für die systematische Entwicklung und Etablierung eines angemessenen und in seiner Terminologie vereinheitlichten theoretischen und methodischen Instrumentariums für die semiotische Beschreibung multimodaler Texte. Der Beitrag fragt am Beispiel der Analyse von SpracheBild-Texten sowohl nach den Arten der Bedeutungsbildung in multimodalen Texten, also den Formen multimodaler syntaktischer Verkettung, als auch nach der Möglichkeit, das verstehensrelevante Wissen zu erfassen, das von Seiten der Rezipienten aktiv in die Bedeutungsbildung eingebracht werden muss, um den semiotisch komplexen Text angemessen zu verstehen. Die Analysen zeigen, dass für die Beschreibung der Arten der Bedeutungsbildung in multimodalen Texten die Framesemantik ein adäquates Modell ist. Das verstehensrelevante Wissen seinerseits kann u.a. durch Argumentations- bzw. Toposanalyse erfasst werden. Michail L. Kotin untersucht die Möglichkeiten und Grenzen der Theoriebildung bei der Text- bzw. Diskurslinguistik und geht der Frage nach, welche Forschungsstrategie in der Makrolinguistik adäquat ist: das Herangehen, bei dem eine Ebenen-Hierarchie „von oben nach unten“, d.h. vom Text zu seinen Bestandteilen aufgebaut werden kann, und die ihr direkt entgegengesetzte Richtung „von unten nach oben“, d.h. vom Laut zum Text. Er zieht den Schluss, dass die Linguistik ihre eigenen Gesetzte und Mechanismen aufweist und dass die Textlinguistik, wenn sie eine Linguistik blieben will, weitgehend von genuin außerlinguistischer Denkweise Abstand halten muss. Die Ausgangsfrage des Beitrags von Hartmut E. H. Lenk ist, wie mutter- und fremdsprachige Studierende die Hauptaussage von Kommentaren aus einer überregionalen bundesdeutschen Tageszeitung zusammenfassen können. Zur Beschreibung der verschiedenen Rezeptionsweisen untersucht Lenk die gegebenen Wiedergabeperspektiven und die Propositionskomplexe in den Antworten der Testpersonen. Die Untersuchung zeigt, dass es zwischen den befragten Mutterund Fremdsprachlern deutliche Unterschiede im Hinblick auf die Perspektive gab, mit der die Hauptaussage wiedergegeben wurde. Heinz-Helmut Lüger untersucht Parlamentsreden von NPD-Abgeordneten. Aus der Betrachtung des Wortschatzes und der Argumentationsanlyse lassen sich vor allem zwei Folgerungen ableiten: In ihren Parlamentsreden sind die NPDRedner bemüht, NS-Anspielungen und andere juristisch angreifbare Äußerungen

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möglichst zu vermeiden. Andererseits wird – mit Blick auf die eigene Wählerschaft – keineswegs auf Provokationen der politischen Gegner und auf den Einsatz diskreditierenden Vokabulars verzichtet. Orsolya Rauzs untersucht negativ-implikative Ausdrücke, die das Nicht-Zutreffen der Proposition der von ihnen abhängigen Nebensätze implizieren. Diese Nebensätze konnten in früheren Sprachstadien trotz der negativen Implikation des Matrixsatzes auch eine aus heutiger Sicht überflüssige Negation enthalten. Die Autorin geht anhand eines neuhochdeutschen Korpus der Frage nach, welche Gründe die Setzung bzw. Nicht-Setzung solcher Negationselemente motivieren. Paul Reszke widmet sich der Frage, wie man die Erfassung und Analyse der Komplexität eines Diskurses mithilfe textlinguistischer Kategorien methodisch schärfen kann. Seine Antworten exemplifiziert der Autor an Pressebelegen aus seinem Arbeitskorpus zum deutschen Schulamoklaufdiskurs. Dabei werden „Einzellexeme“ im Hinblick auf ihre Semantik und ihren Bedeutungswandel sowie auf ihre Rolle in der „Themenentfaltung im Diskurs“ behandelt. Die letztere beruhe nicht nur auf der Frequenz der Lexeme, sondern vor allem auf ihrer Stelle, ihrer Verstärkung und Hervorhebung im jeweiligen, dem Diskurs zugehörigen Text. Ein weiteres Ergebnis der Diskursanalyse von Paul Reszke stellt die „Chronik“ dar. Sie etabliert sich im obigen Diskurs als eine eigenständige Textsorte zur Perspektivierung und Verarbeitung des Phänomens „Schulamoklauf“. Ágnes Sántáné-Túri widmet sich Vorüberlegungen zur empirischen Untersuchung der Substantivvalenz auf unterschiedlichen Realisierungsebenen. Dabei schenkt sie der bisher vernachlässigten Textebene eine besondere Beachtung. Demzufolge unternimmt die Autorin eine Pilotuntersuchung, deren qualitative und quantitative Ergebnisse auf den multidimensionalen Charakter der Substantivvalenz hindeuten. Ferner begründen sie die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen auf der Textebene, da Substantivkomplemente „nicht nur auf den schon oft untersuchten Ebenen der Nominalphrase und des Satzes, sondern auch auf der des Textes mit einem großen Anteil“ eruiert werden können. In seinem sprachkontrastiv und -typologisch ausgerichteten Beitrag stellt György Scheibl einen Ansatz „zur systematischen Beschreibung der Transposition im Deutschen“ vor. Den Mittelpunkt der Untersuchung bilden nominale Prädikate. Dabei gewährt der Autor Einsichten, die auch aus der Text-Perspektive relevant sind: Bspw. behandelt er Abhängigkeiten zwischen grammatischer bzw. semantischer Genusmarkierung und anaphorischem bzw. deiktischem Gebrauch der Nomina. Ferner geht György Scheibl der Frage nach, ob der Bedeutungsvarianz bestimmter nominaler Lexeme kontextuelle oder lexikalische Bedeutungsspezifikation zu Grunde liegt. Der Beitrag von Roberta V. Rada behandelt die Sortenhaftigkeit von Texten vor dem Hintergrund der modernen linguistischen Intertextualitäts- und Stilforschung

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Einführung

am Beispiel von deutschen und ungarischen Gebrauchstexten, in denen gleichzeitig auf mehrere verschiedene Textmuster Bezug genommen wird (vgl. Textmustermischung und -montage). Für die Analyse der Texte wird ein eigenes Analysemodell entwickelt. „,Textgrammatik‘ sollte – wenn überhaupt gebraucht – nur als Verweis auf die Textsensibilität der Satzgrammatik dienen.“ Zu diesem Schluss kommt Gisela Zifonun infolge ihrer kritischen Diskussion des Konzeptes ,Textgrammatik‘. Auf eine strikte Deutung dieses Konzeptes fokussierend legt sie als bekennende Strukturalistin nahe, dass grundlegende spezifische grammatische Eigenschaften, wie „Regeln bzw. Beschränkungen (,constraints’)“, „Gegliedertheit“ und „Formbezogenheit“ in Texten – in einer vergleichbaren Art, wie sie in Sätzen gegeben sind – nicht auftreten. Dies exemplifiziert Gisela Zifonun an Phänomenen aus den Bereichen der Anaphorik und der Ellipse. Zum Abschluss dieser Einführung bedanken wir uns bei allen, die am Entstehen und Erscheinen des Bandes beteiligt waren: bei den Autor(inn)en für ihre Beiträge, bei den muttersprachlichen Lektor(inn)en, Frau Charlotte Klein, Frau Elisabeth Peschke und Herrn Dr. Andreas Nolda für das Korrekturlesen, bei der Alexander von Humboldt-Stiftung für die finanzielle Unterstützung der Druckkosten und nicht zuletzt beim Verlag Peter Lang für die kompetente und freundliche Beratung. Szeged, im Dezember 2013 die Herausgeber des Bandes

I.

Sprachwissenschaftliche Zugänge

Péter Bassola Szeged

Nominale Satelliten an der Leine. Nominalphrasen-, Satz- und Textbereich1

Abstract In der Nominalphrase ist die Anordnung der Satelliten bekanntlich ziemlich fest fixiert. Hier hält das Nomen die Leine kurz. Sobald die Attribute auf die Satzebene gelangen und zu Satzgliedern werden, können sie sich relativ frei bewegen: die Leine wird länger und lockerer. Die Leinen werden noch länger, wenn sich die Satelliten außerhalb des Satzes, in dem das übergeordnete Nomen steht, befinden. Die Leinen sind dann auch dünner, denn sie erfassen möglicherweise nur den semantischen Bereich der Bindung, die formale Realisierung wird nicht mehr vorgeschrieben. Für die topologische Ordnung in den ersten beiden Bereichen sind wahrscheinlich die Verben der jeweiligen Sätze (mit)verantwortlich. Wie wird die Argumentstruktur der Nomina im vorangehenden textuellen Bereich des jeweiligen Satzes vorbereitet und wie wird im nachfolgenden Textbereich auf diese Elemente gegebenenfalls verwiesen? Wie verhalten sich die nominalen Kerne und ihre Satelliten in den unterschiedlichen Situationen? Diese und weitere ähnliche Fragen werden gestellt und Antworten darauf gesucht.

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Einführung

Nominale Satelliten an der Leine2 – in allen drei Bereichen, auf der Phrasenebene, der Satzebene sowie im Textbereich spielt das valente Nomen die leitende Rolle. In den drei Bereichen ist die Leine unterschiedlich lang. Im Phrasenbereich ist sie fest angebunden, so dass die Satelliten keinen Bewegungsraum haben. Im Satzbereich können sie sich relativ frei bewegen, im Textbereich schließlich haben sie die große Freiheit, zuvor oder danach zu erscheinen, genannt zu werden oder im Hintergrund zu bleiben (vgl. Hoffmann 1997: 569ff. und Hölzner 2007: 286ff.: Analepse vs. Katalepse). Über das Maß der Beweglichkeit hinaus können 1

Über Teilergebnisse des vorliegenden Beitrags ist bereits auf der Tagung in Rom 2010 und dem Ehrenkolloquium zum Geburtstag von Peter Canisius in Pécs/Fünfkirchen im Jahre 2011 berichtet worden. 2 Die metaphorische Bezeichnung verdanke ich Vilmos Ágel.

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Péter Bassola

weitere Merkmale herangezogen werden, die die Festigkeit der Leine in den unterschiedlichen Bereichen beeinflussen. Das sind u.a. die Erfragbarkeit, Negierbarkeit und Referierbarkeit (vgl. dazu Bresson 1988 und Storrer 2006 in Bezug auf die Funktions- bzw. Nominalisierungsverbgefüge). Bei den ersten beiden Ebenen haben wir ein entweder-oder-Verhältnis: das Verb des jeweiligen Satzes bestimmt, auf welcher Ebene sich das Kernsubstantiv befindet: auf der Phrasenebene oder auf der Satzebene. Im Textbereich können sich die Kernsubstantive auf beiden Ebenen befinden; entscheidend ist dabei das Verb im jeweiligen Satz. Hier wird untersucht, wo und in welcher Form die Argumente des Kernsubstantivs platziert werden, ob in dem jeweiligen Satz oder davor oder danach, oder ob sie überhaupt genannt werden.

2

Phrasenebene

Im Phrasenbereich ist die Situation ziemlich eindeutig. Dazu liefern die beiden Bände unseres Substantivvalenzwörterbuches genügend Belege (vgl. Bassola 2003 und 2012). (1) (2)

Wie ist Ihr erster Eindruck von der Schweizer Nationalliga? (St. Galler Tagblatt, 23.08.1997, Samstag, 23. August 1997, aus Bassola 2012: 87) Kritik an Wertpapieranalysten wegen Fehlprognosen nimmt zu. (Berliner Zeitung, 30.12.2000, S. 39, aus Bassola 2012: 198)

Die obigen Kernsubstantive Eindruck und Kritik sind zwei- bzw. dreiwertig. Ihre Satelliten haben ihre festen Plätze. Einzig die genitivischen Satelliten können im pränominalen Bereich (wie Possessivdeterminativ und sächsischer Genitiv) sowie im postnominalen Bereich (alle anderen genitivischen Substantive) stehen. Alle anderen Satelliten befinden sich hinter dem nominalen Valenzträger. (ad 1)

Ihr erster Eindruck von der Schweizer Nationalliga

(ad 2)

Kritik an Wertpapieranalysten wegen Fehlprognosen

Ein wesentlicher Unterschied zu den verbalen Satelliten, d.h. zu den Satzgliedern, ist es, dass die satzförmigen nominalen Satelliten wie Nebensatz (NS) und Infinitivsatz (IS) ebenfalls meistens im postnominalen Bereich platziert sein dürfen:3 3

Gelegentlich kann auch ein IS dem Kernsubstantiv vorangehen. Diese Fälle müssen in einer anderen Arbeit untersucht werden.

Nominale Satelliten an der Leine (3)

(4)

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„Das schuf den Eindruck, als ob wir mit den Tätern freundlicher umgehen als mit den Opfern“, sagte Tutu. Die Frage der Entschädigung und Rehabilitation von Opfern sei bislang im Hintergrund geblieben. (Frankfurter Rundschau, 24.10.1997, S. 2, aus Bassola 2012: 88) Die Kritik, seine Position im ureigenen Interesse im Tagesgeschäft missbraucht und mit der späten Bekanntgabe seiner Kandidatur ein gewieftes Täuschungsmanöver inszeniert zu haben, ist kaum zu entkräften. (Frankfurter Rundschau, 02.05.1998, S. 17, aus Bassola 2012: 199)

Die Erfragbarkeit innerhalb der Nominalphrase (NP) ist wesentlich eingeschränkt; einzig der nominale Kern kann mit welcher3 oder was für ein3 erfragt werden: (ad 3) Welchen Eindruck? (ad 4) Welche Kritik? (5) „Das Alter“, heißt es zum Schluss, „ist gleichsam der letzte Akt eines Theaterstücks, bei dem wir das Gefühl von Überdruss vermeiden müssen, zumal wenn ein Gefühl der Sättigung mit ihm verbunden ist.“(die tageszeitung, 15.10.1998, S. 18, aus Bassola 2012: 134) (ad 5) Was für ein Gefühl?

Von den nominalen Satelliten kann nur der im Genitiv (in welcher Form, ob sächsischer Genitiv, Possessivdeterminativ oder nachgestellter Genitiv, und Semantik, ob Genitivus subjektivus oder objektivus, auch immer) erfragt werden: (ad 1) Wessen Eindruck? (= Genitivus subjektivus)

Die Negierung der NP und ihrer Elemente ist sehr eingeschränkt möglich: die Satelliten des Kernsubstantivs, d.h. die Attribute können nicht negiert werden: (6)

*ein kurzes Gespräch über keine Haustiere (eigener Beleg)

Das Kernsubstantiv kann außerhalb eines Satzes, aber noch im Phrasenbereich negiert werden: (ad 6) Kein Gespräch über Haustiere! Ein bereits bewährtes Programm wurde kopiert: Keine Interviews, keine Gespräche über den Wettkampf. Ein fast gemütlicher Tag – mit dem Ticken der (Kalorien-) Bomben im Hintergrund. (Neue Kronen-Zeitung, 25.02.1994, S. 54)

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Péter Bassola

Innerhalb eines Satzes wird auch das Kernsubstantiv selten negiert: (7)

Wenn schon kein Gespräch über seelische Nöte möglich war, wollte der Vater seinen Sohn wenigstens unter Leute bringen. (Mannheimer Morgen, 10.02.2011, S. 3)

Was die Referierbarkeit im Bereich der Nominalphrasen anbelangt, so können wir sagen, dass hier meistens nur auf das Kernsubstantiv referiert werden kann: (8)

Vor einem Jahr war ein Antrag auf Bezuschussung, den die Hannoveraner gemeinsam mit den Verkehrsunternehmen aus München und Bremen gestellt hatten, im Ministerium nicht zum Zuge gekommen. (Hannoversche Allgemeine, 28.01.2010; Üstra hofft auf Hybridbusse)

Das Referieren auf die Satelliten wäre wohl ziemlich schwerfällig; sie findet sich auch im größeren Korpus nicht: (9)

?Sein Antrag auf Sozialhilfe, die für ihn und seine Familie so notwendig wäre, wurde abgelehnt. (eigener Beleg)

3

Satzbereich

Die nominale Phrasenstruktur haben wir im Wörterbuch zur Substantivvalenz (Bassola 2003 und 2012) mit Hilfe des Verbs, von dem das Nomen abgeleitet ist, und des Funktionsverbgefüges (FVG, vgl. Polenz 1963) oder Stützverbgefüges (StVG – zu verbe support vgl. PROCOPE-Projekt, s. Bresson / Kubczak 1998) eruiert. LEVEZ (Ableit)

jmd(A1) hat irgendwo(A2) mit etw(A3) Erfolg jmd(A1) erzielt irgendwo(A2) mit etw(A3) einen Erfolg

Tab. 1

(Bassola 2012: 101)

Jetzt gehen wir den umgekehrten Weg und heben mit diesen Konstruktionen die Nominalphrase (NP) auf eine höhere grammatische Ebene, nämlich in den Satzbereich. Hier hat der Kopf der NP zusammen mit dem Verb, d.h. mit dem Funktionsverb (FV) oder Stützverb (StV) eine prädikative Funktion, und die nominalen Satelliten werden zu Satzgliedern.4 4

Weitere Bezeichnungen für diese Konstruktion sind Nominalisierungsverb (NV) und Nominalisierungsverbgefüge (NVG – vgl. Storrer 2006). Ich werde im Weiteren StV und

Nominale Satelliten an der Leine

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Polenz bezeichnet dieses Doppelprädikat als Nominalprädikat, bestehend aus Nominalverb und Prädikativ (Polenz 1988: 82):

Tab. 2 Uns interessiert nun die Nominalgruppe, deren Kopf ein valentes Nomen ist. Dieses Kernsubstantiv gibt eines seiner Komplemente im Genitiv an das Nominalverb ab und seine weiteren Attribute werden zu Satzgliedern. Wenn wir Sätze als Entitäten mit verbalen Kernen definieren, wo die Prädikation einzig durch das Verb realisiert wird, dann können Nominalprädikate mit nominalem Prädikativ als Zwischenstufe zwischen der Syntagmaebene und Satzebene betrachtet werden, wo das Nominalprädikativ und das Nominalverb zusammen alle weiteren Elemente regieren. In der NP auf der untersten Ebene entsteht kraft des (valenten) Kernsubstantivs mit seinem/seinen Satelliten eine komprimierte Prädikation. Satzebene Das Verb regiert seine Ergänzungen als Satzglieder. Zwischenstufe mit Nominalprädikat Das Stützverb regiert das Kernsubstantiv und dessen N im Gen. Das Kernsubstantiv regiert seine weiteren Satelliten als Satzglieder. Syntagmaebene N mit Attributen

Tab. 3 StVG benutzen, weil diese Ausdrücke besser den großen Funktionsbereichen entsprechen als die beiden anderen. FV bilden mit den Nomina engere phraseologische Wendungen als Subklasse von NVG (Storrer 2006: 276 und Polenz 1987: 170).

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Péter Bassola

Die Satelliten des Kernsubstantivs sind auf der Satzebene frei beweglich, sie können dem Regens unmittelbar nach- (10) oder vorangestellt (ad 11) werden oder weiter davon entfernt (11) platziert sein: (10)

Das Wetter habe natürlich einen Einfluss auf die Teilnehmerzahl,… (St. Galler Tagblatt, 07.03.2008, S. 63;) (11) Aber darauf habe ich keinen Einfluss“, betont Jörgen Schilling. (Braunschweiger Zeitung, 16.04.2010; Verfolger unter sich: MTV II trifft auf SV Osloß) (ad 11) Ich habe darauf keinen Einfluss.

Negiert werden kann vor allem das Kernsubstantiv, dadurch wird zugleich auch sein Satellit negiert. (12)

Die Ehe hat keinen zwingenden Einfluss mehr auf den Namen. (Zürcher Tagesanzeiger, 02.09.1999, S. 1)

Die Negation des Satelliten ist eher im Falle von Kontrast möglich: (ad 12) Er hat Einfluss nicht auf die Nachbarn, sondern auf ihre Kinder.

Die Negierung des Satelliten wird aber eher durch seine topologische Verschiebung vorgenommen, wobei das Negationselement dem Kernsubstantiv vorangestellt wird (13); diesem verneinten Komplement kann auch der Kontrast nachgeschoben werden (ad 13): (13)

Auf den Wahlkalender habe sie keinen Einfluss, antwortet Yvonne Gilli […]. (Galler Tagblatt, 15.01.2008, S. 11;) (ad 13) Auf den Wahlkalender hat sie keinen Einfluss, höchstens nur auf die Wahlvorbereitungen.

Wegen der engeren Zusammengehörigkeit der Bestandteile innerhalb des StVG kann das nominale Prädikativ nicht erfragt werden, nur sein Satellit: (ad 13) Worauf hat sie keinen Einfluss?

Referierbar sind vor allem die Satelliten des prädikativen Substantivs. (ad 13) Auf den Wahlkalender, der von der Parteileitung zusammengestellt wird, hat sie keinen Einfluss.

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Nominale Satelliten an der Leine

Wie auf den nominalen Bestandteil des StVG referiert werden kann, muss noch im Einzelnen untersucht werden (vgl. dazu Bresson 1988 und Storrer 20065). Die Abhängigkeitsstrukturen der NP (Tab 4, (14)) und des Satzes mit StVG (Tab 5, (ad 14)) zeigen die Verschiebung der nominalen Satelliten: (14)

Es geht uns um die Sicherung der Rechte aller Frauen auf eine ökonomisch selbständige Existenz. (BZ, 03.02.1990, S. 7) (ad 14) Alle Frauen haben das Recht auf eine ökonomisch selbständige Existenz. Rechte

haben

Frauen

auf

aller

Existenz

Tab. 4

alle Frauen

Rechte auf Existenz

Tab. 5

Wie oben schon erwähnt, sind die Verben, die StV für die umgestaltete Struktur verantwortlich. Über die erwartbaren Verben hinaus, also vor allem FV, die meistens völlig desemantisiert sind und nur die prädikative Funktion im Satz erfüllen, finden sich noch weitere Verben, die den Satz mit einer zusätzlichen Bedeutung bereichern und mit dem Kernsubstantiv eine festere Konstruktion bilden, wenn auch nicht so fest wie im Falle der ‚originären‘ FV. Über die Stützverben und ihre Variation habe ich in Bassola (2009: 84ff.) geschrieben. In einem weiteren Beitrag will ich den Versuch unternehmen, eine Typologie der valenten Substantive im Hinblick auf die Variation der StV aufzustellen. Je nachdem, welches StV primär bei dem jeweiligen Kernsubstantiv erscheint, kann es eine Reihe von weiteren Verben nach sich ziehen, die das valente Substantiv auf die Satzebene bringen. Das Stützverb führen kann bei dem Substantiv Diskussion durch die Phasenverben6 wie beginnen, beenden, entstehen etc. ersetzt werden. Ähnliches gilt auch bei Gespräch, Krieg, Prozess, Streit usw., deren ‚primäres‘ Stützverb ebenfalls führen ist. Semantisch teilweise gefüllt sind auch Verben des Richtungswechsels wie geben vs. bekommen bei den Substanti5

Bresson (1988) hat die FVG im Hinblick auf diese drei Bereiche (Erfragbarkeit, Negierung und Referierbarkeit) analysiert. Storrers Analyse (2006) konzentriert sich vor allem auf die NVG mit deverbalen Substantiven. 6 Zu dieser Bezeichnung vgl. Zifonun et al. 1997: 1469 passim.

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Péter Bassola

ven Antwort, Information, Erklärung etc., wobei sie weiterhin diese grammatische Funktion, nominale Satzglieder zu Satzgliedern zu machen, behalten.

4

Textbereich

Bereits auf der Tagung Nominalphrasensyntax im Jahre 1992 in Szeged haben wir darauf hingewiesen, dass die syntaktischen und semantischen Bereiche der Nominalvalenz über die Phrasen- und Satzebene hinaus reichen und weiter im größeren Kontext zu untersuchen sind (veröffentlicht in Bassola / Bernáth 1995/ 1998): Die semantischen Beziehungen der Valenzstruktur der Substantive reichen über die gegebene Konstruktion hinaus. Es genügt daher nicht, nur die Nominalphrase zu analysieren, man soll auch größere Konstrukte wie den Satz, aber auch den Text mit in die Analyse einbeziehen. Denn schon bei der Realisierung der Valenzstruktur, besonders aber bei ihrer Nichtrealisierung führen diese semantischen Fäden weit über den Kern hinaus. (Bassola / Bernáth 1995: 15, 1998: 193)

In seiner Monographie Substantivvalenz zeigt Hölzner (2007: 285ff.) anhand von empirischen Untersuchungen, wie Argumente über die Phrasen und Sätze hinaus realisiert werden und welche Rolle indefinite Auslassungen spielen. In Anlehnung an Hoffmann (1997: 569ff.) führt er die Termini Analepse und Katalepse ein (Hölzner 2007: 286ff.). Vereinfacht formuliert geht es hier um die präsententiell (d.h. Analepse) und postsententiell (d.h. Katalepse) erwähnte Bezeichnung des Arguments eines valenten Substantivs; dadurch wird die Realisierung des Arguments innerhalb der NP eingespart. Im Folgenden wollen wir einige Belege näher analysieren, wobei wir uns auf drei Fragen konzentrieren: 1. Welche Argumente des jeweiligen Nomens werden realisiert und welche nicht? 2. Wo werden die Argumente realisiert: innerhalb der NP oder innerhalb des Satzes oder aber vor oder nach dem jeweiligen Satz? 3. Ist das Verb des Satzes ein Vollverb oder ein StV? Textbeleg 1

Im Zentrum der Untersuchung steht das Nomen Idee. Es hat zwei Bedeutungen, in Textbeleg 1 liegt Idee 1 vor (vgl. Bassola 2012: 173ff.).

Nominale Satelliten an der Leine

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2005: Umwandlung des Hauses in eine GmbH – die Kongregation ist alleine Gesellschafterin. Die Ordensgemeinschaft Die Vinzentinerinnen – so genannt nach dem Ordensgründer Vinzenz von Paul (1581–1660) – hatten schon 1919 geplant, in Salzgitter-Bad mit Kinderbetreuung und -pflege zu beginnen. 1920 ließ sich die Idee im Gasthaus „Großer Hof“ umsetzen, das die Kongregation der Barmherzigen Schwestern in Hildesheim von Gastwirtin Sachse gekauft hatte. Zunächst waren es drei Schwestern, die Kindergarten und Näh- und Kochstube einrichteten. Im gleichen Jahr wurde das Kinderheim für 100 Kinder eröffnet. Später folgten Neubau und Namensgebung St.-Elisabeth-Heim. (Braunschweiger Zeitung, 09.09.2009; Wie ein Bühnenstück entsteht)

Die Argumentstruktur sieht folgendermaßen aus: Jmd/etw(A1) hat die Idee von etw oder etw zu machen (IS).

Das Thema wird schon in den ersten Sätzen und Halbsätzen von Textbeleg 1 angegeben: die Ordensgemeinschaft, genannt Vinzentinerinnen, hat das Kinderheim 2005 in eine GmbH umgewandelt. Sie plante bereits 1919 mit Kinderbetreuung und -pflege zu beginnen. Der Plan wurde dann 1920 verwirklicht. Selbst der Plan und die Verwirklichung des Plans waren eine gute Idee. Frei formuliert könnte das in einer NP folgendermaßen heißen: die Idee der Vinzentinerinnen, ein Kinderheim zu betreiben

Das valente Nomen Idee ohne ein einziges Argument befindet sich in einem Satz mit dem Verbalkomplex sich umsetzen lassen. Diesen Satz könnte man folgendermaßen weiterführen. → Die Idee der Vinzentinerinnen, ein Kinderheim zu betreiben, ließ sich 1920 im Gasthaus „Großer Hof“ umsetzen.

In diesem neu konstruierten Satz weist das valente Nomen eine NP-Struktur auf. Damit behaupten wir auch, dass der Verbalkomplex den Status eines Vollverbs mit eigener Bedeutung hat. Beide Argumente von Idee, die Vinzentinerinnen für A1 und die Gründung eines Kinderheimes für A2, werden bereits in dem Satz vor dem nominalen Zentrum genannt. Die Leine ist also im Textbereich noch länger als auf den beiden vorherigen Ebenen und eben auch dünner, denn A1 erscheint in einem anderen

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Péter Bassola

Textzusammenhang und A2 wird nur angedeutet, indem dann der Leser Plan/ planen mit Idee identifizieren soll. Textbeleg 2 Dieser Ausflug lohnt sich Dort also ist er daheim: Auf dem Berg Rochers de Naye oberhalb Montreux hält der Weihnachtsmann bis 24. Dezember wieder Audienz. Sein Haus in der Höhe steht allen Kindern offen, die ihre Wünsche direkt vorbringen wollen. Eine tolle Idee der Stadt. (Die Südostschweiz, 30.11.2008; Dieser Ausflug lohnt sich)

In Textbeleg 2 haben wir wieder das Nomen Idee mit derselben Bedeutung wie in Textbeleg 1. Diesmal ist Idee mit einer anderen Struktur vertreten: jmd/etw(A2) ist die Idee oder jmd(A1) hat die Idee von etw(A2) (vgl. Bassola 2012: 174)

Der ganze Vortext ist als Gleichsetzung gemeint: Das in den vorangehenden drei Sätzen Gesagte selbst ist eine tolle Idee der Stadt. Eine aus mehreren Sätzen bestehende Texteinheit ist also A2. A1 wird in der NP angegeben und die NP steht außerhalb einer Satzstruktur. Die Textgestaltung ist dem Schreiber frei überlassen. Es hätte nach den Sätzen, wo A2 beschrieben wurde, auch stehen können: ‚Das alles organisierte und finanzierte die Stadt.‘ So hätte auch A1 in der NP eingespart bleiben können. Die Satelliten können also auch innerhalb einer Äußerung ganz unterschiedlich an festerer oder lockerer Leine geführt werden. Im Hinblick auf die Bedeutung oder zumindest im Stil sind die Texte darin eben unterschiedlich. Textbeleg 3

In diesem Textbeleg konzentrieren wir uns nun auf das Nomen Antwort. „Das ist der seltsamste Betrugsfall, den ich je erlebt habe“, erklärt sein Verteidiger Thomas Dominkovic nach der Verhandlung, bei der der Angeklagte zugab, dass die Anklage weitgehend richtig sei. Denn Uwe M. hatte sich mit seinen Betrügereien nicht bereichert, keine finanziellen Vorteile daraus gezogen. Doch warum hatte er diese abenteuerlichen Geschichten erzählt? Nicht einmal der Angeklagte selbst konnte darauf eine Antwort geben, „es hat sich so entwickelt“, antwortet er auf die Frage des Vorsitzenden Richters Rolf Glenz. Er erklärte sich aber bereit, mit einem Gutachter zusammenzuarbeiten, der herausfinden soll, warum Uwe M. sich so verhielt. Der Prozess geht am Freitag, 2. Oktober, um 9 Uhr weiter. (Mannheimer Morgen, 15.09.2009, S. 17; Geschichten wie von Felix Krull)

Nominale Satelliten an der Leine

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Antwort hat zwei Bedeutungen; hier handelt es sich um die Bedeutung Antwort 1: Antwort auf eine Frage. Im Wörterbuch zur Substantivvalenz sieht die Valenzstruktur folgendermaßen aus (Bassola 2003: 45f.): Jmds(A1) Antwort an jmdn(A2) auf etw(A3), dass + NS(A4) (Vgl. Bassola 2003: 45ff.)

Die thematische Entfaltung geht schrittweise vor. Zuerst wird das Thema angegeben. Es geht um einen Betrugsfall, bei dem sich der Täter nicht bereichert hatte. Auf diese merkwürdige und zunächst unverständliche Situation wird eine Erklärung gesucht. Der unmittelbar vorangehende Satz ist eine Frage, die selbst A3 darstellt. Auf diesen ganzen Fragesatz wird mit dem Pronominaladverb darauf verwiesen. Erst im dritten Schritt kommt das zentrale Nomen Antwort vor. Da in diesem Satz das Stützverb geben im grammatischen Zentrum steht und es zusammen mit dem Nomen Antwort das Prädikat ausmacht, ist nun A1, der nominale Satellit im Genitiv Subjekt des Satzes geworden. Interessant in diesem Text ist, dass A3, das im Vortext in Form eines Fragesatzes bereits erschienen war, im Nachtext noch einmal in Form eines Nebensatzes auftritt. A2 und A4 werden aus unterschiedlichen Gründen nicht angegeben, A2 deshalb nicht, weil durch die Nicht-Nennung allgemein alle Betroffenen oder Interessenten gemeint sind. A4 wäre selbst das, was geantwortet wurde. Bei Negierung von Antwort ist aber A4 ausgeschlossen. Im vierten Schritt werden die Umstände angegeben, wie ein Gutachter zusammen mit dem Angeklagten die Antwort auf das Warum geben kann. Damit wäre A4 realisiert. Textbeleg 4 warum wird nicht auch hier davon ausgegangen, daß die DDR einen adäquaten Teil hat und damit auch andere Möglichkeiten zur Verwendung des Volksvermögens bestehen? das wäre meine Frage. Ziel (SPD): ich denke, Staatssekretär Dr. Krause hat darauf schon eine Antwort gegeben.es geht darum, den Haushalt auch auf diese Weise künftig zu entlasten. und wie wir das machen werden, werden wir exakt gestalten.es ist nicht die Frage, daß das heute und morgen geschieht. (Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik. 10. Wahlperiode. 8. Tagung (Sondertagung) am 21.05.1990, [stenographisches Protokoll]. – Berlin, 1990 [S. 231])

In Textbeleg 4 haben wir wieder dieselbe Valenzstruktur wie in Textbeleg 3. Nur liegt hier eine andere Realisierung vor: A2 wird in Form eines Fragesatzes formuliert, der zwei Sätze vor dem Satz mit dem Kernsubstantiv steht. Auf dieses

28

Péter Bassola

Argument wird mit der Anapher darauf verwiesen. A4, die Antwort, wird in den nachfolgenden zwei Sätzen ausgedrückt, ohne selbst darauf kataphorisch zu verweisen. In dem zu untersuchenden Satz wird ebenfalls das StV geben verwendet, welches das ursprüngliche A1 an sich heranzieht. A1 wird somit das Subjekt des Satzes mit dem zu untersuchenden valenten Nomen. A3, der Adressat der Antwort, wird auch in diesem Text nicht genannt. Es ist ihm aber zu entnehmen, dass die Antwort an alle gerichtet ist, die sich für dieses Thema interessieren. Textbeleg 5 Wie weit sind Sie im Kampf für einen autofreien Marktplatz? Zehr: Diesen Monat werden wir zusammen mit der SP die Initiative einreichen. Aus rechtlicher Sicht werden wir damit zwar keine Parkgarage verhindern können, doch politisch wäre es ein Statement. Falls doch eine Parkgarage gebaut werden sollte, werden wir uns mit aller Vehemenz wehren. Vehement hat sich die Juso letztes Jahr gegen die Neugestaltung des Marktplatzes engagiert. Und sich dabei gegen die Mutterpartei gestellt. Hat sich das Verhältnis zur SP dadurch verändert? Zehr: Nein, im Gegenteil. Im nachhinein sagten uns gewisse SPler: «Eigentlich hattet ihr recht.» Wir sind schnell wieder gemeinsame Wege gegangen. 2011 provozierten Sie mit Aktionen im Wahl- und Abstimmungskampf und wurden zweimal angezeigt. (St. Galler Tagblatt, 01.02.2012, S. 36;)

In diesem Interview ist das Hauptthema, ob die Jugendpartei zu unterschiedlichen Themenbereichen eigene Stellungnahmen formulieren kann und ob eine abweichende Beurteilung ihr Verhältnis zur Mutterpartei SP verschlechtern kann. Die Jugendpartei will den Bau einer Parkgarage entgegen der Meinung der SP verhindern. Das zentrale Nomen Verhältnis hat drei Bedeutungen; in unserem Text haben wir die Bedeutung Verhältnis 2 mit zwei Argumenten, wo es um das Verhältnis zwischen Personen oder Institutionen geht: jmds(A1) Verhältnis zu jmdm(A2) (Vgl. Bassola 2003: 141ff.)

Im Satz selbst, wo das valente Substantiv steht, erscheint nur A2 (= die Sozialistische Partei). A1 (= die Jungsozialisten/Jusos) wird in einem der dem Satz mit dem valenten Nomen vorangehenden Sätze konkret genannt, deshalb kann es in der jeweiligen NP erspart bleiben. Der Text beginnt mit einer Beschreibung der Situation; dem Leser ist noch nicht klar, dass es bereits in den ersten drei-vier Sätzen um die Jusos geht. Dafür müsste man Hintergrundkenntnisse haben und wissen, wer Zehr, die interviewte Person, ist. Im abschließenden Textteil wird

Nominale Satelliten an der Leine

29

dargestellt, wie sich dann das Verhältnis gestaltet hat, ohne aber das Nomen Verhältnis zu verwenden. Das Verb in dem zu untersuchenden Satz ist ein Vollverb (sich verändern), somit liegt hier eine NP vor. Die ergänzte Struktur könnte folgendermaßen rekonstruiert werden: das Verhältnis der Juso zur SP Textbeleg 6 Mein Revier, dein Revier Betreibern und Gästen des «Klosterkellers» ist es verboten, das Nachbargrundstück zu betreten. Zur Überraschung des Wirtes: Zehn Jahre lang sei das Verhältnis zum Nachbarn bestens gewesen. MICHÈLE VATERLAUS Der Wirt des Restaurants Klosterkeller versteht die Welt nicht mehr. «Ich bin jetzt seit fast zehn Jahren hier und nie hatten mein Nachbar und ich Probleme.» Anlass für die Aufregung ist ein gerichtliches Verbot, das sein Nachbar erwirkt hat. A12/JAN.08432 St. Galler Tagblatt, 26.01.2012, S. 47; Mein Revier, dein Revier

In diesem Textbeleg haben wir dasselbe Nomen mit derselben Bedeutung wie in Textbeleg 5. Im zweiten Satz erscheint das valente Nomen Verhältnis mit A2. A1 tritt unmittelbar davor innerhalb der Konstruktion zur Überraschung des Wirtes auf, nachdem es bereits im ersten Satz ohne konkrete Nennung vorgestellt wurde. Im Nachtext wird wieder auf die beiden Argumente in der direkten Rede verwiesen. Im zu untersuchenden Satz ist das Kopulaverb mit Adjektivprädikativ zu finden. Das Nomen bildet mit seinem einzigen Argument (A2 – zum Nachbarn) eine NP. Textbeleg 7 Sollte es dennoch zu einem Überfall kommen, seien als Gegenmaßnahmen unter anderem Trillerpfeife und Spray geeignet. Aber immer sei daran zu denken, dass der Schutz von Leben und Gesundheit absoluten Vorrang vor materiellen Werten hat. Vor allem gelte es, Ruhe zu bewahren. Nervosität könne sich unter Umständen auf den Täter übertragen. Gegenwehr ist nach Aussage des Referenten oft zwecklos, reizt darüber hinaus den Täter und bringt den Überfallenen in Gefahr. Wesentliche Tätermerkmale solle man sich einprägen. Den zweiten Punkt (sic!), den Quirmbach ansprach, galt der Sicherheitsberatung. In diesem Zusammenhang sollen demnächst interessierte Bürger von der Polizei geschult werden, um dann in ihrem Bekanntenkreis über mögliche Gefahren hin-

30

Péter Bassola zuweisen. Da die Zahl der Senioren steigt, wird nach Ansicht des Kriminalisten auch die Zahl der Überfälle wachsen. Dem entgegenzuwirken sei das Ziel derartiger Beratungen. (Rhein-Zeitung, 22.04.2005; Gegen Überfälle)

In Textbeleg 7 ist der erste Absatz nur eine Vorbereitung zur näheren Themenbeschreibung. In diesem Text konzentrieren wir uns auf das N Ziel mit nur einer Bedeutung. Es ist ein dreiwertiges N mit zwei möglichen Valenzstrukturen: jmds(A1) Ziel einer Sache(A1) für jmdn/etw(A3), zu+Inf(A2) jmds(A1) Ziel einer Sache(A2) für jmdn/etw(A3) (Bassola 2012: 292f.)

In der ersten Valenzstruktur ist das StV haben und sein Subjekt A1, in der zweiten das Kopulaverb sein mit dem Subjekt A2: jmd/etw(A1) hat das Ziel für jmdn/etw(A3), etw zu tun(A2) etw(A2) ist das Ziel von jmdm(A1) für jmdn/etw(A3)

In unserem Text haben wir eine Kombination der beiden Strukturen, die folgendermaßen erscheint: das Ziel jmds/einer Sache(A1) ist, etw zu tun(A2)

Das A1 Beratung kommt bereits im ersten Satz des zweiten Absatzes vor. Es zieht sich so gut wie durch den ganzen Vortext und wird auch konkret in der NP realisiert. Bürger, Polizei und Kriminalist können auch als Personen von Beratung, d.h. als A1 identifiziert werden. A2 wird in Form eines Infinitivsatzes realisiert. Mit dem Kopulaverb sein bleibt also die NP in unserem Falle eine durch A1 erweiterte Konstruktion mit dem vorangestellten A2. Nominale Satelliten in Form eines IS können wahrscheinlich nur sehr eingeschränkt in Voranstellung stehen, z.B. mit dem Kopulaverb sein. Über unser untersuchtes N Ziel hinaus kommen in diesem Text auffallend viele valente Nomina vor (vgl. die unterstrichenen Wörter). Jedes von ihnen regiert eine unterschiedliche Anzahl von Satelliten, die genauso unterschiedlich realisiert sind, bis hin zur Nicht-Realisierung. Diese unterschiedlich langen Leinen vernetzen die ganze Textmenge. Sie können sich innerhalb einer NP, eines Satzes oder aber eines größeren Textbereiches erstrecken.7 7

Die hier dargestellte Vernetzung der Leinen zwischen den Eckpunkten sind (nicht identisch oder) nicht unbedingt identisch mit den drei Topikbereichen, die Hölzner in seiner Analyse anwendet: mit dem globalen, dem Sub- und dem lokalen Topik (Hölzner 2007: 289f.).

Nominale Satelliten an der Leine

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Wir wollen diesmal nur an einzelnen Kernsubstantiven zeigen, wie kompliziert diese Nomen-Satelliten-Beziehungen sind. Eine vollständige Analyse steht noch aus, sie würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Das N Überfall erscheint bereits im ersten Satz, es hat zwei Argumente: jmds(A1) Überfall auf jmdn(A2)

Die Argumente werden weder im Satz des Kernsubstantivs, noch in den nachfolgenden drei Sätzen genannt. Erst in der zweiten Hälfte des dritten Satzes wird A1 mit Täter identifiziert. A2 schimmert sozusagen in jedem der nachfolgenden Sätze durch, ohne konkret genannt zu werden. Darauf lassen die folgenden Substantive schließen: Gegenmaßnahmen, Trillerpfeife, Spray, Schutz von Leben und Gesundheit, Ruhe, Nervosität, Gegenwehr. Das Kernsubstantiv erscheint im vorletzten Satz wieder. Diesmal bleibt aber A1 ungenannt und auf A2 wird mit Senioren verwiesen. Die Satelliten können also auf unterschiedlichste Weisen von NichtNennung durch die Angabe von allgemeiner Information bis hin zur konkreten Bezeichnung der Argumente semantisch vorgestellt werden. Dementsprechend sind also die Leinen wieder länger und lockerer oder fester und kürzer.

5

Ergebnis und Ausblick

Die Untersuchung hat gezeigt, dass das valente Substantiv auf zwei Ebenen, auf der NP-Ebene und der Satzebene erscheinen kann, wobei die NP-Ebene innerhalb eines Satzes von einem Vollverb abhängt oder auch allein außerhalb eines Satzes8 vorkommen kann. Auf der Satzebene spielt das Kernsubstantiv semantisch die primäre Rolle und das StV hat meistens nur eine rein grammatische Funktion. Wenn wir die NP im Textbereich untersuchen, haben wir immer mit einer der beiden Ebenen zu tun. In diesem Fall betrachten wir, was von den Argumenten des valenten Substantivs transsententiell in einem größeren Kontext wie realisiert ist. Unsere Hypothese hat sich bestätigt: von der NP durch den Satz bis hin zu dem Textbereich lässt die Festigkeit der Leine nach: fest

weniger fest

locker und dünn

NP

Satz

Textbereich

Tab. 6 8

Vergleiche oben (ad 6) und Textbeleg 2.

32

Péter Bassola

Während die Stellung der Satelliten in der NP fest vorgeschrieben ist, können sie sich auf der Satzebene der Satzstruktur entsprechend relativ frei bewegen. Was die Realisierung der Satelliten auf der NP- und Satzebene betrifft, so gibt es eine bestimmte Anzahl von Möglichkeiten. Im transsententiellen Bereich besteht die Realisierungsfreiheit: dort können sogar (auch) mehrere Sätze oder ganze Passagen auf einen Satelliten bezogen sein, wobei nur mehr die Bedeutung des jeweiligen Textbereichs als Analepse oder Katalepse die Leerstelle des valenten Nomens füllen kann. Im Hinblick auf das Fehlen von Argument(en) besteht in den drei Bereichen kein Unterschied, da die Satelliten des Nomens auf keiner der drei Ebenen obligatorisch sind. Selbst bei den sog. relationalen Substantiven, wo die Zusammengehörigkeit immer mindestens zwei Elemente verlangt ( z.B. das Dach des Hauses – der Vater meines Nachbarn – das Ende der Straße etc.), kann das zugehörige Substantiv erspart bleiben, wenn es im Text zuvor bereits genannt wurde. Z.B. Unser Haus muss renoviert werden. Die Bauarbeiten beginnen wir mit dem Dach. (eigener Beleg) Es gibt nominale Argumente, die auf der Satzebene oder aber auch im größeren Kontext deshalb nicht genannt werden, weil sie so zu verstehen sind, dass alle Personen mitgemeint sind, die dadurch betroffen sind oder sich dafür interessieren (vgl. Textbelege 2 und 3 usw.). Die Analyse vollständiger Texte mit mehreren valenten Substantiven könnte auch zeigen, wie und in welcher Form am Ende der Leinen die Satelliten erscheinen und ob sie überhaupt erwähnt werden, wie die Leinen den Text vernetzen und wie sie zur Textkohäsion und -kohärenz beitragen. Das wird in einem weiteren Beitrag untersucht werden. Ein interessantes Wechselspiel zwischen der NP-Ebene und der Satzebene besteht darin, dass im Falle der NP am ehesten nur das Kernsubstantiv erfragt und referierbar ist, während auf der Satzebene dies eben den oder die Satelliten zutrifft. Negiert wird aber auf beiden Ebenen am ehesten nur das valente Nomen.

6

Literatur

6.1

Primärliteratur

COSMAS – E-Korpus des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim; zu erreichen unter: http://www1.ids-mannheim.de/start/ sowie https://cosmas2.ids-mannheim.de/cosmas2web/

Nominale Satelliten an der Leine 6.2

33

Sekundärliteratur

BASSOLA, Péter (Hrsg.) (2003): Deutsch-ungarisches Wörterbuch zur Substantivvalenz. Band 1, Szeged: Grimm BASSOLA, Péter (2007): Stellung der Komplemente des prädikativen Adjektivs, in: Di Meola, Claudio / Gaeta, Livio / Hornung, Antonie / Rega, Lorenza (Hrsg.): Perspektiven Zwei – Akten der 2. Tagung Deutsche Sprachwissenschaft in Italien (Rom 9.– 11.2. 2006). Rom: Istituto italiano di studi germanici 147–158 BASSOLA, Péter (2009): Stellung der Komplemente des prädikativen Substantivs. In: Di Meola, Claudio / Gaeta, Livio / Hornung, Antonie / Rega, Lorenza (Hrsg.): Perspektiven Drei. Akten der 3. Tagung Deutsche Sprachwissenschaft in Italien (Rom, 14.– 16.2.2008). Frankfurt a.M. u.a.: Lang, 79–89 (= Deutsche Sprachwissenschaft international) BASSOLA, Péter (Hrsg.) (2012): Deutsch-ungarisches Wörterbuch zur Substantivvalenz, Band 2, Szeged: Grimm BASSOLA, Péter / BERNÁTH Csilla (1995/1998): Realisierung der Valenzstruktur von deutschen und ungarischen deverbalen Substantiven. In: Bassola, Peter: Deutsch in Ungarn – in Geschichte und Gegenwart. Heidelberg: Julius Groos, 137–153. Zweitveröffentlichung in: Bassola, Peter (Hrsg.): Beiträge zur Nominalphrasensyntax. JATE: Szeged, 173–196 (= Acta Germanica 6) BRESSON, Daniel / KUBCZAK, Jacqueline (Hrsg.) (1998): Abstrakte Nomina. Vorarbeiten zu ihrer Erfassung in einem zweisprachigen syntagmatischen Wörterbuch. Tübingen: Gunter Narr DUDEN (72006): Die Grammatik, Mannheim u.a.: Dudenverlag, 798ff. (1. Aufl.: 1959) HERINGER, Hans Jürgen (1970): Deutsche Syntax, Berlin: Göschen HOFFMANN, Ludger (1997): Thematische Organisation von Text und Diskurs. In: ZIFONUN u.a. , 508–591 HÖLZNER, Matthias (2007): Substantivvalenz. Korpusgestützte Untersuchungen zu Argumentrealisierungen deutscher Substantive. Tübingen: Niemeyer POLENZ, Peter von (21988): Deutsche Satzsemantik. Das Zwischen-den-Zeilen-Lesen. Berlin / New York: Walter de Gruyter (1. Aufl.: 1985) STORRER, Angelika (2006): Zum Status der nominalen Komponenten in Nominalisierungsverbgefügen. In: Breindl, Eva / Gunkel, Lutz / Strecker, Bruno (Hrsg.): Grammatische Untersuchungen. Analysen und Reflexionen. Gisela Zifonun zum 60. Geburtstag. Tübingen: Narr, 276–295 ZIFONUN, Gisela / HOFFMANN, Lothar / STRECKER, Bruno (1997): Grammatik der deutschen Sprache, 3 Bde, Berlin / New York: Walter de Gruyter

34 7

Péter Bassola Abkürzungen

Ableit A A1, A2, A3 etw FV FVG HS IS jmd – jmdn – jmds – jmdm N NP NS StV StVG

= Ableitung = Argument = Argument 1 / 2 / 3 = etwas = Funktionsverb = Funktionsverbgefüge = Hauptsatz = Infinitivsatz = jemand (im Nominativ / Akkusativ / Genitiv / Dativ) = Nomen = Nominalphrase = Nebensatz = Stützverb = Stützverbgefüge

Árpád Bernáth Szeged

Die Linguistik des Textes in der Poetik von Aristoteles Abstract Nach den Handbüchern über die Geschichte der Sprachwissenschaft reichen die Wurzeln der Disziplin weit in die Antike zurück: Dionysios Thrax (2. Jh. v. Chr.) und Apollonios Dyskolos (2. Jh. n. Chr.) sollen die ersten Grammatiken erschaffen haben. Diese Darstellungen lassen jedoch in der Regel die Grammatik von Aristoteles (4. Jh. v. Chr.) außer Acht, obwohl die Kapitel 19. bis 21. seiner Poetik einen vollständigen Umriss der Grammatik der griechischen Sprache enthalten. Die Poetik, wie bekannt, beinhaltet auch eine explizite Stilistik für die Charakterisierung der dichterischen Sprache (Metapher), und – mehr oder weniger implizit, und daher unbeachtet – eine Texttheorie für dichterische Werke (Mythos). Die letztere einzusehen, braucht man eine Revidierung der deutschen StandardÜbersetzung der Poetik von Manfred Fuhrmann (1982) bzw. auch die neueste Übersetzung von Arbogast Schmitt (2011) und die Einbeziehung logisch-mathematischer Überlegungen von Aristoteles und Gottlob Frege zum Aufbau von zusammengesetzten sprachlichen Formeln für einfache und komplexe Entitäten von den Vokalen bis zum Text sowie für einfache Ereignisse bis zu ganzen Handlungen.

1

Abriss der Problematik

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzog sich eine bedeutende Verschiebung des Forschungsinteresses innerhalb der Sprachwissenschaft: immer mehr Wissenschaftler wandten sich von der Satzgrammatik der Textlinguistik zu. Die Neuheit der Forschungsrichtung wurzelt nicht in dem neuen Gegenstand „Text“. Mit den verschiedenen Klassen von Texten befasste man sich bereits in der Antike. Wir können sogar festhalten, dass die Frage des „richtigen“ Aufbaus eines Textes von einem bestimmten Texttyp die Gelehrten früher beschäftigte, als sich der selbständige Forschungsbereich über mögliche Komponenten und Formen des Satzes herausbildete. So entstand die Rhetorik als Lehre von der wirkungsvollen Gestaltung der Rede durch die Lehrtätigkeit von Gorgias, Platon und Aristoteles bereits im 4. Jh. v. Chr., dagegen wird die Herausbildung der klassischen sprachwissenschaftlichen Forschung von den Wissenschaftshistorikern im

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Árpád Bernáth

2. Jh. v. Chr. angesetzt und mit Namen verbunden wie Dionysios Thrax (170 v. Chr.–90 v. Chr.) und Apollonios Dyskolos (2. Jh. n. Chr.). (Vgl. Auroux / Koerner et al. 2000: 345–443.) Neu in den textlinguistischen Forschungen sind deren Zielsetzungen und Methoden. Warum wandte man sich als Sprachwissenschaftler dem Text zu? Wollte man die Kompetenzen des Fachs über die Satzgrenze erweitern? Oder entstand die Textlinguistik aus der Erkenntnis, dass man gewisse Attribute des Satzes ohne die Kenntnis seiner Stellung im Text nicht erklären kann? Oder entstand sie aus der Praxis der Sprachverwendung, deren Ergebnis immer ein Text sein soll? Gleichviel welche Motive die primären waren, die eigentlichen Probleme, die sich für die Textlinguistik stellen, entstanden nicht zuletzt aus der unterschiedlichen Länge möglicher Äußerungen. Sie können mit der kürzesten Äußerung oder mit dem längsten Text zusammenfallen: mit einem Vokal wie „O!“ als Ausruf der Freude oder des Schreckens, und mit dem altgriechischen Epos Ilias, das aus 15 Tausend Zeilen besteht. Ist es möglich, einen kohärenten theoretischen Rahmen zu schaffen, der ein Phänomen von so unterschiedlicher Größe behandeln kann? Die Poetik von Aristoteles kann als erster Versuch für die Beantwortung der letzt gestellten Frage betrachtet werden. Der Titel des Opus und die damit angegebene Thematik sind in unserem Kontext ein wichtiger Hinweis darauf, dass die Theorie, die ich hier zu rekonstruieren versuche, zwar nicht für alle Texte gültig sein soll, aber für die Untersuchung einer umfangreichen Klasse der Texte: der wohlgeformten Dramen und Epen von Nutzen ist. Nichtsdestoweniger ist die Eingrenzung des Gegenstandes nicht absolut. Ein Teil der in der Poetik dargestellten Theorie soll nämlich in sprachwissenschaftlicher Hinsicht eine universale Gültigkeit haben: dieser Teil ist weder einzelsprachspezifisch noch sprachtypsbzw. gattungsspezifisch. Ich behandle zunächst den universalen Teil dieser Theorie, der von der Ebene der Sprechlaute bis zur Ebene der Lexeme reicht. Aristoteles definiert seine Kategorien im Kapitel 20 der Poetik (1456b20 | 1457a30) zur Beschreibung der altgriechischen Sprache, aber auf Grund solcher Prinzipien, die es uns erlauben, sie auch auf Beschreibung anderer Sprachen zu verwenden. Er geht von den elementaren Bausteinen der Rede (lŸxiV / léxis), von den unteilbaren Lauten (Elementen – stoiceÙon / stoikheon) aus. Diese Laute sollen, im Gegensatz zu den unteilbaren Lauten der Tiere, die Fähigkeit haben, sich mit anderen Lauten zu verbinden. Es gibt zwei reine Typen der unteilbaren Laute: der eine kann auch selbständig bestehen, wie die Vokale, der andere ist an sich ergänzungsbedürftig, wie die Konsonanten (die Stummen – ¢jwnoV / aphonos). Die Letzteren sind auf der Ebene der Laute an sich stumm, weil sie selbständig nicht auszusprechen sind. Sie bilden

Die Linguistik des Textes in der Poetik von Aristoteles

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also kein Selbständiges, Ganzes – man könnte sagen, ihre Existenz als unteilbarer Laut ist auf der untersten Ebene der Rede nur potentiell. Was ein Ganzes ist, weil es selbstständig bestehen kann oder weil es verbunden mit einem Selbständigen seine Ergänzung erfährt, ist auf einer höheren Ebene der Unterscheidungen, auf der Ebene der antiken Metrik, eine Silbe, mit der Fähigkeit, sich mit anderen Silben zu verbinden. Wir übertreten die Grenzen der Metrik, wenn wir die Silben als Lexeme betrachten, die als Zeichen für etwas anderes stehen. Wenn dieses andere, wofür das Zeichen steht, selbständig bestehen kann, dann ist das Lexem (das sowohl einfach als auch zusammengesetzt sein kann) ein Nomen (für einen Gegenstand im weitesten Sinn) und kann auch als Lexem selbständig bestehen, das heißt, ein Ganzes bilden. Andere Lexeme, die die Art des Gegebenseins dieses Gegenstandes: seine Eigenschaften bzw. seine Relationen zu anderen Gegenständen, kurz seine Attribute angeben, können selbständig nicht bestehen, sie sind ergänzungsbedürftig. Erst ergänzt mit einem Nomen bilden sie nun eine einfache Äußerung (làgoV / logos). Damit haben wir die höchste Ebene der qualitativen Unterscheidungen erreicht, die Ebene der Äußerungen. Es soll nur noch hinzugefügt werden, dass es nach Aristoteles nicht nur einfache, sondern auch zusammengesetzte Äußerungen gibt. Eine Äußerung ist zusammengesetzt, wenn der Gegenstand, den sie bezeichnet, selbst zusammengesetzt ist, also aus mehreren, verbindbaren Gegenständen ein Ganzes bildet. Das Kriterium für die Ganzheit eines Ensembles von Gegenständen wird im Kapitel 7 der Poetik (1450b20 | 1451a15) definiert. Und damit verlassen wir den universellen Teil der linguistischen Theorie, weil in diesem Kapitel das Kriterium der Ganzheit nur für die grundlegende Schicht der wohlgeformten Epen und Dramen, für die Handlung (mìqoV / mythos) formuliert wird. Soweit gilt diese Textlinguistik nur für die Klasse der zusammengesetzten Äußerungen poetischer Art, für Texte also, die eine vollständige und ganze Handlung bezeichnen. Diese Art der Beschränkung ist selbstverständlich in einem Werk, in dem die Theorie der Rede, als ein qualitativer Teil des dichterischen Schaffens behandelt wird, und zwar als letzter Teil nach den vorangehenden qualitativen Teilen Handlung, Charaktere (»qoV / ethos) und Denkart (di©noia / dianoia). Die Grenzen einer vollständigen und ganzen Handlung sind nun mit Anfang und Ende gegeben: die Beiden sind ergänzungsbedürftig in einer bestimmten, und zwar einander entgegengesetzten Richtung. Anfang einer Handlung ist, was selbst nicht aus innerer Notwendigkeit auf etwas folgt, aber darauf etwas Anderes entsteht. Ende dagegen folgt auf etwas, aber auf ihm folgt aus innerer Notwendigkeit nichts. Der Umfang der Handlung, dessen Angemessenheit ein Kriterium des Schönen ist, hängt von der Länge der Mitte ab, die in beiden Richtungen ergänzungsbedürftig ist.

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Árpád Bernáth

In diesem Zusammenhang räumt Aristoteles ein mögliches Missverständnis aus. Es genügt nicht, um ein wohlgeformtes dichterisches Werk zu schaffen, die Einheit des dargestellten Gegenstandes zu sichern: würde das ausreichen, dann wäre jede Biographie als einfache Äußerung ein poetisches Werk. Als Beispiele sind von Aristoteles im Kapitel 8 (1451a15 | a35) für die Nicht-Erfüllung der spezifischen Anforderungen für die Ganzheit der Handlung eine mögliche „Geschichte des Herakles“ oder eine mögliche „Geschichte des Theseus“ angeführt (1451a20). Sie sind wohl als eine einfache Äußerung zu betrachten, aber alles, was mit Herakles oder Theseus geschieht, ergibt nicht notwendigerweise eine ganze Handlung. Auch die Darstellung eines Ausschnittes aus der Erfahrungswelt, wie Aristoteles im Kapitel 9 (1451a35 | 1452a15) ausführlich erörtert, sichert nicht die erwünschte Einheit und Ganzheit der Handlung: die Notwendigkeit der Verbindungen zwischen den Ereignissen (pr«gmata / pragmata) zu einer vollständigen und ganzen Handlung können nur allgemeine Regeln sichern. Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Beschreibung des qualitativen Teils lexis in der Poetik die eines Logikers ist, die viel Ähnlichkeiten hat mit der Betrachtungsweise, die von Gottlob Frege in seinen bahnbrechenden Arbeiten Funktion und Begriff (1891) und Über Sinn und Bedeutung (1892) entwickelt worden ist. Die Analyse der Funktion „F(a)“ von Frege zeigte, dass das Argument „a“ „nicht mit zur Funktion“ gehört, sondern mit der Funktion zusammen ein vollständiges Ganzes bildet, denn die Funktion „F ( )“ für sich allein ist unvollständig, ergänzungsbedürftig oder ungesättigt zu nennen. Und dadurch „unterscheiden sich die Funktionen von den Zahlen von Grund aus“ (Frege 1966: 19f.), behauptet er, weil die Zahlen zwar ergänzungsfähig, aber auch für sich allein vollständig, gesättigt sind. Es ist nach Frege zu betonen: „Die beiden Teile, in welche der Rechnungsausdruck so zerlegt wird, das Zeichen des Arguments [„a“] und der Ausdruck der Funktion [„F ( )“] sind ungleichartig, da ja das Argument eine Zahl, ein in sich abgeschlossenes Ganzes ist, was die Funktion nicht ist“ (Frege 1966: 22) – sie wird erst durch die Ergänzung mit einem Argument einen Wert haben, eine von dem Argument unterschiedliche Zahl ergeben: F(a)=b. Es ist leicht einzusehen, dass der Aufbau der einzelnen Ebenen in dem qualitativen Teil lexis in der Poetik die Struktur der Funktion im Sinne von Frege hat. Wir haben gesehen, dass die Teile auf einer Ebene immer aus zwei ergänzungsfähigen Typen von Elementen bestehen, wobei der eine ein in sich abgeschlossenes Ganzes, ein „Argument“ ist, der andere aber ein für sich allein unvollständiges, ergänzungsbedürftiges Phänomen, eben eine „Funktion“ ist, die erst mit einem Argument ergänzt ein Ganzes mit neuem Wert ergibt.

Die Linguistik des Textes in der Poetik von Aristoteles

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In tabellarischer Darstellung: Ebene

Argument „a“ (gesättigt)

Funktion „F( )“ (ungesättigt)

„F(a) = b“ (gesättigt)

des Lautes

Vokal

leer

leer

der Silbe

Vokal

Konsonant

Silbe

des Lexems

Nomen mit Bedeutung

übrige Lexemtypen teils mit Bedeutung

Syntagma

des Bezeichneten

Nomen für Gegenstände

übrige Lexemtypen für Attribute der Gegenstände

Äußerung

Dieser an sich einfache, aber streng logische Aufbau der Theorie der Rede und Sprachverwendung ist an mehreren Punkten anders als die tradierte grammatikalische Gliederung der Sprache. Die Übersetzungen des Originals und die Stellenkommentare dazu zeigen am eindeutigsten, worin die Unterschiede bestehen. Sie sind allenfalls auf allen Ebenen der Rede zu beobachten. 1.1

Die Ebene des Lautes

Es verursacht Schwierigkeiten, das Wort „stoiceÙon“ (stoikheon) sinngemäß zu übersetzen. Es wird in den deutschen Übersetzungen der Poetik meistens mit „Buchstabe“ wiedergegeben, denn die „Elemente“ der griechischen Schrift sind in der Tat Buchstaben, und das altgriechische Wort hat neben anderen auch diese Bedeutung. Sätze aber, wie „Ein Buchstabe also ist ein unteilbarer Laut“ (Aristoteles 2011: 27 / 1456b20)1 täuschen vor, dass Aristoteles die Unterscheidung zwischen Laut und Lautzeichen nicht kennt. Was aber nicht der Fall ist.2 Die Lösung wäre für eine adäquate Übersetzung die Verwendung des Wortes „Element“, „elementarer Laut“ – auch Euklides Stoicheia, die später als die Poetik entstanden ist, ist 1

So auch die Übersetzung dieses Satzes von Manfred Fuhrmann: „Ein Buchstabe ist ein unteilbarer Laut“ (Aristoteles 1982: 63). 2 Siehe die Unterscheidung in PerØ ƒErmhne×aV 16a:„Esti m~n oån tª —n t jwn t÷n —n t yuc paqhm©twn sêmbola, kaØ tª grajàmena t÷n —n t jwnÂ.“ (Hermeneutika: „Die gesprochenen Worte sind die Zeichen von Vorstellungen in der Seele und die geschriebenen Worte sind die Zeichen von gesprochenen Worten.“ Aristoteles 1876: 55.)

40

Árpád Bernáth

mit Recht mit dem Ausdruck „Elemente“ ins Deutsche übersetzt worden.3 In diesem Sinne sollte also in den deutschen Übersetzungen stehen: „Zur Rede insgesamt gehören die folgenden Teile: elementarer Laut, Silbe […]“ usw. 1.2

Die Ebene der Silbe

Da die „Konsonanten“ bereits auf der Ebene der Laute von Aristoteles als „Stummen“ (¢jwnoV / aphonos), als nicht Hörbaren eingeführt werden, stößt die Auffassung der Silbe auf Schwierigkeiten. Fuhrmann kommentiert lakonisch: „Die aristotelische Definition der Silbe weicht also – wenn der Text richtig überliefert ist – von der uns geläufigen ab.“ (Aristoteles 1982: 128.) 1.3

Die Ebene des Lexems bzw. die des Bezeichneten

Die Unterscheidung zwischen Silben und Lexemen erfolgt durch ihre semantische Funktion: „Ein Nomen [Ûnoma / onoma] ist ein zusammengesetzter, bedeutungshafter Laut, ohne Zeitbestimmung, von dem kein Teil an sich bedeutungshaft ist.“ (1457a10 / Aristoteles 1982: 65) „Ein Verb [`Âma / rhema] ist ein zusammengesetzter bedeutungshafter Laut, mit einer Zeitbestimmung, von dem kein Teil für sich etwas bedeutet, wie im Falle der Nomina.“ (1457a15 / Aristoteles 1982: 65).4 Die undifferenzierte Behandlung der unterschiedlichen semantischen Rollen der Lexeme, die sich durch die Verschiedenheit der ontologischen Status der Bezeichneten ergibt, führt dann in den Übersetzungen und in den Kommentaren zu Unverständnissen. Ich zitiere zunächst die problematischen Stellen in den beiden letzten deutschen Übersetzungen: M. Fuhrmann (Aristoteles 1982: 65/67): „Ein Satz [làgoV / logos] ist ein zusammengesetzter, bedeutungshafter Laut, von dem einige Teile an sich etwas bedeuten (allerdings ist nicht jeder Satz aus Verben und Nomina zusammengesetzt; vielmehr kann ein Satz – wie z. B. die Definition des Menschen – auch ohne Verben sein; doch irgendein Teil von ihm ist stets bedeutungshaft), wie z.B. [‚]Kleon[‘] in dem Satz ‚Kleon geht.‘“ (1457a20 | 25)

3

Vgl. EUKLID: Die Elemente. Bücher I–XIII. Aus dem Griech. übers. und hrsg. von Clemens THAER. (Reprint [der Ausg.] Leipzig, Akademie. Verl.-Ges. [1933, 1935, 1936 und 1937], 4., erw. Aufl. / Einl. von Peter SCHREIBER. Frankfurt a.M.: Deutsch, 2003. XVI, 479 S. 4 Ganz ähnlich A. Schmitt – statt „bedeutungshaft“ verwendet er das Wort „bedeutungstragend“ (Aristoteles 2011: 28).

Die Linguistik des Textes in der Poetik von Aristoteles

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A. Schmitt (Aristoteles 2011: 29): Eine Phrase bzw. ein Satz [làgoV / logos] ist eine zusammengesetzte Lautäußerung, die eine Bedeutung hat und von der einige Teile für sich selbst etwas bedeuten (denn nicht | jede (zu einer Bedeutungseinheit verbundene) sprachliche Äußerung ist aus Verben und Nomina zusammengesetzt, wie zum Beispiel die Definition des Menschen, sondern es kann auch eine (zusammenhängende) sprachliche Äußerung geben ohne Verbum, sie hat aber immer einen Teil, der etwas bedeutet), wie zum Beispiel in dem Satz ‚Kleon läuft‘ ‚Kleon‘ . (1457a20 | 25)

Erklärungsbedürftig werden nun die Behauptungen: Ein Satz – wie z.B. die Definition des Menschen – ist auch ohne Verbum ein Satz, bzw. in dem Satz „Kleon geht/läuft“ [bad×zw] bedeutet nur „Kleon“ etwas. Fuhrmann fügt als Stellenkommentar zu der Äußerung über Kleon im Einklang mit früheren Interpretationen hinzu: „Ebenso auch ‚geht‘ [hat eine Bedeutung]. Nur Formwörter (Konjunktionen, Präpositionen, Artikel) sind ‚an sich ohne Bedeutung‘“ (Aristoteles 1982: 129) – und damit korrigiert er Aristoteles (oder die Textüberlieferung). Was die Definition des Menschen angeht, wird von Fuhrmann festgestellt, dass man im Griechischen die Kopula „sein“ fortlassen kann, hieraus ergeben sich Sätze ohne Verb. „Der Mensch – nach Fuhrmann = „ein zweifüßiges Landlebewesen“ (Aristoteles 1982: 129) – nach Schmitt = „vernünftiges Lebewesen“ (Aristoteles 2011: 607) – beide Kommentare beziehen sich wohl auf die Definitionen des Menschen in der Topik von Aristoteles. Nach meiner Rekonstruktion der Theorie der Rede brauchen die Feststellungen von Aristoteles jedoch keine Korrekturen. In dem Satz „Kleon geht“ bezeichnet allein „Kleon“ einen Gegenstand; „geht“ kann selbstständig nicht bestehen, und bezeichnet in diesem Sinne auch nichts Bestimmtes. In der Terminologie von Frege ausgedrückt ist Kleon ein Argument, „geht“ eine Funktion, oder „Kleon“ ist ein Eigenname, und „geht“ ein Begriff. Was die Definition des Menschen betrifft: sie besteht aus zwei Argumenten oder Eigennamen, die mit unterschiedlichen Sinnen die gleiche Bedeutung haben sollen (a=b). Ob die Kopula „sein“ in der Definition vorkommen soll, oder nicht, ist eine Frage der Grammatik der jeweiligen Einzelsprache: im Sinne von Aristoteles ist die Kopula gewiss kein „`Âma“ (rhema, Verb), da sie keine Zeitbestimmung mitenthält. Die Übersetzung des griechischen Ausdrucks „logos“ als die höchste Ebene der Rede mit dem deutschen Terminus „Satz“ wird in der Fortsetzung der eben zitierten Stelle unhaltbar:

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Árpád Bernáth

M. Fuhrmann (Aristoteles 1982: 67): Ein Satz [logos] ist auf zweifache Weise eine Einheit. Denn entweder bezeichnet er einen einzigen Gegenstand, oder er besteht aus der Verknüpfung von mehreren Teilen. Die »Ilias« z.B. ist durch Verknüpfung eine Einheit, die Definition des Menschen dadurch, dass sie einen Gegenstand bezeichnet. (1457a25 | 30)

Einerseits geht aus dem Gesagten hervor, dass die Ilias ein „Satz“ sein soll. (Fuhrmanns Kommentar zu der Stelle beschränkt sich auf die Auflösung des Widerspruches zwischen Satz und Text ohne Erklärung des Phänomens: „Der Ausdruck làgoV (‚Satz‘) hat somit in Kap. 20 eine weitere Bedeutung, als sie uns geläufig ist: er umfasst Texte, deren Elemente durch Paratexte miteinander verknüpft sind“ – Aristoteles 1982: 129). Anderseits bleibt es unklar, worauf sich die folgende Aussage bezieht: „er besteht aus der Verknüpfung von mehreren Teilen.“ Wenn sie sich auf den „Satz“ bezieht, was der Satzbau der Übersetzung und der Kommentar dazu suggerieren, dann stellt sich die Frage: was ist der Unterschied zwischen der Definition des Menschen und der Ilias? Besteht denn die Definition des Menschen nicht auch „aus Verknüpfung von mehrer Teilen“? Schmitt sieht diese Schwierigkeiten, aber auch seine Lösung fällt nicht überzeugend aus. A. Schmitt (Aristoteles 2011: 29): Eine sprachliche Äußerung [logos] kann auf zwei Arten eine Einheit sein: entweder wenn das, was sie bezeichnet, ein Eines ist, oder wenn sie aus Mehrerem [Mehreren?] zu einer kontinuierlichen Einheit verbunden ist, wie die Ilias | durch ihren kontinuierlichen Zusammenhang eine Einheit ist, die Definition des Menschen aber dadurch, dass sie ein Eines bedeutet.“ (1457a25 | 30)

Schmitt revidiert in der Übersetzung dieses Kapitels der Poetik über die Rede die Wiedergabe des Terminus „logos“ mit dem Terminus „Satz“ nur schrittweise. Bei der Einführung der Termini zur Beschreibung der Einheiten der Rede steht noch „Satz“ (Aristoteles 2011: 27 / 1456b20), entsprechend der Tradition der deutschen Übersetzungen. Bei der Definition des Terminus verwendet er bereits zwei Ausdrücke für „logos“: „Eine Phrase bzw. ein Satz ist eine zusammengesetzte Lautäußerung“ (Aristoteles 2011: 29 / 456a20). In den Beispielen für die einfachen und zusammengesetzten Typen des Logos steht erst der Ausdruck, den ich für alle Stellen angemessen halte: „Eine sprachliche Äußerung kann auf zwei Arten eine Einheit sein“ (Aristoteles 2011: 29 / 1456a25). Auf welcher Ebene diese Einheit entsteht, wird zwar wortreich in einer erklärenden Übersetzung zu beantworten versucht, aber kaum im Sinne von Aristoteles geklärt. Schmitt sieht

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zwar das Problem, dass das, wofür Aristoteles Beispiele gibt, zusammengesetzte Lautäußerungen sind, und zwar auch dann, wenn sie nur einen Gegenstand bezeichnen. Für längere Lautäußerungen, wie die Ilias, versucht er auf der Ebene der Lexeme Einheitskriterien zu finden, und fügt das Wort in seiner Übersetzung „kontinuierlich“ ein, wofür es im griechischen Original keine Entsprechung gibt. Die Einheit, die aus Mehreren zusammengefügt wird, soll auf der Ebene des Bezeichneten zu finden sein, und im Falle der Ilias ist sie ihre Handlung (mythos), wie im Kapitel 7 der Poetik definiert wurde. Zwar kann eine Äußerung mit dem zusammenfallen, was in den traditionellen Grammatiken als Satz betrachtet wird, aber dieser Zusammenfall ist im Falle sprachlicher Kunstwerke auch dann nicht zwingend, wenn sie eine einfache ist. Wir haben bereist erwähnt, dass eine Biographie (z.B. als Lexikoneintrag) eine einfache Äußerung bleiben kann, soweit sie einen einzigen Gegenstand hat: nämlich die Person, um die es geht. Zusammengesetzt wird eine Äußerung erst, wenn der Gegenstand, den sie bezeichnet ein Zusammengesetztes ist, wie die Handlung eines wohlgeformtes Dramas oder Epos. Ich möchte mit zwei Anmerkungen schließen. Für die Rezeption der linguistischen Ansichten von Aristoteles ist wichtig vor Augen zu halten, dass sich die einfache und die zusammengesetzte Äußerung nicht wie Satz und Text zueinander verhalten: die letztere vertritt nicht eine höhere Ebene der Betrachtung, sondern eine Variante der ersteren auf derselben Ebene. Für die Konstruktion von Textgrammatiken können wir die Lehre mitnehmen, dass die Einheit einer – egal wie langen – Äußerung letztendlich auf der Ebene der Bezeichneten zu suchen ist. Sie zu finden kann damit nicht allein die Aufgabe der Linguisten sein. Aber ohne ihre Einsichten, wie das Beispiel von Aristoteles zeigt, ist auch keine Wissenschaft möglich.

2

Literatur

ARISTOTELES (1876): Kategorien oder Lehre von den Grundbegriffen: Hermeneutica oder Lehre vom Urtheil; (des Organon 1. u. 2. Teil). Übers. u. erl. von J. H. v. KIRCHMANN. Leipzig: Dürr ARISTOTELES (1961): Organon. [Griechisch und Ungarisch.] Hrsg. u. erl. von Sándor SZALAI. Übers. von Ödön RÓNAFALVI und Miklós SZABÓ. Bd. 1. Budapest: Akadémiai Kiadó ARISTOTELOUS / ARISTOTELÉS (1961): ORGANON / Organon. [Griechisch und Ungarisch] Szerk. és jegyzetekkel ellátta SZALAI Sándor. Ford. RÓNAFALVI Ödön és SZABÓ Miklós. 1. köt. Kategóriák - Herméneutika - Első Analitika. Budapest: Akadémiai Kiadó ARISTOTELES (1982): Poetik. Griechisch und Deutsch. Übers. und hrsg. von Manfred FUHRMANN. Stuttgart: Philipp Reclam jun.

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Árpád Bernáth

ARISTOTELES (2011): Werke in deutscher Übersetzung. Begr. von Ernst GRUMACH. Hrsg. von Hellmut FLASHAR. Bd. 5. Poetik. Übers. und erl. von Arbogast SCHMITT. 2., durchges. und erg. Aufl. Berlin : Akademie Verl. AUROUX, Sylvain / KOERNER, E.F.K. / NIEDEREHE, Hans-Josef / VERSTEEGH, Kees (Hrsg.) (2000): History of the language sciences: an international handbook on the evolution of the study of language from the beginnings to the present = Geschichte der Sprachwissenschaften: ein internationales Handbuch zur Entwicklung der Sprachforschung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin / New York: de Gruyter (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 18.1.) FREGE, Gottlob (1966): Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Hrsg. von Günther Patzig, 2., durchges. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

Erzsébet Drahota-Szabó Szeged

Realien und Intertextualität Abstract Im Beitrag wird davon ausgegangen, dass kulturell gebundene sprachliche Elemente – Realien genannt – weitgehend über intersubjektive Konnotationen, mental-emotive Werte verfügen. Durch diese sprachlichen Elemente wird das literarische Werk in eine Kultur eingebettet. Da zwischen dem System der Kultur und dem der Sprache ein gegenseitiges Beziehungs- und Bedingungsgefüge besteht, sind die Realien zum Textkorpus einer Kultur zu rechnen, sie fungieren als Prätexte1 in literarischen Werken. Somit lässt sich die Realien-Problematik mit der der Intertextualität verbinden, und im Rahmen der referentiellen Intertextualität untersuchen. Den Ausführungen liegt eine breite Realien-Auffassung zugrunde, sowie eine modifizierte Auffassung der Intertextualität. Auf Grund von literarischen Texten werden die translatorischen Probleme der Lieder als Realien erschlossen, die als Elemente eines kulturell gebundenen kollektiven Textkorpus angesehen werden.

1

Einleitung

Von meiner breiten Realiendefinition ausgehend besteht das Ziel darin, exemplarisch aufzuzeigen, dass die Realien im kulturellen Makrodiskurs als kohärenzbildende Intertextualitätselemente fungieren. In den theoretischen Ausführungen werden vor allem der Begriff der Realien, der Begriff der Kultur und der referentiellen Intertextualität geklärt.2 Im praktischen Teil werden Textanalysen durchgeführt, wobei die zentrale Frage darin besteht, wie Lieder als intertextuelle Elemente

1

Die Termini „Prätext“, „Vortext“ und „Referenztext“ werden hier als Synonyme verwendet. 2 Der theoretische Hintergrund wurde in meiner Monographie mit dem Titel „Realien – Intertextualität – Übersetzung“ ausführlicher dargestellt (vgl. Drahota-Szabó 2013). Lieder als intertextuelle Elemente werden dort nicht behandelt, sondern vor allem RealienPhraseologismen.

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Erzsébet Drahota-Szabó

im AS- und im ZS-Text3 zur Kohäsion des Einzeltextes und zur Kohäsion des kulturellen Makrotextes beitragen bzw. in welchem kulturellen Makrotext der AS- und der ZS-Text integriert sind.

2

Theoretischer Hintergrund

2.1

Zum Begriff der Realien

Die Realienforschungen stehen nach wie vor im Mittelpunkt übersetzungswissenschaftlicher Studien.4 Dabei sind sowohl die Bezeichnungen dieser kulturell gebundenen sprachlichen Einheiten als auch ihre Definitionen verschieden.5 Meine Realien-Auffassung steht der Auffassung von Valló (2000) sehr nahe. Sie rechnet nämlich zu den so genannten kulturellen Realien alle solchen sprachlichen Äußerungen, in denen das spezifische Erlebnis- und Erkenntnis-Material einer gegebenen Kulturgemeinschaft zum Ausdruck kommt, ihre Gegenstände, Begriffe, mentalen, emotiven Schemata, welche im gegebenen kulturellen Kontext über eine spezielle Bedeutung verfügen. (Valló 2000: 45; Übersetzung und Hervorhebung von mir – E. D.-Sz.)

Ich vertrete nach wie vor eine − auch in meinen bisherigen Forschungen konsequent verwendete − breite Realienauffassung: Als Realien betrachte ich die Bezeichnungen für kulturspezifische Gegenstände (z.B. Speisen, Trachten, Währungen, Feste, Möbelstücke, Verkehrsmittel), politisch-gesellschaftliche Institutionen und Begriffe (z.B. Bezeichnungen im Zusammenhang mit der Staatsverwaltung und Nachrichtenübermittlung, mit dem Gesundheitswesen und Handel usw.; Bezeichnungen von sozialen Schichten) und die Eigennamen (Personennamen, geographische Namen usw.), wie auch alle sprachlichen Ausdrücke, die mit der jeweiligen Kultur aufs Engste verknüpft sind (z.B. Berufsbezeichnungen, Titel, Anrede- und Begrüßungsformeln). Realien können auch feste Wendungen sein (Phraseologismen, d.h. Redewendungen, Sprichwörter, geflügelte Worte; Titel von/Zitate aus literarischen Werken; politische Losungen; Ausdrücke der verbalen Aggressivität wie Beschimpfungen und Flüche). Ferner rechne ich auch 3

Die Abkürzung AS steht für Ausgangssprache bzw. ausgangssprachlich, die Abkürzung ZS für Zielsprache bzw. für zielsprachlich. 4 S. z.B. Fodor / Heltai 2012; Heltai 2007; Kujamäki 2004; Lendvai 2007; Mujzer-Varga 2009; Pusztai-Varga 2013; Valló 2000; Vermes 2004. 5 Zu einer zusammenfassenden Darstellung der Realien-Auffassungen in der ungarischen Übersetzungstheorie siehe Lendvai 2005 und Mujzer-Varga 2007.

Realien und Intertextualität

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die Arten der sprachlichen Kreativität hierher, die auf intralinguistischer Bedeutung beruhen. Ich verstehe unter Realien solche sprachlichen Zeichen und Zeichenverbindungen, die in einer bestimmten Epoche für eine bestimmte Gruppe von Zeichenbenutzern – über die Denotation der Zeichen hinaus – einen Zusatzwert, eine Konnotation aufweisen, d.h. in den Mitgliedern der Gruppe – die auch eine ganze Nation sein kann – weitgehend identische bzw. ähnliche Assoziationen hervorrufen können. Zu dieser Relevanz gelangen die Realien dadurch, dass sie mit der Geschichte, mit der gesellschaftlich-politischen Grundordnung, mit der Kunst, mit den Sitten und Bräuchen, kurz: mit dem Leben, mit dem Denken der Mitglieder der Kultur-/Sprachgemeinschaft wesenhaft zusammenhängen.6 2.2

Zum Begriff der Kultur

Wenn Realien als kulturspezifische sprachliche Elemente aufgefasst werden, soll auch der Begriff „Kultur“ definiert werden. Mit Verweis auf Goodenough (1964: 36) meint Valló (2000: 42): die Kultur bedeutet nicht nur die Kultur der Kunst oder die der Verhaltensmuster usw., sondern die Gesamtheit der tief verankerten kognitiven und mentalen Muster (Denken, Wertsystem, Aberglaube usw.), welche sich hinter den vorigen versteckt, diese lenken bzw. sich in ihnen ausdrücken. (Übersetzung von mir – E. D.-Sz.)

Die Realien sind prägnante Ausdrucksformen der kognitiven und mentalen Muster, sie haben sowohl einen rein inhaltlichen Zusatzwert für die Mitglieder der Kulturgemeinschaft als auch einen mentalen Zusatzwert. Die Kultur entsteht durch die Versprachlichung, durch das In-Worte-Fassen der gemeinsam erlebten Welt. Die Kultur ist nach meiner Auffassung als Makrodiskurs, als Textraum aufzufassen, wobei darunter ein Makrotext zu verstehen ist, genauer ein System von Texten, in dem die Realien als intertextuelle Bezüge, als kohärenzbildende Elemente fungieren.7 2.3

Kultur und Intertextualität

Ein wesentliches Merkmal der Kultur als Makrotext besteht in der Intertextualität: Die Intertextualität ist gleichwohl die Grundvoraussetzung als auch die 6

Vgl. Forgács 2004a: 39f.; Forgács 2004b: 192; Forgács 2007a: 378; Forgács 2007b: 135. Blühdorn (2006: 283) spricht von Makrotexten mit unterschiedlichen Komplexitätsstufen und meint: „Auch ganze Kulturen sind Makrotexte“. 7

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Erzsébet Drahota-Szabó

Konsequenz der Kultur. Die Realien als intertextuelle Elemente sind Ausdrucksformen der Gruppenidentität und stellen diese erst her. In der Intertextualität kommt der gemeinsame Gedächtnisraum der zu einer und derselben Kultur gehörenden Menschen zum Ausdruck: Dieser Gedächtnisraum sichert die Systemhaftigkeit der Kultur als Textraum. Die Systemhaftigkeit der Kultur wird auch von Mudersbach (2002: 186f.) in seiner Kultur-Definition betont: „Die Kultur einer Gemeinschaft ist die gemeinsame invariante Funktion aller Kultursysteme in einer Gemeinschaft hinsichtlich der Sinnbewährung und Sinn-Einheitlichkeit“. Diese Sinn-Einheitlichkeit entsteht besonders durch die gemeinsamen, d.h. ähnlich empfundenen, oft emotional beladenen Assoziationen, durch die weitgehend intersubjektiven Konnotationen, welche die Realien hervorrufen. Bei der Auffassung der Kultur schließe ich mich Sager an, der meint, dass „Kultur […] grundsätzlich auf das Prinzip der Intertextualität zurückzuführen“ ist (1997: 110) bzw. „Intertextualität ermöglicht erst Kultur“ (1997: 111). Kulturen seien textuell eingebettet, und die Texte seien miteinander systemhaft vernetzt. Die sprachliche Fixierung der Kultur ist allerdings m. E. nicht allein ein Privileg der Texte im engeren Sinne, denn auch einzelne sprachliche Zeichen können zu dieser Vernetztheit, zur Vertextung der Kultur, zur Entstehung und Abbildung der Kultur, der „zweiten Wirklichkeit“, wesenhaft beitragen.8 Die Realien haben Textfunktion: Sie können „Geschichten“ erzählen. Sehen wir uns ein Beispiel für derartige „Geschichten“ an: (1)

Garaczi 1998: 118; Garaczi 1999b: 227f. ung. Motorosok robognak a Dózsa György úti díszemelvény felé, a Tettek Könyvé-t hozzák. „Ízlelgetitek a jól végzett munka okozta örömet?“ – kérdezi Ilku Pál és Komócsin Zoltán hangulatosan. „Igen, válaszoljuk, Lenin elméjén haladunk előre.“ Ilku Pali és Komócsin Zoli bácsi fáklyával fellobbantják a kandelábert, odajárulnak a megyék küldöttei, hogy elvigyék a forradalom lángját az ország minden szegletébe, jelezve az úttörők tiszteletét a hazátadó kommunisták iránt.

8

Sager (1997: 110) definiert die Kultur (in Anlehnung an Bystrina 1989: 244) als „die in Texten dargestellte und gespeicherte, nach außen verlegte zeichenhafte Manifestation der durch menschliche Kreativität, Imagination und Phantasie erschaffenen zweiten Wirklichkeit“. Die „zweite Wirklichkeit“ wird wie folgt charakterisiert: „(1) Sie hat zeichenhaften Charakter, wird aus Zeichen aufgebaut und in Texten realisiert; (2) diese Texte sind primär narrativ; sie bezeichnen das Geschehene oder sich Ereignende, sie erzählen Geschichten“ (Bystrina 1989: 242, zitiert durch Sager ebenda).

Realien und Intertextualität

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„A dolgozó népért, a hazáért előre!”, a döngő válasz: „Rendületlenül!“9 dt. Polizisten auf Motorrädern donnern die Aufmarschmeile entlang, steuern die Ehrentribüne an, sie überbringen das Buch der außergewöhnlichsten Leistungen ungarischer Werktätiger: »Spürt ihr den süßen Geschmack von eurer Arbeit Früchte?«, fragen die gutgelaunten Apparatschicks Pál Ilku und Zoltán Komócsin. »Ja«, rufen wir, »wir schreiten auf dem Weg Lenins voran.« Onkel Pali Ilku und Onkel Zoli Komócsin entfachen das ewige Feuer mit ihren Fackeln, die Abgesandten der Komitate stellen sich an, um die Flamme der Revolution in sämtliche Ecken des Landes zu befördern und ein Zeichen für die Hochachtung der Pioniere für die heimatgebenden Kommunisten zu setzen. »Für das arbeitende Volk, das Vaterland: Vorwärts!« und die dröhnende Antwort: »Unerschütterlich!«

In der letzten Zeile des Originals „dröhnt“ der Aufruf der ungarischen Pioniere und die darauffolgende Antwort. Dies mag zwar auch in der deutschen Übersetzung klar werden, doch fehlen zwangsläufig die Assoziationen, wenn der Leser10 an der Pionierbewegung nicht beteiligt war. Die Textstelle im Deutschen ist eine wörtliche Übersetzung. Es wäre wohl adäquater gewesen, das Übersetzungsverfahren Äquivalenten-Übersetzung zu verwenden, nämlich die Äquivalente aus dem ehemaligen DDR-Deutschen zu wählen, d.h.: „»Für Frieden und Völkerfreundschaft seid bereit!« Und die dröhnende Antwort: »Immer bereit!«“. Dadurch hätten die Übersetzer Pál Deréky und Andrea Seidler wenigstens für die DDRdeutschen Rezipienten die Möglichkeit gegeben, auch die emotiven Komponenten zu evozieren. Zur Bedeutungskonstitution, d.h. zur Re-Produktion des Textes ist die erlebte Wirklichkeit, der miterlebte kulturelle Gedächtnisraum notwendig, der erlebte kommunikative Rahmen. Wenn das sprachliche Handlungsmuster fehlt, wenn dieser institutionalisierte Sprechakt im semantischen Gedächtnis, im mentalen Lexikon des Rezipienten als kollektives Handlungsschema11 nicht modelliert vorhanden ist, so kommt es bei ihm zu Rezeptionsverlusten, da er den Aufruf der Pioniere als intertextuelles Element, d.h. „die Geschichte“, nicht „neu-erleben“ kann. 9

Die Hervorhebungen in den Textbelegen durch Fettdruck stammen hier und des Weiteren von mir − E. D.-Sz. 10 Im Beitrag wird das generische Maskulinum verwendet – weibliche Personen werden immer mitgemeint. 11 Zum „Schema“ s. Knapp et. al. 2007: 630: „Kognitive Organisationsstruktur für die Wahrnehmung, Kategorisierung, Interpretation, Bewertung oder Erklärung von Gegenständen, Sachverhalten und Erfahrungen, auch für das Verstehen und die Produktion von Texten, Äußerungen und ganzen Gesprächstypen“.

50 2.4

Erzsébet Drahota-Szabó Zu den Intertextualitätskonzepten

Um die Realien als Intertextualitätselemente untersuchen zu können, muss auch der Begriff „Intertextualität“ geklärt werden. Da für uns hier die typologische Intertextualität nicht von Belang ist, wird des Weiteren mit Intertextualität die referentielle Intertextualität gemeint. Doch muss die Auffassung, nach der referentielle Intertextualität darin besteht, dass ein Textexemplar mit einem anderen Textexemplar in Beziehung steht, modifiziert und erweitert werden, um den Realien im Textgefecht der Kultur einen Platz einzuräumen. Um ein geeignetes, für die Realienforschung überhaupt praktikables Intertextualitätskonzept zu erarbeiten oder wenigstens zu skizzieren, habe ich einige, in diesem Zusammenhang relevante Intertextualitätskonzepte auf ihre Verwendbarkeit hin untersucht. Tegtmeyer (1997: 50) unterscheidet globale und lokale Textbegriffe bzw. globale und lokale Intertextualitätskonzepte. Zu der einen Extremposition gehört Julia Kristeva (1967), die − ausgegangen von Michail Bachtins DialogizitätsKonzept − ein globalisiertes Text- und Intertextualitätskonzept vertritt, wobei Text und Kultur als Synonyme betrachtet werden: Man operiert nicht mit Einzeltexten, sondern mit einem Universum von Texten. Eine derartig globale, entgrenzte Textauffassung will ich nicht vertreten, doch lässt sich ihr Gedanke, nach dem Kulturen als Zusammenhänge von Texten anzusehen sind, mit meinen Ausführungen soweit verbinden, dass ich davon ausgehe, dass die sprachlichen Zeichen, abhängig von ihrer Relation zur außersprachlichen Wirklichkeit, also abhängig davon, wieweit sie eine wirklichkeitsabbildende Funktion oder eben eine wirklichkeitsschaffende Kraft haben, in der Konstitution der Einzeltexte sowie auch in der Konstitution der Kultur als Textraum jeweils andere Funktionen haben. Die Realien, auch wenn sie bloß Einzellexeme oder Wortverbindungen, d.h. nicht Texte im engeren Sinne sind, erfüllen bei der Textkonstitution solche Aufgaben wie die Prätexte, da sie die präsupponierten Vorkenntnisse der Mitglieder einer und derselben Kultur − im Idealfall mindestens – aktivieren. Besonders bei den Texten, die prägnant in einen kulturellen Kontext eingebettet sind, sollen wir mit einem dynamischen Textbegriff arbeiten, sowohl von der Produktions- als auch – und besonders − von der Rezeptionsseite her. Die Texte, die Realien als intertextuelle Bezüge enthalten, erfordern eine besondere Rezeptionshaltung − da werden das assoziative, das kulturelle, das kollokative und das enzyklopädische Netz des mentalen Lexikons des Rezipienten in Gang gesetzt, und abhängig von der Ausgeprägtheit dieser Netze beim Rezipienten wird der Text re-konstruiert.12

12

Zum mentalen Lexikon s. Kovács 2011.

Realien und Intertextualität

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Linke und Nussbaumer (1997: 114ff.) suchen Angelpunkte zwischen dem radikalen Intertextualitäts-Konzept und der modernen Textlinguistik, und zwar auf Grund der drei zentralen Begriffe: „Text“, „Autor“ und „Leser“. In Bezug auf den Text heben sie (1997: 114) hervor, dass nach der radikalen Konzeption Texte Prozesse seien, also Erfahrungen, d.h. „Texte werden von Produzenten gedacht und von Rezipienten nach-gedacht“. Nach ihrem Intertextualitätskonzept spielen der Autor und noch mehr der Leser die Hauptrolle: Im Schreibprozess […] entsteht ein Sinn, der potentiell an das gesamte Text- und Weltwissen des Autors bzw. der Autorin anknüpft und dieses − so würden wir auf „Textlinguistisch“ sagen − immer latent „mitmeint“. Spiegelbildlich dazu ist der Leseprozess […] ein produktiver Akt, der einen Sinn, und damit den Text, erst herstellt, ebenfalls unter potentiellem Einbezug des gesamten Text- und Weltwissens der jeweils Lesenden. (Linke / Nussbaumer 1997: 113; Hervorhebung von mir − E. D.-Sz.)

2.5

Realien und Intertextualität

Der obige Gedankengang führt zu einem dynamischen Textverständnis (s. Linke / Nussbaumer 1997: 119). Die Sinngebung im Leseprozess, und damit die Intention-Verleihung von Seiten der Rezipienten ist allerdings keineswegs beliebig. Das hat laut Linke und Nussbaumer (1997: 123) einerseits den Grund, dass der Leser sozial, kulturell und epochal geprägt ist, andererseits den Grund, dass der Text selbst seine Sinn-Strukturierung (für die Leser) einschränkt. Die sozial-kulturell-epochal geprägte Sinn-Strukturierung, und in Folge davon ihre weitgehende Intersubjektivität soll an einem Textbeispiel verdeutlicht werden. Der Textbeleg wurde einer längeren Textpassage entnommen, die keinen kohärenten Text darstellt, denn es ist eine Montage aus unterschiedlichen Radiosendungen, d.h. aus Werbetexten, aus Nachrichten, aus Programmangeboten usw., die man im ungarischen Radio in den 50er, 60er und 70er Jahren hören konnte (ausführlicher dazu s. Forgács 2007a: 345ff.). Eine Art Kohärenz kann vom Rezipienten nur auf dieser Basis re-konstruiert werden. Somit hat der Text eine ausgeprägte kulturelle und epochale Einbettung. Der Text besteht beinahe nur aus Realienbezeichnungen. Hier soll nur auf die Textstelle eingegangen werden: (2)

Garaczi 1995: 50f.; Garaczi 1999a: 55 ung. Dögei Imre, földművelődésügyi miniszter. Kádár, apró, dögei. dt. Der Landwirtschaftsminister Imre Biest. Antal Klein, der Erste Stellvertreter des Präsidenten des Ministerrates, Kádárs, Kleine, Biester.

52

Erzsébet Drahota-Szabó

Der Textausschnitt enthält drei motivierte, so genannte sprechende Namen. Kádár ist als Gattungsname eine Berufsbezeichnung (dt. Böttcher/Fassbinder). Dieser Name wurde meines Erachtens aus zwei Gründen nicht übersetzt: Der Name von János Kádár, der zwischen 1956 und 1988, d.h. bis zur politischen Wende, der erste Sekretär der MSZMP, der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, war, mag auch für die älteren deutschen Leser bekannt sein, denn die oben genannte Partei war die einzige Partei in Ungarn. Bei Apró Antal finden wir in der Übersetzung sogar eine Explikation zu seiner Funktion in der Partei. Seinem Namen als Gattungsnamen entspricht im Deutschen das Wort klein. Auch der Name des Landwirtschaftsministers Dögei wird als Gattungsname übertragen, seine Morphemstruktur ist in der Wendung: dög (Stamm-Morphem; dt. Biest) + -e (Besitzzeichen; etwa wie im Deutschen das Possessivpronomen sein) + i (Pluralzeichen des Besitzes). Sprechende Namen werden in einem politischen Diskurs nicht übersetzt, hier handelt es sich aber um ein Sprachspiel. Im ungarischen Original werden die Namen (außer Kádár) kleingeschrieben, da die Namen remotiviert werden: In den 50er Jahren, genauer nach der Niederschlagung der Revolution im Jahre 1956, konnte man die drei Namen ständig zusammen und in dieser Reihenfolge hören. Dadurch sind sie zu einer festen Wortverbindung geworden, was die Remotivation, genauer eine doppelte Deutung, d.h. auch diese Lesart ermöglichte: ,die kleinen Biester von Kádár‘. Durch die Übersetzung der sprechenden Namen haben die Übersetzer das Sprachspiel auch in den Zieltext hinübergerettet, doch ist die Rezeption der ungarischen und der deutschen Leser, ihre Sinngebung im Leseprozess – auf Grund ihrer sozialen, kulturellen und epochalen Geprägtheit – zwangsläufig verschieden. Es ist fraglich, inwieweit der zielsprachliche, d.h. der deutsche Leser, die obige Textpassage im Makrokosmos der Texte, im Makrodiskurs integrativ zu rezipieren fähig ist, d.h. das kulturell gebundene intertextuelle Element identifizieren kann.

3

Lieder als intertextuelle Elemente

Des Weiteren geht es um Lieder als eine Gruppe der weit aufgefassten Realien, um solche kulturspezifischen sprachlichen Elemente, welche durch ihre emotiven Zusatzwerte, durch ihre Konnotationen besonders geeignet sind, in den Lesern eine Assoziationskette in Gang zu setzen. Unter Assoziation verstehe ich mentale Verknüpfungen von Vorstellungen, Wissensbeständen und Emotionen.13 13

Diese Auffassung korreliert mit der Auffassung, nach der Konnotationen „Unterschiedliche bewertende Assoziationen [sind], die ein Wort bei unterschiedlichen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft auslöst“ (Knapp et. al. 2007: 626).

Realien und Intertextualität

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In dieser Art der Intertextualität kommt das bereits thematisierte „spezifische Erlebnis- und Erkenntnis-Material einer gegebenen Kulturgemeinschaft“ deutlich zum Ausdruck bzw. „die mentalen, emotiven Schemata“ (Valló 2000: 45) sind ebenfalls greifbar. Der Grund dafür ist, dass Lieder bimodal sind: Die Liedtexte sind mit der Melodie aufs Engste verbunden. Eine Zeile – manchmal sogar ein einzelnes Wort – evoziert nicht nur den Liedtext, sondern auch die Melodie, und nichts anderes kann besser Gefühle ausdrücken und wecken als die Musik. Hier treten also nicht nur die verbalen Textelemente, sondern auch die mit ihnen verknüpften Melodien als intertextuelle Elemente auf – beide sind elementare Teile des kulturellen Makrodiskurses. Durch die Melodie haftet auch der Text tiefer und fester im Gedächtnis bzw. auch wenn der Text ganz oder teilweise vergessen wird, wird an die Melodie vielfach erinnert. Die Lieder sind besonders gut geeignet, die gemeinsam erlebte Kultur zu versprachlichen bzw. zu versinnlichen.

4

Terézia Mora und die Lieder

Als Korpus für die weiteren Untersuchungen dient die Erzählung „Die Sanduhr“ von Terézia Mora aus ihrem Band „Seltsame Materie“ (1999) bzw. deren Übersetzung ins Ungarische von Erzsébet Rácz („Homokóra“, in: „Különös anyag“, 2001). Terézia Mora ist eine sowohl in Ungarn als auch in Deutschland bekannte, mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnete Schriftstellerin und Übersetzerin. Die Bikulturalität14 und der Bilingualismus spiegeln sich auch in ihren Werken wider, so auch in den Erzählungen des Bandes „Seltsame Materie“. Über ihre Sprache ist bekannt, dass ihre deutschen Texte oft als Spiegelübersetzungen von ungarischen „Mustern“ entstanden sind. Im Zusammenhang mit dem genannten Band von Mora sagt Szabó (2001): Die zahlreichen Rezensionen und Kritiken über den Band durchblätternd fällt einem schnell auf, dass die Mehrheit der deutschen Kritiker die Eigentümlichkeit von Moras Erzählungen neben den realen (ungarischen / bibliographischen) Bezügen der erzählten Geschichten in der neuen, ungewöhnlichen Bildlichkeit, in der starken Metaphorik sehen. Die Frage, woraus diese – aus rezeptionsästhetischer Sicht formulierte – Neuartigkeit der Bilder resultiert, beleuchtet Mora selbst des Öfteren: Was in der deutschen Sprache neuartig, deviant ist, ist im Ungarischen gar nicht so; die Bilder, die zwar auch ins System der deutschen Sprache hinein14

Unter „bikulturell“ verstehe ich, dass jemand seine doppelte kulturelle Kompetenz nicht nur durch „kulturelles Beobachten“, sondern (auch) durch „kulturelles Beteiligtsein“ entwickelt hat. (Siehe dazu Wilss 1992: 38ff.)

54

Erzsébet Drahota-Szabó passen, haben für den deutschen Leser doch einen ungewöhnlichen, fremden Effekt, das sind nämlich Übersetzungen, Spiegelübersetzungen der mehr oder weniger bekannten Bilder und des Zitatkanons der ungarischen Lyrik. (Übersetzung von mir – E. D.-Sz.)

Somit kann mit Bezug auf die „in-deutscher-Sprache-auf-Ungarisch“ geschriebenen Texte von Mora die Frage gestellt werden, was für eine sprachliche und kulturelle Intertextualität diese Texte aufweisen, ob ihre deutschsprachigen Texte tatsächlich „ungarische Texte“ sind. Aus welcher Sprache „über-setzt“ die Schriftstellerin in welche Sprache und wie geht die Übersetzerin Erzsébet Rácz vor, d.h. in welchem kulturellen Kontext sind die beiden Texte platziert? Diese Frage spricht die ewige Dichotomie der Übersetzung an, die Wahl zwischen Domestikation und Verfremdung.15 Ich stelle zur Diskussion, was Szabó (2004) über die Übersetzung des ganzen Erzählbandes sagt. Sie meint (2004: 128f.), dass die Mehrheit der Erzählungen auf Ungarisch „nicht funktioniert“, und daran sei die Übersetzerin, d.h. Erzsébet Rácz schuld. Szabó (2004: 128) bemängelt, dass die Übersetzerin jedes einzelne ungarische sprachliche Bild ins Ungarische zurückübersetzt und wirft der Übersetzerin vor, dass die Erzählung dadurch „ihre doppelte sprachliche Determiniertheit“ verliere (2004: 128f.). Die summierende Meinung von Szabó lautet (2004: 129): [Wir können] mit Recht sagen, dass die Eigenart von Terézia Moras Werken aus der Zweisprachigkeit der Autorin resultiert. Die Erzählungen von Mora sind meisterhaft komponiert, lauten gleichzeitig auf zwei Sprachen, auf Deutsch und auf Ungarisch, und […] sie sind gleichzeitig in zwei Traditionen, in die deutsche und in die ungarische literarische Tradition eingebettet. Sobald aber von diesen zwei Sprachen die eine „verlorengeht“, verlieren auch die Texte ihre doppelte Zugehörigkeit, und damit auch ihre einmalige Wirkung. (Übersetzung von mir – E. D.-Sz.)

Des Weiteren untersuche ich diese Zweischichtigkeit, diese doppelte sprachlichkulturelle Determiniertheit. Die Frage ist, ob die Erzählung „Die Sanduhr“ von Terézia Mora gleichzeitig auf zwei Sprachen, d.h. auf Deutsch und auf Ungarisch „lautet“, ob der Text gleichzeitig in zwei Traditionen, d.h. in die deutsche und in die ungarische literarische Tradition passt. Der Frage wird auf Grund der 15

Vgl. Lendvai (2007: 125): „Translation tactics comprises choices between domestication (assimilating specific source language features to target ones) and foreignization (emphasizing source language features)“. Zu den Übersetzungsverfahren s. z.B. Koller 2011: 235ff.; Kujamäki 2004: 921ff.; Mujzer-Varga 2009: 82ff.; Pusztai-Varga 2013: 81ff.

Realien und Intertextualität

55

Lieder nachgegangen, welche die beiden Texte als Intertextualitäts-Elemente enthalten.16 4.1

„Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und die Dörfer …“

Die nächste Passage aus der ungarischen Übersetzung bezieht sich eindeutig auf ein ungarisches Pionierlied: (3)

Mora 2001: 147 A teremben, ahol énekelek, nincs gyümölcs. Néha a hűlt helyére pillantok. Csak néhány fonnyadt levél. Kalásza, virága nékünk terem. Énekelem a mikrofonba. Szoprán.

Die erste Strophe bzw. der Refrain des Liedes lautet:17 (4)

Pajtás, daloljunk szép magyar hazánkról, Itt ringott bölcsőnk, itt nevelt anyánk. Zengjen dalunk a széles rónaságról, Mely a bőség kincsét ontja ránk.

16

[Kamerad, singen wir über unsere schöne ungarische Heimat, Hier schaukelte unsere Wiege, hier erzog uns unsere Mutter. Unser Lied soll über das weite Flachland tönen, Welches uns mit Schatz in Hülle und Fülle überschüttet.

Vgl. dazu Propszt (2012: 91): „Im Text sind im Übrigen viele, ursprünglich ungarische, deutsche, französische und italienische Texte von Schlagern, Kinder- bzw. Pionierliedern, Weihnachtsliedern usw. präsent – Texte von Liedern, die das Mädchen, das erzählt, bei seinen Auftritten in Kulturhäusern, Fabriken und Altersheimen, aber auch zu Hause, mit seiner Schwester und Mutter, singt. Die Liedtexte gewähren Einblick in die psychische Situation der Figuren und kommentieren das Geschehen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ringelreihen weisen auf das sich im Kreis bewegende, aussichtslose Leben der Familie hin, und werden dort zitiert, wo die analytische Fähigkeit der Figuren versagt, so ersetzen sie an einigen Stellen die Figurenkommentare. Alle Liedtexte können wohl nur wenige Leser rekonstruieren, als „ideale Leser“ haben deutsch lesende Ungarn mit Pioniervergangenheit jedoch einen eindeutigen Vorteil.“ In meinen Betrachtungen werden nur die ungarischen und die deutschen Lieder beachtet. Die französischen und italienischen Lieder wurden in die ungarische Übersetzung unverändert übernommen. Bei den Zitaten aus der Erzählung werden nur die Seitenzahlen angegeben. 17 Die wörtlich-sinngemäße Übersetzung in eckigen Klammern stammt hier und des Weiteren von mir – E. D.-Sz.

56

Erzsébet Drahota-Szabó Miénk e föld, erdő, mező, Kalásza, virága nékünk terem. Pajtás, daloljunk szép magyar hazánkról, S az ének szálljon völgyön és hegyen.

Uns gehört diese Erde, dieser Wald, diese Wiese, Ihre Ähren und Blumen gedeihen für uns. Kamerad, singen wir über unsere schöne ungarische Heimat, Und das Lied soll durch Täler und Berge schallen.]

Hier ist allerdings das Lied im deutschen Text nicht die Spiegelübersetzung des ungarischen Pionierliedes: (5)

Mora 1999: 189 Ich singe in einem Raum ohne Frucht. Manchmal schaue ich zu der Stelle, wo sie war. Nur noch welke Blätter. Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und die Dörfer. Ich singe ins Mikrofon. Sopran.

Die hervorgehobene Zeile ist ein Zitat aus dem berühmten DDR-Lied der ErnstThälmann-Pionierbewegung. Der Text stammt von Herbert Keller, die Melodie von Hans Naumilkat. Das Lied ist auch im Film Goodbye Lenin! mehrmals zu hören: (6)

Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, unsere Heimat sind auch all die Bäume im Wald. Unsere Heimat ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde und die Fische im Fluss sind unsere Heimat. Und wir lieben die Heimat, die schöne und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.

Dieses Beispiel zeigt, dass die deutschsprachigen Texte von Mora nicht nur von Deutsch sprechenden Ungarn „verstanden“ werden können. Aus übersetzerischer Sicht geht es um das Verfahren der Adaptation. Darunter wird ein Verfahren zur kulturellen Anpassung verstanden, wobei der AS-Ausdruck durch einen ZS-Ausdruck ersetzt wird, der im kommunikativen Zusammenhang der Zielkultur eine vergleichbare Funktion hat.

Realien und Intertextualität 4.2

57

„Ich sitze in meinem Zimmer, traurig und allein …“

Der Titel der Erzählung, „Die Sanduhr“ bzw. in der Übersetzung „Homokóra“ als Prätext „rieselt“ mit den Zitaten aus dem in den 70er Jahren bekannt gewordenen ungarischen Schlager durch die ganze Erzählung: (7)

Mora 1999: 191, 192; Mora 2001: 148, 149 dt. Ich sitze in meinem Zimmer, traurig und allein, und denke daran, wie es früher war. ung. Ülök a szobámban, búsan, egyedül, és a fájó múltra gondolok.

(8)

Mora 1999: 192; Mora 2001: 149 dt. Draußen in den Straßen wird es langsam hell, und die Sanduhr bleibt und bleibt nicht stehen. ung. Odakünn az utcán lassan feldereng, és az órán pereg a homok.

(9)

Mora 1999: 198; Mora 2001: 155 dt. Ich möcht so gern die Zeit anhalten, den Sandfluß in der Uhr. ung. Szeretném a homokórát megállítani, szeretném az emlékeim elfelejteni.

(10)

Mora 1999: 199; Mora 2001: 155 dt. Ich möchte so gern die Zeit anhalten. ung. Szeretném a homokórát megállítani.

(11)

Mora 1999: 199; Mora 2001: 155 dt. Ich wünschte, ich wüßte nicht mehr, wie es damals war. ung. Szeretném az emlékeim elfelejteni.

Durch das wiederholte Vorkommen dieses Liedes als Referenztext ist auch im deutschen Original ein ungarischer Gedächtnisraum gegenwärtig. Zur Funktion dieses Liedes sagt Propszt (2012: 92f.):

58

Erzsébet Drahota-Szabó Ersichtlich ist, dass die Konnotation von Sanduhr als „selbständiger“ Text auch dadurch eine Bedeutungskomplexion erzielt, dass in dem Schlager mit der Sanduhr ein Gedächtnisraum entworfen wird: der Text rekonstruiert die fundamentale Operation der Gedächtnisarbeit, nämlich die Findung von Gedächtnisorten (die Gläser der Sanduhr) bzw. die Transposition des Erinnerungsgegenstandes in seinen Bildvertreter (in Sandkörner).

Der deutsche Leser des deutschen Textes wird in seiner Rezeption dann weniger benachteiligt, wenn er das Lied von Ilse Werner assoziiert. Die zu den sozialistischen Zeiten gut bekannte Schauspielerin und Sängerin hatte nämlich ebenfalls einen Schlager im Jahre 1986, der auf die Symbolik der Sanduhr beruht: „Die Sanduhr des Lebens“. 4.3

„Komm, ich will dich mit Lust umfassen …“ − „Ich bete an die Macht der Liebe …“

Die nächste Textstelle enthält sogar zwei Referenztexte: (12)

Mora 1999: 195; Mora 2001: 151f. dt. Der Schuster sitzt, wie jeden Sonntag, auf seinem kleinen Holzstuhl vor unserem Haus und spielt das Horn. Am schönsten spielt er Il Silencio. Aber er spielt auch Komm, ich will dich mit Lust umfassen und Ich bete an die Macht der Liebe. ung. A házunk előtt ül, mint minden vasárnap, a kissámliján és kürtöl. A legszebben az Il Silenció-t játssza. De olyanokat is játszik, hogy Gyere, bújj kedves mellém, vagy hogy A hatalmas szerelemnek.

Der ungarische Leser assoziiert als erstes Lied den Schlager der Band Fonográf: „Jöjj kedvesem“ [Komm, meine Liebste]: (13)

Jöjj kedvesem, gyere, bújj ide mellém, Szeress most úgy, ahogy rég. Jöjj kedvesem, gyere, bújj ide mellém, Ölelj meg úgy, ahogy rég.

[Komm, meine Liebste, komm, schmiege dich an mich an, Lieb mich jetzt so, wie einst. Komm, meine Liebste, komm, schmiege dich an mich an, Umarme mich so, wie einst.]

Das andere Lied ist ein Liebesgedicht des ungarischen Dichters Mihály Csokonai Vitéz: „Tartózkodó kérelem“ [Behutsame Bitte]:

Realien und Intertextualität (14)

A hatalmas szerelemnek Megemésztő tüze bánt. Te lehetsz írja sebemnek, Gyönyörű kis tulipánt!

59

[Die quälende Flamme Der mächtigen Liebe zehrt an mir. Du kannst die Salbe für meine Wunde sein, Du wunderschöne kleine Tulpe!]

Der deutsche Originaltext enthält deutsche Vortexte: Die Zeile „Komm, ich will dich mit Lust umfassen“ ist ein Zitat aus einem Bach-Oratorium. Die Zeile „Ich bete an die Macht der Liebe“ ist der Titel und zugleich der Anfang eines deutschen Kirchenliedes aus dem 18. Jahrhundert, das Thema ist dabei die Gottesliebe. Erzsébet Rácz hat in der Übersetzung adaptiert, d.h. den ungarischen ZS-Text in den ungarischen Intertextualitäts-Raum integriert. 4.4

„Jahre vergehn unter sonnigen Bäumen …“

Diese Textstelle veranschaulicht, dass der deutschsprachige Leser für die Rezeption tatsächlich über ein ungarisches kulturelles Hintergrundwissen verfügen sollte: (15)

Mora 1999: 197; Mora 2001: 153 dt. Jahre vergehn unter sonnigen Bäumen. Ich singe den Rentnern, ich singe dem Schuster vor. Seidenfadendünner Sopran. Wie schön, sagt der Schuster. ung. Évek szállanak a nyári fák alatt. A nyugdíjasoknak, a suszternak énekelek. Selyemszál szoprán. Milyen szép, mondja a suszter.

Die hervorgehobene Zeile stammt aus dem Refrain eines bekannten ungarischen Pionierliedes: (16)

Mint a mókus fenn a fán, Az úttörő oly vidám, Ajkáról ki sem fogy a nóta. Ha tábort üt valahol, Sok kis pajtás így dalol, Fújja estig kora reggel óta. Évek szállanak a nyári fák alatt, Oly vidám az ének. Boldog dallama így önti dalba ma: Csuda jó, gyönyörű az élet.

[Wie das Eichhörnchen oben im Baum, So fröhlich ist der Pionier, Von seinen Lippen geht das Lied nie aus. Wenn er irgendwo ein Lager bezieht, Viele Kameraden singen so, Trillern bis abends von früh morgens. Jahre vergehen unter sonnigen Bäumen, So fröhlich ist das Lied, Seine glückliche Melodie füllt heute das Lied: Oh wie toll, wunderschön ist das Leben.]

60 4.5

Erzsébet Drahota-Szabó „Das Radio ist an.“

Der ungarische Leser, der sehr „bewusst“ liest, d.h. die intertextuellen Elemente sucht, kann die nächste Textstelle mit dem bekannten Lied der ungarischen Band LGT aus dem Jahre 1977 von ihrem Album „Mindenki másképp csinálja“ [Alle machen das anders] assoziieren. Die hervorgehobene Textstelle ist der Refrain dieses Schlagers: „Szól a rádió, szól a rádió“ [Das Radio ist an / oder wörtlich: das Radio tönt]. (17)

Mora 1999: 197; Mora 2001: 153 dt. An den Wochenenden sind wir allein. Das Radio ist an. ung. Hétköznap esténként egyedül vagyunk. Szól a rádió.

Ich habe Terézia Mora gefragt, ob sie tatsächlich an den obigen ungarischen Schlager gedacht hat, als sie ihren deutschsprachigen Text verfasst hat, oder „an nichts Besonderes“. Ihre Antwort ist: Doch habe ich an etwas Bestimmtes gedacht. Ich habe an den LGT-Schlager gedacht. Nur der deutsche Leser kann damit nichts anfangen. Das heißt: das geht verloren. Mir würde hier auch kein deutscher Schlager einfallen, den man hier integrieren könnte. Ich kann von der Übersetzerin Unmögliches nicht erwarten.18

4.6

„Im Gefängnis scheint keine Sonne …“

Das eine ungarische Lied, das den Gemütszustand der Figuren am besten ausdrückt, ist das Folgende: (18)

Mora 1999: 197; Mora 2001: 153 dt. Anniña mit dem Holzlöffel kocht und summt. Im Gefängnis scheint keine Sonne, in mein Zimmer fällt kein Licht. Jahr um Jahr fliegt vorüber und ist nicht mehr als ein Augenblick. ung. Anniña kezében fakanállal főz és dúdol. A börtön ablakába, soha nem süt be a nap. Az évek tovaszállnak, mint egy múló pillanat.

18

Dieses Zitat und die folgenden Zitate von Mora stammen aus mehrmaligem E-MailWechsel zwischen der Autorin und mir, geführt in ungarischer Sprache. Die Übersetzungen und die Hervorhebungen sind von mir – E. D.-Sz.

Realien und Intertextualität

61

Propszt (2012: 93) hat Recht, wenn sie sagt: In diesem Falle können diejenigen Leser die Zusatzkodierung, die der integrierte Schlager leistet, rekonstruieren, die den Kontext rekonstruieren können, in dem das Lied in den 1970er und 1980er Jahren gesungen wurde; die daher wissen, dass es sozusagen eine Hymne der Mädcheninternate war.19

An dieser Stelle weist der deutsche Text wieder einen ungarischen Gedächtnisraum auf. Die ungarische Übersetzung ist ein wörtliches Zitat aus dem ungarischen Lied. 4.7

„Ausgerechnet Bananen …“

In der nächsten Passage des deutschen Originals wird der deutsche Schlager mit dem Titel „Ausgerechnet Bananen“ zitiert. Der englische Originaltext mit dem Titel „Yes! We have no bananas“ stammt aus dem Jahre 1923 und wurde von den amerikanischen Musikern Frank Silver und Irving Cohn verfasst. Den deutschen Text, der bereits in vielen Adaptationen gesungen wird, hat der österreichische Librettist und Schlagertexter Fritz Löhner-Beda geschrieben. (19)

Mora 1999: 200; Mora 2001: 156 dt. Ausgerechnet Bananen verlangt sie von mir, trällere ich. Nur das Motorheulen begleitet mein Singen. ung. Citrom ízű banán, lallázom. Dalomat csak a motorzúgás kíséri.

Erzsébet Rácz verwendet in der Übersetzung wieder das Verfahren der Adaptation: Der ZS-Text wird in die Zielkultur eingebettet, wodurch eine kulturelle Assimilation stattfindet. Das deutsche Lied wird durch ein bekanntes Lied der ungarischen Band „Metró“ aus dem Jahre 1969 substituiert, nämlich durch das Lied mit dem Titel „Citromízű banán“ [Banane mit Zitronengeschmack]. Den Text hat Sztevanovity Dusán geschrieben, die Melodie stammt von Frenreisz Károly. Der zweite Refrain lautet: (20)

Citromízű banán nincs a banánfán, nem kell senkinek ilyen találmány.

19

[Banane mit Zitronengeschmack gibt es nicht am Bananenbaum, niemand braucht solch eine Erfindung.

Zur wörtlichen Übersetzung des Liedtextes s. Propszt ebenda.

62

Erzsébet Drahota-Szabó Amíg ilyen banán nem nő banánfán, addig ne nézzél szomorúan rám.

4.8

Bis solch eine Banane am Bananenbaum nicht wächst, sollst du mich nicht traurig anschauen.]

„O wunderbare, geheimnisvolle Nacht …“

Auf die folgende Textstelle trifft zu, dass wir im deutschen Original eine Rückübersetzung aus dem Ungarischen vorfinden: (21)

Mora 1999: 201; Mora 2001: 157 dt. O wunderbare, geheimnisvolle Nacht. Freitag ist Auftrittstag. Die Wand im Rentnerheim ist mit Ölfarbe gestrichen. ung. Ó gyönyörű szép, titokzatos éj. Pénteken fellépés. A nyugdíjas otthon falát olajfestékkel mázolták ki.

Der ungarische Leser assoziiert das folgende Weihnachtslied: (22)

Ó gyönyörűszép, titokzatos éj, Égszemű gyermek, csöpp rózsalevél. Kisdedként az édes Úr Jászolában megsimul Szent karácsony éjjel.

4.9

[O du wunderbare, geheimnisvolle Nacht, Kind mit Himmel-Augen, winziges Rosenblatt. In der Krippe des lieben Herrn Als Kindlein ruht es In der heiligen Weihnachtsnacht.]

„’s ist ein Ros’ entsprungen …“

In der nächsten Passage haben wir im Original ein deutsches, in der Übersetzung ein ungarisches Intertextualitäts-Element: (23)

Mora 1999: 201; Mora 2001: 157 dt. In der ersten Reihe hält eine alte Frau Alpenveilchen in einem kleinen Topf. Der Topf ist mit Silberpapier umwickelt. Die Zyklamenköpfe nicken zu mir. Es gibt in den Kastanienwäldern und sogar im Wappen unserer Stadt. ’s ist ein Ros’ entsprungen. Die alten Frauen klatschen. ung. Az első sorban egy öreg néni kis cserepet fog a kezében, benne ciklámen. A cserepet ezüstpapírba csavarták. Bólogatva köszöntenek a ciklámenfejek. Megta-

Realien und Intertextualität

63

lálhatóak a gesztenyeerdőkben, sőt még városunk címerében is. Kinyílott a rózsa. Tapsolnak az öreg nénik.

Die Wortverbindung „kinyílott a rózsa“ ruft ein ungarisches Lied im Gedächtnis der ungarischen Leser hervor: (24)

Kinyílt a rózsa, Hajlik az ága, Nincsen aki leszakítsa, Csak úgy hervad rajta.20

[Die Rose ist erblüht, Ihr Zweig biegt sich, Es gibt niemanden, der sie abreißt, Sie verwelkt nur darauf.]

Aber auch im deutschen Text ist die hervorgehobene Zeile ein Prätext: Titel und Anfang eines kirchlichen Liedes aus dem 16. Jahrhundert, das auch heute noch bekannt ist und besonders zu Weihnachten zu hören ist: (25)

Es ist ein Ros entsprungen Aus einer Wurzel zart. Wie uns die Alten sungen, Aus Jesse kam die Art Und hat ein Blümlein bracht, Mitten im kalten Winter, Wohl zu der halben Nacht.

5

Abschluss

In der Textanalyse wurde der Frage nachgegangen, ob es auch in diesem Fall wahr ist, was über Terézia Moras Texte im Allgemeinen behauptet wird. Die bilinguale und bikulturelle Autorin verwendet nämlich auch in ihren deutschsprachigen Texten verfremdete-verfremdende Elemente, die als Spiegelübersetzungen von ungarischen sprachlichen Gebilden betrachtet werden können. Die quantitativen Daten der Analyse haben Folgendes ergeben: In beiden Texten kommen Lieder als intertextuelle Elemente 17-mal vor. Im deutschen Original konnten 5 deutsche Lieder als Prätexte identifiziert werden. Da ein deutsches Lied 2-mal vorkommt, sind das insgesamt 6 Vorkommen. Die Zahl der ungarischen Lieder als Prätexte beträgt im deutschen Text ebenfalls 5, da aber das Lied „Homokóra“ („Die Sanduhr“) 7-mal als Prätext fungiert, ist die Zahl der Vorkommen der ungarischen Lieder insgesamt 11. Die Verallgemeinerung, nach der die deutschen 20

Die Gesangwettbewerbe hatten auch oft diesen Titel, so auch der im Jahre 1984 veranstaltete berühmte Wettbewerb „Nyílik a rózsa“.

64

Erzsébet Drahota-Szabó

Texte von Terézia Mora „auf Ungarisch klingen“, stimmt hier nicht ganz. Der Leser des deutschen Originaltextes ist solch ein „idealer“ Leser, der die Pionierbewegung erlebt hat. Er ist also ein Leser aus der ehemaligen DDR. Wenn dieser „ideale Leser“ auch noch über ungarische kulturelle Hintergrundkenntnisse verfügt, kann er auch die ungarischen intertextuellen Elemente dekodieren. Was den ungarischen, Deutsch sprechenden bzw. lesenden Rezipienten betrifft, erleidet er zwangsläufig Rezeptionsverluste, wenn er sich im deutschen Textraum nicht auskennt. Es ist eine banale Feststellung, doch wahr: Der ideale Leser des deutschen Textes ist bilingual und bikulturell. Wenn dies der Fall ist, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass Produzenten-Intertextualität und Rezipienten-Intertextualität (beinahe) übereinstimmen.21 Die ungarische Übersetzung von Erzsébet Rácz zeigt die Merkmale der hybriden Sprache nicht auf: Hier sind 10 ungarische Lieder als Prätexte eingebettet. Ein Lied kommt 2-mal vor, das Lied „Homokóra“ fungiert 7-mal als Prätext. Die Zahl der Vorkommen der ungarischen Lieder ist somit 17. Im ungarischen Text kommt kein deutsches Lied als Prätext vor. Wohl deshalb bewertet Terézia Mora die Übersetzung wie folgt: Ich meine auch, man hätte den Text so übersetzen sollen, dass man in der ungarischen Übersetzung deutsche idiomatische Wendungen hätte mit „Spiegelübersetzung“ übertragen sollen, damit der Text fremder wird. Da aber das Buch voll ist damit, ist fraglich, ob man es von einer Übersetzerin erwarten kann, dass sie einen Text dermaßen „um-setzt (!)“ [„fordítson meg (!)“]. In diesem Fall hat die Übersetzerin nicht so angefangen – und dann kann man das auch schwer verlangen. Ich hätte das Buch höchstens auf Ungarisch neu schreiben können. Eigentlich habe ich mich damit abgefunden, dass eine Schicht wohl verlorengeht.

Es entsteht die provokative Frage, ob dadurch, dass in der ungarischen Übersetzung eine Schicht verlorengeht, die Übersetzung „schlechter“ sei als das Original. Die Frage hat in dieser Form sicherlich keinen Sinn, vor allem deshalb nicht, da die Rezipientenperspektiven ganz verschieden sein können. Wenn wir die Übersetzung aus der Perspektive der ungarischen Leser betrachten mit ihrer ungarischen kulturellen Gebundenheit, dann lässt sich Folgendes subsumieren: Der ungarische Text ist nicht nur in seiner Sprache ungarisch, sondern auch in seiner Intertextualität, wirkt also wie ein Original. Eben deshalb ermöglicht der ungarische Text durch die intertextuellen Bezüge reiche inhaltlich-emotive Verknüp21

Vgl. Gansel / Jürgens (2007: 32): „Ob es tatsächlich zur intertextuellen Rezeption im Sinne konkreter Einzeltextreferenz kommt, hängt von der Wahrnehmungsschwelle eines Rezipienten, dem Grad der Signalisierung eines Bezuges und der Kenntnis der entsprechenden Vortexte aus Literatur, Werbung oder Film ab“.

Realien und Intertextualität

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fungsmöglichkeiten für den Rezipienten mit ungarischer Muttersprache und mit ungarischer Gedächtniskultur. Die Verluste stellen also – aus dieser Rezipientenperspektive – einen Gewinn dar. Dies bestätigt die Meinung von Mora, die – im Vergleich zum obigen Zitat von ihr – eine ganz andere subjektive Perspektive zeigt: Leider muss ich, wie ich das heute sehe, sagen, dass diese Erzählung nicht sehr gut gelungen ist. Ich habe mich darauf eingelassen, mit Liedern zu arbeiten, die für den deutschen Leser unbekannt sind […]. Heute würde ich so etwas nicht mehr machen. Das ist so, als hätte ich von vornherein einen „verkehrten“ Text geschrieben, na ja, das war ein Versuch (Experiment), das sich nicht ganz gelohnt hat. Es besteht die paradoxe Situation, dass es ein solcher Text ist, welcher, wenn wir ihn mit Spiegelübersetzung ins Ungarische übertragen, dort besser funktioniert als im Original (im Deutschen). Und zwar deshalb, weil er dann – aufgrund/infolge der Lieder [a dalok által/miatt] – dort „auf seinem Platz“ ist [ott a helyén van].

6

Ausblick

Sogar der „geschulte“ Leser, der eine Übersetzungsanalyse durchführt, kann die intertextuellen Elemente überfliegen, besonders dann, wenn sie nicht markiert sind, wenn sie in den Text als Paraphrasen, als Allusionen, Anspielungen integriert sind. In diesem Sinne ist es zu untersuchen, ob wir mit Broich (1985: 31) einverstanden sein sollen, indem – seiner Meinung nach – dann über Intertextualität gesprochen werden kann, wenn ein Autor bei der Abfassung seines Textes sich nicht nur der Verwendung anderer Texte bewußt ist, sondern auch vom Rezipienten erwartet, daß er diese Beziehung zwischen seinem Text und anderen Texten als vom Autor intendiert und als wichtig für das Verständnis seines Textes erkennt. Intertextualität in diesem engeren Sinn setzt also das Gelingen eines ganz bestimmten Kommunikationsprozesses voraus, bei dem nicht nur Autor und Leser sich der Intertextualität eines Textes bewußt sind, sondern bei dem jeder der beiden Partner des Kommunikationsvorgangs darüber hinaus auch das Intertextualitätsbewußtsein seines Partners miteinkalkuliert.

Die Frage ist nur, wie man das „miteinkalkulieren“ kann und wie der Erfolg dieses „Miteinkalkulierens“ zu überprüfen ist. Tegtmeyer (1997: 49) formuliert auch die Frage, „ob es Wahrheitskriterien für Aussagen über intertextuelle Beziehungen gibt. Läßt sich intersubjektiv entscheiden, ob eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Texten besteht?“ Tegtmeyer (ebd.) meint, dass Inter-

66

Erzsébet Drahota-Szabó

textualität nur dann ein wissenschaftlicher Begriff ist, wenn diese Frage positiv beantwortet wird. − Ich schließe mich dieser Meinung nicht an. Nehmen wir ein kurzes Zitat aus Terézia Moras besprochener Erzählung: „Sonntag ist Ausflugstag.“ (195) → „Vasárnap kirándulunk.“ (151) Nach meiner subjektiven Textsensibilität handelt es sich bei dieser Textpassage, die in der Erzählung zweimal vorkommt, um einen Prätext aus einem bekannten ungarischen Lied: (26)

Sej, haj, Rozi, vasárnap kirándulunk. Meglásd, Rozi, hogy unatkozni nem fogunk. A két szép szemed hamisan kacsint le rám, A nóta közben súgom neked, Hogy egy csókra szomjas a szám.

[Juchheirassa, Rozi, am Sonntag machen wir einen Ausflug. Wirst sehen, Rozi, wir werden keine Langeweile haben. Deine beiden schönen Augen blinzeln mir schelmisch zu, Während des Liedes flüstere ich dir zu, Dass mein Mund nach einem Kuss durstet.]

Haben wir hier ein intertextuelles Element? Wenn ja, hat hier Terézia Mora „das Intertextualitätsbewusstsein ihres Partners“ miteinkalkuliert? Wer ist hier „der Partner“? Der Leser des Originals, d.h. der deutsche Leser oder etwa der ungarische Leser, der auf Deutsch liest? Oder der ungarische Leser der ungarischen Übersetzung? – Auf meine Nachfrage bei Terézia Mora erhielt ich die folgende Antwort: […] nicht absichtlich. Sonntag ist Ausflugstag – das habe ich neutral gedacht. Aber es stört mich nicht, dass in der Übersetzung ein neuer Verweis entsteht. Es könnte nämlich wohl sein, dass unsere Figuren das [d.h. dieses Lied] im Radio ebenfalls gehört haben.

Bei der Produktion und bei der Rezeption von literarischen Texten kann man meines Erachtens mit „Wahrheitskriterien“ nicht operieren. Der Leser „ist berechtigt“, mit einer ihm eigenen, nur für ihn charakteristischen textuellen und intertextuellen Empfindsamkeit zu lesen, es ist sozusagen „erlaubt“, Intertextualität nicht wahrzunehmen, dies ändert aber nichts daran, dass die intertextuellen Bezüge im Text da sind, zumal sie von einem anderen Leser wohl rezipiert werden können. Es ist ebenfalls „erlaubt“, Intertextualität auch dort wahrzunehmen, wo es vom Verfasser nicht intendiert war. Nicht einmal der Textproduzent muss dessen bewusst sein, dass er intertextuelle Elemente verwendet. Nichtsdestotrotz kann die Kontrastierung der vom Autor intendierten Intertextualität und der vom

Realien und Intertextualität

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Leser rezipierten/re-konstruierten Intertextualität viele Erkenntnisse liefern, besonders im Falle solcher literarischer Texte, die als transkulturell zu betrachten sind.22 Mit Verweis auf Kristeva (1967) spricht Blühdorn (2006: 284) über zwei Arten von Kräften, die beim Mikrotext zu untersuchen seien, nämlich über zentripetale und zentrifugale Kräfte. Die Beschäftigung mit den zentripetalen Kräften sei die Aufgabe der Kohärenzforschung, während die zentrifugalen Kräfte von der Intertextualitätsforschung zu untersuchen seien. Die Realien weisen starke zentrifugale Kräfte auf. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Realienforschung die Aufgabe hat, die Relationen zu erschließen, in welchen die Realienbezeichnungen des Mikrotextes zum Makrotext der Kultur stehen, wie sie den Mikrotext mit dem kulturellen Makrotext verknüpfen. Die Übersetzungswissenschaft soll darüber hinaus die eingesetzten Übersetzungsverfahren untersuchen, aus denen eine Übersetzungsstrategie zu erkennen ist. So lassen sich wissenschaftlich fundierte Aussagen über die Intertextualitätsbezüge des AS-Textes im Kontrast zu denen des ZS-Textes machen. Nicht zuletzt sollte beim Übersetzungsvergleich noch eine wesentliche „Komponente“ nicht vergessen werden: der Übersetzer mit seiner kulturellen Gebundenheit und mit seiner Intention. Er produziert nämlich für die Leser einen neuen Text, dem wir die Wirkung des Originals nicht abverlangen können.

7

Literatur

7.1

Primärliteratur

GARACZI, László (1995): Mintha élnél. Egy lemúr vallomásai, I. Pécs: Jelenkor GARACZI, László (1998): Pompásan buszozunk! Egy lemúr vallomásai 2. Pécs: Jelenkor GARACZI, László (1999a): Was wir hier als schön empfinden. Bekenntnisse eines Lemuren. I. In: Garaczi, László (1999): Die wunderbare Busfahrt. Bekenntnisse eines Lemuren. [Aus dem Ungarischen von Andrea Seidler und Pál Deréky] Graz: Literaturverlag Droschl, 5–108 GARACZI, László (1999b): Beinhartes Schönwetter. Bekenntnisse eines Lemuren II. In: Garaczi, László (1999): Die wunderbare Busfahrt. Bekenntnisse eines Lemuren. [Aus

22

Vgl. Tráser-Vas (2004): „[…] anstatt der Begriffe Immigrantenliteratur und Minderheitenliteratur würde ich die Termini transkulturelle oder interkulturelle Literatur wählen, um den Reichtum von zwischen zwei Kulturen stehenden Werken, wie dasjenige von Terézia Mora im Besonderen, am treffendsten zu beschreiben“. − Ich präferiere den Terminus transkulturell.

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Erzsébet Drahota-Szabó

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Ewa Drewnowska-Vargáné Szeged

Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Pressediskurs Abstract Ein sprach- und kulturkontrastiver Vergleich argumentativer Topoi in einem pragmatisch bedingten internationalen Diskurs stellt ein relativ neues Gebiet der kontrastiven Linguistik dar. Selten sind auf diesem Gebiet Publikationen, die sich explizit mit der Methodik eines solchen Parallelvergleichs befassen. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, auf der Basis der wichtigsten Merkmale des argumentativen Topos und ferner einiger ausgewählter Belege und Ergebnisse einer neulich abgeschlossenen Untersuchung begründet einen methodischen Analyseweg zu unterbreiten. Besonders geachtet wird dabei darauf, dass der argumentative Topos als ein genuin onomasiologisches (übereinzelsprachliches) Tertium comparationis während des Untersuchungsprozesses an Textkorpora, die in verschiedenen Sprachen und Kommunikationskulturen verfasst wurden, nicht zu einer semasiologischen (einzelsprachlichen) Vergleichsgröße wird.

1

Einleitung

Im vorliegenden Beitrag wird ein methodischer Weg vorgeschlagen, auf dem sich argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs erschließen lassen. Dieser Weg, der an ausgewählten Ergebnissen einer unlängst abgeschlossenen synchronen Untersuchung vorgestellt wird (vgl. Drewnowska-Vargáné 2012), strebt Anwendungsmöglichkeiten in unterschiedlichen weiteren sprach- und kulturkontrastiven Parallelvergleichen von Diskursen an. Die zentrale Frage richtet sich darauf, ob und inwiefern ein Parallelvergleich argumentativer Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs einer anderen methodischen Verfahrensweise als eine einzelsprachlich ausgerichtete Diskursanalyse bedarf. Im Sinne der obigen Zielsetzung und Forschungsfrage präsentiere ich einschlägige sprach- und kulturvergleichende Untersuchungen im Hinblick auf Problematisches in ihrer Methodik (vgl. Abschnitt 2) sowie Kienpointners Typologie der Topoi als Ausgangspunkt für empirische sprach- und kulturvergleichende Untersuchungen (vgl. Abschnitt 3). Den Mittelpunkt des Beitrags bilden Strukturmomente des ,Topos‘ illustriert an Belegen und Ergebnissen der eingangs erwähnten Untersuchung (vgl. Abschnitt 4) sowie ein konkreter Vorschlag für

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Ewa Drewnowska-Vargáné

den methodischen Weg bei unterschiedlichen Konstellationen des internationalen Diskursvergleichs (vgl. Abschnitt 5). Im Fazit widme ich mich der Beantwortung der zentralen Frage (vgl. Abschnitt 6). Zunächst sei jedoch im Rahmen einer kurzen terminologisch-begrifflichen Einführung in den vorliegenden Untersuchungsbereich Folgendes angesprochen: ,argumentativer Topos‘ und ,Argumentation‘ (vgl. Abschnitt 1.1) sowie eine besondere Aussagekraft von ,argumentativem Topos‘ und Relevanz der ,Topik‘ in sprachwissenschaftlichen Untersuchungen (vgl. Abschnitt 1.2). 1.1

,Argumentativer Topos‘ und ,Argumentation‘

Der altgriechische „tópos“/lat. „locus“ hat bekanntlich seinen Ursprung in der Antike bei Aristoteles in der „Topik“ (Übersetzung 31992) bzw. in der „Rhetorik“ (Übersetzung 51995 Ü).1 Der Philosoph hat in seinen Werken keine eindeutige Definition von ,Topos‘ gegeben.2 Die häufigsten Deutungen in späteren Verwendungs- und Klassifikationsweisen lauten „Ort“, „Suchformel“ für Argumente über „semantische Relation“ bis hin zu „Argumentationsschema“ (vgl. z.B. Herbig 1993: 586). Mir scheint es sinnvoll, den ,argumentativen Topos‘ mit Wengeler (1999: 37) als „das allgemeine formale Muster oder Schema eines Argumentationsschrittes“ anzusehen. Eine solche Topos-Auffassung ist mit dem Begriff des ,Enthymems‘ von Aristoteles kompatibel (vgl. 1995 Ü: 20, 141–144; 1992 Ü: 202). Aristoteles erachtet ,Enthymeme‘ als Grundlage der Argumentation. Es sind rhetorische Schlüsse, die jeweils „eine Art Syllogismus“ darstellen (Ü 1995, S. 141).3 Skizzenhaft werden die Abhängigkeiten im Rahmen des ,Enthymems‘ in der einschlägigen Literatur4 folgendermaßen dargestellt (vgl. Abb.1):

1

Im Weiteren gebrauche ich für die Übersetzungen der beiden aristotelischen Werke folgende Angaben in den Kurztiteln: für die „Topik“: (31992 Ü) und für die „Rhetorik“: (31992 Ü). 2 Älteren und neueren einschlägigen Publikationen ist zu entnehmen, dass man heute über Gründe der definitorischen Unschärfe im Falle von ,Topos‘ bei Aristoteles lediglich spekulieren kann (vgl. z.B. Bornscheuer 1976: 33; Schwarze 2010: 16; Wüest 2011: 120; Pohl 2012: 181f.). 3 ,Syllogismen‘, die „streng definierten Deduktionsregeln“ folgen, kommt jedoch in Texten – so Wüest (2011: 119) – im Unterschied zu ,Enthymemen‘ kaum eine Rolle zu (zu einer weiteren Unterscheidung vgl. Wüest ebenda und Ottmers 1996: 73–81). 4 Dabei stütze ich mich auf folgende Quellen: Kienpointner 1992: 19, Ottmers 1996: 73f., Lüger 1999: 103 und Wengeler 2003: 179.

Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs

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Abb. 1: ,Enthymem‘ im Sinne von Aristoteles (31992 Ü; 51995 Ü) Fasst man einen Topos als ein Argumentationsschema auf, dann lässt sich dieses Schema als ein dreigliedriges Konstrukt, eben als ,Enthymem‘ auslegen. Die zuvor in der Abbildung 1 vorgestellten Abhängigkeiten seien nun mit einem Beispiel aus dem Korpus des sprach- und kulturkontrastiv durchgeführten Diskursvergleichs illustriert (vgl. Abb. 2). Das Beispiel stammt aus einem ungarischsprachigen Interview (vgl. Anhang: Beleg 1, S. 98). Der durch die Schlussregel des ‚Enthymems‘ dargestellte ,Topos‘gehört zu der Klasse der Definitionen im Sinne von Kienpointner (1992) (vgl. dazu Abschnitt 3 weiter unten). Vor dem Hintergrund der obigen Ausführung betrachte ich ‚Argumentation‘ mit Kienpointner (2008: 702) als eine komplexe verbale und interaktive Tätigkeit […], mittels derer die an der Interaktion beteiligten Personen von der Akzeptabilität bzw. Nicht-Akzeptabilität eines strittigen Standpunkts (einer strittigen These, einer strittigen Konklusion) überzeugt werden sollen.

Das „Argumentieren“ als der zentrale Sprechakt der ,Argumentation‘ werde – so Kienpointner (ebenda) – durch „Argumente“ vollzogen, d.h. durch „Aussagen“, welche für oder gegen die jeweilige These (Konklusion) stehen.

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Ewa Drewnowska-Vargáné

Argument

Konklusion

Die Situation Griechenlands ist durch „Serben-Freundschaft mit Nato-Verpflichtung“ definiert.

Die Wertung „heikel“ ist bezüglich dieser Situation gerechtfertigt.

Schlussregel Topos Wenn die Situation Griechenlands durch „Serben-Freundschaft mit NatoVerpflichtung definiert ist, ist die Wertung „heikel” bezüglich dieser Situation gerechtfertigt. Topos

Definition

Abb. 2: Ein Beispiel für ein ,Enthymem‘ aus einem ungarischen Presseinterview im Diskurs über ,Kosovo-Krieg‘ 1.2

Die besondere Aussagekraft des ,argumentativen Topos‘ und die Relevanz der ,Topik‘ in sprachwissenschaftlichen Untersuchungen

Als Untersuchungs- und als Vergleichskategorie verfügt „tópos“ über eine besondere Aussagekraft, welche sich m.E. in zweierlei Aspekten manifestiert: Erstens weist der aristotelische Topos-Begriff Strukturmomente auf, die ihn als Kategorie für linguistische Diskursanalyse und insbesondere für sprach- und kulturvergleichende Diskursvergleiche prädestinieren. Dabei sei an die vier Merkmale des Topos, d.h. an die „Strukturmomente“ im Sinne von Bornscheuer (1976: 91–108) gedacht: 1. Habitualität, 2. Potentialität, 3. Intentionalität und 4. Symbolizität. Im Folgenden werden sie in Anlehnung an die Ergebnisse und die Methodologie der von mir durchgeführten Untersuchung verdeutlicht (vgl. Abschnitt 4). Zweitens stellen Topoi inhaltlich verschiedene Argumentationsmuster, z.B. Schemata für Definition, Vergleich oder Kausalität dar. Diese Muster sind in unterschiedlichen Kommunikationskulturen – von deren Sprachsystemen unabhängig – nachweisbar (zur Exemplifizierung vgl. Anhang: Strukturen der Topoi, die in den Belegen 1 und 2 ermittelt wurden, S. 98f.) Die wohl erste theoretisch-methodologische Grundlage für die Klassifikationen der Topoi schuf Aristoteles in seiner „Topik“ (Ü 31992: 5–8), deren Herzstück

Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs

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ein Merkmalskatalog für den Suchprozess der Topoi bildet: 1) „Definition“, 2) „Propium“, 3) „Gattung“ und 4) „Akzidenz“.5 In der „Rhetorik“ stellte Aristoteles einen funktionalen Katalog von beinahe 30 Topoi dar (vgl. 51995 Ü: 144–156), in dem u.a. der Analogietopos (vgl. 51995 Ü: 152), der Topos der Definition (vgl. ebd., S. 148), der Topos der Konsequenz (vgl. ebd., S. 151), der Ursache-Folge Topos (vgl. ebd., S. 155) und der Topos der Zeit (vgl. ebd., S. 147) exemplifiziert werden. Somit bilden die „Topik“ und „Rhetorik“ eine Basis, auf die in weiteren Typologien sowohl noch in der Antike als auch in späteren Epochen mehr oder weniger stark zurückgegriffen wurde. ,Topik‘, die Aristoteles in seinem gleichnamigen Werk als eine „übergreifende, grundlegende Argumentationsmethodik entworfen hatte“ (vgl. Ottmers 1996: 141), wird in der heutigen Argumentationsforschung als ein „Teil der rhetorischen Argumentationstheorie“ (Wengeler 2003: 177) sowie „die Wissenschaft von den Topoi“ (Wüest 2011: 120) betrachtet und überall dort betrieben, wo der Argumentation eine Bedeutung zukommt. Daraus ergibt sich ihr interdisziplinärer Charakter.6 In der Sprachwissenschaft erlebt die aristotelische Argumentationslehre eine Renaissance, indem die Beiträge zur ,Topik‘ wohl als die wichtigsten Ergebnisse der Argumentationstheorie der letzten zwei Jahrzehnte gelten. Schaut man sich einschlägige Publikationen in der Zeitspanne 1992–2012 an, stößt man auf eine beachtliche Reihe theoretischer und empirischer Beiträge.7 Über das gemeinsame Forschungsgebiet hinaus weisen diese Publikationen zumindest noch ein gemeinsames Kennzeichen auf: Alle von ihnen sind einzelsprachlich ausgerichtet. Einen deutlich bescheideneren Eindruck erweckt der Forschungsstand auf dem Gebiet der sprach- und kulturvergleichenden Untersuchungen. Zieht man 5

Zu einer kommentierten Darstellung dieses methodologischen Katalogs vgl. z.B. Schwarze 2010: 18. 6 Neben der Sprachwissenschaft befassen sich mit der Toposforschung auch Literatur-, Rechts-, Sozialwissenschaft, Rhetorik, Psychologie, Politologie, Philosophie, Theologie, Logik und Kunstwissenschaften (vgl. Bornscheuer 1984: 460–475; Wengeler 2003: 188– 283; Schwarze 2010: 24–33). 7 An dieser Stelle seien nur einige bedeutende Autoren erwähnt: Kindt (1992; 1994); Herbig (1993); Kienpointner (1992; 1996; 2000; 2003; 2005; 2007; 2008), Ottmers (1996), Eggs (2000), Sieber (2000), Wengeler (1999; 2000; 2003; 2007; 2010a; 2011), Fuhrmann (2005), Schwarze (2010), Wüest (2011), Dorostkar (2012), Pohl (2012) sowie Scholz und Wengeler (2012). In dieser Reihe stellt die Monographie von Wüest (2011) eine Ausnahme dar, weil sie eine Art Einführung in die Textlinguistik ist, in welcher im Unterschied zu allen mir bekannten textlinguistischen Einführungenim Rahmen der germanistischen Linguistik argumentative Topoi als Untersuchungskategorie zum ersten Mal thematisiert und behandelt werden.

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Ewa Drewnowska-Vargáné

Publikationen in Betracht, in welchen das Deutsche mit anderen Kontrastsprachen (und -kulturen) verglichen wird, sind nur einige wenige zu verzeichnen, v.a. ein deutsch-finnischer Vergleich: argumentative Topoi in Werbematerialien (vgl. Vesalainen 2001), ein deutsch-französischer Vergleich: argumentative Topoi in Zeitungskommentaren (vgl. Lüger 2002; 2008), ein deutsch-französisch-italienischer Vergleich: argumentative Topoi als Marker der Verstärkung oder Abschwächung der Argumentation (vgl. Atayan 2006), ein deutsch-polnischer Vergleich: Manifestation argumentativer Topoi in Sprichwörtern (vgl. Lewandowska 2008) und ein anderer deutsch-polnischer Vergleich: argumentative Topoi in Pressetexten (vgl. Misiek 2010). Zu den kontrastiven Arbeiten gehört auch ein größerer Teilbereich der von mir durchgeführten Untersuchung (vgl. DrewnowskaVargáné 2012)8, deren ausgewählte Belege (vgl. Anhang S. 98ff.) und Ergebnisse den hier darzustellenden methodischen Weg nachweisen sollen.

2

Problematisches in der Methodik einschlägiger sprach- und kulturvergleichender Untersuchungen

Während für einzelsprachlich ausgerichtete Diskursforschungen gilt, dass sie inzwischen über eine eigene Methodik verfügen, bedürfen sprach- und kulturvergleichende Diskursanalysen bekanntlich sowohl theoretischer als auch methodischer Ausarbeitung. Einschlägige Einführungen zur Diskurslinguistik bzw. die kürzlich erschienen Beiträge zu empirischen Topoi-Analysen befassen sich mit den Belangen eines Sprach- und Kulturvergleichs nur sporadisch.9 Die ersten methodischen Ansätze zur sprach- und kulturvergleichenden Diskursanalyse stammen m.W. von der Düsseldorfer Schule. Ihre Vertreter – z.B. Karin Böke, Matthias Jung und Martin Wengeler – legen zumeist einzelsprachliche Untersuchungen vor. Seltener wird von ihnen die Methodologie der sprachund/oder kulturkontrastiven internationalen Diskursvergleiche angesprochen, wie 8

Obgleich Teilanalysen im Bereich der obigen Untersuchung in mehreren Beiträgen erschienen sind, verzichte ich aus Raumgründen auf deren Anführen im Literaturverzeichnis und konzentriere mich lediglich auf das Habilitationsmanuskript (vgl. DrewnowskaVargáné 2012). 9 Hier sei v. a. an die Einführung in die Diskurslinguistik von Spitzmüller und Warnke (2011) gedacht, in der die Autoren ihr seit seiner ersten Veröffentlichung modifiziertes Mehrebenenmodell der Diskursanalyse (DIMEAN) ausführlich vorstellen. Weder in dieser Einführung noch in weiteren aktuellen Publikationen zu Presse-Diskursen (vgl. z.B. Pohl 2012 oder Scholtz und Wengeler 2012) wird jedoch die Methodologie von sprachund kulturkontrastiv ausgerichteten Forschungen angesprochen. Eine Ausnahme davon bildet der Beitrag von Böke et al. (2005).

Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs

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dies bei Böke et al. (2005: 250) der Fall ist. Die Forscher unterscheiden zwischen folgenden Konstellationen des internationalen Diskursvergleichs: -

thematisch gleiche oder ähnliche Diskurse, die in mehreren Ländern gleichzeitig geführt werden thematisch gleiche oder ähnliche Diskurse, die in mehreren Ländern zu unterschiedlichen Zeiten geführt werden thematisch verschiedene Diskurse, die in mehreren Ländern zur gleichen Zeit geführt werden.

Für synchrone sprach- und kulturvergleichende Diskursuntersuchungen gelten somit die erste und die letzte von den drei obigen Varianten. Die Forscher reflektieren auf Schwierigkeiten, welche sich aus den unterschiedlichen Sprachsystemen bei einem internationalen Diskursvergleich ergeben, folgendermaßen: Die größten Schwierigkeiten sehen sie bei lexembezogenen Analysen (vgl. ebd., S. 251). Bei Metaphernanalysen scheint diese Schwierigkeit einerseits dann ,umgangen‘ zu werden, wenn man „eine vom einzelnen Wortgebrauch abstrahierte Ebene – den Metapherntyp – methodisch“ einbezieht (ebd., S. 260). Während dem m.E. beizupflichten ist, ist die Feststellung der Autoren, dass beim Vergleich von Argumentationsmustern (d.h. Topoi) keine besonderen Schwierigkeiten bestehen, überraschend: „Gerade für interlinguale Vergleiche können auf dieser eher inhaltlich bestimmten Ebene die Schwierigkeiten vermieden werden, die ein Vergleich der Lexik bringt.“ (ebd., S. 264, Hervorhebung von mir – E.D.-V.). Die Forscher erachten den Topos zu Recht als eine übereinzelsprachliche Vergleichsgröße und suggerieren damit, dass sich ihre Methodologie auch auf sprachvergleichende Untersuchungen ohne Modifizierungen anwenden lässt.10 Darin sehe ich ein offensichtliches Paradox: In ihren Analysen gehen die Vertreter der Düsseldorfer Schule von einem materiellen, d.h. inhaltlich-thematischen Topos-Begriff aus. Er wird auf Grund des konkreten thematisch bestimmten Untersuchungskorpus eruiert. Inwiefern ist aber ein so aufgefasster Topos beim Vergleich von „thematisch verschiedene[n] Diskursen“ (ebd., S. 250) als ein übereinzelsprachliches Tertium comparationis geeignet? In Bezug auf die methodische Seite der bereits angesprochenen wenigen sprach- und kulturkontrastiven Untersuchungen, halte ich zwei ,typische Posi10

Eine Bestätigung dafür, dass dies auch wirklich so gemeint ist, findet sich bei Wengeler (2010b: 253f.), wo er von einem Forschungsplan spricht, in dem sprachvergleichende und einzelsprachorientierte Wirtschaftsdiskurse analysiert werden sollen. Die von Böke et al. (2005) vorgeschlagene Methodik erachtet der Autor als auf weitere sprach- und kulturvergleichende Analysen übertragbar.

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Ewa Drewnowska-Vargáné

tionen‘ vorsichtig fest: Entweder befassen sich die Forscher nicht explizit mit der Untersuchungsmethodik der argumentativen Topoi oder sie übernehmen die Analysekriterien von den einzelsprachlich ausgerichteten Untersuchungen.11 (Eine ,dritte Position‘, die ich z.B. im Falle der Monographie von Vesalainen (2001) verzeichnet habe, thematisiere ich im folgenden Abschnitt). Eine Übernahme der methodischen Vorgehensweise aus den einzelsprachlichen Untersuchungen in die sprach- und kulturvergleichenden ist m.E. aus noch einem Grund bedenklich: In den einzelsprachlich ausgerichteten Forschungen wird häufig ein materielles, d.h. inhaltliches Toposverständnis literaturwissenschaftlicher Provenienz vertreten.12 Ferner arbeitet man nicht selten mit ad hoc, auf der Basis des jeweiligen Korpus ,erfundenen‘ Topoi (vgl. z.B. Kindt 1992; 1994 und auch zum Teil Wengeler 2003). Eine solche Vorgehensweise lässt zwar Aussagen über den jeweiligen Untersuchungsstoff machen. Demgegenüber sind Schlussfolgerungen eines allgemeineren Charakters über das argumentative Verhalten der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft auf Grund der jeweiligen Untersuchungsergebnisse meiner Überzeugung nach kaum möglich. Aus den obigen Einsichten resultiert das wichtigste Prinzip, auf das sich mein Lösungsvorschlag für das hier thematisierte methodologische Problem (vgl. Abschnitt 4–5 weiter unten) gründet: Es soll grundsätzlich eine Unterscheidung zwischen einerseits formal-abstrakten und andererseits materiellen, d.h. kontextspezifischen Topoi getroffen werden, denn formal-abstrakte Topoi stellen mögliche, kontextunabhängige Argumentationsmuster mit allgemeinen Inhalten (wie z.B. unterschiedliche Arten der Definitionstopoi) dar, die in verschiedenen Kommunikationskulturen von deren Sprachsystemen unabhängig vorkommen können. Erst auf der Basis der zuvor ermittelten formal-abstrakten Topoi können die auf die Belange des jeweiligen Korpus ,zugeschnittenen‘ kontextspezifischen Topoi eruiert werden.

11

So weist z.B. Misiek (2010: 178) explizit darauf hin, dass sie ihr zweisprachiges, aus der deutschen und der polnischen Presse stammendes Korpus mit derselben Methode untersucht wie Wengeler (2003), dessen einzelsprachliche Untersuchung sich dem deutschen Migrationsdiskurs widmet. 12 Dazu vergleiche man z.B. Sieber (2000: 744), der unter Topoi „thematische Einheiten“ versteht.

Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs 3

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Kienpointners Typologie als Ausgangspunkt für empirische sprachund kulturvergleichende Untersuchungen

Als gängig gelten heute zwei Typologien der argumentativen Topoi: eine von Pelerman und Olbrechts-Tyteca (1958)13 und eine von Kienpointner (1992; 1996). Hier möchte ich meine Gründe dafür kurz darlegen, warum ich bei einer kontrastiven Untersuchung der Topoi in gegenwärtigen Pressetexten nicht die Typologie von Pelerman und Olberchts-Tyteca, sondern die von Kienpointner vorziehe. Eine Untersuchung auf Grund der Typologie von Pelerman und OlbrechtsTyteca legt eine Unterscheidung zwischen quasilogischen, wirklichkeitsbezogenen und wirklichkeitsetablierenden Argumenten nahe. Dies tut auch bspw. Vesalainen (2001) in ihrer auf dieser Typologie beruhenden, an und für sich sehr anspruchsvoll dargestellten Untersuchungsmethodik. Mein Problem mit dieser Unterscheidung besteht darin, dass quasilogische Argumente formale Schemata sind, während sich die wirklichkeitsbezogenen und wirklichkeitsetablierenden auf einer anderen Ebene finden.14 Außerdem ist die empirische Basis der Typologie von Pelerman und OlbrechtsTyteca für die anvisierten Untersuchungen nicht ausreichend. Es ist auch nicht das Ziel der Autoren, die Alltagsargumentation zu beschreiben (vgl. dazu Kienpointner 1992: 193; Schwarze 2010: 45). Eine empirisch fundierte Typologie mit Topoi der Alltagsargumentation hat Kienpointner (1992) insbesondere in der Tradition der aristotelischen Topik und der besagten Topik von Perelman und Olbrechts-Tyteca geschaffen. Der Forscher präsentiert am Korpus von 300 authentischen Texten aus der Presse und aus dem Fernsehen neun Großklassen, welche die 60 von ihm beschriebenen Topoi für die Alltagsargumentation umfassen. Dass Kienpointner an einem Korpus aus Texten der Gegenwartssprache arbeitet, ist im Vergleich zu der überwiegend an alten philosophischen Texten und Reden antiker Rhetoriker dargestellten Typologie von Perelman und Olbrechts-Tyteca ein eindeutiger Vorteil. Kienpointners „Alltagslogik“ ist ein Beispiel für eine systematisierte Wiedergewinnung der 13

Es handelt sich um folgende französischsprachige Monographie von Chaïm Pelerman und Lucie Olbrechts-Tyteca (1958): „Traité de l'argumentation: La nouvelle rhétorique. Paris: Presses Universitaires de France.“ Sie wurde v.a. ins Englische und Deutsche übersetzt. Die deutsche Übersetzung von Roland F. Varwig, Hans J. Ehni erschien in 2004 mit dem Titel: „Die neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren.“ 14 Ferner ist Vesalainens Methodik auf die Analyse von Werbeprospekten spezifiziert und dadurch besitzt sie nicht den von mir angestrebten allgemeinen Charakter, der einen Schritt von formal-abstrakten zu kontextspezifischen Schemata erlaubt.

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Ewa Drewnowska-Vargáné

antiken Topik für den modernen Sprachgebrauch. Die 60 argumentativen Muster werden in folgende Großklassen eingeordnet: Es sind: 1. Definitionen: inhaltliche Äquivalenz; 2. Art-Gattung: Unter- und Überordnung; 3. Teil – Ganzes: Enthaltensein und Einschließen; 4. Vergleiche: Ähnlichkeiten und Unterschiede; 5. Gegensätze: Widersprüche und Alternativen 6. Ursachen und Wirkungen, Mittel und Zwecke (kausale Beziehungen); 7. Beispiele: Verallgemeinern und Illustrieren; 8. Analogien: indirekte Vergleiche; 9. Autoritäten: Fachleute und Respektspersonen. Topoi bezeichnet Kienpointner (1992: 179 und 194) als „Teile von Argumentationsschemata, nämlich die inhaltlichen Schlußregeln, die den Übergang vom Argument/von den Argumenten zur Konklusion rechtfertigen“. Unter dem Begriff „inhaltliche Schlußregel“ versteht er die Schlussregel des weit verbreiteten Argumentationsmodells von Toulmin (1996), bei dem sie eine Kategorie darstellt, die den Bezug des Arguments auf die These legitim macht und dadurch die Plausibilität der Argumente prüfen lässt. Die Schlussregel ist eine allgemeine (hypothetische) Aussage, meist in der Form: „Wenn D, dann K“, die Toulmin (1996: 89) folgendermaßen expliziter formuliert: „,Solche Daten wie D berechtigen uns zu solchen Konklusionen oder Behauptungen wie K‘ oder auch ‚Vorausgesetzt, daß D, dann kann man annehmen, daß K‘“ (vgl. damit die Abb. 2 weiter oben). Am Schluss der auf Dichotomien basierenden einzelsprachlichen Typologie15 drückt Kienpointner (1992: 419) seine Überzeugung aus, dass sprach- und kulturvergleichende Untersuchungen der argumentativen Topoi „dadurch gefördert bzw. methodisch verfeinert werden [können], dass detaillierte Typologien von Mustern der Alltagsargumentation wie die oben […] präsentierte kontrastiv entwickelt und genützt werden.“ Demnach soll seine Typologie für die Bildung weiterer Schemata auf der Grundlage der jeweils empirisch untersuchten Korpora offen sein.

15

Vgl. Kienpointner 1992: 240ff.: deskriptive vs. normative; pro vs. kontra und reale vs. fiktive Schemata. Eine besonders große Rolle bei dem von mir durchgeführten Vergleich hat die Dichotomie deskriptive vs. normative Schemata gespielt (vgl. dazu Abschnitt 4 und 5).

Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs

81

4

Strukturmomente des ,Topos‘, illustriert an Belegen und Ergebnissen einer sprach- und kulturvergleichenden Untersuchung

4.1

Einführung in die Belange der besagten Untersuchung

Die bereits erwähnte Untersuchung (vgl. Drewnowska-Vargáné 2012) versteht sich als ein empirischer Beitrag zur kontrastiven Textologie und zur sprach- und kulturvergleichenden linguistischen Diskursanalyse. Im Vordergrund steht der Beitrag zur Textologie: Es handelt sich hier um eine Einbettung der textanalytischen Vorgehensweise in die diskursanalytische. Textexemplare zu Textsorten der Presse in drei verschiedenen Sprachen und Kommunikationskulturen wurden als einem internationalen und mehrsprachigen Pressediskurs zugehörig einer Paralleltextanalyse unterzogen (vgl. Abb. 3). Ein internationaler und mehrsprachiger Pressediskurs: pragmatische Bedingtheit, Textsortenvarianz Teildiskurs 1: pragmatische Bedingtheit, Textsortenkonstanz,

Teildiskurs 2: thematische Geprägtheit (Diskurs zum ,Kosovo-Krieg‘), pragmatische Bedingtheit, Textsortenvarianz

Leserbriefe

Kommentare

Interviews

harte Nachrichten

deutsche Leserbriefe

deutsche Kommentare

deutsche Interviews

deutsche Nachrichten

polnische Leserbriefe

polnische Kommentare

polnische Interviews

polnische Nachrichten

ungarische Leserbriefe

ungarische Kommentare

ungarische Interviews

ungarische Nachrichten

Abb. 3: Eine textsortenspezifische Vergleichsperspektive im Pressediskurs der Untersuchung Das Textkorpus der Untersuchung mit insgesamt 393 Textexemplaren zu vier Textsorten wurde deutsch-, polnisch- und ungarischsprachigen Qualitätspresseorganen entnommen.16 Während der Leserbriefdiskurs (vgl. Abb. 3: Teildiskurs

16

Die Quellen des Korpus bilden jeweils drei etablierte überregionale Qualitätsblätter mit relativ vergleichbaren Reichweiten und Druckauflagen (dt.: DIE WELT, DIE ZEIT, DER

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Ewa Drewnowska-Vargáné

1) dieselben bzw. ähnliche Themen aus den Gebieten Politik (hier nur teilweise zum Thema ‚Kosovo-Krieg‘), Gesellschaft, Kultur und Bildung behandelt, befasst sich der überwiegende Teil des dreisprachigen Pressetextkorpus (Abb. 3: Teildiskurs 2) mit demselben politischen Ereignis, mit dem ,Kosovo-Krieg‘. Die Paralleltextanalyse richtete sich – neben argumentativen Topoi – auf weitere onomasiologische Tertia comparationis, wie z.B. auf Alltagsmetaphern und weitere aus der Textsortenspezifik resultierende auch zum Teil semasiologische Vergleichsgrößen. Bei dem Teilbereich der Untersuchung mit argumentativen Topoi als ein onomasiologisches Tertium comparationis wurden die Exemplare der Textsorte ,harte Nachricht‘ als grundsätzlich deskriptiv-berichtend nicht berücksichtigt (was ich in der Abbildung 3 optisch markiere). Somit beziehen sich die Ergebnisse dieses Teilbereichs auf insgesamt ,nur‘ 300 Textexemplare. Das übergreifende Ziel der Untersuchung bestand darin, kommunikationskulturelle Tendenzen in einer textsortenspezifischen (vgl. Abb. 3 weiter oben) und in einer textsortenübergreifenden Vergleichsperspektive (vgl. Abb. 4 weiter unten) auf der Grundlage der Befunde der Paralleltextanalyse herauszuarbeiten. Im Falle argumentativer Topoi stellt sich dies folgendermaßen dar: Als textsortenspezifisch fasse ich Merkmale einer Textsorte in der jeweiligen Diskursgemeinschaft auf, die für diese Textsorte in dieser Diskursgemeinschaft charakteristisch sind und sie gegebenenfalls von den äquivalenten Textsorten in den anderen zwei Diskursgemeinschaften unterscheiden: z.B. das höchste Vorkommen aller (d.h. deskriptiver und normativer) Definitionsschemata im polnischen Leserbriefdiskurs, ferner darunter das weitaus höchste Vorkommen der normativen Definitionsschemata in diesem Diskurs (vgl. Tab. 1). Definitionstopoi

Diskurs A Deutsch

Diskurs B Polnisch

Diskus C Ungarisch

Leserbriefe

4 Belege: 3 deskr. 1 norm. 7 Belege: 1 deskr. 6 norm. 35 Belege: 7 deskr. 28 norm.

22 Belege: 5 deskr. 17 norm. 22 Belege: 3 deskr. 19 norm. 35 Belege: 1 deskr. 34 norm.

5 Belege: 4 deskr. 1 norm. 14 Belege: 3 deskr. 11 norm. 24 Belege: 2 deskr. 22 norm.

Interviews Kommentare

Tab. 1: Argumentative Definitionstopoi textsortenspezifisch und textsortenübergreifend SPIEGEL; poln.: GAZETA WYBORCZA, POLITYKA, PRZEKRÓJ; ung. MAGYAR HÍRLAP, 168 ÓRA, HVG). Das ganze Korpus stammt aus demselben Zeitraum (03–10.1999).

Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs

83

Als textsortenübergreifend betrachte ich demgegenüber Merkmale, die innerhalb einer Diskursgemeinschaft mehrere Textsorten kennzeichnen und somit eine bestimmte Analogie in der Textgestaltung darstellen. Fasst man z.B. das zuvor erwähnte höchste Vorkommen der Definitionsschemata ins Auge, so stellt sich heraus, dass sie im Diskurs der polnischsprachigen Gemeinschaft als eine textsortenübergreifende Analogie auftreten: Im Leserbrief- und Interviewdiskurs ist das Vorkommen aller, d.h. deskriptiver und normativer Definitionsschemata am höchsten. Im Kommentardiskurs ist es genauso hoch wie im deutschen Diskurs, aber im deutschen Diskurs besteht im Unterschied zu dem polnischen diesbezüglich keine textsortenübergreifende Analogie (Leserbriefe – Interviews – Kommentare, vgl. Tab. 1). Ferner überwiegen normative Definitionsschemata bei jeder Textsorte im polnischen Diskurs. Dazu seien die Werte in der Tabelle 1 zusammen mit der Abbildung 4, wo breite Doppelpfeile die besprochenen Analogien im polnischen Diskurs in der textsortenübergreifenden Vergleichsperspektive anzeigen, in Betracht gezogen. Ein internationaler und mehrsprachiger Pressediskurs: pragmatische Bedingtheit, Textsortenvarianz Teildiskurs 1

Teildiskurs 2

A) Der Diskurs der deutschsprachigen journalistischen Diskursgemeinschaft: Leserbriefe

Kommentare

Interviews

Nachrichten

B) Der Diskurs der polnischsprachigen journalistischen Diskursgemeinschaft: Leserbriefe

Kommentare

Interviews

Nachrichten

C) Der Diskurs der ungarischsprachigen journalistischen Diskursgemeinschaft: Leserbriefe

Kommentare

Interviews

Nachrichten

Abb. 4: Eine textsortenübergreifende Vergleichsperspektive: mehrfache Analogien im Topoi-Gebrauch der polnischsprachigen Diskursgemeinschaft

84 4.2

Ewa Drewnowska-Vargáné Begriffsbestimmung und Exemplifizierung der Strukturmomente des Topos

4.2.1 ,Habitualität‘ Ein zentraler Begriff in der aristotelischen „Topik“ ist der der ‚Endoxa‘, d.h. der herrschenden Meinungen, die in der hier verwendeten deutschen Übersetzung des Werkes als „[w]ahrscheinliche Sätze“ bezeichnet werden: Wahrscheinliche Sätze […] sind diejenigen, die Allen oder den Meisten oder den Weisen wahr scheinen, und auch von den Weisen wieder entweder Allen oder den Meisten oder den Bekanntesten und Angesehensten. (31992 Ü: 1)

Die ,Endoxa‘ bilden bei Aristoteles das Zentrum des Bereichs von Argumentationsformen, welche für den dialektisch-rhetorischen Disputationshabitus des griechisch-lateinischen Bildungssystems charakteristisch waren. Zum Bestand der ,Endoxa‘ gehören argumentative Topoi schlechthin (vgl. Bornscheuer 1977: 209). Bornscheuer, der die ,Habitualität‘ für das wichtigste Strukturmerkmal der Topoi hält, und sie im Anschluss an die Forschungen von Mediävisten, Ethnologen und Soziologen erörtert, betrachtet ,Endoxa‘ als ein „soziokulturell bedingte[s] Meinungsgefüge“, welches „sämtliche sprachlich-soziale und bewußteinspsychologische Verhaltensmuster des Argumentierens“ umfasst. Jene Muster werden – so Bornscheuer (1976: 96f.; 1977: 209). „bewusst und/oder unbewusst übernommen“. In Bezug darauf bin ich der Meinung, dass die Aufgabe des Diskursanalytikers darin besteht, ,Endoxa‘ als die im jeweiligen Diskurs herrschenden Meinungen mittels der eruierten Topoi herauszuarbeiten und die Frage zu beantworten, inwiefern sich diese von den ,Endoxa‘ in den Paralleldiskursen anderer Gemeinschaften unterscheiden. Dabei handelt es sich m.E. nicht nur um kontextspezifisch erarbeitete Topoi, die die ,Endoxa‘ der jeweiligen Diskursgemeinschaft manifestieren, sondern bereits um die formal-kontextabstrakten. Denn schon diese Topoi geben Auskunft über das argumentative Verhalten einer Diskursgemeinschaft. Die formal-abstrakten Topoi sind ja bereits auch inhaltliche Muster des Argumentierens (vgl. Kienpointner 2008: 711). Je differenzierter der Untersuchungskatalog ist, desto differenzierter können auch die Untersuchungsergebnisse sein. Inwiefern die formal-abstrakten Topoi das argumentative Verhalten dreier verschiedener Diskursgemeinschaften voneinander unterscheiden lassen, kann teilweise schon der Tabelle 1 mit deskriptiven und normativen Definitionstopoi (weiter oben) entnommen werden. Nun seien weitere Unterschiede im selben Diskurs mittels ursächlichen vs. intentionalen Argumentierens mit deskriptiven kausalen Topoi zunächst tabellarisch betrachtet (vgl. Tab. 2):

Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs Kausale deskriptive Topoi Interviews Anzahl der Belege für ursächliches Argumentieren (Schemata: 38–41) Anzahl der Belege für intentionales Argumentieren (Schemata: 42–45) Kommentare Anzahl der Belege für ursächliches Argumentieren (Schemata: 38–41) Anzahl der Belege für intentionales Argumentieren (Schemata: 42–45)

Diskurs A Deutsch

Diskurs B Polnisch

Diskurs C Ungarisch

50

30

16

11



5

58

83

76

27

7

28

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Tab. 2: Ursächliches vs. intentionales Argumentieren mit kausalen deskriptiven Topoi, eine textsortenübergreifende Vergleichsperspektive Das ursächliche Argumentieren mittels deskriptiver kausaler Topoi liegt bspw. im Topos des Befragten im folgenden Interview aus dem polnischsprachigen Diskurs vor (vgl. Anhang: Beleg 2, S. 99). Die Struktur des Topos des Befragten in diesem Beleg lässt sich folgendermaßen nachzeichnen (vgl. Kienpointner 1992: 336, Schema 38): •



Wenn die Ursache […] vorliegt, tritt die Wirkung auf. Die Ursache liegt vor. Also: Die Wirkung tritt auf. d.h. Wenn die Hilfe etwas Konkretes im materiellen Sinne bringt, lassen die Spannungen zwischen den Nationen nach. Die Hilfe bringt etwas Konkretes im materiellen Sinne. Also: Die Spannungen zwischen den Nationen lassen nach.

Dabei ist zu betonen, dass die Tendenz zum Argumentieren nach Ursachen und Wirkungen sowohl mittels des vorgestellten Schemas 38 als auch mittels anderer deskriptiver kausaler Schemata insbesondere die Autoren der polnischsprachigen Diskursgemeinschaft auszeichnet. Die deutsch- und die ungarischsprachigen Autoren argumentieren dagegen auch verhältnismäßig viel nach Schemata, mit denen m. E. das intentionale Argumentieren realisiert wird, d.h. mit Schemata, in denen von Handlungen auf Folgen bzw. Ziele geschlossen wird (vgl. Tab. 2). Dies sei an einem Kommentarabschnitt des deutschsprachigen Diskurses illustriert (vgl. Anhang: Beleg 3, S. 99). Das intentionale Argumentieren liegt im Topos 1

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Ewa Drewnowska-Vargáné

vor, dessen Struktur sich auf Grund dieses Belegs folgendermaßen rekonstruieren lässt: (vgl. Kienpointner 1992: 338, Schema 42): •



Wenn X ein Ziel (nur) durch die Handlung Z erreichen kann, wird X Z ausführen. X kann ein Ziel (nur) durch die Handlung Z erreichen. Also: X wird Z ausführen. d.h.: Wenn Milošević mit dem Opfern vieler Landsleute sein eigenes politisches Überleben garantieren kann, wird er „das Leben vieler Serben seiner eigenen Macht“ opfern. Milošević kann mit dem Opfern vieler Landsleute sein eigenes politisches Überleben garantieren. Also: Er wird „das Leben vieler Landsleute seiner eigenen Macht“ opfern.

4.2.2 ,Potentialität‘ Das Strukturmoment der ,Potentialität‘ besagt, dass Topoi flexibel anwendbar, miteinander verschiedenartig kombinierbar, interpretationsbedürftig und komplex sind (vgl. Bornscheuer 1976: 98f.; 1977: 209f.). Die flexible Anwendbarkeit und Kombinierbarkeit der Topoi bedeutet, dass es keine „systematisierbare Kohärenz“ (Bornscheuer 1976: 98) für ihre Anwendung gibt. Mit der Flexibilität ist ferner gemeint, dass derselbe Topos von beiden Kontrahenten genutzt werden kann. Zu der Interpretationsbedürftigkeit bzw. zu der aus ihr folgenden Komplexität des Topos äußert sich Bornscheuer (1976: 98) folgendermaßen: Ausschlaggebend ist stets, in welchem Sinne ein Topos ins Spiel gebracht und interpretiert wird. Diese Interpretationsbedürftigkeit tritt nicht als Mangel in Erscheinung, sondern als allgemeine, polyvalente Bedeutungshaltigkeit. Das Unbestimmt-Allgemeine bedeutet keinen Leerraum, sondern Komplexität.

Auf die besagte „Interpretationsbedürftigkeit“ der Topoi reflektiert Schwarze (2010: 31) zurückgehend auf Bornscheuers Ausführungen mit dem Attribut „interpretationsoffen“. Ich halte diese Bezeichnung für noch treffender als die bei Bornscheuer, denn gerade eine Interpretationsoffenheit bietet beiden Kontrahenten einen Spielraum beim Topoi-Gebrauch. Exemplifiziert sei das an einem Beleg aus dem deutschsprachigen Interviewdiskurs (vgl. Anhang: Beleg 4, S. 100). Die Interviewerin verwendet in ihrem Redebeitrag einen deskriptiven Vergleichstopos, dessen Struktur sich nach Kienpointner (1992: 284, Schema 18) folgendermaßen auslegen lässt:

Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs •



87

Von (hinsichtlich eines quantitativen/qualitativen Kriteriums Z) gleichen/ähnlichen Gegenständen X werden gleiche/ähnliche Eigenschaften Y ausgesagt. Die Gegenstände X sind (hinsichtlich eines quant./qual. Kriteriums Z) gleich/ähnlich. Also: Von den Gegenständen X werden die Eigenschaften Y ausgesagt. d.h. Miloševič und Hussein, denen hinsichtlich ihrer Redeideologien die gleichen Eigenschaften (= „Durchhalteparolen“) zugeschrieben werden, sind auch im Hinblick auf ihr Handeln ähnlich („nacheifern“). Miloševič und Hussein sind hinsichtlich ihrer Redeideologien (= „Durchhalteparolen“) gleich/ähnlich. Also: Miloševič könnte Hussein nacheifern.

Auf den Vergleich, den ihm die Interviewerin suggeriert, reagiert der Befragte ebenfalls mit einem Vergleichstopos und dabei manifestiert er zugleich die Interpretationsoffenheit des Vergleichsschemas, denn sein Topos hat eine ganz andere formale Struktur als der der Interviewerin. Frei nach Kienpointner und daher auch ganz in seinem Sinne der Offenheit seiner Typologie lässt sich der Vergleichstopos des Befragten im Beleg 4 so nachzeichnen: •



Wenn Miloševič und Hussein, denen zwar hinsichtlich ihrer Methoden und Strategien die gleiche Eigenschaft (= „falsch“) zugeschrieben wird, sich im Hinblick auf eine weitere Eigenschaft (Terroreinsatz) unterscheiden, sind sie miteinander nicht zu vergleichen. Miloševič und Hussein, denen zwar hinsichtlich ihrer Methoden und Strategien die gleiche Eigenschaft zugeschrieben wird, unterscheiden sich im Hinblick auf eine weitere Eigenschaft. Also: Miloševič und Hussein sind miteinander nicht zu vergleichen. d.h. Wenn (hinsichtlich eines quantitativen/qualitativen Kriteriums Z) gleiche/ähnliche Gegenstände sich hinsichtlich eines weiteren quantitativen/qualitativen Kriteriums Y unterscheiden, sind sie miteinander nicht zu vergleichen.

Das von dem Befragten modifizierte Vergleichsschema hängt mit dem folgenden Strukturmerkmal der Topoi eng zusammen. 4.2.3 ,Intentionalität‘ Mit dem Strukturmoment der ,Intentionalität‘ ist die Bindung der Topoi an die Kommunikationssituation und -absicht gemeint (vgl. Bornscheuer 1976: 100; 1977: 210). Zu Recht bemerkt dazu Wengeler (2003: 196; 2007: 167), dass die Argumentierenden die bereits vorhandenen Denkmuster ihren eigenen Intentio-

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Ewa Drewnowska-Vargáné

nen und kommunikativen Absichten entsprechend individuell auch modifizieren können. Dies trifft bspw. auf das zuvor besprochene Vergleichsschema des Befragten sehr gut zu (vgl. Abschnitt 4.2.2 weiter oben): Der Befragte widerspricht dem von der Interviewerin suggerierten Vergleich, indem er die Struktur des Vergleichstopos seiner Aussageabsicht entsprechend verändert. 4.2.4 ,Symbolizität‘ Bornscheuer (1977: 210) fasst Topoi als „Elementarbausteine der Vorstellungskraft“ an der Grenze „zwischen Sprachlichkeit und Bildlichkeit“ auf. „Sie stellen die syntaktischen, semantischen und pragmatischen Grundmuster eines soziokulturellen Kommunikationssystems dar.“ In diesem Sinne erachtet Bornscheuer Symbolizität als das vierte und letzte Strukturmerkmal der Topoi. Die symbolische Sprachform der Topoi manifestiert sich nicht selten z.B. in Metaphern. Dazu sei das eingangs bei der sprachlichen Illustration des ,Enthymems‘ bereits Zitierte (vgl. Abb. 2 weiter oben und Anhang: Beleg 1, S. 98) noch einmal angeführt, nunmehr als ein normativer Definitionstopos. Ein solcher liegt nämlich dem Redebeitrag des Interviewers im Beleg 1 zugrunde (vgl. Kienpointner 1992: 251, Schema 3): •



Wenn X durch Definition Y definiert ist, ist Wertung Z bezüglich X gerechtfertigt. X ist durch Y definiert. Also: Wertung Z ist bezüglich X gerechtfertigt. d.h. Wenn die Situation Griechenlands durch „Serben-Freundschaft mit NATO-Verpflichtung“ definiert ist, ist die Wertung „heikel“ bezüglich der Situation gerechtertigt. Die Situation Griechenlands ist durch Serben-Freundschaft mit NATO-Verpflichtung definiert. Also: Die Wertung „heikel“ ist bezüglich dieser Situation gerechtfertigt.

Der normative Definitionstopos im Beitrag des Interviewers „Ihre Situation ist also heikel: Serben-Freundschaft mit NATO-Verpflichtung“ wird vom redigierenden Journalisten zuerst im Vorspann des Interviews als „heikle Gleichgewichts-Lage“ metaphorisiert (Anhang: Beleg 1, S. 98). Es handelt sich hier um eine bildschematische Metapher, die in der Hauptüberschrift – wenngleich mit einem anderen Attribut – beibehalten wird: „Hellenisches Gleichgewicht“. Der obigen Metapher liegt somit das GLEICHGEWICHTS-Schema im Sinne von Johnson (1987) zugrunde. Dieses Schema basiert auf dem allgemeinen Wissen, „daß – so (Baldauf (1997: 174) – Gleichgewicht durch Kräfteausgleich zustande

Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs

89

kommt, daß es Stabilität leistet und durch Unausgewogenheit zerstört wird.“ Demnach lässt sich auf Grund der im Vorspann und in der Hauptüberschrift des Belegs befindlichen Metapher auf das Konzept DIPLOMATISCHE BEZIEHUNGEN MIT SERBIEN UND DIE VERPFLICHTUNG DER NATO GEGENÜBER SIND GLEICH SCHWER folgern. In diesem metaphorischen Konzept ist die Konklusion des obigen Definitionstopos erkennbar.17

5

Ein Vorschlag für den methodischen Weg bei unterschiedlichen Konstellationen des internationalen Diskursvergleichs

Die bis jetzt vorgestellten, formal-kontextabstrakten argumentativen Topoi, geben Auskunft über das argumentative Verhalten, über die ,Endoxa‘ der deutsch-, polnisch-, und ungarischsprachigen Diskursgemeinschaft in dem internationalen pragmatisch bedingten Pressediskurs in einem formal-abstrakten Hinblick (vgl. Tab. 1 und 2 weiter oben). Ein zweiter Schritt, dessen Ziel eine Erstellung eines Katalogs kontextspezifischer Topoi ist, kann sich nur im Falle eines thematisch geprägten Diskurses als sinnvoll erweisen. Im Falle der vorliegenden Untersuchung handelt es sich dabei um den Teildiskurs 2 (vgl. Abb. 3 und 4 weiter oben). Demzufolge seien nun Inhalte, die die Reflexion des ,Kosovo-Kriegs‘ in den argumentativen Topoi in dem thematisch geprägten internationalen mehrsprachigen Teildiskurs 2 (Interviews und Kommentare) erkennen lassen, in Form eines Katalogs kontextspezifischer Topoi ins Auge gefasst. Eine Inspiration zur Erstellung des Katalogs kontextspezifischer Topoi bedeuteten mir Wengelers einzelsprachlich ausgerichtete Beiträge (v.a. Wengeler 2003; 2007 und 2010a). Der Forscher hat einen solchen Katalog für seine Untersuchung des Migrationsdiskurses in Deutschland (1960–1985) erstellt und nach diesem Katalog den betreffenden Diskurs ausgewertet. Wengelers Katalog kontextspezifischer Topoi ist nach seiner ersten Korpuslektüre entstanden (vgl. Wengeler 2003: 296; 2007: 173) und beruht auf der individuellen Interpretation des Analysierenden (vgl. Wengeler 2007: 170).Kontextspezifische Topoi wie z.B. der „Ausbeutungs-Topos“, der „Vorurteils-Topos“, der „Belastungs-Topos“, der „Mehrheit-Topos“, der „Verständnis-Topos“ usw. thematisieren – so Wengeler (2003: 279; 2007: 170) – „die wichtigsten […] Phänomene“ des deutschen Migra17

An diesem Punkt grenzt die obige Ausführung schon an die von Pielenz (1993: 175) behandelte Frage „inwiefern Topoi metaphorisch und Metaphern topisch sind“. Pielenz weist außerdem nach, dass die konzeptuelle Metapher dieselben Strukturmerkmale besitzt wie der Topos (vgl. Pielenz ebd., S. 132ff.).

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Ewa Drewnowska-Vargáné

tionsdiskurses. Zugleich sind sie aber „so allgemein“, dass sie „zu verschiedenen Zwecken gefüllt werden können“. Im Ergebnis ermögliche diese Vorgehensweise dem Autor die relevantesten „Denkfiguren“ des besagten Migrationsdiskurses zu ermitteln. Alle eruierten kontextspezifischen Topoi können formalen Topoi in Kienpointners Typologie „jeweils zugeordnet werden“ (Wengeler 2003: 279). Der Unterschied zwischen den formal-kontextabstrakten und den kontextspezifischen Topoi beruhe darauf, dass sie sich auf jeweils unterschiedlichen Abstraktionsstufen finden. Die kontextspezifischen Topoi seien „konkreter“, d.h. sie enthalten „inhaltlich spezifizierte Schlussregeln“ (Wengeler 2007: 169). Obgleich ich mich beim Erstellen eines (relativ kleinen) Katalogs kontextspezifischer Topoi in vieler Hinsicht auf Wengeler stützte, weist meine Vorgehensweise eine andere Reihenfolge bzw. eine Phase auf, auf welche Wengeler in seiner Untersuchung verzichtet: Zunächst schaffe ich durch das Eruieren der formalabstrakten Topoi im Sinne von Kienpointner (1992) eine Grundlage für Aussagen über textsortenübergreifende Analogien bei jeder der drei Diskursgemeinschaften im ganzen internationalen Pressediskurs der Untersuchung. Im Unterschied zu Wengeler (2003: 185), der die an dem deutschen Migrationskorpus belegten kontextspezifischen Argumentationsmuster – aus meiner Sicht etwas pauschal – als „lediglich“ kausale Schemata im Sinne von Kienpointner (1992) bezeichnet, bin ich nämlich zu der Einsicht gekommen, dass eine ausführliche vergleichende sprach- und kulturkontrastive Untersuchung formal-abstrakter Topoi in zwei oder drei Paralleldiskursen interessante Ergebnisse aufzeigen kann, die in einer einzelsprachlich ausgerichteten Untersuchung irrelevant erscheinen können. Dies wurde im vorliegenden Beitrag am Beispiel deskriptiver kausaler Topoi sowie deskriptiver und normativer Definitionstopoi präsentiert (vgl. Tab. 1 und 2 weiter oben). Erst nach der Analyse der formal-abstrakten Topoi wendete ich mich dem thematisch bedingten Teil des Pressediskurses zu: Hier wurde zuerst eine Auswahl aus allen ermittelten formal-kontextabstrakten Topoi im Kommentardiskurs getroffen: Dabei war ausschlaggebend, welche der zuvor ermittelten Großklassen und Schemata die relevantesten inhaltlichen Aussagen – d.h. die den jeweiligen Diskurs kennzeichnenden inhaltlich konkretisierten ,Endoxa‘ über den ,KosovoKrieg‘ – liefern. Die Ergebnisse der Untersuchung besagen, dass sich dafür die ermittelten normativen Definitionstopoi besonders gut eignen: Sie treten nicht nur in Kommentaren, sondern auch in den Interviews der drei Diskursgemeinschaften in der höchsten Anzahl auf. Dies schafft wiederum eine Grundlage für Aussagen über evtl. textsortenübergreifende Analogien bzw. Unterschiede im Gebrauch der kontextspezifischen Topoi zum ,Kosovo-Krieg‘. Kontextspezifisch weisen die von mir eruierten normativen Definitionstopoi folgende Gemeinsamkeit auf: In allen Belegen werden die jeweiligen Akteure, Sachverhalte bzw.

Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs

91

Ereignisse oder historischen Zusammenhänge im ,Kosovo-Krieg‘ definiert. Für eine weitere unterscheidende Klassifikation aller bereits festgestellten Schemata halte ich folgende Kriterien für sinnvoll: •



Was für eine ‚Handlung‘ wird auf Grund der ‚Definition‘ als angebracht bzw.unangebracht deklariert? (Im Falle des Schemas 4: Schluss von ‚Definition‘ auf ‚Handlung‘, vgl. Kienpointner 1992: 251); Was für eine ‚Wertung‘ wird auf Grund der ‚Definition‘ als gerechtfertigt erklärt? (Im Falle des Schemas 3: Schluss von ‚Definition‘ auf ‚Wertung‘) (vgl. Kienpointner ebd.).

Somit lassen sich Belege, denen kontextabstrakt das Definitionsschema 4 (Schluss von ‚Definition‘ auf ‚Handlung‘) zugrunde liegt, jeweils einem der folgenden drei kontextspezifischen Topoi zuordnen: dem ‚Metakommunikationstopos‘, dem ‚Tätigkeitstopos‘ und dem ,Topos der psychischen bzw. moralischen Haltung‘.Die nach dem kontextabstrakten Definitionsschema 3 (Schluss von ‚Definition‘ auf ‚Wertung‘) ermittelten Belege konnten kontextspezifisch jeweils als einer der folgenden sechs Topoi klassifiziert werden: als der ‚Nachteil-Topos‘, der ‚Vorzug-Topos‘, der ‚Tragödie-Topos‘, der ‚Gefahren-Topos‘, der ‚Topos der mangelnden Information‘ und der ‚Topos der attraktiven Information‘. Zur zahlenmäßigen Illustration der oben vorgestellten Vorgehensweise soll die Tabelle 3 dienen (S. 92). Aus Raumgründen enthält sie jedoch nicht alle ermittelten kontextspezifischen Zuordnungen der formal-abstrakten normativen Definitionstopoi innerhalb des Schemas 3 (Schluss von ‚Definition‘ auf ‚Wertung‘): Wie aus der Tabelle 3 ersichtlich ist, kommen manche Topoi in nur einem der drei Diskurse (A, B, C) vor: So ist es bspw. im Falle des ,Metakommunikationstopos‘, der nur im ungarischen Kommentardiskurs belegt wurde.18 Mit dem ,Metakommunikationstopos‘ wenden sich ungarischsprachige Kommentatoren mit Nachdruck an die Politiker ihres eigenen Landes bzw. an ihre Journalisten-Kollegen im Ausland, damit sie bestimmte Kommunikationsmodalitäten öffentlich vermeiden oder eben öffentlich gebrauchen. Rückschlüsse auf die historisch-geo18

Den Terminus ‚Metakommunikation‘ verwende ich in Bezug auf diesen Topos in Anlehnung an Techtmeier (2001: 1450) als „die Bezugnahme auf Aspekte des Kommunikationsvorgangs, in dessen Verlauf die jeweilige Metakommunikation auftritt“ Die ,Metakommunikation‘ manifestiert sich in ‚metakommunikativen Äußerungen‘, die die Form interaktionsbenennender Ausdrücke haben (z.B.: sagen, formulieren, antworten usw.) und der gleichen Interaktionseinheit wie die nichtmetakommunikative Bezugsäußerung angehören (vgl. Techtmeier ebd., S. 1451). Typisch für die Belege für den ‚Metakommunikationstopos‘ sind demnach interaktionsbenennende Ausdrücke.

92

Ewa Drewnowska-Vargáné

graphische Lage sind dabei offensichtlich: Ungarn alseinziges unter den Heimatländern der drei Diskursgemeinschaften grenzte an das Kriegsgebiet, ferner bangte man im Lande um das Schicksal der ungarischen Minderheit in der Wojwodina. Diskurs A Deutsch

Diskurs B Polnisch

Diskurs C Ungarisch

A) Formal-abstrakte normative Topoi in der Großklasse der Definitionen Kommentare 28 Belege: 34 Belege: 22 Belege: 19 für Schema 3 16 für Schema 3 9 für Schema 3 4 für Schema 4 18 für Schema 4 13 für Schema 4 Interviews 6 Belege: 19 Belege: 11 Belege: 6 für Schema 3 17 für Schema 3 11 für Schema 3 2 für Schema 4 B) Kontextspezifische Zuordnungen obiger formal-abstrakter Topoi 1) Innerhalb des Schemas 4: Schluss von ,Definition‘ auf ,Handlung‘ 1.1) ,Metakommunikationstopos‘ Kommentare – – 7 Belege Interviews – – – 1.2) ,Tätigkeitstopos‘ Kommentare 6 Belege 16 Belege 3 Belege Interviews – 2 Belege – 1.3) ,Topos der psychischen bzw. moralischen Haltung‘ Kommentare 3 Belege 2 Belege 3 Belege Interviews – – – 2) Innerhalb des Schemas 3: Schluss von ,Definition‘ auf ,Wertung‘ 2.1) ,Nachteil-Topos‘ Kommentare 17 Belege 8 Belege 3 Belege Interviews 5 Belege 10 Belege 11 Belege 2.2) ,Vorzug-Topos‘ Kommentare 1 Beleg 2 Belege 2 Belege Interviews 1 Beleg 3 Belege – […]

Tab. 3: Kontextspezifische Topoi in einer textsortenübergreifenden Vergleichsperspektive Demgegenüber ist der ‚Nachteil-Topos‘ im Kommentar- und Interviewdiskurs jeder der Diskursgemeinschaften am besten belegt (vgl. Tab. 3). Allerdings liefert der deutschsprachige Diskurs die weitaus meisten Belege, während sich in dem ungarischsprachigen die wenigsten Belege finden und der polnischsprachige Diskurs hier im Mittelfeld bleibt. Der ‚Nachteil-Topos‘ beruht auf einem Schluss

Argumentative Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs

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von einer zumeist negativen Definition auf eine negative Wertung des Definierten. Thematisiert werden in diesem Topos Nachteile bestimmter politischer Entscheidungen bzw. militärischer Einsätze, politischer Situationen, wie bspw. in dem zuvor im Zusammenhang mit der ,Symbolizität‘ der Topoi behandelten Beleg 1 (vgl. Abschnitt 4.2.4. und Anhang S. 98ff.). Vor allem aber werden mit diesem Topos Politiker(inne)n und anderen Hauptakteuren des Krieges negative Eigenschaften zugeschrieben, wie dies bspw. im Beleg 5 (vgl. Anhang S. 98ff.) der Fall ist. Der auf das weiter oben (vgl. Abschnitt 4.2.4) angeführte formal-abstrakte normative Definitionsschema 3 (vgl. Kienpointner 1992: 251) zurückführbare kontextspezifische ,Nachteil-Topos‘ weist folgende inhaltliche Schlussregel auf: •

6

Weil Albrights politische Wirkung als Karten, die „nicht gestochen“, als Luftschläge, die „nicht genügt“ haben und als Bodentruppen, für die „sie nicht zuständig“ ist, gedeutet wird, ist die Wertung bezüglich Albright als Politikerin, die „ausgespielt“ hat, gerechtfertigt.

Fazit

Meine Absicht war, einen möglichen methodischen Vorschlag für die sprachund kulturvergleichende Paralleldiskursanalyse im Hinblick auf argumentative Topoi zu unterbreiten. Einen Weg, der von mir erst nach dem Abschluss der besagten Untersuchung, nach einer selbstkritischen Rückschau deutlich erkannt werden konnte. Demnach erachte ich zunächst eine Untersuchung aller Topoi in einer formal-abstrakten Hinsicht und dann einen expliziten Schritt von formalabstrakten zu materiellen, d.h. kontextspezifischen Topoi für angebracht, weil dies Folgendes ermöglicht: Aussagen allgemeineren Charakters im Hinblick auf das argumentative Verhalten in der jeweiligen Kommunikationskultur, bzw. in der jeweiligen Diskursgemeinschaft, • detailliertere Unterscheidungen zwischen einzelnen formal-abstrakten Schemata, • Eruieren von weiteren, neuen formal-abstrakten – bei Kienpointner bzw. in anderen einschlägigen Typologien nicht thematisierten – Schemata, was im Resultat zu Verfeinerungen im Bestand der formal-abstrakten Topoi als Untersuchungskategorie führen und dadurch auch argumentationsanalytisch gewinnbringend sein kann.



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Ewa Drewnowska-Vargáné

Erst auf Grund aller Ergebnisse zu formal-abstrakten Schemata kann eine Inhaltsanalyse durchgeführt werden, in deren Resultat möglichst viele kontextspezifische Schemata ausgearbeitet werden. Sie bieten Einsichten in die thematisch bezogenen ,Endoxa‘ der jeweiligen Diskursgemeinschaft. Ein ,umgekehrter‘ Schritt, der zunächst auf dem inhaltsorientieren Eruieren kontextspezifischer Topoi und danach deren Zurückführung auf entsprechende formal-abstrakte Schemata ist m.E. nicht angebracht, denn: •



Nicht alle Topoi, die als formal-abstrakt eruiert werden können, sind immer kontextrelevant, dennoch sind sie nicht zu vernachlässigen, indem sie bereits die allgemeinen ,Endoxa‘ der jeweiligen Kommunikationskultur in einem formal-abstrakten Hinblick manifestieren. Nicht alle kontextspezifisch eruierten Topoi treten gleichzeitig in allen Paralleldiskursen auf. Kontextspezifische Topoi, die in nur einem Diskurs auftreten, besitzen demzufolge nur einen semasiologischen Charakter (vgl. Tab. 3: z.B. ,Metakommunikationstopos‘).

Die Ausführungen in den Abschnitten 4 und 5, die mit den Belegen und Ergebnissen des besagten Diskursvergleichs veranschaulicht wurden, dürften nahe legen, dass ein Parallelvergleich argumentativer Topoi in einem mehrsprachigen Diskurs einer anderen methodischen Verfahrensweise als eine einzelsprachlich ausgerichtete Diskursanalyse bedarf. Diese Verfahrensweise soll alle Konstellationen des zu untersuchenden Diskurses berücksichtigen und bereits deswegen darf sie nicht von einzelsprachlich ausgerichteten Untersuchungen unreflektiert übernommen werden. Somit erachte ich die eingangs gestellte Forschungsfrage für beantwortet.

7

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Anhang Beleg 1 Hellén egyensúly [Vorspann:] A görög közvélemény élesen elítéli a szerbiai bombázásokat, de ez nem jelenti azt, hogy a hellének ne volnának a NATO elkötelezett szövetségesei – immár negyvenhat éve. Ám Görögország helyzete speciális: ez az egyetlen olyan balkáni ország, amely egyaránt tagja a NATO-nak, az Európai Uniónak és a Nyugat-európai Uniónak. S bár lakossága szerbbarát, ortodox görögkeleti vallású – négyszázezer mohamedán albánnak ad otthont. [RA 1:] Erről a kényes egyensúlyi helyzetről Ioannis Fotopoulos nagykövettel Trom András beszélgetett […] [verschriftlichter Dialog:] der Interviewer, András Trom: A mélyebb megértés azt jelenti, hogy a görög nép a szerbek partján áll. Tehát az önök helyzete kényes: szerbbarátság, NATO-elkötelezettséggel. […] (168 ÓRA vom 20. Mai 1999) dt. Hellenisches Gleichgewicht [Vorspann:] Die griechische öffentliche Meinung verurteilt die Bombardierungen Serbiens aufs Schärfste, aber das bedeutet nicht, dass die Hellenen keine verpflichteten Verbündeten der Nato wären – dies sind sie bereits seit sechsundvierzig Jahren. Doch ist Griechenlands Lage eine besondere: Dies ist der einzige Balkanstaat, welcher Mitglied der NATO, der Europäischen Union und der West-Europäischen Union gleichermaßen ist. Obwohl die Einwohner griechisch-orthodoxe Serben-Freunde sind, hat das Land vierzigtausend islamische Albaner aufgenommen. Über diese heikle Gleichgewichts-Lage hat mit Ioannis Fotopoulos, dem Botschafter, András Trom gesprochen […] [verschriftlichter Dialog:] der Interviewer, András Trom: Ein besseres Verständnis bedeutet, dass das griechische Volk an der Seite der Serben steht. [BA 1:] Ihre Situation ist also heikel: SerbenFreundschaft mit NATO-Verpflichtung. […]

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Beleg 2 By nie została czarna dziura [...] der Befragte, Prof. Marek Belka: [...] chodzi o to by Bałkany zeuropeizować. Teraz żyją one w innej epoce niż reszta Europy. U nas granice odgrywają coraz mniejszą rolę, tam coraz większą. der Interviewer, Witold Gadomski: Czy próba europeizacji nie wywoła wrogich reakcji? Nikt nie lubi narzucania obcych wzorców kulturowych. Belka: Trudno się dziś wypowiadać na temat konkretnych rozwiązań politycznych dla Bałlanów.[kausaler Topos: ] Sądzę jednak, że jeśli pomoc przyniesie coś konkretnego w sensie materialnym, to napięcia między narodami nie zwiększą się, lecz zmniejszą. [...] (GAZETA WYBORCZA vom 01. Juni 1999) dt. Damit kein schwarzes Loch bleibt [...] der Befragte, Prof. Marek Belka: [...] es geht darum, dass Balkanstaaten europäisiert werden sollen. Jetzt leben sie in einer anderen Epoche als der Rest Europas. Bei uns spielen die Grenzen eine immer kleinere, dort eine immer größere Rolle. der Interviewer, Witold Gadomski: Wird die Probe der Europäisierung keine feindlichen Reaktionen hervorrufen? Niemand hat es gern, wenn man ihm fremde kulturelle Muster aufzwingt. Belka: Es ist schwierig, heute über konkrete politische Lösungen für die Balkanstaaten eine Meinung zu äußern. [kausaler Topos: ] Wenn aber die Hilfe etwas Konkretes im materiellen Sinne bringt – wie ich glaube –, dann werden die Spannungen zwischen den Nationen nicht wachsen, sondern nachlassen. [...]

Beleg 3 Kein Friede mit Milosevic [...] Milosevic ist viel zu schlau, um nicht zu sehen, wieviel seine Politik der Aggression seinem eigenen Volk geschadet hat. Aber er ist zu machttrunken, um von der politischen Bühne abzutreten. [Topos 1:] Derzeit versucht er vielerlei Spielchen, um sein eigenes politisches Überleben zu garantieren. So wie er in der Vergangenheit das Leben zahlloser Kroaten, Bosnier und Albaner seinen Zielen unterordnete, opfert er nun auch das Leben vieler Serben seiner eigenen Macht. [...]“ (DIE WELT vom 8. Mai 1999, S. 10, Autor: Otto von Habsburg)

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Beleg 4 Hinweg mit Miloševič [...] der Befragte: Dragoslav Avramovič: [...] Miloševič muss im Interesse des Landes gehen – egal ob er schuldig ist oder nicht. Er weiß das auch. Er ist ein intelligenter Mann. Er war zehn Jahre an der Macht – Schluss, hinweg mit ihm! die Interviewerin, Renate Flottau: In seinen letzten Reden gibt er Durchhalteparolen. Könnte er dem Beispiel des irakischen Diktators Saddam Hussein nacheifern? Avramovič: Diesem Vergleich stimme ich nicht zu. Miloševič hatte falsche Methoden und eine falsche Strategie, aber er reagierte nicht mit Terror. [...] (DER SPIEGEL vom 04. Oktober 1999)

Beleg 5 Madeleines Krieg [...] Albright hat jetzt ausgespielt, ihre Karten haben nicht gestochen. Ihre Luftschläge haben eben nicht genügt, und für Bodentruppen ist sie nicht zuständig. [...] (DER SPIEGEL vom 31. Mai 1999, Autor: Rudolf Augstein)

Hans-Werner Eroms Passau

Fraktale Texte. Selbstähnliche Texte als Bausteine

Abstract In der Textlinguistik stößt zunehmend die Bezugnahme von Texten auf andere Texte auf Interesse. „Intertextualität“ lässt sich als eigener Forschungszweig begreifen. Ein besonderer Fall sind dabei die Querverbindungen bei Texten eines einzelnen Autors und hier wiederum die Bezüge, die sich durch Ausdehnung oder aber, in gegenläufiger Richtung, durch Verdichtung von Texten ergeben. Solche Mechanismen lassen sich textextern und textintern als fraktale Bauprinzipien erfassen. Unter Fraktalen werden bekanntlich selbstähnliche Objekte verstanden, die zusammenhängen und bei denen die kleineren den gleichen Baubedingungen wie die größeren gehorchen. Der ursprünglich in der Mathematik entwickelte Begriff lässt sich mit Erfolg auch auf die Deutung von kulturellen Artefakten anwenden. Musterfälle sind dabei bestimmte Texte der Lyrik, doch auch epische Texte können diesen Bedingungen gehorchen. Aber auch Presseartikel, Werbespots und nicht zuletzt alle Abstracts und Textzusammenfassungen im Vergleich mit den entsprechenden Vollversionen können als Fraktale auftreten. Den Regularitäten dieses Bauprinzips wird im folgenden Beitrag nachgegangen.

1

Fraktalität als Gestaltungsprinzip

Trotz immer weiter zunehmender Einsichten in die Prinzipien, die sich bei der Bestimmung der Textualität gewinnen lassen, sind noch lange nicht alle Fragen gelöst, die für den Bau von Texten bestimmend sind. Das ist bei der Vielgestaltigkeit der Textsorten und der Komplexität von Texten schlechthin auch nicht zu erwarten. Wenn hier nun ein weiterer Zugriff vorgeschlagen wird, soll damit nicht gesagt sein, dass dieser für alle Texte Gültigkeit habe. Dazu sind einerseits die Bauprinzipien viel zu unterschiedlich und andererseits ist das Bildemuster, um das es im Folgenden geht, ein im weitesten Sinne stilistisches. Damit ist gemeint, dass es gewählt werden kann, aber nicht zwingend vorhanden sein muss. Aber mit dem im Folgenden zu entwickelnden Bauprinzip der Fraktalität können doch wesentliche Einsichten in die Konstitution von Texten gewonnen werden. Denn Fraktalität ist ein allgemeines Gestaltungsprinzip. Es handelt sich dabei um die mathematisch angebbare Ähnlichkeit kleinerer Teile, die stufenweise auf eine

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Hans-Werner Eroms

maximale Form bezogen sind. Diese Art von Selbstähnlichkeit lässt sich von der reinen Mathematik über physikalische und biologische Größen, d.h. bei anorganischen und bei organischen Formen, bis zu Artefakten aller Art nachweisen. Eine mathematisch erzeugte fraktale Form ist etwa der Pythagorasbaum:

Abb. 1: Pythagorasbaum1 Eine organische Form, die den gleichen Bauprinzipien gehorcht, ist z.B. das Farnblatt:

Abb. 2: Farnblatt2

1 2

Konstruktionsanweisung z.B. bei www.pns-berlin.de; zuletzt eingesehen am 19. 3. 2013. Vgl. z.B. www.graphics.uni-ulm.de/lehre/courses/ss02; zuletzt eingesehen am 19. 3. 2013.

Fraktale Texte. Selbstähnliche Texte als Bausteine

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Die Bildende Kunst arbeitet in erheblichem Maße mit dem Fraktalprinzip und hat damit die Anwendbarkeit als Erklärungsprinzip in den Kulturdisziplinen eröffnet. Was ist genauer unter Fraktalität zu verstehen? Die mathematische Seite kann uns hier begreiflicherweise nur am Rande interessieren. Der Begriff „Fraktale“ geht auf Benoit Mandelbrot (1924–2012) zurück. Er spielt auf das „Gebrochene“ an, meint aber mehr, nämlich die rekursive Spiegelung von Strukturen in sich selbst, bezogen auf eine maximale Form (Mandelbrot 1987: 15; Tafel C16, S. 373). Schon vor Mandelbrot hat der französische Mathematiker Gaston Julia (1893– 1978) die Selbstähnlichkeit von Strukturen beschrieben.3 Er wählte dafür eine mengentheoretische Darstellungsweise. Mathematisch gesehen ist eine „Juliamenge“ dann selbstähnlich, wenn sie sich u.a. durch Skalierung in die Obermenge transformieren lässt. Benoit Mandelbrot wendete diese Idee auf die mathematische Beschreibung natürlicher Objekte wie Küstenlinien, Schneeflocken oder Farnblätter an. Diese enthalten in ihren Mikroteilen die Spiegelung größerer Abschnitte. Verlängert man diese wiederum, gelangt man an das „Ganze“. Dieses stellt sich dann als eine mathematisch errechenbare Größe dar, die sich schrittweise aus der Skalierung ihrer kleineren Teile aufbaut. Mathematisch sind die konstruierbaren Fraktale z.T. sehr kompliziert, weil die Funktionen dynamisch zu erfassen sind. Statisch gesehen, in der Betrachtung, lassen sie sich auffassen als Iteration der Folge (1)

x, f(x), f(f(x), f(f(f(x)…

oder folgendermaßen erfassen: (2)

„Ein iteriertes Funktionensystem (IFS) ist eine Menge von Funktionen, die denselben Raum � als Definitions- und Wertebereich haben und unter Verknüpfung abgeschlossen sind. Also ∘ ⊂ d.h. , ∈ : ∘ ∈ Iterierte Funktionensysteme dienen meist der Konstruktion von Fraktalen.“4

Formel für die Herstellung einer Mandelbrotmenge5:

3

Vgl. ausführlicher Mandelbrot 1987: 192. Nach Wikipedia. Iterierte Funktionensysteme, ihre mathematische Ableitung und ihre geometrische Darstellung werden ausführlich bei Fernau (1994) und Zeitler / Pagon (2000) behandelt. 5 Die Formel nach Birken / Coon (2008: 150). 4

104 (3)

Hans-Werner Eroms Mandelbrot Set Zn = Z2n-1 + C Z1= C Z2 = C2 + C Z3 = (C2+ C2)2 + C Z4 = ((C2+ C2)2 + C)2 + C

Soweit in aller Kürze die mathematische Seite. Sie ist deswegen wichtig, weil die Mathematik die Schlüsseldisziplin für die Auffindung und Beschreibung von Fraktalität in allen anderen Bereichen ist. Mathematische Denkweisen sind aber nicht isoliert, sondern nur die Abstraktion von Einsichten, die sich mit substantieller „Masse“ in anderen Bereichen ergeben. Wie die ersten Beispiele schon zeigen, Fraktale sind gerade in der Natur und der Bildenden Kunst offensichtlich, sie „springen ins Auge“. Das zeigt sich ganz besonders an den Objekten, die sich bei dem ungarischen Künstler Victor Vasarely finden.

Abb. 3: Victor Vasarely: Rotsnake 26

6

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Abb. 4: Victor Vasarely: eruptions7 Aber die mathematische Einsicht wie auch die künstlerische Gestaltung sind nur wieder Ausflüsse eines Prinzips, das in der Geistesgeschichte der Menschheit schon früh erkannt worden ist. Es liegt ihm eine Erkenntnis zugrunde, die eine uralte Tradition hat. In der ägyptischen, der indischen und der griechischen Philosophie wird das Prinzip der Analogie alles Seienden angenommen. Was sich im Großen zeigt, wiederholt sich in kleineren Strukturen. Der Mensch wird als „kleiner Kosmos“ im „großen Kosmos“ des Weltalls gesehen.8 Diese Vorstellung zieht sich durch die abendländische Geistesgeschichte hindurch und findet sich etwa in der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners. Eines seiner zahlreichen Bücher trägt den Titel: (4)

‚Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos: Der Mensch, eine Hieroglyphe des Weltenalls‘.

Dieses Prinzip der Selbstähnlichkeit ist die Brücke für das Verständnis des Seins, das auf ewigen einfachen Baugesetzen beruht. Die dahinter liegende Idee, die alle Bereiche, also die mathematische Formulierung, die ontologischen Ebenen, die Kunst und die Philosophie verklammert, ist wohl nur evolutionsbiologisch zu verstehen. Ähnlich wie das Prinzip der Symmetrie alle diese Bereiche prägt, so ist es, in abgeschwächtem Maße, auch das der Selbstähnlichkeit. 7

fraktale.blog.de Vgl. zu diesem Topos und seine Aufnahme in der europäischen Geistesgeschichte Gebhard 1984: 7f. 8

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Hans-Werner Eroms

Geistesgeschichtlich gesehen, ist es in neuerer Zeit vor allem Goethe, dem wir die Einsicht verdanken, dass das Kleinere sich auf das Größere bezieht, dass das Größere, das Ganze, aber nur erkannt werden kann, wenn man sich dem Kleineren zuwendet. Denn dieses ist ein Spiegelbild des Ganzen, das das Kleinere umschließt und nur darüber zugänglich wird: (5)

Willst du dich am Ganzen erquicken; so musst du das Ganze im Kleinsten erblicken.9

Diese Einsicht findet sich in Goethes Gedicht von 1816 noch mehrfach in verschiedenen Variationen: (6)

Im Innern ist ein Universum auch; […]10 Willst du in’s Unendliche schreiten, Geh nur im Endlichen nach allen Seiten.11

Hier ist das Prinzip der Fraktale nicht nur formuliert, sondern auch angewandt, nämlich in der spezifisch Goetheschen Aufforderung zu tätiger Weltsicht. Formuliert ist es in variierenden Ausprägungen: Das Ganze spiegelt sich in seinen kleinsten Teilen. Und: Das „Unendliche“ wird durch die Endlichkeit erfahren, wiederum ein typischer Goethescher Syllogismus, der sich z.B. auch in dem Gedicht ‚Vermächtnis‘ findet, das wiederum Gedanken aus seiner Metamorphosenlehre aufnimmt. Es ist der Gedanke, dass nichts verloren geht, „das “12. Und das betrifft auch die philosophische Einsicht der Griechen, dass der innere Kosmos dem äußeren entspreche. Aber es geht mir hier natürlich nicht um eine Goethe-Exegese, sondern erstens darum, dass Fraktalität offenbar ein universales Gestaltungsprinzip ist. D.h. wir dürfen Fraktale in den verschiedensten kulturellen Gebieten erwarten, diese Bereiche vergleichen und aufeinander beziehen, wie es letztlich in der mathematischen Formel gerinnt. Das Zweite und Wichtigere ist, dass Fraktalität auch als Deutungsprinzip eingesetzt wird. Während ein visuelles Kunstobjekt sich in seiner Fraktalität durch bloßes Betrachten erschließt – und damit den Naturobjekten, wie den Küstenlinien, den Farnen, den Schneeflocken strukturell gleichgeartet ist – , ist die Anwendung auf Sprachliches, auf Texte, nicht ohne eine Übertragung des mathematisch einsehbaren skalaren Gedankens auf inhalt9

J.W. Goethe, Gott, Gemüt und Welt, (Eibl 1988: 380). J.W. Goethe, Gott, Gemüt und Welt, (Eibl 1988: 379). 11 J.W. Goethe, Gott, Gemüt und Welt, (Eibl 1988: 380). 12 J.W. Goethe, Münchner Ausgabe, Bd. 18.1.: 445. 10

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liche Größen möglich. „Inhaltlich“ ist dabei im zeichentheoretischen Sinne zu verstehen: Die Inhalte sind immer an die Formen, die sie übermitteln, geknüpft. Da Fraktalität ein Gestaltungsprinzip ist, das der Autor wählen kann, aber nicht muss, unterliegt es auch stilistischen Erfordernissen, d.h., Fraktalität ist notwendig ein Prinzip, das auf die Gestaltungsabsicht eines Textes führt. Ob die Wahl bewusst oder unbewusst erfolgt, ist dabei weniger wichtig, denn Fraktalität ist, wie die einleitenden Überlegungen zeigen sollten, ein universales Bauprinzip. Weil es anthropologisch verankert ist, wirkt es durch sich selbst. Dies lässt sich nun wieder gut an den fraktalen Kunstwerken erkennen, die quasi selbstdeutend sind.

2

Textuelle Prinzipien und Fraktalität

Die angeführten Beispiele konnten schon deutlich machen, dass Fraktale auch und gerade in Texten zu erwarten sind, weil Texte qua definitionem Gebilde sind, die sich einerseits aus kleineren Teilen aufbauen, andererseits ziemlich unbeschränkte Erweiterungsmöglichkeiten zeigen. Unter „kleineren Teilen“ soll hier verstanden werden, dass Teiltexte, Paragraphen, sodann Satzperioden, Sätze, Syntagmen, Wörter, schließlich Morpheme in ihrer Verkettung und in absteigender Linie gesehen den Text manifestieren. Dabei sind die Prinzipien der Vertextung unter unserer Perspektive solche, die auf Wiederholung, Rekurrenz und Skalierung beruhen. Das betrifft den Weg nach unten. Nach oben ist es der jeweilige Gesamttext, dessen prinzipielle Unabgeschlossenheit, bzw. besser, dessen nicht exakt voraussagbare Abgeschlossenheit wiederum unter unserer Perspektive so begrenzt werden kann, dass das in den kleineren Teilen Übermittelte die Skalierung auf eine maximale Größe darstellt. Damit ist z.B. immer impliziert, dass ein beliebiger Text immer noch in eine größere, selbstähnliche Form eingebettet werden kann. Auf den Zusammenhang der Fraktalität mit anderen textuellen Bauprinzipien möchte ich erst eingehen, wenn wir Beispiele betrachtet haben. Nach Birken / Coon (2008), die sich ausführlich mit der mathematischen Beschreibung poetischer Texte befasst haben, sind sowohl globale Zugänge zu geeigneten Texten erhellend, als auch Teilzugriffe, bei denen das angesprochene fraktale Deutungsprinzip angewendet wird. Mir kommt es hier eher auf den ersten Aspekt an. D.h. ich beschränke mich auf für die gesamthafte Analyse geeigneter Texte, also auf Texte, in denen kleinere Partien auf größere verweisen. Aber dies ist nicht ein einfaches rekurrentes Verfahren, sondern, um es zu wiederholen: Es ist die Spiegelung des Großen als Ganzes (im Goetheschen Sinne) im Kleinen. Das Kleine nun lässt sich analytisch besser als das Große erfassen und kann im Idealfall schrittweise auf die Erfassung des Sinnzusammenhangs des Ganzen projiziert

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werden. Damit rechtfertigt es die mikrostrukturelle Analyse als Prozedur zur Erfassung des Textsinnes. Meine Beispiele nehme ich zunächst aus künstlerisch gestalteten Texten. Der Grund dafür ist zweifach: Einmal unterliegen dichterische Texte stets einem bewussten Gestaltungswillen, zum andern sind sie in der Forschung bisher die einzigen untersuchten Bereiche. Auf nichtdichterische Texte verschiedener Funktionalstile gehe ich in einem zweiten Schritt ein. Es lässt sich zeigen, dass das Fraktalprinzip sich überraschend häufig in vielen Textsorten findet. Das ist andererseits auch zu erwarten, wenn dieses Prinzip ein generelles Gestaltungsprinzip ist, mit dem nicht nur die Einheitlichkeit eines Gebildes gleichsam aus sich heraus konstituiert werden kann, sondern auch praktische Zwecke damit verbunden sind, nicht zuletzt die Einprägsamkeit eines Textes.

3

Analysen fraktaler Texte

3.1

Dichterische Texte

3.1.1 Fraktale Bauweisen in der Lyrik In der einschlägigen Literatur ist wiederholt auf die Anwendbarkeit des Fraktalitätsprinzips in der Lyrik hingewiesen worden (vgl. z.B. Lucy 1986, Fulton 1999, Birken / Coon 2008). Als erstes ließe sich auf solche Formen eingehen, bei denen die graphische Anordnung bereits die Fraktale erkennen lässt. Dafür lassen sich zahlreiche Beispiele, vor allem aus der sogenannten „Konkreten Poesie“, erbringen. Hier seien zwei herausgegriffen:

Abb. 5: Reinhard Doehl: Apfel mit Wurm

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Das Bild-Gedicht ist von Reinhard Doehl und trägt den Titel „Apfel mit Wurm“.13 Fraktalität wird hier visuell in Kombination mit der Rekurrenz des Wortes Apfel genutzt. So bilden die kleinen „Äpfel“ den großen Apfel, die Skalierung überschreitet die Grenzen der medialen Einsträngigkeit gleich zwiefach, indem die den „realen“ Apfel repräsentierenden Wörter zusammengefasst werden zum Bild eines Apfels. Der im Apfel versteckte „Wurm“ hat – das soll wohl die Botschaft sein – den „ganzen Apfel“ verseucht.

Abb. 6: Anatol Knotek: Wachsen14 Auch hier werden die Fraktalbedingungen genau erfüllt: Die Selbstidentität „wächst“ – das ist noch dazu selbstreflektierend – und kommt zu einem Endpunkt. Den deutet man begreiflicherweise als „Erwachsen sein“. Aber man muss genauer hinschauen! Es steht nicht „Erwachsen“ da, sondern „Erwachen“. D.h. das Erwachsensein führt zum Erwachen oder wie immer man diese (letztendlich nicht ganz unaufdringliche) Botschaft deuten mag. Insbesondere werden bei den reinen sprachlichen Formen für die Fraktalität als manifeste Fälle Sonette genannt. Bei Birken / Coon (2008: 163f.) wird ein Shakespeare-Sonett herangezogen. Sonette sind in der Tat eine ergiebige Quelle für fraktale Bauweisen. Als Beispiel soll für das Deutsche das bekannte Sonett „Tränen des Vaterlandes“ von Andreas Gryphius (1616–1664) dienen.

13 14

visuelle-poesie.blogspot.com; zuletzt eingesehen am 19. 3. 2013. www.anatol.cc/konkrete_poesie/erwachsen; zuletzt eingesehen am 19. 3. 2013.

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Hans-Werner Eroms Andreas Gryphius (1616–1664)15 Threnen des Vatterlandes / Anno 1636. Wir sindt doch nuhmehr gantz / ja mehr den gantz verheret! Der frechen völcker schaar / die rasende posaun Das vom blutt fette schwerdt / die donnernde Carthaun Hatt aller schweis / vnd fleis / vnd vorraht auff gezehret. Die türme stehn in glutt / die Kirch ist vmbgekehret. Das Rahthaus ligt im graus / die starcken sind zerhawn. Die Jungfrawn sindt geschändt / vnd wo wir hin nur schawn Ist fewer / pest / vnd todt der hertz vndt geist durchfehret. Hier durch die schantz vnd Stadt / rint alzeit frisches blutt. Dreymall sindt schon sechs jahr als vnser ströme flutt Von so viel leichen schwer / sich langsam fortgedrungen. Doch schweig ich noch von dem was ärger als der todt. Was grimmer den die pest / vndt glutt vndt hungers noth Das nun der Selen schatz / so vielen abgezwungen.

Das Fraktale lässt sich hier folgendermaßen bestimmen: Zunächst ist nach der „Wiederkehr des Gleichen“ zu suchen. Diese liegt in der Variation des einen Gedankens: „die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges“. Dafür werden nacheinander verschiedene Facetten angeführt. Aber die reine Variation ist noch nicht fraktal. Es muss eine Aufschwellung oder eine Abnahme hinzutreten, der Parameter des Skalaren muss erfüllt sein. In diesem Fall wird der noch abstrakte, summarische Eingangssatz Wir sind doch nunmehr ganz… verheeret zunehmend inhaltlich gefüllt. Es sammelt sich gleichsam der Schrecken von Strophe zu Strophe an. Dadurch wird das ganze Sonett eine großdimensionierte Wiederholung des Grundgedankens vom Eingang. Am Schluss steht, vorbereitet durch eine Aposiopese (Doch schweig ich noch) eine Klimax zur Bezeichnung des größten denkbaren Schreckens: Das nun der Seelen Schatz so vielen abgezwungen. Aber nicht nur in Sonetten findet sich das Fraktalprinzip, auch in anderen Gedichten lässt es sich nachweisen, insbesondere, wenn sie zu Zyklen zusammengefasst werden. Ein Beispiel ist der Gedichtzyklus ‚Sebastian im Traum‘ von Georg Trakl. Hier greife ich zunächst das Gedicht ‚Ein Winterabend‘ heraus:

15

Wagenknecht 1969: 144f.

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Georg Trakl: Ein Winterabend16 Wenn der Schnee ans Fenster fällt, Lang die Abendglocke läutet, Vielen ist der Tisch bereitet Und das Haus ist wohlbestellt. Mancher auf der Wanderschaft Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden. Golden blüht der Baum der Gnaden Aus der Erde kühlem Saft. Wanderer tritt still herein; Schmerz versteinerte die Schwelle. Da erglänzt in reiner Helle Auf dem Tische Brot und Wein.

Schauen wir hier auf die erste Strophe, dann wird darin der „Winterabend“ evoziert, vor allem mit den Wörtern Schnee und Abendglocke. So ist die erste Strophe bereits eine Expandierung der Überschrift „Ein Winterabend“. Das ganze Gedicht setzt sodann die erste Strophe inhaltlich fort. Aber das Gedicht selber ist ein Baustein eines Unterzyklus, der den Titel trägt „Der Herbst des Einsamen“. Dieser Subzyklus enthält das Gedicht ‚Im Park‘ mit den Eingangsversen (9)

Georg Trakl: Im Park17 Wieder wandelnd im alten Park, O! Stille gelb und roter Blumen. Ihr auch trauert, ihr sanften Götter, […].

Darauf folgt ‚Ein Winterabend‘, weiter ‚Die Verfluchten‘ mit dem Beginn Es dämmert, danach ‚Sonja‘. Dieses Gedicht beginnt mit der Strophe: (10)

16

Georg Trakl: Sonja18 Abend kehrt in alten Garten; Sonjas Leben, blaue Stille. Wilder Vögel Wanderfahrten; Kahler Baum in Herbst und Stille.

Trakl 2012: 58. Trakl, ebd. 18 Trakl 2012: 60. 17

112 (11)

Hans-Werner Eroms Entlang19 Geschnitten sind Korn und Traube, Der Weiler in Herbst und Ruh.

‚Herbstseele‘. Die erste Zeile lautet: Jägerruf und Blutgebell; ‚Afra‘ mit dem Eingang: (12)

Afra20 Ein Kind mit braunem Haar. Gebet und Amen Verdunkeln still die abendliche Kühle

Dann das Titelgedicht ‚Der Herbst des Einsamen‘ mit dem Beginn: (13)

Der Herbst des Einsamen21 Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle, Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.

Das heißt, alle Gedichte variieren das Herbstthema mit prototypischen Nuancen. Unter Fraktalgesichtspunkten ist aber auch hier die skalare Dimension aufzusuchen. Sie bekommt ihre Legitimation durch den Subzyklus selbst. Die acht Gedichte in ihrer Gesamtheit sind die Selbstvergrößerung des ersten Gedichtes, dieses wieder ist die Expandierung seiner ersten Strophe, und diese ist die Ausführung der Überschrift. Schließlich ist dieser Zyklus zusammen mit vier anderen Kleinzyklen mit den Titeln ‚Sebastian im Traum‘, ‚Der Herbst des Einsamen‘, ‚Siebengesang des Todes‘, ‚Gesang des Abgeschiedenen‘ und ‚Traum und Untergang‘ Teil des Gesamtzyklus ‚Sebastian im Traum‘. Dabei erscheint der „Herbst“ dann als Stadium eines weiter ausgreifenden Abschreitens des Lebensraumes. In so gut wie allen Gedichten begegnen die Motive des Abends, des Herbstes und des Traumes, so dass sich letztlich der Gesamtzyklus vollkommen stimmig fraktal aufbaut. 3.1.2 Fraktale Bauweisen in der Epik Umfangreiche narrative Texte, insbesondere dichterische Erzähltexte werden seit je darauf abgesucht, wie sie intern gegliedert sind. Gliederungsprinzipien werden sodann auf Leitlinien oder eine postulierte Thematik bezogen, womit sie dann als eingeordnet erscheinen. Denn vor der Fülle des etwa in einem Roman von Thomas 19

Trakl 2012: 60. Trakl 2012: 61. 21 Trakl 2012: 62. 20

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Mann wie die ‚Buddenbrooks‘ Erzählten könnte man sonst leicht kapitulieren. Thomas Manns Josephs-Romane lassen sich verstehen als die Expansion der biblischen Josefsgeschichte, freilich in einer dermaßen verfremdenden Kontrafaktur, dass der Ausgangstext völlig dahinter verschwindet. Immerhin ist das Verhältnis der beiden Texte zueinander das einer Größenskalierung, entspricht also dem Fraktalitätsprinzip. Die Frage, wie Kontrafakturen dieser Art – ein weiteres Beispiel wäre etwa Thomas Manns Erzählung ‚der Erwählte‘ zu Hartmann von Aues ‚Gregorius‘ –, oder Parodien und Persiflagen diesem Prinzip gehorchen und weiter, welche anderen Elemente dazu kommen, kann hier nicht weiter behandelt werden. Sie zeigen auf jeden Fall, dass Fraktalität eine intertextuelle Dimension zukommt.22 Wenn sich der Bezug von Texten auf Texte so bestimmen lässt und die Größenskalierung beachtet wird, dann sind auch Texte, die von einem Autor stammen und die sich in einem einzigen Text finden, Fälle, ja Musterfälle, für das Fraktalitätsprinzip. Diese Einsicht ist ebenfalls bereits am Ende des 18. Jahrhunderts formuliert worden, und zwar von Johann Gottfried Herder und Friedrich Schlegel für die Epik schlechthin, nämlich wie sie sich bei Homer findet. Bei Schlegel heißt es in seinen frühen Studien zu Homer: „Überhaupt scheint es die innerste Eigentümlichkeit und eigentliche Wesenheit des homerischen Epos, daß das kleinere Glied ebenso gebaut und gebildet ist, wie das größere, daß der Teil dem verkleinerten Ganzen und das Ganze dem vergrößerten Teile gleicht.“23 Dazu schreibt ein Homerforscher: „Das ist der seltsame Kern von Schlegels Epos-Definition: der Teil und das Ganze stehen in einem sozusagen holistischen oder ‚fraktalen‘ Verhältnis. (So benennen modernste Theorien die auffallende ‚Selbstähnlichkeit‘ von nichtlinearen – d.h. chaotischen – Gebilden, die sich im großen und im kleinen immer gleichen.)“24 Hinzuzufügen ist noch, dass Schlegel zur Rechtfertigung seiner Ansicht eine organische Metapher bemüht: „Das epische Gedicht ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein poetischer Polyp, wo jedes kleinere oder größere […] Glied für sich ein eigenes Leben, ja auch ebensoviel Harmonie als das Ganze hat.“25 Die Strukturanalogien von organischen Naturformen und 22

Dies wird in vielen textwissenschaftlichen Disziplinen gesehen, vgl. etwa Garský (2012, insbesondere das Kapitel „Intertextualität“, S. 30−36). 23 KFSA 1: 521. Vgl. zu der Stelle die Analyse von Markner (2005). Bei Haym (1977 [1870]: 198) heißt es bereits: „Es war möglich, daß der Homer erst durch die Diaskeuasten [= die frühen Herausgeber der homerischen Gesänge] zum Homer wurde, weil es die innerste Eigenthümlichkeit des Homerischen Epos ist, daß das kleinere Glied ebenso gebaut und gebildet ist wie das größere.“ 24 Vgl. ausführlicher Wohlleben 1990: 60. 25 KFSA 1: 131, Zitat nach Wohlleben 1990: 61.

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künstlerischer Gestaltung werden also bereits sehr früh gesehen. Ja, sie sind sogar vielleicht der Anstoß für die Entwicklung der mathematischen Formulierungen. Denn Benoit Mandelbrot zitiert in seinen „Historischen Skizzen“ zur Entwicklung der Fraktaltheorie Jonathan Swift: „So, Nat’ralists observe, a Flea Hath smaller Fleas that on him prey, And these have smaller Fleas to bit’em And so proceed ad infinitum.“ (Mandelbrot 1987: 414)26 Fraktalität wird bei solchen Erwägungen in auf- und absteigender Linie erfasst, wenn auch die aufsteigende Entwicklungslinie (im Rahmen der seinerzeitigen Diskussion um die Entstehung der Homerischen Epen) dominiert. Bereits vor Schlegel hatte Herder in seinen Abhandlungen über Homer ähnliche Einsichten formuliert. Darin schreibt er: „Als ich den Homer zum zweitenmal las, […] erstaunte [ich] über die Ordnung in Vorführung der Gestalten, endlich über die ungeheure Ansicht des Ganzen in seinen kleinsten Theilen.“ (Herder o.J. [1795]: 422f.) In den einzelnen Gesängen des Gesamtepos wirke immer die Grundidee, auch wenn ein Rhapsode vielleicht beim Vortrag einiges auslässt, „die Textur aller dieser Gesänge aber aus Einem Knoten in Einem Geist und Ton bleibt unverkennbar.“27 (Herder o.J. [1795]: 434) 3.1.2.1 Johann Wolfgang Goethe: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ Ein Musterfall für die Hinordnung kleinerer und größerer Teile zueinander in diesem Sinne ist der Goethesche Makrotext „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Hier ist das Prinzip der Selbstähnlichkeit von Teiltexten mit dem Gesamttext konsequent angewandt. Die bevorzugte Deutungslinie in diesem Roman ist die der Entwicklung, der Bildung, der Ausbildung, die eine Person erfährt. Das ganze Romangenre als Bildungsroman hat von daher ja seine Bezeichnung erhalten. Beim ‚Wilhelm Meister‘ ist der Roman als Ganzes der Lebenslauf als Bildungsgang von Wilhelm Meister. Sein eigener äußerst komplexer ist mit vielen Umwegen behaftet, vor allem durch seine Hinwendung zur Schauspielerei, seine Liebschaften und seine Anläufe, etwas zu gestalten. Wilhelm kommt dabei mit den unterschiedlichsten Charakteren in Berührung. Der Roman lässt sich weder einsträngig festmachen, noch sind die Motive einfach. Aber mit dem Grundmotiv der Bildung lassen sich die in den Roman inserierten Lebensläufe vergleichend auf Wilhelms beziehen. Denn sein Lebenslauf wird in kleineren und größeren Lebensläufen, die in den Roman eingearbeitet sind, gespiegelt, erläutert, auch 26

In seinen „Historischen Skizzen“ zur Entwicklung der Fraktaltheorie geht Mandelbrot den Entwicklungen des Grundgedankens nach und zeigt, dass sich entsprechende Einsichten bereits u.a. bei Leibniz und Kant finden (Mandelbrot 1987). 27 Zu Herders und Schlegels Auffassung vgl. Theisohn (2001: 28).

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ironisiert und dadurch bildhafter gemacht. Eingelagert in den Roman sind nach meiner Zählung mindestens ein Dutzend weitere Lebensläufe, die ich hier nur summarisch nennen und mit ihrer Längenangabe skizzieren kann: Der längste Lebenslauf ist unter fraktaler Perspektive der Ganztext, Wilhelms Entwicklungsgang. Es folgt ein Lebenslauf der ein ganzes Buch (das sechste) einnimmt: die ‚Bekenntnisse einer schönen Seele‘ (S. 358–420).28 Wie dieser Lebenslauf inhaltlich mit dem Wilhelms verwoben ist, kann ich hier nicht darstellen29. Er ist aber in seinen Einzelheiten und als Gesamtes durchgängig auf den Gesamttext bezogen. Es folgen sodann Thereses Geschichte, die sich mit etwa 12 Seiten immer noch als inserierter Kurzroman verstehen lässt (S. 447–463). Hier findet sich eine Aussage, die geradezu programmatisch in unserem Zusammenhang zu werten ist: Es ward mir leicht; denn es wiederholte sich nur im großen, was ich im kleinen so genau wußte und kannte. (S. 455). Dieses Motiv wird später noch einmal thematisiert, wenn Therese ein großzügiges Angebot Lotharios ausschlägt: ‚Ich will‘, sagte sie, ‚im kleinen zeigen, daß ich wert bin, das Große mit ihm zu teilen.‘ (S. 461). Sodann ist der Lebenslauf Natalies zu nennen (S. 526f.), weiter der von Thereses Mutter (eingelagert in Thereses Geschichte, S. 449f., später noch einmal vom Abbé erzählt, S. 560f.), eher novellenartig ist Lotharios Erzählung seiner Beziehung zur Pächterstochter (S. 464). Außerdem ist zu nennen der Arztbericht über die Gräfin (S. 348f.), die Krankengeschichte Mignons (S. 521f.), Lydies Bericht über ihre Liebe zu Lothario (S. 440), Jarnos Mutmaßungen über das Leben des Harfners (S. 437), die Geschichte Mignons und ihrer Eltern (S. 579ff.), Laertes‘ Geschichte, erzählt von Philine (S. 219f.), Aureliens Geschichte, von ihr selbst erzählt (S. 258-260), schließlich Serlos Lebenslauf (S. 268ff.). Als Beispiel greife ich den Beginn des Lebenslaufes von Thereses Mutter heraus, er ist bereits eingelagert in den Lebenslauf der Tochter, den diese selber erzählt: (14)

Lebenslauf von Thereses Mutter in Goethes ‚Wilhelm Meisters Lehrjahre‘ Meine Mutter war reich von sich, verzehrte aber doch mehr, als sie sollte, und dies gab, wie ich wohl merkte, manche Erklärung zwischen meinen Eltern. Lange war der Sache nicht geholfen, bis die Leidenschaften meiner Mutter selbst eine Art von Entwicklung hervorbrachten. Der erste Liebhaber war auf eine eklatante Weise ungetreu; das Haus, die Gegend, ihre Verhältnisse waren ihr zuwider. Sie wollte auf ein anderes Gut ziehen, da war es ihr zu einsam; sie wollte nach der Stadt, da galt sie nicht genug. Ich weiß nicht, was alles zwischen ihr und meinem Vater vorging; genug, er entschloß sich end-

28 29

Die Zitate und Seitenangaben nach der Hamburger Ausgabe. Unter textlinguistischer Perspektive wird dem in Eroms 1984 nachgegangen.

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Hans-Werner Eroms lich unter Bedingungen, die ich nicht erfuhr, in eine Reise, die sie nach dem südlichen Frankreich tun wollte, einzuwilligen. Wir waren nun frei und lebten wie im Himmel. […]30

In diesem Textstück wird in knappster Form ein Ausschnitt aus dem Lebenslauf einer Person beschrieben, die im Roman nur einen Randplatz einnimmt. Aber auch diese Frau, die Mutter einer dem Kreis um Wilhelm näherstehenden Person, ist in die Beobachtung, die sich im ganzen Roman zeigt, und die auf der maximalen Ebene bei Wilhelm durch die Turmgesellschaft vorgenommen wird, eingebunden. Vor allem aber findet sich auch hier das Zentralwort des Romans, Entwicklung, wenn auch – und gerade – in einer Version, die ganz individuell auf die Person gemünzt ist. In jedem Fall ist hier das Fraktalprinzip sehr gut zu erkennen: Formal gesehen handelt es sich bei allen diesen oben genannten Lebensläufen um Curricula, die in einem unterschiedlichen Größenverhältnis zueinander stehen – also nicht gleich lang sind –, und sich schießlich auf einen maximalen beziehen. Damit gehorchen sie dem Fraktalitätsprinzip in seinem formalen Aspekt und auch in seinem inhaltlichen, dem Deutungsaspekt, und zwar deswegen, weil die Lebensläufe erstens in auf- oder absteigender Linie zu dem Text als Ganzem gelesen werden können und zweitens weil sie stets ein wesentliches inhaltliches Element des „Wilhelm Meister“ exemplifizieren: Sie belegen einen konsequenten Entwicklungsgang. Damit ist gemeint, dass die Lebensläufe sich aus einer je unterschiedlichen Wurzel entfalten und durch Einflüsse von innen und außen – der auffälligste ist, wie gesagt, die Steuerung Wilhelms durch die Gesellschaft vom Turm – ihren Gang gehen. 3.1.2.2 Walter Kempowski: Das Gesamtwerk Aus der deutschen Gegenwartsliteratur eignen sich für den Nachweis einer fraktalen Bauweise in besonderem Maße die Werke von Walter Kempowski. Einerseits ist „Fraktalität“ bei ihm auch in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes zu begreifen: Die abgebildete Wirklichkeit wird in Teile zerlegt, in ihren atomaren Bestandteilen gezeigt. Andererseits bezieht sich dieses Gestaltungsprinzip sogar auf sein Gesamtwerk. Schon in seinem ersten Roman, der auf breites Interesse bei der Leserschaft gestoßen ist, ‚Tadellöser und Wolff‘, fällt ins Auge, dass Kempowski das, was er erzählt, in Fragmenten und Momentaufnahmen wiedergibt.

30

Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Goethe 1957: 449.

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Dafür ein Beispiel: (15)

Bei Sonne saßen wir auf dem Balkon. Gartenmöbel waren nicht vorhanden, wir trugen Stühle hinaus. („Das Wetter ist hier auszuhalten, liebe Mutter. Das gehört sich auch so, oder findest du nicht?“) Sich im Fenster spiegeln, Haar sitzt gut. Zeiss-Umbral, Nivea-Creme und Gott sei Dank eine Armband-Uhr, von Robert geerbt. Verkehrtrumdrehen, Uhr nach innen, Verschluß nach außen. Schade, daß man keine Münze hatte oder so etwas.31

Hier ganz besonders zeigt sich, dass die kleinsten ermittelbaren Elemente sich stufenweise bis zu den größten im Prinzip gleichartig fortsetzen. Das ist bei Kempowski in allen seinen Werken der Fall. Und zwar gilt dies bereits für die untersatzmäßigen Strukturen, die häufig fragmentarisch sind. Die Sätze, die sie enthalten, schließen sich selber zu Blöcken zusammen. Diese bilden in ihrer Gesamtheit das jeweilige Werk. Die Werke lassen sich zu Werkgruppen zusammenfassen, diese bilden schließlich das Gesamtwerk. Wenn die mikrostrukturelle Analyse für die Syntagmen erkennen lässt, dass die Abbildung der Welt in ihrer Diversität vorgenommen wird, lässt sich das so auf die nächstgrößeren Einheiten übertragen: Die Blöcke geben Facetten der Erfassung von Momenten wieder, die Werke geben, nach Themen geordnet, einen Ausschnitt aus der Welterfassung, über die Gruppen bildet das Gesamtwerk das Chaos, in dem wir leben, gesamthaft ab. Besonders deutlich wird dies in Kempowskis Tagebüchern, die eine sehr pessimistische Weltsicht offenbaren. Dabei sind es die Zitate realer Gespräche als Einschübe, wie in dem obigen Beispiel, die Kempowski mit reflektierenden Kommentaren verbindet. Das Beispiel lässt die Fragmenthaftigkeit der Eindrücke erkennen, gespiegelt in den unvollständigen Sätzen, die miteinander nicht durch Konnektoren verbunden sind. Trotzdem wird die Szene auf dem Balkon deutlich. Dieser Block steht neben hunderten anderer, die sich zu einem Zeitkolorit zusammenschließen, das die dreißiger Jahre evoziert. Hier ist das eine fiktional-reale Mischung, wie in allen Romanen der fiktionalen Werkgruppe Walter Kempowskis. In der zeithistorischen Werkgruppe sind es vor allem ‚Bloomsday 97‘, das einen ganzen Tag vor dem Fernsehgerät protokolliert, und das Mammutprojekt ‚Echolot‘, in dem bekanntlich die Endphase des Zweiten Weltkriegs aus hunderten von Originalzitaten collageartig gespiegelt wird. Erst in der Gesamtschau wird der Gesamtblick auf die Epoche deutlich: Die verschiedenen Sichtweisen sind immer Teile größerer Komplexe. Kempowski hat sein Werk als Einheit verstanden, nicht nur die zeithistorischen, auch die „dichterischen“ bilden die Welt ab, so wie er sie sieht. Dabei offenbart jede einzelne Facette – und in seinem Werk sind 31

Walter Kempowski: Tadellöser & Wolff, Kempowski 1971: 355.

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tausende von Einzelbeobachtungen zusammengestellt – die Heterogenität der Welt. Dahinter finden sich stets Fragen, auch ganz wörtlich verstanden, nach dem Sinn. Einige Werke schließen gar mit einem Fragezeichen. Auf diese inhaltliche Deutung will ich aber hier verzichten, sondern nur festhalten, dass das Gesamtwerk Walter Kempowskis ein Musterfall des fraktalen Gestaltungsprinzips ist. Visuell ließe sich das etwa so verdeutlichen:

Abb. 7: Das Gesamtwerk Walter Kempowskis als Fraktal betrachtet 3.2

Fraktalität in gebrauchssprachlichen Textsorten

Das Fraktalitätsprinzip schlägt in gebrauchssprachlichen Textsorten ganz besonders durch, auch wenn es dort gerade nicht stilistisch, als Gestaltungsprinzip mit einer spezifischen Ausdrucksabsicht, intendiert ist. Es manifestiert sich dagegen als ein Verfahren, das entscheidend zur Textkonstitution überhaupt beiträgt. Es gehört zunächst zu den Rekurrenzmitteln. Sie sind aber etwas anders zu beurteilen als die morphologischen, syntaktischen oder semantischen Phänomene, die zur Stabilisierung der Kohärenz und Kohäsion eines Textes genutzt werden. Diese, wie vor allem die pronominale Verknüpfung, sichern zwar die Einheit des Tex-

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tes, erbringen aber immer einen Textfortschritt, indem sie an die im Text etablierten thematischen Strukturen rhematische Elemente vermitteln. Im Gegensatz dazu sind fraktale Entitäten im Text solche Elemente, die „das Gleiche“ noch einmal und zwar vergrößert oder verkleinert erbringen. Dieses Phänomen ist für die absteigende Linie gut bekannt aus der Abstractbildung, der Textzusammenfassung, der Überschriftenbildung und der automatischen Zusammenfassung von Texten. Letzteres hatten z.B. die Microsoft Word Versionen 2003 und 2007; das wurde aber in Word 2010 nicht fortgeführt, offenbar aus dem Grunde, dass Automatisierungen bislang die Komplexität eines Textes nicht sinnvoll reduzieren können. Das Verfahren beruhte auf der Rekurrenz von Wörtern in einem Text, hätte aber viele andere Parameter einbeziehen müssen, u.a. die Wiederaufnahmeformen in Wortbildungen oder die Schichtungen in komplexen Sätzen. Die nichtautomatische Textzusammenfassung ist ebenfalls ein reduktives Verfahren und führt zu den bekannten Abstracts, die in wissenschaftlichen Artikeln Pflicht sind. „Ein solches Abstrakt steht für das, wovon der Text handelt, und rekonstruiert so das Textthema.“ (Hoffmann 2000: 347). Das heißt, letztlich führt die Reduktion vom Gesamttext über reduktive Zwischenstufen zum Textthema. Dies ist ein Verfahren, das sich u.a. im sogenannten Basissatzkonzept niederschlägt (vgl. Agricola 1976, Dressler 1973, Beisbart / Dobnig-Jülch / Eroms / Koß 1976). In aufsteigender Linie lässt sich sagen, dass ein Textthema „entfaltet“ wird, wie es u.a. Brinker (2010: 54–77) formuliert. Beide Verfahrensweisen möchte ich an Beispielen aus verschiedenen Funktionalstilen kurz erläutern. 3.2.1 Wissenschaftliche Texte und ihre Abstracts als Beispiele für absteigende Graduierung Die Abstract-Bildung geschieht meist intuitiv, d.h. der Verfasser eines Ganztextes kondensiert diesen auf ein Substrat, das eine vorgegebene Umfangsbegrenzung aufweist. Unter den kontrollierten Verfahren erscheint mir das von Agricola (1976) immer noch das beste zu sein. Agricola macht zunächst auf das Grundproblem aufmerksam: Die Satzverkettung im Text ist eine „dynamische“: d.h. über die Thema-Rhema-Struktur der Sätze wird der Text schrittweise aufgebaut. Ein Basissatz aber ist „statisch“. Er muss auf das Voranschreiten verzichten. D.h. das gesamte thematische Material eines Textes wird auf ein einziges allerdings komplexes Thema verdichtet. Der Gesamttext muss deswegen auf die thematisch konstanten Elemente hin abgesucht werden. Diese werden sodann mit den rhematischen Elementen verbunden, die selber durch Abstraktionsprozesse auf einen rhematischen Kern verdichtet werden. In jedem Fall kann die Verdichtung

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in einem zweischrittigen Verfahren, also zunächst zu einem Abstract und sodann zu einem Basissatz, zeigen, dass die übermittelten Informationen immer kompakter, aber auch immer abstrakter werden. Es gibt in der Praxis sehr verschiedene Formen der Abstraktbildung. Eine gängige ist, dass im Abstract der Basissatz, und zwar als These eines Aufsatzes enthalten ist. Dieses Verfahren sei hier kurz am Beispiel des Aufsatzes ‚Germanische Runen und phönizisches Alphabet‘ von Theo Vennemann skizziert. Dies ist der Titel eines umfangreichen Aufsatzes von 62 Seiten in der Zeitschrift ‚Sprachwissenschaft‘. Das Abstract beginnt so: (16)

Das Problem der Entstehung der germanischen Runen und des runischen Schreibsystems gilt als ungelöst. Auch die verbreitetste Lehre, der zufolge die Runen sich aus dem lateinischen Alphabet herleiten, steht vor zahlreichen Rätseln. In diesem Artikel wird die These entwickelt, dass die Runenschrift sich nicht auf dem Umweg über das Griechische, Etruskische oder Lateinische, sondern unmittelbar aus dem phönizischen Schreibsystem der vom fünften Jahrhundert bis zum Ende des dritten Jahrhunderts die Atlantikküste beherrschenden Karthager herleitet. Diese These erklärt alle charakteristischen Eigenschaften des runischen Schreibsystems: […]32

An dieser Stelle hätte der Autor bereits abbrechen können. Von mir hervorgehoben ist die These des Artikels, sein Basissatz. Das Abstract führt sie in der Weise aus, dass das Vorgehen des Gesamtartikels deutlich wird. Man erkennt den fraktalen Zusammenhang ganz deutlich: These – Abstract – Gesamtartikel vermitteln „das Gleiche“, allerdings unterschiedlich ausführlich und komplex und damit unterschiedlich nachvollziehbar. 3.2.2 Theologische Abhandlungen als Beispiele thematisch zentrierter wissenschaftlicher Texte Unter den wissenschaftlichen Texten sind es vor allem philosophische und theologische Abhandlungen, die die fraktale Bauweise erkennen lassen. Alle Texte, die eine These vertreten und diese argumentativ oder expositorisch ausbreiten, sind hierher zu rechnen. Thesen werden entweder explizit angeführt oder sie sind nur implizit zu entdecken und erfordern dann bei den Rezipienten vermehrte analytische Anstrengung. Gerade dann aber müssen immer alle rezipierten Teile auf den Gesamttext bezogen werden. Klassische Fälle sind solche, in denen ein umfangreiches Werk nur von den Fachleuten gelesen wird (oder irgendwann einmal gelesen worden ist) und die „Quintessenz“ dann allen zur Verfügung 32

Vennemann 2006: 368, Hervorhebungen von mir (HWE).

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steht. Etwa „Die Erde dreht sich um die Sonne“. Das Werk des Kopernikus, in dem dieser Lehrsatz ausgeführt wird, ‚De Revolutionibus orbium coelestium‘, hat mehrere hundert Seiten. Oder: E=mc2. Einsteins Werk ist allerdings ausgesprochen kurz und apodiktisch. Ich greife ein anderes Beispiel heraus und zwar aus der Theologie. Bekanntlich ist auch die Bibel ein so umfangreiches Buch, dass Laien kaum in der Lage sind, hier eine Einheitlichkeit zu erkennen. Theologen neigen dazu, bestimmte Schriften der Bibel als zentrale zu markieren und von daher, also unter einer bestimmten Perspektive, das Ganze zu beleuchten. Dafür ist ein Musterfall die Leseführung, die Martin Luther in der Bibelausgabe von 1547/48 vorgenommen hat. Für Luther ist das Neue Testament der verbindliche Text. Er wirft Licht auch auf das Alte Testament. Die Bibel aber ist für ihn im Einklang mit der Tradition und der Theologie seiner Zeit ein einheitliches opus. Zentral ist, wie gesagt, das Neue Testament. Aber innerhalb des Neuen Testamentes gibt es eine Schrift, die wiederum Licht auf das gesamte Neue Testament wirft: Die Briefe des Apostels Paulus und darunter wieder der an die Römer. Die Leseführungen, die Luther vornimmt, findet man in seinen Vorreden zu den einzelnen biblischen Büchern und vor allem in den Randglossen. Diese stehen wieder in fraktalem Verhältnis (d.h. hier, erläuternd, zusammenfassend und vorausdeutend) zu den Vorreden. So heißt es in der Randnotiz zur Vorrede: auff die Epistel S. Paul: An die Römer: (17)

Epistel zun Römern ist das heubtstücke des newen Testaments.

Und konsequenterweise wird schließlich die Kernstelle oder besser: werden die Kernstellen bei Paulus, an denen davon die Rede ist, dass der Glaube und nicht die Werke den Menschen gerecht mache (Röm 3, 28) markiert: Drum fasse diesen Text wol und zu Röm 11, 32 heißt es in der Randnotiz: (18)

Merk diesen Heubtspruch….

So soll also dieser „Hauptspruch“, die Quintessenz der Schrift, über das „Hauptstück“, den Römerbrief, zur rechten Erfassung des Neuen Testamentes und dieses wieder zum Alten Testament und damit zum Gesamttext der Bibel führen. Denn Paulus bemüht sich ja bekanntlich ausdrücklich, auch Abraham als durch seinen Glauben, nicht durch seine Werke, als „Gerechten“, d.h. als Erlösten zu verstehen.

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3.2.3 Zeitungstexte als Beispiel für aufsteigende Graduierung Hier sei ein Text ausgewählt, der über seinen äußeren fraktalen Bau auch semantisch die Fraktalität thematisiert, in diesem Fall die Verkürzung. (19)

Wagners „Ring“ in Argentinien Wo Wotan zum argentinischen Diktator wird FAZ-online Ausgabe 29.11.2012 · Der umstrittene „Ring“ am Teatro Colón wurde vom Rhein auf die Plaza de Mayo verlegt und zum nationalen Triumph. Zu kurz kam nur Wagners Musik. Von Josef Oehrlein, Buenos Aires Wie ein Film, der an vielen Stellen Risse hat, zieht die Geschichte, deren Erzählung eigentlich sechzehn Stunden dauert, in weniger als der Hälfte der Zeit vorüber: Manche Übergänge sind kaum spürbar, an anderen Stellen sind ganze Szenenfolgen verschwunden. Wer den gesamten „Ring des Nibelungen“ Richard Wagners genau kennt, wird in der auf sieben Stunden heruntergekürzten Version des deutschen Pianisten und Arrangeurs Cord Garben, die jetzt am Teatro Colón in Buenos Aires aus der Taufe gehoben wurde, manches vermissen. Die Handlung kommt rasend voran. Kaum ist Siegfried aufgetreten, schon beginnt er das Schwert Nothung zu schmieden. Die Schmiedelieder aber fallen weg. Im „Rheingold“ treten weder Erda noch Donner noch Froh auf. Im „Siegfried“ fehlt das Rätselspiel zwischen Mime und Wotan-Wanderer. In der „Walküre“ gibt es immerhin einen wohltuenden Ruhepunkt mit dem ausführlichen Abschied Wotans von Brünnhilde. In der „Götterdämmerung“ fallen Nornenszene, nächtliches Zwiegespräch zwischen Alberich und Hagen sowie die Waltrauten-Erzählung der Schere zum Opfer, und das Schlussbild des ersten Aufzugs, in der Siegfried in Gunthers Gestalt Brünnhilde den Ring entreißt, ist verkümmert zu einer kurzen Pantomime. […].

In der Pressesprache erwartet man bei Berichtsartikeln nach der Überschrift einen Untertitel. Daran schließt sich der Lead, dieser „dient üblicherweise der Spezifizierung der Titelinformation“ (Lüger 1985: 98), sodann folgt der Hauptteil des Artikels. Wie man sieht, ist dies ein vierfacher Schritt, dem Fraktalitätsprinzip wäre damit in idealer Weise Rechnung getragen. Je anspruchsvoller ein Artikel ist, umso mehr sind dabei allerdings die pressesprachlichen Spezifika zu beachten. Diese liegen vor allem darin, dass in der jeweils übermittelten Informationsmenge nicht die gesamte Information komprimiert vorhanden ist, wie es bei der

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Abstractbildung in wissenschaftlichen Texten erwartet wird, sondern nur bestimmte Züge angeführt werden, vor allem solche, die auf das Weiterlesen ausgerichtet sind. Denn es ist nicht die absteigende Linie, die einen vorliegenden Text zusammenfasst, sondern die aufsteigende, die das Weiterlesen intendiert. So hat im angeführten Beispiel die Überschrift einen „Vorspann“, der inhaltlich orientiert, er enthält das Textthema in nuce. Die eigentliche Überschrift formuliert es plakativ mit der stilistischen Prozedur des Lokalkolorits. Der Lead bringt den Artikelinhalt in Kurzform. Der eigentliche Artikel nimmt ein wesentliches inhaltliches Moment auf (das Zukurzkommen von Wagners Musik) und expandiert zunächst diesen Gedanken, resümiert dabei die gesamte Produktion, die dann im Hauptteil des (hier nicht mehr abgedruckten) langen Artikels im Einzelnen gemustert wird. Wenn man so will, liegt hier sogar ein fünffacher Schritt vor. Doch auch hier ist selbstverständlich die Fraktalität nur ein Baumechanismus, mit dem der Inhalt in unterschiedlich ausführlicher Dichte vermittelt wird.

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Fazit: Fraktalität als Bauprinzip

Meine Beispiele haben sicher gezeigt, dass in Texten, die strengen Gestaltungsprinzipien unterliegen, wie in Sonetten, Zyklen, aber auch wissenschaftlichen Texten, das skalierte Rekursionsprinzip deutlicher und z.T. auch verbindlicher ist als in „freien“ Texten, wie z.B. Zeitungstexten. Fraktalität ist ein Stilphänomen. Aber „Stil ist nicht Hülle, sondern sichtbar gemachter Sinn“, wie Ulla Fix (2011: 72) es ausgedrückt hat. So ist auch Fraktalität ein wichtiges Moment im Aufbau der Texte. Diese können mit Artefakten aus anderen Bereichen verglichen werden, insbesondere solchen der bildenden Kunst, aber auch mit natürlichen Objekten. Hier kann die Linguistik von den Erkenntnissen der Mathematik, der Physik und der Kunsttheorie profitieren. Umgekehrt aber zeigen die linguistischen Anwendungen des Prinzips, dass das formale Bauprinzip den Transport von Bedeutungsinhalten bewirkt. Dieses Faktum wird bei der bloß visuellen Bezugnahme auf das dahinterliegende Prinzip vernachlässigt. Eingesetzt, genutzt wird das Prinzip in jedem Fall, um kohärente und darüber hinaus ganzheitliche Bedeutungsmengen aufzubauen. Gerade in Texten zeigt sich aber, dass die Ganzheit und Geschlossenheit eines Textes komplexen Bedingungen gehorcht. Mit dem Fraktalprinzip wird erreicht, dass kleinere Einheiten schrittweise aufbauend auf größere bezogen werden und diese wiederum als sich spiegelnde Einlagerungen der maximalen Einheit, eben des konkreten Textes, begriffen werden können. Da das Fraktalprinzip offenbar einem anthropologischen, ja physikalischen Grundbedürfnis der Ordnung und

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Durchschaubarkeit entspricht, ist es nur konsequent, wenn es auch für den Bau von Texten genutzt wird. In jedem Fall ist es ein hocheffektives Mittel der Textanalyse.

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Literatur

5.1

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Ilona Feld-Knapp Budapest

Textkompetenzen beim Lehren und Lernen von modernen Fremdsprachen Abstract Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, den Begriff Textkompetenz in seiner Bedeutung für Lernen und Lehren im DaZ/DaF-Unterricht zu erfassen. Die Pluralform im Titel lässt sich dadurch erklären, dass Textkompetenz aus beiden Perspektiven behandelt wird. Darüber hinaus zeigt der Beitrag mögliche neue Forschungsfelder in Bezug auf die Optimierung von Lehren und Lernen von Fremdsprachen auf. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen folgende Fragen: − Warum und durch das Zusammenspiel von welchen Faktoren erscheint ein neuer Begriff in der Fremdsprachendidaktik? − Was leistet der Begriff Textkompetenz für die Optimierung von Lehrund Lernprozessen beim Erlernen von modernen Fremdsprachen? Der Beitrag befasst sich erst mit terminologischen Fragen. Im Weiteren wird Textkompetenz in ihrer Bedeutung für die Optimierung von Lehr- und Lernprozessen im DaZ/DaF-Bereich beschrieben, darauf folgend wird Textkompetenz aus der Sicht von Lehrenden im DaZ/DaF-Bereich behandelt. Der Beitrag endet mit einem Fazit.

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Textkompetenz. Definition und Abgrenzung

Der Begriff „Textkompetenz“ geht auf den englischen Begriff „Literacy“ zurück. Er wird im angloamerikanischen Raum generell für Schriftkundigkeit verwendet und auf all jene Bereiche der Bildung und Ausbildung bezogen, die für eine Wissensgesellschaft unabdingbar sind (Schmölzer-Eibinger 2010: 1130). Ursprünglich bedeutete der Begriff „Literacy“ ein Kennzeichen westlicher, schriftkundiger Menschen, die über größere intellektuelle Fähigkeiten als Angehörige einer oralen Gesellschaft verfügten. Diese Vorstellung ist vor allem auf eine aufklärerisch orientierte Entwicklungshilfe-Politik großer internationaler Organisationen in den 60er-70er Jahren zurückzuführen (Thonhauser 2007: 19).

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Diese schematische Einstellung wurde bald nicht nur kritisiert, sondern durch Forschungserkenntnisse, die die soziokulturell bedingte Vielfalt literaler Praxis aufzeigten, in Frage gestellt. Seit den 90er Jahren wird der Begriff „Literacy“ als gesellschaftliches und kulturelles Phänomen betrachtet und in seiner Bedeutung für das soziale Zusammenleben gesehen. In der „Literacy“-Forschung wird vor allem die „social interaction theory“ von Vygotsky (1978) beachtet. „Literat sein“ bedeutet über ein „kulturelles Werkzeug“ für die Durchführung von verschiedenen Optionen mit der geschriebenen und der gesprochenen Sprache in einer Schriftkultur zu verfügen (Brockmeier 1998: 201). Diese verschiedenen Optionen verlangen sprachliche und kognitive, aber auch kommunikative und soziale Kompetenzen. Literale Fähigkeiten zu entwickeln bedeutet demnach nicht nur Lesen und Schreiben zu lernen, sondern auch die Fähigkeit auszubilden, sich am literalen Diskurs einer Gesellschaft im jeweiligen soziokulturellen Kontext zu beteiligen (SchmölzerEibinger 2008b: 40).

Diese Fähigkeiten können gezielt gefördert werden. Die gezielte Befähigung erfolgt traditionell unter institutionellen Bedingungen, an der Schule oder in verschiedenen Kursen der Erwachsenenbildung. Eine der wichtigsten Aufgaben der Befähigung ist die Bereitstellung und Vermittlung von diesen erwähnten Kompetenzen. Sie sind im Falle von Lehren und Lernen moderner Fremdsprachen besonders wichtig, denn dieser Bereich ist typischerweise durch Schriftkundigkeit geprägt. Während „Literacy“ einen weiten Kontext umfasst, in dem vor allem gesellschaftliche Fragen im Zusammenhang mit der Entwicklung der Schriftkundigkeit thematisiert werden, konzentriert sich „literale Praxis“ auf kognitive Konsequenzen beim Umgang mit Texten. Im deutschsprachigen Raum hat sich für „Literacy“ und „literale Praxis“ der Begriff Textkompetenz eingebürgert. „Literacy“ und „literale Praxis“ bzw. „Textkompetenz“ sind gewissermaßen die terminologische und konzeptuelle Kehrseite derselben Medaille (Thonhauser 2007: 18). Durch den Begriff der Textkompetenz wird ein anderer Aspekt in den Mittelpunkt gerückt, er wird als individuelle Kompetenz beim Umgang mit Texten betrachtet und beschrieben. In diesem Determinativkompositum wird eine Kompetenz und nicht der Text näher bestimmt; interessant sind also die kommunikativ Handelnden, die etwas mit Texten tun und sich in diesem Handeln auf ihre Kompetenz verlassen und diese weiterentwickeln. Sie müssen dazu verstehen, was Texte sind, wie sie gemacht

Textkompetenzen beim Lehren und Lernen von modernen Fremdsprachen 129 sind und wozu man sie in jenen Welten, in denen sie vorkommen, normalerweise braucht. Textkompetenz charakterisiert als Terminus daher einen Diskurs, in dem sich der Blick vom Text als Beschreibungsobjekt, als Lerngegenstand und als Demonstrationsobjekt für erworbene Fertigkeiten und Kompetenzen zu denjenigen hin verschiebt, die in soziokulturell diversen Kontexten mit Texten umgehen (Thonhauser 2007: 17).

Auch in Ungarn wird dieser Begriff, als „szövegkompetencia“ oder „diskurzuskompetencia“ bezeichnet, in der letzten Zeit viel verwendet. Seine Verbreitung im schulischen Bereich ist grundsätzlich der neuen curricularen Regelung des Fremdsprachenunterrichts in den 90er Jahren zu verdanken, die Kompetenz- und Textorientierung in Ungarn generell in den Mittelpunkt stellte. Zur Etablierung des neuen Begriffs trug das neue Abitur wesentlich bei. Im DaF-Unterricht gewann Textorientierung und die Kompetenz für den Umgang mit Texten auch im Sinne der interkulturellen Orientierung des kommunikativen Ansatzes an Bedeutung. Es ist auffallend, dass sich in den Schulfächern allgemein der Terminus „Textkompetenz= szövegkompetencia“ etabliert hat, während im Englischunterricht eher der Begriff „Diskurskompetenz= diskurzuskompetencia“ verwendet wird. Inhaltlich weisen die beiden Bezeichnungen keine Unterschiede auf (FeldKnapp 2005, 2009, Károly 2011, Kertes 2012). Unter dem Motto Textkompetenz sind im deutschsprachigen Raum in der letzten Zeit mehrere Sammelbände im DaZ/DaF-Bereich erschienen, was zeigt, wie aktuell dieses Thema ist und welch großes Interesse an seiner Erforschung besteht. Um nur einige zu erwähnen: Portmann-Tselikas / Schmölzer-Eibinger (2002), Schmölzer-Eibinger / Weidacher (2007), Bausch / Burwitz-Melzer / Königs / Krumm (2007a), Schmölzer-Eibinger (2008a), Schmölzer-Eibinger (2008b). Diese Publikationen zeigen eine große Vielfalt, wie an den Begriff Textkompetenz herangegangen und wie er verstanden wird. Die unterschiedlichen Konzepte rücken verschiedene Aspekte in den Vordergrund. Für den Begriff Textkompetenz werden Begriffe wie bildungssprachliche Kompetenzen (Gogolin 2005, 2007, Krumm 2007), kognitiv-akademische, textproduktive Diskurskompetenz (Zydatiß 2007), wissenschaftssprachliche Handlungsfähigkeit (Fandrych 2007) eingesetzt. Andere heben die Rolle der Textproduktion und Textrezeption (Bredella 2007, Riemer 2007) hervor. Textkompetenz als Begriff setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Der erste Teil des Kompositums bezeichnet einen Gegenstandsbereich: Es geht um Texte, um Textuelles, um Textualität. Text bezieht sich in diesem Kontext auf die Erscheinungsformen schriftlicher Sprache im weitesten Sinne. Der Text wird dabei als prototypische Kategorie aufgefasst und zwar als Ergebnis soziokulturell bestimmter kommunikativer Praxis (Adamzik 2004: 47ff., Feld-Knapp 2005: 7ff.).

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Der zweite Teil, der Begriff Kompetenz, wird im Kontext von Lernen und Lehren durch die Erziehungswissenschaften mehrheitlich als Problemlösungsfähigkeit aufgefasst und definiert. Im Kontext von Lehren und Lernen von Sprachen haben wir mit einem erweiterten Kompetenzbegriff zu tun. Der Begriff sprachliche Kompetenz geht über Problemlösungsfähigkeit hinaus und umfasst savoir (= deklaratives Wissen über die Sprache) und savoir faire (= prozedurales Wissen über den Umgang mit Sprache) (Europarat 2001, Thonhauser 2008: 90). In welchen Kommunikationssituationen dieses Wissen metasprachlich explizit verfügbar sein muss und wann die Textkompetenz ebenso als implizite Kompetenz denkbar ist, entscheidet sich immer in einer gegebenen Situation (Thonhauser 2008: 91). Kompetenz in der Verbindung mit Text bezeichne ich als eine individuelle Fähigkeit, Strategien für den reflektierten Umgang mit der geschriebenen Sprache zu haben. Der reflektierte Umgang mit der Sprache zielt auf das inhaltliche Verstehen sowie auf das Verarbeiten von Gedanken beim Lesen und Schreiben von Texten. Unter bildungsinstitutionellen Bedingungen zielt die Förderung von Textkompetenz auf die Fähigkeiten, Texte reflektiert lesen, schreiben und zum Lernen nutzen zu können (Portmann-Tselikas / Schmölzer-Eibinger 2008: 5).

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Textkompetenz und ihre Bedeutung für die Optimierung von Lehrund Lernprozessen im DaZ-Bereich

Im Kontext des Deutschen als Zweitsprache ist das Interesse an Textkompetenz vor allem auf einen auch international geführten gesellschaftlichen Diskurs zu Bildungsfragen in den 90er Jahren im vorigen Jahrhundert zurückzuführen und verbindet sich mit der Untersuchung des Bildungs- und Schulerfolges. Hervorzuheben in diesem Prozess sind die PISA-Studien, die viele Defizite der schulischen Bildung zum Vorschein brachten. Im Kontext des Deutschen als Fremdsprache ist das Interesse an Textkompetenz vor allem dem fachdidaktischen Diskurs über sprachliche Fertigkeiten, der vor allem durch den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen1 (Europarat 2001) ausgelöst wurde, zu verdanken. Textkompetenz wird im deutschsprachigen Raum auch in anderen Bereichen, wie z.B. Wissenschaftssprache Deutsch und Wissenschaftliches Schreiben erforscht und untersucht, um nur einige Namen zu nennen: Ehlich / Steets (2003), Fandrych / Graefen (2011), Graefen (2001), Ehlich / Graefen (2002), Portmann1

Im Weiteren GER, siehe im Literaturverzeichnis bei Europarat 2001

Textkompetenzen beim Lehren und Lernen von modernen Fremdsprachen 131 Tselikas (2001). Eine nähere Beschäftigung mit all diesen Ansätzen würde aber den Rahmen dieses Beitrages sprengen und daher werden sie hier nicht behandelt. Die Analyse der Ergebnisse der PISA-Studien gab wichtige Anstöße zu Untersuchungen von Bildungsfragen, als besonders wichtiger Bereich erwies sich in diesem Zusammenhang im deutschsprachigen Raum der DaZ-Bereich. Untersuchungsergebnisse zeigen, wie soziale, sozioökonomische und soziokulturelle Faktoren die Entwicklung und den Schulerfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund beeinflussen (de Cillia 2005, Gogolin 1994, 2007, Hufeisen 2007, Riemer 2007, Barkowski 2007). Neue soziolinguistische Untersuchungen belegen, „dass die sozioökonomische Positionierung der Familie den Bildungsweg der Kinder in der Migration stärker bestimmt als ihre individuell vorhandenen Potentiale“ (Brizič 2006). Folglich kann in Bezug auf die Textkompetenz auf den folgenden Zusammenhang geschlossen werden: Um die schulischen Anforderungen bewältigen zu können, müssen Zweitsprachenlernende daher nicht nur über Sprach- und Textkompetenz, sondern auch über ein Wissen um die spezifischen Gebrauchszusammenhänge schriftsprachlicher Kommunikation im jeweiligen soziokulturellen Kontext verfügen und jene literalen Praktiken beherrschen, die das Fundament für einen erfolgreichen Wissenserwerb in der Schule bilden (Schmölzer-Eibinger 2008b: 41).

Bei der Untersuchung von Bildungsfragen ist die Beschreibung und Erfassung des Verhältnisses zwischen Erstsprache und Zweitsprache von großer Bedeutung. Hervorzuheben ist dabei die Frage, welchen Einfluss die Erstsprache (L1) auf die schulischen Leistungen in der Zweitsprache (L2) hat (Schmölzer-Eibinger 2008b: 48ff.). Einen wichtigen Anstoß für die Diskussion über dieses Thema bedeutet das Konzept von Cummins, dem kanadischen Pädagogen. In seinen empirischen Untersuchungen beschäftigt er sich mit der Frage der Literalität von Schülern mit Englisch als Fremdsprache im Kontext der multilingualen Schule. Er konzentriert sich auf die sprachlichen und pädagogischen Hindernisse, die einem schulischen Erfolg im Wege stehen (Cummins 1979: 1991). Er geht davon aus, dass Zweitsprachlernende meist genügend Input aus ihrer zielsprachlichen Umgebung erhalten, um relativ rasch ein gutes Niveau der mündlichen Sprachkompetenz in der Zweitsprache zu erreichen, jedoch aufgrund mangelnder schriftsprachlicher Fähigkeiten nicht in der Lage sind, die schulischen Anforderungen zu meistern. Seine Forschungsergebnisse haben diese These belegt. Cummins unterscheidet daher zwischen den alltagsbezogenen Interaktionsfähigkeiten (basic interpersonal

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communication skills = BICS) und der kognitiv-akademischen Sprachfähigkeit (cognitive-academic language proficiency=CALP). Das Lernen in der Zweitsprache erfordert nach Cummins kognitiv-akademische Sprachkompetenz, die er als eine allgemeine Basiskompetenz (common underlying proficiency=CLIP) bezeichnet und als zentrale Grundlage des Lernens ansetzt. Im deutschsprachigen Raum greift Portmann in den 90er Jahren das Konzept von Cummins auf. Er sieht in der kognitiv-akademischen Sprachkompetenz jedoch keine sprachliche Fähigkeit im engeren Sinne, sondern vielmehr eine kognitive Kompetenz im Umgang mit Sprache. Er bezeichnet sie als Textkompetenz, d.h. als eine Fähigkeit, die die konzeptuelle Basis für alle Lernprozesse im Unterricht darstellt und zwischen der Erst- und der Zweitsprache transferiert werden kann (Portmann-Tselikas 2001, 2002). Adamzik (2009) nennt das Konzept von Portmann Grazer Modell und setzt sich mit der Konzeption ausführlich auseinander, aber seinem langfristigen Wirkungspotenzial gegenüber ist sie eher kritisch. Ich persönlich teile diese Skepsis in Bezug auf Optimierung von Lehr- und Lernprozessen allerdings nicht. Ich glaube, dass die nachhaltige Entwicklung der Textkompetenz einen zentralen Bereich im DaF/DaZ-Unterricht darstellt.2 Der Grundgedanke des Grazer Modells ist, … dass Textkompetenz keineswegs deckungsgleich mit Sprachkompetenz ist, sondern vielmehr einen eigenständigen Kompetenzbereich darstellt, der im Verbund mit der Interaktionskompetenz und Sprachbasis die Sprachkompetenz eines Individuums ausmacht (Schmölzer-Eibinger 2008b: 51).

In Anlehnung an Schmölzer-Eibinger (2008b) kann Textkompetenz in Abhängigkeit und im Kontext von anderen Begriffen erläutert und veranschaulicht werden. Sprachkompetenz ist als eine genuin menschliche Fähigkeit zu betrachten, die es ermöglicht, sich auszudrücken und zu kommunizieren. Sie besteht aus einem Konglomerat an sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten und Wissensbeständen, über die Lernende verfügen und auf die sie im Prozess der Sprachverarbeitung zurückgreifen können. Die Sprachbasis umfasst das phonologische, orthografische, lexikalische und grammatische Wissen um sprachliche Mittel und Strukturen. Sie ist die zentrale 2

Bei der Erarbeitung des Grazer Modells wirkt im Weiteren auch Sabine SchmölzerEibinger mit und sie trägt durch eigene Forschungsergebnisse (Schmölzer-Eibinger 2007, 2008a, b) zu einem differenzierten Verständnis von Textkompetenz und zu seiner Vermittlung im DaZ/DaF-Unterricht wesentlich bei.

Textkompetenzen beim Lehren und Lernen von modernen Fremdsprachen 133 Voraussetzung dafür, dass Sprache im jeweiligen soziokulturellen Kontext verstanden und verwendet werden kann. Die Interaktionskompetenz wird als Fähigkeit des Verstehens und Äußerns von mündlich geprägter, situativ verankerter Sprache betrachtet, während Textkompetenz die Fähigkeit des produktiven und rezeptiven Umgangs mit schriftsprachlich geprägter Sprache darstellt (Schmölzer-Eibinger 2008b: 52). Textkompetenz umfasst ein ganzes Bündel an Teilkompetenzen, die in Sprachverarbeitungsprozessen miteinander interagieren und in diesen Prozessen genutzt und realisiert werden. Zu den zentralen Teilkomponenten von Textkompetenz zählen die Fähigkeit, inhaltliche Bezüge innerhalb eines Textes herzustellen (= Kohärenzkompetenz), eigenes Wissen zu abstrahieren und textrelevante Inhalte explizit zu benennen (= Kontextualisierungskompetenz), Texte adressatengerecht zu formulieren und in ihnen Intentionen zu vermitteln (= Kommunikationskompetenz), einen Text im Sinne des Schreibziels zu überarbeiten und zu verbessern (= Textoptimierungskompetenz), unterschiedliche Lese- und Schreibstrategien zu nutzen, um einen Text verstehen, verarbeiten, ausarbeiten und strukturieren zu können (= strategische Kompetenz). Das sind sprachübergreifende Kompetenzen. Darüber hinaus gibt es sprachgebundene Teilkompetenzen wie Formulierungskompetenz, Textgestaltungskompetenz, Textmusterkompetenz und Stilkompetenz (Schmölzer-Eibinger 2008b: 52). Im Umgang mit Texten spielt auch die metatextuelle Ebene eine wichtige Rolle. Die metatextuelle Kompetenz wird benötigt, um über Texte kommunizieren und Texte besser verarbeiten zu können (Weidacher 2007: 47f.). Interaktionskompetenz und Textkompetenz sind dynamische Fähigkeiten, die bei jedem Umgang mit Texten neu aktiviert werden, während Sprachbasis mehr oder weniger etwas Stabiles darstellt. Der Ausbau und die Erweiterung der Sprachbasis z.B. durch Vergrößerung des Wortschatzes sind allerdings wichtige Voraussetzungen für Sprachhandlungen, d.h. für den adäquaten Einsatz von sprachlichen Mitteln und Strukturen im jeweiligen Kontext. Laut Grazer Modell umfasst Interaktionskompetenz sprachgebundene, nicht transferierbare Teilkompetenzen, Textkompetenz dagegen besteht aus sprachübergreifenden, weitgehend transferierbaren Teilkompetenzen (Schmölzer-Eibinger 2008b: 53). Im Unterschied zu Cummins, der in seiner Schwellenhypothese von einem Schwellenniveau der Sprachkompetenz ausgeht, geht es hier also um eine Schwelle der Textkompetenz, d.h. erst wenn eine bestimmte Schwelle der Textkompetenz in der ersten Sprache erreicht ist, ist Textkompetenz von der L1 in die L2 transferierbar. Wo, auf welchem Niveau die Schwelle liegt, ist individuell unterschiedlich. Die Frage des Transfers ist bei der Förderung der Textkompetenz im DaZUnterricht von besonderer Bedeutung, da der erfolgreiche Transfer von Teilkom-

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petenzen in die L2 eine ausreichende Aneignung der Teilkompetenzen in der L1 voraussetzt. Laut neuen Studien (Gogolin 2005, Krumm 2007a, SchmölzerEibinger 2008b) weisen diejenigen Sprachlernenden, die durch Schulung in ihrem Herkunftsland bereits Textkompetenz in L1 erhalten hatten, bessere Ergebnisse im Hinblick auf ihre Textkompetenz in L2 auf, als solche, die ohne hinreichende Schulung in der L1 frühzeitig die L2 erworben hatten. Daraus folgt, dass die Aufenthaltsdauer und die damit einhergehende alltagssprachliche Sprachkompetenz für den Schulerfolg nicht so wichtig sind, wie die in der L1 erworbenen Textkompetenzen. Diese Kompetenzen können nur in einem Sprachunterricht, der die Fähigkeit der Entwicklung für den Umgang mit Texten in den Mittelpunkt stellt, gefördert werden. Ein Sprachunterricht, der nunmehr primär Sprache für den Alltag (Familie, Wohnen, Konsum etc.) entwickelt, verfehlt die dringliche Aufgabe, die Lernenden so auszustatten, dass sie sich nunmehr mit Hilfe von Sprache neue Sprachwelten erschließen können, für Kinder zunächst und an erster Stelle den Bildungsraum Schule, während bei Erwachsenen hier Fragen der Teilhabe an der Gesellschaft im Einwanderungsland (Beruf, Weiterbildung, politisches Geschehen, Kulturleben, Medienkonsum) aktuell werden. Das aber bedeutet, dass nunmehr Sprach- und Textkompetenz im skizzierten Sinne als primäre Lernziele zu betrachten sind und es falsch wäre, einen primär nach Einzelfertigkeiten separierten und gestuften Sprachunterricht anzubieten (was nicht ausschließt, dass es übende, wiederholende und festigende, auf Einzelfertigkeiten bezogene, ‚didaktische Schleifen‘ geben kann und muss) (Krumm 2007b: 117).

Die Frage des Transfers ist generell eine wichtige Forschungsaufgabe für die Mehrsprachigkeitsdidaktik. Von entscheidender Bedeutung scheint im Bereich der Mehrsprachigkeitsdidaktik die Klärung des Zusammenhangs zwischen den statischen und für den Leser sichtbaren sprachlichen Mitteln im Text und den mentalen, nicht sichtbaren, verborgenen Prozessen der Textverarbeitung, die der Leser bewusst und unbewusst durchgeht, zu sein. Texte als statische Gebilde werden nämlich erst durch die Verarbeitung sinnvoll. Sprachliche Mittel im Text fungieren als Indikatoren für die Auslösung von kognitiven Prozessen bei der Textverarbeitung. Ein weiteres wichtiges Anliegen im Grazer Modell ist, aufzuzeigen, wie die jeweiligen sprachlichen und kognitiven Leistungen in einer bestimmten Situation nach Schwierigkeitsgrad beurteilt werden können. Frühere Modelle wie z.B. das Fertigkeitskonzept ermöglichten keinen Einblick in diesen Zusammenhang (Portmann-Tselikas / Schmölzer-Eibinger 2008: 5). Im Grazer Modell wird versucht, die Schwierigkeiten, vor die Lernende gestellt werden, auf generalisierbarer Ebene zu verdeutlichen. Dazu wird eine

Textkompetenzen beim Lehren und Lernen von modernen Fremdsprachen 135 neuartige Modellierung des Sprachgebrauchs angeboten (Portmann-Tselikas / Schmölzer-Eibinger 2008: 6). Dieses Thema wirft auch eine andere wichtige Frage auf, nämlich die der Progression, wie Lerninhalte vom Einfachen zum Komplexen in einem gesteuerten Prozess abgestimmt werden. Auf diesen Aspekt komme ich später noch zu sprechen. Für die generalisierbare Darstellung von Schwierigkeiten wurde das Modell der vier Quadranten entwickelt, das eine Ableitung des Modells von Cummins darstellt. Von Cummins abweichend definieren Portmann-Tselikas und SchmölzerEibinger in dem vier-Quadranten-Modell zwei Dimensionen: die Dimension der Textualität und die Dimension der thematischen Orientierung. Die Dimension der Textualität bezieht sich auf die Texthaftigkeit einer Äußerung. Je mehr Informationen in einer Aussage vermittelt werden sollen, desto texthafter wird die Äußerung sein müssen. Die Dimension der thematischen Orientierung bezieht sich auf die Spezifität der jeweiligen Thematik als Gegenstand einer Kommunikation. So können alltägliche Erfahrungen leicht ausgedrückt und verstanden werden, während themen- bzw. fachspezifische Äußerungen schwieriger zu artikulieren und zu verstehen sind, da spezifisches Vorwissen vorhanden sein muss (Portmann-Tselikas / Schmölzer-Eibinger 2008: 6). Aus den Dimensionen ergeben sich vier Quadranten. thematische Orientierung: Welt des systematisierten Wissens 3

4

dialogisch organisiert

textuell durchformt 1

2

thematische Orientierung: Welt des Alltags Abb. 1: Die vier Quadranten von Portmann-Tselikas / Schmölzer-Eibinger (2008: 6) Der 1. Quadrant umfasst vor allem den Bereich der mündlichen Alltagskommunikation. Dazu gehören Beziehungspflege, Organisation des gemeinsamen Tuns, Einkaufen etc. All das sind Bereiche der Kommunikation, in denen fast alle Menschen in einer Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade dieselbe Basis

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aufweisen. Diese Kompetenz entwickeln alle Menschen im sozialen Kontakt auch ohne schulische Bildung. Dieser Bereich ist auch jener, der in der Regel im Anfängerunterricht dominiert. Man findet hier außer der rein mündlichen Alltagskommunikation auch schriftliche Textsorten, die stark an der mündlichen Kommunikation orientiert sind, wie z.B. kurze Notizen, SMS, Chat, Postkarten etc. (Portmann-Tselikas / Schmölzer-Eibinger 2008: 6f.). Der 2. Quadrant ist jener der textuell geformten Alltagskommunikation, da hier der Sprachgebrauch noch in der Welt des Alltags verankert ist. In diesen Quadranten gehören beispielsweise mündliche und schriftliche Alltagserzählungen, Märchen, Gute-Nacht-Geschichten, Trivialliteratur, Zeitungstexte mit Alltagsund Personenbezug aus der Boulevardpresse usw. Hier wird der erste Kontakt zur Welt der Texte geknüpft und es kommt zu einem Übergang von der Umgangssprache zur Hochsprache. Aus diesem Grund ist dieser Bereich auch im Mutterund Fremdsprachenunterricht von besonderer Bedeutung (Portmann-Tselikas / Schmölzer-Eibinger 2008: 7). Der 3. Quadrant ist gekennzeichnet durch einen textuell nicht durchformten Sprachgebrauch mit mündlicher und dialogischer Prägung, der jedoch systematisiertes und strukturiertes Wissen anstrebt. Beispiele für diesen Quadranten sind etwa Warum-Fragen von Kindern, Diskussionsrunden von Politikern, Interviews mit Experten, Gespräche von Fachleuten untereinander, Fachdiskussionen im Unterricht usw. Zentrale Merkmale in diesem Bereich sind das Erklären und Begründen, die Suche nach Zusammenhängen und die Abstraktionsfähigkeit (Portmann-Tselikas / Schmölzer-Eibinger 2008: 7). Der 4. Quadrant kann als Gegenpol zum ersten verstanden werden, da hier Textkompetenz gefordert ist. Er ist durch ein hohes Maß an Textualität, wie auch durch die Orientierung am systematischen Wissen gekennzeichnet. In diesen Bereich fallen wissenschaftliche Fachtexte, Vorlesungen, Reden und Vorträge, Sachtexte usw. Es wird hier versucht, Welt in Sprache zu fassen und nachvollziehbar auszudrücken; Phänomene werden erläutert und deren Wirkungszusammenhänge erklärt (Portmann-Tselikas / Schmölzer-Eibinger 2008: 7f.). Natürlich gibt es auch Textsorten, die schwer oder zumindest nicht immer eindeutig einzuordnen sind. Dieses vier-Quadranten-Modell lässt auch Schlüsse auf den Zweit- und Fremdsprachenunterricht zu: Im Anfängerunterricht werden vor allem alltägliche Texte verwendet, die dem Bereich des 1. Quadranten zuzuordnen sind. Anhand dieses vier-Quadranten-Modells kann die Förderung der Textkompetenz in einer Progression erfasst und umgesetzt werden, in der sprachliche und kognitive Leistungen der Lernenden beim Umgang mit Texten vom Einfachen zum Komplexen abgestimmt werden.

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Textkompetenz und ihre Bedeutung für die Optimierung von Lehrund Lernprozessen im DaF-Bereich

Der DaF-Unterricht zeichnet sich im Unterschied zum DaZ-Bereich dadurch aus, dass er in einer nicht zielsprachigen Umgebung unter institutionellen Rahmenbedingungen stattfindet. Er hat das typische Merkmal, dass das Medium nicht von Anfang an zur Verfügung steht, aber für die Kommunikation im Unterricht genutzt wird. Die Fremdsprache als Medium und Gegenstand im Unterricht muss folglich in einem didaktisch abgestimmten Prozess aufgebaut und erlernt werden (Hunfeld 1990). Für die Optimierung dieser didaktischen Schritte gibt es verschiedene Konzepte und Ansätze. Sie sind durch unsere Vorstellungen davon geprägt: was einerseits Sprache ist und was wir mit Sprache beim Sprachenlernen tun oder tun sollten, und andererseits was Lernen ist und welches Modell wir über den Lernprozess haben. Dem Fremdsprachenunterricht im Sinne des kommunikativen Ansatzes liegt ein Sprachbegriff zugrunde, der Sprache als soziales Handeln auffasst. Als Ziel im Fremdsprachenunterricht wird dementsprechend die Förderung der Handlungsfähigkeit betrachtet. In Bezug darauf, wie Handlungsfähigkeit erworben wird, gibt es unterschiedliche lerntheoretische Ansätze. Das Konzept zur Förderung der Handlungsfähigkeit, zur Rolle der sprachlichen Fertigkeiten ist in der Fremdsprachendidaktik ein viel diskutiertes Thema. Im Zuge dieser Diskussion wird in der letzten Zeit die Rolle und Wichtigkeit der Textkompetenz im fremdsprachlichen Unterricht in den Vordergrund gerückt. Den vier Fertigkeiten wurde schon in der audiolingualen und in der ersten sogenannten pragmatischen Phase der kommunikativen Didaktik eine zentrale Rolle zugeschrieben. Sie wurden nach den unterschiedlichen Modalitäten des Sprachgebrauchs (mündlich-schriftlich/rezeptiv-produktiv) aufgeteilt, dabei wurden aber die einzelnen Fertigkeiten jeweils für sich betrachtet und dementsprechend im Unterricht isoliert meist durch Repetition gefördert. Ausgehend von der Annahme, dass Hören leichter als Sprechen und Lesen leichter als Schreiben ist, wurden die einzelnen Fertigkeiten in eine Progression gestellt. DaF-Lehrwerke wurden nach diesem Modell konzipiert. Rückblickend hat sich dieses Konzept nicht bewährt, als besonders problematisch wird die Isolation der einzelnen Fertigkeiten betrachtet. Es lässt sich also feststellen, dass die pragmatisch orientierte kommunikative Didaktik zwar ohne Zweifel den großen Vorteil für Lehrende und Lernende brachte, dass Lernfortschritte in einzelnen Fertigkeiten fassbar und messbar gemacht wurden. Wichtige Potenziale blieben aber unausgeschöpft und unausgenutzt.

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Ilona Feld-Knapp Sprachliche Fertigkeiten werden in diesem Zusammenhang jedoch häufig als Kommunikationstechniken konzeptualisiert und im Fremdsprachenunterricht instrumentalisiert, während ihre Rolle als komplexe und soziokulturell höchst diverse Komponenten sprachlicher Sozialisation vergleichsweise in den Hintergrund rückt (Thonhauser 2008: 93).

Für diese Zwecke, nämlich, dass der Fremdsprachenunterricht Lernende zu sprachlichen Handlungen befähigt, damit sie sich über die alltagsbezogene Kommunikation hinaus auch am literaren Diskurs einer Gesellschaft im jeweiligen soziokulturellen Kontext beteiligen können, wird eine andere Fähigkeit gebraucht, die einen reflektierten Umgang mit der Sprache ermöglicht. Diese kann als Textkompetenz beschrieben werden. In den 90er Jahren hat der GER den modernen Fremdsprachenunterricht positiv beeinflusst und viele Innovationen in Gang gesetzt. Denken wir an die Professionalisierung der Lehrwerkentwicklung und von Testverfahren. Kritische Stimmen dem GER gegenüber werden in der letzten Zeit vor allem im Bereich der sprachlichen Kompetenzen immer lauter, obwohl das Dokument gerade in diesem Bereich einen positiven Wendepunkt darstellt, der aber für heute wieder als überholt gilt bzw. ergänzt und modifiziert werden muss. Es ist positiv, dass der GER statt linearem Fertigkeitstraining ein neues Modell kommunikativer Funktionen anbietet: Produktion und Rezeption werden als zentrale Aktivitäten genannt, denen Interaktion und Mediation zu- und nachgeordnet werden (Fandrych / Thonhauser 2008: 7). Der GER beschreibt also die kommunikativen sprachlichen Kompetenzen in ihrer Bedeutung für kommunikative Grundfunktionen und kommunikative Sprachaktivitäten. Die kommunikative Sprachkompetenz eines Lernenden oder Sprachverwenders wird dementsprechend im Unterschied zum Fertigkeitskonzept in verschiedenen kommunikativen Sprachaktivitäten beschrieben, die Rezeption, Produktion, Interaktion und Sprachmittlung (insbesondere Dolmetschen und Übersetzung) umfassen, wobei jede dieser Typen von Aktivitäten in mündlicher oder schriftlicher Form oder in beiden Formen vorkommen kann. Rezeption und Produktion (mündlich und/oder schriftlich) sind ganz offensichtlich primäre Prozesse, weil beide bei der Interaktion benötigt werden. Der wichtigste Kritikpunkt ist, dass Textkompetenz im GER unzureichend definiert ist, obwohl Texten und damit der Schriftlichkeit beim Lehren und Lernen von modernen Sprachen eine zentrale Rolle zukommt. Die Wichtigkeit der Textorientierung wird zwar im GER anerkannt, aber für die Kompetenz beim Umgang mit Texten gibt es wenig oder keine Anhaltspunkte.

Textkompetenzen beim Lehren und Lernen von modernen Fremdsprachen 139 An den folgenden konkreten Beispielen möchte ich das Problem veranschaulichen, warum die Beschäftigung mit der Textkompetenz im heutigen modernen Fremdsprachenunterricht so wichtig ist. Erstens: Bei der Durchsetzung des Mehrsprachigkeitskonzeptes. Obwohl sich das Dokument zu diesem Ziel bekennt, wird im GER auf Vorkenntnisse und Lernerfahrungen in anderen Fremdsprachen nicht gebaut und damit wird die Basis für die Entfaltung der Mehrsprachigkeit nicht gesichert. Auf der Grundlage des GER bleibt Mehrsprachigkeit nur eine Deklaration, die nicht umgesetzt werden kann. Wir haben gesehen, welche Potenziale hier in Bezug auf den Transfer von Textkompetenz zwischen den Sprachen vorhanden sind. Zweitens: Der GER will Lernende als sozial handelnde Personen betrachten. In Wirklichkeit wird aber auf den kognitiven Aspekt des Lernens Wert gelegt und die sozio-kulturellen, ästhetischen und erzieherischen Dimensionen des Fremdsprachenlernens werden vernachlässigt. Auch hier bietet sich der reflektierte Umgang mit Texten als gute Basis für die Entfaltung dieser Dimensionen an (Bausch / Christ / Königs / Krumm 2003, Feld-Knapp 2012). Drittens: Im GER werden im schriftlichen Bereich Lesen und Schreiben immer noch getrennt betrachtet. Viertens: In Bezug auf Progression werden im Referenzrahmen zunächst nur mündliche und alltagssprachliche Kompetenzen genannt. Textkompetenz meint aber de facto auch einen speziellen mündlichen Gebrauch von Sprache, nämlich einen „schriftlich geprägten“, der nicht mit der mündlichen Kommunikation im Alltag gleichzusetzen ist. In der Schule wie in vielen Bereichen der Arbeitswelt erfolgt die Auseinandersetzung mit Themen und Gegenständen hauptsächlich über (überwiegend schriftliche) komplexe Texte […] – dafür wird eine formelle, situationsentbundene Sprache benötigt. Der Referenzrahmen fokussiert dagegen auf den ‚unteren‘ Niveaustufen (A1 bis B2) eine alltagssprachliche Orientierung selbst da, wo es um (schriftliche) Textrezeption und Textproduktion geht. Solche Sprach- und Textkompetenzen, die über die alltägliche Kommunikation hinausgehen, werden erst ab Niveaustufe B2, d.h. jenseits der Schwelle der Integrationssprachkurse und auch für schulische Lernende viel zu spät angeboten (Krumm 2007a: 200). Diese kritischen Stimmen haben sich in der letzten Zeit in der Fremdsprachendidaktik niedergeschlagen und zum Weiterdenken angeregt. Als Folge dieser Überlegungen mit Berücksichtigung neuer Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaften, vor allem aus der Gehirnforschung werden die sprachlichen Fertigkeiten in der letzten Zeit in eine neue hierarchische Ordnung gebracht. Der Hauptgedanke dabei ist: Was bislang häufig getrennt wurde, sollte aus einer gemeinsamen Perspektive betrachtet werden: einmal geht es um den Konnex zwischen Wortschatz/Idiomatik und Grammatik und Text/Diskurs, der aus er-

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werbstheoretischer wie sprachwissenschaftlicher Sicht neu in den Blick genommen wird. Getrennt wurden im klassischen Modell der vier Fertigkeiten auch Lesen und Schreiben, die in den letzten Jahren als Ausdrucksformen einer soziokulturell situierten literalen Praxis zunehmend unter dem umfassenden Begriff der Textkompetenz in den Mittelpunkt gerückt werden (Fandrych / Thonhauser 2008: 7). Fremdsprachendidaktisch gesehen ist also ein neuer integrierter Lehr- und Lernansatz erforderlich, bei dem neben der fremden Sprache auch Einsichten und Wissen, die mit ihr verbunden sind, vermittelt werden. Dieses Vorgehen soll dazu führen, den Kontakt mit der Sprache bedeutungsvoll und interessant zu gestalten (Hornung 2002). Die damit verbundene Sprachverwendung bewegt sich über die des ersten Quadranten hinaus, da ein reflektiertes Umgehen mit Sprache nötig ist. Diese Formen der Sprachverwendung sind für weiteres inhaltsbezogenes Lernen von großer Bedeutung, weshalb sich der Fremd- und Zweitsprachenunterricht nicht auf der Ebene kommunikativer Alltagskommunikation bewegen sollte (PortmannTselikas / Schmölzer-Eibinger 2008: 10ff.). Durch die Verbindung von bis jetzt getrennt behandelten Bereichen ergeben sich im Unterricht neue Lehr-und Lernmöglichkeiten. Diese können in Aufgaben realisiert werden (Krumm / Portmann-Tselikas 2006). Aufgaben sind das Kernelement, das die Arbeit organisiert und in eine Richtung lenkt. Der Grundgedanke bei der Aufgabenorientierung ist, dass der Fremdsprachenunterricht nicht auf den Ausbau einzelner Fertigkeiten fokussieren und Aufgaben dementsprechend bestimmen sollte, sondern es sollten „Aufgaben gestellt werden, deren Bewältigung dann jeweils relevante sprachliche Fertigkeiten ins Spiel bringt“ (Thonhauser 2008: 94). Das würde bedeuten, der Fremdsprachenunterricht hält Lernangebote bereit, bei denen Lesen und Schreiben wie im wirklichen Leben aufeinander angewiesen sind (Thonhauser 2008: 94). An dieser Stelle möchte ich kurz darauf hinweisen, dass Aufgaben auch aus einem anderen Grund wichtig und unentbehrlich sind. Die Förderung der Handlungsfähigkeit als Hauptziel des Fremdsprachenunterrichts brachte mit sich, dass die inhaltliche Seite des Unterrichts vernachlässigt wurde. Im Fremdsprachenunterricht werden primär die Sprache und kaum Inhalte gelernt und das Lernen vollzieht sich auf der Basis muttersprachlicher Erfahrungen, muttersprachlich beherrschte Sprachhandlungen werden in der Fremdsprache ausgeführt. Dieses führt früher oder später immer zur „Langeweile des Fremdsprachenunterrichts“, wie Harald Weinrich (1981) bereits in seiner Antrittsvorlesung 1979 an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) ausgeführt hat. Daher sah er ein großes Potenzial für den Unterricht in literarischen Texten,

Textkompetenzen beim Lehren und Lernen von modernen Fremdsprachen 141 anhand derer eine mitteilungsbezogene Kommunikation ermöglicht wird. Themen knüpfen an die Lebenswelt der Lernenden an und in Auseinandersetzung mit literarischen Texten können sie eine neue Welt entdecken. Die Grundlage für diese Arbeit stellt die Textkompetenz dar. Aufgaben stehen also nicht in Konkurrenz zu den traditionellen Bereichen des Sprachunterrichts wie das Schreiben, Grammatik, Wortschatz, Landeskunde, sie stellen selbst keinen Lerngegenstand dar. Hier geht es also nicht um einen völlig neuen Ansatz. Aufgaben sind diejenigen Elemente im Unterricht, die den Kontakt der Lernenden zu diesen Lerngegenständen schaffen und regeln. Unterricht ist eine soziale Situation, deren Rhythmus und Takt dadurch bestimmt wird, wie fachbezogen – und dies heißt in unserem Fall: bezogen auf das Lernen der Fremd- oder Zweitsprache Deutsch – gearbeitet wird. Aufgabenorientierter Unterricht bietet eine ideale Situation für die Förderung der Textkompetenz, und umgekehrt ist Textkompetenz die Grundlage für die Wahrnehmung von Lehr-und Lernangeboten in einem aufgabenorientierten Unterricht.

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Textkompetenz der Lehrenden im DaZ/DaF-Bereich Die Fachkompetenz von LehrerInnen zeigt sich in der Weise, wie sie Aufgaben stellen und wie sie mit dem umgehen, was im Arbeitsprozess und als deren Resultat sichtbar wird. Streng genommen gibt es keinen anderen Weg, auf dem diese Kompetenz im Unterricht zur Geltung kommen kann. Insofern ist die Hinwendung zu Aufgaben didaktisch höchst bedeutsam, weil sie unzweideutiger und kompakter, als dies bisher formuliert wurde, die Frage stellt, wie die wichtigsten Grundelemente des Unterrichts – die Lehrkraft, die Lernenden und der Lerngegenstand – miteinander in Kontakt kommen und was die entscheidenden Aspekte an diesem Kontakt sind (Krumm / Portmann-Tselikas 2006: 11).

Lehrende brauchen in einem aufgabenorientierten Sprachunterricht, in dem Textkompetenz der Lernenden als Lerngegenstand betrachtet wird, eine besondere Form der Textkompetenz, die über ein alltagssprachliches Verstehen hinausgeht. Sie müssen nicht nur gut lesen und verstehen, sondern darüber hinaus auch so metakognitiv arbeiten können, dass sie ihren eigenen Verstehensprozess und ihr Lehrverhalten reflektieren und diese Erfahrungen operationalisieren (Feld-Knapp / Schoßböck 2009: 115ff.). Krenn spricht in diesem Zusammenhang von einer Funktionalisierung von Texten für den Unterricht, und postuliert, dass Fremdsprachenlehrende diese Texte dann „anders lesen“ (Krenn 2002).

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Die Kompetenz der Lehrenden, Texte anders lesen zu können, zeigt sich im Unterricht, wie sie Texte funktionalisieren, ob sie schon im Vorfeld Potenziale des Textes erkennen und dementsprechend Lehr- und Lernziele für den Unterricht festlegen. Die besondere Textkompetenz der Lehrenden äußert sich weiter darin, dass sie sich einerseits in der Textwelt zurechtfinden, andererseits die Lebenswelten der Lernenden kennen und die Lebenswelten mit den Textwelten verknüpfen können (Feld-Knapp / Schoßböck 2009: 115ff.). Bei der konkreten Gestaltung der Textarbeit entwickeln Lehrende Aufgaben, die Lernende unterstützen, geschriebene Texte eigenständig zu erarbeiten und zu verstehen, das Verstandene zu verarbeiten und zum Ausgangspunkt eigener, mündlicher wie schriftlicher Textproduktion zu machen (Solmecke 1993: 34). Die Aufgaben greifen die einzelnen Teilkompetenzen auf, die in Lehr- und Lernprozessen den Bedürfnissen der Lernenden entsprechend unterschiedlich zur Geltung kommen. Lehrende müssen auch darauf achten, dass jede Textarbeit über den einzelnen Text hinausgehende Zielsetzungen einschließt, wie: Vermittlung von Kenntnissen über den Leseprozess, Vermittlung von Lese- und Verstehensstrategien, die von den Lernenden persönlich-affektiv erfahren, reflektiert und so erworben werden. Um die Komplexität der Förderung des reflektierten Umgangs mit Texten aufzuzeigen, habe ich einen kurzen Text aus der österreichischen Gegenwartsliteratur gewählt. Lehr- und Lernziel: Förderung der Textkompetenz, um einen Text der Gegenwart reflektiert lesen und verstehen zu können. „Irgendwo“ Sie ist eigentlich eine recht nette Person, irgendwo – Das ist so ungefähr die vernichtendste Höflichkeit, die einem Mitmenschen zuteil werden kann. Unlängst hat eine gute Bekannte über eine entfernte Bekannte, die ihr der Zufall eines Abends an den gleichen Tisch gesetzt hatte, folgendes Urteil abgegeben: "Sie ist eigentlich eine recht nette Person, irgendwo." Das ist so ungefähr die vernichtendste Höflichkeit, die einem Mitmenschen zuteil werden kann. Denn „eigentlich" (nett) bedeutet, dass keiner damit rechnen durfte. „Nett" ist die äußerst beliebte Sprachform des als Kompliment getarnten drastischen Desinteresses. „Recht" (nett) nimmt einen Großteil des Schein-Kompliments wieder zurück. „Person" ist der Inbegriff der Unpersönlichkeit und wird erst verwendet, wenn es egal zu sein scheint, ob es sich bei der Person um einen Mann oder eine Frau handelt. Als wäre mit dem Passus „eigentlich eine recht nette Person“ nicht schon alles verraten, folgt dann auch noch: „irgendwo“. Es bedeutet: Die Person könnte unter Umständen etwas besitzen, das als „eigentlich recht nett“ zu bezeichnen wäre. Allerdings ist es noch nicht gelungen, den Ort ausfindig zu machen. Möglicherweise

Textkompetenzen beim Lehren und Lernen von modernen Fremdsprachen 143 befindet er sich außerhalb dieser Person, eher nur in den Augen des wohlgesonnenen Betrachters, irgendwo (Glattauer 2008).

Eine traditionelle Aufgabe ist im Sprachunterricht, Fragen an den Text zu stellen. Bei der Aufgabenstellung wird die eigene Textkompetenz der Lehrperson genutzt und die Fragen werden als Ergebnis der Reflexion des eigenen Leseprozesses und der Antizipation der voraussehenden Lernschwierigkeiten formuliert. „Um einen Text zu verstehen, muss der Leser nicht nur Wörter und ihre Bedeutungen und nicht nur Satzverbindungen verstanden haben, sondern er muss Sätze untereinander verknüpfen und in ein kohärentes Ganzes integrieren“ (Ehlers 1998: 47). Im Falle von Sachtexten kann der Text als Ganzes verstanden werden, wenn die Informationen im Text anhand von W-Fragen erfasst werden. Bei fiktionalen Texten werden dagegen Lernende vor größere Herausforderungen gestellt, denn diese Texte sind meistens mehrdeutig. Der Text ist [somit] weder ein Behälter, dem wir Informationen entnehmen, noch ein Objekt, dessen Stil- und Strukturmerkmale beschrieben werden müssen, bevor man sich auf ihn einlassen kann, sondern eine Art Partitur, die zum Mitspielen, Mitdenken und Mitfühlen auffordert (Bredella 2007: 31).

In diesem konkreten Fall könnte der Text anhand der folgenden Fragen als ein kohärentes Ganzes verstanden werden. • Was wird gesagt? Was ist der eigentliche Inhalt des Textes? Gesagt wird konkret, dass jemand „eigentlich eine recht nette Person ist, irgendwo“. • Was ist das tatsächlich Gemeinte im Text? Eigentlich geht es im Text nicht um eine Person, sondern darum, den Leser darauf aufmerksam zu machen, dass viele Aussagen und gängige Floskeln nicht wörtlich gemeint sind, sondern eine beschönigende, ausweichende Funktion erfüllen. „Nett“ ist in Österreich ein nichtssagender Ausdruck. „Eigentlich“ bedeutet, dass das Gegenteil zu erwarten ist. „Recht“ sollte zwar „ziemlich“ bedeuten, ist hier aber nichtssagend wie „nett“. Somit ist „eigentlich recht nett“ eine Möglichkeit, positiv auszudrücken, dass eine Person einem tatsächlich nichts bedeutet. „Irgendwo“ erhöht dabei noch den Grad an Unverbindlichkeit.

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• Was ist die Wirkung des Textes? Der Text ist in erster Linie humorvoll und amüsant, er unterhält. Wenn man über das Gemeinte nachdenkt, relativiert sich diese Funktion jedoch, da es zu einer kritischen Auseinandersetzung mit eigenen Sprachgewohnheiten kommt. Somit bietet dieser Text einerseits die Möglichkeit, die (fremde) Sprache selbst zur Sprache zu bringen, andererseits die eigene Sprache sowie persönliche Einstellungen zu reflektieren. Sowohl Sprachbewusstheit als auch die Reflexionsfähigkeit eigener Einstellungen, Wahrnehmungen und Emotionen werden gefördert. Der Text bietet für Sprachlernende im DaZ/DaF-Unterricht eine gute Möglichkeit, ihre Wahrnehmung der österreichischen Mentalität zu überprüfen bzw. die eigenen Sichtweisen/Meinungen und ev. Stereotype/Klischees zur Sprache zu bringen – sind ÖsterreicherInnen tatsächlich so? Wie wird das in meiner Sprache realisiert? Gibt es auch bei uns solche „Floskeln“? Der Text bietet darüber hinaus die Chance, das Fremde am Eigenen und das Eigene am Fremden zu überprüfen bzw. gegenzulesen und somit Ähnlichkeits-, aber auch Kontrastbeziehungen zwischen verschiedenen Sprachen und Kulturen herzustellen. Durch das In-Kontakt-Treten und die Auseinandersetzung eröffnet sich die Chance eines interkulturellen Austausches und die Möglichkeit, Sachverhalte aus fremder Perspektive wahrzunehmen.

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Fazit

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dem Begriff der Textkompetenz beim Lehren und Lernen von modernen Fremdsprachen. Nach Klärung von terminologischen Fragen werden Ergebnisse zur Erforschung des Begriffs in seiner Bedeutung für die Optimierung von Lehr- und Lernprozessen im DaZ/DaF-Unterricht beschrieben. Ausgehend davon, dass die Textkompetenz die Grundlage für einen reflektierten Umgang mit Sprache darstellt, wird für die Förderung der Textkompetenz im DaZ/DaF-Unterricht plädiert, die als ein Kernbereich beim Lehren und Lernen von modernen Fremdsprachen betrachtet wird. Besonders große Relevanz wird der Textkompetenz als bildungssprachlicher Kompetenz im DaZ-Bereich zugeschrieben. Ihre Förderung wird als eine erstrangige Aufgabe dargestellt und als grundlegende Voraussetzung für den schulischen Erfolg betrachtet, sonst würden Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, die in zwei oder mehr Sprachen leben, nach wie vor zu den Bildungsverlierern gehören (Gogolin 2007). Die Textkompetenz wird daher für die Integration in einer neuen Gesellschaft als Schlüsselkompetenz betrachtet.

Textkompetenzen beim Lehren und Lernen von modernen Fremdsprachen 145 Im Beitrag wird betont, dass die Textkompetenz über den schulischen Kontext hinaus allgemein auch für die Teilnahme am literaren Diskurs einer Gesellschaft unter allen soziokulturellen Bedingungen von großer Bedeutung ist. Dies ist schlechthin als Endziel von Lehren und Lernen von Fremdsprachen in jedem Kontext zu betrachten. Textkompetenz wird in diesem Beitrag zum Schluss auch aus Lehrerperspektive untersucht. Der Frage der Wichtigkeit der spezifischen Textkompetenz bei Lehrenden wird nachgegangen. Am Beispiel der Didaktisierung eines Textes aus der österreichischen Gegenwartsliteratur wird die Rolle der Textkompetenz bezüglich des Verstehens interkultureller Inhalte hervorgehoben.

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Olaf Gätje Kassel

Copy-and-Paste – Oder einige Überlegungen zur Multimodalität softwaregestützter Schülerpräsentation in der gymnasialen Oberstufe Abstract In dem vorliegenden Artikel wird zunächst die Frage diskutiert, in welcher Weise die medientechnischen und medienkulturellen Umwälzungen der vergangenen ca. 20 Jahre die Voraussetzungen der Textproduktion und – in Abhängigkeit von der Textsorte – die Struktur der Textprodukte selbst verändern. So wird die Entstehung multimodaler Texte wahrscheinlicher, was wiederum die auch didaktisch relevante Frage nach dem Verhältnis von Sprache und visuellen Darstellungsformen aufkommen lässt. Am Beispiel der Verwendung des illustrativen Bildes in der softwaregestützten Schülerpräsentation der gymnasialen Oberstufe wird dieser zweiten Frage nachgegangen. Dabei zeigt sich, dass das über eine hohe semantische Dichte und entsprechende Verbalisierungspotentiale verfügende illustrative Bild in einem engen Zusammenhang mit der sprachlichen Realisierung des Präsentationsvortrags steht.

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Der digitale Schreibkontext als Herausforderung für die Didaktik der Textproduktion im Sekundarbereich

Der digitale, auf Textverarbeitungsprogrammen1 basierende sowie durch das Internet gestützte Textproduktionsprozess am Computer unterliegt erkennbar anderen Bedingungen als das Schreiben mit Stift und Papier. Das betrifft vor allen Dingen den niedrigschwelligen Zugang2 zu in ihrem Wahrheitsgehalt nicht immer zuverlässigen Informationen aus dem World Wide Web zu allen erdenkli1

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass digitale Schreibprozesse selbstverständlich auch mit Hilfe anderer Software wie Präsentationsprogrammen, Chatprogrammen, Mailprogrammen usw. ermöglicht werden. 2 Die Rede von einem niedrigschwelligen Zugang zu den Informationen des Internets ist im Übrigen voraussetzungsvoll. Sie setzt stillschweigend voraus, dass erstens ein internetfähiger Computer, dass zweitens der Anschluss an ein leistungsfähiges Internet vorhanden ist und dass das Internet – drittens – nicht der Zensur unterworfen ist.

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chen und weniger erdenklichen Themen. Dieser Zugang ist als niedrigschwellig zu charakterisieren, weil u.a. die Verfügbarkeit von hochselektiven InternetSuchmaschinen und die verbreitete Vertrautheit mit enzyklopädischen Wissensressourcen im Netz den Schreiber den umstandslosen und raschen Zugriff auf miteinander verlinkte Informationseinheiten erlauben, ohne dass der Arbeitsplatz dafür verlassen oder das Arbeitsgerät – vom Computer beispielsweise zum gebundenen Nachschlagewerk – gewechselt werden muss. Auf dem Monitor des Computers befindet sich nämlich nicht nur die Oberfläche für den in Produktion befindlichen Text, sondern der Monitor fungiert zugleich als ein Fenster, durch das die mit Hilfe entsprechender Suchprogramme selegierten Informationen aus dem Internet in ihren verschiedenen medialen Erscheinungsformen dem menschlichen Wahrnehmungsapparat zugänglich gemacht werden, also sicht- und hörbare Gestalt annehmen. Damit ist der mit entsprechender Software ausgestattete und an das Internet angeschlossene Computer als mediengeschichtlich verhältnismäßig junges Schreibinstrument und gleichzeitig als leistungsfähiges Werkzeug für die Recherche nach und das Verfügbarmachen von für den Textproduktionsprozess benötigten Informationen zu verstehen, wobei die Unterscheidung dieser beiden Tätigkeiten eine analytische ist, denn natürlich werden im Schreibprozess nicht erst seit dem Computerzeitalter externe Informationsquellen „konsultiert bzw. exzerpiert und verquicken sich so eng mit dem Schreibprozeß, daß man mit gutem Recht behaupten kann, ‚writing is rewriting‘.“ (Grésillon 2012: 162) Eine strikte Unterscheidung von Schreiben auf der einen Seite und Informationsrecherche und Wissensaneignung auf der anderen Seite geht implizit von einem Schreibprozess aus, der ohne den Zugriff auf extramentale Wissensressourcen, also auf andere Texte, auskommt. Solche Schreibprozesse gibt es; sie sind typisch für den Schreiblernprozess im Deutschunterricht der Primarstufe und der Sekundarstufe I. Die erfolgreiche Bearbeitung komplexerer, wissensbasierter Schreibaufgaben kommt im Normalfall aber nicht ohne die Hinzuziehung extramentaler Wissensressourcen aus. Das Internet ist aber nicht nur als unauslotbares, stetig wachsendes Archiv von vernetzten Wissensfragmenten unterschiedlicher Qualität und Komplexität. Darüber hinaus werden die aus der Virtualität des Internets mit Hilfe eines Browserprogramms und entsprechenden Ausgabegeräten sinnlich erfahrbar zu machenden Informationen eben nicht nur in schriftlicher Form, sondern auch in anderen visuellen Medien (z.B. Bilder, Fotos, Graphiken), in auditiven Medien sowie in multimedialer Form (z.B. Film und Text-Bild-Kombination) dargestellt, worin sich das Internet als Rezeptionsmedium von dem schriftbasierten Buch, das jahrhundertelang als Leitmedium fungierte, grundsätzlich unterscheidet. Diese universale, sich die „klassischen“ auditiven, visuellen und audiovisuellen Medien einverleibende Informationsverarbeitung erklärt sich aus der binären Codierung

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aller Daten im Kontext digitaler Kommunikation. Denn grundsätzlich kann jedes Zeichen, das binarisierbar ist, Gegenstand digitaler Kommunikation werden. Hierzu Krämer: „Einmal können Schrift und Notationssysteme ohne Informationsverlust in das digitale Alphabet transskribiert [sic!] werden. Zum andern sind auch nicht-schriftliche Symbolismen, und d.h.: die Bilder, binär darstellbar.“ (Krämer 1996: 109)3 Diese Fähigkeit des digitalen Alphabets, nicht nur Bilder, sondern alle möglichen Zeichentypen seinem Binarismus adaptieren zu können, ist der Grund dafür, warum der Computer das Symmedium (sensu Frederking u.a. 2008) schlechthin ist, werden in ihm doch wie in keinem anderen Medium zuvor die bekannten medialen Erscheinungsformen wie (Schrift)Sprache, Bild, Film und Ton integriert. Als Konsequenz der in diesen Artikel einführenden Überlegungen kann zwischenresümierend festgehalten werden, dass die digitale und internetgestützte Herstellung von Texten u.a. in Abhängigkeit davon, welche Textsorte innerhalb welchen Kommunikationsbereichs jeweils erstellt werden soll, als begünstigende Voraussetzung für die Erstellung multimodaler Texte aufgefasst werden muss, weshalb nicht mehr von einem per definitionem allein im Medium der Schrift stattfindenden Schreibprozess, sondern zutreffender von einem Textproduktionsprozess zu sprechen ist, in dem „Schrift nicht allein oder vorherrschend, sondern neben-, untergeordnet, integriert oder gar nicht erscheint“ (Schmitz 2006a: 250).4 In der Institution Schule wird das in der Wahrnehmung vieler gerade auch im Bildungssektor tätiger Menschen als natürlich empfundene Paper-Pencil-Paradigma wenn überhaupt nur zögerlich in Frage gestellt. Von Seiten der Deutsch3

Eine ähnliche Denkfigur wird mit Bezug auf das Kommunikationsmodell von Claude Shannon bereits von Burckhardt formuliert: „Der Informationsbegriff löst den herkömmlichen Schriftbegriff insoweit ab, als er ihn als Untergröße – als Codierungs- und Decodierungsapparatur – in die prozedurale Beschreibung eines Übertragungszusammenhangs einbettet. Information ist also die Metaschrift – und sie entsteht, wenn etwas übertragen wird. Ob es Bilder oder Piktogramme sind, der Fließtext der Johannesapokalypse [...] – all dies ist Information, eine Summe von bits und bytes.“ (1998: 33, Hervorhebung O. G.) 4 Entsprechend wäre ein noch im mediengeschichtlichen Kontext des Paper-Pencil-Paradigmas entstandenes Schreibprozessmodell wie das von Hayes und Flower revisionsbedürftig und um den Aspekt des in der Textproduktion verwendeten Textproduktions- und Recherchewerkzeugs zu ergänzen. Die Einbeziehung des Schreibmediums in die Analyse von Prozessen der Textproduktion erschöpft sich also nicht darin, die in Bezug auf Kognition und Motorik (Hand-Augen-Koordination) differierenden Anforderungen des Schreibens mit Stift und Papier auf der einen Seite und Tastatur und Monitor auf der anderen Seite zur Kenntnis zu nehmen. Vielmehr ist diese Unterscheidung vor dem Hintergrund einer globaleren Unterscheidung, nämlich der zwischen analogem und digitalem Zeitalter zu sehen.

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didaktik systematisiert erstmals Blatt 1996 in einer Bestandsaufnahme der bis dahin entwickelten Vorschläge mögliche Einsatzmöglichkeiten des Computers im Deutschunterricht. Demnach kommt der Computer entweder als Lernmedium, als Schreibwerkzeug, als Kommunikations- oder Informationsmedium in Betracht. Weniger aufgrund didaktischer Expertise, sondern erst durch die verpflichtende Einführung neuer Leistungs- und Prüfungsformen wie der Präsentationsleistung und Präsentationsprüfung in die Gymnasien kommt dem Computer in jüngerer Zeit als Informations- und Schreibwerkzeug faktisch größere Bedeutung zu. Damit stellt sich aber nicht nur die Frage, in welcher Weise sich die Textproduktionsprozesse von SchülerInnen verändern, sondern im engen Zusammenhang damit steht die Frage nach den Auswirkungen des digitalen Produktionskontextes auf das fertige Textprodukt und die lehrerseitigen Erwartungshaltungen und Normvorstellungen gegenüber einem Schülertext. Bezogen auf den Schreibprozess bemerkt der skandinavische Schreibforscher Skaar kritisch: Digital media make it increasingly easier for us to choose other forms of expression than writing. From a pedagogical perspective, there is nevertheless reason to defend the continuing hegemony of writing as a mode of expression. (Skaar 2009: 41)

Skaars Plädoyer für Schriftsprache als hegemonialem Ausdrucksmittel von SchülerInnen wirkt deutlich weniger kulturpessimistisch, bedenkt man, dass Skaar als Primardidaktiker argumentiert. Tatsächlich ist der Einsatz nicht-schriftsprachlicher Zeichen von Primarschülerinnen in der Textproduktion in einer Phase der Schreibentwicklung, in der gerade die Grundlegung produktiver literaler Formulierungskompetenzen erfolgen soll, als didaktisches Problem anzusehen, sofern darin eine Umgehungsstrategie zu erkennen ist, mit der schriftsprachliche Herausforderungen umschifft oder Könnensdefizite kaschiert werden sollen. Denn natürlich besteht die Aufgabe von Schule und muttersprachlichem Sprachunterricht in der Vermittlung literaler Kompetenzen. Allerdings ist die Verwendung digitaler Textproduktionswerkzeuge in didaktischen Kontexten und die damit einhergehende Multimodalität von Texten nicht in jedem Fall als Problem zu konzeptualisieren. In ihrer Antwort auf Skaars Kritik äußert sich die italienische Fremdsprachendidaktikerin Adami – die im Übrigen mit Studierenden arbeitet – denn auch wie folgt: So, rather than banning the range of digital tools available for text production, it seems that education may be better concerned with including the teaching of student’s aware, effective and proper use of such tools within the curriculum. (Adami 2010: 49)

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Dadurch, dass das Internet seine Informationen nicht nur im Medium der Schrift zur Verfügung stellt, sondern zudem in Form flächiger, nicht-linearer Zeichenkomplexe, in Form von Filmen und Audiofiles, die im Bereich des Digitalen wiederum mit dem „digital tool“ Copy-and-Paste in den eigenen Text eingeführt werden können, entstehen neue Herausforderungen für die schulische und universitäre Ausbildung produktiver wie rezeptiver Textkompetenzen. In diesem Artikel wird unter der zweischrittigen Befehlsfolge Copy-and-Paste zunächst eine basale Technik digitaler Textproduktion verstanden. Damit wird diese in jüngerer Zeit schlecht beleumundete Befehlsfolge ausdrücklich nicht mit der Tätigkeit des Plagiatierens gleichgesetzt. Schließlich bedarf die Anfertigung eines Plagiats nicht notwendigerweise des digitalen Zweischritts Copy-and-Paste, obwohl das Plagiatieren im Kontext digitaler Textproduktion allemal begünstigt wird. Die Befehlsfolge Copy-and-Paste wird hier also als eine Handlungsoption der digitalen Textproduktion aufgefasst, die es dem Textproduzenten erlaubt, sich gelesene Schrifttexte, gesehene Bilder, Filme und Graphiken, gehörte Audiofiles erst anzueignen (copy) und ggf. in einen eigenen Text einzufügen (paste). Damit ist diese Befehlsfolge zunächst nicht mehr und nicht weniger als ein Instrument, mit dem sich die oben erwähnte Formel „writing is rewriting“ im digitalen Handlungskontext niederschlagen kann. Gleichzeitig ist der Anwendungsbereich des „digital tools“ Copy-and-Paste – das sollte nach den bisherigen Ausführungen sinnfällig sein – nicht auf die Bearbeitung von auf dem Computermonitor flimmernden Schriftoberflächen eingeschränkt. Noch ganz ohne den Verweis auf das Internet als unerschöpfliches Informations- und Zeichenarchiv bemerkt der Medienwissenschaftler Ralf Schnell: Das Textverarbeitungssystem, das durch die Rechenmaschine gesteuert wird, bietet die Verflüssigung des Schreibprozesses, Texte lassen sich vergleichsweise einfach umbauen und neu strukturieren. Bilder und Tabellen können bei Bedarf eingefügt werden.“ (1999: 255, Hervorhebung O.G.)

Die von Schnell erwähnten Bilder und Tabellen können zwar auch mit handelsüblichen oder kostenfrei zugänglichen Textverarbeitungsprogrammen problemlos selbst erstellt werden; entscheidender für die hier interessierende Fragestellung ist aber nicht diese durch Textverarbeitungsprogramme gegebene Option der diagrammatischen Darstellung von Wissen und Informationen, die im Übrigen in bestimmten Textsorten und Wissenschaftsdisziplinen eine lange, in keinem Zusammenhang mit den Darstellungsoptionen digitaler Textverarbeitungsprogramme stehende Tradition hat. Für die hier angestellten Überlegungen entscheidender ist der Punkt, dass das Internet massenhaft professionell anmutende Bilder, Dia-

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gramme und Tabellen ready-made für jedermann zugänglich macht5 und dass diese Flut bildlicher und diagrammatischer Darstellungsformen von Wissen einher geht mit einer Umverteilung der Sinnlasten zwischen verbalen, bildlichen und graphischen Zeichenkomplexen: Die multimedialen Formate im Internet führen zu einer Neubestimmung der Funktion von Schrift und Bild: In zunehmendem Maße werden Objekte und Verhältnisse in der Welt durch (bewegte) Bilder dargestellt. (Schlobinski 2005: 8, Hervorhebung O.G)

Diese Verschiebung der Informationslast weg von der Schrift, als dem jahrhundertealten Sinnerschließungsmedium Nummer eins, hin zum Bild, dem im Verhältnis zur Schrift für genau diese Jahrhunderte zumeist nur die Erfüllung illustrativer Zwecke zugetraut wurde, bleibt im digitalen Erfahrungs- und Handlungskontext nicht folgenlos für die Möglichkeiten und Ansprüche an die eigene Textproduktion. Denn der Rezipient multimodaler Texte aus dem Internet sieht sich durch deren binäre Codierung (s.o.) und die Befehlsfolge Copy-and-Paste nun in die Lage versetzt, nicht nur Schrift und Bilder – ob bewegte oder unbewegte –, sondern diskontinuierliche Darstellungsformen jedweder Art für die eigene Textproduktion am Computer zu verwenden und damit einen Text herzustellen, der den häufig professionell oder semi-professionell hergestellten Textprodukten aus dem Wahrnehmungsraum Internet zumindest auf der Ebene der Oberflächenstruktur analog ist. Die aus didaktischer Perspektive interessierende Frage im Anschluss an diesen Befund lautet nun: Welche sprachlichen und textgestalterischen Kompetenzanforderungen resultieren aus der Verwendung des Textproduktionswerkzeugs Copy-and-Paste in Bezug auf die Implementierung von Graphiken, Bildern, Tabellen und Filmen bei der Produktion von Texten. Diese Frage soll im Folgenden anhand der softwaregestützten Schülerpräsentationen in der gymnasialen Oberstufe diskutiert werden.

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Die softwaregestützte Schülerpräsentation in der gymnasialen Oberstufe

In einer vom Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung der Stadt Hamburg herausgegebenen Handreichung für die Schulen lässt sich der neue Stellenwert, den die Schülerpräsentation in den verschiedenen Bundesländern in 5

Bereits Jay Bolter, der das Internet als einer der Ersten in die Geschichte der Technologien des Schreibens einordnet, bemerkt, dass das World Wide Web seinem Wesen nach multimedial ist (vgl. Bolter 2012: 335).

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den vergangenen Jahren erfahren hat, besonders deutlich verdeutlichen. Dort heißt es: An die Stelle der mündlichen Prüfung tritt ab dem Abitur 2011 die Präsentationsprüfung. Um diese Prüfung vorzubereiten, müssen die Schülerinnen und Schüler im Laufe der Studienstufe mindestens zwei Präsentationsleistungen als einer Klausur gleichgestellte Leistung erbringen. (Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung der Stadt Hamburg 2010: 2)

Diese Aufwertung der Präsentation als Prüfungsform im Abitur und als eine in der gymnasialen Oberstufe der Klausur gleichgestellten Leistungsform kann als eine Reaktion der Bildungspolitik auf die seit den 90er Jahren gewachsene Bedeutung der Textsorte Präsentation in verschiedenen gesellschaftlichen Kommunikationsbereichen gedeutet werden. Denn die Präsentation ist nicht nur fester Bestandteil im kommunikativen Haushalt von Wirtschaftsunternehmen, sondern die Präsentation gilt auch als ein zentrales Format der Wissensdarstellung und -vermittlung in der Face-to-face-Situation im Bereich der akademischen Wissenskommunikation. Dass das Halten einer Präsentation in diesen Bereichen im Normalfall gleichbedeutend mit dem Einsatz entsprechender Präsentationssoftware ist, bemerkt der Sprachwissenschaftler Lobin für den Wissenschaftsbereich: Präsentationen mit Unterstützung von Präsentationssoftware stellen eine inzwischen weitgehend etablierte Form in der konzeptionell monologischen wissenschaftlichen Binnenkommunikation von Angesicht zu Angesicht dar. (Lobin 2010: 358)

Vor diesem Hintergrund stellt sich die softwaregestützte Präsentation in der gymnasialen Oberstufe als eine propädeutische Lehr- und Lernform dar, mit der die Schülerinnen der gymnasialen Oberstufe auf etablierte Praktiken der universitären Wissensdarstellung und -vermittlung vorbereitet werden. Dabei sind die Schülerinnen zwar grundsätzlich frei in der Wahl der für die Präsentation verwendeten Medien, erfahrungsgemäß verweigern sich aber die Wenigsten der von Coy / Pias attestierten „PowerPoint-Kultur“ (vgl. 2009: 9) und den damit einhergehenden Möglichkeiten und Problemen nicht nur bei der Erstellung der Präsentation, sondern auch bei dem Vortrag der Präsentation vor einem mehr oder weniger interessierten Publikum und mindestens einer Lehrperson, in dem die an eine Wand in einer definierten Abfolge projizierten multimedialen Textflächen und gesprochener Vortragstext zu einem homogenen Gesamtvortrag synthetisiert werden müssen – eine wahre multimodale Herausforderung, in der die zeitliche Aneinanderreihung der Präsentationsfolien mit dem sich ebenfalls in der Zeit

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erstreckenden gesprochenen Vortrag zu koordinieren ist.6 Im Folgenden wird es im Wesentlichen um die Frage gehen, mit welchen sprachlichen Mitteln Schülerinnen diese (intra)textuelle und gleichzeitig intermediale Kohärenzproblematik bearbeiten, wie also die ephemeren Präsentationsfolien in den gesprochenen Vortrag integriert werden.

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Die softwaregestützte Schülerpräsentation als multimodale textuelle Handlungseinheit

Bevor im Fortgang die unter Abschnitt 1 und 2 gemachten Ausführungen des vorliegenden Artikels aufeinander bezogen werden, sind einige für die Analyse softwaregestützter Präsentationen erforderliche Begriffsklärungen vorzunehmen. Zunächst ist der am Computer erstellte multimodale Präsentationstext von dem Vortrag der Präsentation auf Grundlage ebendieses multimodalen Präsentationstextes zu unterscheiden. Was das Verhältnis von flächig-räumlichem Präsentationstext und gesprochenem Präsentationsvortrag angeht, so stellt Letztgenannter in Bezug auf die Multimodalität eine Erweiterung des Erstgenannten dar, da die flächig repräsentierten Sinnangebote in der Vortragssituation noch durch Lautsprache und ihre paraverbalen Bestandteile, durch Gestik und Mimik des Vortragenden und eine Reihe weiterer interpretationsfähiger Phänomene ergänzt werden. Der Vortrag der multimodalen Präsentation kann in die folgenden von Lobin u.a. (vgl. 2010: 363f.) vorgeschlagenen Analyseeinheiten unterschieden werden: -

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als Projektionssegment wird die zwischen zwei Klicks sichtbare Folie mit den auf ihr visualisierten schriftlichen, graphischen, bildlichen und ggf. animierten Elementen bezeichnet. Das Projektionssegment ist m.a.W. die zeitliche Existenzweise der Folien des multimodalen Präsentationstexts, das mit seiner Zeitlichkeit die zwei anderen Analysesegmente definiert. das Redesegment umfasst das, was für die Dauer der Sichtbarkeit einer Folie, also innerhalb eines Projektionssegments, von dem Vortragenden gesprochen wird. das Performanzsegment umfasst alle Handlungen des Vortragenden in einem Projektionssegment.

Nicht selten befindet sich in den Redemanuskripten das Wörtchen „Klick“ an den Stellen, an denen die nächste Präsentationsfolie mit einem Mausklick aufgerufen werden soll.

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Die softwaregestützte Schülerpräsentation ist also per definitionem eine multimodale Handlungseinheit. Dass zu den Merkmalen von Schülerpräsentationen Multimodalität gehört, ist nicht einfach nur eine empirische Wahrheit, sondern Multimodalität wird in entsprechenden Handreichungen und Empfehlungen der Bundesländer mal mehr, mal weniger explizit gefordert. In der bereits weiter oben zitierten Handreichung des Landes Hamburg heißt es etwa: Die wesentlichen Aussagen des Vortrags werden bildlich dargestellt, so dass sie prägnanter erfassbar und eindrücklicher vermittelt werden. Die Visualisierung ergänzt den Vortrag, erweitert das gesprochene Wort zu einer bildlichen Vorstellung. Visualisiert wird mit Mitteln der Textgestaltung, mit Grafiken, mit Symbolen und Bildern. Die Visualisierungen werden – in einem zweiten Schritt – in ein für das Thema und den Vortragenden geeignetes Medium eingebunden. (Die Präsentationsleistung und die Präsentationsprüfung in der Profiloberstufe 2010: 10)

Damit wird der o.g. Schnittstellenfunktion der Schülerpräsentation Rechnung zwischen gymnasialer Oberstufe und Universität getragen, da in der „softwareunterstützten Präsentation“ im Bereich der Wissenschaft der Einsatz von Visualisierungen textsortentypisch ist. Kennzeichnend für die software-unterstützten Präsentationen im Gegensatz zu traditionellen Vorträgen ist die simultane Ko-Präsenz gesprochener und geschriebener Sprache, Gestik und Mimik des Präsentators sowie diverser Visualisierungen auf den projizierten Folien. (Lobin u.a. 2010: 358, Hervorhebung O.G.)

Gleichwohl wird dieser Hang zur Visualisierung im schulischen Bereich nicht von allen Bildungsforschern und Sprachdidaktikern goutiert, wie bereits das obige Zitat von Skaar belegt. Der renommierte Erziehungswissenschaftlicher Gruschka glaubt etwa in der Schülerpräsentation Spuren ihrer Herkunft aus der auf reibungslose Informationsvermittlung ausgerichteten Unternehmenskommunikation wiedererkennen zu können, wozu eben auch der Hang zur Visualisierung gehört: „Präsentation ist immer graphische, bildliche, symbolische Darstellung von Bedeutung und Gelegenheit, eine persönliche Performance abzuliefern.“ (2008: 33) Durch den Einsatz solcher nichtsprachlichen visuellen Darstellungsformen werde jedoch die „Beziehung zur Sache [...] gebrochen, unterlaufen, umdirigiert“. Ist die klare Positionierung des Primardidaktikers Skaar für die Schrift als zentralen Lerngegenstand im muttersprachlichen Unterricht der Grundschule noch höchst plausibel, gründet sich die Abwehrreaktion des Erziehungswissenschaftlers Gruschka offenbar auf einer tiefsitzenden Skepsis des literalen Menschen gegenüber rasanten medientechnischen und medienkulturellen Entwicklungsprozessen und den damit einhergehenden veränderten Kommunikations-

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und Ausdrucksverhalten nicht nur von SchülerInnen. Dass Visualisierungen nicht per se als ästhetisches Oberflächenrauschen zu diskreditieren sind, die den darzustellenden Sachverhalt in den Hintergrund treten lassen, macht Bucher deutlich, wenn er, wiederum am Beispiel der Info-Graphik, auf den „kommunikativen Mehrwert des Visualisierens“ verweist: Informationsgrafiken erlauben eine flexiblere Sequenzierung der Nutzung, da sie im Gegensatz zu Texten nicht-linear sind, sie zeigen Relationen – räumliche, zeitliche, kausale – explizit, die in Textversionen nur implizit gegeben sind und somit vom Leser extrapoliert werden müssen, sie eröffnen Möglichkeiten zu Vergleichen, ohne dass diese vom Autor selbst gezogen werden, und sie haben ein höheres Motivationspotential als Texte. Zusammengefasst: Informationsgrafiken können das kommunikative Prinzip der Anschaulichkeit in bestimmten Fällen besser umsetzen als textliche Beschreibungen und Erklärungen. (2004: 31)

Der Einsatz von Visualisierungen ist also keineswegs als generell dysfunktional zu bewerten. Im Gegenteil kommen die den zweidimensionalen Textraum zu Darstellungszwecken nutzenden illustrativen Bilder der in der Phylogenese entstandenen kognitiven Disposition des Menschen entgegen, räumliche Konfigurationen besonders effizient verarbeiten zu können (vgl. Schnotz 1997: 91). Deshalb zeugt auch die differenzierte Verwendung bestimmter Visualisierungen in Texten bzw. Präsentationsvorträgen – und hier sind insbesondere die illustrativen Bilder zu erwähnen – von einer starken Orientierung des Textproduzenten an den Bedürfnissen der Adressaten des Textes bzw. des Präsentationsvortrags.

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Das illustrative Bild

Was ist ein illustratives Bilder? Ehlich hat 2005 den Terminus des illustrativen Bildes in den sprachwissenschaftlichen Diskurs eingeführt, um mit ihm Diagramme, Schaubilder, Info-Graphiken und Tabellendarstellungen, also diskontinuierliche Darstellungsformen zur Visualisierung komplexer Aussagen und zur Darstellung von Relationen zwischen Teilaussagen im zweidimensionalen, flächigen Textraum zu bezeichnen, die beispielsweise in den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz unter dem Label der nicht-linearen Texte verhandelt werden.7 In seiner 2013 erschienenen Monographie arbeitet Lischeid die semiotische Struktur solch diskontinuierlicher Darstellungsformen am Beispiel der Info-Graphik heraus und zeigt auf, dass Multikodalität zumindest für den Fall des Genres 7

Zur Kritik an dieser Begrifflichkeit siehe Gätje 2012.

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Info-Graphik konstitutiv ist, da die Info-Graphik im Normalfall aus Elementen dreier Symbolsysteme synthetisiert wird: -

Visualisierungen in Form von Bildern, Visualisierungen in Form von graphischen, diagrammatischen Elementen, Text bzw. Schrift in Form von Legenden, Beschriftungen oder Tabelleneinträgen ebenfalls prototypisch ist.8

In Ermangelung eines besseren Terminus spreche ich mit Ehlich von illustrativen Bildern, um solche komplexen semiotischen Phänomene wie Diagramme, Schaubilder und Tabellen zu beschreiben. Illustrative Bilder sind für die hier bearbeitete Fragestellung wiederum von Interesse, da sie in softwaregestützten Schülerpräsentationen hochfrequent sind. Dass illustrative Bilder typischerweise nicht nur in Schülerpräsentation auftauchen, sondern darüber hinaus auch in wissenschaftlichen Präsentationen, zeigen beispielhaft die Forschungsergebnisse von Lobin u.a. (s.o.). Als die Funktion illustrativer Bilder bestimmt Ehlich (2005) einerseits die Wiedergabe zwei- oder dreidimensionaler Gegenstände, andererseits dienen illustrative Bilder dazu, beim Rezipienten „bestimmte mentale Operationen“ zu evozieren, die aufgrund der graphischen Darstellung „leicht erzeugt“ werden können. Mit Bezug auf das Organonmodells Bühlers kann dem illustrativen Bild demnach eine Darstellungsfunktion sowie eine auf den Rezipienten bzw. dessen vereinfachte Informationsverarbeitung abzielende (Appell)Funktion zugeschrieben werden (vgl. Bühler 1999). Ein Problem dieser Funktionszuweisungen besteht allerdings darin, dass sie von den konkreten Verwendungsweisen illustrativer Bilder abstrahieren. Diese tauchen nämlich für gewöhnlich nicht isoliert auf, sondern sind Bedeutungskomponenten multimodaler Texte. Deshalb stellt sich die Frage, ob dem illustrativen Bild noch weitere Funktionspotentiale eignen, die erst unter Berücksichtigung der jeweiligen textuellen Einbettung des konkreten illustrativen Bildes beschreibbar werden.

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Das illustrative Bild im Präsentationsvortrag

Dadurch, dass illustrative Bilder komplexe Propositionen in einer graphischvisuellen Form kondensieren, erfordern sie „in der Beschreibung einen z.T. umfänglichen sprachlichen Aufwand“ (Ehlich 2005: 607). Was heißt das für die präsentierende Schülerin? Meine Hypothese lautet, dass die Integration illustra8

Vgl. beispielsweise Raibles Ausführungen zur sog. Bildschriftlichkeit 2012.

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tiver Bilder in softwaregestützte Schülerpräsentationen dazu dient, den gesprochenen Vortrag mit immer neuen Redeinhalten zu versorgen. Die in den illustrativen Bildern komprimierten komplexen Sachverhalte fungieren m.a.W. im thematischen Voranschreiten des Vortrags als eine Art Versorgungsstation mit wenigstens zum Teil vorformulierten Propositionen, wodurch sich der Memorierungsaufwand für die präsentierenden SchülerInnen reduziert. Stattdessen besteht die Herausforderung nun darin, die für den Argumentationszusammenhang relevante Aussage aus dem illustrativen Bild zu selegieren und sinnvoll in die Vertextung zu integrieren.9 Das in digitalen Präsentationen eingesetzte illustrative Bild kann demnach cum grano salis der Kategorie der von Berkemeier beschriebenen „formulierungsunterstützenden Visualisierungen“ (2006: 30) zugerechnet werden. Der hohen semantischen Dichte illustrativer Bilder und dem daraus resultierenden Verbalisierungspotential kommen im Kontext von Präsentationsleitungen also eine textstrukturierende und für den Redner handlungsentlastende Funktion zu. Wenn diese Hypothese zutrifft, dann gibt es eine Schnittstelle zwischen dem illustrativen Bild in der multimodalen Präsentation und dem gesprochenen Vortragstext, die genauerer Betrachtung bedarf. Einen Hinweis darauf, wie der gesprochene Vortrag auf das illustrative Bild zugreift und wie diese Bezugnahme auf die gesprochene Rede zurückwirkt, gibt Gruschka, der sich anhand einer empirischen Untersuchung von Schülerpräsentationen verblüfft zeigt, wie „frei viele Studierenden (Schüler) kommentierend sprechen können“ (2008: 14). Entscheidend an diesem Zitat ist der pejorative Verweis auf das kommentierende Sprechen, der offenbar aus der Annahme resultiert, dass der Tätigkeit des Kommentierens per se das schöpferische, kreative Moment fehlt (vgl. Raible 1995: 69 zu der Tradition dieser negativen Einschätzung des Kommentars). Im Vergleich beispielsweise zu der sog. Gymnasialrede, die bis ins 19. Jahrhundert hinein im gymnasialen Deutschunterricht praktiziert wurde und die ganz ohne mediale Zuhilfenahme, und sei es nur eines Redemanuskriptes, auskommen musste,10 steht der gesprochene Vortrag der multimodalen Schülerpräsentation unter anderen Vorzeichen. Tatsächlich ist der gesprochene Vortragstext in der multimodalen Präsentation in weiten Teilen kommentierend bzw. interpretierend, was damit zu erklären ist, dass illustrative Bilder in vielen Präsentationstexten hochfrequent sind.

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Diese Aufgabe fällt natürlich in die Planungsphase des Präsentationsvortrags. Der Schulmann und einflussreiche Deutschdidaktiker des 19. Jahrhunderts Ernst Laas bemerkt, dass die Gymnasiasten selbst der höchsten Jahrgangsstufen mit dem freien Vortrag maßlos überfordert waren (Laas 1877). 10

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Einige Angaben zum Analysekorpus

Zur Zeit wird für ein Forschungsprojekt zum softwaregestützten Präsentieren in der Sekundarstufe II ein Analysekorpus erstellt, dass aktuell drei Schülerpräsentationen umfasst, die im Rahmen des 2012 von der „Frankfurter Rundschau“ in Zusammenarbeit mit der „Vereinigung der Hessischen Unternehmerverbände“ zum 7. mal veranstalteten Oberstufen-Wettbewerbs Präsentieren – Gewinnen – Präsentieren ausgezeichnet wurden. Die drei Präsentationen liegen in videographierter Form vor und die Tonspur wurde mit dem Transkriptionssystem GAT II transkribiert. Der Wettbewerb richtet sich an SchülerInnen bzw. Schülergruppen des Faches „Politik und Wirtschaft“, wodurch das thematische Spektrum möglicher Wettbewerbsbeiträge von vornherein stark eingeschränkt ist. Durch diese Anbindung an das Unterrichtsfach „Politik und Wirtschaft“ kehrt die im schulischen Kontext fächerübergreifend verwendete Darstellungsform der Präsentation gewissermaßen an ihren Ursprung aus dem Wirtschaftsleben, präziser: aus der Unternehmenskommunikation, zurück. Die Auswahl der in diesem Wettbewerb ausgezeichneten Präsentationen erfolgt – und das ist bemerkenswert – einzig und allein auf Grundlage einer von den SchülerInnen eingereichten digitalen Datei mit dem Präsentationstext. Die Auswahl der Jury erfolgt m.a.W. auf Grundlage eines multimodalen Präsentationstextes unter völliger Absehung von der Frage, wie überzeugend, inhaltlich versiert oder argumentativ schlüssig die PreisträgerInnen ihren Text einem Publikum vortragen. Im Rahmen dieses Wettbewerbs erfolgt der Vortrag der drei ausgezeichneten Präsentationen durch die SchülerInnen erst- und letztmalig im Kontext von drei verschiedenen Preisvergabeveranstaltungen, was nicht ausschließt, dass die Präsentationen bereits im schulischen Fachunterricht als Leistungsnachweis oder zu Übungszwecken gehalten wurden. Die drei Preisvergaben fanden in einem feierlichen und offiziellen Rahmen statt: Die Preisträger wurden von einem Laudator in Anwesenheit von Pressvertretern geehrt, dazu hat der mitveranstaltende Unternehmerverband jeweils ein thematisch interessiertes und fachkundiges Publikum mit VertreterInnen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eingeladen, das mit den SchülerInnen im Anschluss an deren Präsentationsvortrag in eine moderierte Diskussion getreten ist. Für alle drei Präsentationen ist nicht nur zu anzumerken, dass diese mit digitalen Präsentationsprogrammen hergestellt wurden, sondern dass deren Entstehung mit dem Internet als Informationsressource auf das engste verbunden ist, was sich darin zeigt, dass die am Ende der Präsentation gezeigten Folien mit den Quellenangaben und Bildnachweisen fast vollständig aus Internetadressen be-

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stehen.11 In dem vorliegenden Artikel soll nur auf einen Teilaspekt dieses genuin vernetzten Textproduktionsprozesses eingegangen werden, nämlich auf den Einfluss der im Internet in großer Vielfalt und professionaler Qualität vorfindlichen illustrativen Bilder auf das Redesegment der multimodalen Schülerpräsentation. Die wesentlichen Informationen zu den im Rahmen des Wettbewerbs 2012 ausgezeichneten Präsentationen werden in Tabelle 1 im Überblick dargestellt:

Thema

Präsentierende SchülerInnen

Präsentation A Ist Hessen ein potenzieller Standort für Windkraft?

Drei Schüler aus der 10. Klasse (15 bis 16 Jahre) einer Gesamtschule12

Präsentation B Schuldenbremse und kommunaler Schutzschirm? – Wird Hessen ausgebremst oder abgeschirmt? Drei SchülerInnen (jeweils 18 Jahre) aus der 12. Klasse eines Beruflichen Gymnasiums

Präsentation C Flughafen KasselCalden – Chance oder Steuergrab?

Drei Schüler (jeweils 17 Jahre) aus der 11. Jahrgangsstufe eines Gymnasiums

Tab. 1: Übersicht Analysekorpus 5.2

Analyse eines Präsentationssegments

Die Verwendung illustrativer Bilder aus dem Internet in Schülerpräsentationen für das Unterrichtsfach „Politik und Wirtschaft“ ist hochfrequent. Der Grund für die Nutzungshäufigkeit ist neben den oben erwähnten medienkulturellen Bedingungen zusätzlich in den gewachsenen Fachkulturen und Forschungsparadigmen der jeweiligen Wissenschaftsdisziplinen zu suchen. So sind illustrative Bilder im oben definierten Sinne insbesondere in wirtschaftswissenschaftlicher Binnenkommunikation ein bevorzugtes Mittel zur Darstellung komplexer, in vielen Fällen mathematischer oder statistischer Sachverhalte. In der Konsequenz sind illustrative Bilder zu solchen Themen auch in großer Anzahl aus dem Internet ready-made mit der Befehlsfolge Copy-and-Paste für die Textproduktion von SchülerInnen nutzbar zu machen. Auch die von mir untersuchten Schülerpräsentationen bestehen zu einem großen Teil aus solchen illustrativen Bildern. 11

Wobei die Folien mit den Quellenangaben jeweils nur für wenige Sekunden gezeigt wurden. 12 Obwohl noch nicht in der Oberstufe, durften diese drei Schüler an dem Wettbewerb teilnehmen.

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Welche Auswirkungen die in den Präsentationstext eingebauten illustrativen Bilder für die Gestaltung des gesprochenen Vortragstextes haben, soll anhand des Mitschnitts der Schülerpräsentation C mit der Titel: „Flughafen KasselCalden – Chance oder Steuergrab?“ demonstriert werden. Diese Themenstellung entspricht strukturell dem Aufgabenformat für dialektische Argumentationen im Deutschunterricht, in denen die Pro- und Kontraargumente zu einer Quaestio – und der Bau des Regionalflughafens Kassel-Calden ist nicht nur in Nordhessen seit Jahren ein kontrovers diskutiertes Thema – gegeneinander abzuwiegen und im Anschluss daran eine Conclusio zu formulieren ist. Allein die Komplexität und fachliche Spezifität des Themas lässt diese Aufgabenstellung als Aufsatzthema im Deutschunterricht nicht in Frage kommen. Für eine schulische Präsentationsleistung beispielsweise im sozialkundlichen Fachunterricht ist das Thema jedoch wie geschaffen, da in diesem Leistungsformat die geleistete Recherchearbeit sowie die Qualität der Wissensaufbereitung in die Benotung miteingehen. Allgemein fällt an dieser Präsentation zunächst auf, dass fast jede im Voranschreiten des Vortrags aufgerufene Folie ein illustratives Bild beinhaltet. Nach Erscheinen der einzelnen Folien auf der Projektionsfläche bzw. nach dem Erscheinen der darauf enthaltenen illustrativen Bilder wird mit verhältnismäßig ähnlichen Formulierungen auf den visuellen Zeichenkomplex referiert: • • • • • •

„wie hier zu sehen ist ...“ „ja hier sehen sie ...“ „ja hier sehen sie jetz ...“ „und hier sehen wir eben ...“ „so jetz ham wir hier noch ...“ „noch mal eine GRAfik ...“

Mit diesen metadiskursiven Formulierungen13 wird nicht einfach intermediale und (intra)textuelle Kohärenz hergestellt, sondern zugleich wird damit die Aufmerksamkeit der Adressaten auf die neu auf der Projektionsfläche erschienene Visualisierung orientiert. Dabei fällt auf, dass sich die metadiskursive Formulierung in ihrer Proposition rein auf die Visualität des Präsentationssegments bezieht – es wird explizit an den Gesichtssinn appelliert („sie sehen“). Der gedankliche Fortgang des Vortrags erfolgt erst im Anschluss an diese Lenkung der Rezipientenaufmerksamkeit, wie anhand von Abbildung 1 gezeigt werden soll. 13

Der Begriff des Metadiskurses wird hier i.S.v. Hyland und Tse 2004 gebraucht, die ihn für die Analyse wissenschaftlichen Schreibens wie folgt bestimmt haben: „Metadiscourse is an important means of facilitating communication, supporting a writer’s position and building a relationship with an audience.“ (159).

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Abb. 1: Präsentationsfolie mit diagrammatischer Darstellung der Korrelation zwischen Entwicklung von Fluggastzahlen und ökonomischer Entwicklung Die Abbildung zeigt ein Still aus dem Videomitschnitt. Auf der linken Seite des Stills ist die Projektion einer Präsentationsfolie zu erkennen, auf der sich ein illustratives Bild im hier definierten Sinne befindet, auf der rechten Seite des Stills befindet sich der präsentierende Schüler, dem projizierten Bild mit Gesicht und Oberkörper leicht zugewandt, seine mündlichen Ausführungen zu dem illustrativen Bild mit Bewegungen der Laserpunktes auf dem Bild begleitend. Die Folie zeigt eine Info-Graphik mit einer rechts davon befindlichen Legende. Die professionell anmutende Ästhetik der Graphik sowie die Komplexität der in ihr repräsentierten Relationen und Sachverhalte legt bereits die Vermutung nahe, dass die Graphik keine Eigenproduktion der präsentierenden Schülergruppe ist, was diese auf Nachfrage denn auch bestätigte. Die Quellenangabe zur Graphik fehlt jedoch. Die Graphik visualisiert in Form eines Koordinatenkreuzes die empirisch ermittelte Korrelation zwischen zeitlichem Verlauf in Jahren (beginnend mit 1995 auf der x-Achse) und ökonomischem Erfolg bzw. Misserfolg (y-Achse) für die Variablen verfügbares Einkommen je Einwohner, Gästeübernachtungen, Fluggastzahlen u. a. Wie der entsprechende Ausschnitt aus der Transkription zeigt, wird in dem gesamten Redesegment dieses Präsentationssegments die Info-Graphik kommentiert und interpretiert:

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{01:12:22} noch mal eine GRAfik zur empirischen überprüfung ob es jetz (.) eine korrelation gibt zwischen den flugästen in einer REgion und der ökonoMIE {01:12:29} (1.49) {01:12:31} da sehen wir HIER, {01:12:32} (0.39) {01:12:32} dass die (.) verfügbaren EINkommen, {01:12:34} (0.31) {01:12:35} je einwohner in EUro, {01:12:36} die erWERBStätigenzahl in gelb, {01:12:38} (1.05) {01:12:39} öhm (.) leicht STEIgend sind, {01:12:41} (0.23) {01:12:41} zusammen mit dem tourismus ((unverständlich: Gästeunterkunftentwicklung)), {01:12:44} (0.25) {01:12:44} und das is eben auch eine gute wirtschaftliche entWICKlung,= {01:12:47} =((unverständlich: hierdurch)) wenn man das jahr neunzehnhundertfünfundneunzig als EINS als hundertprozent ma annimmt, {01:12:52} (1.0) {01:12:53} öhm die (0.23) grafik der FLUGgästeanzahl insgesamt weicht aber völlig von dem verlauf eben ab, {01:12:58} und damit lässt sich eben (.) HIERan keine korrelation feststellen; {01:13:02} die andeutet dass es wirtschaft (.) dass es zusammenhänge gibt zwischen der WIRTschaftlichkeit einer region und den FLUGgästen.

Der Schüler vollzieht und koordiniert im Rede- und Performanzsegment eine Reihe anspruchsvoller symbolischer Handlungen: Das Segment einleitend fasst er die Globalfunktion der Info-Graphik in wenigen Worten zusammen, im Fortgang erklärt er mit deiktischen und anderen sprachlichen Mitteln sowie mit Unterstützung des Pointers die Strukturelemente der Graphik (insbes. die farbig unterschiedenen Kurven). In dem gesamten Präsentationssegment wird zudem ein Argument für den Bau des Regionalflughafens insinuiert, nur um es im gleichen Moment zu widerlegen. Die Struktur des in Form eines modus ponendo ponens konstruierten Arguments für den Bau des Regionalflughafens hat folgende Form: Aussage I:

Wenn eine Region wirtschaftlich prosperiert, dann hat ein Flughafen in dieser Region gute Erfolgsaussichten Aussage II: Die Region Kassel-Calden prosperiert Aussage III: Der Flughafen Kassel-Kalden hat wirtschaftlich gute Erfolgsaussichten

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Der dargestellte Syllogismus beinhaltet freilich noch andere, bereits im Argumentationsgang zuvor formulierte Propositionen, in denen Kassel und die Region Nordhessen auf Grundlage entsprechender Daten als wirtschaftlich im Aufschwung befindlich dargestellt werden. Dieser wirtschaftliche Aufschwung dürfe jedoch nicht zu der Schussfolgerung führen, dass der geplante Regionalflughafen ein Erfolg sein wird. Denn die Graphik zeige eben, dass es keinen Bedingungszusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Prosperität einer Region und der Höhe der Fluggastzahlen bzw. den damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Erfolg eines Regionalflughafens gibt. Bereits diese kurze Analyse sollte deutlich gemacht haben, dass sich der gesprochene Präsentationsvortrag in vielen Fällen nur im Zusammenhang mit dem Verbalisierungspotential illustrativer Bilder angemessen verstehen lässt. Der gesprochene Vortrag der multimodalen Präsentation ist also tatsächlich, wie Gruschka kritisiert, kommentierend. Dass die Tätigkeit des Kommentierens sich aber nicht notwendig in der Reproduktion von bereits Gesagtem oder graphisch Symbolisiertem ergehen muss, sondern auch kreative und sinnerzeugende Aspekte umfassen kann, darauf macht Raible (1995: 68) aufmerksam. Kommentieren liege „jeglichem Verstehen und jeglicher Sinngebung zugrunde“ (ebd., S. 65). Anhand der Kurzanalyse kann m.E. sehr gut nachvollzogen werden, was mit diesem weiten Verständnis von Kommentieren gemeint ist. Denn die Einbettung der Interpretation des illustrativen Bildes in den argumentativ verfahrenden Text als ein Argument gegen den Bau des Regionalflughafens, kann mit gutem Grund als eine kreative und sinnbildende Tätigkeit seitens des Schülers aufgefasst werden. Der Schüler verdoppelt das illustrative Bild nicht einfach im sprachlichen Medium, sondern er selegiert eine bestimmte Information aus ihm und macht diese für die eigene Argumentation wirksam – das argumentative Ziel der präsentierenden Schülergruppe besteht nämlich darin, Kassel-Calden als Steuergrab und nicht als Chance zu konzeptualisieren.

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Einige Schlussbemerkungen

In dem vorliegenden Artikel sollte gezeigt werden, dass die aufgrund medientechnischer und medienkultureller Veränderungen feststellbaren Visualisierungstendenzen14 im Internet nicht nur die Wahrnehmungsmuster von Usern verändern, sondern dass diese „Bilderflut“ im Netz auch Auswirkungen auf die Textproduktion von SchülerInnen am vernetzten Computer hat, die deshalb eben eine multi14

Folgt man dem Medienphilosophen Vilem Flusser, so ist diese Visualisierungstendenz sogar als Kulturrevolution (1997: 83f.) zu begreifen.

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modale Textproduktion ist bzw. wird. Das digitale Textproduktionswerkzeug Copy-and-Paste macht eben nicht nur Schrift, sondern auch und gerade die im Netz verbreiteten visuellen Darstellungen für die textuelle Weiterverwendung durch die User verfügbar. Dieser Befund ist natürlich noch zu spezifizieren, da die medientechnischen und -kulturellen Voraussetzungen zwar die Möglichkeitshorizonte der Textproduktion verschieben, aber deshalb keineswegs in jeder softwaregestützten Textproduktion ihren Niederschlag finden müssen. Ob die Option der multimodalen Textproduktion genutzt wird, darüber entscheidet der kompetente Textproduzent in Abhängigkeit von Faktoren wie der Flexibilität der Musterhaftigkeit von Textsorten, den Konventionen innerhalb bestimmter Kommunikationsbereichen (w.z.B Wissenschaft, Alltag, Wirtschaft usw.) und anderen pragmatischen Aspekten. Bezogen auf einen kompetenzorientierten Deutschunterricht, heißt das, dass Multimodalität nicht nur im Kompetenzbereich „Lesen – mit Texten und Medien umgehen“ sondern auch im produktiven Kompetenzbereich „Schreiben“ Berücksichtigung finden muss, da multimodale Kompetenzen „sowohl eine rezeptive wie eine produktive Komponente voraussetzen“ (Müller 2012: 30). Diese richtige Feststellung wäre dahingehend zu präzisieren, dass insbesondere softwaregestützte und internetbasierte Textproduktionsprozesse in vielen Fällen untrennbar mit Rezeptionsprozessen – also mit der Lektüre von Schrifttexten und Visualisierungen jeglicher Art – verbunden sind. Für die Sprachdidaktik stellt sich darüber hinaus auf einer grundsätzlicheren Ebene die Frage, inwieweit sich das Grundverständnis von Schriftsprache auf der einen Seite und visuellen Darstellungsformen auf der anderen Seite sowie deren Verhältnis zueinander in der textuellen Konstruktion kommunikativen Sinns neu ausbildet. Für die Bearbeitung dieser Frage wäre es notwendig, die übliche Rede von Text-Bild-Zusammenhängen zu präzisieren, da – wie in dem vorliegenden Artikel in Ansätzen aufgezeigt – die Art der visuellen Darstellung mit darüber entscheidet, wie sich das Verhältnis von Sprache und visueller Information ausformt.

7

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Zsuzsanna Iványi Debrecen

Der gesprochene Text. Das öffentliche Rundfunkgespräch als interaktive Konstitution der Wirklichkeit1

Abstract Es wird dem Problem nachgegangen, mit welchen Verfahren und Methoden die interaktive Konstitution der Wirklichkeit verläuft. Dabei wird auch versucht, eine Antwort auf die Fragen zu liefern, ob gesprochener Text zum Untersuchungsgebiet der Textlinguistik gehört, ob das Gespräch auch als gesprochener Text aufzufassen ist und in welchem Verhältnis (schriftlicher/monologischer/statischer) Text und (mündliche/dialogische/dynamische) Rede aus textlinguistischer Perspektive zueinander stehen. Indem ein mitgeschnittenes Rundfunkgespräch analysiert wird, wird darauf fokussiert, wie der formale, sequentielle sowie thematische Aufbau des Gesprächs organisiert wird, d.h. mit welchen Aktivitäten die Interaktanten ihre Beiträge koordinieren, um die aktuelle soziale Wirklichkeit zustande zu bringen, und mit welchen formalen, konversationellen Strategien sie dabei die textuelle Struktur des gesprochenen Textes aufbauen.

1

Einleitung, Textdefinitionen

Wenn man den Fragen nachgeht, ob gesprochener Text auch zum Untersuchungsgebiet der Textlinguistik gehört, ob das Gespräch auch als gesprochener Text aufzufassen ist, in was für einem Verhältnis überhaupt (schriftlicher/monologischer/statischer) Text und (mündliche/dialogische/dynamische) Rede aus textlinguistischer Perspektive zueinander stehen, dann findet man eine Reihe einander widersprechender Ansichten und Behauptungen und somit ein äußerst komplexes Problemfeld. 1

Der Beitrag wurde durch das Projekt TÁMOP 4.2.2/B-10/1-2010-0024. unterstützt. Dieses Projekt wurde durch die Europäische Union und teilweise durch den Europäischen Sozialfonds (ESF) finanziert. Der vorliegende Text ist eine überbearbeitete Version des Beitrags Iványi 2011.

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Zsuzsanna Iványi

Während im Brockhaus-Lexikon (1986ff.) die Bedeutung „schriftlicher Text“ im Vordergrund steht („Die Schriftlichkeit ist kein notwendiger Bestandteil des Begriffes, jedoch stehen die meisten mit ihm verbundenen Eigenschaften in engem Zusammenhang mit Methoden der schriftl. Fixierung und Speicherung“) und im Weiteren über Beurteilungskriterien für die Einstufung einer Schrift als TEXT gesprochen wird, behauptet Hartmann (1968: 212) Folgendes: „Es wird, wenn überhaupt gesprochen wird, nur in Texten gesprochen“ – was darauf hinweist, dass der Text an sich etwas Gesprochenes ist. Die spätere Formulierung „Sprache kommt nur als Text vor“ (Hartmann 1971: 10), präzisiert und erweitert die Textbedeutung auch auf das Geschriebene. Schon die Behauptung von Meier „Der Text (textus) ist die Rede“ (Meier 1757/1965) – erlaubt die Lesart, dass der Text eigentlich und ursprünglich etwas Verbales, aber zugleich auch Monologisches ist. Nur eine nähere Definition der Rede von Brinkmann (1971: 23) erhellt, dass das nicht der Fall ist („,Rede‘ nennen wir sprachliche Einheiten mündlicher oder schriftlicher Art, die nicht mehr Bestandteil höherer sprachlicher Einheiten sind“). Genau das wird auch von Schmidt (1977: 155) bestätigt: „Ein Text ist ein Stück mündlicher und schriftlicher Rede“. Für eine ähnliche Textinterpretation spricht sich auch Harris aus (1978: 28), indem er behauptet: „Sprache kommt […] vor […] im zusammenhängenden Text – von einer Einwortäußerung bis zu einem zehnbändigen Werk, von einem Monolog bis zu einem Union-Square-Disput“, was dafür spricht, dass der Text sowohl Schriftliches als auch Mündliches in sich einschließt. Vertreter der Diskursanalyse argumentieren jedoch – mit Recht – dafür, dass der Diskurs2 nicht identisch mit dem Text sei (Diskurs ≠ Text). Die wesentlichen Unterschiede sehen sie darin, dass Texte „ohne Hörer-Präsenz hergestellt“ werden, d.h. in einer „dissoziierten Sprechsituation“, „in zeitlich differenten Konstellationen“, während die Interaktanten eines Diskurses „in einer Sprechsituation kopräsent sind“, dass die Äußerungen in Texten – den Diskursen gegenüber – Satzform haben, bzw. dass „Diskurse in nonverbal-korporelle Kommunikation eingebettet, […] Texte hingegen auf mediale Repräsentationen angewiesen“ sind (Rehbein 2001: 928f.). Ohne Kommunikation definieren zu wollen, soll hier hervorgehoben werden, dass in denjenigen Definitionen, die die kommunikative Funktion von Text her2

Unter Diskurs wird im alltäglichen Sinne nicht nur alltägliches Gespräch, sondern auch öffentliche Diskussion verstanden. In den verschiedenen linguistischen sowie philosophischen Theorien erhält der Begriff jedoch unterschiedliche Bedeutungen. Gansel / Jürgens (2009: 17) unterscheiden z.B. Diskurs und Gespräch „durch das Merkmal der wechselseitigen Beeinflussung“.

Der gesprochene Text

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vorheben, unter Text auch mündliche Äußerungen zu verstehen sind. So ist z.B. die Behauptung von Große (1976: 13) („Unter einem Text verstehen wir nur den sprachlich manifesten Teil der Äußerung in einem Kommunikationsakt“)3 so zu verstehen, dass Nonverbales zwar nicht, aber alles Verbale im Kommunikationsakt – also das Gesprochene – als Text zu verstehen sei. Dasselbe wird auch von den folgenden Definitionen vertreten: Textextern gesehen wäre ein Text […] gleichbedeutend mit ‚Kommunikationsakt‘ (Gülich / Raible 1977: 47). [Texte] können […] definiert werden als nach Regeln geordnete Teilmengen (Reihen sprachlicher Zeichen) […], die zu kommunikativen Zwecken verwendet werden (Breuer 1974: 25). Text ist die Gesamtmenge der in einer kommunikativen Interaktion auftretenden Signale (Kallmeyer et al. 1974: 45). Der Text muß immer als eine kommunikative Einheit […] betrachtet werden“ (Rosengren 1980: 276). Der Terminus ‚Text‘ bezeichnet eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die […] als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert (Brinker 1997: 17). Ein Text ist eine […] Einheit, mit der ein Sprecher eine sprachliche Handlung mit erkennbarem kommunikativem Sinn vollzieht (Linke et al. 1991: 245). [Text ist] die sprachliche Form einer kommunikativen Handlung (Bußmann 1990: 776).

Holly (1992: 20) setzt sogar ein Gleichheitszeichen zwischen Text und Diskurs, indem er folgenderweise formuliert: „Texte/Diskurse werden verstanden als komplexe kommunikative Handlungen, die nach sozialen Regeln vollzogen werden“. Die Deutung des Textbegriffes als alles Geschriebene bzw. Gesprochene wird aber von Glinz (1970: 122) eingeengt, indem er unter Text nur ein „dauerhaft intendiertes sprachliches Gebilde“ versteht, worunter vor allem schriftliche Gebilde vorzustellen sind, da die verbalen, mündlichen Gebilde im Allgemeinen flüchtig und nicht fixiert sind. Wenn man also akzeptiert, dass Texte auch als verbal geäußerte Diskurse aufzufassen sind, dann muss man auch in Betracht ziehen, dass das Gespräch nach Deppermann (1999: 8) durch zentrale Merkmale wie Konstitutivität, Prozessualität, Interaktivität, Methodizität und Pragmatizität gekennzeichnet ist, aus denen nun die Prozessualität und die Interaktivität hervorzuheben sind. Diese Merkmale unterscheiden das dynamische, interaktive (verbale) Gespräch vom statischen, monoaktiven (schriftlichen) Text. 3

Alle Hervorhebungen in den Zitaten stammen von mir, Zs.I.

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Zsuzsanna Iványi

Einige Definitionen tragen auch diesen Eigenschaften des Gesprächs (des dynamischen, interaktiven, verbalen Textes) Rechnung: Unter Text (im weiteren Sinne) wird nicht nur die statische Textgestalt […] verstanden, sondern darüber hinaus der gesamte Prozeß der Textkonstitution und -rezeption. […] In dieser Hinsicht ist […] der Text aufzufassen […] als Vollzug gesellschaftlicher Kommunikation […] (Schmidt 1970: 99). Texte sind […] soziokommunikativ funktionierende, geäußerte Sprachzeichenmengen, also Texte-in-Funktionen im Einbettungsrahmen kommunikativer Handlungsspiele […] (Schmidt 1973: 145). Text ist ein Phänomen im sozialen Zwischenbereich zwischen den Menschen und deshalb eine intersubjektive, überindividuelle Größe […] “ (Busse 1992: 182). Unter Texten werden Ergebnisse sprachlicher Tätigkeiten […] verstanden […] Der dynamischen Textauffassung folgend, wird davon ausgegangen, daß Texte keine Bedeutung, keine Funktion an sich haben, sondern immer nur relativ zu Interaktionskontexten sowie zu den Handlungsbeteiligten, die Texte produzieren und rezipieren (Heinemann / Viehweger 1991: 126).

Die verbal-kommunikative, interpersonelle Seite des Textes im Allgemeinen betonen unter anderem auch Diskussionsbeiträge auf der Internetseite „Text-Diskurs-Kommunikation“ der Universität Rzeszow (vgl. BILUT-HOMPLEWICZ et al. 2013): Text ist eine grundlegende Einheit der interpersonalen Kommunikation, d.h. Text dient zur Kommunikation zwischen Personen (Zdzisław Wawrzyniak ebd.). Texte können […] bestimmt werden als die (relativ abgeschlossenen) Grundeinheiten der interpersonellen Kommunikation, mit deren Hilfe die in Interaktionsprozessen miteinander Kommunizierenden bemüht sind, pragmatische und kommunikative Ziele zu realisieren (Wolfgang Heinemann ebd.). Früher wurde der Text als Produkt einer kommunikativen Handlung verstanden, und damit erschien er als eine sprachliche Struktur. […] Eine von einer Person an eine andere Person gerichtete Aussage […] (Teresa Dobrzyńska ebd.).

Im Metzler-Lexikon Sprache wird schließlich darauf hingewiesen, dass der Text ein komplexes Phänomen darstelle, wobei die Akzentuierung kommunikativer Aspekte „als Produkt sprachlichen Handelns mit einer erkennbaren kommunikativen Funktion angesehen wird“. (Glück 2000: 728)

Der gesprochene Text 2

177

Textbeschreibung, Methode

Der gesprochene Text, das Gespräch bedarf also teilweise auch anderer, spezifischer Methoden zu seiner Beschreibung, wobei auch seine Dynamik (die Interaktivität und Prozessualität) in Betracht gezogen werden muss. Die Gesprächsanalyse (mit all ihren Hauptrichtungen, vgl. Hausendorf 2001: 970ff.) wird heute mit Recht immer mehr als ein Gegenstück zur Textanalyse betrachtet, indem sie mündliche Äußerungen, d.h. gesprochene Texte untersucht (vgl. Brinker / Sager 1989: 7). Davon zeugen unter anderem auch die beiden HSK-Bände Text- und Gesprächslinguistik. Ingo H. Warnke apostrophiert z.B. die Richtung Diskurslinguistik als „sprachwissenschaftliche Teildisziplin der transtextuellen Strukturen“, „eine Linguistik der Aussagen jenseits von Satz- und Textgrenzen“, die „das analytische Interesse aszendent von der Ebene des Texts auf die Ebene textübergreifender Aussagenzusammenhänge erweitert“ (vgl. Tekst Dyskurs Kommunikacija.). In dem Gesprächslinguistik-Glossar von Eva Schoenke (2012) im Internet wird Diskurs aus textlinguistischer Perspektive als Gespräch bzw. als dialogischer mündlicher Text definiert und synonym zum Begriff Text verwendet, Gesprächslinguistik hingegen als Disziplin erklärt, deren Untersuchungsobjekte Texte der mündlichen Kommunikation seien, an deren sprachlicher Realisierung mehrere Personen direkt beteiligt sind. Im Gegensatz zu textlinguistischen Untersuchungen wird bei der Analyse des mündlichen Textes4 nicht auf das Endprodukt fokussiert, sondern vielmehr auf den Prozess der Konstituierung (vgl. Brinker / Sager 1989: 7). Zudem werden neben thematischen Zusammenhängen und den Grundeinheiten des Gesprächs, wie Gesprächsschritt, Gesprächssequenz und Gesprächsphase (spezifische Abfolgen bzw. Kombinationen von Gesprächsschritten) Phänomenen wie Einleitungs- und Beendigungssignale, zeitlich unmittelbarer Kontakt zwischen den Kommunikationspartnern, Sequenzmuster (Frage-Antwort, Vorwurf-Rechtfertigung, usw.) Aufmerksamkeit geschenkt. Bei deren Beschreibung und Untersuchung ist es das Ziel gesprächsanalytischer Untersuchungen, die handlungs-relevanten Verfahren, Methoden und Regeln zu rekonstruieren, die von den Interaktionsteilnehmern – ohne dass diese sich unbedingt an sie halten – benutzt und berücksichtigt werden, um Handlungsziele zu erreichen und „soziale Ordnung“ zu produzieren (vgl. Bergmann 2004:

4

Unter gesprochenem Text wird häufig vorgelesener Text verstanden (vgl. Lehmann 2013) und unter mündlichem Text ein mündlich überlieferter Text (Weinrich 2006: 7)

Zsuzsanna Iványi

178

528) oder einen „sozial-interaktiven Sinn“5 herzustellen (Brinker / Sager 1989: 135). In dem von mir als Beispiel analysierten Material ist das Handlungsziel der Interaktionsteilnehmer die öffentliche Meinungsäußerung in einem aktuellen Gespräch. Ich werde dementsprechend mit den Methoden der Konversationsanalyse zeigen, welche Merkmale eine in öffentlichen Medien gesendete Kommunikation6 hat, mit welchen Verfahren und Methoden die interaktive Konstitution der Wirklichkeit verläuft um soziale Ordnung in einem gesprochenen Text herzustellen. Das untersuchte Material stammt aus einem Mitschnitt der Rundfunksendung „Hörertelefon“ von Radio Wien“7 – ein altes, schon oft und unter verschiedenen Gesichtspunkten analysiertes Material. In dieser Sendung hatten die Hörer die Möglichkeit, im Studio anzurufen und mit dem Moderator über das Thema „Welches Bild haben wir vom Nachbarn Deutschland?“ zu diskutieren. In dem hier analysierten Telefongespräch spricht eine Hörerin (Frau Karin) auf Grund eigener Erfahrungen über das Verhältnis zwischen Deutschen und Österreichern.

3

Transkription8

Radio Wien: FREI HERAUS. DAS HÖRERTELEFON Thema: Welches Bild haben wir vom Nachbarn Deutschland? Transkription: Zsuzsanna Iványi Transkriptionszeichen: schneller: lauter:

5

In diesem Zusammenhang sind unter Sinn „konversationell konstitutierte Sinnstrukturen“ zu verstehen, die „prozessual auf der zeitlichen Progression der Interaktion“ basieren „und der sich dabei prozedural ausbildenden sequentiellen Relevanz von Handlungen.“ (Müller 2001: 1205). 6 Dabei handelt es sich um einen spezifischen Typ des Gesprächs, um ein Telefongespräch, das teilweise von anderen Gesprächstypen abweichende Charakteristika aufweist Außerdem ist es auch ein Mediengespräch mit ebenfalls spezifischen Kennzeichen . All diese Charakteristika zu beschreiben würde die Grenzen des Beitrags sprengen, deshalb wird darauf verzichtet. 7 Ö 2 „Wir für Sie“, am 17.10.1994 gesendet. 8 Zu den Transkriptionskonventionen vgl. Selting / Auer et al. (2009).

Der gesprochene Text langsamer: leiser:

GesprächsteilnehmerInnen: M: Moderator K: Frau Karin 01M: = ich begrüß=als=erste:(-) 03 die FRAU KArin. (--) [( ) ] grüß gott. (-) 04K: [Hallo? grüß gott.] äh: (-) 05 ich wollte sagn ich GLAUbe:? (-) das gesamte Ö:Sterreich=äh 06 hat so ein gespA:ltenes verHÄLTnis zum [(-)] DEUtschen an 07M: [Hm] 08K:sich,(--)• hh (--) (-) • hh • h u:nd (--) äh: (--) zumindest wenn=s 12 in öSterreich auf urlaub SI:nd? (---) • hh sogt (--) der 13 großteil der öSterreicher =es gibt dort an SURbratn und äh: SCHWEINhaaxn 15 und so weiter? [(--)]• hh (--) (-) [UMgekehrt.] RICHtig (.) 19M: [was auch schon] VORgekommen is nicht?(-) 20M: [ja] 21K: [RICH]tig. • hh und das das i’ das is dann des (wo er 22 sogt) na=s guat die DEUtschen brauch=ma NET=die wolln=ma 23 NET? und so weiter.(--) • hh äh: (--) (--) • hhh sie 26 ham(.)perSÖNliche bekAnntschaftn=das ist mein(--)• hhh 28 a:h(-)+ ich kann gut mit dem UMGEHN.(-)• hh also das ist so so 29 a zwiespalt (-) wü=I=N wü=I=N net. (--) 30M: mhm(-)(-)• hh wenn man in DEUtschland 35K: [ja (-) ja] 36M: ist so=hat=man=das gefühl=das sin beSONders freundliche 37 leu[te,=und wenn=s do in öSterreich sind,] (.) • hh ä= 38K: [ja ( ).] 39M: erlebt man manchmal sei[ne] blauen wund[er]=die=dem wider40K: [ja] [ja] 41M: SPREchen.[(-)]aber es KÖNNte doch DA:ran liegn dass wir(-)die 42K: [ja] 43M: leute donn hier in der rolle des tourI:stn kennenlernen= 44 der LOSgeLöST ist vom [olltag]=(-)[ is (.) ne?] [(ebn)] [mhm] 51K: [grod sogn(.)in der] MA:sse auftre[ten]=als tou[RIStn](.)is 52 ega:l(.)wen sie nehmen= 53 (.) ÖSterreicher in der MA:sse=als touRIStn=sind=sie 54 alle meistens zum SCHMEIßn. (--) • h nur (.) als Österreicher 55 komischerweise is=ma besonders auf die(-) DEUtschn touRIStn 56 (.) sehr (-) feinfühlig= Inländerfeindlichkeit. Eine aggressive Verstärkung der Vorwürfe bewirkt außerdem die Art ihrer direkten Adressierung: „Ihre moralische Verkommenheit, Politik gegen die Interessen der eigenen Wähler zu betreiben, ist vielen Menschen noch nicht bewusst.“ [50] „Es wird ein Schwerpunkt der politischen Arbeit meiner Partei, der NPD, sein, [...] diesen krassen Widerspruch weiter ins öffentliche Bewusstsein zu tragen und Ihnen von den hier versammelten Linksparteien die hässliche Maske von Ausländertümelei und Inländerfeindlichkeit vom Gesicht zu reißen.“ [52] [Hervorhebungen H.H.L.]

In symptomatischer Weise kommt hier eine polarisierende Perspektive mit starren Freund-Feind-Konstellationen, wie sie viele Redetexte der NPD auszeichnen, zum Ausdruck (vgl. am Beispiel der Ausländer- und Asylproblematik Abb. 5). 13

Zu den Schlagwörtern in der Asyldebatte immer noch aktuell und lesenswert: Meyer 1997, Wengeler 1995: 733ff. 14 Zur Propagierung von Gegenschlagwörtern vgl. auch bereits Pörksen 2000: 140ff.

Persuasion und politische Kommunikation

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Zum Objekt der Kritik werden neben den politischen Parteien und den Medien ebenso die zuständigen Behörden: „Einwanderungslobbyisten“ und „Asylantenversteher“ sieht man allenthalben. Ihre Aktivitäten stehen, da sie sich nicht gegen die angeblich drohenden Gefahren wenden, im Gegensatz zu den Sorgen und Protesten des „deutschen Volks“. Und als dessen Sachwalter versteht sich allein die NPD. In sehr zugespitzter Form (und darin sogar die Polemik von Holger Apfel übertreffend) formuliert dies der Abgeordnete Andreas Storr in einem Redebeitrag, aus dem bereits in (3a) zitiert wurde: Die Aufzählung diverser krimineller Delikte dient als faktische Rechtfertigung für die dringende Forderung, die Zuwanderung nach Deutschland zu stoppen („es ist fast schon fünf nach zwölf“), als allgemeine argumentative Stützung wird der Gemeinplatz Wer nicht will deichen, der muß weichen bemüht: (3b)

[...] denn wer nicht will deichen, der muss weichen. Diese Weisheit gilt nicht nur für den Hochwasser- und Küstenschutz, sondern auch für die Bevölkerungspolitik. Angesichts einer Verdoppelung der Asylbewerberzahlen seit dem Jahr 2008 und der aktuellen Prognose des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge von rund 46000 Neuantragstellern für 2012, davon 2400, die auf den Freistaat Sachsen entfallen, eine notwendige Erkenntnis, für die es nicht nur höchste Zeit, sondern fast schon fünf nach zwölf ist. (S. 6105)

Abb. 5: Freund-Feind-Konstellation

334

Heinz-Helmut Lüger

Der konfrontative Stil kommt in sehr vielen Parlamentsdebatten zur Geltung, oft wird er zusätzlich angeheizt durch provozierende, persönlich verletzende Zwischenrufe: (4)

Heinz Müller, SPD: [...] Mir wäre sehr viel wohler, wenn wir eine solche Diskussion unter Demokraten führen würden. (Stefan Köster, NPD: Dann müssten Sie ja rausgehen, Herr Müller. Lesen Sie mal von Arnim! Sie sind mit Sicherheit kein Demokrat, sondern absolut ein Kasper.) (Landtag Mecklenburg-Vorpommern 6/7, 16.12.2011, S. 43)

(5)

Thomas Kind, Linksfraktion: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, auf einige Redebeiträge einzugehen ist wichtig, denn in diesen Beiträgen wurde das Thema aufgegriffen. Das ist auch gut so. Aber ich denke auch, dass es sich erübrigt, über den letzten Redebeitrag [der NPD, H.H.L.] ein Wort zu verlieren. (Andreas Storr, NPD: Weil Sie keine Argumente haben!) – Die kommen schon, du Depp! – Ich denke, wir sprechen hier vor dem Hintergrund, dass [...] (Sächsischer Landtag 5/11, 30.3.2010, S. 850)

Zwischenrufe gehören zum parlamentarischen Alltag. Außergewöhnlich ist in diesem Fall allerdings die unversöhnlich wirkende Feindseligkeit, mit der die Kontrahenten einander attackieren. Die Frage bleibt, welcher Seite diese Art des Schlagabtausches mehr schadet: den Abgeordneten der NPD, die ohnehin von jeglicher Zusammenarbeit ausgeschlossen sind und die auf diese Weise ihre Strategie des maßvollen, juristisch untermauerten Vorgehens konterkarieren, oder den übrigen Parteien, die sich möglicherweise dem Vorwurf ausgesetzt sehen, ihnen fehle es an der nötigen Souveränität, sie würden nur bestimmten ProblemDiskussionen ausweichen wollen – und dabei noch die oft reklamierte OpferRolle der Gegenseite bestärken. 4

Heterogenes Erscheinungsbild

Die bisher herangezogenen Redetexte ergeben kein einheitliches Bild. Als eine gewisse Konstante kann man allenfalls, trotz der sehr unterschiedlichen Realisierungsweisen, das intensive Abgrenzungs-Bemühen bei den NPD-Rednern ansehen. Ansonsten entsteht der Eindruck, daß sich die meisten Redebeiträge auf einer Skala mit den Polen ,überwiegend sachorientiert‘ und ,überwiegend polemisch-polarisierend‘ einordnen lassen. Die Daten legen keineswegs den Schluß nahe, was zunächst überraschen mag, daß ein Strategiewechsel mit wichtigen Entscheidungen der Partei einherginge.

Persuasion und politische Kommunikation

335

So haben beispielsweise die Verabschiedung des Bamberger Programms 2010 oder die Neuwahl des Parteivorsitzenden Holger Apfel im November 2011 keine Prioritäten-Verschiebungen bewirkt, die in Landtagsreden manifest würden.15 Auch das neue, von Apfel verkündete Motto der „seriösen Radikalität“ hat nicht zu einer spürbaren Neuorientierung geführt. Auf der Basis von Redeanalysen läßt sich die Hypothese (i) vollkommen bestätigen. Jedoch bestehen erhebliche Divergenzen in Abhängigkeit von den behandelten Inhalten: Im Zusammenhang mit der Ausländer- und Asylproblematik – hinsichtlich dieser Thematik wurden einige Beispiele besprochen – scheint es geradezu einen Automatismus für xenophobe Äußerungen zu geben. Bei anderen Themengebieten, z.B. der Hochschulpolitik oder bei Fischerei- und Werftenproblemen, stehen die Erhaltung der „Volkssubstanz“ und der Kampf gegen „Überfremdung“ meist weniger im Vordergrund. Hinsichtlich der Hypothese (ii) sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen. Es ist in der Tat unverkennbar, daß sich viele Landtagsreden der NPD durch eine „bürgerlich“ angepaßte Diktion auszeichnen. Das heißt, auf Provokationen, die sogleich als rechtsextrem interpretierbar wären, wird weitgehend verzichtet. Die Auffassung, nach dem Scheitern des Verbotsantrags im Jahre 2003 habe man eine diesbezügliche Zurückhaltung zunehmend aufgegeben (Brandstetter 2012: 20), läßt sich nicht ohne weiteres bestätigen. Man kann sogar hinzufügen: Das oft unterstellte Vorkommen von NS-Anspielungen,16 die ungeschminkte Übernahme von Zielen wie Antisemitismus, Relativierung des Nationalsozialismus und des Völkermords im Dritten Reich, Propagierung eines Antiparlamentarismus, trifft auf den hier untersuchten Bereich nicht zu. Das gilt ebenso für die Ebene der Sprachgestaltung. Insbesondere spielt die aus der NS-Propaganda hinlänglich bekannte Tier- bzw. Ungeziefer-Metaphorik in den Parlamentsreden keine Rolle. Das verfassungskonforme Erscheinungsbild soll nicht durch verbale Ausfälle in Frage gestellt werden – was andererseits, wie die Beispiele zeigen, Polemik und persönliche Verunglimpfungen nicht ausschließt. Das sprachstilistische Persua15

Eine interessante Parallele zum französischen Front National zeigt diesbezüglich Stephan Omlor (2011) auf: Unter dem Titel „Personalwechsel oder Politikwechsel?“ geht er der Frage nach, ob bzw. inwieweit mit dem Wechsel an der Spitze der rechtsextremen Partei – Jean-Marie Le Pen hatte Anfang 2011 das Amt seiner Tochter Marine Le Pen überlassen – auch ein Wandel der politischen Orientierung verbunden war; die Analyse legt den Schluß nahe, daß es hinter der „sanften Maske“ der neuen Parteichefin keine Neuausrichtung der Ideologie gebe, lediglich die rhetorische Verpackung, der persuasive Stil in den Reden sei verändert. 16 Vgl. etwa Bachem 1983: 60, Pörksen 1998; 2000: 69f., für die jedoch andere Materialien zugrundelagen.

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Heinz-Helmut Lüger

sions-Repertoire bleibt aus diesem Grunde vergleichsweise begrenzt und unterscheidet sich nur graduell von dem anderer Parteien. Betont sei abschließend noch einmal, daß sich die hier gemachten Aussagen ausschließlich auf parlamentarische Redebeiträge beziehen. Die Einbeziehung von Werbeflyern, Schulungsdokumenten oder Presseartikeln (z.B. aus der Monatszeitung DEUTSCHE STIMME) dürfte ein anderes Bild ergeben. Die Parlamentsarbeit ist eben nur ein Ausschnitt der Aktivitäten einer politischen Partei – ganz zu schweigen von den Kooperationen mit den sog. „Freien Kräften“. Vor diesem Hintergrund sind die vorliegenden Beobachtungen zu bewerten; in den Kontext gehört auch die Frage, welche Bedeutung „gemäßigten“ oder „angepaßten“ Formen der Selbstdarstellung letztlich zukommt: Ob es reicht, nur „Kreide zu fressen“, um aus dem subkulturellen Milieu auszubrechen und damit (besonders in Westdeutschland) das Splitter-Parteien-Niveau zu verlassen bzw. das am Horizont aufziehende Verbotsverfahren abzuwenden, muss die Zukunft zeigen. (Brandstetter 2012: 34)

5

Literatur

BACHEM, Rolf (1983): Rechtsradikale Sprechmuster der 80er Jahre. Muttersprache 93, 59–81 BÖKE, Karin / JUNG, Matthias / WENGELER, Martin (Hrsg.) (1996): Öffentlicher Sprachgebrauch. Festschrift Georg Stötzel. Opladen: Westdeutscher Verlag BOTSCH, Gideon (2012): Die extreme Rechte in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis heute. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft BRANDSTETTER, Marc (2012): Die „neue“ NPD: Zwischen Systemfeindschaft und bürgerlicher Fassade. Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung BREDEHÖFT, Sonja / JANUSCHEK, Franz (1994): Doppelzüngler. Die Sprache der „Republikaner“. Duisburg: DISS DECKER, Oliver / KIESS, Johannes / BRÄHLER, Elmar (2013): Rechtsextremismus der Mitte. Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose. Gießen: Psychosozial-Verlag DIECKMANN, Walther (1969): Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache. Heidelberg: Winter DIRKS, Una / SCHMIDT, Anne K. (2006): Akzeptanzwerbung in britischen Editorials: Pro und Contra Irakkrieg. In: Girnth, Heiko / Spieß, Constanze (Hrsg.): Strategien politischer Kommunikation. Berlin: Schmidt, 148–167 EROMS, Hans-Werner (1974): Zur Analyse politischer Sprache. Linguistik und Didaktik 17, 1–16 HOLLY, Werner (1990): Politikersprache. Inszenierungen und Rollenkonflikte im informellen Sprachhandeln eines Bundestagsabgeordneten. Berlin / New York: de Gruyter

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Heinz-Helmut Lüger Anhang

(1) Rede von Tino Müller (NPD), Schwerin 16.12.2011: Vizepräsidentin Regine Lück: Das Wort hat der Abgeordnete Herr Müller von der NPD-Fraktion. Tino Müller, NPD: [1] Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! [2] Mit dem vorgelegten Antrag dokumentieren die GRÜNEN eindrucksvoll ihr Rechtsstaatsverständnis. [3] Die Personen, um die es hier geht, sind nicht, wie von Ihnen gerne dargestellt, von der Abschiebung bedroht. [4] Nach Überprüfung eines jeden Einzelfalls erfolgt bei diesem Personenkreis nunmehr der Vollzug der Ausreisepflicht. (Beifall vonseiten der Fraktion der NPD) [5] Diesen völlig normalen und rechtsstaatlichen Vorgang versuchen Sie auszuhebeln, indem Sie anführen: 1. [6] die Verhältnisse zur Unterbringung der Betroffenen in deren Herkunftsgebieten Serbien und Kosovo seien unzumutbar, 2. [7] im Winter herrschen auf dem Balkan Temperaturen, die schlicht menschenunwürdig sind. [8] Unabhängig davon, wie sich die Unterbringungssituation in Serbien und im Kosovo tatsächlich darstellt, liegen diese Begleitumstände nicht in unserer Hand. (Präsidentin Sylvia Bretschneider übernimmt den Vorsitz.) [9] Allein die Vermutung oder auch die Tatsache, die Unterbringung in den Heimatländern würde nicht mitteleuropäischen Standards entsprechen, kann kein ernsthaftes Argument sein. [10] Im Umkehrschluss würde dies ja bedeuten, man müsste Millionen von Menschen aus Osteuropa hier mit Wohnraum versorgen, von weiten Teilen Afrikas, Asiens, Südamerikas ganz zu schweigen. (Dr. Norbert Nieszery, SPD: Völliger Blödsinn.) [11] Was die von Ihnen aufgeworfene Klimafrage angeht, so ist es nach Ihrem Verständnis im Winter zu kalt, im Sommer zu heiß, im Frühling zu regnerisch und im Herbst zu windig, (Beifall vonseiten der Fraktion der NPD – Zuruf von Udo Pastörs, NPD) um einen gerichtlich angeordneten Vollzug der Ausreisepflicht umzusetzen. (Michael Andrejewski, NPD: Es passt nie vom Wetter.) [12] Ihr Antrag hier im Parlament geht ja auf eine Forderung des Flüchtlingsrates Mecklenburg-Vorpommern zurück. [13] Dessen Forderung nach einem Abschiebestopp wurde auch sofort durch die Linkspartei aufgegriffen. [14] Es stellt sich mir immer wieder die Frage, ob die Mitglieder der Fraktion DIE LINKE, der GRÜNEN und des Flüchtlingsrates wohl bereit wären, den Zigeunern über den Winter im eige-

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nen Heim ein Zuhause anzubieten. (Zuruf von Udo Pastörs, NPD) [15] Allerdings müssten sie hierfür auf andere Zigeuner zurückgreifen, da die Personen, die jetzt der Ausreisepflicht unterliegen, auch abzuschieben sind. (Beifall vonseiten der Fraktion der NPD – Udo Pastörs, NPD: Bravo!) Präsidentin Sylvia Bretschneider: Die Verwendung des Begriffes „Zigeuner“, Herr Müller, weise ich hier als diskriminierend zurück. (Udo Pastörs, NPD: Das wollen die selber. Lesen Sie mal die Publikationen! – Zuruf von Stefan Köster, NPD) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete (Zuruf von Udo Pastörs, NPD) Herr Heinz Müller für die Fraktion der SPD. (Udo Pastörs, NPD: Die wollen das so.) Ja, nun bleiben Sie mal ruhig, Herr Pastörs! (Zuruf von Udo Pastörs, NPD) Fahren Sie sich mal ein bisschen runter! (Stefan Köster, NPD: Sie hatten ja zwei Tage Urlaub, deswegen sind Sie jetzt noch frisch.) (Landtag Mecklenburg-Vorpommern, 6. Wahlperiode, 7. Sitzung, 16.12.2011, S. 42f.)

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Heinz-Helmut Lüger

(2) Rede von Holger Apfel (NPD), Dresden 24.3.2011: Holger Apfel, NPD: [1] Herr Präsident! Meine Damen und Herren! [2] DIE LINKE wie auch die anderen Parteien der Einwanderungslobby überschlagen sich immer wieder förmlich in ihrer Fremdentümelei und überbieten sich dabei immer wieder. [3] Es besteht kein substanzieller Unterschied mehr zwischen den Parteien der Linken und den Regierungsparteien, weder auf Landes- noch auf Bundesebene. [4] Die Staatsregierung versteckt sich hinter dem Hinweis auf laufende Evaluierungen und drückt sich um eine klare Positionierung. [5] Lassen wir die Fakten sprechen. [6] Für die Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes war die Zahl der Antragsteller bis Anfang der Neunzigerjahre ausschlaggebend, vor allem aber, dass schon damals in etwa 95 % aller Asylfälle keine Asylberechtigung anerkannt wurde. [7] Daraus wurde ein logischer Schluss gezogen, und zwar der Schluss, dass es der leistungsrechtlich typische Regelfall sei, dass – und jetzt zitiere ich aus der Bundestagsdrucksache 12/4451, Seite 7 – „dieser Personenkreis keinen ausländerrechtlichen Grund für einen Aufenthalt in Deutschland besitzt“. [8] Was aber hat sich seitdem geändert, um das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen? [9] Ich kann es Ihnen sagen: im Prinzip nichts. [10] Geändert hat sich nur, dass die Anerkennungsquote weiter gesunken ist, zum Beispiel auf 1,6 % im Jahr 2009. [11] Gleichzeitig steigen die Asylbewerberzahlen nach einer Phase des Rückgangs wieder sprunghaft an. [12] Am 01. März 2011 titelte die „Süddeutsche Zeitung“: „Die Zahl der Flüchtlinge nimmt wieder stark zu.“ [13] Es vergeht derzeit kaum ein Monat, in dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht steigende Asylzahlen vermeldet. [14] 3 748 Schutzsuchende registrierte die Nürnberger Behörde im vergangenen Jahr, das sind 41 % mehr als im Januar 2010. [15] Die politische Linke wendet gern ein, dass zu den offiziell als politisch verfolgt Anerkannten noch viele weitere Flüchtlinge hinzukämen, denen aus anderen Gründen dauerhaft Schutz zu gewähren sei. [16] Fakt ist, dass ein Drittel der Asylbewerber in Deutschland dauerhaft Aufnahme über das Asylverfahren findet. [17] Dabei diente das Asylrecht einzig und allein dazu, politisch Verfolgten Schutz zu gewähren. [18] Alles andere sind sachfremde Erwägungen. [19] Dennoch haben wir uns natürlich auch mit der Rechtsprechung auseinanderzusetzen. [20] Da lohnt ein Blick auf den sogenannten Abschiebungsschutz, der selbst abgelehnten Asylbewerbern, also Scheinasylanten, weiterhin den Aufenthalt in Deutschland sichert. [21] Das ist zum Beispiel unverständlicherweise bei den Antragstellern aus Afghanistan der Fall. [22] Diese Gruppe stellte 2009 die zweitgrößte Gruppe der Asylbewerber, und das, obwohl doch das Land am Hindukusch angeblich demokratisch befreit wurde, so befreit, dass dort bis heute deutsche Soldaten mit ihrem Leben bezahlen. [23] Meine Damen und Herren! [24] Was haben die Menschen aus Afghanistan dann noch länger hier in Deutschland zu suchen?

Persuasion und politische Kommunikation

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[25] Wir können feststellen: [26] An den Gründen, die zur Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes geführt haben, hat sich seit 1993 nichts geändert. [27] Vor allem aber unterschlagen Sie, dass ähnliche Gesetzentwürfe von LINKEN und GRÜNEN im Bundestag auf massiven Widerstand der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände gestoßen sind. [28] In der schriftlichen Stellungnahme der Spitzenverbände zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 07. Februar 2011 heißt es: [29] „Es wäre durchaus problematisch, diesen Personenkreis, der nicht über einen gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland verfügt, mit Sozialhilfeempfängern bzw. Empfängern von Grundsicherung für Arbeitsuchende gleichzustellen, die zum Teil langjährig in die hiesigen Sozialsysteme eingezahlt haben. [30] Darüber hinaus gewährleisten die Leistungen nach dem SGB XII bzw. SGB II nicht lediglich ein Existenzminimum, sondern das soziokulturelle Existenzminimum, das auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gerichtet ist.“ [31] Meine Damen und Herren! [32] Ja, genau darum geht es. [33] Auch die NPD gesteht natürlich den Asylbewerbern, die hier in Deutschland eintreffen, das zu, was sie kurzfristig zum Leben, zum Überleben unmittelbar benötigen, aber eben auch keinen einzigen Cent mehr. [34] Meine Damen und Herren! [35] Natürlich fordern wir darüber hinaus – auch wenn Sie es nicht mehr hören können – die möglichst rasche Abschiebung der vielen Sozialschmarotzer, die nur aus wirtschaftlichen Gründen kommen und nicht etwa, weil sie in ihrem Heimatland politisch verfolgt werden. (Beifall bei der NPD) [36] Aus der von Ihnen angestrebten Gleichstellung von Asylanten mit einheimischen Sozial- bzw. Grundsicherungsempfängern, zum Beispiel verarmten deutschen Rentnern oder Langzeitarbeitslosen, ergibt sich – Ihrer Logik folgend – natürlich auch die Aufgabe des Sachleistungsprinzips und der Residenzpflicht. [37] Während das Sachleistungsprinzip in erster Linie dazu dient, Asylbewerbern kein Geld in die Hände zu geben, um keine weiteren Zuwanderungsreize zu schaffen oder Schleuserkriminalität zu fördern, dient die Residenzpflicht vor allem dazu, die notwendige Aufsicht und Kontrolle über die zur Ausreise vorgesehenen Personen auszuüben. [38] Beides will DIE LINKE in diesem Lande abschaffen. [39] Meine Damen und Herren! [40] Ich könnte stundenlang Fakten wiedergeben und Experten aus der Praxis zitieren, zum Beispiel Herrn Dathe, den langjährigen Dezernenten des Landkreises Leipzig, zum Sachleistungsprinzip und zur Notwendigkeit der Beibehaltung der Residenzpflicht. [41] Lassen Sie mich aber an die linke Opposition hier im Hause gerichtet noch Folgendes sagen: [42] Wenn Sie schon nicht fähig sind, jenseits Ihrer inländerfeindlichen, ausländertümelnden Gefühlsduselei Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, dann doch vielleicht den Fakt, dass selbst Ihre eigenen Wähler in ihrer überwältigenden Mehrheit in der Ausländerfrage eher die Position der NPD als die der LINKEN teilen. [43] Laut einer Umfrage des „Focus“, die am 04. Dezember 2010 veröffentlicht wurde, befürworten fast 70 % aller Deutschen, dass Ausländer, die wegen Schwerverbrechen, So-

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Heinz-Helmut Lüger

zialhilfebetrugs oder Schwarzarbeit verurteilt wurden, automatisch abgeschoben werden. [44] Und jetzt hören Sie gut zu! [45] Im „Focus“ heißt es: [46] „Unter den Sympathisanten der LINKEN fand diese Forderung mit 85 % die höchste Unterstützung.“ [47] Dreimal dürfen Sie raten, wie Ihre eigenen Anhänger wohl über den Asylmissbrauch und den heute diskutierten Antrag denken werden. [48] Meine Damen und Herren der LINKEN! [49] Sie haben bisher einfach nur Glück, dass viele Menschen diesen inhaltlichen Abgrund, der sich bei Ihnen auftut, noch nicht erkannt haben, die Kluft, die sich hier zwischen den inländerfeindlichen Positionen der LINKEN und ihren volkstreuen Wählern auftut. [50] Ihre moralische Verkommenheit, Politik gegen die Interessen der eigenen Wähler zu betreiben, ist vielen Menschen noch nicht bewusst. [51] Die Ausländerlobbyisten der linken Journaille haben natürlich auch kein Interesse daran, diese Botschaften zu vermitteln. [52] Es wird ein Schwerpunkt der politischen Arbeit meiner Partei, der NPD, sein, in den nächsten Jahren diese Diskrepanz, diesen krassen Widerspruch weiter ins öffentliche Bewusstsein zu tragen und Ihnen von den hier versammelten Linksparteien die hässliche Maske von Ausländertümelei und Inländerfeindlichkeit vom Gesicht zu reißen. [53] Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der NPD) (Sächsischer Landtag, 5. Wahlperiode, 33. Sitzung, 24.3.2011, S. 3177ff.)

Orsolya Rauzs Szeged

Aggregative Negation bei negativ-implikativen Satzregentien in neuhochdeutschen Texten Abstract Den Gegenstand meines Beitrags bilden negativ-implikative Satzregentien, welche das Nicht-Zutreffen des Inhalts der von ihnen abhängigen Ergänzungssätze implizieren. Bis zum 19. Jahrhundert wurde diese negative Implikation häufig mit einem Negationselement im Nebensatz nochmals ausgedrückt. Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen wäre, dass die aus heutiger Perspektive überflüssige Negation als Aggregationsmerkmal aufgefasst werden kann, das die noch nicht abgeschlossene Nebensatzintegration anzeigt. In der vorliegenden Arbeit wird diese Hypothese an einem kleineren Korpus von neuhochdeutschen Sätzen getestet, daneben wird noch die Korrelation zwischen weiteren Faktoren und der Negation im Nebensatz untersucht.

1

Einleitung

Gegenstand des vorliegenden Artikels sind Satzgefüge wie (1) (2)

Ich will ihn davon abhalten, dass er hierherkommt. Ich verbiete dir, aus dem Zimmer zu gehen.

Gemeinsam ist beiden Sätzen, dass das Hauptsatzverb bewirkt, dass der Nebensatz als negiert, nicht-zutreffend verstanden wird: (3) (4)

Ich will ihn davon abhalten, dass er hierherkommt. = ,er soll nicht hierherkommen‘ Ich verbiete dir, aus dem Zimmer zu gehen. = ,du sollst nicht aus dem Zimmer gehen‘

Ähnlich verhalten sich Verben des Abratens, des Verbietens und des Verhinderns, des Zurückweisens und Unterlassens, des Leugnens und Bezweifelns oder des Verneinens (Duden-Grammatik 2005: 931, Helbig / Buscha 2005: 558). Sie werden in der Fachliteratur mit verschiedenen Termini bezeichnet: „Verben negativen Sinnes“ (Ebert / Reichmann / Solms / Wegera 1993, Paul 1968), „implizite

344

Orsolya Rauzs

lexikalische Negationsträger“ (Helbig / Buscha 2005), „kontrafaktive Prädikate“ (Kürschner 1983), „negativ-implikative Verben“ (Zifonun / Hoffmann / Strecker 1997). Von diesen übernehme ich die letzte Bezeichnung, da für meine Untersuchung eben die auf den Nebensatz bezogene Implikationswirkung dieser Verben von Bedeutung ist. Wie sich anhand von Belegen zeigen lässt, wurde die oben gezeigte negative Implikation im älteren Deutsch und noch im früheren Neuhochdeutschen häufig mit einem Negationselement im untergeordneten dass-Satz oder Infinitivsatz nochmals ausgedrückt: (5) (6) (7) (8) (9) (10)

ich will … ihn abhalten, daß er nicht hierher komme (Frau Gottsched; zit. n. Paul 1968: 343) ich verbiete Dir, nicht aus dem Zimmer zu gehen (Paul 1968: 352) ... wer wird uns hindern, daß wir sie nicht hineinbringen könnten (Gottsched; zit. n. Paul 1968: 344) sie haben verboten, Niemanden vor sich zu lassen (Rabener; zit. n. Paul 1968: 352) die Anmuth verhütet, daß die Achtung nicht Furcht wird (Schiller; zit. n. Paul 1968: 348) man hat mich zwar gewarnt, nicht in der Nacht zu gehen (Seume; zit. n. Paul 1968: 353)

Die Negation im Nebensatz lässt sich nicht nur bei negativ-implikativen Matrixsatzverben, sondern auch bei verbonominalen Konstruktionen und Substantiven beobachten: (11) (12)

so ist es unmöglich, daß weder ich noch irgend ein Mensch etwas Rechtes leisten könne (Goethe; zit. n. Blatz 1970: 990) aus Furcht …, daß jhm das werde nicht benommen (Werder; zit. n. Paul 1968: 357)

Von dieser Tatsache ausgehend werde ich im Folgenden für die relativ heterogene Gruppe der Sprachzeichen, welche das (eventuell nur erwünschte) Nicht-Zutreffen ihrer Nebensätze implizieren, den Ausdruck „negativ-implikative Satzregentien“ verwenden. Hauptziel des vorliegenden Artikels ist, in Bezug auf die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts aufgrund einer Korpusanalyse einige Faktoren herauszuarbeiten, die beeinflusst haben können, ob das Nicht-Zutreffen der Nebensatzproposition auch im Nebensatz mit einem Negationswort signalisiert wurde.

Aggregative Negation bei negativ-implikativen Satzregentien 2

345

Diachrone Entwicklung und Erklärungsversuche

Während im Gegenwartsdeutschen die Ergänzungssätze von negativ-implikativen Satzregentien ihre Negiertheit nicht noch einmal ausdrücken (Duden-Grammatik 2005: 931, Helbig / Albrecht 1993: 40, Helbig / Buscha 2005: 558), war das in früheren Sprachstadien des Deutschen noch möglich: Im Mittelhochdeutschen war ein Negationswort in abhängigen dass-Sätzen häufig zu finden: (13)

daz wil ich widerrâten …, daz ir mich mit besemen gestrâfet nimmer mêr (Kudrun; zit. n. Paul 2007: 393)

Wenn der Hauptsatz selbst negiert wurde, konnte der Konjunktor neben Nebensatznegation und Konjunktiv des finiten Verbs wegbleiben (Behaghel 1924: 73, Paul 1968: 343, Paul 2007: 393): (14)

daz des iht würde gespart, ern striche in iemer in die naht (Tristan; zit. n. Behaghel 1924: 73)

Im Frühneuhochdeutschen war das Vorkommen eines Negationswortes im Nebensatz allem Anschein nach ebenfalls fakultativ, wobei sie in dass-Sätzen häufiger als in Infinitivkonstruktionen vorkam (Ebert / Reichmann / Solms / Wegera 1993: 428f.): (15)

der Herr hat dich verhindert, das du nicht kemest (Luther; zit. n. Behaghel 1924: 88)

Dasselbe soll auch für das Neuhochdeutsche bis zum 18.–19. Jahrhundert charakteristisch gewesen sein: (16)

ihn abzuhalten, daß er nicht nach Athen zurückstürmte (Wieland; zit. n. Paul 1968: 343)

Danach setzte sich ein Wandel durch: Obwohl die Konstruktion im 19. Jahrhundert noch verwendet wurde, wurde sie von den zeitgenössischen Grammatikern (Blatz 1970: 989, Paul 1968: 351, Polle 1989: 17, Schötensack 1976: 557) schon als archaisch und pleonastisch empfunden, und sie verschwand dann bis zum 20. Jahrhundert vollkommen (Paul 1886: 138). Im Ergänzungssatz konnte also früher eine aus heutiger Perspektive redundante Negation auftreten. In der Fachliteratur gibt es mehrere Hypothesen dazu, wie dieses Negationsphänomen, das auch in anderen Sprachen zu finden ist, entstand und wie es erklärt werden kann. Paul betrachtet es als einen Fall von Kontamination, wobei „zwei synonyme ausdrucksformen sich gleichzeitig ins

Orsolya Rauzs

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bewusstsein drängen, so dass keine von beiden rein zur geltung kommt, sondern eine neue form entstehe, in der sich elemente der einen mit elementen der andern mischen“, z.B. Ich habe nur leugnen wollen, dass ihr alsdann der name malerei weniger zukomme (Lessing) = leugnen … dass … zukomme + behaupten … dass … weniger zukomme (Paul 1886: 132f.). Im Rahmen der Polaritätstheorie wurde vorgeschlagen, die Negationswörter der Komplementsätze als negativ-polare Lexeme zu interpretieren (Wouden 1994, Wouden 1997). Vertreter der Generativen Grammatik betrachten sie ihrerseits als von den Matrixsatzverben lizenzierte Elemente, die mit diesen Verben eigentlich eine Einheit bilden (Espinal 1992, Wurff 1999). Nach Ágel / Hennig (2006a) und Ágel (2007) war die Setzung eines Negationswortes im Nebensatz ein Aggregationsmerkmal, d.h. ein Phänomen, das in weniger integrierten Strukturen vorkommen konnte. Im Einklang damit stellen auch Paul (1886: 138f.) und Schrodt (1983: 160) fest, dass die besagten Nebensätze ursprünglich keine Inhaltssätze waren, sondern die ganze Satzverknüpfung parataktische Züge trug, was das Erscheinen einer eigenen (nicht redundanten) Negation ermöglichte. Die Setzung und das Verschwinden dieser Negation im Laufe der deutschen Sprachgeschichte soll also den Prozess der syntaktischpragmatischen Nebensatzintegration dokumentieren. Aus dieser Theorie ergeben sich zwei Annahmen: Erstens sollte die Häufigkeit dieser Negation mit dem Integrationsgrad der vorkommenden Nebensatztypen zusammenhängen. Zweitens: Sobald die Setzung der Negation als redundant sowie nicht dem korrekten Sprachgebrauch gemäß eingeschätzt wurde und verschwand, kann man von der Zunahme der Integration des jeweiligen Satztyps sprechen. In meiner vorliegenden Arbeit möchte ich an einem kleineren Korpus zeigen, dass diese Aggregativitätshypothese aufgrund von empirischen Daten plausibel ist, und möchte zugleich für das beschriebene Phänomen den Terminus „aggregative Negation bei negativ-implikativen Satzregentien“ vorschlagen. Vor der Korpusanalyse sollten noch im nächsten Punkt einige grundlegende Aspekte der Nebensatzintegration behandelt werden.

3

Nebensatzintegration

Zu den Graden und Typen der Nebensatzintegration bzw. zu den Möglichkeiten der Satzverknüpfung existiert eine umfangreiche Literatur. In den meisten einschlägigen deutschen Grammatiken und Syntaxhandbüchern (Duden-Grammatik 2005, Dürscheid 2007, Eisenberg 2006, Engel 2004, Eroms 2000, Hentschel / Weydt 2003, Heringer 1996, Zifonun / Hoffmann / Strecker 1997) findet man zwei Kategorien der Satzverknüpfung: Parataxe / Koordination / Nebenordnung / Beiordnung, wo die Teilsätze gleichrangig sind, und Hypotaxe / Subordination /

Aggregative Negation bei negativ-implikativen Satzregentien

347

Unterordnung, wo der Nebensatz ein Satzglied oder einen Gliedteil des Hauptsatzes / Matrixsatzes, dem er untergeordnet ist, ausdrückt und eine besondere Wortstellung aufweist. Dagegen lassen sich viele Satzstrukturen der schriftlichen und mündlichen Kommunikation beobachten, die in keine dieser zwei Kategorien eindeutig passen, weil sie keine typischen Subordinationsmerkmale enthalten oder eine schwache semantische, topologische und / oder pragmatische Integration zeigen (Schuster 2008: 150), z.B.: -

uneingeleitete Nebensätze mit Verberststellung

(17)

-

uneingeleitete Nebensätze mit Verbzweitstellung

(18)

-

Wenn ich nach Hause komme und meine Frau schenkt mir ein Bir ein, meckern meine Nachbarn. (Vuillaume 2000: 48)

freie dass-Sätze

(22)

-

Wenn du mitkommen willst, ich habe nichts dagegen. (König / Auwera 1988: 114)

asymmetrische Koordination von Nebensätzen / Herstellung der syntaktischen Ruhelage

(21)

-

Ich hoffe / weiß, es gibt ein Leben nach dem Tod. (Auer 1998: 292)

unechte Nebensätze

(20)

-

Josef fürchtete, er habe / hätte einen Fehler gemacht. (Auer 1998: 297)

abhängige Hauptsätze

(19)

-

Liest Hans im Bett eine Grammatik, schläft er schneller ein. (Eisenberg 2006: 319)

Fritz muss verrückt sein, dass er kommt. (Schuster 2008: 151)

weil-, obwohl- oder dass-Sätze mit Verbzweitstellung

(23) (24) (25)

Gib mir bitte das Buch, weil – du stehst grad am Regal. (Wegener 2000: 38) Sie liebt ihn, obwohl verdient hat er es nicht. (König / Auwera 1988: 105) Ich würde sagen, dass beide haben ihre Performanzvorteile. (Freywald 2009: 113)

Aus diesem Grund vertreten einige Forscher die Meinung, dass man die Satzverknüpfungsmöglichkeiten und damit auch die Nebensatzintegration eher skalar

348

Orsolya Rauzs

bzw. als mehr oder weniger heterogen auffassen und mithilfe von Integrationsparametern beschreiben sollte. Solche Parameter sind z.B. im System von Lehmann (1988: 183–213) aufgelistet, in dem jede Dimension als ein Kontinuum zu betrachten ist: -

hierarchische Abstufung (Grad der Dependenz von einem anderen Satz) syntaktische Ebene in Bezug auf den Matrixsatz (Art der Dependenz: keine Dependenz, Dependenz vom Matrixsatz oder von einem Teil des Matrixsatzes) Desententialisierung (Reduzierung bzw. Verlust von Satzmerkmalen, wie eigene illokutive Kraft, Tempus, Aspekt usw.) Grammatikalisierung des Vollverbs des Matrixsatzes (zu Modal- oder Hilfsverb und Verbaffix) Verflechtung von zwei Sätzen (z.B. durch gemeinsame Bedeutungselemente oder durch Aussparung gemeinsamer syntaktischer Elemente) Explizitheit der Verbindung

Fabricius-Hansen (1992: 466–476, vgl. auch Zifonun / Hoffmann / Strecker 1997: 2250–2253) operiert mit fünf Größen, mit denen man den relativen Grad der Integriertheit verschiedener Nebensatztypen bestimmen kann: -

Nebensatzform Intonation des Satzkomplexes Topologie innerhalb des Satzkomplexes Funktion in Bezug auf den Matrixsatz illokutive Kraft

Eine sehr ausführliche Liste präsentiert Marillier (2000: 70–75), in der weitere Integrationsparameter erscheinen, wie z.B.: -

Möglichkeit einer Ergänzungsfrage Kombinierbarkeit mit Nomina bzw. Präpositionen Vorkommen im Skopus einer Rangpartikel oder eines Modalworts Negierbarkeit Anfknüpfung von und dies / und zwar Integriertheit in eine Satzfrage Bewegung (Extraktion) einer Konstituente ins Vorfeld Korrelat im Matrixsatz Koordinierbarkeit mit einem dass-Komplementsatz

Aggregative Negation bei negativ-implikativen Satzregentien

349

Die Hierarchisierung und die Kombinationsmöglichkeiten solcher Parameter ergeben verschiedene Integrationsskalen. So bestimmt Marillier (2000: 71–75) vier Gruppen mit zunehmender Integriertheit: weil + Verbzweitsätze – freie dass-Sätze und unechte Nebensätze – abhängige Hauptsätze und uneingeleitete Nebensätze – Adverbial- und Komplementsätze. Bei Ágel (2010: 911–913) z.B. sieht die Abstufung für historische Belege folgendermaßen aus: Infinitivkonstruktionen ohne zu1 und Partizipialkonstruktionen – Subordination durch Verbzweitsatzeinbetter und Subjunktorersatz – Subordination durch Subjunktor – Infinitivkonstruktionen mit zu. Diese lassen sich weiter gliedern je nachdem, wo das Korrelat (soweit vorhanden) und der Nebensatz stehen. Für die empirische Analyse im folgenden Abschnitt werden auf der Grundlage solcher Skalen (vgl. auch Givón 1995) drei Gruppen der möglichen abhängigen Sätze von negativ-implikativen Satzregentien mit zunehmender Integration aufgestellt: -

abhängige Hauptsätze und uneingeleitete Nebensätze mit Verbzweitstellung2 eingeleitete Nebensätze Infinitivsätze

Überprüft wird bei der Analyse unter anderen, inwieweit diese drei Gruppen mit der postulierten aggregativen Negation korrelieren, also ob das Korpus die Aggregativitätshypothese unterstützt.

3

Korpusanalyse

Als Mangel der bisherigen Behandlung der hier thematisierten Negationserscheinung kann gelten, dass alle Aussagen über sie ohne systematische Korpusanalyse getroffen wurden. Das muss nicht zwingend dazu führen, dass die Behauptungen in der Fachliteratur falsch wären, aber meines Erachtens könnte ein größeres Belegmaterial diese Behauptungen präzisieren, ergänzen beziehungsweise unter Umständen auch in Frage stellen.3

1

Bis zum frühen Neuhochdeutschen möglich. Da der Modus als wichtiges Unterscheidungsmerkmal von abhängigen Hauptsätzen und uneingeleiteten Nebensätzen (vgl. Auer 1998: 298) nicht immer eindeutig zu bestimmen ist, werden in der Analyse diese zwei Satztypen als eine Gruppe behandelt. 3 Erste Versuche diesbezüglich wurden von mir in Rauzs 2008 und Rauzs 2009 unternommen. 2

Orsolya Rauzs

350

Die hier präsentierten Ergebnisse wurden auf der Grundlage eines Korpus gewonnen, das 16 Quellentexte umfasst und 124 Satzgefüge enthält, in denen von einem Matrixsatz mit einem Ausdruck, der in der Fachliteratur als negativ-implikativ eingestuft wird, ein oder mehrere Sätze abhängen. Es wurde untersucht, inwieweit die Negation in den abhängigen Konstruktionen mit der dialektalen Zugehörigkeit und dem sprachlichen Nähe-/Distanzcharakter der Texte korreliert sowie ob das Vorkommen dieser Negation im Hinblick auf den Integrationsgrad der abhängigen Sätze weitere Untersuchungen in Anlehnung an die Aggregativitätshypothese rechtfertigt. Hinsichtlich der Diatopik wurden die zwei großen hochdeutschen Dialekträume Oberdeutsch und Mitteldeutsch berücksichtigt. Der Nähe-/Distanzcharakter wurde anhand des Ágel-Hennig-Modells (Ágel / Hennig 2006a und Ágel / Hennig 2006b) bestimmt. Nähetexte mit Nähewerten von mindestens 30% im Korpus sind z.B. autobiographische Schriften, ein Schauspiel und ein Roman. Als Distanztexte mit Nähewerten von weniger als 30% dienen unter anderen philosophische Abhandlungen, historiographische Texte und ebenfalls autobiographische Schriften und ein Roman. Die Verteilung der 124 Belege sieht wie folgt aus: Distanz 32 29

Nähe 30 33

Mitteldeutsch Oberdeutsch

Tab. 1: Aufbau des Korpus Um mit den allgemeinen statistischen Daten weiterzugehen, kann man feststellen, dass in fast 90% der Belege die Nebensatzregentien Verben sind. Diese Belege repräsentieren 36 verschiedene Verben. Viel seltener – insgesamt nur in 17 Belegen – hängen die Nebensätze von verbonominalen Konstruktionen oder von Substantiven ab: Verben verbonominale Ausdrücke Substantive

Types 36

Tokens 107

3

10

3

7

Beispiele fürchten, leugnen, verhindern, zweifeln unmöglich sein, die Gelegenheit abschneiden Furcht, Verbot, Zweifel

Tab. 2: Nebensatzregentien

Aggregative Negation bei negativ-implikativen Satzregentien

351

Was die drei Nebensatztypen anbelangt, so sind am häufigsten eingeleitete Nebensätze (dass- und ob-Sätze) und Infinitivkonstruktionen zu beobachten: abhängige Hauptsätze, uneingeleitete Nebensätze eingeleitete Nebensätze Infinitivkonstruktionen

Anzahl

Anteil

29

23,4%

48 47

38,7% 37,9%

Tab. 3: Nebensatztypen In allen drei Gruppen kommen die Nebensätze sowohl ohne als auch mit Negation vor. Letzteres scheint aus heutiger Perspektive redundant zu sein, wie folgende Beispiele illustrieren: abhängige Hauptsätze, uneingeleitete Nebensätze (26) (27) (28)

So verleugnet sie, es [=das Kind] sei nicht ihr[es]. (Handwerker-Bauern I) Diese widerratheten, mir auf alle weiß, ich solte nit auf die bruggen gehen, … (Kleinschroths Tagebuch I) Ich fercht, man muß mihr noch die Schenkel absegen, … (Güntzer I)

eingeleitete Nebensätze (29) (30)

(31)

was hindert mich daß ich ihm nicht entgegen gehe? (Horribilicribrifax I) … welche … den Belagerten verwehren solten / daß sie solche [= Batterien und hohe Wercke] nicht einreissen / noch ihre eigene ruinirte Aussenwercke wieder bauen möchten. (Meyer I) …, dan eß unmöglich seye, das ich über die bruggen khombe, … (Kleinschroths Tagebuch I)

Infinitivkonstruktionen (32) (33)

…, dan es ist verbodten, kein geladten Rohr in dißem Walt zu tragen bey Leibstraff, … (Güntzer I) …, das ich meinen verspröchen nach verhindert werde dich mit meinen knaben zu besuechen. (Kleinschroths Tagebuch I)

Ein wichtiges Ergebnis der Analyse ist, dass nicht alle solchen Negationsvorkommnisse als redundant, d.h. aggregativ interpretiert werden können. Einige Nebensatzregentien hatten nämlich früher keine so ausdifferenzierte Bedeutung wie heute, sondern konnten unter Umständen sowohl negativ-implikativ als auch implikativ verwendet werden, so z.B. verbieten, das neben der heutigen Bedeutung auch ,gebieten, befehlen‘ ausdrücken konnte, oder warnen, das je nach Kontext

Orsolya Rauzs

352

auch die Interpretationsvariante ,zu etwas ermahnen‘ zuließ. In meinem Korpus erscheinen Belege von beiden Bedeutungs-/Verwendungstypen, für welche ich jeweils einen Satz mit verbieten anführe: negativ-implikative Bedeutung ohne aggregative Negation (34)

Unser Deutschland ... verbeut mir von den abscheulichen Fällen / die in Elsas / Schwaben / Pommern / und anderswo vor wenig Jahren die Erde beflecket / … ein Wort mehr zu machen. (Gryphius I)

implikative Bedeutung mit Satznegation (35)

… wie wir dann hiermit verordnen / statuiren / genau gebiethen und verbiethen / daß keine Einwohner der erwähnten vereinigten Niederlande ihre Schiffe oder Personen gebrauchen lassen / vermiethen oder anwenden sollen … (Meyer I)

Es gibt aber auch Sätze, bei denen der Kontext nicht hilft und es wegen des großen Bedeutungsumfanges des Nebensatzregens nicht zu entscheiden ist, ob die implikative Bedeutungsvariante mit einfacher Satznegation oder die negativ-implikative mit aggregativer Negation vorliegt: (36)

Dargegen ward bey hohen Straffen verboten / daß man keine Fastnachts= Spiele / Ballette und Mummereyen treiben solte. (Meyer I)

Diese Problematik darf bei der Untersuchung der aggregativen Negation bei negativ-implikativen Nebensatzregentien nicht außer Acht gelassen werden. Da dies in den diachronen Darstellungen nicht thematisiert wird, sollte man mit den Beispielsätzen der Fachliteratur vorsichtig umgehen. In den folgenden drei Statistiken sind solche problematische Belege ausgeklammert. Zuerst soll die wichtigste Fragestellung beantwortet werden, nämlich ob das Korpus die Aggregativitätshypothese bestätigt. Tabelle 4 zeigt die Verteilung der Belege in den drei aufgestellten Satztypgruppen mit zunehmendem Integrationsgrad:

abhängige Hauptsätze, uneingeleitete Nebensätze eingeleitete Nebensätze Infinitivkonstruktionen

mit aggregativer Negation 2

ohne aggregative Negation 27

19 ---

24 37

Tab. 4: Aggregative Negation hinsichtlich der Nebensatztypen

Aggregative Negation bei negativ-implikativen Satzregentien

353

Der Unterschied zwischen den eingeleiteten Nebensätzen und den Infinitivkonstruktionen spricht für sich: Während die am meisten integrierten Infinitivsätze nie redundante Negationsträger enthalten, kommen solche in fast 50% der eingeleiteten Nebensätze vor. Dass die aggregative Negation in den kaum integrierten abhängigen Hauptsätzen und uneingeleiteten Nebensätzen viel seltener erscheint, lässt sich damit erklären, dass diese Satztypen morphosyntaktisch ganz oder fast völlig unabhängig und separat assertierend sind. Ein Negationsträger in ihnen würde daher eher als einfache Satznegation interpretiert als die aggregative Realisierung der negativ-implikativen Wirkung des Nebensatzregens. Es gibt anscheinend nur wenige negativ-implikative Regentien, die unter bestimmten Umständen auch in ihre abhängigen Hauptsätze und uneingeleiteten Nebensätze hineinregieren können. Was den Zusammenhang zwischen der aggregativen Negation und der dialektalen Verteilung der Quellentexte anbelangt, so stehen die meisten Nebensätze sowohl in den mitteldeutschen als auch in den oberdeutschen Texten ohne Negation (9 vs. 45 bzw. 12 vs. 43):

abhängige Hauptsätze, uneingeleitete Nebensätze eingeleitete Nebensätze Infinitivkonstruktionen abhängige Hauptsätze, uneingeleitete Nebensätze eingeleitete Nebensätze Infinitivkonstruktionen

mit aggregativer Negation ---

ohne aggregative Negation 8

9 --2

17 20 19

10 ---

7 17

Mitteldeutsch

Oberdeutsch

Tab. 5: Aggregative Negation hinsichtlich der Dialekträume Wenn man sich auf die Belege mit aggregativer Negation konzentriert, kann man aber feststellen, dass sie im Oberdeutschen mit größerer Wahrscheinlichkeit auftauchen. Dafür spricht auch ihre Proportion unter den eingeleiteten Nebensätzen: Die 9 mitteldeutschen Belege machen 34,6% aus, die 10 oberdeutschen Satzkomplexe 58,8%. Außerdem ließen sich Beispiele für die aggregative Negation in abhängigen Hauptsätzen bzw. uneingeleiteten Nebensätzen nur im Oberdeutschen finden. Daraus kann man darauf schlussfolgern, dass die aggregative Konstruktion im oberdeutschen Sprachraum wahrscheinlich präferierter war.

Orsolya Rauzs

354

Hinsichtlich der Korrelation zwischen aggregativer Negation und Nähe/Distanz ist ebenfalls festzustellen, dass sowohl Nähe- als auch Distanztexte mehr Sätze ohne als mit aggregativer Negation enthalten (43 vs. 11 bzw. 45 vs. 10):

abhängige Hauptsätze, uneingeleitete Nebensätze eingeleitete Nebensätze Infinitivkonstruktionen abhängige Hauptsätze, uneingeleitete Nebensätze eingeleitete Nebensätze Infinitivkonstruktionen

mit aggregativer Negation 1

ohne aggregative Negation 19

10 --1

7 17 8

9 ---

17 20

Nähe

Distanz

Tab. 6: Aggregative Negation hinsichtlich Nähe/Distanz Dass Nähetexte mehr aggregative Strukturen aufzuweisen pflegen, bestätigen die Daten der eingeleiteten Nebensätze, bei denen die zehn Belege 60% der dassund ob-Sätze des Nähebereichs bedeuten, während die neun Satzgefüge der Distanztexte nur 35% entsprechen. Somit scheint die Wahrscheinlichkeit, auf einen eingeleiteten Nebensatz mit aggregativer Negation zu stoßen, im Falle von Nähetexten größer zu sein.

4

Schluss

In meinem Beitrag habe ich versucht, das Phänomen der aggregativen Negation bei negativ-implikativen Nebensatzregentien aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Zuerst wurde nach der Vorstellung des Phänomens seine sprachgeschichtliche Entwickung auf der Basis der Fachliteratur skizziert, wo beobachtet wurde, dass dieser Negationstyp meist fakultativ und eher in eingeleiteten Nebensätzen vorkam, bis er im Laufe des Neuhochdeutschen verschwand. Danach wurden einige linguistische Erklärungsversuche genannt, darunter die Aggregativitätshypothese. Diese Theorie besagt, dass die Setzung eines aus heutiger Perspektive redundanten Negationswortes im Nebensatz ein Anzeichen dafür ist, dass die Nebensatzintegration zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen ist. Am Ende des theoretischen Teils wurden dementsprechend die Behandlung der

Aggregative Negation bei negativ-implikativen Satzregentien

355

deutschen Nebensätze und die Bestimmung ihrer Integrationsgrade in der Fachliteratur angesprochen. Im empirischen Teil meines Beitrags habe ich die Ergebnisse der Analyse eines Korpus mit 124 Belegen aus neuhochdeutschen Texten der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts präsentiert. Als Fazit der Analyse kann Folgendes festgehalten werden: Sowohl in theoretischen Darstellungen als auch in empirischen Untersuchungen sollte die Semantik der Nebensatzregentien in Betracht gezogen werden, denn einige Nebensatzregentien hatten früher auch implikative Lesarten. Damit die negativ-implikative Wirkung in Bezug auf die Proposition des Nebensatzes doppelt realisiert werden kann, braucht der Nebensatz einen gewissen Grad an Integration, und zwar hier den Grad eines eingeleiteten Nebensatzes. In den noch integrierteren Infinitivkonstruktionen ist das Erscheinen einer Negation weniger wahrscheinlich (in meinem Korpus sogar ausgeschlossen). Das würde die Aggregativitätshypothese als Erklärung des Phänomens unterstützen. Die aggregative Negation scheint zum Oberdeutschen bzw. zur sprachlichen Nähe eine gewisse Affinität zu haben. Man könnte in Anlehnung an die Aggregativitätshypothese noch weitere Untersuchungsaspekte heranziehen, z.B. die in der Fachliteratur erwähnten Integrationsparameter wie Modus, Korrelatsetzung usw., um zu sehen, ob zwischen ihnen und der Setzung der aggregativen Negation ein Zusammenhang besteht. Wünschenswert wäre außerdem die Ausdehnung der Analyse auf ein größeres Korpus und die Untersuchung von späteren Zeitintervallen, um besser abgesicherte Ergebnisse zu erhalten bzw. Entwicklungstendenzen feststellen zu können.

5

Literatur

5.1

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Orsolya Rauzs

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Paul Reszke Kassel

Vom Text zum einzelnen Wort. Ein ‚umgekehrter‘ Blick auf die Diskursanalyse am Beispiel der deutschen Berichterstattung zu Schulamokläufen

Abstract Wie kann man das einer Diskursanalyse zugrundeliegende Korpus übersichtlich ordnen und dabei Strukturen schaffen, die die Analyse des Textmaterials erleichtern, ohne dabei die Komplexität eines Diskurses und der sich aus ihm ableitbaren Wissensgenerierungsprozesse zu übergehen? Dies ist die zentrale Fragestellung des Beitrags. Ansätze einer Antwort sollen zwei Beispielanalysen aus einem Pressekorpus zu Schulamokläufen liefern. Diese Ansätze ergeben sich aus einer Schwerpunktverlagerung weg vom Einzellexem, hin zum Einzeltext und seiner internen Struktur.

1

Vorschlag zu einer methodischen Schwerpunktverlagerung

Dieser Beitrag versteht sich als eine Art Werkstattbericht. Er zielt darauf, eine der grundlegenden Fragen meines Dissertationsvorhabens vorzustellen und anhand von zwei kurzen Auszügen aus der Analyse des Korpus zum Thema ‚Schulamokläufe‘ einige Ansätze einer Antwort zu liefern. Diese Frage ist methodischer Natur und kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Wie kann man sich 1.) über einen komplexen Diskurs Übersicht verschaffen, danach 2.) eine Analyse durchführen, die möglichst adäquat diese Komplexität wiedergibt und dabei 3.) Schlussfolgerungen über die Wissensgenerierung in unserer Gesellschaft zulässt? Zunächst soll das mehrheitlich verbreitete diskurslinguistische Arbeiten an großen Textkorpora dargestellt werden. Den Ausgangspunkt dieser Darstellung bilden folgende Beobachtungen Andreas Gardts (Gardt 2007: 35): Als Methode untersucht die Diskursanalyse die semantische Dimension sprachlicher Äußerungen a) auf grundsätzlich allen Ebenen des Sprachsystems, mit einem Schwerpunkt auf der lexikalischen Ebene

360

Paul Reszke b) und, jenseits der Systemebenen, mit einem ,zweiten Schwerpunkt auf der Ebene der Textgestaltung [...] im Sinne eines pragmatisch-funktionalen Textverständnisses. Dazu greift die Diskursanalyse auf alle Formen der semantischen Analyse zurück [...].

Der hier zitierte Aufsatz bietet eine Übersicht über das bis dahin typische linguistische Arbeiten an Diskursen. Ein Blick in das aktuelle diskurslinguistische Arbeiten zeigt, dass die im Zitat erwähnten beiden Schwerpunkte auch nach 2007 noch immer die tragenden Säulen einer Diskursanalyse sind. Hierzu einige Belege aus der aktuelleren Forschung. Sie stammen aus einem Sammelband des Forschungsnetzwerks ‚Sprache und Wissen‘ und dort wiederum aus den anwendungsbezogenen bzw. Analyse betreibenden Aufsätzen:1 In seinem Beitrag Frames im Einsatz. Aspekte anaphorischer, tropischer und multimodaler Bedeutungskonstitution im politischen Kontext zeigt Alexander Ziem den Erkenntnisnutzen der Frame-Theorie für die Diskursanalyse an zwei Beispielen, der Geheimsprache von Al-Kaida Anhängern und einer Karikatur über Wolfgang Schäuble (vgl. Ziem 2009: 207–244). Beide Beispiele gehen von Einzellexemen aus bzw. bauen sich um sie herum auf. In der Al-Kaida Geheimsprache stehe „Taxifahrer […] für Selbstmordattentäter, Teig für Sprengstoff, und Hund für Spitzel, während heiraten so viel wie ‚als Märtyrer sterben‘ bedeute.“ (ebd., S. 214) Bei der Karikatur steht das Wort Kindsköpfe im Fokus (ebd., S. 232). Über eine frame-theoretische Einbettung dieser Lexeme gelangt Ziem schließlich zu allgemeinen Aussagen über Wissenskonstitution in Diskursen durch Frames. Die „Wissensdomäne ‚Bildung und Schule‘“ untersuchen Jörg Kilian und Dina Lüttenberg ausgehend von verschiedenen Gebrauchskontexten des Lexems Kompetenz, nämlich in „Bildung und Schule“, in „verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen“, in der „Wirtschaft“ und in „Politik und Medien“; solchermaßen sind die analytischen Unterkapitel strukturiert. Auf diesem Wege gelangen sie schließlich zu Aussagen über den „,Kompetenz‘-Diskurs nach [und] vor PISA.“ (Kilian / Lüttenberg 2009: 245–278) René Zimmer arbeitet nach einer kurzen Darlegung des „programmatischen Charakter[s]“ (Zimmer 2009: 288) seines zwölf Texte umfassenden Korpus zum Thema „Nanotechnologie“ (ebd., S. 279) dessen Argumentationsmuster heraus. Die dazu dienenden Belege werden nicht weiter textlinguistisch spezifiziert, sondern nach thematischer Zugehörigkeit ausgewählt (vgl. ebd., S. 289–298).

1

Es handelt sich hierbei um Felder / Müller (Hrsg.) (2009).

Vom Text zum einzelnen Wort

361

Constanze Spieß bietet eine Untersuchung „zur diskursiven Funktion von Metaphern und Schlüsselwörtern im öffentlich-politischen Diskurs um die humane embryonale Stammzellenforschung“ (Spieß 2009: 309–336) an. Darin stehen die Lexeme „Lebensbeginn“ (ebd., S. 315) und „Rubikon“ (ebd., S. 326) im Vordergrund, um das im bereits zitierten Untertitel umrissene Forschungsanliegen umzusetzen. Die Gestalt der einzelnen Texte steht dabei argumentativ im Hintergrund, die Zusammensetzung des Korpus wird nur aus den Literaturangaben ersichtlich (vgl. ebd., S. 336). Auf eine ähnliche Weise verfährt Alexander Lasch in seiner Untersuchung zum „Kölner Fensterstreit“ um ein vom Maler Gerhard Richter gestaltetes Kirchenfenster (Lasch 2009: 337): Der Aufbau seines aus vornehmlich Pressetexten bestehenden Korpus wird für die Argumentation nur selten relevant, z.B. wenn er darauf verweist, dass ein bestimmtes Lexem „in der Schlagzeile Meisner beklagt ‚Moscheefenster“ verwendet wird, „um eine (unterstellte) Haltung des Erzbischofs anzugreifen.“ (ebd., S. 347f.) Die Grundstruktur seiner Analyse bildet jedoch die Orientierung an den Lexemen „Moschee-Fenster“, „Richter-Fenster“, „Dom-Fenster“ und „Konfetti-Fenster“ (ebd., S. 347, 351, 354, 359). Von dort aus verknüpft er den Gebrauch dieser Lexeme mit bestimmten Akteuren im Diskurs und beschreibt die Dynamiken dieses Diskurses (vgl. ebd., S. 361ff.). Die „Gruppenidentitäten im Schreiben über Kunst“ in Deutschland zeigt Marcus Müller anhand von „Possessivkonstruktionen des Typs UNSER + [SUBSTANTIV]“ (Müller 2009: 371) auf. Selbstverständlich rückt bei einem auf diese Weise fokussierten Analyseverfahren die Struktur des einzelnen Textes stark in den Hintergrund. Das – erfolgreich erreichte und differenziert dargestellte – Ziel dieses Verfahrens ist es schließlich, den Nutzen des „Beschreibungsparadigmas ‚Konstruktionsgrammatik‘ […] für diskursanalytische Zwecke“ (ebd., S. 410) zu zeigen. Bei nahezu allen zitierten Arbeiten fällt folgende Gewichtung auf: Der zweite Schwerpunkt, die textlinguistisch-pragmatischen Aspekte, findet, wenn er thematisiert wird, vorrangig bei der Erstellung des Textkorpus Verwendung und rückt danach in den Hintergrund. Bei den konkreten Textanalysen steht dann der erste Schwerpunkt im Vordergrund, sodass die Analysen verstärkt mit dem frequenten Auftreten von besonderen Einzellexemen argumentieren. Die genannten Autoren bewegen sich also vom Korpus ausgehend zum Einzellexem, erst dann spielen andere Untersuchungsgrößen wie Akteure, Metaphern oder Topoi eine für die Analyse strukturierende Rolle, um dann schließlich Aussagen über den Diskurs und seine Wissensgenerierungsprozesse zu treffen. In den Beiträgen, in denen auf größere Einheiten wie Argumentationsmuster zugegriffen werden soll, werden die Textauszüge nie nach textlinguistischen Kriterien ausdifferenziert.

362

Paul Reszke

Die hier vorgestellte Analysemethode soll diese textlinguistische Dimension für Analysen nutzbar machen, indem beispielsweise die Textsorten und ihre textinternen Strukturierungen in den Vordergrund gerückt werden. Damit soll aber das oben an Beispielen illustrierte, bislang in der Analysepraxis gängige Verfahren keineswegs entwertet werden. Die Anwendung dieses Verfahrens fußt nämlich auf überzeugenden Gründen, die auch für die hier in Auszügen vorgelegte Analyse zentral sind. Zwei dieser Gründe sollen nun dargelegt werden. Erstens ist jegliche analytische Aussage über einen Diskurs hermeneutischinterpretativ.2 Um diesen Interpretationen aber ein möglichst intersubjektives Fundament zu geben, bietet es sich an, sich auf konkret auftretende Wörter zu beziehen, weil sie sozusagen die hard facts jeder Textanalyse darstellen.3 Der zweite Grund ergibt sich aus einem der Forschungsziele einer kulturbezogen arbeitenden Linguistik: über die Analyse von Texten auf die Arten und Weisen der sprachlichen Gestaltung und Vermittlung des gesellschaftlichen Wissens zuzugreifen. Die analysierten Texte stehen dabei nicht nur in einem thematischen Zusammenhang, ihre Auswahl muss auch repräsentativ sein. Es muss also plausibel werden, warum gerade diese Texte das gesellschaftliche Wissen zu einem Thema widerspiegeln können. Bei dieser Auswahl werden Texte der Tagespresse bevorzugt, weil sie der breiten Öffentlichkeit zugänglich sind, viele verschiedene Sprecher zu Wort kommen lassen und die Öffentlichkeit auf andere Texte (anderer Textsorten) zum gleichen Thema aufmerksam machen. Ein nicht zu vernachlässigender Grund für die Repräsentativität dieser Textsorte ist auch die Vielfalt der deutschen Presselandschaft, in der sich die Vielheit der gesellschaftlich vertretenen Meinungen zu spiegeln vermag. Deshalb bilden Pressetexte auch in meiner Untersuchung den Kern des Textkorpus. Sein Aufbau wird später in Abschnitt 3 vorgestellt. Hat man sich bei einer Korpusanalyse für Pressetexte entschieden, so rücken die textlinguistischen Dimensionen bei der Analyse deshalb in den Hintergrund, weil sie so selbstverständlich sind: Die Funktion dieser Texte ist bekannt – typischerweise die Versorgung der Öffentlichkeit mit Informationen – und die textinternen Strukturen sowie die damit einhergehenden Funktionen der üblichen Pressetextsorten – also z.B. die Schlagzeile als aufmerksamkeitserregende Andeutung bzw. Zusammenfassung des Themas – können als bekannt vorausgesetzt werden.4 2

Dass hermeneutisches Arbeiten und Diskursanalyse nicht im Widerspruch zueinander stehen, zeigt Hermanns 2007. 3 Diesen Gedanken verdanke ich einem Gespräch mit Andreas Gardt im Forschungskolloquium. 4 Die Selbstverständlichkeit dieser Texteinheiten und ihrer Funktionen spiegelt sich beispielsweise darin, dass sie inzwischen in kaum einem einführenden Lehrbuch der Textlin-

Vom Text zum einzelnen Wort

363

Damit stellen sich textlinguistische Fragen nur noch bei besonderen Ausnahmen. Im Normalfall einer Korpusanalyse von Pressetexten stellen sich vielmehr die Fragen, welche Texte genau untersucht werden sollen und vor allem, wie viele. Es ist offensichtlich, dass mit steigender Menge der Texte und ihrer breiten Streuung in der Presselandschaft auch die Repräsentativität des Korpus zunimmt. Hier greifen nun beide Gründe ineinander: Will man eine hohe Anzahl von Texten untersuchen, so steht man vor der methodischen Schwierigkeit, das Analyseverfahren einerseits gründlich, andererseits aber nicht zu zeitaufwändig zu gestalten. Und daher bietet die Konzentration auf Einzellexeme als Ausgangspunkt der Analyse einen idealen Kompromiss. Um dieses Arbeiten anhand einer Analogie darzustellen: Man legt gewissermaßen eine große Menge von Texten vor sich aus wie einen Teppich und sucht dann nach sich wiederholenden Mustern. Und die deutlichsten und greifbarsten Muster sind hierbei die Einzellexeme. Sie lassen sich klar abgrenzen, beispielsweise auch mit computergestützten Korpusanalysen, wie einige der zitierten Aufsätze gezeigt haben, und je häufiger sie auftreten, desto naheliegender ist es, anzunehmen, dass sie für den Diskurs und das aus ihm hervorgehende Wissen repräsentativ sind. Mein methodischer Ansatz unterscheidet sich von den bisherigen Analysen nur in dem Aspekt, dass die textlinguistischen und pragmatischen Kategorien als vorstrukturierender Zwischenschritt einen Schwerpunkt der Textanalyse bilden sollen, bevor man sich im letzten Schritt wieder auf das Vorkommen einzelner Lexeme bezieht. Am einfachsten lässt sich dies verbildlichen, wenn man die Teppichanalogie wieder aufgreift: Breitet man die Texte vor sich aus und sucht dann unmittelbar nach Mustern in der Verwendung einzelner Lexeme, so bewegt man sich gewissermaßen im zweidimensionalen Raum. Mithilfe des hier vorgestellten Verfahrens sollen die ‚ausgebreiteten‘ Texte durch pragmatisch-textlinguistische Aspekte vorsortiert werden. Dabei werden bestimmte Textsorten, Texte oder Textteile hervorgehoben und gewichtet, sodass dieser Raum gleichermaßen zu einem dreidimensionalen erweitert wird. Texte liegen eben nicht im Diskurs gleichwertig nebeneinander, sondern es ist beispielsweise wichtig, ob es sich dabei um eine Rede Horst Köhlers oder den Tagebucheintrag eines Amoktäters handelt, und welche Ausschnitte aus solchen Texten durch die Presse in die guistik fehlen. Hausendorf / Kesselheim argumentieren in Bezug auf die Musterhaftigkeit von Texten: „Lektüre impliziert Lektürekontexte: Anlässe des Lesens, die uns nicht zum ersten Mal begegnen, sondern in ihrer pragmatischen Nützlichkeit aus unserer Lesesozialisation bekannt und vertraut sind. […] Das Wiedererkennen von Textsorten erlaubt es uns, sprachliche Erscheinungsformen als typische Lösungen wiederkehrender kommunikativer Problem- und Aufgabenstellungen wiederzuerkennen.“ (Hausendorf / Kesselheim 2008: 29).

364

Paul Reszke

Öffentlichkeit getragen werden. Ebenso ist offensichtlich, dass es einen Unterschied machen kann, ob ein Wort besonders häufig in Schlagzeilen und Titeln verwendet wird, selbst wenn es dann im folgenden Text wenig oder gar nicht mehr begegnet, also im gesamten Korpus nicht sehr frequent ist. Indem man also im Korpus eine Bewegung vom Text als funktionaler Struktur zum Einzellexem als semantischer Einheit vollzieht, erlangt man möglicherweise mit recht geringem Aufwand einen Zugriff auf Bedeutungsdynamiken, die einer Analyse mit dem Schwerpunkt auf Einzellexemen entgehen könnten.

2

Das Phänomen: Theoretische Begründung und Geschichte

2.1

Öffentliche Kommunikation als Problemlösungsstrategie

Das Phänomen der Schulamokläufe ist auf den ersten Blick kein genuin linguistisches Forschungsobjekt. Auf den zweiten Blick aber wird offenkundig, dass nahezu jegliches Wissen über Amokläufe an deutschen Schulen typischerweise medial – und damit nicht zuletzt auch sprachlich – vermittelt ist. Letztlich kann das über sehr viele Phänomene in einer modernen Mediengesellschaft gesagt werden, insofern gilt es zunächst zu zeigen, was das Besondere und Interessante an genau diesem Thema ist. Den Rahmen der Untersuchung bildet eine kulturbezogen und pragmatisch arbeitende Sprachwissenschaft. Eine ihrer zentralen Forschungsabsichten ist, wie bereits erwähnt, der Zugriff auf das gesellschaftliche Wissen, oder genauer: die Beschreibung derjenigen sprachlichen Prozesse, die etwas als ‚Wissen‘ greifbar machen, indem es zunächst sprachlich manifest wird, um dann erst für die Öffentlichkeit verhandelbar zu sein.5 Insofern sind nicht die Amokläufe das Thema, sondern das Reden darüber. Das Besondere am Reden über Schulamokläufe ist erstens, dass sie immer wieder als außergewöhnliche, unfassbare Ereignisse charakterisiert werden. Zweitens ist dies ein Thema, zu dem sich so gut wie jeder äußern kann, was vor allem am thematischen Teilaspekt der Schule liegt, mit der jeder auf die ein oder andere Weise zu tun hatte. Und drittens werden Amokläufe an Schulen gesamtgesellschaftlich als ein Phänomen wahrgenommen, das ohne Frage verhindert werden muss. Insofern ist dieses Thema eine Fundgrube für Sprachwissenschaftler, die sich mithilfe der Diskursanalyse nach Michel Foucault dem gesellschaftlichen Aushandeln von Wissen nähern wollen: Das Phänomen Schulamoklauf wird als außer5

Diesen Gedankengang als einen der zentralen der linguistischen Diskursanalyse legt Dietrich Busse immer wieder offen. Stellvertretend sei Busse 2005 genannt.

Vom Text zum einzelnen Wort

365

ordentlich schwierig zu handhabendes Problem perspektiviert, es wird in verschiedensten Textsorten immer wieder thematisiert, und in dieser Auseinandersetzung werden Zugänge, Erklärungs- und Lösungsmuster gefunden. Daran beteiligen sich Politiker, Experten für Psychologie, Kriminologie, Waffenrecht und Medien und nicht zuletzt die unmittelbar Betroffenen, aber auch der nur mittelbar betroffene Rest der Gesellschaft wie z.B. Elternverbände und Schützenvereine. Somit bildet die Kommunikation über Schulamokläufe einen vielschichtigen Diskurs, der nicht erst mit dem Amoklauf 2002 in Erfurt seinen Anfang nahm, sich aber doch von diesem Ereignis ausgehend in einer bestimmten Form herausgebildet hat, die seitdem einen permanenten Wandel durchläuft. 2.2

Ein kurzer Abriss der Geschichte der Schulamokläufe in Deutschland

Den Analysebeispielen soll ein kurzer Abriss der wichtigsten Schulamokläufe vorangestellt werden. Schließlich liegen die ersten, den Diskurs prägenden Amokläufe inzwischen über zehn Jahre zurück. Die Analysebeispiele lassen sich aber nur dann in aller Kürze darstellen, wenn sie in den zeitgeschichtlichen Kontext eingebettet werden können. School Shootings, wie der im US-amerikanischen Sprachgebrauch etablierte Ausdruck lautet, sind in Nordamerika im Gegensatz zu Deutschland bis kurz vor der Jahrtausendwende kein seltenes Phänomen. Als 1999 an der Columbine High School in Littleton, Colorado, allerdings gleich zwei Täter im Alter von 17 und 18 Jahren über zehn Menschen ermordeten und über zwanzig verletzten, wurde auch in Deutschland verhältnismäßig intensiv darüber berichtet. Einer der Gründe könnte eben die Tatsache sein, dass es zwei Täter waren und nicht wie sonst ein einzelner, sodass bestimmte Erklärungsmuster wie Einzelgängertum oder ein persönliches Rachemotiv eher unwahrscheinlich erschienen; dies soll hier aber nicht das Thema sein. Wichtig für den Amoklaufdiskurs bleibt diese Tat deshalb, weil sie in der öffentlichen Diskussion immer wieder als Vergleich oder gar als mitauslösendes ‚Vorbild‘ hinzugezogen wird, wenn in den folgenden Jahren in Deutschland Ähnliches geschieht. Der bereits erwähnte Amoklauf 2002 in Erfurt, bei dem der 19-jährige Robert Steinhäuser 16 Menschen tötet und dann sich selbst, gilt als erster – so heißt es immer wieder – „nach amerikanischem Vorbild“. Er wird in ganz Deutschland lange öffentlich diskutiert. Gleiches gilt für den letzten größeren Amoklauf 2009 in Winnenden, bei dem insgesamt 16 Menschen sterben, darunter der Täter Tim Kretschmer. Das große öffentliche Interesse wird deutlich, wenn man sich zum Beispiel vergegenwärtigt, dass der damalige Bundespräsi-

366

Paul Reszke

dent Horst Köhler bei einer Gedenkfeier ein Jahr nach dieser Tat eine Rede hielt, die bundesweit ausgestrahlt und von der Presse ausführlich diskutiert wurde.6 In diesem Zeitrahmen geschehen noch weitere mehr oder weniger opferreiche Gewalttaten an Schulen, die Teil des Diskurses werden, sodass alte Erklärungsmuster wieder aufgegriffen, teils revidiert und teils bestätigt werden: Nach einem Amoklauf wird das weitere gesellschaftliche Handeln in Bezug auf diese Art von Verbrechen durch die sprachlichen Aushandlungsprozesse strukturiert und geprägt, um dann von der nächsten Gewalttat auf die Probe gestellt und neu konfiguriert zu werden. Und genau diese Dynamik gilt es, greifbar zu machen, um zu zeigen, wie sich eine moderne Mediengesellschaft ein Problem sprachlich aneignet und es verarbeitet. Im Folgenden soll es also darum gehen, je ein Beispiel für zwei Analyseverfahren zu präsentieren, mit deren Hilfe man die Vielschichtigkeit und die Dynamik aus einem großen Textkorpus herausarbeiten kann.

3

Zwei Analysebeispiele

Zunächst soll die Struktur des untersuchten Korpus kurz dargelegt werden. Eine der grundlegenden Ideen, um es übersichtlich zu halten, ergibt sich daraus, dass die zentralen Ereignisse des Amoklaufdiskurses, die Amokläufe selbst, zeitlich einfach fixierbar sind. Insgesamt gab es in Deutschland vier öffentlich breit besprochene Schulamokläufe nach Littleton, nämlich am 26.04.2002 in Erfurt, am 20.11.2006 in Emsdetten, am 11.03.2009 in Winnenden und am 17.09.2009 in Ansbach. Ihnen folgte immer mindestens eine Woche intensiver Berichterstattung. So bildet die folgendermaßen strukturierte Auswahl an Texten den Grundstock meiner Analyse: Sämtliche Artikel einer Auswahl der Tagespresse aus der ersten Woche nach einem Amoklauf, die diesen in irgendeiner Weise thematisieren. Zu dieser Auswahl gehören die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die Süddeutsche Zeitung (SZ), die BILD-Zeitung (BILD) und die tageszeitung (taz). Somit besteht der Grundstock aus jeweils einer Woche Berichterstattung aus vier Tageszeitungen und bezogen auf jeweils vier Amokläufe. Wie aber bereits in Abschnitt 1 argumentiert wurde, finden sich in diesem Grundstock häufig Verweise auf vergangene Amokläufe und deren gesellschaftliche und politische Folgen. Diese Entwicklungen werden wiederum in Form von 6

Alle Reden aller Bundespräsidenten sind auf www.bundespraesident.de verfügbar. Die betreffende Rede findet sich hier: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/HorstKoehler/Reden/2010/03/20100311_Rede.html

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anderen Texten greifbar. So kann das Korpus dann vom Grundstock ausgehend im zweiten Schritt um wichtige Texte wie Reden von Politikern, Entschuldigungsbriefe der Eltern eines Täters oder Gerichtsurteile ergänzt werden. Der Amokläufer von Ansbach beispielsweise überlebte seine Tat schwer verletzt und stand danach vor Gericht, sodass Texte aus diesem juristischen Umfeld einbezogen werden können. Und seit Erfurt hat sich etabliert, dass sich die Eltern eines Täters der Öffentlichkeit gegenüber in Form eines offenen Briefes äußern. Die Relevanz dieser Texte begründet sich dann damit, dass sie im Grundstock der Pressetexte häufig Erwähnung finden, was an sich bereits eine Form der Diskursdynamik vor Augen führt. 3.1

Vorstrukturierung des Korpus durch Erstellung einer Übersicht von Titeln bzw. Überschriften

Das erste Analysebeispiel ist nur ein kleiner Ausschnitt aus diesem Grundstock, nämlich die erste Woche der Berichterstattung zum Erfurter Amoklauf, beschränkt auf die Deutschlandausgabe der Süddeutschen Zeitung. Darin finden sich in der ersten Woche 69 Artikel, die den Amoklauf von Erfurt in irgendeiner Weise thematisieren. Die Vielzahl der Artikel in nur einer Zeitung betont wieder einmal den hohen Diskussionsbedarf in Bezug auf dieses Thema. Hier soll die Vorstrukturierung eines Korpusausschnitts durch einen textfunktionalen Aspekt gezeigt werden. Es werden alle Titel bzw. Überschriften der 69 Artikel chronologisch sortiert und dann sozusagen als kleines Teilkorpus analysiert. Aus textlinguistischer Sicht lässt sich dies folgendermaßen begründen: Jeder Titel bzw. jede Überschrift hat in Pressetexten typischerweise die Funktion, auf das besprochene Thema hinzuweisen und/oder wenn das Thema als bekannt vorausgesetzt werden kann, anzuzeigen, welche neuen Informationen erwartet werden können bzw. welcher Teilaspekt hier genauer beleuchtet wird. Kurz zusammengefasst sind Titel also diejenigen Orte eines Textes, die sehr sensibel in Bezug darauf sind, was genau an Wissen in der Öffentlichkeit vorausgesetzt werden kann – oder kurz: Wegweiser im Diskurs.7 Hier können natürlich nicht alle 69 jeweiligen Titel und Untertitel aufgeführt werden, aber die Auswahl der folgenden fünfzehn ist für die weitere Argumen7

Hausendorf / Kesselheim behandeln ,Titel‘ unter anderem als „Abgrenzungs- und Gliederungshinweise“, „Themahinweise“, „Hinweise auf Textfunktionen“ sowie „Intertextualitätshinweise“ (Hausendorf / Kesselheim 2008: 46f., 105ff., 143ff. und 187ff.): „Der Titel selbst ist unschwer als Themaeinführungshinweis zu verstehen: Alles, worauf in einem Titel Bezug genommen wird, der ja die Ganzheit des Textes markiert, gerät unweigerlich in den Verdacht der Themarelevanz.“ (ebd., S. 105)

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tation notwendig. Sie stammen alle aus dem Zeitraum zwischen dem 27.04. und dem 03.05.2002: (1)

Auswahl an Titeln aus der SZ a) Blutbad in Erfurter Schule. 18 Tote bei Amoklauf in Gymnasium. Entlassener Schüler erschießt mit Pumpgun 14 Lehrer, zwei Mädchen und einen Polizisten. Der 19 Jahre alte Täter tötet sich selbst / Entsetzen über bisher beispielloses Verbrechen in Deutschland b) Amoklauf in Erfurt. Tatort Schule. Ein harter Kern der Schüler ist zunehmend gewaltbereit c) Die Bluttat im Gutenberg-Gymnasium. Politische Vorwürfe nach Erfurter Amoklauf. Beckstein wirft Bundesregierung „skandalöse Untätigkeit vor, weil gewaltverherrlichende Videos erlaubt sind“ d) „Bayern hat blockiert.“ Familienministerin Bergmann zum Vorwurf, Jugendliche nicht vor Gewaltdarstellungen zu schützen e) Amoklauf in Erfurt. Schützen im Visier. Schießsport gerät in Misskredit / Politiker fordern Verschärfung des Waffenrechts f) „Uns ist nichts aufgefallen.“ Im Schützenverein galt der Amokläufer als Durchschnittstyp g) Rituale der Gewalt. Das Kino ist schuld – argumentative Schnellschüsse nach Erfurt h) Reality Bytes. Computerspiele und die alte Macht neuer Bilder. i) Fünf Stunden sind kein Tag. Die Schulen sind überfordert und ohne sinnvollen Auftrag j) Waffenkontrolle zu Schulbeginn. In Deutschland wird nun über Sicherheitsvorkehrungen nach amerikanischem Vorbild diskutiert k) Immer ein schlechtes Gewissen. Die Zahl verhaltensauffälliger Kinder wächst viele Lehrer fühlen sich den Herausforderungen nicht mehr gewachsen l) „Es gibt Grenzen.“ Die Berichterstattung über den Amoklauf von Erfurt in deutschen Fernsehsendern m) Gasanschlag auf Schule gescheitert n) Medien weisen Schuld an Gewaltakten zurück o) Spezialeinsatzkräfte der Münchner Polizei nehmen drei Jugendliche fest. Schüler drohen mit neuen Amokläufen. Einer gilt als Trittbrettfahrer, doch die beiden anderen könnten ihre Drohung ernst gemeint haben

An dieser Auswahl lässt sich bereits eine Beobachtung über die Wissensdynamik der deutschen Mediengesellschaft aufzeigen, nämlich dass es üblich ist, verschiedene Positionen zu einer Thematik sprechen zu lassen. So findet man zur Frage danach, ob gewaltverherrlichende Medien ein Auslöser einer solchen Tat sein können, in den Überschriften d) und g) gegenteilige Meinungen: In d) kommt zum Ausdruck, dass Jugendliche vor Gewaltdarstellungen geschützt werden müssen,

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wodurch impliziert wird, dass sie ein potenzieller Auslöser sein könnten. In g) werden solche Argumentationen bildhaft als „Schnellschüsse“ bewertet. Beide Artikel stammen vom 30.04.2002. Die Frage, ob diese Art von Medien letztlich ein entscheidender Faktor bei Amokläufen ist, ist eine Frage der Psychologie und Soziologie. Sprachwissenschaftlich betrachtet lässt sich aber festhalten: Dieses Thema bleibt von nun an präsent bei jedem Schulamoklauf und insofern ist es definitiv Teil des gesellschaftlichen Wissens, dass gewaltverherrlichende Medien ein Auslöser sein können. Auf eine ähnliche Weise lassen sich auch andere Themen aus den 69 Artikeln und ihren Überschriften ableiten, die zentral für den Amoklaufdiskurs sind und für die nächsten Jahre bleiben werden. Alle diese Themen sind miteinander vernetzt, werden in einigen Artikeln nur angesprochen, in anderen als Hauptthema behandelt und im Laufe der Zeit lässt sich beobachten, wie sich die Gewichtung der Themen verändert. Mit der Verlagerung der Gewichtung einhergehend ändert sich auch die Perspektive auf Schulamokläufe, nicht nur im Sprechen darüber, sondern eben auch im Handeln der Gesellschaft.8 Die folgende Übersicht soll anhand der Belege aus (1) vorführen, wie die Themen zusammenhängen und sich auseinander heraus entwickeln. Den ersten und zentralen Themenkomplex bildet immer der Tathergang des jeweiligen Amoklaufs selbst, wofür Überschrift a) stellvertretend steht: I) Ablauf der Tat: der Täter, seine Motive, seine Waffen und seine Opfer Aus den Teilaspekten von I) ergeben sich zwei weitere charakteristische Themenkomplexe: II) Motive und Ursachen: das Schulsystem, gewaltverherrlichende Medien, die Psyche des Täters, sein Umfeld siehe b), c), d), f), g) und h) III) Waffengesetze und Schützenvereine e), f) und j) Aus den Teilaspekten des Schulsystems und der Waffengesetze ergeben sich wiederum folgende Themen, die das politische Handeln in den Fokus rücken:

8

Hierzu nur ein kurzes Beispiel anhand von zwei Überschriften aus dem gleichen Korpusausschnitt, in dem deutlich wird, wie der öffentliche Druck die Schützenvereine zum Handeln zwingt: SZ vom 30.04.2002: Sportschützen warnen vor Aktionismus. SZ vom 03.05.2002: Kurz gemeldet: DSB [Deutscher Schützenbund] verbietet Pumpguns. Die Pumpgun war eine der Tatwaffen Steinhäusers, wie aus Titel a) in Beleg (1) hervorgeht.

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IV) Reform des Schulsystems: Überlastung von Lehrern und Schülern i), j) und k) V) Politische und öffentliche Reaktionen und Konsequenzen: zusätzliche Finanzierungen für Schulen, Thematisierung im Wahlkampf und (potenzielle) Nachahmungstäter c), d) e), i), k), m) und o) Schließlich thematisieren sich auch die Medien selbst, was sich aus dem letzten Teilaspekt von V), den Nachahmungstaten, ergibt: VI) Selbstreflexion der Medien und ihrer Berichterstattung

l) und n)

All diese Themen begegnen in ähnlicher Form bei den zukünftigen Amokläufen erneut, denn jedes dieser Verbrechen wird mit den vorangegangenen verglichen. Insofern ließe sich die gesamte Entwicklung des Diskurses alleine an einer nach Chronologie, Quelle und spezifischer Textsorte sortierten Übersicht von Titeln bereits umfassend beschreiben. Mein Anliegen in diesem Beitrag ist aber auch, zu zeigen, dass sich die Analysen eines textfunktional vorstrukturierten Korpus an die Bedeutung prägnanter Einzellexeme rückbinden lassen. Dazu bietet es sich an, an den eben erwähnten Themenkomplex II) anzuknüpfen. Im Zuge der Berichterstattung zu einem Amoklauf am 20.11.2006 in Emsdetten fällt bei der Übersicht über die Titel die häufige Verwendung des Lexems „Verlierer“ auf. Hier der erste Beleg aus der SZ: (2)

SZ vom 22.11.2006, S. 13 Du Opfer! Sebastian B. und andere „Verlierer“ – ein Gespräch mit dem Soziologen Wilhelm Heitmeyer über einen heiklen Begriff

Die Bezeichnung „Verlierer“ in dieser Form des Gebrauchs gehört für gewöhnlich nicht in die Sprache des Journalismus. Die Abhebung durch Anführungszeichen zeigt, dass es sich um ein Zitat handeln muss. Das erste Auftreten dieser Bezeichnung in der SZ macht sofort deutlich, wie sie ihre Berechtigung und Prominenz erlangt hat: (3)

SZ vom 21.11.2006, S. 1, Auszug aus einem Artikel In einem Abschiedsbrief schreibt Sebastian B.: „Das einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich Verlierer bin.“ Er verabscheue Menschen, bekennt der 18 Jahre alte Jugendliche und schließt seinen Brief mit den Worten: „Ich bin weg.“

Vom Text zum einzelnen Wort

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Die Selbstcharakterisierung des Täters durch das Wort „Verlierer“ legitimiert den Gebrauch dieses Lexems und gibt ihm seine besondere Funktion, die es eine Zeit lang im Diskurs behalten wird. Diese besondere Funktion besteht darin, bestimmte Attribute, die Schulamokläufern immer wieder zugeschrieben werden, in sich zu vereinen. Zu solchen Attributen gehören ein Interesse für Waffen, eine zeitaufwändige Nutzung des Internets sowie eine tendenzielle soziale Isoliertheit und ein gewisses Maß an Erfolglosigkeit bei Schulleistungen.9 Gerade die letzten beiden lassen sich leicht an das Wort „Verlierer“ anbinden, weil es diese Bedeutungsdimensionen bereits durch seinen jugendsprachlichen Gebrauch in sich trägt, der im Titel in Beleg (2) in der Formulierung „Du Opfer!“ ebenfalls anklingt. Hierbei handelt es sich um die Lehnbedeutung aus der US-amerikanischen Jugendsprache, die vom Lexem „Loser“ auf das deutsche Pendant „Verlierer“ übertragen wird. Auch in solchen Phraseologismen wie „soziale Verlierer“ bzw. „Verlierer der Gesellschaft“ sind bereits ähnliche Bedeutungsdimensionen angelegt. Somit ermöglicht das Lexem „Verlierer“ die Verknüpfung verschiedener Themenkomplexe, die bisher typischerweise getrennt diskutiert worden sind, nämlich die Psyche des Täters und die Reform des Schulsystems. Stellvertretend dafür sollen einige Auszüge aus dem unter (2) zitierten Interview stehen: (4)

SZ vom 22.11.2006, S. 13 SZ: „Das einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin“, hat Sebastian B. geschrieben. Produziert die Schule Verlierer? […] SZ: Welche Rolle spielt die ökonomische Not? Sebastian B. war nicht arm... Heitmeyer: Nein, aber die Schule verteilt ja bereits die Lebenschancen. Und selbst bei Abiturienten gibt es ja keine zwingende Verbindung mehr zwischen Leistung und Jobchancen. SZ: Stehen junge Männer wie Sebastian B. für einen neuen sozialen Typus – den des Verlierers?

Die erwähnte besondere Funktion des Lexems „Verlierer“ ermöglicht also durch das Zusammenspiel aus seinen bereits gegebenen Bedeutungsdimensionen und 9

Zu den ersten drei Aspekten ein kurzer Beleg anhand eines Artikels aus der SZ vom 21.11.2006, S. 3. Der Titel lautet: Angreifer aus der Schattenwelt. Der 18-jährige galt als Computerfreak und Waffennarr – er kündigte im Internet ein Blutbad an und stürmte dann seine ehemalige Schule. Darin wird eine Schulfreundin B.s mit den Worten zitiert: Er habe eigentlich auch immer Freunde gehabt, bis vor einem Jahr, da habe er begonnen, sich abzusetzen. „Er ist nur noch allein auf dem Schulhof gewesen“, sagt sie. Der letzte Aspekt erschließt sich aus dem noch folgenden Beleg (4).

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der für die Gesellschaft markant wirkenden Selbstattribuierung des Täters eine Komplexitätsreduktion im Amoklaufdiskurs. Das Wort kann genutzt werden, um auf den ‚Typus‘ des (potenziellen) Amokläufers zu verweisen, auch wenn die Angemessenheit dieser Bezeichnung immer wieder hinterfragt oder als problematisch markiert wird. Dennoch bekommt ausgehend von diesen Diskussionen das gesamte Thema eine neue Dimension, die sich bereits in folgendem Interview andeutet: (5)

SZ vom 22.11.2006, S. 2 „Ein Vertrauter hätte ihn vielleicht aufhalten können“ – Der Psychologe Rudolf Egg über mögliche Motive des Täters, Versäumnisse der Gesellschaft und die Gefahren von Killerspielen […] SZ: Hätte man ihn aufhalten können? Er hat im Internet ja sogar in einem Forum einer Beratungsstelle Hilfe gesucht. Egg: Wenn er jemanden getroffen hätte, der ihm letztendlich Vertrauen gibt, der gewusst hätte, was mit ihm los ist, hätte er vielleicht aufgehalten werden können. Aber das ist im Nachhinein nur Spekulation. Offenbar hat er sich völlig seinen Eltern entzogen und ist ins Internet geflüchtet. Und keinem ist das richtig aufgefallen. Allgemein müssen sich daher Schulen, muss sich die Gesellschaft fragen, wie sie mit Verlierern umgeht. SZ: Auch der Erfurter Amokläufer, Robert Steinhäuser, fühlte sich als Verlierer. Egg:Ja, und Sebastian B. folgt erschreckend genau seinem Handlungsmuster. Man kann nicht ausschließen, dass er ihn heimlich für seine Tat bewundert hat. Dass der sich das getraut hat, hat ihm imponiert. Das hat auch mit der Berichterstattung über solche Fälle zu tun. [Hervorhebungen P. R.]

Die neue thematische Dimension lässt sich an den markierten Textstellen ablesen: Die Reichweite der Verantwortung für den Amoklauf wird erweitert auf die ganze Gesellschaft. Waren es vorher der Täter selbst, seine Eltern oder eben auch die Schule, rücken nun nach und nach Themen wie die Verantwortung der Gesellschaft sowie ihre ‚soziale Kälte‘ als Auslöser in den Vordergrund. Diese Erweiterung geht einher mit der Erweiterung, die der Gebrauch des Wortes „Verlierer“ erfährt: Im zitierten Ausschnitt wird deutlich, wie selbstverständlich seine Verwendung zwischen der Selbstcharakterisierung Sebastian B.s, der Bedeutung des ‚sozialen Verlierers‘ und der Beschreibung des Amokläufer-‚Typus‘ fluktuiert. Dass die gesellschaftliche Verantwortung nun in den Fokus rückt, ist naheliegend, rückt doch das Wort „Verlierer“ diejenigen Attribute des ‚typischen Amokläufers‘ in den Vordergrund, auf die die Gesellschaft direkten Einfluss hat, nämlich die soziale Anerkennung und den Erfolg in der Schule, im Gegensatz

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zum individuell ausgeprägten Interesse an Internet und Waffen. Diese Schwerpunktverlagerung prägt seitdem den Diskurs zunehmend und kulminiert beispielsweise in der bereits erwähnten Rede Horst Köhlers etwa dreieinhalb Jahre später, in der er von der Gesellschaft fordert, sie solle „Einstehen füreinander“ – so lautete der Titel der Rede. Ähnliche Beobachtungen an anderem Sprachmaterial, anderen Einzellexemen wie an den von ‚Verlierer‘ abgelösten Bezeichnungen ‚Computerfreak‘ und ‚Waffennarr‘, würden diese Erkenntnisse noch zusätzlich stützen. Hier sollte lediglich gezeigt werden, dass man über eine textnahe Analyse eines textlinguistisch vorstrukturierten Korpus – in diesem Fall die Titel von 69 Zeitungsartikeln – recht schnell auf einige derjenigen Prozesse Zugriff erlangt, die in der Gesellschaft Wissen strukturieren. 3.2

Entstehung und Funktion der Textsorte Chronik im Schulamoklaufdiskurs

Bei der Beschreibung der Vorstrukturierung des Korpus in Abschnitt 3 wurde noch nicht auf die Funktion der Kategorisierung der Pressetexte nach ihrer Textsorte hingewiesen. Die typischen Textsorten, in denen ein Amoklauf besprochen wird, sind Berichte, Reportagen und Interviews. Im Laufe der Zeit etabliert sich aber eine bis dahin im Diskurs nicht begegnende Textsorte, die Chronik, in Form von eigenständigen Texten. Verfolgt man ihre Entwicklung nach, lassen sich einige Beobachtungen über die Strukturierung des gesellschaftlichen Wissens machen. Der Ausgangspunkt ist ein Beispiel aus der SZ unmittelbar nach dem Erfurter Amoklauf. Es handelt sich um den ersten Bericht auf Seite 1, dessen Titel sich in Beleg (1) a) findet. Der Artikel beginnt mit einer etwa anderthalb von zwei Spalten einnehmenden Schilderung des bisher bekannten Tathergangs. Das letzte Viertel des Textes wird eingeleitet durch die folgende Zwischenüberschrift: (6)

SZ vom 27.04.2002, S. 1, Auszug aus einem Artikel Rache als Motiv […] In Deutschland sorgten mehrere Amokläufer in Schulen für Schlagzeilen: Am 19. Februar 2002 tötete in einer Berufsschule im oberbayerischen Freising ein 22-jähriger den Direktor und verletzte einen Lehrer schwer. […] Als Motiv gelten Rache und Hass. Am 16. März 2000 schoß ein 16-jähriger Schüler dem Leiter der Anstalt in den Kopf und fügte sich dann selbst schwere Verletzungen zu. […] Grund für die Tat war der Verweis von seinem Realschulinternat in Brannenburg (Bayern) einen Tag zuvor.

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Paul Reszke Am 21. Februar 2000 wurde in Müncheberg in Brandenburg eine 16-jährige Gymnasiastin festgenommen. Sie soll ein Handgranaten-Massaker an ihrer Schule geplant haben.

Es folgt die Beschreibung zweier ähnlicher Gewalttaten im Raum ‚Schule‘. Im Titel des Artikels wurde Robert Steinhäuser als „entlassener Schüler“ bezeichnet. Somit entsteht zwischen den hier aufgeführten fünf Taten eine Vernetzung mit dem aktuellen Amoklauf, thematisch verbunden durch die Zwischenüberschrift „Rache als Motiv“. Ob Rache das Motiv Steinhäusers war, war zu diesem Zeitpunkt unklar. Folgt man den Argumenten der meisten Experten aus der Psychologie oder Kriminologie, so ist die Motivation eines Schulamokläufers nicht monokausal erklärbar, z.B. als Rache für einen konkreten Sachverhalt wie einen Schulverweis.10 Aber ähnlich wie schon bei der Frage nach dem Einfluss gewaltverherrlichender Medien gehört diese Einschätzung nicht zu der Expertise eines Sprachwissenschaftlers. Viel wichtiger ist hier die Feststellung, dass erstens ein Motiv vorausgesetzt wird und dass dies zweitens auf der Basis eines Vergleichs mit anderen Verbrechen geschieht – also auf der Basis einer Chronik, die noch nicht so heißt und auch noch keinen eigenen Text darstellt. Die Auswahl der zum Vergleich hinzugezogenen Taten legt eine bestimmte Perspektive auf den Erfurter Amoklauf nahe, und es zeigt sich im Laufe des Diskurses, dass sich diese Art, wie eine Perspektivierung erzeugt wird, bewährt: Nach jedem Amoklauf in der Folge Erfurts wird im Rahmen der Berichterstattung eine Chronik erstellt, die bestimmte Taten mit dem jeweils aktuellen Verbrechen verknüpft. Hier soll eine Chronik als Beispiel dienen, die nach dem Amoklauf 2009 in Winnenden veröffentlicht wurde. Zitiert werden der Titel und die Einleitung sowie der erste und fünfte Eintrag: (7)

SZ vom 13.03.2009, S. 30 Eine ganze Reihe von Gewalttaten

10

Eine gute Übersicht über Erklärungsansätze für School Shootings bietet die vom Institut für Kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg betreute Online-Enzyklopädie für kriminologisches Fachwissen „Krimpedia“: http://www.kriminologie.unihamburg.de/wiki/index.php/School_Shooting Eine dort zitierte Metastudie zeigt in Bezug auf Schulamokläufer „kein eindeutiges Profil hinsichtlich ethnischer, regionaler und sozialer Hintergründe, sowie hinsichtlich der familiären Verhältnisse und der Häufigkeit der sozialen Kontakte. Auch die schulischen Leistungen und die Veränderungen schulischer Leistung wiesen keine signifikanten Merkmale […] auf.“

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Mehrmals ist es in den vergangenen zehn Jahren in Bayern zu Amokläufen beziehungsweise bewaffneten Übergriffen von jungen Menschen gekommen. Allein 2008 gab es nach Auskunft des Innenministeriums 33 Drohungen von Gewalttaten in Schulen. Am 1. November 1999 schießt ein 16-jähriger Lehrling in Bad Reichenhall aus dem Fenster der elterlichen Wohnung auf alles, was sich bewegt. Er tötet seine ältere Schwester, zwei Nachbarn und einen 59-jährigen, der vor dem gegenüberliegenden Krankenhaus eine Zigarette rauchen wollte. Der Schütze tötet sich anschließend selbst. [...] Am 2. Juli 2003 schießt ein 16 Jahre alter Realschüler während des Unterrichts auf seine Klassenlehrerin und verletzt anschließend eine Schulpsychologin. Danach tötet sich der Jugendliche selbst.

Unabhängig von der SZ-spezifischen Fokussierung auf Bayern findet man hier zwei typische Merkmale des späteren Amoklaufdiskurses: Die Täter sind junge Männer, das Motiv wird in einer Textsorte wie der Chronik, wo es nur sehr knapp geschehen könnte, nicht thematisiert. Wenn doch über Motive gesprochen wird, dann ausführlich und differenzierter in Experteninterviews. Kommen darin knappe Formulierungen vor, dann meist in einer sehr offenen Form wie Rache an der ganzen Welt – die Überschrift eines Interviews mit einer Kriminologin aus der SZ vom 12.03.2009. Monokausal ausgerichtete Erklärungen begegnen nur noch selten, ganz im Gegensatz zu der Zeit nach Erfurt: Tödliche Handlungsmuster. Du sollst dir kein Bildnis machen: Brutale Filme und Videospiele liefern die Blaupause für Amokläufe und sollten deshalb verboten werden – der Titel eines Artikels von einem Erziehungswissenschaftler in der SZ vom 02.05.2002. Andererseits werden 2009 Äußerungen jener sehr unspezifischen Art oft auch von anderer Seite als diffus und damit nicht zielführend kritisiert: Die Stunde der Sterndeuter – SZ vom 14.03.2009.11 Aus 1.) Beobachtungen an der Textsorte Chronik und 2.) durch das aus 3.1 bekannte Verfahren, die Themenentfaltung anhand der chronologischen Sortierung der Titel nachzuzeichnen, lässt sich definitiv Folgendes festhalten: Der Diskurs hat (spätestens) 2009 zwei neue thematische Dimensionen erlangt, nämlich die differenziertere Auseinandersetzung mit der 11

Der folgende Auszug aus dem Artikel beinhaltet viele bereits angesprochene thematische Tendenzen: Mangels Fakten hat nun die große Stunde der -ologen diverser Fachrichtungen geschlagen – der Psychologen und Kriminologen, der Talkshow-Experten, Sterndeuter und Konsequenzenforderer. Seit Mittwoch verbreiten sie auf allen Kanälen pausenlos ihre Mutmaßungen über den Täter und dessen Beweggründe. Vielleicht war ja der Vater schuld, oder waren es die Klassenkameraden, die ihn gehänselt haben? War es die Schule? Hatte er ein Problem mit den Mädchen? Oder trägt doch die gesamte Gesellschaft Verantwortung, so roh und unmenschlich, wie sie angeblich geworden ist?

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Frage nach dem Motiv eines Amokläufers und die kritische Reflexion des Status der ‚Experten‘. Man kann also auch durch die Betrachtung der verwendeten Textsorten und ihrer Funktionen Zugriff auf die Strukturierungsprozesse des gesellschaftlichen Wissens erlangen, denn schließlich sind diese Textsorten nichts anderes als komplexe Problemlösungsmuster einer durch die Schriftkultur geprägten Gesellschaft. Aber auch hier soll die Rückbindung an für einen Diskurs zentrale Einzellexeme nicht fehlen, in diesem Fall an das Lexem „Amoklauf“ selbst. Dazu ein Blick zurück in die Zeit vor Erfurt, als sich die Chronik noch nicht als eigene Textsorte etabliert hatte. Gegenstand soll der in Textbeleg (7) als erstes erwähnte Amoklauf sein. Ähnlich wie in Textbeleg (6) wird zunächst der Tathergang erläutert, um danach andere Taten zum Vergleich heranzuziehen. Die hier nun zitierte implizite Chronik nimmt sogar über die Hälfte des Gesamtartikels ein. Ich beschränke mich deshalb auf die ersten drei Taten von acht: (8)

SZ vom 02.11.1999, S. 40 Immer wieder sterben Menschen in Deutschland im Kugelhagel oder durch Messerstiche eines Amokläufers. Die schlimmsten Fälle in den 90er Jahren waren: Am 30. August 1992 erschießt ein eifersüchtiger 51-jähriger in Arendsee (SachsenAnhalt) zwei Nachbarn, zu denen seine Ehefrau geflüchtet war. Dann fährt er ins benachbarte Wustrow (Niedersachsen) und fügt dem Nebenbuhler lebensgefährliche Verletzungen zu. Ein Jahr später, am 31. August 1993, richtet ein 37-jähriger Albaner in Dortmund aus ungeklärten Gründen ein Blutbad in einer Kneipe an. […] Am 9. März 1994 tötet ein Heiz- und Kesselwerker mit Pistolenkugeln und einem Sprengsatz in einem Gerichtssaal in Euskirchen bei Bonn sechs Menschen – unter ihnen seine Freundin und der Richter – und verletzt mindestens sechs zum Teil schwer.

Zu den anderen fünf Tätern zählen unter anderem ein betrunkener Discobesucher, ein Vergewaltiger auf der Flucht vor der Polizei und ein weiterer eifersüchtiger Ehemann. Es ist nicht vorstellbar, dass heute eine dieser Taten in einer Chronik mit den Amokläufern von Erfurt, Emsdetten oder Winnenden auftauchen würde; der Schulamoklauf ist der ‚typische‘ Amoklauf geworden. Die Verwendung des Wortes „Amoklauf“ und der Wandel der Bedeutung lassen sich also relativ unproblematisch anhand einer Zusammenstellung aller Chroniken oder chronikähnlicher Textteile nachzeichnen. So könnte man eine Übersicht aller sprachlich greifbaren Merkmale der Verwendungen des Wortes „Amoklauf“ erstellen. Hierbei scheint mir allerdings ein merkmalsemantischer Zugang nicht differenziert genug, adäquater wäre hingegen das Konzept der Familienähnlichkeit nach Wittgenstein (Wittgenstein 1984: 277f.): „Wir sehen ein

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kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.“ Die Kompliziertheit des Netzes dürfte in Grenzen gehalten werden können. Man könnte für jeden der vier breiter diskutierten Schulamokläufe in Deutschland eine Übersicht der in den jeweiligen Chroniken erwähnten Merkmale erstellen und diese dann diachron miteinander vergleichen. So wird der Bedeutungswandel von „Amoklauf“ greifbar. Mit diesem Verfahren würden für die gegenwärtigen Chroniken wohl folgende Merkmale in den Vordergrund rücken, wobei eine umfassende Analyse zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorgelegt werden kann: -

der Täter ist ein jugendlicher Mann der Tatort ist die Schule die Tatwaffe ist eine Schusswaffe der Täter hat die Absicht, beim Amoklauf zu sterben das Motiv ist Rache an der Gesellschaft, wofür die Schule stellvertretend steht

Bei all dem geht es lediglich um eine Analyse des Sprachgebrauchs, nicht um die Frage, was ein Amoklauf ist. Da nach Wittgenstein keines der Merkmale in einem Netz der Familienähnlichkeiten ein Alleinstellungsmerkmal für das bezeichnete Phänomen darstellt, fallen keine Amokläufe aus dem Raster. Es stellt also keinen Widerspruch dar, dass in Textbeleg (6) eine weibliche Täterin erwähnt wird, die zudem nicht erfolgreich war. Vielmehr ist interessant, dass sie in den späteren Chroniken nicht mehr erwähnt wird. Diese kurze Darstellung meines Vorgehens verdeutlicht also, dass das Lexem „Amoklauf“ erst mit Erfurt die semantischen Konturen annimmt, die für uns heute so selbstverständlich sind. Und vergegenwärtigt man sich noch einmal die Chronik von Bad Reichenhall (8) im Gegensatz zu denjenigen von Erfurt (6) und Winnenden (7), so ist es offensichtlich, dass die Gesellschaft erst nach Erfurt diese Form der durch Jugendliche ausgeübten Gewalt als ein eigenes Phänomen sprachlich erfasst und nach dafür spezifischen Lösungsansätzen zu suchen beginnt. Auch hier erlaubt eine textlinguistische Vorstrukturierung des Korpus also einen Zugang zur Struktur des gesellschaftlichen Wissens.

4

Zusammenfassung und Fazit

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal an die in Abschnitt 1 formulierte methodische Fragestellung erinnern: Wie kann man sich

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1.) über einen komplexen Diskurs Übersicht verschaffen, 2.) eine Analyse durchführen, die möglichst adäquat diese Komplexität wiedergibt und 3.) Schlussfolgerungen über die Wissensgenerierung in unserer Gesellschaft zulässt? Zu 1.): Das Korpus wurde vor der Analyse mithilfe von textlinguistischen Aspekten vorstrukturiert, die diskurssemantische Fragen zunächst vom Gesamttext statt vom Einzellexem her beleuchten. Die verwendeten Aspekte waren:12 -

die Textsorte und ihre Funktion (z.B. Chronik, Interview) makrostrukturelle Aspekte (z.B. Titel und Zwischenüberschriften) der pragmatische Rahmen: Status des Autors für den Diskurs (z.B. Bundespräsident, Amokläufer), Quelle (z.B. SZ), chronologische Abfolge.

So kann ein komplexer Diskurs bereits in seiner Vielschichtigkeit abgebildet werden, denn die Relationen zwischen den so entstehenden Teilkorpora lassen sich funktional beschreiben. Dies wurde am Beispiel der Chronik sichtbar. Die Vorstrukturierung ermöglichte es zusätzlich, Analysen auf der einzellexematischen Ebene mit den pragmatisch-funktionalen Dimensionen der Texte zu vernetzen. Einzellexeme spielen für die Themenentfaltung im Diskurs nicht nur eine Rolle, wenn sie frequent sind, sondern auch, wenn sie verstärkt in hervorgehobenen Textstrukturen wie Titeln oder Zitaten wichtiger Diskursakteure genutzt werden. Zu 2.): Die semantische Charakterisierung von Einzellexemen wie „Verlierer“ oder „Amoklauf“ lässt sich gut in eine Analyse des Gesamtdiskurses integrieren: Welche Themenschwerpunkte ergeben sich aus der Verwendung dieser Wörter, wie wirkt die Aushandlung dieser Themen auf den Gebrauch dieser Einzellexeme zurück? Was gilt z.B. wann als ‚Amoklauf‘? Wie verlagert das Lexem „Verlierer“ den thematischen Fokus auf gesamtgesellschaftliche Aspekte des Phänomens ‚Amoklauf‘? So wird die Dynamik des Diskurses sowohl im Einzelnen als auch insgesamt in ihrer zeitlichen Entwicklung nachvollziehbar. Zu 3.): Dass die Bedeutung eines Einzellexems permanent im Wandel ist, erschwert die Beschreibung, macht sie aber auch interessant. Textfunktionale Aspekte hingegen sind im Verhältnis dazu relativ stabil. Fragen wie Was bewirkt ein Titel? oder Was bewirkt eine Chronik? sind recht klar zu beantworten: Der Titel ist – kurz gesagt – ein ‚Wegweiser‘ im Diskurs, die Chronik stellt Einzelereignisse in eine Reihe und legt damit fest, dass sie vergleichbar sind. 12

Die hier ausgewählten Analysegrößen orientieren sich am textsemantischen Analyseraster von Andreas Gardt, zuletzt publiziert in Gardt 2013, S. 44ff.

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Textsortenwissen ist bereits gesellschaftliches Wissen. Beobachtungen über die Verwendung einzelner, wichtiger Lexeme daran anzuknüpfen ergibt also geradezu selbstverständlich Erkenntnisse über die Wissensdynamik eines Diskurses. Dies sollten die Analysebeispiele in ihrem Zusammenspiel belegen.

5

Literatur

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Ágnes Sántáné-Túri Szeged

Substantivvalenz auf Textebene. Vorüberlegungen zu einer empirischen Untersuchung

Abstract Im vorliegenden Beitrag gehe ich davon aus, dass Substantive in ihren Valenzeigenschaften selbständig zu beschreiben sind und auch nicht-abgeleitete Substantive über Valenz verfügen können. Substantivkomplemente wurden bisher in der Forschung meistens nur phrasen- und satzintern untersucht, ihren Realisierungsformen außerhalb des Satzes hat man allerdings kaum Aufmerksamkeit geschenkt (als wichtige Ausnahmen vgl. v.a. Hölzner 2007 und Bassola / Bernáth 1998). Das zentrale Anliegen meines Beitrags ist es, Vorüberlegungen zur empirischen Untersuchung der Substantivvalenz auf den verschiedenen Realisierungsebenen, darunter auf der bisher vernachlässigten Textebene zu formulieren. Ich bemühe mich darum, Kriterien zur Unterscheidung zwischen Komplementen und Supplementen zu finden, was im Bereich der Substantivvalenz vielleicht noch problematischer ist als im Falle von verbalen Valenzträgern. Dabei kann der Auffassung zugestimmt werden, wonach die Valenz im Allgemeinen als multidimensionales Phänomen betrachtet werden soll (vgl. u.a. Jacobs 2003). Hier wird gezeigt, was für Valenzbeziehungen bei valenten Substantiven anzunehmen und wie sie bei der Unterscheidung von Komplementen und Supplementen zu gewichten sind.

1

Einleitung

Seitdem die Idee der Valenz von Tesnière in die linguistische Forschung eingeführt wurde, haben sich zahlreiche Auffassungen und dementsprechend zahlreiche Definitionen dieses Phänomens entwickelt. Zifonun (2003) gibt einen schönen Überblick der Grundkonzepte in der Valenzforschung, wodurch die Vielfältigkeit der Herangehensweisen bei der Beschreibung von Valenz deutlich wird. An dieser Stelle sollen die verschiedenen Konzepte nicht einzeln thematisiert werden, vielmehr soll von einer allgemein bekannten Definition von Valenz ausgehend gezeigt werden, warum und wie die Grenzen des in linguistischen Einführungskursen oft zitierten Valenzbegriffs im Rahmen der vorliegenden Untersuchung

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der Substantivvalenz erweitert werden. Gehen wir also von der folgenden Grunddefinition aus: Valenz ist die Fähigkeit eines Lexems (z.B. eines Verbs, Adjektivs, Substantivs), seine syntaktischen Umgebungen vorzustrukturieren, indem es anderen Konstituenten im Satz Bedingungen bezüglich ihrer grammatischen Eigenschaften auferlegt (Bußmann 1990: 824).

Diese Begriffserklärung passt deshalb zur Konzeption der vorliegenden Arbeit, weil darin Valenz als die Fähigkeit, die sprachliche Umgebung vorzustrukturieren, nicht nur der Wortart Verb zugeschrieben wird. Die Einschränkung ihres Geltungsbereichs auf die Ebene des Satzes und die Beeinflussung ausschließlich der grammatischen Eigenschaften der valenziell abhängigen Elemente wird jedoch bei der vorliegenden Untersuchung aufgegeben. Wie und warum es erfolgt, wird Schritt für Schritt und – aus dem explorativen Charakter dieses Beitrags resultierend – z.T. nicht ohne die Formulierung weiterer offener Fragen beantwortet. Bevor ich mich der detaillierten Schilderung der Eigenschaften der Substantivvalenz zuwende, müssen noch zwei Grundbegriffe der Valenztheorie kurz angesprochen werden, die durch die Überlegungen der späteren Punkte noch deutlich verfeinert werden. Es sind die valenzbedingten und nicht valenzbedingten Erweiterungen eines Valenzträgers. Die Unterscheidung der beiden Typen ist eine der Gretchenfragen der Valenztheorie, die von Anfang an heiß diskutiert wurde. Das zeigt auch die Vielfältigkeit der Termini, mit denen die beiden Erscheinungen bezeichnet werden. Bei Storrer (2003: 766) werden mehrere verbreitete Varianten dieses Begriffspaares in einer Tabelle dargestellt: actants Ergänzungen Aktanten Mitspieler Valenzpartner Komplemente Argumente (engl.) complement (engl.) argument

circonstants Angaben Zirkumstanten Umstandsbestimmungen (freie) Angaben Supplemente Adjunkte (engl.) supplement (engl.) adjunct

Tab. 1 Terminologische Varianten für valenzbedingte und nicht-valenzbedingte Elemente (Die Tabelle stammt von Storrer 2003: 766 Tab. 54.1.) In meiner Arbeit verwende ich die Begriffe Komplement (für valenzbedingte Elemente) und Supplement (für nicht valenzbedingte Elemente), wobei ich mich

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darum bemühen werde, sie mit Hilfe von differenzierenden Kriterien so genau wie möglich zu definieren und voneinander abzugrenzen.

2

Interpretationen der Substantivvalenz

Die Substantivvalenz wird in der Valenztheorie sehr kontrovers beurteilt. Nach Teubert (2003: 827ff.) gibt es in der linguistischen Forschung drei Ansätze hinsichtlich der Beurteilung der Substantivvalenz. Der erste Ansatz, der sich von den beiden anderen deutlicher unterscheidet, wird als Nominalisierungsansatz bezeichnet. Dieser Ansatz hat sich als erste Interpretationsweise schon in der Anfangsphase der Substantivvalenzforschung entwickelt und wird v.a. in der generativen Grammatik auch heute noch vertreten (vgl. Teubert 2003: 827ff.). Nach dieser Auffassung wird nur den Nominalisierungen syntaktische Valenz zugeschrieben und die Valenzstruktur eines solchen Substantivs wird als regelhafte Übertragung der Valenzstruktur des Basisverbs beschrieben, auch wenn so die Beschreibung der Valenzstruktur vieler Substantive, darunter auch einiger Nominalisierungen sich als problematisch erweist.1 Eine andere Deutungsweise der Substantivvalenz stellt der sog. Stützverbgefüge-Ansatz dar. Diese Theorie basiert auf die Beobachtung, dass Substantive, die in Funktionsverbgefügen vorkommen, auch als selbstständige Substantive dieselben Konstruktionen aufweisen wie in den Verbindungen mit Funktionsverben. Demnach wäre also die Valenz eines Substantivs aus entsprechenden Funktionsverbgefügen zu erklären (vgl. Teubert 2003: 829f.). Den dritten Ansatz stellt die sui-generis-Auffassung des Substantivvalenzsystems dar (vgl. Teubert 2003: 830). Bei dieser Interpretation wird davon ausgegangen, dass die Valenzpotenz ein selbständiges und kein von der verbalen oder adjektivischen Valenz stammendes Merkmal der Wortklasse Substantiv ist. Ich bin der Meinung, dass die beiden letzten Ansätze eine nahe Verwandtschaft miteinander aufweisen. Für diese enge Verbindung der beiden Theorien scheint mir die folgende Feststellung von Stein (1996: 200) zu sprechen, der dem Stützverbgefüge-Ansatz nahesteht: Bei den Substantiven hat sich gezeigt, dass es nicht ausreicht, diejenigen Rollen zu beschreiben, die bei isolierter Verwendung des Substantivs syntaktisch realisierbar sind, da auch latente Argumente aus dem zugrunde liegenden Verb in Verb-Substantiv-Verbindungen relevant werden können. 1

Zu den einzelnen Problemen bei der Beschreibung der Substantivvalenz mit Hilfe dieses Ansatzes vgl. Teubert (2003: 827ff.).

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Diese Argumentation legt die Vermutung nahe, dass bei dem Substantiv die „nichtlatenten“ Argumente zum Substantiv selbst gehören und so das Substantiv – zumindest teilweise – über eigene Valenz verfügt. Auch das spricht für die Kompatibilität der beiden Auffassungen, dass im Deutsch-ungarischen Wörterbuch zur Substantivvalenz (Bassola et al. 2003 und 2012), in dem die Autoren die Substantivvalenz als ein System sui generis betrachten, „als Ausgangsbasis für die Eruierung der Valenzen auf Konstruktionen mit ‚Stützverb‘ – ‚verbe support‘ und dem betreffenden Substantiv zurückgegriffen“ wird (Bassola / Kubczak / László 2003: 179). Durch die enge Verbindung der beiden letzten Deutungen lässt sich die Zahl der Grundideen der Interpretationsweisen der Substantivvalenz – meines Erachtens – auf zwei reduzieren: Entweder wird sie als ein vererbtes Phänomen oder als ein (zumindest zum Teil) selbständiges System betrachtet. An dieser Stelle fasse ich kurz zusammen, wie ich die Substantivvalenz interpretiere. Ich gehe davon aus, dass auch bei Substantiven eine „selbstständige“ (d.h. nicht aus Ableitung resultierende) Valenz angenommen werden kann. Als Belege dafür stehen zahlreiche Beispiele für nicht-abgeleitete valente Substantive, wie z.B. Idee oder Ziel2. Darüber hinaus gibt es auch zahlreiche deverbale und deadjektivische Substantive, die ihre Argumentstruktur von ihrem Basiswort geerbt haben. Aber selbst bei ihnen kann es spezielle Einschränkungen geben. So kann zum Beispiel unter den Komplementen des abgeleiteten Substantivs Geschenk das Akkusativkomplement des Basisverbs schenken keine Entsprechung haben, da dieses Komplement eigentlich durch das Substantiv selbst ausgedrückt wird: jd schenkt jdm etw aus einem Anlass → jds Geschenk an jdn aus einem Anlass. Außerdem ist die Form der Valenzrealisierungen bei abgeleiteten valenten Substantiven nicht (immer) mit einfachen Transformationsregeln zu erklären (s. dazu Kubczak / Constantino 1998: 69f.), vgl. u.a. die folgenden Beispiele: jd liebt jdn → jds Liebe zu jdm, jd vernachlässigt jdn → die Vernachlässigung + Gen./von + Dat., jd lädt jdn ein → jds Einladung an jdn.

Bei den Basisverben finden wir in den obigen Beispielen immer ein Akkusativkomplement, dessen Entsprechung bei den drei abgeleiteten Substantiven sprachlich je anders realisiert wird. Diese Einschränkungen und diese idiosynkratische Art der Argumentrealisierung verleihen auch dieser „abgeleiteten Substantivvalenz“ einen speziellen Charakter. So bin ich der Meinung, dass die Substantiv2

Hier sei nur je ein Beispiel für eine Komplementrealisierung bei den betreffenden Substantiven angegeben: die Idee, etw. zu tun; jmds Ziel. Zu den weiteren Komplementrealisierungsformen vgl. z.B. Bassola et al. 2012.

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valenz im Grunde genommen als ein System sui generis zu betrachten ist, in dem aber an mehreren Punkten verbale und adjektivische „Erbschaften“ eine mitbestimmende Rolle haben. Ein ähnlicher Gedanke ist auch bei Teubert (2003: 830), einem der Vertreter der sui-generis-Auffassung zu entdecken, indem er Folgendes feststellt: „Die Substantivvalenz als eigenständiges System zu beschreiben, bedeutet nicht, die Augen vor den offensichtlichen Analogien und Entsprechungen zur Valenz der Verben und Adjektive zu verschließen“.

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Auf dem Weg zu einem eigenen multidimensionalen Konzept zur Beschreibung der Substantivvalenz

Multidimensionale Valenzmodelle sind solche polykriteriale Valenzkonzepte, die „von der Existenz mehrerer zumindest partiell voneinander unabhängiger Valenzrelationen aus[gehen]“ (Zifonun 2003: 369). Die folgenden Darstellungen und Überlegungen sollen dazu dienen, ein eigenes multidimensionales Konzept zur Beschreibung der Substantivvalenz zu entwickeln. Hier wird aber nicht der Anspruch erhoben, ein komplettes Kriteriensystem aufzustellen, vielmehr sollen die wichtigsten Grundgedanken eines später auch durch gründliche und ausgedehnte Korpusanalysen verfeinerten und vervollkommneten Modells präsentiert werden. Dementsprechend werden die referierten Konzepte nicht in all ihren Details behandelt, sondern aus der Sicht des zu entwickelnden eigenen Modells reflektiert. 3.1

Erste Grundgedanken

Ein treffendes Beispiel für ein multidimensionales Konzept stellt die Valenzbeschreibung der GDS (1997: 1030f.) dar, dessen Basis die Annahme darstellt, dass unter den Valenzrelationen sowohl morphosyntaktische, als auch semantische oder semantisch-pragmatische betrachtet werden müssen. Die morphosyntaktischen Valenzrelationen werden von den Verfassern Formrelationen, die semantischen oder semantisch-pragmatischen Bedeutungsrelationen genannt. Die große Zweiteilung der Valenzrelationen entspricht in ihrem Grundgedanken der bei Jacobs (2003), wo die KR- und SR-Valenzebene (kategoriale und semantische Valenzebene) voneinander unterschieden werden.3 3

Bei Jacobs (2003: 390ff.) wird die Ansicht vertreten, dass die Dimensionen innerhalb der beiden Ebenen voneinander unabhängig sind. Sie können zwar in bestimmten Fällen zusammenhängen, aber sie müssen es nicht. Nach der GDS (1997: vgl. z.B. 1039) werden

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Zu den Formrelationen werden im verbalen Bereich (vgl. GDS 1997: 1031ff.) die Fixiertheit, die Rektion, die Konstanz und der Kasustransfer gerechnet, von denen die Konstanz und der Kasustransfer sich nur auf bestimmte Erweiterungen beziehen, die in Form von Präpositionalphrasen ausgedrückt werden. Unter den Bedeutungsrelationen betrachten die Verfasser die Sachverhaltsbeteiligung, die Perspektivierung, die Sachverhaltskontextualisierung und die autonome Kodierung (vgl. GDS 1997: 1038ff.). An dieser Stelle betrachte ich die einzelnen Relationen nicht detaillierter, stattdessen gehe ich auf weitere, allgemeinere Aussagen ein, die aus der Sicht meiner Arbeit von größerer Bedeutung sind. Die Einteilung der vom Valenzträger abhängigen Elemente ist in der GDS nicht dichotomisch, sondern kann nach Storrer (2003: 776f.) mit dem Terminus Valenzstufung charakterisiert werden. Dabei werden nach verschiedenen Kriterien „typischere“ Komplemente und Supplemente als zentral bzw. zum Kernbereich der Komplemente und Supplemente gehörig, weniger typische als peripher bezeichnet. Sowohl bei den Formrelationen als auch bei den Bedeutungsrelationen werden in der GDS (1997: 1037 und 1041) sog. Komplement-Fürsprecher bzw. als ihre Gegenteile auch sog. Komplement-Gegenspieler angegeben. Im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen Komplementen und Supplementen halte ich es für wichtig, die folgende Feststellung aus der GDS (1997: 1041) hervorzuheben: Um zu einer tragfähigen Abgrenzung zwischen Komplementen und Supplementen zu kommen, sind – entsprechend der Grundvorstellung dieser Grammatik [d.h. der GDS]4 – die Relationen der Formseite mit denen der Bedeutungsseite in Beziehung zu setzen.

Bei der Ermittlung der „Beziehungen zwischen Form- und Bedeutungsrelationen“, werden in der GDS (1997: 1041ff.) ein prototypischer und ein markierter Fall voneinander unterschieden. Beim prototypischen Fall stellen die Verfasser „Konvergenz zwischen der Form- und der Bedeutungsseite“ fest.5 Im Gegensatz dazu divergieren in markierten Fällen die Bedeutungs- und Formrelationen zudie Bedeutungsrelationen als voneinander nicht unabhängig bezeichnet, und auch bei den Formrelationen, von denen die meisten als voneinander unabhängig charakterisiert werden, gibt es Fälle, in denen bestimmte Formrelationen zusammenhängen (vgl. dazu GDS 1997: 1037). 4 Meine Hinzufügung, Á.S.-T. 5 Es bedeutet, dass im prototypischen Fall zusammen mit formseitigen Komplement-Fürsprechern bedeutungsseitige Komplement-Fürsprecher vorkommen, bzw. mit formseitigen Komplement-Gegenspielern auf der Bedeutungsseite ebenfalls Komplement-Gegenspieler verbunden sind.

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mindest partiell. Die Verfasser sprechen auch solche markierten Fälle an, bei denen eine absolute Divergenz der Bedeutungs- und Formrelationen vorhanden ist, d.h. dass bei den formseitigen oder bei den bedeutungsseitigen Relationen Komplement-Fürsprecher ermittelt werden, während auf der anderen Seite nur Komplement-Gegenspieler festzustellen sind. In solchen Fällen ist es „eine Frage der Gewichtung“ (GDS 1997: 1043), ob man der Seite Vorrang zuweist, an der Komplement-Fürsprecher erwiesen werden konnten, und dementsprechend die betreffende Erweiterung als Komplement einstuft oder nicht. Hier wird es also deutlich, dass schon bei der theoretischen Betrachtung des Problems mit Fällen gerechnet werden muss, bei denen die Entscheidung über den Komplement- oder Supplementstatus einer abhängigen Konstituente von der subjektiven Entscheidung der Untersuchenden abhängig ist. Dazu kommen noch – meines Erachtens – die Fälle, wo bei den Tests, die zur Ermittlung der verschiedenen Relationen dienen, Unsicherheiten auftreten können, die wiederum der Intuition eine wichtige Rolle zukommen lassen. Die Verfasser der GDS geben zwei Gründe an, warum die Unterscheidung zwischen Komplementen und Supplementen problematisch ist (vgl. GDS 1997: 1064). Zum einen gibt es Fälle, bei denen Schwierigkeiten schon bei der Beurteilung bestimmter Valenzaspekte auftreten.6 Zum anderen können – wie gerade thematisiert – die Relationen auf der Formseite in Widerspruch zu denen auf der Bedeutungsseite stehen (oder umgekehrt), was wiederum die Entscheidung erschwert. Als Antwort auf diese Unsicherheiten wird in der GDS die Lösung gewählt, dass die Klassen der Komplemente und der Supplemente nicht als einheitlich aufgefasst werden, sondern als solche, in denen zwischen Kern und Peripherie unterschieden werden kann. Eine solche Lösung halte ich für sehr gut praktizierbar, aber möchte betonen, dass auch dabei die bis dahin problematischen Fälle mehr oder weniger problematisch bleiben, denn die Einstufung derjenigen Erweiterungen, die sich an der angenommenen Grenze zwischen Kern- und Peripheriebereich befinden, bzw. die Feststellung der Grenzen überhaupt bleibt weiterhin unsicher. Bei der Unterscheidung zwischen Komplementen und Supplementen des Substantivs gehen die Verfasser nicht genauso vor wie bei der Unterscheidung zwischen Komplementen und Supplementen des Verbs. Sie lenken die Aufmerksamkeit bei der Beschreibung ihrer Vorgehensweise beim Substantiv auf etwas – meines Erachtens – Wichtiges: „[…] [hier] [wird] die Darstellung von Syntax und Semantik nicht getrennt, da semantische Überlegungen zur Argumentstruktur für die syntaktischen Ausführungen eine zentrale Rolle spielen“ (GDS 1997: 1969).

6

Als Beispiel dafür wird in der GDS (1997: 1064) u.a. die Frage der Konstanz erwähnt.

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Bei der Untersuchung der Frage, wie die für das Verb festgestellten Valenzrelationen und Tests im Bereich des Substantivs verwendet werden können, stellen die Verfasser fest, dass wichtige Modifizierungen7 getroffen werden sollen. An dieser Stelle will ich nur einen Aspekt der Komplementbeschreibung beim Substantiv in der GDS detaillierter ansprechen, da dieser Aspekt auch aus der Sicht meines Substantivvalenzkonzepts von besonderer Bedeutung ist. Die Verfasser heben im nominalen Bereich bei den Bedeutungsrelationen die Wichtigkeit der Argumentselektion hervor, wobei sie der Ansicht sind, dass im nominalen Bereich noch die Relation der Sortenselektion8 dazugenommen werden soll (vgl. GDS 1997: 1969f.). Im Zusammenhang mit der Argumentselektion wird festgestellt, dass sie beim Substantiv nicht dichotomisch beurteilt werden kann. Die Verfasser unterscheiden drei theoretische Möglichkeiten bezüglich der Frage, inwiefern eine Erweiterung argumentselegiert ist. Von diesen drei theoretischen Möglichkeiten konnten sie zwei mit Belegen untermauern: Wenn das abhängige Element „als ein bestimmtes Argument“ zu interpretieren ist, liegt ihrer Meinung nach starke Argumentselektion vor, wie z.B. in dem Ausdruck „Lust auf Erdbeeren“.9 Den anderen belegbaren Fall bezeichnen sie als schwache Argumentselektion, bei der die betreffende Erweiterung „ […] neben einer oder mehreren Lesarten als Argument noch eine ‚freie Lesart‘ [hat]“, wie z.B. in der Nominalphrase „Besuch der alten Dame“ (GDS 1997: 1974).10 Mit den Interpretationsweisen dieser Nominalphrase beschäftigen sich die Verfasser ausführlicher (vgl. GDS 1997: 1972ff.). Sie kann zwei solche Lesarten haben, in denen die Erweiterung als Argument (einmal als Genitivus subjectivus und einmal als Genitivus objectivus realisiert) zu interpretieren ist. Als Beispiel für eine freie Lesart wird die Umschreibung „der Besuch des Kaisers in Rostock, von dem die alte Dame schwärmt“ angegeben. Bei einer solchen Interpretation ist der Genitiv „der alten Dame“ in der ursprünglichen Nominalphrase nicht als Argument des Substantivs „Besuch“ zu deuten und stellt dementsprechend ein Supplement dar. 7

Zu diesen Modifizierungen gehört u.a., dass bestimmte Relationen im nominalen Bereich neu definiert, anders gewichtet oder sogar als neues Kriterium ergänzt werden. Die Beschreibung dieser Modifizierungen liegt jedoch außerhalb der Zielsetzungen der vorliegenden Arbeit, da das vorgestellte Modell für die eigene Untersuchung vorerst nur in seiner Grundkonzeption eine wichtige Rolle spielt. 8 Die Verfasser weisen darauf hin, dass der Begriff im Sinne von Jacobs verwendet wird, d.h. er „legt sortale Eigenschaften der Argumente fest“ (GDS 1997: 1970). 9 Das Beispiel wurde der GDS (1997: 1974) entnommen. 10 Die dritte theoretische Möglichkeit, für die kein Beispiel gefunden wurde, wäre nach den Verfassern, dass die Erweiterung des Substantivs als „irgendeines der Argumente“ zu deuten ist, aber keine „freie“ Lesart hat (GDS 1997: 1974).

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Nach diesen Betrachtungen kommen die Verfasser der GDS (1997: 1974) auf die Feststellung, dass „nur stark argumentselegierte Nominalphrasen als Nomenkomplemente“ behandelt werden sollten, wobei zusätzlich auch die Sortenselektion als Unterscheidungskriterium funktionieren kann. Im Zusammenhang mit der Interpretation des Kriteriums der starken Argumentselektion als „[d]ie entscheidende Grenze zwischen Supplementen und Komplementen“ (GDS 1997: 1997) plädiert Kubczak (2006) in ihrem Beitrag dafür, diese Grenze zu verschieben und nicht nur stark argumentselegierte Dependentien eines substantivischen Valenzträgers als Komplemente zu betrachten. Ähnlich wie in der GDS kommt dem Kriterium der Argumentselektion bei der Beschreibung der Substantivvalenz auch im multidimensionalen Valenzkonzept von Hölzner (2007) eine wichtige Rolle zu, aber die oben genannte Grenze ist bei ihm ebenfalls verschoben, indem er „alle Elemente, die als Argumente eines Substantivs identifiziert werden können“, als „valenzabhängige Elemente (in der klassischen Terminologie ‚Ergänzungen‘ des Substantivs)“ bezeichnet (Hölzner 2007: 153). 3.1.1 Zwischenbilanz I An dieser Stelle ziehe ich eine Zwischenbilanz und fasse wichtige Gedanken zusammen, die sich bezüglich meines multidimensionalen Valenzkonzepts aus dem Obigen herauskristallisieren. Ich gehe in meinem Konzept von logisch-semantischen Relationen auf der einen und von Formrelationen auf der anderen Seite aus. Ich bin darüber hinaus der Meinung, dass es eine graduelle Klassifizierung von Erweiterungen geben sollte, bei der mehrere Unterklassen von Komplementen und Supplementen angenommen werden, die mehr oder weniger typische Komplemente und Supplemente zusammenfassen. Bei der Bestimmung des Komplementstatus stimme ich der folgenden Feststellung von Tamássy-Bíró (1998: 157) zu: „Die Substantivvalenz […] ist eher durch eine nur abstrakte Formel beschreibbar, die aus der Semantik von Sb. [Substantiv]11 ‚herauszuanalysieren‘ ist und deren syntaktische Konsequenzen keinen festen Charakter haben“. Dementsprechend betrachte ich die logisch-semantischen Aspekte als primär und bewerte jedes Element, das ein Argument des Valenzträgers realisiert, als Komplement. Dabei halte ich die in der GDS (1997) definierte Unterscheidung zwischen starker und schwacher Argumentselektion für wichtig, aber nicht, um die Grenze zwischen Komplementen und Supplementen bestimmen zu können, sondern um Elemente voneinander unterscheiden zu können, die eher zum Kernoder eher zum Peripheriebereich der Komplemente gehören. 11

Meine Hinzufügung, Á.S.-T.

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Ähnlich wie die GDS (1997), Kubczak (2006) oder Hölzner (2007) verwende ich den Begriff „Argument“ im Sinne der formalen Logik, d.h. Argumente sind in meiner Analyse „Leerstellen eines Prädikats bzw. einer Funktion“ (Bußmann 1990: 96). Die Verwendung dieses Kriteriums ist jedoch nicht ganz unproblematisch, da die Bestimmung der vom Substantiv eröffneten Leerstellen mehr oder weniger intuitiv bleibt. 3.2

Probleme des Argumentbegriffs und weitere Grundgedanken

Im Zusammenhang mit dem Argumentbegriff halte ich es für wichtig, auch das multidimensionale Konzept von Jacobs (2003) anzusprechen, der sogar versucht, „die Einbindung von Valenzphänomenen in eine umfassende Sprachtheorie“ (Jacobs 2003: 398) vorzubereiten. Jacobs (2003) unterscheidet zwischen zwei Ebenen der Valenz: Es sind die oben schon erwähnten kategoriale und semantische Valenz.12 Er nimmt auf beiden Ebenen verschiedene Valenzdimensionen an, die – seiner Ansicht nach – voneinander unabhängig sind. Hier werden die Dimensionen, die Jacobs beschreibt, nicht detailliert thematisiert, stattdessen konzentriere ich mich eher auf seinen Argumentbegriff, da der Begriff von „Argument“ bei Jacobs (2003) weiter gefasst ist, als es sonst in der Fachliteratur gewöhnlich ist.13 Jacobs (2003: 386) definiert diesen Begriff folgendermaßen: „Die Argumente eines Valenzträgers VT in einem Satz S sind jene Dependentien von VT, die ein Relat in der semantischen Valenz von VT spezifizieren, indem sie eine zusätzliche Information über das Relat geben“. Jacobs (2003: 387) unterscheidet dabei referentielle (R-)Relatpositionen und nicht-referentielle (Non-R-)Relatpositionen. Erstere nehmen die Sachverhalte auf, auf die sich der Valenzträger bezieht und die zumindest zum Teil damit identifiziert werden. Non-R-Relatpositionen werden dagegen nicht unbedingt und, wenn überhaupt, durch zusätzliche vom Valenzträger abhängige Konstituenten ausgedrückt. Um die Begriffe deutlicher zu machen, stehe hier ein Beispiel von Jacobs (2003: 387f.): In „x ist Tochter von y“ ist „x“ die R-Relatposition und „y“ die Non-R-Relatposition. Jacobs nimmt zwei Typen von Argumenten an: Argumente, die Non-R-Relatpositionen des betreffenden Valenzträgers spezifizieren, nennt er Identifizierer, während R-Relatpositionen des Valenzträgers von Modifizierern spezifiziert werden, die den zweiten Typ von Argumenten darstellen. Dementsprechend ist „von Gerda“ in dem Satz „Die Tochter von Gerda 12

Diese beiden Ebenen werden bei ihm mit KR (Kategoriale Ebene) und SR (semantische Ebene) abgekürzt. 13 Vgl. zu dieser Frage v.a. Jacobs (2003: 385ff., insbesondere S. 386ff. und 395).

Substantivvalenz auf Textebene

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freut sich“ ein Identifizierer, während „in der Küche“ in „Die Tochter in der Küche freut sich“ einen Modifizierer darstellt.14 Was den Argumentbegriff von Jacobs (2003) von dem in der Fachliteratur üblichen unterscheidet, ist, dass bei ihm auch Modifizierer als Argumente betrachtet werden (vgl. Jacobs 2003: 388). Modifizierer werden nämlich in der Fachliteratur gewöhnlich als solche Dependentien eines Valenzträgers betrachtet, die nicht valenziell vom Valenzträger bestimmt und damit zu den Erweiterungen zu rechnen sind, die „tatsächlich keine Argumente“ sind.15 Bei Jacobs (2003: 388) sind damit nur solche Konstituenten eines sprachlichen Konstrukts „tatsächlich keine Argumente“, „die keine Relate eines Valenzträgers spezifizieren, sondern Operationen auf der Proposition oder der Illokution zum Ausdruck bringen“.16 Jacobs (2003: 388) führt zwei Gründe auf, warum auch Modifizierer als Argumente der Valenzträger und damit als Ergänzungen betrachtet werden sollen. Zum einen spezifizieren Modifizierer – so wie auch die Identifizierer – solche Relate, die vom Valenzträger eingeführt wurden. Zum anderen vertritt er die Meinung, dass Modifizierer bezüglich ihres Verhaltens bei vielen grammatischen Generalisierungen wie die Identifizierer zu charakterisieren und nicht mit den Konstituenten zu vergleichen sind, die seiner Meinung nach „tatsächlich keine Argumente sind“. Aus dieser Betrachtungsweise der Modifizierer folgt – meines Erachtens – eine solche allzu breit gefasste (semantische) Valenz(ebene), die vielleicht im Bereich der Verbvalenz, nicht aber z.B. in dem der Substantivvalenz vertretbar ist. Dieser Feststellung von mir liegt zwar z.T. nur eine eigene Intuition zu Grunde, die jedoch mit folgenden Argumenten untermauert werden kann. Die eventuelle Kluft zwischen R-Relatpositionen und Non-R-Relatpositionen ist meines Erachtens bei den Verben tendenziell kleiner als bei vielen Substantiven. So hat die 14

Dies sind Beispielsätze von Jacobs (2003: 387). Jacobs (2003: 388) zählt Unterschiede zwischen Identifizierern und Modifizierern auf, wie z.B. dass Modifizierer in bestimmten Sprachen durch keine Realisierungs- oder Merkmalsforderungen bestimmt werden. Im Zusammenhang mit diesen Unterschieden stellt er Folgendes fest und macht dadurch seinen breiteren Argumentbegriff deutlich: 15

Solche Unterschiede zwischen Identifizierern und Modifizierern nimmt die Valenzforschung bis heute zum Anlass, Modifizierer als Angaben, also als nicht valenzabhängig zu betrachten. Dagegen werden sie hier [d.h. bei Jacobs 2003 – Á.S.-T. ] wohl zur Überraschung mancher Leser, als Argumente klassifiziert, also als Ausdrücke, die auf die semantische Valenz des jeweiligen Haupts bezogen sind. 16

Jacobs (2003: 388) führt dafür folgende Beispiele auf: epistemische, evaluative und Sprachakt-Adverbiale (wie u.a. vermutlich, leider, offen gesagt).

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Situationsstelle, die – nach Jacobs (2003: 388) – bei Verben von Modifizierern spezifiziert wird, immer noch einen engeren semantischen Zusammenhang sowohl mit Handlungen, als auch mit Zuständen und Ereignissen17 als z.B. die semantische Verbindung in der Nominalphrase „die Tochter in der Küche“ zwischen dem Modifizierer „in der Küche“ und dem Substantiv „Tochter“ ist. Ich gehe deswegen davon aus, dass in einer Assoziationsprobe Probanden mit viel größerer Häufigkeit Temporalbestimmungen mit dem Verb „erblicken“18 verknüpfen würden als Lokalbestimmungen mit dem Substantiv „Tochter“.19 Noch deutlicher ist der Unterschied, wenn wir ein nicht-relationales Substantiv – wie z.B. Hund – betrachten. Entsprechend des Argumentbegriffs, bzw. der neu festgestellten Grenze der Ergänzungsmenge zu den Nicht-Ergänzungen bei Jacobs (2003), wäre – meines Erachtens – die Präpositionalerweiterung unter dem Tisch in der Phrase der Hund unter dem Tisch als Ergänzung zu klassifizieren. Eine solche allzu weit gefasste (semantische) Valenz(ebene) ist aber bei Substantiven nicht verwendbar, weil dadurch die Substantivvalenz auf der semantischen Ebene bei jedem Substantiv möglich wäre.20 Wie also ersichtlich wurde, bedeutet der Begriff Ergänzung bei Jacobs (2003) nicht dasselbe, was er gewöhnlich in der Fachliteratur bezeichnet. Darüber hinaus kann die unterschiedliche Verwendung der Begriffe Ergänzung und Komplement bei Jacobs (2003) als weitere – diesmal eher nur terminologische – Abweichung von der in bestimmten Werken der Fachliteratur üblichen Bezeichnungsweise hervorgehoben werden. Während die beiden Begriffe in der Fachliteratur gewöhnlich als Synonyme vorkommen, werden sie von ihm etwas anders interpretiert: Als Ergänzungen werden von Jacobs (2003: 390f.) alle – seiner Auffassung

17

Handlungen, Zustände und Ereignisse decken die drei wichtigsten Bedeutungsbereiche ab, die mit der Wortklasse Verb verbunden werden können. 18 Ich führe deswegen die Verbindung des Verbs „erblicken“ mit einer „Temporalbestimmung“ als Beispiel an, weil bei Jacobs (2003: z.B. 386) der Satz „Peter erblickt jetzt die Tür“ analysiert wird, in dem – als Modifizierer des Valenzträgers – auch „jetzt“ als Argument des Verbs und dadurch nicht als Angabe bewertet werden sollte. 19 Ich bezweifle sogar, dass Lokalbestimmungen überhaupt bei diesem Substantiv assoziiert sind. Zur Überprüfung der Hypothese, dass Lokalbestimmungen mit dem Substantiv Tochter nicht assoziiert werden, sollte eine Assoziationsprobe für diesen Valenzträger mit ausreichend vielen Probanden durchgeführt werden. 20 Bei verbalen Valenzträgern würde ich – entsprechend meinen oben thematisierten Ansichten im Zusammenhang mit der semantischen Verbindung zwischen R-Relatpositionen und Non-R-Relatpositionen bei Verben – für vorstellbar halten, dass – zumindest bestimmte Teilgruppen der – Modifizierer als periphere, weniger typische Komplemente betrachtet werden.

Substantivvalenz auf Textebene

393

nach – valenzgebundenen21 Elemente bezeichnet. Der Terminus Komplement bezieht sich bei ihm auf eine Untergruppe der Ergänzungen, zu der solche abhängigen Konstituenten gehören, die für den jeweiligen Valenzträger notwendig oder von ihm formregiert sind. Es soll darauf hingewiesen werden, dass ich diese terminologische Unterscheidung in mein Konzept nicht übernehme und die Begriffe Ergänzung und Komplement als Synonyme betrachte. Der Begriff Argument(sklassen) spielt auch im Ansatz von Teubert (2003) eine wichtige Rolle und wird ähnlich interpretiert wie in der vorliegenden Arbeit. An dieser Stelle will ich auf einen anderen Aspekt der Theorie von Teubert zu sprechen kommen. Er unterscheidet nämlich drei Ebenen voneinander: Auf der semantischen Ebene siedelt er die Argumentsklassen an, die seiner Auffassung nach „nicht nach Angaben oder Ergänzungen […] [unterscheiden]“ (Teubert 2003: 825). Die Ergänzungsklassen befinden sich bei ihm an der Schnittstelle von Semantik und Syntax und die Attributsklassen sind „rein syntaktisch“ definiert. Bei der Beschreibung der Substantivvalenz geht er vom Primat der formalen, syntaktischen Seite aus, was damit begründet werden kann, dass bei ihm solche Erweiterungen des Substantivs, die nicht-subklassenspezifisch sind, d.h. theoretisch bei jedem Substantiv vorkommen können, automatisch als Angaben bewertet werden. Wie es aus der obigen Zwischenbilanz schon ersichtlich sein dürfte, gehe ich im Gegensatz zu den Annahmen von Teubert (2003) davon aus, dass Argumente nur durch Komplemente (in Teuberts Terminologie Ergänzungen) realisiert werden können. Die Unterscheidung der Attributsklassen als zur Formseite gehörige Abstraktionen ist meines Erachtens gut begründbar, aber ich lehne die Ansicht von Teubert (1979: z.B. 35ff. bzw. 2003: 826) ab, nach der bestimmte Attributsklassen, d.h. Realisierungsformen, als rein formal betrachtete nicht-subklassenspezifische Formen, automatisch als Angaben/Supplemente einzustufen sind. Als solches Beispiel führt Teubert u.a. das attributive Adjektiv an, das meiner Meinung nach in zahlreichen Fällen Argumente eines valenten Substantivs realisiert und so in dieser Form als Komplement zu werten ist. Zum Beispiel wird durch das attributive Adjektiv ärztliche in dem Ausdruck ärztliche Untersuchung das untersuchende Agens, d.h. ein Argument des Substantivs realisiert. Hier sind wir bei der zweiten Zwischenbilanz meines multidimensionalen Substantivvalenzkonzepts angelangt.

21

Jacobs (2003: 390) gibt alle möglichen syntagmatischen Beziehungen an, die aus der – von ihm beschriebenen – Unabhängigkeit der Valenzdimensionen ableitbar sind. Er nennt diese Beziehungen zusammenfassend Valenzbindungsrelationen (vgl. Jacobs 2003: 391). Wenn eine Konstituente in einer dieser Relationen zu einer anderen Konstituente steht, bezeichnet Jacobs sie als valenzgebunden.

Ágnes Sántáné-Túri

394 3.2.1 Zwischenbilanz II

Ich habe oben die Rolle der logisch-semantischen Aspekte angesprochen. Über den Komplement- oder Supplementstatus der durch diese Kriterien vorselegierten Erweiterungen sollen durch die formalen Aspekte weitere Feinentscheidungen getroffen werden. Ich halte es für schwierig, die formale Seite betreffende Kriterien zu formulieren, mit deren Hilfe die Valenzeigenschaften einer Substantiverweiterung beschrieben werden könnten. Ich nehme aber an, dass eine Rangordnung unter den formal unterschiedlich realisierten Erweiterungen aufgestellt werden könnte, in der z.B. Adjektive wahrscheinlich weniger „Komplement-Fürsprecher“22 wären als z.B. Infinitivsätze. Als Grundlage für die Feststellung einer solchen Rangordnung sind meines Erachtens korpusbasierte Analysen nötig, bei denen untersucht werden sollte, mit welchem Anteil die einzelnen formal unterschiedlich realisierten Erweiterungen Argumente realisieren. Je größer dieser Anteil ist, desto eher könnten sie als Komplement-Fürsprecher gelten. Es muss aber nochmals betont werden, dass die Ermittlung von formalen Komplement-Fürsprechern nie als Ausgangspunkt der Klassifizierung dienen dürfte, sondern immer nur nach der Ermittlung der semantischen Aspekte eventuelle Feinentscheidungen ermöglichen soll. Damit meine ich Folgendes: Je nachdem, ob bzw. inwieweit die Erweiterungen argumentselegiert sind, werden sie zunächst als Supplemente oder als Komplemente klassifiziert, wobei letztere auf der Grundlage der Stärke der Argumentselektion wiederum eher zum Kernbereich oder zum Peripheriebereich der Komplemente gehören können. Ob die so vorsortierten Komplemente und Supplemente bei der weiteren Klassifizierung eher zum Kernbereich oder zum Peripheriebereich gerechnet werden, richtet sich nach der oben vorgeschlagenen formalen Rangordnung der Erweiterungen. 3.3

Weiteres zu den formalen Aspekten

Die Frage, ob valente Substantive obligatorische Komplemente haben können, wird in der Fachliteratur überwiegend verneint. So finden wir bei Teubert (1979: 37) bei der Erörterung der Frage, warum „die Probe der Weglassbarkeit“ beim Substantiv problematisch ist, die Feststellung: „Die Valenz der Substantive kennt obligatorische Ergänzungen nicht […]“. Auch in einer späteren Arbeit von Teubert (2003: 828) findet sich eine ähnliche – wenn auch differenzierter formulierte – Auffassung: „Es hat sich […] bewährt, Obligatorik bzw. Fakultativität strikt im Hinblick auf syntaktische Wohlgeformtheit zu definieren. In diesem Sinne sind Nominalergänzungen prinzipiell fakulta22

Der Begriff wurde der GDS (1997: z.B. 1037 und 1041) entnommen.

Substantivvalenz auf Textebene

395

tiv“. Im Gegensatz zu Teuberts (2003: 828) Argumentation bin ich der Meinung, dass syntaktische und semantische Valenzaspekte nicht so streng voneinander getrennt werden dürfen.23 Bei Engel (1991: 640ff., v.a. S. 640) wird unter der Zwischenüberschrift „Valenzbeschreibungen ausgewählter Nomina“ eine ähnliche Aussage wie bei Teubert formuliert: Engel erklärt, dass bei der Darstellung der semantischen Informationen zur Valenzstruktur von Nomina auf die Verwendung von runden Klammern, die bei ihm zur Kennzeichnung von fakultativen (Verb)ergänzungen dienen, verzichtet werden kann, weil „ohnehin alle Satelliten des Nomens fakultativ sind“.24 Die Verfasser der GDS (1997: 1968ff., v.a. S. 1970) stellen bei der Betrachtung der Frage, wie die für das Verb entwickelten Valenzrelationen und Tests auch auf das Substantiv anwendbar sind, Ähnliches fest, aber sie machen eine Einschränkung dabei. Sie erörtern nämlich die Problematik, dass es bei substantivischen Valenzträgern wenig Sinn macht, einen Reduktionstest als Unterscheidungsverfahren zu definieren: „Ein Reduktionstest im Bereich der Nominalphrasen zeigt lediglich, daß sich hier so gut wie keine obligatorischen Elemente finden“ (GDS 1997: 1970). Nach Meinung der Verfasser gelten ausschließlich die „obligatorischen Zahlattribute in Maß- und Behälterkonstruktionen“25 als Ausnahmen von dieser Feststellung. Eine grundsätzlich andere Auffassung finden wir bei Sandberg (1979), dessen Arbeit im Zusammenhang mit der Obligatheit der substantivischen Komplemente oft in der Fachliteratur thematisiert wird. Er geht nämlich davon aus, dass nicht-lexikalisierte26 Verbalsubstantive auch obligatorische Ergänzungen/Komplemente haben können, denn die von ihnen eröffneten Leerstellen entsprechen den Leerstellen beim Basisverb (vgl. z.B. Sandberg 1979: 5; auch S. 25). Sandberg (1979: 6f.) beschäftigt sich auch mit den Realisierungsmöglichkeiten der (obligatorischen) Ergänzungen. Er vertritt dabei die Meinung, dass auch der 23

So wird diese Frage u.a. auch in den multidimensionalen Valenzmodellen, wie z.B. in dem der GDS gesehen. 24 Engel nimmt (1991: 606) einen einzigen obligatorischen Satelliten, genauer gesagt eine obligatorische Angabe beim Substantiv an, nämlich das Determinativ. Diese Auffassung hat er mit der Zeit jedoch revidiert, da in der Neubearbeitung seiner Deutschen Grammatik Determinative nicht mehr als obligatorische Angaben bezeichnet werden (vgl. Engel 2004: 290). 25 Wie z.B. das Zahlattribut in dem Ausdruck „drei Glas Honig“. Zur detaillierten Beschreibung solcher Konstruktionen s. GDS (1997: 1979ff.). 26 Sandberg (1979: 5) nennt die nicht-lexikalisierten Verbalsubstantive auch reverbalisierbare Verbalsubstantive.

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Kontext in die Analyse miteinbezogen werden soll. Im Zusammenhang damit erklärt er, dass die von ihm untersuchten Ergänzungen – Agens und Patiens – nicht nur als Genitivattribute oder Possessivpronomina ausgedrückt werden können.27 Es gibt nämlich Fälle, in denen die Ergänzung zwar in demselben Satz wie das Substantiv, aber durch ein Partnerwort, d.h. nicht innerhalb der Nominalphrase, realisiert wird.28 Darüber hinaus kann es auch vorkommen, dass die Ergänzung im Kontext realisiert wird.29 Auf Grund der Art und Weise der Realisierung der obligatorischen Ergänzungen unterscheidet Sandberg (1979: 52f.) zwischen Direktobligatorium und Fernobligatorium. Dabei meint das erstere die Realisierungsnotwendigkeit innerhalb der Nominalphrase des Bezugssubstantivs, das zweitere dagegen die Realisierungsnotwendigkeit im Kontext. Wie das auch bei Helbig (1992: 115f.) angesprochen wird, steckt hinter dem Ausdruck des Direktobligatoriums eigentlich das Wesen der obligatorischen Ergänzungen, die demnach also auch bei einigen Substantiven vorhanden sein sollten. Um dies deutlich zu machen, sei hier ein Beispiel von Sandberg (1979: 50) angeführt: „Das Feststellen dieses Fehlers war erst möglich …“.30 Ich halte es für wichtig an dieser Stelle auf die Arbeit von Bassola / Bernáth (1998) noch einmal einzugehen, weil diese Arbeit sich ebenfalls mit deverbalen Substantiven und ihren Valenzrealisierungseigenschaften beschäftigt. Bassola / Bernáth (1998: 173) definieren in diesem Artikel „deverbal im weiteren Sinne“, sie verstehen darunter alle Substantive, die „mit Verben verwandt sind“. Diese „Verwandtschaft“ besteht entweder darin, dass sie aus Verben gebildet sind oder dass „Verben aus ihnen gebildet werden können“. Die Verfasser haben auch die Frage im Auge, was von der Valenzstruktur der untersuchten deutschen und ungarischen deverbalen Substantive im Satz oder im Text immanent oder nicht einmal immanent im Text ausgedrückt wird. Im Zusammenhang mit dem Problemkreis der Obligatheit von Substantivergänzungen konstatieren Bassola / Bernáth (1998: 195): „Die Untersuchungen 27

Bei Sandberg (1979) werden die Realisierungen des Agens und des Patiens getrennt untersucht, wobei auch einige kleinere Unterschiede festgestellt werden. Hier gehe ich aber nicht detailliert auf diese Fragen ein, denn es reicht an dieser Stelle, die Grundideen von Sandberg darzustellen. 28 Ein Beispiel dafür an einer späteren Stelle bei Sandberg (1979: 29f.) ist der folgende Satz: „Motor nach dem Anspringen etwa 3-5 Sekunden laufen lassen, …“ [meine Hervorhebungen, Á.S.-T.]. 29 Als Beispiel dafür kann von einer späteren Stelle bei Sandberg (1979: 49) Folgendes angeführt werden: „Hast du schon die Bilder vom Urlaub gezeigt? Ich bin ja gerade beim Zeigen“ [meine Hervorhebungen, Á.S.-T.]. 30 Meine Hervorhebung [Á.S.-T.].

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397

haben […] gezeigt, daß die Ergänzungen des Substantivs nicht obligatorisch sind; oft sind sie dem Text auch immanent nicht zu entnehmen“. Diese Annahme scheint sich mit der oben dargestellten Auffassung von Sandberg (1979) im Widerspruch zu befinden. Dies ist meines Erachtens aber nicht unbedingt der Fall. Vielmehr bin ich der Meinung, dass – obwohl Bassola / Bernáth (1998) den Begriff deverbal im weiteren Sinne verstehen – der von den Verfassern betrachtete Untersuchungsrahmen solche Substantive, bei denen Sandberg (1979) obligatorische Ergänzungen annimmt, doch nicht erfasst. All die präsentierten authentischen Beispiele, die von Verben abgeleitete Substantive enthalten, sind nämlich – meiner Meinung nach – lexikalisierte Ableitungen, die auch bei Sandberg (1979) nicht über obligatorische Ergänzungen verfügen. So können die Annahmen der beiden Arbeiten miteinander in Einklang gebracht werden. Schließlich sei hier im Zusammenhang mit dieser Frage noch darauf hingewiesen, dass Hölzner (2007: 309ff., v.a. 311) bei der Auswertung der Ergebnisse seiner Korpusanalysen feststellt, dass die Realisierungsforderung bei valenten Substantiven nicht mit der Dichotomie Obligatorik vs. Fakultativität erfasst werden sollte, sondern von unterschiedlich starker Fokussierung der Argumentstellen ausgegangen werden sollte. An dieser Stelle möchte ich – bezüglich der formalen Aspekte – noch kurz den Gedanken von Eroms (2000: 285) ansprechen, nach dem außer den Adjektiven – die eindeutig Angaben sind – alle anderen Attribute immer im konkreten Syntagma über ihren Ergänzungs- oder Angabestatus hin überprüft werden müssen. Ich glaube, dass zwar Eroms mit seiner Feststellung in die „richtige“ Richtung geht, aber ich bin der Meinung, dass seinem Gedanken nur ohne Beschränkung der Adjektive auf Angaben zuzustimmen ist. Die Beachtung des Kontexts ist auch meines Erachtens unentbehrlich, aber meiner Auffassung nach können nicht einmal adjektivische Erweiterungen ohne weiteres als Angaben/ Supplemente klassifiziert werden, auch wenn sie tatsächlich in der Fachliteratur fast überall als Supplemente betrachtet werden. Eine wichtige Ausnahme davon bildet der Artikel von Bassola / Bernáth (1998: 193), in dem die Verfasser Folgendes hervorheben: Die Untersuchungen haben ergeben, daß Ergänzungen von Substantiven auch durch Aktualisierungsformen zum Ausdruck gebracht werden können, die in einschlägigen Werken nicht behandelt werden. Als eine solche Form ist das Adjektiv zu nennen [...].

Die Verfasser führen folgende Beispiele für adjektivische Ergänzungen/Komplemente an (Bassola / Bernáth 1998: 194): „die Hilfe Japans = die japanische Hilfe;

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die Gespräche zwischen Deutschland und Japan = deutsch-japanische Gespräche“. Bei diesen Beispielen würde ich das Adjektivattribut in „japanische Hilfe“ im Vergleich zu der adjektivischen Erweiterung im anderen Ausdruck als eher peripher einstufen, weil es im Gegensatz zu der adjektivischen Erweiterung in dem anderen Ausdruck eine mehrdeutige Konstruktion ergibt. So kann „Japan“ in der obigen Nominalphrase sowohl als Agens als auch als Beneficient verstanden werden, was – meines Erachtens – ein Beweis für eine schwächere Argumentselektion ist. In Bassola / Bernáth (1998: 194) wird noch das Kompositum als eine Realisierungsform erwähnt, die auch Ergänzungen/Komplemente repräsentieren kann, aber in der Fachliteratur nicht beachtet wird. Dieser Gedanke führt schon zur dritten und damit letzten Zwischenbilanz bezüglich meines multidimensionalen Valenzkonzepts über. 3.3.1 Zwischenbilanz III Ich möchte die Valenzrealisierung der Substantive auf allen bedeutungstragenden sprachlichen Ebenen untersuchen. Darunter verstehe ich alle Ebenen von der morphologischen bis zu der textuellen. Bei meiner Untersuchung lehne ich mich z.T. an den Ansatz von Hölzner (2007) an, der intraphrastische und transphrastische Argumentrealisierung voneinander unterscheidet. Mit intraphrastischer Argumentrealisierung bezeichnet er die Realisierung der „Argumente eines valenten Substantivs […] als Attribut innerhalb der entsprechenden Nominalphrase“, während bei der transphrastischen Argumentrealisierung „Argumente eines valenten Substantivs […] nicht innerhalb der entsprechenden Nominalphrase, sondern im Kontext realisiert“ werden (Hölzner 2007: 23). Als Spezialfall der intraphrastischen Argumentrealisierung betrachte ich die Realisierung eines Arguments als Teil eines Kompositums, wie z.B. in dem Kompositum Arztbesuch, wo durch das Bestimmungsglied Arzt die besuchende oder die besuchte Entität ausgedrückt wird. In wie weit die einzelnen Realisierungsebenen als Komplement-Fürsprecher oder Komplement-Gegenspieler zu bewerten sind, werde ich durch spätere Korpusanalysen zu bestimmen versuchen (s. dazu die Überlegungen in Kap. 4). Dabei gehe ich davon aus, dass bei der Beurteilung dieser Frage wiederum entscheidend sein sollte, in welchem Anteil die jeweilige Realisierungsebene beim jeweiligen Argument als Realisierungsebene vorkommt. Je typischer sich die Realisierungsebene beim jeweiligen Argument erweist, desto mehr sollte die Realisierung auf der jeweiligen Ebene als Komplement-Fürsprecher bezeichnet werden. In meinem Konzept nehme ich theoretisch die Möglichkeit von obligatorischen Komplementen beim Substantiv an, wobei obligatorische Komplemente eindeu-

Substantivvalenz auf Textebene

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tig zum Kernbereich der Komplemente gerechnet werden sollten. Wie typisch jedoch die obligatorische Realisierung ist, sollte im Rahmen der Korpusanalysen noch überprüft werden. Nachdem ich in Kapitel 3 die wichtigsten Grundgedanken meines multidimensionalen Substantivvalenzkonzepts thematisiert habe, wende ich mich im nächsten Punkt schon Fragen der empirischen Untersuchung zu.

4

Korpusbelege zur Demonstration der Argumentrealisierung auf verschiedenen Ebenen

Im Folgenden wird an Korpusbelegen aus dem IDS-Korpus COSMAS IIweb gezeigt, wie Argumente eines exemplarisch gewählten valenten Substantivs (Geschenk) auf verschiedenen sprachlichen Ebenen realisiert werden. In vier Punkten sollen für jede in meinem Konzept angenommene Realisierungsebene Beispiele angeführt werden. Es ist wichtig zu betonen, dass bei den hier vorgestellten Belegen nur ein Teil der auszuführenden korpusbasierten Valenzanalyse präsentiert wird. Der dargestellte Analyseschritt dient als Vorstufe für eine vollständige Analyse. Dabei soll zuerst untersucht werden, welche Argumente des gewählten Substantivs auf welchen Ebenen realisiert werden. Das heißt, dass hier nur Argumentrealisierungen und dadurch eindeutig auch Komplemente markiert werden, die Frage aber, ob die jeweiligen Komplemente zum Kern- oder zum Peripheriebereich der Komplemente gehören, kann hier noch nicht beantwortet werden. Im vorangehenden Punkt habe ich nämlich angedeutet, dass bei diesen Feinentscheidungen – meiner Ansicht nach – neben der Stärke der Argumentselektion Aspekte der formalen Realisierung beachtet werden sollten. Dazu sollte eine Rangordnung der Realisierungsebenen und -formen danach aufgestellt werden, wie typisch sie für die Realisierung des jeweiligen Arguments sind. Da in der bisherigen Forschung die einzelnen phrasen- und satzinternen Realisierungsformen (vgl. den Begriff Attributsklasse bei Teubert 2003) schon ausführlicher diskutiert wurden, möchte ich mich zuerst mit der Frage auseinandersetzen, als wie typisch die einzelnen Realisierungsebenen gelten können. Dementsprechend wird bei den Musterbelegen nach der Markierung der einzelnen Argumentrealisierungen ausgewertet, welche Argumente mit welchem Anteil auf welcher Ebene realisiert werden. Es ist wichtig zu betonen, dass die hier angeführten Belege nur den erwähnten Schritt der Voranalyse demonstrieren sollen und keinesfalls als repräsentative Ergebnisse bezüglich des Status Komplement-Fürsprecher oder Komplement-Gegner der einzelnen Realisierungsebenen zu betrachten sind. Die einzelnen Belege werden in ihrer Orthographie dem IDS-Korpus unverändert entnommen. Bei der Analyse werden die folgenden Markierungen verwendet:

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– der Valenzträger ist immer unterstrichen, – die Realisierung eines Arguments auf der genannten Ebene ist fett gesetzt, – wenn auf anderen Ebenen auch Argumente realisiert werden, sind sie durch gestrichelte Linien markiert. Bei der Analyse gehe ich davon aus, dass das Substantiv Geschenk potenziell drei Argumente haben kann, die folgendermaßen dargestellt werden können: Geschenk └ A131 von jdm, └ A2 an jdn, └ A3 aus einem bestimmten Anlass. Zuerst werden Belege für jede Ebene präsentiert, die ich in meinem Konzept für möglich halte. Dabei werden die Argumentrealsierungen zusammenfassend aufgezählt und eventuelle Besonderheiten erläutert bzw. problematische Fragen angesprochen. Zum Schluss werden die Ergebnisse im Hinblick auf die Argumentrealisierung auf den verschiedenen Ebenen statistisch ausgewertet. Sollte in einem Beleg ein und dasselbe Argument sowohl intra- als auch transphrastisch realisiert werden, wird erwogen, ob bei der Statistik beide zu betrachten sind, und falls ja, wird in den beiden auszuwertenden Tabellen angegeben, dass die jeweilige Realisierung nicht als alleinige Realisierung vorkommt, sondern mit einer anderen zusammen. Die Nicht-Realisierung eines Arguments wird ebenfalls mitverzeichnet, um später auch über die Realisierungshäufigkeit Informationen gewinnen zu können. 4.1

Belege für die Argumentrealisierungen auf den einzelnen Realisierungsebenen

4.1.1 Komplementrealisierung innerhalb eines Kompositums 1)

31

Als ideale Nachfolgerin konnte anschliessend Tamara Hilbi als neue Vereinspräsidentin gewählt werden. Als Mutter von zwei aktiven Pfadis ist sie bereits seit längerem im Abteilungskomitee aktiv und unterstützte die Leitenden im täglichen Betrieb schon in der Vergangenheit tatkräftig. Als Antritts(A3)geschenk für ihr neues Amt erhielt sie (A2) von der scheidenden Präsidentin (A1) eine Pfadi-Krawatte in den Abteilungsfarben. Im Namen der Leitenden zeigte sich der Abteilungsleiter Ueli Reber erfreut über die gute Nachfolgelösung und wünschte Tamara Zu den verwendeten Abkürzungen s. das Abkürzungsverzeichnis am Ende der Arbeit.

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Hilbi alles Gute in ihrer neuen Funktion als Präsidentin. (St. Galler Tagblatt, 13.03.2012)

A1 außerhalb der NP, aber innerhalb des betreffenden Satzes A2 außerhalb der NP, aber innerhalb des betreffenden Satzes A3 innerhalb des betreffenden Kompositums 2)

Am Nachmittag werden auf der Laufbahn der Oberstufe «di schnellschte Flowiler» gesucht. Der Sprintwettkampf zählt zum nationalen Migros-Sprint-Anlass. Beide Anlässe werden von der Jugendriege Flawil zusammen mit der Damenriege TV Flawil durchgeführt. In der ganzen Schweiz nehmen Zehntausende von Kindern zwischen 7 und 15 Jahren am UBS Kids Cup teil. Sie messen sich in einem Leichtathletik-Dreikampf in den Disziplinen Sprint, Weitsprung und Ballwerfen. Die jüngsten Kinder mit Jahrgang 2006 und jünger absolvieren anstelle des Leichtathletik-Wettkampfs einen Hindernislauf in der Turnhalle. Jeder Teilnehmer ist ein Gewinner, denn er erhält ein Teilnehmer(A2)geschenk. Zusätzlich können, aus Anlass des 150-Jahr-Jubiläums der UBS (A3), die Startnummern in der Flawiler Filiale gegen einen Kopfhörer eingetauscht werden. Für talentierte Kinder und Jugendliche bildet der Anlass in Flawil den Auftakt einer grossen Herausforderung. (St. Galler Tagblatt, 25.04.2012)

A1 nicht realisiert A2 innerhalb des betreffenden Kompositums A3 außerhalb des betreffenden Satzes 3)

Hubertus Waldmann, der stellvertretende Vorsitzende im Kreis Nürnberg-Frankenhöhe, wundert sich: Da bietet der DFB allen seinen Vereinen Geschenkkartons mit nützlichen Utensilien und Materialien zur Durchführung des Spielbetriebs an, und im Raum Nürnberg-Fürth haben bisher nur wenige Klubs diese Kartons abgeholt. „Da sind Bälle, Hütchen und Leibchen drin und noch einiges mehr“, berichtet Waldmann und beziffert den Wert der sogenannten „DFB-Vereinsoffensive“ unter dem Motto „Doppelpass in die Zukunft“ auf rund 300 Euro. Zusätzlich erhält jeder Verein, der aktiv Jugendarbeit betreibt, auch noch ein „Jugendpaket“, in dem weitere auf den Jugendfußball abgestimmte Materialien enthalten sind. Vereine(A2), die ihr(A2) DFB-(A1)Geschenk noch nicht abgeholt haben, bekommen eine weitere Gelegenheit dazu: Morgen Vormittag (10 bis 12 Uhr) werden sie beim TV 1860 Jahn-Schweinau (Daimlerstraße 71) ausgeteilt. (Nürnberger Zeitung, 12.10.2007)

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A1 innerhalb des betreffenden Kompositums A2 innerhalb der NP und auch außerhalb der NP, aber innerhalb des betreffenden Satzes A3 nicht realisiert Hier soll angemerkt werden, dass A2 intraphrastisch in Form eines Possessivpronomens (ihr) realisiert wird. Die Referenz des synsemantischen Pronomens wird außerhalb der Nominalphrase durch das Konkretum Vereine verdeutlicht; deswegen werden in der Statistik beide Realisierungsformen mitbeachtet. Schließlich betrachten wir mit Beispiel 4) ein Kuckucksei. 4)

Im Rahmen des Schwerpunktes Leseförderung an der Leubsdorfer Grundschule St. Walburgis nahmen rund 70 Schüler bei einem schulinternen Lesewettbewerb (?A332) teil. In der Konkurrenz der Erstklässler überzeugte Miriam Schwarz mit einem Frühlingsgedicht. Auch die Lesekönigin der zweiten Klasse, Maria Schneider, las ihren Text ganz sicher. Mit einem längeren und anspruchsvolleren Text überzeugte Joshua Schmidt aus der dritten Klasse. Bastian Honnef las als Lesekönig des vierten Schuljahres einen Text über drei Seiten und bestach mit einer exzellenten Betonung. Jeder Lesekönig (A2) erhielt eine Lesekrone und nahm ein Buchgeschenk der Schule (A1) aus den Händen der Rektorin Andrea Winkelmann entgegen. (Rhein-Zeitung, 19.05.2007

A1 innerhalb der NP A2 außerhalb der NP, aber innerhalb des betreffenden Satzes A3 ?realisiert, außerhalb des betreffenden Satzes Der Valenzträger kommt zwar wie in den vorangehenden Beispielen (1 – 3) auch hier als Leitglied eines Kompositums vor, aber das Bestimmungsglied des Kompositums stellt kein Argument und damit kein Komplement des Substantivs Geschenk dar. Der Grund, warum das Beispiel hier angesprochen wird, ist, dass das betreffende Bestimmungsglied ein Argument des Verbs schenken realisiert, aus dem das valente Substantiv Geschenk abgeleitet werden kann. Das betreffende Argument kann als Argument des Substantivs nicht realisiert werden, weil es da-

32

Das Fragezeichen bei der Argumentrealisierung deutet hier und im Folgenden an, dass die Beurteilung der Argumentrealisierung problematisch ist. Problemfälle werden zwar markiert und thematisiert, aber sie werden aus der statistischen Analyse – soweit nichts anderes dazu angemerkt wird – nicht ausgeschlossen.

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403

mit quasi referenzidentisch ist, aber als Teil des Kompositums konnte es hier zum Ausdruck kommen. A3 von Geschenk kann eventuell mit dem „schulinternen Lesewettbewerb“ gleichgesetzt werden, aber hier ist meines Erachtens die Verbindung vermittelt, da die Geschenke an die Lesekönige verteilt wurden, d.h. an die Schüler, die den Wettbewerb gewonnen haben. Als Anlass dafür, dass die Schüler ein Geschenk erhielten, könnte streng genommen der Gewinn des Wettbewerbs auch interpretiert werden. 4.1.2 Komplementrealisierung innerhalb der Nominalphrase 5)

Der Zoo von Washington hat einen "Star" verloren: Hsing-Hsing musste im hohen Pandabären-Alter von 28 Jahren eingeschläfert werden. Hsing-Hsing hatte Geschichte gemacht: Der Panda war das Geschenk der chinesischen Regierung (A1) an Präsident Nixon (A2) für dessen historische Reise nach Peking (A3) gewesen. (Neue Kronen-Zeitung, 30.11.1999)

A1 innerhalb der NP A2 innerhalb der NP A3 innerhalb der NP 6)

Malcolm Green, Fraktionsvorsitzender der Labour Party im Stadtrat von Glasgow, rief schon am Freitag an, während Blechbläser aus der schottischen Stadt den Nürnbergern den Marsch bliesen: Das Gastspiel der YMCA-Brass-Band ist das offizielle Geschenk von Glasgow (A1) an seine Partnerstadt (A2). Für die persönlichen Kontakte zwischen jungen Menschen aus beiden Ländern sorgte der CVJM, bevor die Musiker heute um 10 Uhr am Nürnberger Flughafen verabschiedet werden. (Nürnberger Nachrichten, 17.07.2000)

A1 innerhalb der NP A2 innerhalb der NP A3 nicht realisiert 7)

Der 500-SL-Sport-Mercedes war sozusagen ein Geschenk an mich selbst (A1, A2). Ich (A1) bedankte mich bei mir für meine harte Arbeit (?A3). (Oberösterreichische Nachrichten, 01.08.1996)

A1 innerhalb der NP (auch außerhalb des betreffenden Satzes)33 33

Die Klammern weisen hier und auch bei den späteren Beleganalysen darauf hin, dass die betreffende Realisierungsweise bei der statistischen Auswertung nicht beachtet wird.

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A2 innerhalb der NP A3 ?realisiert, außerhalb des betreffenden Satzes Die beiden Argumente A1 und A2 werden in diesem Beispiel innerhalb der betreffenden Nominalphrase als Teil derselben Präpositionalphrase realisiert, was dadurch ermöglicht wird, dass die schenkende und die beschenkte Person identisch sind. Die schenkende Person wird eigentlich auch außerhalb des betreffenden Satzes realisiert (Ich), da es aber im Vergleich zur intraphrastischen Realisierung – ebenfalls als synsemantisches Element – nichts mehr zur Bedeutung oder Interpretierbarkeit von A1 beiträgt, wird es bei der Statistik nicht berücksichtigt. (Das wird bei der obigen zusammenfassenden Anführung der Argumentrealisierungen durch die Klammern angedeutet.) Die Frage, ob A3 realisiert wird, erscheint problematisch. A3 wird innerhalb des betreffenden Satzes eindeutig nicht realisiert. Im darauf folgenden Satz befindet sich jedoch der Ausdruck „für meine harte Arbeit“, der in erster Linie ein Komplement des Verbs sich bedanken darstellt, auf der anderen Seite jedoch eventuell als A3 von Geschenk interpretiert werden könnte. 4.1.3 Komplementrealisierung außerhalb der Nominalphrase, aber innerhalb des betreffenden Satzes 8)

Wie groß die Verunsicherung bei den Hertha-Spielern ist, verdeutlichte am besten der katastrophale Fehlpass von Marcelinho zu Ailton. Der Bremer (A2) nahm das Geschenk seines Freundes (A1) an und verwandelte zum 1:0 für Werder (17.). (Mannheimer Morgen, 02.02.2004)

A1 innerhalb der NP A2 außerhalb der NP, aber innerhalb des betreffenden Satzes A3 nicht realisiert A3 kann hier meines Erachtens gar nicht realisiert werden, weil das Substantiv Geschenk in diesem Beleg in übertragener Bedeutung verwendet wird. Dementsprechend kann es keinen Anlass für das Schenken geben, wodurch sich die Argumentstruktur des Substantivs auf zwei Argumente reduziert. Es soll später noch überlegt werden, ob solche Bedeutungsvarianten aus der Analyse ausgegrenzt oder getrennt behandelt werden. 9)

Jens Lehmann (A1) schenkt Oliver Kahn (A2) sein WM-Spiel! Und der BayernKeeper (A2) nimmt das Geschenk an! Er wird damit von Klinsi für die klaglose Interpretation seiner Rolle als Nummer 2 belohnt. „Die Chance ist schon sehr groß, dass Oliver spielt“, bestätigte Torwart-Coach Andreas Köpke und ergänzte: „Ein

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405

Einsatz wäre eine supergroße Geste an Kahn für die vergangenen sieben Wochen, in denen er sich vorbildlich verhalten hat.“ (Hamburger Morgenpost, 07.07.2006)

A1 außerhalb des betreffenden Satzes A2 außerhalb der NP, aber innerhalb des betreffenden Satzes (und auch außerhalb des betreffenden Satzes) A3 nicht realisiert Ähnlich wie bei Beispiel 3 und 7 wird ein Argument, hier A2, auf mehreren Ebenen gleichzeitig realisiert. Beide Realisierungen machen die Referenz auch alleine eindeutig (es ist im jeweiligen Kontext nämlich egal, ob „Oliver Kahn“ oder „der Bayern-Keeper“ geäußert werden, der (sachkundige) Leser wird wissen bzw. 2006 gewusst haben, um wen es sich handelt). Hier stellt sich die Frage, ob bei der Statistik beide Realisierungsebenen mitberücksichtigt werden sollen oder wie im ähnlichen Fall in Beispiel 7 nur eine der beiden. Hier soll jedoch noch etwas im Zusammenhang mit der Entscheidung bei Beispiel 7 erörtert werden. Da wurde von den beiden gleichermaßen informativen Argumentrealisierungen diejenige innerhalb der Nominalphrase berücksichtigt, da die Argumentrealisierung intuitiv auf der Phrasenebene am plausibelsten und somit „primärer“ erscheint als die Realisierung außerhalb des betreffenden Satzes. Diese Argumentationsweise kann wohl kritisiert werden, weil es den Primat der phraseninternen Realisierung voraussetzt. Dennoch behalte ich momentan die Einstufung bei Beispiel 7 bei. Hier haben wir aber bei keiner der beiden Argumentrealisierungen eine Argumentrealisierung auf der primäreren (?) Realisierungsebene; somit kann hier auf solcher Grundlage nicht entschieden werden, welche der beiden in der Statistik berücksichtigt werden sollte. Aus diesem Grund berücksichtige ich beide Realisierungsebenen bei der statistischen Auswertung. Zugleich markiere ich jedoch das Problem für die weitere Analyse als noch nicht gelöst. 4.1.4 Komplementrealisierung außerhalb des betreffenden Satzes 10)

Als wir ein paar Wochen später im Hotel in Peking ankommen, erwartet mich eine Überraschung. An der Rezeption ist ein Geschenk für mich (A2) abgegeben worden. Es stammt von Deng, einem Studenten (A1), den ich zufällig an der Uni in Nürnberg kennengelernt hatte. Da er mich leider nicht persönlich in seiner Heimatstadt begrüßen könne, wolle er mich zumindest mit chinesischem Gebäck und Tee willkommen heißen (A3). (Nürnberger Nachrichten, 26.10.2010)

A1 außerhalb des betreffenden Satzes A2 innerhalb der NP A3 außerhalb des betreffenden Satzes

406 11)

Ágnes Sántáné-Túri Was Menschen (A1) für den Kunstgenuss nicht alles auf sich nehmen. Eine riesige grüne Wolldecke zum Beispiel. Die schleifen sie (A1) mit auf dem Weg zu ihren Klappstühlen, nebst Tüte mit belegten Brötchen. Wenn dann noch an der anderen Hand ein Geschenk für Elizabeth Kingdon (A2) baumelt - keine Chance, sich die Tropfen von der kalten Nase zu wischen. Umständlicher Gang in ein ungewöhnliches Konzert: Am Freitag lud die Pocket Opera Company (POC) zur Premiere von »POC-Barock« in die Turbinenhalle des Heizkraftwerks Gebersdorf, um den 75. Geburtstag der Kingdon (A3) zu feiern. (Nürnberger Zeitung, 27.01.2003)

A1 außerhalb des betreffenden Satzes A2 innerhalb der NP A3 außerhalb des betreffenden Satzes Als Realisierung von A1 kann das Konkretum „Menschen“ betrachtet werden, worauf dann analeptisch auch durch das Personalpronomen sie zurückverwiesen wird. Diese synsemantische Realisierung auf gleicher Ebene wird aber in der Statistik nicht als mehrfache Realisierung berücksichtigt. 12)

Ein besonderes Geschenk fertigten die Schüler der Arbeitsgemeinschaft Elektrotechnik an der Dualen Oberschule (DOS) Betzdorf (A1) für die Bewohner des Altenzentrums St. Josef (A2) an: Unter der Anleitung von Rudolf Greb entstand ein beleuchteter Weihnachtsstern. Das Projekt erforderte neben geometrischen und physikalischen Kenntnissen vor allem auch handwerkliches Geschick sowie technische Fertigkeiten. Der Stern hat einen Durchmesser von 1,40 Meter und ist so konstruiert, dass er im Außenbereich des Betzdorfer Altenzentrums installiert werden kann. Bei einer Weihnachtsfeier (A3) konnten die Schüler das Geschenk nun übergeben. (Rhein-Zeitung, 17.12.2007)

A1 außerhalb der NP, aber innerhalb des betreffenden Satzes A2 außerhalb der NP, aber innerhalb des betreffenden Satzes A3 außerhalb des betreffenden Satzes 4.2

Statistische Auswertung der Argumentrealisierung auf den verschiedenen Realisierungsebenen

Hier wird tabellarisch dargestellt, welche Argumente des Substantivs Geschenk in den obigen zwölf Beispielen wie oft auf den einzelnen Realisierungsebenen realisiert werden. Zuerst wird in Tabelle 2 die Zahl der Realisierungen der Argu-

Substantivvalenz auf Textebene

407

mente auf den einzelnen Ebenen angegeben,34 dann wird in Tabelle 3 dargestellt, welchen Anteil die Realisierungen auf den einzelnen Realisierungsebenen beim jeweiligen Argument haben. innerhalb eines Kompositums

innerhalb der betreffenden NP

a

k

a

k

außerhalb der NP, aber innerhalb des betreffenden Satzes a k

A1

1

0

5

0

2

A2

1

0

5

1

A3

1

0

1

0

außerhalb des betreffenden Satzes

nicht real.

insg. real.

a

k

0

3

0

1

11

5

1

0

0

0

11+2

0

0

6

0

4

8

Tab. 2: Realisierung der Argumente des Substantivs Geschenk auf den einzelnen Realisierungsebenen innerhalb eines Kompositums

innerhalb der betreffenden NP

außerhalb der NP, aber innerhalb des betreffenden Satzes

außerhalb des betreffenden Satzes

a

k

a

k

a

k

a

a

A1

8,33

0,00

41,67

0,00

16,67

0,00

25,00

0,00

A2

7,69

0,00

38,46

7,69

38,46

7,69

0,00

0,00

A3

8,33

0,00

8,33

0,00

0,00

0,00

50,00

0,00

nicht real.

insg. real.

A1

8,33

91,67

A2

0,00

100

A3

33,33

66,67

Tab. 3: Prozentualer Anteil der Realisierung der Argumente des Substantivs Geschenk auf den einzelnen Realisierungsebenen 34

Die Zahl der „konkurrierenden“ gleichzeitigen Realisierungen auf verschiedenen Ebenen wird gesondert angegeben.

408

Ágnes Sántáné-Túri

Wie ich oben schon erläutert habe, ist die Zahl der hier präsentierten Belege nicht groß genug, um zuverlässige Verallgemeinerungen formulieren zu können. Dennoch scheint auch diese statistische Auswertung zu untermauern, dass die Nominalphrase die typischste oder zumindest eine der typischen Realisierungsebenen für die Argumente des Substantivs darstellt. Dabei ist es wichtig, auf den hohen Anteil der Argumentrealisierungen außerhalb der Nominalphrase, aber innerhalb des betreffenden Satzes (v.a. im Falle von A2) und den ebenfalls deutlichen Anteil der Argumentrealisierungen außerhalb des betreffenden Satzes, d.h. auf der im Titel meines Beitrags angesprochenen Textebene (im Falle von A1 25%, im Falle von A3 unter den Musterbelegen sogar 50%) hinzuweisen. Auch wenn noch keine verallgemeinernden Schlussfolgerungen bezüglich der empirischen Analyse gezogen werden können, scheinen diese Zahlen nachzuweisen, dass die Untersuchung der Substantivvalenz auf der Textebene wohlbegründet ist. Die obigen Überlegungen bei der Analyse der Belege haben gezeigt, dass während der empirischen Analyse noch zahlreiche Fragen auftauchen, deren Beantwortung detaillierter Korpusanalysen bedarf und die dann auch zur Bereicherung des theoretischen Hintergrunds der Substantivvalenzforschung beitragen können. Nach dieser ‚Kostprobe‘ der empirischen Analyse der Argumentrealisierung bei valenten Substantiven, seien die wichtigsten Ergebnisse meiner Überlegungen und Analysen im nächsten Abschnitt zusammengefasst.

5

Zusammenfassung und Ausblick

In der Einleitung des vorliegenden Beitrags bin ich von einer allgemein bekannten Valenzdefinition von Bußmann (1990) ausgegangen und habe darauf hingewiesen, dass im Rahmen eines multidimensionalen Substantivvalenzkonzepts, wie ich es zu entwickeln beabsichtige, diese Definition modifiziert werden muss. Aufgrund der theoretischen Überlegungen und empirischen Analyseschritte, die ich in meiner Arbeit durchgeführt habe, lässt sich die folgende geänderte, aber keinesfalls vollständige Begriffsdefinition formulieren: Valenz ist die Fähigkeit eines Lexems, in einer Äußerung Leerstellen zur Realisierung seiner logischsemantischen Argumente zu eröffnen, deren sprachliche Realisierung abhängig von dem jeweiligen Valenzträger, dem Argumenttyp und der Realisierungsebene mehr oder weniger streng durch morphologische bzw. syntaktische Regelmäßigkeiten beeinflusst wird. Diese Arbeitsdefinition soll durch die Ergebnisse der weiteren, v.a. empirischen Analysen noch verfeinert werden. In dem logisch-semantische Relationen auf der einen und formale Relationen auf der anderen Seite berücksichtigenden multidimensionalen Modell der Substantivvalenz gehe ich sowohl bei den Komplementen als auch bei den Supplemen-

Substantivvalenz auf Textebene

409

ten davon aus, dass sie z.T. eher zu Kern- und z.T. eher zu Peripheriebereichen gehörende Elemente darstellen. Als Komplemente betrachte ich Argumentrealisierungen eines valenten Substantivs, deren formale Eigenschaften durch die Realisierungsebene und die morpho-syntaktische Form ihrer Realisierung gekennzeichnet werden sollten. Wie ich es oben schon erläutert habe, sollen zur Bestimmung dessen, welche formalen Eigenschaften eher Komplement-Fürsprecher und welche eher Komplement-Gegner sind, zuerst ausgedehnte Korpusanalysen durchgeführt werden, auf deren Grundlage bestimmt werden kann, welche Realisierungsebenen und welche morpho-syntaktischen Realisierungsformen typischer und welche weniger typisch für die Argumentrealisierungen sind. Im Zuge der Analyse einiger Korpusbelege konnte gezeigt werden, dass die Untersuchung der Substantivvalenz auf der Textebene wohlbegründet ist, da nicht nur auf den schon oft untersuchten Ebenen der Nominalphrase und des Satzes, sondern auch auf der des Textes mit einem großen Anteil Substantivkomplemente zu finden sind. Bei der Probeanalyse haben sich auch neue Fragen ergeben, die in Zukunft noch beantwortet werden sollen. Unter diesen stellt die Frage, wie bei einem gegebenen Valenzträger die mehrfache Realisierung einund desselben Arguments auf verschiedenen Ebenen bewertet werden soll (vgl. die Ausführungen im Abschn. 4.1 bei den Beispielen 3, 7 und 9), eine der bedeutungsvollsten und vielleicht problematischsten dar. Als wichtigster nächster Schritt der vorliegenden Untersuchung kann die Beantwortung der oben angedeuteten Fragen bzw. die korpusbasierte Ausarbeitung eines Inventars der formalen Komplement-Fürsprecher und Komplement-Gegner genannt werden. Dabei sollte noch die Frage untersucht werden, ob es sinnvoll ist, Komplemente und Supplemente gleichermaßen auf allen vier beschriebenen Ebenen anzunehmen, oder ob die Untersuchung bei den Supplementen eventuell auf bestimmte Ebenen eingeschränkt werden sollte. Die Klärung dieses Problems wird für eine detaillierte Definition des Begriffs Supplement nötig sein, damit Supplemente nicht durch eine Quasi-Negativdefinition als Nicht-Komplemente definiert werden.

6

Literatur

6.1

Primärliteratur

COSMAS – E-Korpus des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim; zu erreichen unter: http://www1.ids-mannheim.de/start/ sowie https://cosmas2.ids-mannheim.de/cosmas2web/

Ágnes Sántáné-Túri

410 6.2

Sekundärliteratur

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Substantivvalenz auf Textebene

411

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7

Abkürzungen

A NP a k insg. real.

– Argument – Nominalphrase – allein: nur auf der jeweiligen Ebene realisiert – konkurrierend: auf mehreren Ebenen zugleich realisiert – insgesamt – realisiert

György Scheibl Szeged

Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation. Sprachkontrastive und -typologische Perspektivierung eines nominalen Klassifikationssystems

Abstract Nominale Prädikate des Deutschen oder anderer Sprachen können aufgrund ihrer lexikalischen Eigenschaften in die Numerusklassen Individuativa, Massennomina, Kollektiva und dergleichen eingeteilt werden. Untersucht werden soll hier die Transposition, d.h. die semantischen und formalen Beziehungen zwischen nominalen Lexemen unterschiedlicher Numerusklassen. Danach kann der formale Apparat der Transposition sprachkontrastiv und typologisch skizziert werden, mit dem Ziel der typologischen Perspektivierung eines nominalen Klassifikationssystems. Auf den Begriffen Numerusklasse und Transposition aufbauend soll dadurch ein nominales Klassifikationssystem des Deutschen (oder anderer Sprachen) erstellt werden.

1

Einführung und Zielsetzung

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der semantischen Klassifikation nominaler Prädikate im Deutschen und in anderen Sprachen. Dabei wird aus der grundlegenden semantisch motivierten Einteilung der nominalen Lexeme in Individuativa, Massennomina, Kollektiva und dergleichen ausgegangen. Diese Klassifikation nenne ich Numerusklasse. Darauf folgend wird der Begriff Transposition eingeführt. Damit sollen die semantischen und formalen Beziehungen zwischen nominalen Lexemen unterschiedlicher Numerusklassen expliziert werden. Drittens wird für den Sprachvergleich der formale Apparat der Transposition sprachkontrastiv skizziert. Schließlich wird eine typologische Perspektivierung des präsentierten nominalen Klassifikationssystems vorgenommen, und gezeigt, wie auf dem Begriff Transposition aufbauend ein nominales Klassifikationssystem des Deutschen (oder anderer Sprachen) erstellt werden kann. Nach der Klärung einiger relevanter Grundbegriffe werden in Abschnitt 2 die fürs Deutsche definierbaren Relationen zwischen den Numerusklassen untersucht. In Abschnitt 3 werden einige Aspekte des Sprachkontrastes in Bezug auf die Transposition diskutiert. Abschnitt 4 befasst sich mit der semantischen und for-

414

György Scheibl

malen Transparenz der Numerusklassen im Deutschen. In Abschnitt 5 wird der Frage nachgegangen, ob es sich bei der Bedeutungsvarianz nominaler Lexeme wie Zitrone um kontextuelle oder lexikalische Bedeutungsspezifikation handelt. Abschnitt 6 untersucht die Transparenz der Transposition im Deutschen, und in Abschnitt 7 schließlich werden sprachkontrastive und -typologische Perspektiven des Phänomens angesprochen. Als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen dient die grundlegende Unterscheidung zwischen Nomina mit nichtdiskreter und diskreter Referenz im Deutschen: MASS Bier Reis Zitrone

ABST Tod

Tab. 1: Nomina mit nichtdiskreter Referenz im Deutschen Die in Tabelle 1 angeführten a) Massennomina (MASS) Bier, Reis und Zitrone (dieses letzte Lexem in seiner Substanzlesart) und b) Abstrakta (ABST) wie Tod sind Nomina, die nichtdiskrete Referenz haben. Das bedeutet, dass sie nur in nichtzählbaren Kontexten auftreten können, keinen Numeruskontrast zeigen und nur durch die Vermittlung eines Numerativs mit einem Kardinale kombinierbar sind. Diese Nomina können mit denen in Tabelle 2 kontrastiert werden:

(ein) Bier/(eine) Biersorte (ein) Reiskorn (eine) Zitrone

IND (ein) Todesfall

Tab. 2: Nomina mit diskreter Referenz im Deutschen Die in Tabelle 2 angeführten Individuativa (IND) sind Nomina mit diskreter Referenz: Sie treten in zählbaren Kontexten auf, zeigen einen Numeruskontrast (haben Singular- und Pluralformen) und können unmittelbar mit einem Kardinale erweitert werden. Die auf quantitativen Spezifika wie Zählbarkeit und kollektiver Referenz basierenden grundlegenden semantischen Klassen nominaler Prädikate (genauer: der lexikalischen Einheiten LE1 … LEn von nominalen Lexemen) wie IND oder MASS oben nenne ich Numerusklassen. Numerusklassen sind sprachspezifisch parametrisiert und strukturieren den nominalen Wortschatz der jeweiligen Sprache.

Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation

415

Die Nomina des Deutschen werden in (mindestens) sechs Numerusklassen eingeteilt: (i) Individuativa (IND): Zitrone, Apfel (ii) Kollektiva (KOLL): Gruppe, Team (iii) Massennomina (MASS): Limonade, Gold (iv) Abstrakta (ABST): Fleiß, Neid (v) Eigennamen (EN): Shaggy, Armani (vi) Kontinuativkollektiva (KONTKOLL): Vieh, Bettzeug

Der Terminus Numerusklasse erinnert an den von der Flexionsmorphologie bekannten Begriff Numerus(kategorie). Das dürfte kein Zufall sein. Ich vertrete die Ansicht, dass Nomina des Deutschen mit Numerus über sowohl eine Lexem- als auch eine Wortformklassifikation verfügen, und dass die beiden Systeme eng zusammenwirken. Nach der Definition der Numerusklasse hat das nominale Lexem Biersorte eine (einzige) lexikalische Einheit (LE), die zu der Numerusklasse IND gehört, und das Lexem Bier hat eine LE1 als MASS und eine LE2 als IND.

2

Relationen zwischen Numerusklassen im Deutschen: Transposition

Lexeme gewisser Numerusklassen können in (un)veränderter Form in andere Numerusklassen übertreten (oder anders: in anderen Numerusklassen präsent sein bzw. Entsprechungen in anderen Numerusklassen haben). Dieser NumerusklassenWechsel, den ich im Folgenden Transposition nenne und mit ‚⇒‘ markiere, geht per definitionem mit einer vorhersagbaren Bedeutungsveränderung des Lexems einher. So können die Lexeme in den Tabellen 1 und 2 semantisch in Beziehung gesetzt werden. Reis und Reiskorn bilden ein MASS-IND-Lexempaar und Zitrone hat eine IND- und eine MASS-Deutung, vgl. (1): (1) Reis (MASS) ⇒ Reiskorn (IND) Zitrone (IND) ⇒ Zitrone (MASS)

Lexeme der beiden Tabellen können aber auch in ihrer formalen Realisierung, d.h in Bezug auf ihre Exponenten verglichen werden. Aufgrund der bisherigen Beispiele können dabei zwei Typen unterschieden werden (vgl. Tabelle 3): Typ 1: markierte Transposition, falls ein Grundwort (Reis) und ein daraus gebildetes nominales Kompositum vorliegen (Reiskorn). Typ 2: unmarkierte Transposition, wenn ‚dasselbe‘ Lexem in beiden Bedeutungen verwendet werden kann (Zitrone).

György Scheibl

416

Transposition Typ 1 (markiert) Bier/Biersorte Reis/Reiskorn

Transposition Typ 2 (unmarkiert) Zitrone Bier

Tab. 3: Markierte und unmarkierte Transpositionen im Deutschen

3

Sprachvergleiche

Deutungs- und Markierungsoptionen solcher Lexempaare in unterschiedlichen Sprachen können kontrastiert werden. Ein Vergleich mit dem Ungarischen und dem Arabischen zeigt bereits markante Unterschiede, vgl. die Beispiele in (2): (2) dt. Zitrone (IND)/Zitrone (MASS) ung. citrom (IND )/citrom (MASS) ar. laimuun (MASS)/laimuuna (IND)

Im Arabischen ist die Transposition systematisch am Lexem markiert: Dem unmarkierten MASS laimuun steht eine mit dem Suffix -a gebildete sog. Singulativform, d.h. ein IND gegenüber: laimuuna. Deutsch/Ungarisch ähneln sich in dieser Hinsicht: In beiden Sprachen werden IND wie Zitrone formgleich auch als MASS verwendet. (3) ung. halál (ABST)/két haláleset (IND)/két halál (IND) dt. Tod (ABST)/zwei Todesfälle (IND)/*zwei Tode (IND) (4) ung. rizs (MASS)/két rizsszem (IND)/?két rizs (IND) dt. Reis (MASS)/zwei Reiskörner (IND)/*zwei Reise

Wie die Beispiele in (3)−(4) zeigen, gibt es aber auch zwischen Deutsch und Ungarisch Unterschiede: Im Ungarischen ist der Wechsel ABST ⇒ IND oder MASS ⇒ IND formal markiert (haláleset, rizsszem) oder unmarkiert (halál, rizs), während es im Deutschen bei den Transpositionen ABST ⇒ IND oder MASS ⇒ IND ausschließlich markierte Formen (Todesfall, Reiskorn) gibt.

Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation 4

Semantische und formale Transparenz der Numerusklassen

4.1

Transparenz der Numerusklassen im Deutschen

417

Die Klassifikation der Nomina erfolgt auf semantischer Basis. Das bedeutet, dass die Numerusklassen im Deutschen semantisch transparent sind, da die Zuweisungsregeln auf den im Lexikoneintrag des Nomens gespeicherten Informationen basieren. Die Numerusklassenzugehörigkeit gewisser Nomina kann aber unter Umständen auch durch zusätzliche, d.h. sekundäre formale Marker angezeigt werden. In diesem Fall sprechen wir von phonologischer/morphologischer Transparenz. Dieser Abschnitt soll einen Überblick über die formalen Transparenzfaktoren der Numerusklassen im Deutschen geben. Die Numerusklasse ist per definitionem semantisch transparent, d.h. im Lexikoneintrag des Nomens kodiert. Doch wenn behauptet wird, dass sich zusätzlich auch formale Transparenzmittel der Numerusklassen identifizieren lassen, dann geht es dabei um „dominante formale Merkmale“, wie ich sie hier nennen möchte, die ein relevanter Teil der zu einer Numerusklasse gehörenden Nomina teilt. Sie können auf phonologischer, morphologischer oder syntaktischer Ebene angesiedelt sein. Um sie zu identifizieren, geht man folgendermaßen vor: Man listet Nomina einer Numerusklasse NKn auf und sucht nach formalen Gemeinsamkeiten zwischen diesen Elementen, d.h. nach dominanten Merkmalen, die typisch für die NKn oder eben untypisch für andere Numerusklassen sind. Folgende Stufen der formalen Transparenz können dabei unterschieden werden: 1. Die meisten x∈NKn haben das formale Merkmal FMm, d.h. das (proto)typische x∈NKn hat das formale Merkmal FMm1 Ein Beispiel dafür sind Eigennamen im Deutschen, die typischerweise auf einen Numerus beschränkt, d.h. entweder Singularia- oder Pluraliatantum sind. 2. Alle x∈NKn haben das formale Merkmal FMm: Massennomina sind beispielsweise numerusdefektiv in dem Sinne, dass sie in ihrer primären Lesart immer nur im Singular gebraucht werden. 3. Das FMm ist unter allen Numerusklassen überwiegend/auschließlich bei NKn zu finden: Monomorphematische Nomina auf -e im Deutschen sind typischerweise Individuativa. 4. Alle und nur die x∈NKn haben das FMm: Im Deutschen haben alle artikellosen Eigennamen und nur sie die sog. s-Flexion. Die besten Beispiele für die formale Transparenz im Deutschen sind die prototypischen schwachen Maskulina wie Franzose. Diese haben Transparenz1

Die Markierung x∈NKn hier und im Folgenden soll für ‚ein beliebiges Element der als NKn bezeichneten Menge‘ stehen.

418

György Scheibl

merkmale auf phonologischer, morphologischer und syntaktischer Ebene, vgl. (5): (5)

Transparenzmerkmale der schwachen Maskulina im Deutschen − auf phonologischer Ebene: Mehrsilbigkeit, Pänultima-Betonung, Schwa-Auslaut − auf morphologischer Ebene: homogene Genusklasse, Derivationsbildungen (-ist, -oge, -nom), eigenes Deklinationsparadigma: die n-Deklination − auf syntaktischer Ebene: in zählbaren Kontexten zugelassen (direkte Kombinierbarkeit mit einem Kardinale)

Ähnliche formale Transparenzmittel lassen sich im Deutschen − wenn auch etwas schwieriger − auch für andere Gruppen der Nomina finden, vgl. die folgenden Beispiele: (6a)

(6b)

(6c)

Phonologische Transparenz − Silbenzahl und -struktur, Phonotaktik und Betonung: Monomorphematische Nomina auf -e sind typischerweise IND oder KOLL: Kreide, Junge, Decke, Gruppe. Syntaktische Transparenz − NP-Struktur (Mikrokontext des Nomens): Zählbare Determinatoren, Quantoren, Kardinalia und Pluralmarker sind syntaktische Konstituenten einer NP, die das Kernnomen als IND markieren. Morphologische Transparenz − Numeruskategorie: MASS, KONTKOLL sowie ein Teil der EN und ABST sind Singulariatantum. − Flexionsklasse: Die s-Flexion (Artikellosigkeit und alleinige Flexionsmarkierung im Genitiv) weist auf EN hin: Marias Hut, Mutters Hut. − morphologische Struktur (Affixe und Affixoide) des Lexems: -ling, -fall, -stück, -korn bilden IND, -werk, -gut und -zeug leiten KONTKOLL ab.

Ein weiteres morphologisches Transparenzmerkmal ist das Genus des Nomens. Der Rest dieses Abschnittes wird diesem FM gewidmet. Gemeint sind dabei Numerusklasse-Genus-Korrelationen wie z.B., dass im Deutschen sehr viele Feminina zu dem ABST gehören, oder die etwas komplexere Korrelation zwischen den beiden Systemen im Schwedischen, die hier als Ausgangspunkt genommen wird. Josefsson (2005) zeigt, dass das Schwedische zwei Genusdimensionen differenziert: ein grammatisches Genus (mit den morphosyntaktischen Merkmalen COMMON GENDER und NEUTER) und ein semantisches Genus (mit den Merkma-

Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation

419

len MÄNNLICH, WEIBLICH, OBJEKT und SUBSTANZ).2 Die beiden Dimensionen sind teilweise unabhängig voneinander, teilweise regelmäßig aufeinander bezogen. Die Genusmarkierung im Schwedischen erfolgt wie üblich wortextern, in unserem Falle sind es Pronomina der dritten Person Singular, die das Genus des fraglichen Nomens markieren können. Im Falle des strikt grammatischen Genus unterscheidet das Schwedische zwei Personalpronomina: den für COMMON GENDERNomina, det für NEUTER. Zur Markierung des semantischen Genus dienen die Pronomina han (MÄNNLICH), hon (WEIBLICH), den (OBJEKT) und det (SUBSTANZ). Die Pronomina den und det sind also in unterschiedlichen Funktionen in beiden Genusdimensionen involviert. Die grammatische Genusmarkierung mit den/det weist immer auf die anaphorische Verwendung der Pronomina hin, vgl. das folgende Beispiel aus Josefsson (2005: 1353) mit dem Antezedens Löwe, das NEUTER ist: (7) Var finns lejonet? wo ist Löwe.NEUT.DEF ‚Wo ist der Löwe?‘ Det är här. Er.NEUT ist hier. ‚Er ist hier.‘

Im Falle der semantischen Genusmarkierung kann das fragliche Pronomen sowohl anaphorisch als auch deiktisch gebraucht werden. Beim deiktischen Gebrauch referiert es unmittelbar auf einen Diskursreferenten und nicht − wie im anaphorischen Gebrauch − auf eine vorausgehende nominale Konstituente. Han und hon können im folgenden Beispiel nur als deiktische Personalpronomina dienen, wenn man bedenkt, dass das im Falle des anaphorischen Gebrauchs einzig mögliche Antezedens biträdet ‚Beamter‘ ein NEUTER ist, vgl. Josefsson 2009: 61: (8) Jag talade med biträdet. Han/hon var en konstig typ. Ich sprache zu Beamt-.NEUT.DEF. Er/sie war ein komischer Typ. ‚Ich sprach mit dem Beamten/der Beamtin. Er/sie war ein komischer Typ.‘

Da die Pronomina den/det sowohl in der grammatischen als auch in der semantischen Genusmarkierung eingesetzt werden, können die folgenden Funktionen unterschieden werden:

2

Diesen Literaturhinweis verdanke ich Valéria Molnár.

György Scheibl

420

a) Strikt grammatische Kongruenz zwischen dem Antezedens und dem anaphorischen Personalpronomen (anaphorischer Gebrauch: den = COMMON GENDER, det = NEUTER). b) Inkongruente Genusmarkierung: Das Pronomen markiert nicht das grammatische, sondern das semantische Genus des Antezedens, was sich z.B. darin zeigt, dass ein Antezedens mit COMMON GENDER durch ein anaphorisches det (NEUTER, semantisches Genus: SUBSTANZ) wiederaufgenommen werden kann wie im Beispiel (9), vgl. Josefsson 2009: 53: (9)

Bo hat köpt [en dansk cykel] 1 Det1 vill jag ocksa ha. Bo hat gekauft ein.COMMON GENDER dänisch Fahhrad. Es.NEUT will ich auch haben. ‚Bo hat ein dänisches Fahrrad gekauft. So eins möchte ich auch haben.‘

c) Semantische Gensusmarkierung im deiktischen Gebrauch: Markierung des Referenten mal als OBJEKT (den), mal als SUBSTANZ (det): deiktischer Gebrauch, doppelte Pronominalisierbarkeit wie in (10), vgl. Josefsson 2009: 72: (10)

A und B stehen vor einem frisch gestrichenen Boot. Vad tycks? was denken.PASS ‚Was denkst du?‘ Det var snyggt! Es.NEUT war wunderschön.NEUT ‚Es war wunderbar.‘ (d.h. wie das Boot aussah)

Zusammenfassend kann für das Schwedische Folgendes festgehalten werden: Fälle der sogenannten falschen Kongruenz zwischen Nomen und Personalpronomen lassen sich darauf zurückführen, dass es im Schwedischen zwei parallele Genusdimensionen gibt. Das grammatische Genus des Nomens wird beim anaphorischen Gebrauch des Pronomens aktiviert, während deiktische Personalpronomina auf das semantische Geschlecht des Antezedens zurückgreifen. Den hat das grammatische Genus COMMON GENDER, doch im deiktischen Gebrauch dient es zur Wiederaufnahme eines zählbaren Nomens; det ist NEUTER, referiert aber beim deiktischen Gebrauch auf ein unzählbares Nomen. Da das Schwedische zählbare Nomina im Singular von Massennomina formal nicht unterscheidet (beide Gruppen sind unmarkiert), wird das auf der grammatischen Genusunterscheidung aufbauende und formal differenzierte Pronominalsystem mit den/det zur Markierung der Zählbarkeit eingesetzt. Folglich dient das grammatische Genus

Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation

421

als formales (morphologisches/morphosyntaktisches) Transparenzmerkmal für die Numerusklassen IND/MASS im Schwedischen. Traditionell wird angenommen, dass die Numerusklasse und das grammatische Genus der Nomina zwei voneinander unabhängige Systeme bilden. Was die Numerusklasse betrifft, so können Nomina typischerweise zählbare oder unzählbare Lesarten haben, während sie normalerweise ausschließlich einer Genusklasse zugeordnet sind. Auch wenn vorausgesetzt wird, dass die Numerusklasse des Nomens primär lexikalisch festgelegt ist, ist es leicht einzusehen, dass eventuelle Abweichungen von dieser Lesart möglich sind und dass dadurch keine grammatischen Regeln verletzt werden. Das Genussystem scheint viel strikteren Regeln zu unterliegen, denn hier kann das lexikalische Genusmerkmal des Nomens ohne Verletzung lexikogrammatischer Regeln nicht verändert werden. Doch das oben präsentierte Phänomen im Schwedischen bringt die beiden Systeme einander etwas näher, wenn man annimmt, dass das grammatische Genus des Nomens als Indikator seiner Numerusklasse angesehen werden kann. Wie in Scheibl 2010a gezeigt wird, sind weitere zwei Genusaspekte vorhanden, die das Genussystem des Deutschen (und womöglich anderer Sprachen) als ein dem Numerusklassensystem ähnliches System erscheinen lassen. Der eine dieser beiden Aspekte ist die Erkenntnis, dass das Genus bei ganz bestimmten Gruppen der Nomina im Deutschen nicht als inhärent lexikalisches Merkmal aufzufassen ist. Common-Gender-Nomina, zu denen v.a. Eigennamen (Familiennamen oder Markennamen) und Konversionsnomina gehören, sind generell auf lexikalischer Ebene genuslos. Sie werden erst auf NP-Ebene einer Genusklasse zugeordnet. So ist der Eigenname Deutschland ein Common-GenderNomen, d.h. auf lexikalischer Ebene zunächst ohne Genusmerkmal, je nach Bedeutung (mal als Länder-, mal als Schiffsname) wird ihm das Merkmal NEUT bzw. FEM zugewiesen. Konversionsmonima wie Kranker/Kranke verhalten sich änhlich. Zweitens gibt es guten Grund zu der Annahme, dass das Genus bei Konversionsnomina eine Flexionskategorie ist. Kranker oder Kranke werden nämlich gerade durch die Wahl des Genus mal nach der maskulinen, mal nach der femininen Adjektivdeklination flektiert. Stellt man eine Kategorien-komparative Untersuchung in Bezug auf Numerusklasse und Genus an, so kann zunächst gesagt werden, dass beide merkmalsbasierte klassifikatorische Kategorien der Nomina im Deutschen sind. Merkmalsbasierte Kategorien können semantisch, morphologisch oder morphosyntaktisch definiert werden. Die Numerusklasse ist dementsprechend eine semantische, das Genus eine morphosyntaktische Kategorie (als morphologische Kategorie kommt im Deutschen z.B. die Deklinationsklasse „schwache Maskulina“ in Frage).

422

György Scheibl

Numerusklasse und Genus können unabhängige klassifikatorische Systeme für die jeweilige Sprache darstellen oder systematisch aufeinander bezogen werden, wenn gezeigt werden kann, dass (α) die Numerusklasse als Transparenzmerkmal für das Genus bzw. (β) das Genus als Transparenzmerkmal für die Numerusklasse auftritt. Trotz dieser Parallele muss aber betont werden, dass es dabei nicht um eine symmetrische Relation zwischen den beiden Kategorien geht. Im Falle von (α) liegt eine auf der Basis der Numerusklassen definierte semantische Transparenz des Genus vor. Die Genusklassifikation ist hier unmittelbar semantisch motiviert: Das Nomen bekommt sein lexikalisches Genusmerkmal aufgrund seiner Numerusklasse zugewiesen. Dies gilt fürs Deutsche natürlich nicht. Die zweite Relation (β) bedeutet, dass das Genus als zusätzliches formales Merkmal (dominantes Merkmal) für die Numerusklasse auftritt. ‚Zusätzlich‘ nur, weil die Numerusklassen nach wie vor rein semantisch motiviert sind, in dem Sinne, dass sie die Nomina evidenterweise nach deren Bedeutung und nicht nach deren Genusmerkmal erfassen. Dieser Typ der Numerusklasse-Genus-Korrelation lässt sich nicht nur im Schwedischen, sondern auch im Deutschen nachweisen. Es ist leicht einzusehen, dass es einen logischen Zusammenhang zwischen (α) und (β) gibt, da aus (α) (β) folgt: (α)→(β). Wenn die Genusklassen einer Sprache numerusklassenspezifisch definiert werden, so ist das der jeweiligen Numerusklasse zugeordnete Genusmerkmal gleichzeitig ein dominantes formales Merkmal für die Nomina in dieser Numerusklasse. Im Folgenden sollen nach Scheibl (2010a) einige Beispiele für NumerusklasseGenus-Korrelationen genannt werden. Im Anschluss daran kann in 4.2 eine Typologie dieser Korrelationen erstellt werden. 1. Siemund (2002: 214) zeigt den Zusammenhang zwischen dem Genussystem und den Numerusklassen in den germanischen Sprachen. Er beschreibt, wie dänische Dialekte das Genussystem auf der Basis einer ±zählbar-Unterscheidung reorganisieren: Zählbare Nomina wie man ‚Mann‘ oder hus ‚Haus‘ bilden die eine, MASS und ABST wie mœlk ‚Milch‘ oder skrigen ‚Schuss‘ die andere Genusklasse. Aber auch das Standarddänische zeigt Beispiele für einen numerusklassenspezifischen Genuswechsel. En sodavand ‚eine Linomade‘ gehört z.B. zur Genusklasse UTER, da es als zählbares Nomen interpretiert wird, sodavandet ‚Limonade‘ dagegen ist wegen der unzählbaren Lesart ein NEUTER. 2. Siemund (2002: 216) erwähnt desweiteren niederländische Dialekte, in denen es eine Diskrepanz zwischen dem strikt grammatisch organisierten lexikalischen Genussystem und dem auf dem Merkmal ±zählbar basierenden pronominalen Genussystem gibt. So ist das Nomen tandpasta ‚Zahncreme‘ lexikalisch ein UTER, doch in der MASS-Lesart kann es auch durch ein Personalpronomen mit der Genusklasse NEUTER ersetzt werden. Wenn also tandpasta durch ein

Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation

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anaphorisches Pronomen wiederaufgenommen wird, so orientiert sich das Genus des Pronomens nicht nach dem ursprünglichen Genus des koreferenten Nomens, sondern nach dessen Numerusklasse: IND gleich UTER, MASS gleich NEUTER. Wie oben gezeigt wurde, ist dasselbe Phänomen auch im Schwedischen zu beobachten. 3. Di Meola (2007: 143) diskutiert bei der Genuszuweisung den Faktor Substantivkategorie, wonach Kontinuativa im Deutschen, darunter vor allem Genuskollektiva wie Vieh, Gemüse, Obst, zumeist NEUT sind. 4. Weber (2001) beschreibt den Zusammenhang zwischen IND/MASK, ABST/ FEM und MASS/NEUT im Deutschen. 5. Krifka (2009) hebt hervor, dass MASK und FEM sich deutlich darin unterscheiden, dass feminine Derivata überwiegend ABST, maskuline aber überwiegend Lebewesen, d.h. IND bezeichnen, und stellt eine gewisse Korrelation zwischen FEM/ABST bzw. MASK/IND fest. 6. Im Ful (eine Sudansprache mit 15 Millionen Sprechern v.a. in Senegal) gibt es z.B. eine Genusklasse, die Namen für Flüssigkeiten und Abstrakta umfasst. Die Elemente dieser Genusklasse sind gerade durch ihre Numerusklassen genustransparent und haben aus demselben Grund auch keinen Plural. Solche Korrelationen ergeben sich daraus, dass die semantische Genus- bzw. Numerusklassenzuweisung in den Sprachen des öfteren von denselben universalen Parametern (Geschlecht, Belebtheit, Menschlichkeit, Entität usw.) gesteuert wird. 7. In Scheibl (2013) wird ein Testverfahren präsentiert, wie im Deutschen eine Korrelation zwischen Numerusklasse und Genus belegt werden könnte. Dabei wird die Adaptation des Genustests von Köpcke / Zubin (1996) vorgeschlagen, die die phonologische Gestalt von fiktiven Wörtern auf ihre Genuszugehörigkeit hin testen ließen. Das Testverfahren hätte drei Schritte: SCHRITT 1 Man wählt fiktive Simplizia aus dem Korpus von Köpcke / Zubin aus, die in ihrem Test prozentual gleichermaßen als ‚präferiert maskulin‘ und als ‚präferiert feminin‘ eingestuft worden sind: Wert v im Vortest, vgl. Tabelle 4. SCHRITT 2 Die ausgewählten Testwörter legt man erneut den Testpersonen vor − natürlich ohne Genusangabe, aber mit folgenden Bedeutungsangaben: [1] ‚Gefühl‘ bei Nomina aus der Klasse der präferiert femininen Testwörter [2] ‚Objekt‘ bei präferiert maskulinen Testwörter [3] ‚Gefühl‘ bei präferiert maskulinen Testwörter SCHRITT 3 Die Kandidaten ordnen jedes Kunstwort einer Genusklasse zu.

György Scheibl

424 Kunstwort

Vortest (Köpcke / Zubin)

[1] präferiert feminine Testwörter ‚Gefühl‘ [2] präferiert maskuline Testwörter ‚Objekt‘ [3] präferiert maskuline Testwörter ‚Gefühl‘

v % FEM v % MASK v % MASK

Test ermittelte Genusklasse x % FEM y % MASK z % MASK

Tab. 4: Genus-Numerusklasse-Korrelationstest mit fiktiven Wörtern im Deutschen Folgende zwei mögliche Testergebnisse könnten unterschieden werden: 1. Es gibt keine Korrelation zwischen Numerusklasse und Genusklasse, wenn sich bei [1], [2] und [3] fast identische Prozentwerte ergeben (x = y = z), die wiederum mit v aus dem Vortest von Köpcke / Zubin identisch sind. 2. Es lässt sich eine Korrelation FEM/ABST nachweisen, wenn [1] präferiert Feminina mit der Bedeutung ‚Gefühl‘ von mehr Testpersonen als FEM klassifiziert werden als im Vortest, d.h. x > v oder wenn mehr Testpersonen bei [2] das Genus MASK angeben als bei [3], d.h. y > v > z. 4.2

Typologie der Numerusklasse-Genus-Korrelationen

Nach den Erörterungen im letzten Punkt lassen sich die folgenden drei Typen der Numerusklasse-Genus-Korrelationen (im Deutschen) unterscheiden: Typ 1: Der große Anteil der ABST innerhalb der FEM im Deutschen lässt auf eine Korrelation zwischen der NK ABST und dem Genus FEM schließen, vgl. Krifka 2009. Typ 2: Die oben mit (α) markierte Korrelation bedeutet, dass die Numerusklasse als Transparenzmerkmal für das Genus dient. In diesem Fall liegt ein relativ leicht erkennbares NK-basiertes Genussystem vor. Beispiele dafür sind: − die Genustransparenz der Nomenklassen im Ful, − die Korrelation zwischen KONTKOLL/NEUT, IND/MASK, ABST/FEM und MASS/ NEUT im Deutschen, − das grammatische Genus als formales Transparenzmerkmal für die semantischen den-/det-Genera im Schwedischen, − mögliche NK-Genus-Korrelationen im von Köpcke / Zubin inspirierten Korrelationstest im Deutschen nach dem Motto: „Gib die Bedeutung an und frag nach dem Genus.“ Durch diesen Test könnte die NP-Transparenz der FEM im Deutschen nachgewisen werden.

Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation

425

Wenn die NP das Genus markiert oder bestimmt, dann ist das Genusmerkmal gleichzeitig ein dominantes Merkmal der Elemente der fraglichen NK. Wegen (α)→(β) sind also alle Beispiele unter Typ 2 ebenfalls Beispiele für Typ 3. Typ 3: Sekundäre Genustransparenz der NK. Genus erscheint als dominantes Merkmal der NK. Mit dem Genustest von oben könnte dadurch nicht nur die semantische Transparenz der FEM nachgewiesen werden, sondern auch, dass FEM im Deutschen ein dominantes Merkmal der NK ABST ist. Man beachte, dass Typ 3 der NK-Genus-Korrelationen auch dann vorliegen kann, wenn er nicht aus Typ 2 folgt. FEM kann also auch dann ein dominantes Merkmal für ABST sein, wenn keine semantische Genusregel mit der Form ABST→FEM definiert werden kann (d.h. es gibt keine Regel (α), aus der (β) folgen würde), denn FEM kann auch aus anderen, z.B. formalen Gründen ein dominantes Merkmal für ABST sein. Diesen Typ 3 belegen die Daten aus dem Schwedischen (und womöglich aus dem Dänischen und Niederländischen), wo für die formale Markierung der semantischen Genera OBJEKT/SUBSTANZ Personalpronomina mit der Dichotomie COMMON GENDER/NEUTER (grammatisches Genus) eingesetzt werden. Es leuchtet ein, dass hier keine Korrelation zwischen NK und grammatischem Genus vorliegen kann, die NK ist ja die Basis für das semantische Genus im Schwedischen; folglich gibt es hier kein (α), doch das grammatische Genus ist ein dominantes Merkmal für die Numerusklasse IND/MASS.

5 Bedeutungsvarianz: kontextuelle oder lexikalische Bedeutungsspezifikation? Wenn die Transposition ohne formale Abänderung des Nomens erfolgt, liegt nach der traditionellen Terminologie Bedeutungsvarianz vor. Dies kann mit dem Lexem Zitrone belegt werden, das eine IND- und eine MASS-Lesart hat. Die Bedeutungsvarianz nominaler Lexeme hat eine lange Forschungsgeschichte seit den 70er Jahren in der lexikalischen und typentheoretischen (formalen) Semantik. Untersucht wurden dabei Fälle der regulären Polysemie, wo der kontextabhängigen Deutungsvielfalt ein relativ konstantes Muster zugrunde liegt, vgl. die Definition in (11): (11)

Ein Lexem δ unterliegt systematischer Bedeutungsvarianz genau dann, wenn (i) δ eine lexikalisch primäre und mindestens eine sekundäre Lesart hat, die (ii) sich in ihrer semantischen Repräsentation unterscheiden und (iii) δ gleichzeitig zwei oder mehreren Numerusklassen zuordnen.

426

György Scheibl

Um die Bedeutungsvarianz zu erfassen, ging man von der als konstant vorausgesetzten Form (dem Lexem) aus und war um eine Bedeutungsexplikation bemüht, vgl. Partee 1987, Pelletier / Schubert 1989, Smith Stvan 1998, Dölling 2001, Joosten 2003 und von Heusinger 2010. Thematisiert wurden also folgende zwei Fragen aus semantischer Sicht: (12)

Fragestellung aus semantischer Sicht (i) Wie können Individuativa wie Zitrone je nach Kontext als Massennomina oder umgekehrt Massennomina wie Bier als Individuativa gedeutet werden? (ii) Wie lässt sich die doppelte Deutung dieser Nomina explizieren?

Joosten (2003) gibt einen sehr guten Überblick über mehr als 25 Ansätze zu der zählbar/nichtzählbar-Unterscheidung (hauptsächlich im Englischen) und hebt hervor, dass sie alle auf irgendeine Weise problematisch sind. Er schildert aufgrund dieser Studien vier unterschiedliche Aspekte und theoretische Behandlungsweisen der Problematik in der einschlägigen Literatur, thematisiert die Schwächen der einzelnen Auffassungen und schlägt aufgrund dieser Schwächen einen theoretischen Rahmen vor, in dem er die vier unterschiedlichen theoretischen Positionen zu versöhnen hofft. Da sich zur lexikalischen/semantischen/grammatischen Beschreibung der (un)zählbaren Nomina anscheinend nicht eine „beste Theorie“ formulieren lässt, scheint eine multidimensionale Analyse dieser Art eine der möglichen Optionen zu sein. Ein anderer Ausweg aus der oben geschilderten Falle, dass nämlich keiner der vier Ansätze alle Aspekte der zählbar/unzählbar-Problematik gänzlich zu erfassen mag, wäre die etwas radikalere Lösung, dass man − statt die vier miteinander versönhnen zu wollen − nur einen als Grundlage der Analyse auswählt, dafür aber von den anderen Ansätzen vielleicht mit Recht aufgewiesene Unverträglichkeiten in Kauf nimmt. In diesem Punkt soll nach Joosten (2003) auf die vier Ansätze näher eingegangen werden. 5.1

Der grammatische Ansatz

Die IND/MASS-Unterscheidung hat klare grammatische Reflexe. Die Pluralisierbarkeit oder die Kombinierbarkeit des Nomens mit Kardinalia (zwei Aspekte, die in vielen Sprachen als Indikatoren der Zählbarkeit des Nomens dienen) unterscheiden eindeutig die beiden Klassen der Nomina. Das ist natürlich verträglich mit der Auffassung, dass diese morphologischen bzw. syntaktischen Mechanismen aus den lexikalischen Eigenschaften der Nomina vorhersagbar sind. Die Pluralisierbarkeit des Nomens und − was noch wichtiger ist − die Wahl des richtigen

Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation

427

Pluralallomorphs sind ein Teil der lexikalischen Repräsentation des Nomens und damit ein grundlegendes Unterscheidungskriterium für den grammatischen Ansatz, auch dann, wenn die Semantik nicht mitmacht, z.B. im Falle von Jeans oder Ferien, die wegen des morphologischen Plurals und im Falle von Ferien auch trotz unserer semantischen Intuition als ‚zählbare‘ Nomina gelten. Auf der anderen Seite scheint es kein Zufall zu sein, dass Salz oder Wasser in vielen Sprachen unzählbare, Auto und Tisch aber zählbare Nomina sind. Das heißt, die Tatsache, dass der grammatische Ansatz in vielen Fällen verträglich ist mit den lexikalischen Eigenschaften dieser Nomina, ist an sich nicht hinreichend, vielmehr liegt eine lexikalisch-semantische Unterscheidung der Nomina vor, die sich dann in den genannten grammatischen Reflexen widerspiegelt. 5.2

Der ontologische Ansatz

Im ontologischen Ansatz wird die IND/MASS-Unterscheidung unter Bezug auf die nominalen Referenten, d.h. Entitäten der außersprachlichen Wirklichkeit definiert. Ein Nomen wie Wasser gilt als MASS, wenn seine Referenten homogene Referenz haben, d.h. kumulativ und distributiv referieren. Die kumulative Referenz bedeutet, dass die Summe jedes Quantums, das Wasser ist, ebenfalls als Wasser bezeichnet werden kann. Die distributive Referenz auf der anderen Seite bedeutet, dass jeder Teil von Wasser auch unter dem Begriff Wasser fällt. Joosten hebt hier als wichtigsten Kritikpunkt hervor, dass im ontologischen Ansatz keine Erklärung dafür gefunden werden kann, dass unterschiedliche Sprachen dieselben zählbaren/unzählbaren Entitäten der außersprachlichen Wirklichkeit unterschiedlich lexikalisieren können. So gilt Obst im Deutschen als unzälbares Kollektivum, während andere Sprachen dafür zählbare Individuativa einsetzen: ung. gyümölcs, sp. fruta, ar. faakiha usw. Noch problematischer ist die in vielen Sprachen belegbare Option der Verwendung eines Nomens in einer von seiner grundlegenden ontologisch einzig möglichen Deutung abweichenden Lesart. So ist das grundsätzlich zählbare Nomen Zitrone auch als unzälhbares MASS und zwar als Substanz bzw. Flüssigkeit zu verwenden. Daher muss gefolgert werden, dass die (Un)zählbarkeit eine linguistische Kategorie ist, die aber ausgeprägte ontologische Bezüge hat. 5.3

Der konzeptuell-semantische Ansatz

Lehnt man den ontologischen Ansatz ab, bietet sich der konzeptuell-semantische Ansatz als Erklärung für die IND/MASS-Unterscheidung an. Da wird die Auffassung vertreten, dass es bei dieser Dichotomie in erster Linie nicht um ontologische Kategorisierungen, sondern um einzelsprachliche Konzeptualisierungen der

György Scheibl

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Entitäten in der Welt geht. Ob ein Wort zählbar oder unzählbar ist, hängt mit anderen Worten nicht von dem von ihm bezeichneten Objekt, sondern von der Bedeutung des Wortes ab. In dieser Theorie kann dann ohne weiteres erklärt werden, dass sich Sprachen in ihren Lexikalisierungsstrategien unterscheiden können oder dass grundsätzlich zählbare bzw. unzählbare Nomina auch andere Deutungsmöglichkeiten haben können. Dies lässt sich vielleicht am einfachstem mit Massennomina zeigen, die auch zählbare Deutungen, z.B. Sorten- oder Behälterlesarten zulassen, vgl. z.B. das Lexem Bier, in seiner Grundlesart als MASS, in der Sorten- und Behälterlesart als ‚Biersorte‘ oder ‚ein Glas/eine Flasche Bier‘. So liegt die Annahme nahe, dass diese Bedeutungselemente Komponenten der lexikalischen Repräsentation des Nomens sind. Anders formuliert geht es hier um die lexikalisch-semantische Frage, ob die Sprache zur Bezeichnung eines gegebenen Objekts zu einem zählbaren oder unzählbaren Nomen greift. Man sieht leicht ein, dass die grammatische Unterscheidung von IND und MASS häufig mit der konzeptuell-semantischen korreliert und sich daraus ableiten lässt. Problematisch bleibt allerdings die Frage, ob der ganze nominale Wortschatz einer Sprache der oben genannten Bedeutungsvarianz IND vs. MASS unterliegt bzw. ob es sich bei den tatsächlich vorhandenen Bedeutungsalternationen um systematisch lexikalisierte Bedeutungen handelt, die u.U. zur Reduplikation des Lexikons führen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die IND/MASS-Bedeutungsunterscheidung und die auf dieser Dichotomie basierende Deutungsoption nach diesem Ansatz bei bestimmten Lexemen als lexikalische Option der Sprachen betrachtet werden. Die größten Konkurrenten dieses Ansatzes sind demnach Theorien, die die IND/MASS-Unterscheidung und die mögliche Bedeutungsvarianz eines Nomens nicht auf lexikalischer, sondern auf konextueller Ebene zu erklären suchen. Der letzte Punkt fasst die Grundzüge des kontextuellen Ansatzes zusammen. 5.4

Der kontextuelle Ansatz

Im Gegensatz zum konzeptuell-semantischen Ansatz wird hier angenommen, dass die Zählbarkeit und damit die IND/MASS-Deutung nicht die Eigenschaft des Nomens, sondern die der NP ist. Folglich ist die Zählbarkeit nur auf NP-Ebene definierbar, und auch wenn gewisse Klassen der Nomina lexikalische Präferenzen für die eine oder andere Lesart haben, können sie nicht an und für sich lexikalisch als IND oder als MASS klassifiziert werden. Wenn aber das die NP konstituierende Nomen noch nicht, die NP selbst aber schon als (un)zählbar zu bezeichnen ist, muss gefolgert werden, dass die jeweilige, gegebenenfalls auch ambige NP-Interpretation von den restlichen NP-Konstituenten, nämlich von den Determinatoren oder Quantoren abhängt. Wichtig ist also, dass die Bedeutungszuordnung hier erst auf der Ebene des Kontextes erfolgt.

Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation

429

Mit anderen Worten generiert die syntaktische Struktur nicht die passende Lesart für das fragliche Nomen, sie lässt sie bloß zu (ist kompatibel mit ihr). Zum Mikrokontext des nominalen Lexems gehören Determinatoren, Pluralmarker oder Kardinalia, mit denen es eine NP bildet − oder eben das Fehlen von diesen. Durch diese Indikatoren werden − wie oben erwähnt − die zählbaren/unzählbaren Kontexte definiert, in denen nur bestimmte Lesarten der Nomina zugelassen sind. Die Interpretation der Gesamtkonstruktion wird dabei immer auf der NP-Ebene bestimmt. So erzwingt der unbestimmte Artikel in den Beispielen in Tabelle 2 die IND-Lesart der Nomina bzw. der NP. Numerativkonstruktionen wie ein Glas Wasser dagegen verlangen als MASS gedeutete Nomina und sorgen für die zählbare Deutung der gesamten NP. 5.5

Zusammenfassung und Auswertung

Es ist eindeutig, dass Numerativkonstruktionen das unzählbare Nomen in Form einer syntaktischen Konstruktion (NP) zu einem zählbaren Term machen, doch sie sind nur für die lexikalisch als ‚unzählbar‘ markierten Nomina definiert. D.h. die Unzählbarkeit muss trotz allem eine lexikalische Basis haben. Bei deutungsunspezifischen Konstruktionen wie der definiten NP in (13) (13)

die Zitrone

sind zählbare und unzählbare Lesarten zugänglich, doch diese Ambiguität kann unmöglich von der syntaktischen Struktur der NP hergeleitet werden. Die Auffassung, dass der bestimmte Artikel im Deutschen ambig zwischen einer INDund einer MASS-Lesart ist, scheint kontraintuitiv. Das heißt mit anderen Worten, dass für die genannte Ambiguität im Gegensatz zur Annahme des kontextuellen Ansatzes doch eine lexikalische Basis angenommen werden muss. Joosten (2003) argumentiert für eine multidimensionale Analyse der zählbar/ unzählbar-Unterscheidung, da keiner der oben vorgestellten vier Ansätze eine in jeder Hinsicht zufrieden stellende Lösung für die Problematik zu bieten scheint. Er unterscheidet vier Parameter aus den unterschiedlichen Beschreibungsebenen des Phänomens, vgl. das folgende Zitat aus Joosten 2003: 225f.: All four basic theoretical positions in the count-mass literature are problematic to some extent. Radically grammatical, ontological, conceptual-semantic, or contextual analysis have all proven unworkable. The solution, so it seems, lies in the reconciliation of the different theoretical views. A proper characterization of the count-mass distinction can only be given if its multidimensional character is fully acknowledged.

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György Scheibl First impetuses to such reconciliation can be found in Allan (1980) and Mufwene (1984). Both studies are combinations of the conceptual-semantic and the contextual view: countability is considered to be a property of NPs, not of nouns, but nouns do have what Allan calls “countability preferences”. Some nouns (e.g. car) enter countable environments more readily than others (e.g. admiration), which means that the answer to the question “is countability a binary phenomenon?” should be “yes and no”. Countability as a feature of NPs is a binary feature (an NP is count or mass, nothing in between), but whether a noun is count or mass, is a matter of degree (of lexicalization).

Da die Deutungsoptionen eine offensichtliche konzeptuelle Basis und ausgeprägte grammatische Reflexe haben, werden die hier zu behandelnden systematischen Deutungsoptionen auf lexikalischer Ebene, d.h. mit Ausschaltung kontextueller Faktoren verortet. Damit wird die Auffassung vertreten, dass die verschiedenen Lesarten durch ein generatives Lexikon hergeleitet werden. Ich gehe davon aus, dass mit IND/MASS eine lexikalisch gegebene Distinktion mit ausgeprägten grammatischen Reflexen vorliegt und schlage eine lexikalischsemantische, merkmalsbasierte Analyse vor, wobei zu vermerken ist, dass keine starre Lexikalisierung der Lesarten, sondern eine flexible Interpretation angenommen wird. Da die grammatischen Realisierungen motiviert sein müssen, wird eine kontextuelle Verortung der Interpretationsvielfalt abgelehnt: Die Ablehnung der lexikalischen Ambiguität bei Lexemen wie Zitrone und die Verwaltung dieser Ambiguität auf der kontextuellen Ebene werden also nicht als Lösung, sondern nur als Verlagerung der Problematik angesehen. Die einzelnen Lesarten ergeben sich tatsächlich in der jeweiligen Konstruktion, aber das bedeutet nicht, dass sie erst durch die syntaktische Struktur (oder durch den Kontext) hergeleitet werden können. Erstrebt wird eine semantische Klassifikation von nominalen Prädikaten und nicht von NPs. Die Bedeutungsvarianz wird nur auf Lexemebene untersucht, da es hier in erster Linie um die Strukturierung des nominalen Wortsschatzes geht. Damit verfolge ich eine wortsemantisch-grammatische Annäherung. Man muss aber im Auge behalten, dass dabei unzählige einzelsprachliche und lexemspezifische Besonderheiten zum Vorschein treten: a) Arbitraritäten, die die Achse konzeptuelle (Un)zählbarkeit−grammatische (Un)zählbarkeit betreffen wie z.B. Lexikalisierungen, die die konzeptuelle Basis nicht wiederspiegeln (Vieh) oder b) systematische und übereinzelsprachlich belegbare Abweichungen vom 1:1-Verhältnis zwischen Lexem und Deutung wie z.B. der unzählbare Gebrauch von (lexikalisch oder syntaktisch) zählbaren Nomina oder der zählbare Gebrauch von sonst unzählbaren Nomina.

Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation 6

431

Transparenz der Transposition im Deutschen

Als Alternative der unidirektionalen semasiologischen Fragestellung in (12) wird hier eine bidirektionale (semasiologische und onomasiologische) Betrachtungsweise verfolgt. Die in Tabelle 3 genannten Beispiele sollen als äquivalente Transpositionen aufgefasst werden. Ferner gilt, dass die Transpositionen im Deutschen mit einer mehr oder weniger regelmäßigen Formveränderung der Exponenten einhergehen (markierte Transposition, Typ 1 in Tabelle 3), oder aber auch „unsichtbar“ bleiben können (unmarkierte Transposition, Typ 2 in Tabelle 3): Fragestellungen aus semantische/morphologischer Sicht (i) Welche Typen der Transposition können im Deutschen differenziert werden und wie lässt sich der nominale Wortschatz durch diese Transpositionen erfassen? (ii) Welche Kodierungstechniken können im Deutschen bei der Transposition eines Lexems eingesetzt werden und wie kann die formale Unmarkiertheit bestimmter Transpositionen erklärt werden? Wenn Lexeme gewisser Numerusklassen in veränderter oder auch in unveränderter Form in andere Numerusklassen übertreten, spreche ich von Transposition. Durch die Transposition werden verschiedene Lexeme bzw. Wortformen eines Lexems semantisch relationiert. Dies ergibt ein Transpositionsparadigma.

Transposition

Bedeutung numerusklassenspezifischer Bedeutungswechsel: -ATORs

Form Transpositionsparadigma

Tab. 5: Bedeutungs- und Formebene der Transposition Der in Tabelle 5 als „-ATOR“ bezeichnete semantische Ableitungsmechanismus ist eine Bedeutungsrelation zwischen beliebigen zwei Numerusklassen derart, dass sich die Transposition α∈NumerusklasseA zu β∈NumerusklasseB durch die Bedeutungsveränderung A ⇒ B deuten lässt. Die so relationierten Exponenten bilden ein Transpositionsparadigma. Tabelle 6 fasst einige Typen der Transposition im Deutschen zusammen. Die englischen Bezeichnungen weisen darauf hin, dass die fragliche Bedeutungsvarianz bereits in den formalsemantischen Theorien der frühen 80er Jahre in der einschlägigen englischsprachigen Literatur diskutiert worden sind.

György Scheibl

432 I. X ⇒ IND Universal Sorter Universal Packager Singulativbildung Common Nominator Singulativbildung II. X ⇒ EN Proper Nominator

III. X ⇒ MASS Universal Grinder IV. X ⇒ (KONT)KOLL Kollektivbildung

MASS ⇒ IND MASS ⇒ IND MASS ⇒ IND EN ⇒ IND (a) KONTKOLL ⇒ IND (b) ABST ⇒ IND

ein(e) Wein(sorte) ein Wein Reiskorn, Salatkopf ein Armani Schmuckstück Trauerfall

(a) IND ⇒ EN (b) MASS ⇒ EN (c) ABST ⇒ EN (d) KOLL ⇒ EN

Mutter(s Hut) Gold Seine Majestät das Team des Jahres

(a) IND ⇒ MASS (b) EN ⇒ MASS

Zitrone zu viel Armani

(a) IND ⇒ KONTKOLL (b) IND ⇒ KOLL (c) MASS ⇒ KONTKOLL (d) EN ⇒ KOLL

Mauerwerk, Liedgut Team, -haufen, -team Zuckerwerk Schmidts

Tab. 6: Transpositionstypen im Deutschen Das Transpositionsparadigma des nominalen Lexems α∈NumerusklasseA ist semantisch definiert und besteht außer α aus all den Lexemen/lexikalischen Einheiten/Wortformen aus der NumerusklasseB, die mit α in einer vom Transpositionstyp festgelegten Bedeutungsrelation A ⇒ B stehen. Die möglichen Exponenten gliedern sich demnach in die folgenden Typen: (i) Lexeme bzw. lexikalische Einheiten eines von α verschiedenen Lexems, (ii) lexikalische Einheiten von α und (iii) Wortformen, d.h. morphologische/syntaktische Formen des Lexems α. In den Beispielen in (15) ist TeamKOLL eine lexikalische Einheit eines von PersonIND unterschiedlichen Lexems, ZitroneMASS oder ArmaniIND sind jeweils lexikalische Einheiten der Lexeme Zitrone bzw. Armani, ZitronenKOLL und ArmanisKOLL schließlich sind Flexionsformen, und zwar Pluralformen der zugrunde liegenden Lexeme. (14)

ZitroneIND − ZitroneMASS − ZitroneEN − ZitronenKOLL − … ArmaniEN − ArmaniIND − ArmaniMASS − … PersonIND − PersonMASS − PersonEN − TeamKOLL− …

Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation

433

Die unmarkierte Transposition wie bei Zitrone (und Bier) ist also als eine unter mehreren formalen Optionen zu betrachten: Diese unsichtbare Operation nenne ich nach Scheibl (2010b) lexikalische Deponenz: Die lexikalische Deponenz ist eine lexikalische Operation, die aus der lexikalisch primären Lesart eines Lexems formgleiche Bedeutungsvarianten ableitet. Diese formgleichen Bedeutungsvarianten werden als sich in ihrer semantischen Repräsentation unterscheidende lexikalische Einheiten (LE1 … LEn) des Lexems kodiert.

Zur semantischen und formalen Charakterisierung und Relationierung beliebiger Elemente eines Transpositionsparadigmas wird das Merkmal ±GERICHTET eingeführt: Die Relation ist +GERICHTET, wenn das eine Element im Transpositionspaar in Bedeutung/Form dem anderen gegenüber primär ist, sonst ist sie −GERICHTET. Aus semantischer Sicht ist eines der Elemente primär (und daher gilt die Relation als +GERICHTET), wenn es (i) ausschließlich Träger der lexikalischen Bedeutung ist wie z.B. bei ArmaniEN − ArmanisKOLL oder (ii) bei formgleichen Transpositionen die primäre Lesart hat wie ZitroneIND. Aus formaler Sicht bedeutet +GERICHTET, dass ein Exponent hinsichtlich seiner morphologischen Komplexität primär ist. Durch ±GERICHTET lässt sich die generelle Transpositionsfreudigkeit einer Sprache ermitteln, wobei gilt: Flexion, Derivation und Komposition (+GERICHTET) sind auf der Skala der Transpositionsfreudigkeit höher geordnet als Suppletion oder Deponenz (−GERICHTET). Das Lexem Zitrone zeigt, dass Arabisch transpositionsfreudiger als Deutsch ist; das Beispiel Todesfall weist darauf hin, dass Deutsch transpositionsfreudiger ist als Ungarisch. Tabelle 7 fasst die ±GERICHTETEN Relationen nochmal zusammen, benennt den Typus und sortiert die Transpositionstypen. Bedeutung +GERICHTET

Form +GERICHTET

Typus Flexion

−GERICHTET

+GERICHTET

+GERICHTET

−GERICHTETcovert

Derivation, Komposition Deponenz

−GERICHTET

−GERICHTETovert

Suppletion

Beispiel Flexionsplural assoziativer Plural Singulativ-, Kollektivbildung Univiversal Sorter Universal Packager Common Nominator Proper Nominator Universal Grinder BaumIND − HolzMASS

Tab. 7: Gerichtetheit und Transpositionstyp im Deutschen

434 7

György Scheibl Ausblick: Sprachkontrastive und sprachtypologische Perspektiven

Zwar konnte hier keine repräsentative Datenbasis zum Sprachvergleich herangezogen werden, doch lassen sich fürs Deutsche in Bezug auf die Transposition folgende drei Charakteristika erkennen: 1. Unterrepräsentiertheit der flexematischen Mittel in der Transposition: Durch den Flexionsplural können im Deutschen systematischerweise Kollektiva gebildet werden, doch in anderen Transpositionstypen ist Flexion als Transpositionsmittel nicht vertreten. 2. Hoher Grad der Kompositionsfreudigkeit: Im Vergleich zu den hier gezeigten Kontrastsprachen Ungarisch und Arabisch zeichet sich das Deutsche durch die Dominanz des morphologischen Prozesses Komposition in den unterschiedlichsten Typen der Transposition aus. Besonders zur Bildung von KOLL und KONTKOLL setzt das Deutsche gerne die Komposition als Transpositionsmittel ein. 3. Dominanz der Deponenz als Typus der Transposition in den Numerusklassen IND-MASS-EN: Individuativa können im Deutschen ohne formale Abänderung auch als Massennomina bzw. Eigennamen gebracht werden. Diese Beispiele der Bedeutungsvarianz werden aus formaler Perspektive unter ‚lexikalische Deponenz‘ verbucht. Der hier skizzierte Ansatz zur systematischen Beschreibung der Transposition im Deutschen hat nicht nur eine sprachkontrastive, sondern auch eine sprachtypologische Dimension. In Scheibl 2013 versuche ich, einen theoretischen Rahmen für die typologische Perspektivierung der Transposition zu umreißen. Zum Schluss dieser Arbeit sollen diese sprachkontrastiven und -typologischen Aspekte kurz angesprochen werden. In Bezug auf die Numerusklasse und die Transposition ergeben sich folgende Fragestellungen: Fragestellungen aus sprachkontrastiver Sicht (i) Welche Numerusklassen gibt es in den Kontrastsprachen und durch welche Transpositionen werden sie relationiert? (ii) Welchen formalen Apparates bedienen sich die Kontrastsprachen im Transpositionsparadigma? Fragestellungen aus sprachtypologischer Sicht (i) Gibt es universale Numerusklassen und universale Transpositionen? (ii) Gibt es universale Markierungsstrategien und ist das Transpositionsparadigma universal?

Lexikalische Determination vs. kontextuelle Spezifikation

435

Diese Fragestellungen fügen sich in die Reihe der aktuellen Forschungsthemen ein, die die semantische bzw. die lexikalische Typologie zu beantworten bestrebt ist, vgl. Wierzbicka 1972, 1980, 1992, 1996; Lehrer 1992; Goddard 1994, 1998, 2001, 2002, 2008 (in Vorb.) und Koptjevskaja-Tamm 2008. Die Suche nach universalen lexikalischen Einheiten kann nach Goddard (2001: 1190f.) wie folgt beschrieben werden: Cruse (1986: 77−78) defines a “lexical unit” as a pairing of a single specifiable sense (meaning) with a lexical form […]. The concept is not to be identified either with “lexeme” (a family of lexical units) or with “lexical form” (a family of word forms which differ only in respect of inflection). A polysemous word is a lexeme which consists of more than one lexical unit. A lexical form need not to be formally monomorphematic: it may be a compound or derived word or a phraseme. This focus of this article is the question: Are there any universal lexical units? Or, more percisely: Are there any meanings which exist as the senses of lexical units in all languages? For terminological brevity, I will refer to meanings which (putatively) satisfy this description as “universally lexicalised meanings”, or more simply as “lexical universals”. […] This is the foundational postulate of the “natural semantic metalanguage” (NSM) approach to semantic analysis […]. The postulate implies the existence, in all languages, of a finite set of indefinable expressions (words, bound morphemes, phrasemes). The meanings of these indefinable expressions, which represent the terminal elements of language-internal semantic analysis, are known as “semantic primes”. About 60 semantic primes have been proposed.

Die Annahme der Universalität der Transposition oder des Transpositionsparadigmas ist eine sehr starke empirische Hypothese, die erst nachgewiesen werden muss. Dabei soll untersucht werden, ob es für jede Sprache, die die Numerusklassen A und B unterscheidet, gilt, dass aus dem Vorhandensein der lexikalischen Einheit LE1 aus der Numerusklasse A auf das Vorhandensein der lexikalischen Einheit LE2 aus der Numerusklasse B gefolgert werden kann, vgl. die Definition: Universale Transposition LE1-LE2: Für jede Sprache S mit NumerusklasseA und NumerusklasseB: Wenn S LE1 ∈ NumerusklasseA hat, so hat sie auch LE2 ∈ NumerusklasseB. Die LE setzt sich immer aus Bedeutung und Form zusammen, daher sind in der Definition oben vier Entitäten in Beziehung gesetzt: Bed1 + Form1 von LE1 und Bed2 + Form2 von LE2. Das kann folgendermaßen zusammengefasst werden:

György Scheibl

436 universale Transposition

Bedeutung (A) Bed1 → LE2

Form (B) Form1 → LE2

Tab. 8: Bedeutungs- und Formaspekte der universalen Transposition Unter (A) werden implikative lexikalische Universalien aus der Perspektive der Bedeutung von LE1 angeführt: Die Bedeutung, die zu einer lexikalischen Einheit LE1 gehört, impliziert in jeder Sprache die Präsenz einer lexikalischen Einheit LE2. Wir unterscheiden folgende zwei Typen: A1 Die Bedeutung von LE1 impliziert das Vorhandensein von LE2, unter der Bedingung, dass Form1 und Form2 identisch sind. Das ist die Möglichkeit der Universalität der lexikalischen Bedeutungsvarianz. Dabei soll gezeigt werden, ob formgleiche Transpositionen von lexikalischen Einheiten (wie das im Deutschen mit IND-MASS-EN der Fall ist) universalen Charakter haben. Wenn ja, dann könnten die Transpositionstypen Universal Grinder, Universal Sorter, Universal Packager oder EN-Transpositionen als Transpositionsuniversalien betrachtet werden. A2 Die Bedeutung von LE1 impliziert das Vorhandensein von LE2, vorausgesetzt, dass Form1 und Form2 zwar nicht identisch, aber systematisch aufeinander bezogen sind. Hier geht es um die Universalität der Transposition, d.h. die Frage, ob nominale Lexeme sprachübergreifend in systematischer Weise ihre Numerusklasse wechseln können. Unter (B) werden implikative lexikalische Universalien aus der Perspektive der Form von LE1 klassifiziert: Die Form, die zu einer lexikalischen Einheit LE1 gehört, impliziert in jeder Sprache die Präsenz einer lexikalischen Einheit LE2. Durch diese Definition sollen Universalien erfasst werden, bei denen die Form von LE1 das Vorhandensein von LE2 impliziert, vorausgesetzt, dass Bed1 und Bed2 zwar nicht identisch sind, aber zwischen ihnen eine klar definierbare und systematische Bedeutungsrelation besteht. Hier sollte empirisch untersucht werden, ob sich nominale Lexeme beliebiger Sprachen durch ihre Transpositionen in Transpositionsparadigmen anordnen lassen, und ob es universale Markierungsstrategien bei der Transposition gibt. Mit anderen Worten ist hier die Universalität des Transpositionsparadigmas in den Sprachen nachzuweisen.

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György Scheibl

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Roberta V. Rada Budapest

Die Sortenhaftigkeit von Texten im Spiegel der stilistisch motivierten Abweichungen vom Textmuster Abstract Den Gegenstand dieser Arbeit bildet ein bestimmter Typ von intertextuellen Beziehungen, so wie er sich in geschriebenen Gebrauchstexten, d.h. nicht-literarischen (nicht-fiktionalen) Texten der deutschen und der ungarischen Gegenwartssprache offenbart. Es handelt sich um Text-Textmuster-Bezüge, deren Erfassung in Form des Gattungsbezugs den genuinen Bestandteil literaturwissenschaftlicher Arbeiten zur Intertextualität bildet(e). Text-Textmuster-Bezüge machten aber schon immer auch den Gegenstand der Textsortenlinguistik aus, indem es darum ging zu zeigen, wie diese erfasst und beschrieben werden, bzw. wie sie zur Typologisierung von Texten beitragen können. Besonders interessant wird ein solcher Bezug, wenn in einem Text gleichzeitig auf mehrere verschiedene Textmuster referiert wird. Dieses Phänomen wird im folgenden Beitrag als stilistisches Mittel vor dem Hintergrund der linguistischen Intertextualitätsforschung und der Textstilistik beschrieben und anhand eines eigens erstellten Analysemodells korpusbasiert untersucht.

1

Einleitung

Um die Jahrtausendwende erfolgt eine Bestandsaufnahme im Bereich textsortenlinguistischer Forschungen (vgl. Antos / Tietz 1997, Adamzik1 2007a, 2007b). Es wird die Meinung vertreten, dass eine Sichtweise, „bei der Textsorten nicht nur vergleichend einander gegenübergestellt und durch Abgrenzung gegeneinander beschrieben, sondern in ihrem funktionalen Zusammenspiel betrachtet werden“, dazu beitragen kann, „die Textsortenlinguistik aus einem gewissen ‚Aufder-Stelle-Treten‘ zu befreien“ (Adamzik 2007b: 15). Diese neue, die bisherigen textsortenlinguistischen Forschungen befruchtende Sicht offenbart sich nach Adamzik u.a. in der Bestrebung, die kreative und individuelle Komponente der Gestaltung eines Textes nach einem bestimmten Muster zu ermitteln, die der 1

Bei den erwähnten Quellen handelt es sich jeweils um spätere Auflagen der Schriften von Adamzik aus den Jahren 2000 und 2001.

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Roberta V. Rada

betreffende Text nicht mit allen anderen Textexemplaren derselben Sorte teilt. Dies kann jedoch erst vor dem Hintergrund der Musterkomponente erfasst werden, zumal erst auf diese Weise beurteilt werden kann, „in welchem Ausmaß, in welcher Weise und zu welchem Zweck oder mit welchen Effekten in einem gegebenen Text auf sie zurückgegriffen wird“ (ebd., S. 23). Im Sinne des Vorschlags von Adamzik sollten auch Gebrauchstexte einer Untersuchung der nicht-rekurrenten Eigenschaften unterzogen werden. Diese Untersuchung kann in Texten realisiert werden, in denen originalisierend von der (Textsorten)Norm konsequent abgewichen wird, wodurch verschiedene Textmuster inkongruent kombiniert werden. Der Bezug zwischen Text und Textmuster fällt nämlich besonders ins Auge, wenn vom Muster abgewichen wird (Fix 2000): „Indem man Regeln bewusst bricht, hat man ihre Existenz immer schon bejaht, und sei es nur die Existenz der einen, nämlich der, daß Regeln dazu da sind, eingehalten zu werden. Und man zieht aus diesem Bruch stilistischen Gewinn …“ (Fix 1997: 104). Solche bewussten ästhetischen und spielerischen Verfahrensweisen verdienen nach Fix mehr Aufmerksamkeit, weil das ÄsthetischSpielerische schlechthin immer mehr unseren Alltag prägt (Fix 2005: 15). Damit wird gerade die kreative Komponente angesprochen, deren Untersuchung auch von Adamzik (vgl. oben) befürwortet wird. In diesem Sinne setzt sich dieser Beitrag zum Ziel, a) am Beispiel von deutschen und ungarischen Gebrauchstexten zu veranschaulichen, wie der Textproduzent durch die Kombination verschiedener Textmuster in einem Text (z.B. Textmustermontagen, Textmustermischungen) originalisierend von der (Textsorten)Norm abweichen kann, b) der Frage nachzugehen, ob Abweichungen dieser Art, die ursprünglich auf okkasionellem Gebrauch beruhen, überindividuelle usuelle Geltung erlangen können und wenn ja, ob sie wiederkehrende Realisierungsmöglichkeiten, -techniken (eventuell universeller Art, also einzelsprachunabhängig) aufweisen, c) wie diese mit linguistischen Mitteln beschrieben und analysiert werden können. Die theoretische Bestimmung des ausgewählten Textphänomens erfolgt auf der Folie der linguistischen Intertextualitätsforschung sowie der Textstilistik, indem Elemente beider theoretischer Ansätze kombiniert werden. Aus der Sicht der linguistischen IT wird sich auf den Text-Textmuster-Bezug als Typ intertextueller Beziehungen konzentriert, auf die Musterkomponente also, vor deren Hintergrund die Abweichungen erfasst werden können. Den Aspekt eines so verstandenen Intertextualitätstyps hält Janich in der gegenwärtigen germanistischen linguistischen Forschung für „noch recht vernachlässigt“ (Janich 2008: 193). Un-

Die Sortenhaftigkeit von Texten

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tersuchungen liegen für stilistisch auffällige Gebrauchstexte vor (z.B. für jugendsprachliche Texte bei Androutsopoulos 1997 oder für Werbetexte bei Opiłowski 2006), „domänenübergreifende“ Untersuchungen zu ihrer textlinguistischen Relevanz fehlen jedoch bislang.2 Aus textstilistischer Sicht steht die stilistische Kategorie „Abweichen“ im Mittelpunkt, mit deren Hilfe die Weiterentwicklung und Umprägung des Musters ermittelt werden kann. Zur Analyse wird ein zweisprachiges (deutsch-ungarisches) Korpus herangezogen und ein Analyseraster vorgestellt, mit dessen Hilfe die stilistisch bedingten Abweichungen vom Textmuster in Sachtexten korpusbasiert sowie domänen- und textsortenübergreifend beschrieben werden können.

2

Der Text-Textmuster-Bezug als Kategorie der linguistischen Intertextualität

Die linguistische Erforschung der Intertextualität3 ist auch heute noch durch offene Fragen und Desiderata theoretischer und praktischer Art gekennzeichnet (vgl. Fix 2000, Janich 2008). Die theoretische Bestimmung des Intertextualitätsbegriffes ist – wie in allen einschlägigen theoretischen Arbeiten ausdrücklich betont wird – keine einfache Aufgabe, weil wir es mit einem schillernden Begriff zu tun haben, der nicht nur in der Literaturwissenschaft sondern auch in der Semiotik und in Anlehnung an diese auch in der Linguistik zu Kontroversen geführt hat. In diesen Disziplinen sind teils übereinstimmende, teils abweichende Begriffsverwendungen und Schwerpunktsetzungen sichtbar. Dass die Bedeutung des Begriffes umkämpft und umstritten ist, hängt mit unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten der beiden Komponenten der Wortbildungskonstruktion Intertextualität, nämlich „Inter-“ und „Text“ zusammen. Abhängig davon, wie die Antwort auf die beiden Fragen „Was ist ein Text?“ bzw. „Was ist eine Beziehung zwischen Texten?“ ausfällt, werden jeweils unterschiedliche Bedeutungsintensionen festgelegt. Tegtmeyer (1997: 49) weist berechtigt darauf hin, dass dabei auch noch eine dritte Frage eine Rolle spielt, nämlich „ob es Wahrheitskriterien für Aussagen über intertextuelle Beziehungen gibt“, ob sich „intersubjektiv entscheiden [läßt], ob eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Texten besteht“ (Hervorhebung im Original). Erst im Falle der Bejahung einer solchen Frage 2

In der ungarischen Linguistik stellt weder die linguistische Erfassung der Intertextualität, noch die in Gebrauchstexten ein Thema dar, obwohl das Phänomen, so auch die stilistisch motivierte Abweichung vom Textmuster, auch in ungarischen Gebrauchstexten nachgewiesen werden kann, vgl. Rada 2008, V. Rada 2011. 3 „Intertextualität“ wird im weiteren Verlauf der Arbeit gelegentlich als „IT“ abgekürzt.

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Roberta V. Rada

kann der Begriff Intertextualität überhaupt als ein wissenschaftsfähiger Begriff betrachtet werden. Weiter ist zu berücksichtigen, dass der Intertextualitätsbegriff linguistisch reflektiert bzw. textlinguistisch betrachtet werden muss. Zusätzliche Schwierigkeiten für die linguistische Begriffsbestimmung ergeben sich daraus, dass die Sprachwissenschaft mit dem IT-Begriff lediglich eine Kategorie der Literaturwissenschaft adaptiert, „die nicht aus ihrem genuinen Gegenstandsbereich erwachsen ist, sondern in anderen wissenschaftlichen Kontexten mit anderen analytischen Instrumentarien und anderen Erklärungshintergründen entwickelt wurde“ (Steyer 1997: 83). Darüber hinaus muss danach gefragt werden, welche(r) IT-Begriff(e) textlinguistisch operationalisierbar und für die an sprachlichen Strukturen und Formen orientierte Analyse intertextueller Beziehungen auch in bzw. zwischen Gebrauchstexten genutzt werden kann (/können). Um den Text-Textmuster-Bezug als eine Kategorie der linguistischen IT bestimmen und charakterisieren zu können, wird intertextualitätstheoretisch von dem sog. moderaten IT-Konzept ausgegangen, das die Intertextualität als objektive Texteigenschaft in Form von markierten und intendierten Textbeziehungen auffasst. Die IT wird also als eine textdeskriptive Größe, als ein im Text materialisierter, konkreter Bezug zwischen Texten oder zwischen Texten und ihren Mustern gedeutet. Intertextuelle Bezüge werden vom Textproduzenten bewusst hergestellt, indem er entsprechende Signale, Verweise auf inhaltliche und/oder formale Elemente anderer textuellen Einheiten in seinem Text auslegt, die vom Textrezipienten wahrgenommen und beim Textverstehen, bei der Interpretation des Textsinnes/der Textbedeutung gedeutet werden (sollen) (vgl. Krause 2000). Dabei wird sichauf die Erfassung der intertextuellen Absichten des Textproduzenten konzentriert, also darauf, welche Strategien er bei der Herstellung von ITBeziehungen befolgt.4 Diese IT-Auffassung erweist sich als textlinguistisch operationalisierbar und kann für die Analyse intertextueller Beziehungen in bzw. zwischen Gebrauchstexten genutzt werden. Einem solchen IT-Konzept liegt ein Textkonzept zu Grunde, das Texte im Sinne einer kommunikativen Textauffassung als komplexe (Sprach)zeichen zum Kommunizieren, als abgegrenzte Sprachprodukte mit prototypischen Eigenschaften, wie (vgl. Blühdorn 2006: 279) a) stammt von einem Autor, b) ist zu einem bestimmten Zeitpunkt, c) mit einer bestimmten Handlungsabsicht verfasst worden, d) behandelt ein bestimmtes Thema, e) gehört zu einer bestimmten Textsorte, f) besteht aus sprachlichen Komponenten, bestimmt. Es darf jedoch die Bemerkung nicht fehlen, dass ein prototypischer schriftlicher Text der Gegenwart eher mul4

Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Ermittlung des Textproduzenten oft nicht unproblematisch ist, z.B. bei einem journalistischen Text, vgl. Adamzik (2007b) und Burger (2005).

Die Sortenhaftigkeit von Texten

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timedial/multimodal gestaltet ist, d.h. neben den sprachlichen Zeichen auch Zeichen anderer Kodes oder Zeichensysteme enthalten kann, z.B. Bilder, Farben, typographische Elemente usw. Linguistische Versuche in Bezug auf die Typologisierung der Vielfalt von IT-Beziehungen für Gebrauchstexte basieren auf der differenzierten Taxonomie von S. Holthuis (1993), wobei die IT auf Beziehungen zwischen verbalen Objekten beschränkt bleibt. Obwohl die Taxonomie von Holthuis für literarische Texte in der Literaturwissenschaft entworfen worden ist, ist dieser „Taxonomie […] bisher im Bereich der Linguistik keine andere entgegengestellt worden“ (Fix 2000: 453). Die für das IT-Konzept von Holthuis grundlegende Dichotomie, die auch für die linguistische Untersuchung der IT in gebrauchssprachlichen Texten theoretische und methodische Perspektiven eröffnet, ist die zwischen den beiden Globaltypen „typologische“ und „referentielle IT“. Die referentielle IT meint die Bezugnahme eines konkreten Textexemplars auf ein anderes, indem dieses formale und/oder inhaltliche Elemente von Vortexten aufgreift bzw. auf Folgetexte verweist. Die referentielle IT meint also Text-Text-Beziehungen, genauer thematische Textreferenzen, z.B. Zitat, Paraphrase, Reproduktion, Collage, Parodie und Allusion. Mit typologischer IT sind bei Holthuis Beziehungen gemeint, die Textexemplare zu Gattungen, Mustern, Genres, also zu sog. Systemtexten haben. Damit wird die globale und allgemeine Bedingung literarischer Produktion und Rezeption gemeint, die konzeptuell im Kontext kanonisierter, normativ festgelegter Systemtexte verankert ist. Mit dieser Auffassung von Holthuis über die typologische IT ist der kommunikationstheoretische textlinguistische Ansatz von Beaugrande / Dressler (1981), in dem der Begriff „Intertextualität“ in den Rang eines allgemeinen Textualitätsmerkmals erhoben worden ist, durchaus kompatibel, aber der Begriff IT wird hier noch expliziter in den Zusammenhang von Texttypologien gestellt. IT meint bei Beaugrande / Dressler in erster Linie einen Bezug des Einzeltextes zu dem zugrunde liegenden Textmuster. „Intertextualität ist, ganz allgemein, für die Entwicklung von TEXTSORTEN als Klassen von Texten mit typischen Mustern von Eigenschaften verantwortlich“ (1981: 13, Hervorhebung im Original). Die IT stellt somit eine immanente Eigenschaft von Texten, ein allgemeines Textmerkmal dar, weil jeder Text als Repräsentant einer Textsorte gilt. Um mögliche Relevanz- und Funktionsunterschiede innerhalb des Globaltyps typologische IT besser sichtbar zu machen, geht Holthuis von verschiedenen Gradationsstufen der typologischen IT-Relationen aus, die eine Binnenunterteilung in funktionale und system-immanente IT-Relationen abbilden. Die systemimmanente typologische IT erfasst alle gültigen Vertextungskonventionen, die die Texttypologie bzw. Gattungsforschung vorsieht. Im Prinzip handelt es sich hier um das in einer Kommunikationsgemeinschaft vorhandene kollektive Text-

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musterwissen, um kanonisierte Textsorten. In diesem Sinne spricht in der Textlinguistik auch Fix von Text-Textmuster-Beziehung als Textsortenbezogenheit (Fix 2000: 454). Diese konventionalisierte typologische IT befindet sich zwar in der Randzone, bildet aber die Grundlage für die anderen Untertypen typologischer IT. Eine Relevanz besitzt nämlich die konventionalisierte typologische IT als Folie zur Erfassung von Verstößen gegen bestimmte Vertextungskonventionen. Genau das macht das Wesen der funktional bedingten typologisch evaluierenden IT aus. Diese deckt das Spektrum von Textbezügen ab, die in der Literaturwissenschaft als „Dialog der Gattungen“ bezeichnet werden: Inwieweit ein Text dieses intertextuelle Potential dann dialogisch ausspielt, hängt hier wie überall natürlich davon ab, bis zu welchem Grade er vorgegebene Gattungsmuster nicht einfach fortschreibt, sondern sie variiert, durchbricht oder thematisiert und damit in einen Dialog mit den vorausgesetzten Gattungsexemplaren tritt. (Pfister 1985: 56)

Die evaluierende typologische IT meint also in diesem Sinne die Explizierung und Thematisierung des Gattungsmusters, aber auch Abweichung, Variation und Verstoß gegen die geltenden Vertextungskonventionen (vgl. Gattungsparodie in der Literaturwissenschaft). Diesen Aspekt der typologischen IT greift auch Fix auf, indem sie von typologischer Intertextualität „im Sinne von Mustermischungen und Textmusterbrüchen, im Sinne eines Ausbruchs aus den Konventionen der Zeichen“ (2000: 454) spricht. Evaluierend soll nach Holthuis in diesem Kontext den Funktionsbezug signalisieren, die Art der Relation auf Textmuster (Holthuis 1993: 56). Es wird auch darauf hingewiesen, dass die evaluierend typologische IT stark kontextbezogen ist, und die Erfassung typologisch-evaluierender Bezüge Abstraktionen erfordert, die aus dem textexternen Bezug herzuleiten sind. Als Sonderfall typologisch evaluierender IT betrachtet Holthuis die Gattungstransformationen (z.B. Einsatz von lyrischen Texten in Dramen und Romanen) und die Gattungscollagen (z.B. Montage von Gattungsmerkmalen des historischen Romans, des Kriminalromans und der Memoiren in Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“). Sie gewinnen eine intertextuelle Funktion erst dann, wenn der Bezug auf die Gattungen evaluierend erfolgt. Typologisch evaluierende IT erfordert dabei als Vergleichsgrundlage immer die konventionalisierten Vertextungskonventionen, die Gattungen und Texttypen. Linguistisch gesehen betrifft die typologische IT generell das Wissen des Textproduzenten über Textmuster, auf die er bewusst oder unbewusst zurückgreift und dadurch intertextuelle Text-Textmuster-Beziehungen herstellt. In Anlehnung an Holthuis werden auch in den einschlägigen linguistischen Arbeiten zwei Vorkommensweisen der typologischen IT akzeptiert:

Die Sortenhaftigkeit von Texten

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a) Die sog. konventionalisierte typologische IT (bei Opiłowski 2006), auch Systemreferenz (bei Rößler 1999, 1997) oder Mustertextreferenz (bei Androutsopoulos 1997) genannt, die in jedem Text enthalten ist, weil jeder Text einem normativen Textmuster folgt, auf dieses Bezug nimmt. b) Typologische IT im Sinne eines Ausbruchs aus der Konventionalität der Zeichen, die als „Interaktion zwischen mehreren Textmustern“ (Opiłowski 2006: 145 bzw. 160) in einem Text gedeutet wird. Letztere Art typologischer IT entsteht auf der Basis konventionalisierter typologischer IT. Da dieser Untertyp durch die bewusste Abweichung von den geltenden Textsortennormen, durch den Bruch von Textmustern konstituiert ist, müssen auch die Kategorien Textmuster bzw. Textsorte geklärt werden. Die Kategorie Textmuster und im Zusammenhang mit diesem auch die Textsorte werden in Anlehnung an Sandig (2006: 488ff.) gedeutet, vgl. Tabelle 1, S.446. Textmuster werden als komplexe sinnhafte Gestalten aufgefasst, die aus verschiedenartigen Eigenschaften bestehen. Das Textmuster ist „ein standardisiertes (konventionelles) Muster zur Lösung von Standardproblemen, die in einer Gesellschaft immer wieder auftreten“ (ebd., S. 488) (vgl. Adamzik 1995: 28: „Routineformeln auf der Textebene“). Muster sind wiederholt anwendbar, sie sind sozial eingespielt und typisiert, haben konventionelle und intersubjektive Geltung (bezogen auf eine Gemeinschaft), sind historisch veränderlich, man kann Fehler machen in Bezug auf das Muster aber davon auch intentional abweichen. Textmuster weisen je nach dem Charakter des zu lösenden sozialen Standardproblems mehr oder weniger große Freiräume auf (vgl. auch die Textmusterauffassung bei Heinemann 2000). Das Textmuster wird als Zusammenhang von nicht-sprachlichem Handlungstyp und sprachlicher, parasprachlicher und nonverbaler Textsorte beschrieben. Der Handlungstyp ist mit Hilfe der kommunikativen Aspekte: gesellschaftlicher Zweck, Situationseigenschaften, Situationsbeteiligte erfassbar. Zum Muster gehört aber nicht nur Handlungswissen dieser Art sondern auch das Wissen über sprachliche Formen und Mittel zur Realisierung dieses Handlungswissens. Die Textsorte wird als „das standardisierte komplexe Handlungsmittel, mit dem Handlungen nach dem Handlungstyp vollzogen werden“, aufgefasst (Sandig 2006: 488). Die Textsorte kann anhand von Merkmalen, wie Hierarchie der sprachlichen Handlungen, Sequenzmuster, Formulierungsmuster, materielle Textgestalt und Durchschnittsumfang beschrieben werden. Der Handlungstyp steuert die konventionellen Erwartungen bezüglich der Textsorte, die Textsorteneigenschaften kontextualisieren den Handlungstyp, sie zeigen ihn an, weil sie konventionell verknüpft sind.

Roberta V. Rada

446 Textmuster(wissen) Benennung(en) in der Sprache Handlungstyp Gesellschaftlicher Zweck • sozialer Sinn • Art der Problemlösung

Situationseigenschaften • Problemsituation • Institution / Handlungsbereich • Kanal • Medium Situationsbeteiligte (Rollen) • Sprecher/Schreiber • Adressat(en)/Rezipient(en) • Beziehungsart

Handlungsmittel: Textsorte prototypische Eigenschaften Handlungshierarchie • konstitutive und fakultative Teilhandlungen • generelle Textherstellungshandlungen, die genutzt werden • eingelagerte Themenstruktur Sequenzmuster • textmusterspezifisch • allgemeine Sequenzmuster, die nutzbar sind

Formulierungsmuster • Lexeme/Kollokationen/Gliederungssignale/stereotype Textkonstitutive (…) • allgemeine Formulierungsmuster • global (Fachsprachen, Stilebenen, Sprachökonomie …) • auf (Teil-)Themen bezogen: Frames • auf Teilhandlungstypen (auch Sequenzpositionen) bezogen • stilistische Handlungsmuster/allgemeine Darstellungsmuster: Dialogisieren, Kontrastieren, Muster der Themenentfaltung … Materielle Textgestalt grafische (+ bildliche) Gestalt / lautlich-prosodische Gestalt Durchschnittsumfang (Länge, Dauer)

Tab. 1: Das Textmustermodell von Sandig (2006: 489) Falls man die typologische IT im Sinne eines Ausbruchs aus der Konventionalität der Zeichen als intendierte Abweichung von den Erwartungen, die durch das Textmuster repräsentiert werden, auffasst, dann geht es um stilistisch bedingte Abweichungen. Aus diesem Grund soll dieser IT-Typ im Unterschied zur konventionalisierten typologischen IT als „stilistisch motivierte typologische IT“ bezeichnet werden. Fix (1997: 97) spricht über ein „‚postmodernes‘ Stilmittel“, das

Die Sortenhaftigkeit von Texten

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ursprünglich in literarischen Texten beheimatet ist (vgl. Holthuis 1993 und Broich 1985), von dem aber zunehmend auch in Alltagstexten Gebrauch gemacht wird.

3

ABWEICHEN als stilistische Kategorie

Zum Zwecke der stilistischen Beschreibung dieses IT-Typs wurde die pragmatisch fundierte textstilistische Theorie von Sandig (2006) herangezogen. Der Grund liegt einerseits darin, dass diese Stiltheorie mit dem gewählten IT-Konzept kompatibel ist. Sowohl der Text- als auch der Textmusterbegriff von Sandig korrelieren nämlich mit dem moderaten IT-Konzept. Sie wurden in erster Linie für geschriebene Gebrauchstexte (mit dem Merkmal der Multimodalität) entwickelt, auch die recherchierten und später zu analysierenden authentischen Texte (vgl. Kap. 4) sind solche. Andererseits werden bei Sandig die Kategorien „Textmuster“ und „Abweichen“ gebührend berücksichtigt. Aus textstilistischer Perspektive lässt sich das als die stilistisch motivierte typologische IT bezeichnete Phänomen mit einer Textherstellungsstrategie stilistischer Art, mit einem stilistischen Verfahren, nämlich ABWEICHEN5 in Zusammenhang bringen, von dem Textproduzenten Gebrauch machen, um stilistische Effekte zu erzielen. Unter stilistischem Verfahren versteht Sandig (2006: 152) globale, textbezogene „formale Merkmale, die im Text verschiedenste Funktionen erhalten können, mit denen also nicht bereits im Rahmen der Stilkompetenz eine begrenzte Brandbreite von Funktionen oder gar eine einzige Funktion verbunden ist“. Bei den stilistischen Verfahren geht es jeweils um stilstrukturbildende Verfahren. Da die Stilstruktur als Bündel kookkurrierender Merkmale aufgefasst wird und die Merkmale sich auf verschiedene Beschreibungsebenen des Textes erstrecken, ist Sandig bestrebt, stilistische Verfahren als strukturbildende Verfahren ebenfalls auf verschiedenen Ebenen zu beschreiben (vgl. auch Fix / Poethe / 5

ABWEICHEN ist hier nicht im Sinne der sog. „Abweichungsstilistik“ (auch deviatorische Stilistik bzw. Deviationsstilistik genannt) gemeint. Den Ausgangspunkt für die sog. „Abweichungsstilistik“ bildet das Interesse für das sprachlich Besondere, für den als abweichend empfundenen Sprachgebrauch. Der besondere, abweichende Sprachgebrauch wirkt ja immer auffällig und fesselt unsere Aufmerksamkeit. Unter dem Sammelbegriff „Abweichungsstilistik“ werden bestimmte Stiltheorien und eine bestimmte Praxis der Stilanalyse zusammenfassend benannt. Gemeinsam ist allen Abweichungsstilistiken die Auffassung, dass der Stil oder einzelne Stilmerkmale dadurch auffallen, dass sie von einer bekannten oder auch nur angenommenen Norm abweichen. Stil ist somit keine allgemeine Eigenschaft aller Texte sondern nur eine spezifische Eigenschaft bestimmter Texte (vgl. Fix / Poethe / Yos 2003, zur Kritik der Abweichungsstilistik vgl. Spillner 1974 und Sowinski 1999).

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Yos 2003). Sandig (1986: 137ff. und 2006: 153ff.) listet in diesem Sinne einfache Verfahren für Abweichungen geordnet nach der linguistischen Beschreibungsebene auf. Einige davon sind: a) grafische Abweichungen: z.B. interne Großschreibung bei schreIBMaschinen, b) typografische Abweichungen: Abweichung vom üblichen Text-Schriftbild, z.B. die Verwendung von gotischer Schrift in einer Todesanzeige, c) lautliche Abweichungen: z.B. die Aussprache des Eigennamens Neckermann als Nackermann, d) morphologische Abweichungen: z.B. die Bezeichnung einer Eigenschaft von einer festen Plastikflasche als unkaputtbar in der Werbung, durch eine nicht regelgerechte Wortbildungskonstruktion, e) syntaktische Abweichungen: Anakoluthe, elliptische Sätze usw., f) semantische Abweichungen: Metaphern, Spiel mit Homonymie, z.B. Ich kann dich nicht zum Schokoladenladen laden, doch kann ich mit Dir in Baden-Baden baden. ABWEICHEN als stilistisches Verfahren steht im Dienste der Realisierung des stilistischen (Teil)handlungsmusters INDIVIDUALISIEREN (vgl. auch ORIGINALISIEREN bei Fix 1991). Der Oberbegriff „textstilistisches Handlungsmuster“ meint dabei stilrelevante Teilhandlungstypen, d.h. es umfasst Vorgaben für stilistische Textherstellungshandlungen, Muster für die Stilproduktion und -rezeption, die aber nicht an die konkreten Textmuster gebunden sind. INDIVIDUALISIEREN als textstilistischer Handlungstyp meint dabei eine bestimmte Art der stilistischen Durchführung einer Handlung, indem die Handlung in Relation zu ihrer erwartbaren Durchführung nicht konventionell, nach Vorgaben von Mustern (TYPISIEREN), sondern besonders gestaltet ist. Der typisierenden Durchführung von kommunikativen Handlungen etwa für institutionelle Gestaltung, wodurch die Wirksamkeit der Kommunikation gesichert und möglichst verstärkt werden soll, ist also das individuierende Durchführen gegenüber gestellt, das im Sich-Abheben vom Üblichen, von der anerkannten sozialen/sprachlichen Ordnung besteht. Das ABWEICHEN als stilistisches Verfahren ist immer intendiert, hat kreativen und sprachspielerischen Charakter und wirkt stilhaft. Es kann dabei per definitionem unterschiedliche stilistische Funktionen im konkreten Text erfüllen. Dies ergibt sich u.a. daraus, dass Sandig die generelle Funktion des Stils, d.h. der Art und Weise der Textgestaltung, in der Anpassung von Kommunikationstypen an die jeweilige Situation und in den Kontext sieht, weswegen mit dem Stil alle möglichen Aspekte der Kommunikation, so die Art der Handlungsdurchführung, das Thema, die an der Handlung Beteiligten, ihre Beziehung, Kanal, Medium, Textträger, Einstellungen und Wertungen usw., relevant gemacht werden können.

Die Sortenhaftigkeit von Texten

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Den Bezugspunkt beim ABWEICHEN bildet im Falle der stilistisch motivierten typologischen IT das Textmuster, die Abweichung äußert sich hier darin, dass in einem und dem selben Text gleich auf mehrere Textmuster Bezug genommen wird, Elemente verschiedener Muster kombiniert werden. Der Textproduzent weicht mit Absicht ab und ist sich dieses Abweichens und seiner möglichen Wirkungen auf den Rezipienten auch voll bewusst. Texte mit stilistisch motivierter typologischer IT spiegeln also in Anlehnung an die Sandigsche Terminologie das Stilverfahren ABWEICHEN durch MISCHEN von TextMUSTERn wider.

4

Analyse der Texte mit stilistisch motivierter typologischer IT

Bei der Erstellung des Analysemodells wurden Analysekriterien bzw. analytische Ansätze der einschlägigen Forschung im Bereich der linguistischen IT bzw. der pragmatischen orientierten Textstilistik berücksichtigt (Rößler 1997, 1999, Androutsopoulos 1997 bzw. Sandig 2006). Das entwickelte Analysemodell eignet sich dazu, die stilistisch motivierte typologische IT aus der Einzeltextperspektive (vgl. Steyer 1997) zu erfassen. Die Analyse aus der Einzeltextperspektive besteht aus der Suche nach sprachlichen (aber auch visuellen) Spuren als expliziten Indikatoren für Bezugnahmen auf verschiedene Textmuster in einem Text, die zuerst aus dem Kontext isoliert und dann systematisiert werden. Dabei wird ein sprachwissenschaftlicher, objektiver Zugang (ebd.) zur Interpretation und Dekodierung der IT erstrebt, die die Perspektive des Textproduzenten aufzudecken versucht. Der Analyse liegt ein zweisprachiges Korpus zugrunde, das aus deutschsprachigen und ungarischsprachigen Sachtexten besteht. Die Recherche dieser Texte erfolgte in der Zeitspanne zwischen 2005−2010 in deutschen und ungarischen schriftlichen Presseprodukten. Es ergaben sich zwei Teilkorpora (ein deutsches und ein ungarisches) mit je 50 Texten. Das ungarische Teilkorpus wurde gänzlich von mir recherchiert. In das deutsche Teilkorpus wurden sämtliche, jedoch nicht alle in der einschlägigen Fachliteratur vorhandenen Textexemplare aufgenommen,6 nur diejenige, die relevante Aspekte des untersuchten Phänomens illustrieren können. Ausdrücklich muss jedoch betont werden, dass trotz des zweisprachigen Korpus keine kontrastive Untersuchung, kein systematischer Vergleich in deutsch-ungarischer Relation erzielt worden ist.

6

Das hat zur Folge, dass im deutschen Teilkorpus auch Texte enthalten sind, die früher als 2005 entstanden sind.

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450 4.1

Zur Terminologie

Angesichts der in der einschlägigen Fachliteratur vorhandenen terminologischen Vielfalt und im Interesse der konsequenten Durchführung der Analyse soll eine einheitliche Terminologie (vgl. V. Rada 2011) eingeführt werden. Einzeltexte/Textexemplare mit dem Phänomen der stilistisch motivierten typologischen IT sollen in Anlehnung an Orosz (1997) referierende Texte, Textmuster, auf die in den referierenden Texten Bezug genommen wird, referierte Textmuster genannt werden. Das die Textsortenzugehörigkeit des referierenden Textes gewährleistende Textmuster wurde in Anlehnung an Opiłowski (2006) als referiertes internes Textmuster, das von diesem abweichende Textmuster als referiertes externes Textmuster bezeichnet. Der referierende Text wird als die Realisierung seines referierten internen Textmusters aufgefasst, der aber auch verschiedene Elemente eines externen Textmusters aufweist, z.B. kann ein Werbetext (als referierender Text) Elemente einer Werbeanzeige (referiertes internes Textmuster) und eines Märchens (referiertes externes Textmuster) kombinieren (vgl. Belegtext 9). Das interne referierte Textmuster muss dabei trotz der Abweichung von ihm in Form von Bezügen zu dem referierten externen Textmuster immer eindeutig erkennbar bleiben/sein. 4.2

Das Analysemodell

Das Analysemodell enthält 6 Kriterien, größtenteils formaler, aber auch semantisch-funktionaler Art (vgl. auch Androutsopoulos 1997: 341). Formale Kriterien: (1) An welcher Stelle im referierenden Text eines referierten internen Textmusters erfolgt der Verweis auf ein von diesem abweichendes, externes Textmuster, wie ist die Verteilung dieser Verweise? (2) Auf wie viele externe Textmuster wird im referierenden Text Bezug genommen? Welcher Art sind sie? (3) Was für eine konkrete Technik des MISCHENS von TextMUSTERn liegt vor? Was ist das Ergebnis des MISCHENs? (4) Mithilfe welcher Elemente wird im referierenden Text auf das/die externen Textmuster verwiesen? Elemente welcher Beschreibungsebenen und welcher Kodes sind beim MISCHEN präsent? (5) Wie werden TextMUSTER GEMISCHT? Welche Konnektoren sind vorhanden?

Die Sortenhaftigkeit von Texten

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Semantisch-funktionale Kriterien: (6) Was ist die Funktion des MISCHENS der TextMUSTER? Dieses Modell erlaubt die qualitative, textsorten- und domänenübergreifende Untersuchung einer größeren Anzahl von Sachtexten, um wiederkehrende Mittel und Techniken des ABWEICHENS durch das MISCHEN von TextMUSTERn zu erfassen. 4.3

Ergebnisse der Analyse

Die Ergebnisse der Analyse werden entlang der Kriterien des Modells und auf der Folie des Textmustermodells von Sandig (vgl. Kap. 2) präsentiert. Zu (1) – Der Verweis auf ein externes Textmuster kann im referierenden Text übergreifend oder punktuell sein. Übergreifend ist der Verweis, wenn Elemente des referierten externen Textmusters im ganzen referierenden Text verteilt sind. Der deutschsprachige Klappentext (vgl. Belegtext 1, S. 452)7 wird übergreifend mit den Mitteln der Textsorte Medikamentenbeilage/Packungsbeilage gestaltet, wie -

Sequenzmuster (Benennung des Medikaments, Aufzählung der Eigenschaften und der Risiken, Dosierung, Zusammensetzung usw.), Formulierungsmuster (Frame „Krankheit“: Grippe, Schnupfen, Heiserkeit usw., typische Lexik und Syntax: Verwendungszweck, Dosierung, falls nicht anders verordnet), materielle Gestalt (typografische Realisierung, Layout) und Umfang (typische Länge einer Packungsbeilage).

Als punktuell gilt der Verweis, wenn er lediglich in einem konkreten Teiltext lokalisiert werden kann, z.B. in der Headline der ungarischen Werbeanzeige der Bank Raiffeisen (Belegtext 2, S. 452), die das typische Sequenz- und Formulierungsmuster sowie den typischen Textumfang der Textsorte Worträtsel realisiert. Das Rätsel besteht immer aus einer Aussage: Egyszerű és gyors, („Einfach und schnell.“), die im Ungarischen mittels einer stereotypen Textkonstitutive, nämlich Mi az? (“Was ist das?“) erfragt wird. Auch die Lösung des Rätsels (ung. megfejtés) wird angegeben Megfejtés: Akciós Raiffeisen Személyi Kölcsön, wobei diese in dem Werbegegenstand, genauer in einer Bankdienstleistung besteht.

7

Die Quellen der behandelten Belegtexte sind im Anhang angegeben.

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Belegtext 1: Übergreifender Verweis auf ein externes Textmuster

Belegtext 2: Punktueller Verweis auf das externe Textmuster

Die Sortenhaftigkeit von Texten

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Zu (2) – In Texten mit stilistisch motivierter typologischer IT wird meistens auf ein referiertes externes Textmuster Bezug genommen (vgl. Belegtext 1 und 2), wobei auch Verweise auf zwei verschiedene externe Textmuster belegt werden können (vgl. Belegtext 3, S. 454). Unschwer entdeckt man in dem deutschen Werbetext der Firma Harlekin schenke Humor, die Witzhefte, Magazine und jede Art humorvoller Artikel vertreibt, a) den typischen Umfang, b) die materielle Gestalt (das Layout und die typografische Realisierung mit Druckschrift bzw. Handschrift), c) das Sequenzmuster (Kopfzeile, Anweisungen des Arztes, Unterschrift des Arztes) sowie Elemente des Formulierungsmusters (typische Wortverbindungen 3 x täglich; Elemente des Frames „Arzt“ wie Titel Dr. med. + Personenname sowie Praxis, Besserung, die auch auf die Wendung Gute Besserung! anspielt, die von Ärzten in der Kommunikation mit Patienten sehr oft verwendet wird) von Arztrezepten. Auch der metasprachliche Hinweis in dem Benennen des referierten externen Textmusters: Rezept muss erwähnt werden. Darüber hinaus lässt sich auch die Textsorte Werbeanzeige für Medikamente in ihren Elementen erkennen, und zwar dank der stereotypen Formel Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Die Ernsthaftigkeit der beiden referierten externen Textmuster aus dem Bereich Medizin wird immer wieder sprachspielerisch zerstört, z.B. durch den Ersatz von Sprechstunden durch die analog gebildete Wortbildungskonstruktion Lachstunden, durch die Verbalisierung von Elementen des Frames „Lachen“ im Nachnamen des Arztes Muntermacher, oder im fiktiven Stadtnamen Heiterstadt. Unterstützt wird das auch durch die wortspielerische Modifikation der lexikalischen Elemente der Wendung Zu Risiken und …, ihr Ersatz durch klang- und schriftähnliche (wie riesige statt Risiken, essen statt lesen, schlafen statt schlagen) Wörter. All das wirkt humorvoll, löst also genau die Wirkung aus, die auch die Produkte von Harlekin schenke Humor erzielen. Das referierte interne Textmuster der Werbeanzeige ist übrigens nicht einfach zu ermitteln, weil diese Werbung nicht ein Konsumprodukt oder eine Dienstleistung zum Gegenstand hat, sondern das Lachen, das genauso durch die von der Firma vertriebenen Produkte wie auch beim Lesen dieser Werbung hervorgerufen werden soll.

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Belegtext 3: Verweis auf mehrere externe Textmuster Die Vielfalt der referierten externen Textmuster (z.B. Brief, Ansichtskarte, Küchenzettel, Kontaktanzeige, Todesanzeige, Kinokarte, Piktogramm usw.) sowie ihre Zugehörigkeit zu den verschiedensten kommunikativen Bereichen (Handel und Wirtschaft (vgl. Checkliste in Belegtext 4), Schule und Bildung (vgl. Diplom in Belegtext 5), Religion (z.B. Anschlagzettel in Friedhöfen), Wissenschaft (Wörterbuchartikel, Enzyklopädieartikel) und Rechtswesen (z.B. richterliche Vorladung, Fahndungsplakat) usw., ist verblüffend. Am stärksten ist jedoch der Bereich Alltagskommunikation vertreten. Die referierten externen Textmuster verfügen über relativ viele verbindliche konventionalisierte Vorgaben, hinsichtlich des Grades der Unikalität handelt es sich meistens um die Muster von „formelhaften“ Texten. Im Vergleich zu den referierten externen Textmustern erweisen sich die referierten internen Textmuster als weniger vielfältig. Sie weisen relativ große Freiräume in Bezug auf das Thema, aber vor allem auf das Formulierungsmuster und die materielle Textgestalt auf. Es geht meistens um Textmuster mit Appell- und/oder Informationsfunktion, wie Werbeund Anzeigetexte, Pressetexte, jugendsprachliche Texte (Falschlogos, Plattenkritik, Flugblatt), Sprüche, Losungen und Graffiti. Letzten Endes ist die stilistisch motivierte typologische IT durch die individuelle Ausfüllung solcher Freiräume der referierten internen Textmuster bedingt. Dieses Stilverfahren scheint in den vielen oben angeführten Textsorten, z.B. in Werbetexten, sogar routiniert zu sein, d.h. man erwartet Abweichungen vom Textmuster textsortenbedingt. Die stilistisch bedingte Abweichung vom Textmuster kann sich somit in bestimmten Textsorten zu einer Erwartung, also zu einer Vorgabe des internen Musters verstarren.

Die Sortenhaftigkeit von Texten

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Belegtext 4: Verweis auf ein externes Textmuster des Bereiches Wirtschaft

Belegtext 5: Verweis auf ein externes Textmuster des Bereiches Schule und Bildung

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Zu (3) – Es konnten mehrere Techniken des MISCHENs von TextMUSTERn (von Fix [1997: 98] und Janich [2008: 192] „Abweichungsformen“ genannt) unterschieden werden. Unter der Technik des MISCHENs wird die Art und Weise der Kombination von Elementen verschiedener Textmuster im referierenden Text verstanden. Bei der Textmustermontage handelt es sich darum, dass in den referierenden Text (mit einem referierten internen Textmuster) ein fremder Text oder ein fremdes Textfragment eingebettet wird, der jedoch eindeutig auf ein von diesem abweichendes, externes Textmuster Bezug nimmt. In dieser Werbeanzeige von ARCOR (vgl. Belegtext 6) entdeckt man einen Ausschnitt aus einer Zeitungsnachricht.

Belegtext 6: Textmustermontage Zwar ist lediglich der Anfang eines abgebildeten Zeitungstextes eingebettet, doch bereits dieser Umfang genügt, um das externe Textmuster zu identifizieren. Als Verweis funktionieren Elemente des Sequenzmusters (Dachzeile: e-Business setzt neue Maßstäbe, Titel: Mit der Maus ins Geschäft, Quellenangabe: Hamburg, Fließtext: Heute kauft man nicht…), sowie das Layout und die typische typografische Gestaltung dieser Teiltexte der Zeitungsnachricht (wechselnde Buchstaben-

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größe und Fettdruck). Das Thema des abgebildeten Zeitungsartikels (e-Business, Maus) ist mit dem Werbeinhalt (Highspeed Internet) durchaus kompatibel, das eingebettete Textmuster kann die Werbebotschaft erfolgreich unterstützen. Bei der Textmustermischung oktroyiert das referierte externe Textmuster sämtliche seiner Elemente dem referierenden Text. Die folgende Geburtsanzeige (vgl. Belegtext 7) ist wie eine öffentliche Bekanntmachung über die Entwicklung einer neuen Maschine zu lesen. Das Sequenzmuster (zeitliche Reihenfolge der Ereignisse wie Planung, Entwicklung, Produktion), die Elemente des Formulierungsmusters (Script „Herstellung einer Maschine“, Fachwörter, offizieller, unpersönlicher Ton, deskriptiv-explikative Themenentfaltung) und die dominante Teilhandlung (INFORMIEREN) gelten als eindeutige Verweise. Bei der Textmustermischung ist die Interaktion der referierten Textmuster konfrontativ, sie sind thematisch inkompatibel. Nach kurzer Planung und erfolgreicher Entwicklung ist es uns gelungen, innerhalb einer 9monatigen Produktionszeit pünktlich zum 26.10.98 der Öffentlichkeit den Prototyp Theodor Grill vorzustellen… Erste Testfahrten haben gezeigt, daß die Geräuschentwicklung erfreulich niedrig ist. Das ausnahmslos positive Echo des Publikums hat die Konstrukteure veranlaßt, über eine Serienanfertigung nachzudenken Anette und Michael Grill

Belegtext 7: Textmustermischung Die Textmustermetamorphose ist ausschließlich für Werbetexte charakteristisch (vgl. Opiłowski 2006: 183). Dabei geht es um die Verschleierung der Intention des referierenden Textes. Der Textproduzent versucht, den Werbeappell in eine andere Textsorte zu verkleiden, indem er auf Elemente des referierten externen Textmusters zurückgreift. Folgender Werbetext ist in einer Frauenzeitschrift (vgl. Belegtext 8, S. 458) erschienen und übernimmt Elemente des externen referierten Textmusters Bericht. Diese sind:

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Roberta V. Rada der typische Umfang, Elemente der materiellen Textgestalt: dominant schwarz-weiße Farbgebung, Layout mit Einteilung in Titel, Spalten, Absätze, visuelle Illustration, Elemente des Sequenzmusters: Dachzeile (Starkes Herz – mehr Energie) – Titel (Fitness kommt vom Herzen) – Haupttext mit typographisch hervorgehobenem ersten Buchstaben, Elemente des Formulierungsmusters: Einfügung in den Fachlichkeitsdiskurs, dominant deskriptiv-explikative Themenentfaltung, sachlicher Zeitungston, fachsprachliche Lexik bei der Abhandlung des gesundheitlichen Problems, ergänzt durch den persönlichen Bericht einer leidenden Frau.

Der metasprachliche Hinweis auf das interne Textmuster „Anzeige“ oben links deutet jedoch die zu verschleiernde Textsorte eindeutig an.

Belegtext 8: Textmustermetamorphose

Die Sortenhaftigkeit von Texten

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Zu (4) – Betrachtet man die Mittel des MISCHENS auf die Kodes hin, so geht es um Bezugnahmen auf das externe referierte Textmuster mittels a) ausschließlich verbaler Elemente (vgl. Belegtext 9), oder b) verbaler und visueller Elemente (vgl. Belegtext 5 oder 6) bzw. c) dominant visueller Elemente (vgl. Belegtext 10). Der intertextuelle Verweis auf das externe Textmuster des Märchens erfolgt in der Werbeanzeige von SAAB ausschließlich mit Hilfe von verbalen Elementen, wie -

-

die Eingangsformel Es war einmal, die narrative Themenentfaltung, typische syntaktische Mittel, wie Wortfolge (Es war einmal ein kleiner Autohersteller, der lebte und arbeitete …), Adjektivhäufungen (in einem fernen, kalten Land, In den langen, frostigen Winternächten …), und am Satzanfang (Und weil er nicht nur daran dachte …), Parallelismen (Ob Sicherheitsgurte…. Ob Flankenschutz…), elliptische Sätze (Dank einem winzigen 32-Bit-Prozessor., Soviel zu diesem.), lexikalische Komparation: besser und immer noch besser.

Wie ersichtlich, lassen sich die gemischten Elemente verschiedenen linguistischen Beschreibungsebenen (Morphologie, Syntax, Lexik usw.) zuordnen.

Belegtext 9: Verweis auf das externe Textmuster mittels verbaler Elemente

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Die ungarische Werbeanzeige von Renault Clio (Belegtext 10) enthält Verweise auf das Textmuster eines ärztlichen Schildes8, das von Augenärzten zum Testen des Sehvermögens der Patienten benutzt wird. Hinsichtlich der Rezeption der Werbebotschaft unseres Belegtextes spielt die materielle Textgestalt des externen Textmusters die entscheidende Rolle. In der materiellen Textgestalt des referierten externen Textmusters kommt es in erster Linie auf die Größe, darüber hinaus auf den Typ der Zeichen sowie auf ihre Anordnung an. Ursprünglich haben wir es mit immer kleiner werdenden Zeichengrößen des gleichen Typs zu tun, die so angeordnet sind, dass sie vertikal, von oben nach unten gelesen werden müssen. Die vertikal geordneten Zeichen sind gruppiert, die Gruppen sind durch horizontale Striche voneinander getrennt. Gerade diese materielle Textgestalt erscheint auch in dem Werbetext bei der Realisierung der Headline (Most hihet a szemének!, wörtlich: „Jetzt dürfen Sie ihrem Auge glauben!“) und des Haupttextes mit Informationen über den Preis, die Ermäßigungen und die Quelle weiterer, detaillierter Informationen. Auch der soziale Sinn sowie die Situationseigenschaften dieses Musters werden vorwiegend durch die visuellen Mittel vermittelt. Die im referierten externen Textmuster realisierte sprachliche Handlung besteht im INFORMIEREN des Arztes über die Sehfähigkeit und -stärke des Patienten. Das INFORMIEREN im Werbetext bezieht sich auf ein Konsumprodukt als Werbeobjekt und richtet sich an den Laien-Leser. Die durch die materielle Textgestalt evozierte Situation und sprachliche Handlung werden in den Dienst des Werbeappells gestellt. Auch die Rolle des Lexems szem(ének) (d.h. „Ihrem Auge“) soll erwähnt werden, das dem Frame „Sehen“ zugeordnet ist, und dadurch einen inhaltlich-thematischen Bezug auf das externe Textmuster leistet.

Belegtext 10: Verweis auf das externe Textmuster mittels visueller Elemente 8

Auf Ungarisch „Kettesy- tábla“ (wörtlich Kettesy-Tafel) genannt.

Die Sortenhaftigkeit von Texten

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Zu (5) – In Bezug auf das Wie des Mischens soll der Terminus Konnektor als eine stilistische Kategorie in Anlehnung an Sandig (2006) und Rehbein (1983) eingeführt werden. Konnektoren sind nach Rehbein (1983: 30f.) „verbindende Elemente“, die die Funktion haben, „Wissensblöcke zu verbinden, die ihrerseits aus verschiedenen Domänen des Wissens genommen sind“ und die „die Rezeption […] durch den Leser bewirken“. Die Wissensdomänen „drücken sich im propositionalen Gehalt der Äußerungen aus und sind spezifisch an der Lexik festzustellen“ (ebd.)9, z.B. politökonomische Wissensdomäne mit den lexikalischen Einheiten wie Inflation, Arbeitslosigkeit, Zahl der Arbeitsplätze. Bei Sandig (2006: 165) wird der Begriff auf das Mischen von Textmustern bezogen und demgemäß erweitert. Konnektoren haben die Aufgabe, Verbindungen inhaltlichsemantischer Art zwischen den kombinierten Textmustern zu markieren. Sandig zählt aber nicht nur lexikalische Elemente der Textoberfläche (z.B. Redewendungen, polyseme Wörter) zu den Konnektoren sondern auch Handlungsumstände oder komplexe Erscheinungen, wie Satz-, Handlungs- und Wissensmustermischungen in größeren Kontexten. In den bearbeiteten Texten mit stilistisch motivierter typologischer IT treten in der Funktion des Konnektors meistens lexikalische Einheiten auf, z.B. Wiederaufnahme durch wörtliche Wiederholung oder durch ein semantisch verwandtes Wort. In dem folgenden referierenden Text (vgl. Belegtext 11, S. 462) erfolgt die Montage einer Kinokarte in die Werbeanzeige. Als Konnektor funktioniert das Lexem Kino im Schlagwort der Werbeanzeige (action im kino, einbrecher zu hause, happy end auf dem konto), das einen entsprechenden Frame aktiviert. Im montierten Prätext wird durch die abgebildete Kinokarte ein Element des aktivierten Frames gleichzeitig visualisiert. Zusätzlich wird durch das Lexem Filmtheater (auf der Kinokarte) das Headline-Element Kino in Form eines Synonyms wiederaufgenommen. Auch die Lexeme happy end und action (auch im Sinne der Bezeichnung einer Filmgattung) lassen sich dem Gegenstandsbereich Film zuordnen. Die durch diese Konnektoren vermittelte semantische Beziehung zwischen den referierten Textmustern kann wie folgt beschrieben werden: Ist man im Besitz einer Hausratversicherung VICTORIA, kann man sich einen Kinobesuch leisten, ohne sich über Einbrecher und Unglücksfälle im Haushalt Sorgen machen zu müssen.

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Rehbein definiert also den Begriff in Anlehnung an den etablierten textgrammatischen Begriff „Konnektor“ im Sinne von einer Wortschatzeinheit, die als Satzverknüpfer semantische Beziehungen zwischen Sätzen ausdrückt, vgl. das IDS-Projekt „Handbuch deutscher Konnektoren“, www.ids-mannheim.de.

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Belegtext 11: Lexikalische und visuelle Einheiten in der Funktion des Konnektors Auch der Handlungsumstand, als ein nicht-sprachliches und auch nicht visuelles Element, kann als Konnektor funktionieren. Würde folgender Text (Belegtext 12) nicht in der Rubrik Kontaktanzeigen in „Dem Magazin“ stehen (vgl. Quelle im Anhang), würde man ihn trotz der stereotypen Textkonstitutive sucht nicht als Kontaktanzeige sondern aufgrund des Themas und der Formulierung als Autoanzeige interpretieren. Garagenwagen, sportliches Modell, Baujahr 53, extravagante Lackierung, stellenweise defekt, mit 2 Beiwagen, Baujahr 77 und 83, sucht risikobereiten Liebhaber zur Nutzung, Pflege und Extratouren. Achtung! Motor bockt öfter und hat Fehlentzündung. Getriebe reagiert sensibel

Belegtext 12: Der Handlungsumstand als Konnektor

Die Sortenhaftigkeit von Texten

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Erst der Handlungsumstand, genauer die Platzierung in der entsprechenden Zeitungsrubrik erlaubt die Identifizierung des referierten internen Textmusters Kontaktanzeige. Konnektoren unterschiedlichen Typs können auch gemeinsam auftreten, um durch ihre Kombination die ausgedrückte Verbindung zwischen den referierten Textmustern doppelt/mehrfach anzuzeigen. Ein eindeutiger Zusammenhang, eine feste Korrelation zwischen bestimmten Techniken der stilistisch motivierten typologischen IT (vgl. oben) bzw. bestimmten Konnektortypen konnte jedoch nicht festgestellt werden. Zu (6) – Bei der Bestimmung der Funktionen der stilistisch motivierten typologischen IT ist davon auszugehen, dass sie ein Stilmittel ist, folglich über stilistische Funktionen verfügt. Wie früher erwähnt, besteht der generelle Sinn, die generelle Funktion von Stil in der Einpassung von Kommunikationstypen in die jeweils gegebene Situation und an den Kontext, in dem Zurechtschneiden, Zurechtstutzen von Handlungstypen in der Durchführung für den jeweils zu kommunizierenden Gegenstand. Es geht jedoch nicht immer um die Anpassung des Handlungstyps im konkreten Vollzug, sondern auch um die unterschiedlichen konventionellen Möglichkeiten der Realisierung, durch die verschiedener sozialer Sinn hergestellt wird. Zusätzlich können auch Einstellungen und Haltungen (vgl. Sandig 2006: 15ff.) ausgedrückt werden. In einem emotionalen Stil können beispielsweise Handlungen verschiedenen Typs durchgeführt werden (Fragen, Auffordern usw.). Wir haben es dabei mit einer Funktion zu tun, die über die rein kommunikationsbezogenen Funktionen von Stil (Art der Handlungsdurchführung, der Themenabhandlung, der Beziehungsgestaltung usw.) hinausgeht. Über den Stil können die Kommunizierenden ihre subjektiven oder die aufgrund von Konventionen erwartbaren Einstellungen oder Haltungen vermitteln (vgl. Sandig 2006: 113ff.), und zwar zur Handlung, zum Inhalt der Handlung, zu Sprecher/Schreiber-Rollen, zu Adressaten, zur Situation, zum Kanal, Textträger oder Medium ausdrücken, z.B. mittels aggressiven Stils, feierlichen Stils usw. Eine besondere Unterart stellen Einstellungen zur Sprache und zu anderen Zeichentypen dar, z.B. ironischer Stil, poetischer Stil. Da die stilistische Funktion generell in der Unterstützung der Durchführung der Handlung besteht, können die stilistischen Funktionen der stilistisch motivierten typologischen Intertextualität in Bezug auf die Illokutionen des referierenden Textes erfasst werden. Das bedeutet, dass die intertextuellen Beziehungen primär eine stützende, ergänzende Funktion bei der Durchführung der im Text ausgedrückten sprachlichen Handlung(en) haben dürften. Dieser Aspekt hängt auch damit zusammen, dass das ABWEICHEN als individuierendes Durchführen immer stilistischen Sinn vermittelt (vgl. Kap. 3). IT-Bezugnahmen haben z.B. in Werbetexten die Funktion, die Persuasion zu unterstützen, obwohl in einem Wer-

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betext auch andere Elemente für die Persuasion sorgen können, z.B. Hochwertwörter, Superlative, Konnotationen, Bildelemente usw. Die intertextuellen Beziehungen in jugendsprachlichen Texten tragen dazu bei, ihre Gruppen indizierende Funktion zu unterstützen. Andererseits darf nicht ausgeschlossen werden, dass die intertextuellen Relationen zusätzlich die Funktion haben können, die Illokution oder eine Teilillokution des referierenden Textes zu realisieren (vgl. Kap. 5.1.4 und 5.2). Aber auch in diesem Fall muss – zumindest rein theoretisch gesehen – eine solche Funktion mit einer stilistischen Funktion verbunden sein. Diese Gedanken beleuchten gleichzeitig eine wichtige Eigenschaft der stilistisch motivierten typologischen IT, indem sie die Voraussetzung der Kombination von Textmustern nahe legen. Diese Voraussetzung besteht darin, dass mindestens eine Teilhandlung der kombinierten Textmuster identisch sein muss. Im untersuchten Korpus konnten folgende Funktionen der stilistisch motivierten typologischen IT nachvollzogen werden: -

-

Art der Handlungsdurchführung und Themengestaltung (die Handlung individuell machen, Sachverhalte mit wenig Wortmaterial sprachökonomisch verbinden, verständlich machen, auffällig, lebendig machen/auflockern, überraschend, interessant machen usw.), Art der Selbstdarstellung (sich SELBST als geistreich, sprachvirtuos DARSTELLEN), Art der Adressatenberücksichtigung (AUFMERKSAM MACHEN, Erregung der Aufmerksamkeit des Adressaten), Ausdrücken von Einstellungen (den Text originell machen, witzig, komisch, pfiffig machen).10

Die stilistisch motivierte typologische IT kann selbstverständlich je nach Textsorte (textsorten)spezifische Funktionen aufweisen, z.B. die Dominanz bestimmter stilistischer Funktionen etwa in jugendkulturellen Texten. In der deutschen Werbeanzeige der Berkemann-Schuhe (Belegtext 13) erfolgt die Realisierung der sprachlichen Handlung BESCHREIBEN des Werbeproduktes in seinen positiven Zügen lediglich teilweise mithilfe der Elemente des referierten externen Textmusters Kontaktanzeige, zumal wesentliche Merkmale der beworbenen Pantoffeln in einem entsprechenden Teiltext auch ohne intertextu10

Diese kommunikationsbezogenen stilistischen Funktionen sind jedoch immer mit der kommunikatsbezogenen ästhetischen Funktion verbunden (vgl. dazu Fix 1996, Opiłowski 2006, V. Rada 2011). Die Funktionen der stilistisch motivierten typologischen IT sind also im Spannungsfeld der ästhetischen Funktion und anderer stilistischen Funktionen in Bezug auf das Illokutionspotenzial des referierenden Textes zu bestimmen.

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elle Verweise verbalisiert und visualisiert werden (vgl. den Teiltext mit den sprachlichen Elementen Rundum Leder, die Ferse ruht sicher in der Fersenmulde usw.). Durch die intertextuellen Hinweise auf die Kontaktanzeige wird auf diese Weise zur Durchführung der Teilhandlung BESCHREIBEN auf eine ganz bestimmte Art und Weise beigetragen: durch eine aufmerksamkeitserregende, witzige und auffallende Gestaltung des Textes, wodurch zusätzlich verschiedene Typen stilistischen Sinnes vermittelt werden: Art der Themenbehandlung und Ausdrücken von Einstellungen zur ausgedrückten Proposition (Pantoffeln und Fuß als Liebespartner) und zur Illokution (witziges Beschreiben des Werbeproduktes).

Belegtext 13: Funktionen der Textmustermischung

5

Fazit

Den Gegenstand dieses Beitrags bildete im Sinne der neuen Anforderungen an die Textsortenforschung um die Jahrtausendwende ein bestimmtes Text- bzw. Stilphänomen in Sachtexten, das als stilistisch motivierte typologische Intertextualität bezeichnet worden ist. Es ist als das Stilverfahren ABWEICHEN durch TextMUSTER MISCHEN gedeutet und analysiert worden, das auf der Basis der konventionalisierten intertextuellen Beziehung zwischen Text/Einzeltext/Textexemplar und Textmuster funktioniert und sich in der bewussten stilistisch motivierten, sprachspielerisch-kreativen Abweichung von den Textsortenkonventionen äußert. Die Analysen konnten auch nahe legen, dass von dem behandelten stilistischen Verfahren regelmäßig in einer Reihe von Textsorten, in unterschiedlichen kommunikativen Bereichen nach bestimmten linguistisch beschreibbaren Techniken und Strategien Gebrauch gemacht wird. Es konnte auch nachgewiesen werden, dass dieses individuelle stilistische Verfahren, das ursprünglich auf ok-

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kasionellem Sprachgebrauch beruht, überindividuelle usuelle Geltung erlangen kann. Diese Art Text- bzw. Stilherstellung versteht sich gleichzeitig auch als eine Kulturtechnik, die darin besteht, die eigene Individualität kommunikativ zur Schau zu stellen. Von einer solchen Technik kann immer wieder dann Gebrauch gemacht werden, wenn die aktuelle außersprachliche Situation die Erweiterung der kommunikativen Handlungsräume ermöglicht und begünstigt.

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Literatur

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Die Sortenhaftigkeit von Texten

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Anhang

Quelle der Belegtexte Beleg 1: FIX (1997: 100) Beleg 2: TV kéthetes 47.−48./2007 Beleg 3: BARTUSEK (2007: 47) Beleg 4: Der Spiegel 26.03.2004 Beleg 5: Story, 2/2008 Beleg 6: OPIŁOWSKI (2007: 464) Beleg 7: FIX (2005: 14) Beleg 8: Tina, 7.02.2005 Beleg 9: FIX (1997: 101) Beleg 10: Story 13.03.2007 Beleg 11: Der Spiegel, 10/2007 Beleg 12: FIX (1991: 58) Beleg 13: FIX / POETHE / YOS (2003: 207)

Gisela Zifonun Angelbachtal

Text und Grammatik – Allianz oder Mesalliance? Abstract Das Konzept ,Textgrammatik‘ wird einer kritischen Prüfung unterzogen. Die Hypothese, für die argumentiert wird, ist, dass eine strikte Auslegung im Sinne der Annahme, Texte hätten eine spezifische Grammatik, wie Sätze eine spezifische Grammatik haben, nicht aufrecht erhalten werden kann. Grundlegende Eigenschaften, nämlich die Existenz eines hierarchisch aufgebauten Regelsystems, eine spezifische Form von Gegliedertheit und Formbezogenheit, sind anders als auf Satzebene beim Text nicht gegeben. Exemplarisch werden die Phänomene Anaphorik sowie, ausführlicher, Erscheinungsformen der Ellipse bzw. aus dem elliptischen Formenkreis diskutiert. Das Fazit ist: ,Textgrammatik‘ sollte – wenn überhaupt gebraucht – nur als Verweis auf die Textsensibilität der Satzgrammatik dienen.

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Einführung

Was mich zum Titel dieses Beitrags und letztlich zu dem Beitrag insgesamt angeregt hat, war das Kompositum Textgrammatik. Komposita, das wissen wir, sind notorisch unspezifisch, solange sie nicht auf kanonische Weise lexikalisiert sind. Dies scheint bei Textgrammatik nicht der Fall zu sein. Jedenfalls ist das Kompositum nicht metaphorisch gemeint, wie etwa entsprechende Genitivsyntagmen, wenn von Grammatik des/der X gesprochen wird. Das ist als Buchtitel und auch sonst als Aufhänger durchaus beliebt, z.B. Grammatik der Gefühle (Buch von Tilmann Moser), Grammatik der Phantasie (Buch des Kinderbuchautors Gianni Rodari), oder nach COSMAS-Recherche: Grammatik der Sinnlichkeit, Grammatik des Todes. Selbstverständlich ist die Unklarheit des Begriffs Textgrammatik auch in der Vergangenheit nicht unbemerkt geblieben. Zu nennen ist hier an erster Stelle Gerhard Helbig, der sich in mehreren Beiträgen (vgl. Helbig 1994, 1999, 2003) mit Harald Weinrichs Konzept (sowie Durchführung) einer Textgrammatik (vgl. Weinrich 2005) auseinandergesetzt hat. Man könnte nun in eine sprachanalytische Übung eintreten, um dem Verständnis von Textgrammatik näher zu kommen, oder auch nach dem Motto von Heringer (1984) „Gebt endlich die Wortbildung frei“ zwischen einer ganzen Latte

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von möglichen Interpretationen für das Kompositum abwägen. Ich beschränke mich jedoch vereinfachend auf zwei Deutungsrichtungen: a)

b)

Die Beziehung zwischen Kopf und Modifikator wird etwa nach dem Vorbild von Textfunktion, Textautor oder Textstruktur interpretiert, nämlich als Possessor- bzw. HABEN-Relation zwischen dem Modifikator Text und dem Kopf Grammatik. Dann wird man annehmen, Texte hätten eine Grammatik, so wie Sätze eine spezifische Grammatik haben, die ihre Struktur bestimmt. Aus dieser weitreichenden Annahme folgt, je nach dem Verständnis von Grammatik, eine Reihe von weiteren Annahmen, auf die wir noch zurückkommen. Die Beziehung zwischen Kopf und Modifikator wird lockerer gedeutet, im Sinne von ,steht im Zusammenhang mit‘. Dann würde man etwa annehmen, die Grammatik von Sätzen oder Äußerungseinheiten allgemein sei abhängig von, oder beschränkt durch den Text, bestimmte Textstrukturen oder -eigenschaften.

Beide Interpretationen sind übrigens unter Helbigs zweite Lesart des Begriffs zu subsumieren. Dieser spricht von einer ersten Lesart, nach der es bei Textgrammatik um „eine Untersuchung des Textes unter Aspekten und Ordnungsprinzipien der Grammatik“ gehe, also um einen Ansatz der Textlinguistik. In der zweiten Lesart geht es um „eine Untersuchung der Grammatik unter Aspekten und Ordnungsprinzipien des Textes“, also um einen „Ansatz der Grammatikbeschreibung“ (Helbig 2003: 19); ähnlich schon Helbig (1994: 67). Wie Helbig und vor ihm Weinrich geht es mir um die zweite Großrichtung. Nach diesen einleitenden Bemerkungen nun kurz der Plan meines Beitrags: Ich werde mich zunächst in Abschnitt 2 mit der engeren bzw. wie ich sie im Folgenden nennen werde, ,strikten‘ Deutungsrichtung a), ihrem Für und Wider auseinandersetzen. Dabei wird auch ein erster Phänomenbereich, die Anaphorik, als Testfall angesprochen. In Abschnitt 3 wird dann geprüft, ob die Ellipse, bzw. genauer bestimmte Typen von Ellipsen oder Äußerungsformen, die üblicherweise dem Formenkreis der Ellipse zugerechnet werden, für die Existenz einer Textgrammatik der strikten Lesart sprechen könnte. Ein stichwortartiges inhaltliches Fazit (Abschnitt 4) und eine allgemeine Schlussbemerkung (Abschnitt 5) schließen sich an. Vorauszuschicken ist noch, dass ich dem Stand der Forschung entsprechend selbstverständlich voraussetze, dass Textgrammatik in der weniger strikten Lesart b) Teil des grammatischen Programms sein muss: Die Ordnungsprinzipien des Textes, von denen Helbig spricht, schlagen sich zweifelsohne nieder in der grammatischen Struktur der Textsätze bzw. wie ich im Folgenden im Anschluss an die IDS-Grammatik sagen möchte, der Kommunikativen Minimal-

Text und Grammatik – Allianz oder Mesalliance?

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einheiten, aus denen der Text aufgebaut ist, oder auch kurz: der Text-KM. Die Selektion des Artikels (definit versus indefinit), die Wahl und Interpretation des Tempus, des Verbmodus, der Diathese, die Besetzung des Vorfelds und die Linearstruktur insgesamt sind nur einige Beispiele für grammatische Phänomene auf der Ebene der KM, bei denen die Textebene, d.h. die durch sie etablierte Wissensund Informationsstruktur über grammatische Optionen zumindest mitbestimmt. Durch die eigentlichen Kohäsionsmittel, also z.B. Konnektoren oder textdeiktische Verweiselemente, wird der Text in den Text-KM, die sie als Teile enthalten, auch lexikalisch und grammatisch explizit manifest.

2

Was erwarten wir unter der strikten Deutung für Textgrammatik?

Wenn dies – Texte haben eine spezifische Grammatik – der Fall sein sollte, dann muss das spezifisch Grammatische nicht nur für Sätze gelten, sondern auch für Texte. Woran nun ist dieses spezifisch Grammatische festzumachen? Man könnte nun länger über Konzepte von Grammatik sprechen, über traditionelle und modernere Auffassungen, was denn nun dazu gehöre: nur Morphosyntax oder auch Phonologie usw., ob Grammatik in Grammatikbüchern notwendig eine Grammatik in den Köpfen widerspiegle. All dies soll an dieser Stelle nicht geschehen; es ist ein zu weites Feld. Ich versuche vielmehr, Strukturalistin, die ich letztlich bin und zu bleiben gedenke, das spezifisch Grammatische als ein sprachliches Teilsystem zu rekonstruieren mit spezifischen Eigenschaften: Ich werde dazu drei Konzepte vorstellen, die durchaus miteinander zusammenhängen: das Konzept der Regel inklusive Regelverstoß/Ungrammatikalität, sowie Gegliedertheit und Formbezogenheit. 2.1

Das spezifisch Grammatische sind Regeln bzw. Beschränkungen (constraints)

Regeln, oder moderner Beschränkungen („constraints“) sind nach bisher gängiger Auffassung, sieht man einmal von der Konstruktionsgrammatik ab, das Wesen der Grammatik, für alle unstrittigen Ebenen: Beschränkungen gibt es auf der phonologischen Ebene, und zwar für die Silbenstruktur, den Aufbau des phonologischen Wortes usw. Beschränkungen gibt es für die morphologische Wortstruktur, und es gibt sie schließlich insbesondere für die Syntax. Bleiben wir auf der Syntaxebene, die ja der Textebene am nächsten ist. Welcher Natur diese Regeln sind, ist nur zum Teil theorieabhängig. Die fundamentalen bei Eisenberg (2006: 32ff.) „syntagmatisch“ genannten Relationen Kongruenz (bezüglich Kasus, Numerus, Genus) und Rektion etwa spiegeln solche grundlegenden Regeln wider. Strukturregeln

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werden entweder als Konstituenten-„constraints“ oder Dependenz-„constraints“ erfasst. Entscheidend ist die Reichweite solcher Regeln. Man kann intraphrasale, intraklausale und intrasententiale Beschränkungen unterscheiden: intraphrasale Beschränkungen gelten nur innerhalb der Phrase, intraklausale innerhalb des Teilsatzes (zentriert um ein finites Verb) und intrasententiale gelten innerhalb des Gesamtsatzes. Stichwortartig sind jeweils zu nennen: • • •

intraphrasale Beschränkungen: Kongruenz (Substantiv – attributives Adjektiv), präpositionale Rektion intraklausale Beschränkungen: Subjekt-Prädikat-Kongruenz, Rektion von Verbkomplementen, reflexive Bindung intrasententiale Beschränkungen: Nebensatzeinleitung, Consecutio temporum

Die entscheidende Frage in unserem Zusammenhang ist: Gibt es jenseits der Ebene des Gesamtsatzes, also auf Textebene Beschränkungen vergleichbarer Art? Transphrastische oder besser transsententiale Beschränkungen, gibt es diese? Das ist eine für die Textgrammatik zentrale Frage, der wir anhand der Phänomene Anaphorik und Ellipse beispielhaft nachgehen werden. 2.2

Das spezifisch Grammatische ist die Gegliedertheit

Selbstverständlich sind Texte gegliedert. Aber sind sie grammatisch gegliedert? Klotz (2011: 392) scheint dies anzunehmen, wenn er folgende Strukturanalogie aufmacht: Wörter Satzglied/Gliedsatz Satz

Sätze Textsegment Text

und dazu kommentiert: „So wie aus Wörtern Satzglieder und aus Satzgliedern Sätze geformt werden, so entstehen aus Sätzen Textsegmente und aus Textsegmenten ein Text.“ Ich sage: Nein, nicht so wie, sondern anders als. Zum Wesen von Gliedern in einem bestimmten Sinne gehört die Ausdifferenzierung und Vielgestaltigkeit. Die Glieder des Körpers haben höchst differente Gestalten und Funktionen und sie kommen in einer bestimmten Anzahl vor: Wir haben nur ein Herz, zwei Nieren, zwei Arme und zwei Beine, fünf Finger und fünf Zehen jeweils paarweise. In vergleichbarem Sinne sind die Satzglieder vielgestaltig und

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hochdifferenziert in ihren syntaktischen/grammatischen Funktionen. Nicht von ungefähr ist für die syntaktische Struktur Gegliedertheit ein zentraler Aspekt, in der Schulgrammatik gar der zentrale Gesichtspunkt. Aber nicht nur in der Syntax, sondern auch auf den anderen grammatischen Ebenen ist diese Art von Gegliedertheit eine notwendige Strukturbedingung. Ihre Eigenschaften sind die Folgenden: •





Die Beziehungen zwischen den Elementen sind hierarchischer Natur. So ist auf der phonologischen Ebene der Silbenkern das dominante Element: Nur er kann z.B. als Akzentträger dienen. Auf der Ebene der Wortstruktur sind Stämme gegenüber Flexiven dominant: Der Wortstamm determiniert das Genus des Substantivs, die Valenz des Verbs. In der Komposition spielt einer der Bestandteile der binären Struktur die grammatische Hauptrolle als Determinatum, das andere die Nebenrolle als Determinans: Das Determinatum bestimmt Genus und Flexionsklasse des Substantivkompositums. Dabei sind auch „gemischte Hierarchien“ möglich: Derivationsaffixe können u.A. die Wortart des Stammes ändern (wie in glücklich) oder seine Valenz (wie in bearbeiten); der Stamm bleibt aber semantischer Kern der Struktur. Eine mehrfache Mischung von Dominanzstrukturen liegt in der deutschen NP vor: Das Substantiv bestimmt das Genus der NP und damit auch das der „Begleiter“; es bestimmt u.A. auch, ob Artikelsetzung im Singular gefordert ist oder nicht (Individuativum versus Kontinuativum). Der Artikel hingegen bestimmt bekanntlich die Flexionsart des attributiven Adjektivs usw. Das Grundprinzip hierarchischer Gegliedertheit ist die Asymmetrie, insbesondere die asymmetrische Relation zwischen Kopf und Dependens bzw. Kern und Modifikator. Der Kopf, bzw. das im Hinblick auf ein bestimmtes Merkmal köpfige Element vererbt seine Eigenschaft(en) an ein Dependens bzw. an die übergeordnete Struktur.

Ein Seiteneffekt der Hierarchisierung, der besonders auf der Satzebene wirksam wird, ist die Zentralisierung: Wenn die einzelnen Teile des Satzes hierarchisch übergeordnete Elemente haben und wenn die Teile insgesamt (oder ihre Köpfe) rekursiv dependent sind von übergeordneten Elementen, läuft alles auf ein zentrales Element hinaus. Bekanntlich wird bei einer Sprache wie dem Deutschen das finite Verb als zentrales Element des Satzes betrachtet. All diese Merkmale einer hierarchischen Gegliedertheit gelten für den Text nicht.

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Es gibt jedoch noch einen flacheren Sinn von ‚Glieder eines Ganzen‘: die Glieder einer Kette sind normalerweise gleich oder ähnlich. Ketten kann man um Glieder verlängern oder bei kürzerem Hals verkürzen. Ähnlich scheint es mir um die Textglieder zu stehen: Die Glieder sind als grammatische Entitäten untereinander sehr ähnlich: Es handelt sich um Sätze oder andere kommunikative Minimaleinheiten im Sinne der IDS-Grammatik (1997). Man kann Texte kürzen oder verlängern, also „Textglieder“ herausnehmen oder einfügen, wie die Glieder einer Kette. Grammatisch hierarchische Gegliedertheit, dies sahen wir, setzt dagegen Verschiedenheit der Teile voraus – Ähnlichkeit ist grundsätzlich (auch im gesellschaftlichen Bereich) hierarchiefeindlich. Dabei ist es natürlich wahr, dass die Textglieder unterschiedliche Funktionen haben; aber hier handelt es sich um Textfunktionen, nicht um grammatische Funktionen wie die Subjektfunktion oder die Funktion des Attributs. An dieser Stelle möchte ich auch auf die zu meiner teilweise konträre Auffassung von Vilmos Ágel kurz eingehen. Ich hatte dankenswerterweise das Privileg, mich vorab mit seinem im Entstehen begriffenen Buch zur grammatischen Textanalyse befassen zu können. In sehr vielen Punkten stimmen wir überein und ich betone auch ausdrücklich, dass ich die Grundidee seines Ansatzes, grammatische Analyse in den Dienst der Textinterpretation zu stellen, vollauf begrüße. Ich verhehle auch nicht, dass seine Sehweise auf Textgrammatik, Textglieder und Textfunktionen mich zu einem gewissen Widerspruch gereizt und damit zu diesem Beitrag angeregt hat. Wir divergieren in puncto Textglieder und Textfunktionen insofern als ich, wie eben schon angedeutet, den Begriff der Funktion und des X-Gliedes inhaltlich füllen möchte, und nicht, wie Ágel es tut, eher begriffslogisch rekonstruieren im Sinne von Funktion und Wert der Funktion (=X-Glied). Halten wir fest: Grammatische Gegliedertheit ist anders und mehr als Teil-Ganzes-Relation, lineare Sukzession und inhaltliche Kohärenz bzw. Konnexion. Genau in diesen Punkten besteht letztlich textuelle Gegliedertheit. 2.3

Das spezifisch Grammatische ist die Formbezogenheit

Grammatisches ist stets auch Formales: Rein semantische oder pragmatische Funktionen, Relationen oder Regularitäten sind nicht grammatisch. Die Idee der Grammatikalität beruht letztlich auf Formbezogenheit. Semantisch abweichende Konstruktionen sind nicht ungrammatisch, man denke an das berühmte Chomskysche: „Colorless green ideas sleep furiously“ (vgl. Chomsky 1957: 15). Ob es auf Textebene grammatische Abweichungen gibt, also Verstöße, die (auch) Formverstöße sind und die nicht als Abweichungen auf der Ebene der Kommunikativen Minimaleinheit erklärbar wären, wird uns in Teil 3 beschäftigen. Wohl gibt es semantisch Abweichendes, wenn man so will, oder kontextuell Unangemessenes

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bzw. Misslungenes. Ein Fall, den wir jetzt unter dem Gesichtspunkt des gelingenden bzw. misslingenden Einsatzes grammatischer Mittel für bestimmte semantische Zwecke erörtern wollen, ist die Anaphorik. Oft wurde sie als Paradefall für textgrammatische Beziehungen herangezogen. Im Folgenden soll jedoch so argumentiert werden: Ein „Verstoß“ gegen die Prinzipien der Anaphorik in der extrasententialen Domäne verstößt allenfalls gegen Kohärenz und Plausibilität; grammatische Korrektheit wird dadurch nicht berührt. 2.3.1 Beispiel Anaphorik Ich möchte dies an einem Beispiel zeigen, das Ewa Drewnowska-Vargané und ich gemeinsam untersucht haben (vgl. Drewnowska-Vargané / Zifonun 2011). Ich stelle zu diesem Zweck einen Textausschnitt aus E.M. Remarques „Im Westen nichts Neues“ im deutschen Original, seiner polnischen und seiner ungarischen Übersetzung vor. An dieser Textstelle gibt es neben dem Ich-Erzähler zwei Partizipanten: Tjaden und Haie. Auf beide wird offensichtlich mit dem Personalpronomen er in seinen verschiedenen Kasusformen Bezug genommen. Welcher der beiden jeweils gemeint ist, muss sich aus dem Kontext, aus Plausibilitätsüberlegungen ergeben. In unserem Aufsatz haben wir uns auf die Anaphorik durch Possessiva, nicht Personalpronomina konzentriert; in diesem Fall also auf die Formen von sein. Aber die Prinzipien sind vergleichbar. Hier nun die entsprechenden Textausschnitte (Remarque: dt. „Im Westen nichts Neues“, S. 74; poln. „Na zachodzie bez zmian“, S. 57; ung. „Nyugaton a helyzet változatlan“, S. 63): dt. „[...] Hier wird er sich wundern. Tjaden erörtert seit Stunden alle Möglichkeiten, wie er ihm antworten will. Haie sieht nachdenklich seine große Flosse an und kneift mir ein Auge. Die Prügelei war der Höhepunkt seines Daseins; er hat mir erzählt, daß er noch manchmal davon träumt. [...]“ poln. „[...] Tutaj czeka go niespodzianka. Tjaden od wielu godzin rozważa wszelkie możliwe odpowiedzi na jego pytania. Haie z dumą ogląda wielkie swe łapsko i robi do mnie perskie oko. Tamto lanie było szczytowym punktem jego życia; opowiada mi, iż niekiedy śni jeszcze o tym. [...]“ ung. „[...] Itt majd csodálkozni fog. Tjaden órák óta ecseteli a különböző lehetőségeket, hogyan fog visszavágni neki. Haie elgondolkodva nézi nagy mancsát és felém int a szemével. Az a bizonyos verés életének fénypontja volt, mesélte nekem, hogy néha még most is álmodik róla. [...]“

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Es geht hier jeweils um die Anaphernresolution für den Ausdruck seine große Flosse im deutschsprachigen Original und des Übersetzungsäquivalents „nagy mancsát“ [mit mancsát zu glossieren als mancs.Poss.3.Sg.Akk ,seine/ihre Flosse‘] in der ungarischen Übersetzung. Die Mehrdeutigkeit dieser Stellen besteht darin, dass „Haie“ und „Tjaden“ als potentielle Possessoren der „große[n] Flosse“ miteinander konkurrieren. Im deutschen Original wird die Ambiguität dadurch ausgelöst, dass diese zwei Antezedentien dasselbe (maskuline) Genus aufweisen. Demgegenüber ist der Bezug im polnischen Übersetzungsäquivalent durchaus eindeutig: Für dt. „seine große Flosse“ steht poln. „wielkie swe łapsko“ [mit swe. Akk.Sg.Neut, Kurzform für swoje] mit eindeutigem Bezug auf „Haie“ als Satzsubjekt und zugleich Possessor. Man kann hier mehrere Dinge lernen: •



Die mehrfachen Vorkommen der Formen von er und die entsprechenden Personalendungen in den Prodrop-Sprachen Polnisch und Ungarisch wie auch das Vorkommen von sein bzw. die im Affix des ungarischen Äquivalents mancsát für seine Flosse enthaltene Possessorendung sind bezugsambig. Sie können sich grammatisch auf jeden der beiden Protagonisten Tjaden und Haie beziehen oder auch auf einen Dritten, der im weiteren Kontext genannt wird und noch salient erscheint. Andererseits wäre auch jedes Vorkommen von er/ihm/sein- z.B. durch feminines sie/ihr/ihr- ersetzbar ohne grammatischen Verstoß. Nur das polnische reflexive Possessivum swe ist nicht bezugsambig (es stellt klar, dass es sich um Haies Flossen handelt, nicht etwa Tjadens oder sonst irgendwens). Das reflexive Possessivum muss grammatisch auf das Satzsubjekt bezogen sein. Seine Beschränktheit auf ein intraklausales Antezedens, und zwar das Subjekt, würde andererseits zu grammatischen Verstößen führen, etwa wenn jego als Teil des Subjekts in Jego łapsko było wielkie ,Seine Flosse war groß‘ durch swojego ersetzt würde. Auch die komplementäre Form jego, die nicht-reflexive Entsprechung von sein kann Bezüge klarstellen, die sein bzw. er/ihm verdunkeln. Des Polnischen mächtige Leser werden dies beim Vergleich des zweiten Textsatzes in den beiden Versionen feststellen können.

Die allgemeinere Folgerung, die wir ziehen können, lautet: Die transsententialen Beschränkungen für die Anaphorik sind keine unkonditionierten grammatischen Formbeschränkungen. Sie sind grammatisch-formale Ausführungsbedingungen, wenn bestimmte semantische bzw. referentielle Relationen gewährleistet sein sollten. Es handelt sich also um Metaregeln oder auch textgrammatische Regeln im weniger strikten Sinne b).

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Bereits Wiese (1983: 410) zeigt, dass die Genus-/Numeruskongruenz mit einem Antezedens weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für ein Pronomenvorkommen im Text ist: Es gibt solche Vorkommen ohne Antezedens und solche mit einem nicht-kongruenten Antezedens. Anaphorische Beziehungen nutzen ggf. grammatische Regeln, sind aber selbst keine grammatischen Regeln. 2.4

Der Zusammenhang der drei Konzepte

Abschließend zu diesem Teil soll nach dem Zusammenhang zwischen den drei Konzepten Regel, Gegliedertheit und Formbezogenheit gefragt werden. Regel und Formbezogenheit sind, das zeigte sich wohl, in der Weise miteinander verknüpft, dass (grammatische) Regeln in der Regel Form und Funktion beinhalten, stets aber mindestens eine Formseite haben. Die Rektion einer Präposition, die nicht wechselt, hat (möglicherweise) nur eine Formseite. Dass z.B. zu Dativ und nicht Akkusativ regiert, ist nicht funktionstragend. Auch der ggf. varietätenbezogene Wechsel zwischen Genitiv- und Dativrektion bei z.B. dank, wegen usw. ist nicht (grammatisch) funktional. Die Notwendigkeit des Formbezugs ist verantwortlich für die Möglichkeit der Ungrammatikalität, den Regelverstoß. Formale Differenziertheit ist andererseits aber auch notwendige Voraussetzung von (hierarchischer) Gegliedertheit. Hierarchische Gegliedertheit wiederum ist geknüpft an das Vorhandensein ineinandergreifender grammatischer Regeln, also das Vorhandensein eines kohärenten Regelsystems.

3

Gibt es eine Ellipsengrammatik im strikten Sinne?

3.1

Sequenzellipsen und kontextablösbare KM ohne Finitum als Textphänomene

Ellipsen sind aus meiner Sicht ohne Zweifel die Kandidaten, bei denen wir am ehesten von Textgrammatik sprechen könnten. Allerdings ist die Ellipse, zumindest in ihren „kontextkontrollierten“ Erscheinungsformen (Klein 1993: 766), sicher (auch) ein Textphänomen, aber keineswegs ein obligatorisches. Nur in bestimmten Textsorten, Gattungen oder bestimmten Individualstilen (denken wir z.B. an narrative Gattungen der Alltagswelt oder der fiktionalen Prosa gegenüber Fach- oder Wissenschaftstexten) wird in nennenswertem Umfang von Ellipsen Gebrauch gemacht. Die Argumentation könnte dann so laufen: Wenn Ellipsen bestimmten Typs ein Textphänomen sind und eine Ellipsengrammatik im strikten Sinne (Ellipsen haben Grammatik) existiert, dann gibt es Textgrammatik in diesem strikten Sinne für elliptische Texte/Texte mit Ellipsen.

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Gehen wir also der Frage der Ellipsengrammatik ein wenig genauer nach. Die Beschäftigung mit elliptischen Äußerungen erlebt in jüngster Zeit in der germanistischen Linguistik eine Renaissance. Ein Dokument dafür ist u.A. der Sammelband Hennig (Hrsg.) (2013). In der Einleitung zu diesem Band ebenso wie in mehreren Einzelbeiträgen wird eine „autonome“ Konzeption des Phänomens Ellipse angemahnt, also eine, die elliptische Äußerungen nicht als sekundär zum Satz und somit defizitär versteht, wie dies in den herkömmlichen Reduktionsbzw. Ergänzungsansätzen der Fall ist. Erreicht werden soll dies durch Einbettung der strukturellen (grammatiktheoretischen wie einzelsprachbezogenen) Analyseansätze in psycholinguistische verstehenstheoretische Zusammenhänge. Es leuchtet ein: Bei der Verarbeitung von Ellipsen spielen Wissensbestände eine Rolle, die weit über grammatisches Wissen hinausgehen. Auf einen kritischen Punkt jedoch weisen Rickheit / Sichelschmidt (2013), die sich der Ellipse aus psycholinguistischer Sicht annähern, deutlich hin: Der prozedurale und der strukturelle Aspekt werden beim Verständnis und bei der Definition von Ellipse häufig miteinander vermischt. Unter prozeduralem Aspekt haben wir es mit Ellipsen zu tun, wenn der Sprecher bestimmte Informationen, die er bei einer satzförmigen Äußerung vergleichbaren Gehalts versprachlichen müsste, nicht versprachlicht und der Hörer diese Informationen erschließen kann. Unter strukturellem Aspekt dagegen sind wir mit Äußerungsprodukten oder auch Konstruktionen konfrontiert, die im Verhältnis zu ihrer Umgebung und/oder im Vergleich mit satzförmigen Äußerungen bestimmte charakteristische Merkmale aufweisen. Dass diese Merkmale – z.B. das Nicht-Vorhandensein eines finiten Verbs u.A. bei Gapping-Konstruktionen – gewinnbringend durch Prinzipien des Verstehens erklärt werden können, glaube ich, nach der Lektüre z.B. des Beitrags von Rickheit / Sichelschmidt in dem genannten Band gern, wie auch der Band insgesamt eindrucksvoll den Nutzen der Kooperation zwischen den Disziplinen zeigt. Dennoch: In eine strukturelle Bestimmung und Klassifikation von Ellipsen, also eine möglicherweise erfassbare Grammatik der Ellipse, können die (Verstehens-)Prozeduren nicht eingehen. Auch die Verstehensprozesse, die bei der Analyse von Sätzen (durch Mensch oder Maschine) ablaufen, werden nicht gleichgesetzt mit der grammatischen Struktur der Sätze und wir Grammatiker streben im Allgemeinen nicht an, diese Prozesse zu modellieren. Es besteht ein kategorialer Unterschied zwischen z.B. einer grammatischen Aussage und einer prozeduralen Aussage über das Sprachverstehen, wie folgendes Beispiel deutlich macht: Das Verb geben in Der Verkäufer gibt der Kundin die abgewogene Ware ist dreiwertig, es fordert ein Subjekt (in der Agens-Rolle) belegt durch ein Verkäufer, ein Akkusativkomplement (in der Thema-/Patiens-Rolle) belegt durch die abgewogene Ware und ein Dativkomplement in der Rolle des Rezipienten belegt durch der Kundin. Versus: Durch gibt wird ein Situationsmodell mit drei Leerstellen beim Hörer aktiviert,

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das durch das Konzept ,Verkäufer‘ hinsichtlich der Agens-Rolle gesättigt wird, hinsichtlich der Rezipienten-Rolle durch das Konzept ,Kundin‘ und hinsichtlich der Patiens-Rolle durch das Konzept ,abgewogene Ware‘. Nicht von ungefähr beruht auch der Klassifikationsansatz der beiden genannten psycholinguistisch arbeitenden Autoren im Kern auf strukturellen Unterscheidungsmerkmalen. Sie differenzieren, damit anknüpfend u.A. an Klein (1993), aber auch an Bühler (1934), folgende drei Haupttypen: 1. 2. 3.

Koordinationsellipsen mit Untertypen wie Linksausklammernde Subjektoder Linksausklammernde Verbellipsen Sequenz- oder Adjazenzellipsen Situationsellipsen

Erst in einem zweiten Schritt werden „Hypothesen zur Verarbeitung aller angeführten Konstruktionen“ formuliert (Rickheit / Sichelschmidt 2013: 176). Die beiden ersten Typen entsprechen dabei den kontextkontrollierten Ellipsen von Klein (1993), während der letztere Typ in etwa Kleins „global kontextabhängigen Ellipsen“ entspricht. Ich werde mich im Folgenden auf einige Formen der „Sequenzellipsen“ konzentrieren: Koordinationsellipsen können, wenn man so will, noch in den Bereich der Satzgrammatik fallen. Situationsellipsen, wo Rickheit / Sichelschmidt neben dem Bühlerschen Typ der „empraktischen Ellipse“– etwa die Äußerung „Skalpell“ im Operationssaal – die „attentionale Ellipse“ – etwa die Aufschrift „Knöpfe braun“ auf einer Schublade im Kurzwarengeschäft – unterscheiden, fallen aus dem Bereich einer potentiellen Textgrammatik heraus. Gewisse Formen der Sequenzellipse sind u.A. typisch für mündliche Interaktion, man denke an Frage-Antwort-Sequenzen oder auch teilweise Korrekturen, teilweise Bestätigungen bzw. parallele Fortführungen. Sie gehören in eine – gegebenenfalls existierende – Diskursgrammatik, auf die ich hier ebenfalls nicht eingehen möchte. Vielmehr möchte ich typisch textuelle Ellipsenformen am konkreten zusammenhängenden Textbeispiel diskutieren und werde dazu einen Textabschnitt aus einem Roman zugrunde legen. Wie sich zeigen wird, sind neben Sequenzellipsen hier auch ,kontextablösbare KM ohne Finitum‘ vertreten, die in der Literatur häufig auch dem Formenkreis der Ellipse zugerechnet werden, bei denen jedoch, wie ich zeigen möchte, zumindest auf semantisch-kognitiver Ebene, verglichen mit dem Vollsatz, nichts erspart ist. 3.2

Der Beispieltext

Ich stelle einen kurzen Ausschnitt von Seite 513 aus dem Monumentalroman „Vorabend“ von Peter Kurzeck vor – ein Roman der Erinnerung an Jugendjahre

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in Oberhessen, geschrieben in einem eigenwilligen, dem mündlichen Erzählen angenäherten Stil, der außerordentlich ellipsenreich ist, und der z.T. auch ungewöhnliche elliptische Strukturen enthält.1 Der globale Kontext sind die umwälzenden Neuerungen der Wirtschaftswunderjahre, die die Dörfer und das Leben der Menschen dort völlig verändern. An dieser Stelle geht es um das Auto als Statussymbol und Objekt der Begierde:2 (Text 1) [1] In Lollar gibt es einen gelben Opel Kapitän. [2] Gelb und mit weißem Dach. [3] Autoradio, Weißwandreifen und über der Windschutzscheibe eine Sonnenblende aus blaugrünem Glas. [4] Wenn man den sieht, freut man sich den ganzen Tag. [5] Durch Lollar geht die Chaussee ja direkt durch. [6] In Lollar ist die Chaussee die Lollarer Hauptstraße. [7] Aber aus den anderen Dörfern gehen die Leute sonntags extra übers Feld und mit ihren Sonntagsschuhen mürrische kleine Schotterstraßen entlang bis zur Chaussee, damit sie dort sonntags die Autos fahren sehen. [8] Sonntagmorgen die Männer und Kinder und Sonntagnachmittag ganze Familien. [9] Einen richtigen Porsche sehen und einen offenen Mercedes 190 SL. [10] Das Dach offen. [11] Wer den sieht, der sagt dann den anderen Kindern, denen, die nicht dabei waren, es war ein 300 SL. [12] Ungelogen. [13] Mit silbernen Speichenrädern! [14] Weiß und mit roten Ledersitzen.

Ich analysiere die Text-KM [2], [3], [8], [13] und [14] als Sequenzellipsen,3 [10] ist eine kontextablösbare KM ohne Finitum, [9] und [12] betrachte ich als Übergangsformen zwischen diesen beiden Typen: Sie sind auch in andere Kontexte mit vergleichbarer Interpretation einbettbar, bestimmte Referenzbezüge sind aber nur aus dem Kontext zu gewinnen. Sequenzellipsen unterscheiden sich von Koordinationsellipsen, auch wenn es einen Überschneidungsbereich gibt. Ein Test für die Zugehörigkeit zu diesem Überschneidungsbereich ist die Einfügbarkeit von und. Nach diesem Test sind [2], [3], [8] – [10], [12] und [13] Sequenzellipsen, aber keine ,asyndetischen Koordinationsellipsen‘. Einzig [14] könnte koordinativ angeschlossen werden; dies wäre jedoch eine Verknüpfung auf der elliptischen Ebene, und somit keine 1

An dieser Stelle ist auf einen unwahrscheinlichen Zufall hinzuweisen. Auch Plewnia (2013) wählt Kurzeck als Beispieltext für seine Ellipsenanalyse. Meine Wahl war davon völlig unabhängig: Ich habe Mitte Dezember 2012 bei dem Vortrag in Szeged bereits den Kurzeck-Text vorgestellt; erst im Frühjahr 2013 erhielt ich dankenswerterweise durch Frau Hennig Kenntnis vom Inhalt des Sammelbandes in Form eines Vorabdrucks. 2 Die Textsätze wurden für Referenzzwecke durchgezählt. 3 Damit wird auch deutlich, dass es hier nur um Ellipsen geht, die als vollständige kommunikative Minimaleinheit (KM) zu betrachten sind. Ich gehe nicht ein auf kleinräumigere Ellipsen wie etwa die Ellipse des Nomens in eine große Stadt und eine kleine [].

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Koordinationsellipse, bei der ja ein Konjunkt die Ersparung im anderen lizensiert. Auf der anderen Seite enthält Textsatz [7] eine „doppelte“ Koordinationsellipse, und zwar eine „linksausklammernde Subjektsellipse“ und eine „linksausklammernde Verbellipse“. Man könnte also bei nicht-elliptischer Ausdrucksweise zwischen und und mit ihren Sonntagsschuhen einfügen: sie gehen. Darauf gehe ich nicht weiter ein. In den folgenden Abschnitten werde ich am Beispiel der Sequenzellipsen und der kontextablösbaren KM ohne Finitum sowie ihrer Übergangsformen in diesem Text folgende Themen im Zusammenhang behandeln: die vorkommenden strukturellen Typen sowie ihre textgrammatische Relevanz und textgrammatischen Analysemöglichkeiten. 3.3

Die strukturellen Typen von Sequenzellipsen und ihre textgrammatische Analyse

Beginnen wir mit der in Rickheit / Sichelschmidt 2013 (S. 161) angegebenen Definition für ,Sequenz- bzw. Adjazenzellipse‘: „Sequenz- oder Adjazenzellipsen sind Ellipsen, deren Expansion über die Anbindung an eine zeitnah verfügbare separate sprachliche Kontextäußerung möglich ist.“ Hier können wir getrost „zeitnah“ durch „textnah“ ersetzen und ,Expansion‘ mit den Autoren als Erweiterung einer elliptischen zu einer nicht-elliptischen Äußerung aufgrund von Rückschlüssen aus eben dem Kontext auf ausgesparte Information. Auch hier allerdings wird prozedurales Vokabular verwendet. Ich schlage daher folgende erste Reformulierung vor: Sequenzellipsen sind Ellipsen, die in Relation zu einer textnahen KM stehen und aufgrund dieser Beziehung als vollständige KM interpretiert werden können. Freilich darf, dies wissen wir seit längerem, diese „Vervollständigung“ keineswegs immer als Kopie entsprechender Teile und Insertion in die Ellipse verstanden werden. Person und Numerus des finiten Verbs etwa müssen häufig angepasst, deiktische Pronomina ersetzt werden. Das „Ersparte“ kann also in seiner grammatischen Form (Typ A.1) oder nur semantisch (Typ A.2) zur Vervollständigung herangezogen werden. In beiden Fällen sprechen wir von einer „grammatischen Relation“ zwischen Ellipse und der textnahen Bezugs-KM. Bei grammatischer Relation, mit oder ohne formale Übereinstimmung, sind in jedem Fall auch die existenten Teile der Ellipse grammatisch in Beziehung zu der Bezugs-KM. Davon zu unterscheiden sind Fälle der ,rein inferentiellen‘ Relation zwischen Ellipse und Bezugs-KM (Typ B). Hier sind weder die fehlenden Teile (in Form und/oder Bedeutung) übernehmbar, noch ist die Form der Ellipse grammatisch bezogen auf die Bezugs-KM, z.B. die Valenz des Verbs dieser KM. Ich fasse die bisher getroffenen Unterscheidungen in der folgenden Tabelle 1 zusammen:

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Sequenzellipsen A.1 A.2 B

grammatisch bezogen formal semantisch + + – +

rein inferentiell bezogen – +

Tab. 1 Nach der Analyse, bei der ich nicht linear vorgehe, sondern gemäß dem Grad der grammatischen Determiniertheit der Ellipse durch die Bezugs-KM, wird die Tabelle erweitert und die einschlägigen Text-KM des Beispieltextes werden in der Tabelle verortet werden (vgl. Abschnitt 3.4). Text-KM [8] steht in grammatischer Beziehung zu der direkten VorgängerKM [7]. Prozedural gesprochen, ist durch [7] ein Szenario aufgebaut, in dem „die Leute“ als Träger einer komplexen, zeitlich situierten („sonntags“) „gehen“Aktivität („extra über das Feld und …“) fungieren. KM [8] fügt der Spezifikation der Akteure weitere Details hinzu, und zwar als paarweise Expansion von Akteur und Zeitintervall („Sonntagmorgen“ + „Männer und Kinder“ – „Sonntagnachmittag“ + „ganze Familien“). Ich illustriere dies durch folgendes Schaubild zu dem Textausschnitt:4 (Text 2) Aber aus den anderen Dörfern gehen die Leute sonntags extra übers Feld und mit ihren Sonntagsschuhen mürrische kleine Schotterstraßen entlang bis zur Chaussee, damit sie dort sonntags die Autos fahren sehen. (Aber aus den …).gehen (die Leute) (sonntags)

Sonntagmorgen die Männer und Kinder Sonntagnachmittag ganze Familien).

extra übers Feld …

(und

Dabei deuten die Punkte hinter Feld an, dass der gesamte Rest der Aktivitätsbeschreibung (Direktion, Modalität, lokales Ziel und Intention) mit aktiviert ist und für die Expansion in [8] mit Gültigkeit hat. Zu beachten ist außerdem, dass 4

Es handelt sich um eine Veranschaulichung des prozedural-kognitiven Aspekts, was durch die kleine Lichtquelle angedeutet werden soll.

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Entsprechendes auch für den zweiten Teil der KM [8] ab und Sonntagnachmittag gilt. Strukturell wird die grammatische Bezogenheit von [8] auf [7] einzig manifest durch den Kasus Nominativ, in dem die Nominalgruppen die Männer und Kinder sowie ganze Familien von [8] stehen. Er zeigt, dass hier ein Subjekt zu dem erspartem Prädikatsverb vorliegt, wobei dieses nicht nur semantisch zu ergänzen ist, sondern die Expansion auch in der identischen Form, nämlich in Form von gehen, erfolgen könnte. So marginal die Kasusauszeichnung erscheinen mag angesichts des komplexen Geschehens auf der Ebene des Verstehens, so bedeutsam ist sie. Wird z.B. der Nominativ durch den Dativ ersetzt, bricht die Relation zu [7] zusammen, [8] ist nicht mehr interpretierbar. Ich deute dies durch hochgestelltes ,$‘ an: (Text 3) Aber aus den anderen Dörfern gehen die Leute sonntags extra übers Feld und mit ihren Sonntagsschuhen mürrische kleine Schotterstraßen entlang bis zur Chaussee, damit sie dort sonntags die Autos fahren sehen. $Sonntagmorgen den Männern und Kindern und Sonntagnachmittag ganzen Familien.

Erst wenn wir z.B. in [7] entsprechende Änderungen vornehmen wird die dativische Konstellation von [8] wieder interpretierbar und der Text kohärent. (Text 4) Aber aus den anderen Dörfern gehen die Leute sonntags extra übers Feld und mit ihren Sonntagsschuhen mürrische kleine Schotterstraßen entlang bis zur Chaussee, damit ihnen dort sonntags die Autos vorgeführt werden. Sonntagmorgen den Männern und Kindern und Sonntagnachmittag ganzen Familien.

Für diesen Typ der Sequenzellipse kann die Modellierung herangezogen werden, die Ágel in dem Beitrag Ágel / Kehrein in Hennig (Hrsg.) 2013 für Koordinationsellipsen vorstellt – trotz der Tatsache, dass hier keine Koordinationsellipse vorliegt.5 5

Dies ist übrigens auf eine referenzsemantische Gegebenheit zurückzuführen, nämlich darauf, dass zwischen die Leute in [7] und die Männer/die Kinder/ganze Familien in [8] ein Inklusionsverhältnis vorliegt. Bei koordinativen Strukturen hingegen sind die parallel geführten referentiellen Ausdrücke in der Regel disjunkt. Die Männer gehen zum Fußball(und) die Frauen zum Tennisplatz. Das Inklusionsverhältnis bei [7]-[8] könnte durch die Setzung von und zwar verdeutlicht werden. Die Ellipse bei und-zwar-Verknüpfungen folgt teilweise anderen Regeln als die Koordinationsellipse, man vergleiche beispielsweise: Die Männer gehen zum Fußballplatz und zwar alle / und zwar noch in ihren Businessanzügen versus *Die Männer gehen zum Fußballplatz und alle / und noch in ihren Business-

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Ágel (2013: 129f.) verdeutlicht seine „distributionelle“ und „kernbezogene“ Analyse durch „Partiturschreibweise“, wie etwa für das Beispiel Tom parkt hinter und Klaus neben der Garage:

und

[Tom] [Klaus]

parkt

[hinter] [neben] der Garage

Er kommentiert: „Elemente des Kerns kommen paarweise ([Tom]-[Klaus] bzw. [hinter]-[neben]) und daher in beiden Konjunkten vor, während Komplemente (kursiviert) singulär sind und daher entweder im ersten Konjunkt (parkt) oder im zweiten Konjunkt (Garage) stehen“ (Ágel / Kehrein 2013: 127). Durch diese Modellierung werde die „skriptizistische Raummetapher“, also die Vorstellung, Sprachliches habe nur eine Dimension, die des zeitlichen oder räumlichen Nacheinander, vermieden. Diese sei, so interpretiere ich, für die Ellipsenkonzeption besonders folgenreich, werde doch der Präsenz auch des Ungleichzeitigen nicht Rechnung getragen. Aus grammatischer Perspektive erscheint hier vor allem die genuin strukturalistische Idee attraktiv, dass die Elemente des Kerns eine Distributionsklasse bilden und daher miteinander koordiniert werden können. Im Folgenden soll nun die Modellierung auf unser Text-KM-Paar [7]-[8], in dieser verkürzten Version, übertragen werden: [7.1] Aus den anderen Dörfern gehen die Leute sonntags übers Feld. [8.1] Sonntagmorgen die Männer und Sonntagnachmittag ganze Familien. Dabei zeigt sich sofort, dass eher die umgekehrte Reihenfolge in [8.1] dem Konzept der Distributionsklasse entspräche: die Leute und die Männer/ganze Familien gehören in eine Distributionsklasse, sonntags und Sonntagmorgen/Sonntagnachmittag ebenfalls: Aus den anderen Dörfern gehen [die Leute] [die Männer] und [ganze Familien]

[sonntags] übers Feld [Sonntagmorgen] [Sonntagnachmittag]

Allerdings ist das weder gesagt noch gemeint: Bei dieser Version müsste auch die Phrase aus den anderen Dörfern noch für die Interpretation von [8] präsent sein. Dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Der Fokus liegt allein auf dem Paar Akteur – Zeitspezifikation. In der realisierten umgekehrten Linearisierung kommt es zu einer chiastischen Relation zwischen den Elementen der Distributi-

anzügen. Komplex wird der Fall hier dadurch, dass [8] selbst eine Koordination ist, mit disjunkt gegenübergestellten referentiellen Ausdrücken.

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onsklassen. Die Setzung der Spitzklammern deutet an, dass dieser Satzteil nur im ersten Teil realisiert zu denken ist.6

gehen [die Leute] [sonntags] übers Feld [Sonntagmorgen] [die Männer] [Sonntagnachmittag] [ganze Familien]

Dieses Beispiel mag illustrieren, dass wie schon Klein (1993: 764) betont, Ellipsen nicht einfach syntaktisch wohlgeformt sind, sondern dies nur sind, relativ zu einem bestimmten Kontext. Das wird natürlich besonders auffällig, wenn der Kontext, also genauer ein Vorgängerverb wie in [7] in die Ellipse hineinregiert. In gewisser Weise scheint somit die Existenz von transsententialen Beschränkungen (vgl. oben Indiz für Textgrammatik im strikten Sinn) bewiesen zu sein. Aber nun liegt die Sache ja doch anders: Das Prädikatsverb gehen von Satz [7] fordert nicht die NPs in Äußerung [8]; gehen hat ja bereits ein Subjekt: Während in der Satzsyntax das Subjekt oder andere ,Komplemente‘ (im valenzgrammatischen Sinne) das Prädikatsverb syntaktisch zur Vollständigkeit ergänzen, muss hier umgekehrt ein distantes Verb eine NP im Nominativ (bzw. zwei koordinierte NPs und eine weitere NP in einem weiteren Konjunkt) syntaktisch vervollständigen. Die Verhältnisse sind also aus der Sicht der Satzgrammatik auf den Kopf gestellt. Zur Klarstellung: Ich behaupte nicht, dass in den Köpfen der Sprecher oder Texter auf diese Weise syntaktisch wohlgeformte Sätzen aus Ellipsen hergestellt werden (Ergänzungshypothese) oder umgekehrt syntaktisch vollständige Sätze zu Ellipsen reduziert werden (Reduktionshypothese). Es ist sicher zutreffend, dass bereits Verbalisiertes hier prozedural bei der Sprachproduktion und -rezeption nicht ausdrucksseitig materialiter ergänzt oder reduziert wird; es handelt sich um Operationen im Wissen, bei denen wie Hennig (2011) überzeugend zeigt, Inferenzen in unterschiedlichem Maße und unterschiedlichen Formen eine große Rolle spielen. Und diese Prozeduren im Wissen mögen tatsächlich inkrementeller Natur sein, auf Kontext- oder Wissensanreicherung bzw. -veränderung, bei Beibehaltung des schon Bekannten abgestellt sein (vgl. Rickheit / Sichelschmidt 2013): So gesehen, sind die nominativischen NPs in [8] dann doch wieder „ergänzende“, anreichernde Elemente. Dennoch, so würde ich als Grammatiker sagen, 6

Dass die mangelnde Parallelität nicht etwa der Tatsache geschuldet ist, dass hier keine Koordinationsellipse vorliegt, zeigt folgendes Beispiel einer chiastischen Koordinationsellipse: Bei uns spielen die Männer sonntags und montags die Frauen bei euch: [Bei uns] spielen [die Männer] [sonntags) und [montags] [die Frauen] [bei euch] Ágel (2013: 144ff.) behandelt ähnliche Fälle mit „dislozierten“ Elementen einer Distributionsklasse anhand von Belegen aus dem älteren Deutsch.

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sollten wir, wo es sich um Ellipsen in grammatischer Beziehung zu einer BezugsKM handelt, die wohlgeformten Ergebnisse dieser Prozeduren grammatisch, syntaktisch und semantisch, erfassen und beschreiben können, und zwar im Verhältnis zu den Vorgängeräußerungen, die ihre Wohlgeformtheit ermöglichen. Leider liefert die suggestiv einleuchtende Herangehensweise von Ágel aus meiner Sicht keine grammatisch befriedigende Lösung. Distributionsklassen, die ja bei Ágel die Idee der antilinearen Anreicherung verkörpern sollen, waren im Strukturalismus (vgl. Harris 1951) nur die methodische Basis grammatischer Regeln, die aus den Distributionsverhältnissen durch Abstraktion gewonnen wurden: Aus der Distributionsklasse {Tom, Klaus, der Mann, das Kind} kann die Phrasenkategorie NP im Nominativ gewonnen werden. Kombiniert mit der syntagmatischen Erkenntnis, dass diese Phrasenkategorie mit einer VP, wiederum gewonnen aus einer Distributionsklasse, kombinatorisch einen Satz ergibt, kommen wir so zu der fundamentalen Strukturregel für den Satz in der Version des amerikanischen Strukturalismus. Distributionsklassen führen also per se nicht aus der klassischen Syntax hinaus. Der Abstraktionsschritt, der von den Regeln für den einfachen Satz zur Regel für ein mehrdimensionales Satz-Hybrid führt, fehlt hier (noch). Eine naheliegende erste sehr defizitäre Regelformulierung auf dieser Basis könnte lauten: [R] In Koordinationsellipsen und gewissen Typen von Sequenzellipsen (welchen ??) mit den Teilen A und B, von denen mindestens einer ein Finitum enthält, das strukturelle Satzpositionen („slots“) vorgibt, können strukturelle Satzpositionen (einschließlich des Finitums) mehrere funktional sowie grammatisch (semantisch und ggf. formal) einander entsprechende „Füller“ jeweils in A und B erhalten, wenn bestimmte lineare Beschränkungen (welche ??), die ggf. vom Typ der Sequenzellipse abhängig sind, erfüllt sind, während andere strukturelle Satzpositionen nur in entweder A oder B besetzt sind, jedoch semantisch oder auch formal in beiden Teilen zu verrechnen sind. Möglicherweise aber kann die Vagheit in dieser Abstraktion gar nicht beseitigt werden. Folgt man Lötscher (2013: 197), so wären für einen „formalen syntaktischen Zugang“ zu Sequenz- bzw., wie er sie nennt, Adjazenzellipsen jeweils im Einzelfall „mehr oder weniger ad hoc zu formulierende Rekonstruktionsregeln erforderlich. Es ist nicht erkennbar, wie man ein generelles Regelformat definieren könnte.“ Halten wir also aus dieser länglichen Diskussion als Fazit zunächst fest: Auch bei Sequenzellipsen in grammatischer Beziehung erscheint die Abstraktion von grammatischen Regeln zu einem generellen System (nach dem derzeitigen Erkenntnisstand) unmöglich. Zu viele Variablen sind hier gesetzt, zu viele Unbekannte gibt es. Die grammatische Relation zwischen Bezugs-KM und elliptischer KM manifestiert sich in „Inseln“ von Distributionspaaren. Die Elemente dieser

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„Inseln“ in der elliptischen KM müssen für sich betrachtet nicht durch Strukturregeln miteinander verknüpft sein; sie sind es nur durch Rekurs auf die BezugsKM. So gibt es zwischen Sonntagmorgen und die Männer und Kinder in [8] per se keine strukturelle Beziehung. Eine Textgrammatik für Ellipsen im strikten Sinne kann sich nicht auf diese Inseln beschränken. Wenn es sie überhaupt gibt, müsste sie eine ,relationale Grammatik‘ sein, also eine Grammatik der Relation von Bezugs-KM und Sequenzellipse. Es handelte sich um eine Grammatik zweiter Ordnung, die die möglichen Strukurregeln für die Bezugs-KM, also die „normale Syntax“, und die Strukturen für Sequenzellipsen in Form von Wenn-dann-Beziehungen miteinander verknüpfen würde (vgl. [R] oben). Gehen wir weiter: Text-KM [2] Gelb und mit weißem Dach. können wir dem ,rein inferentiellen‘ Typ von Sequenzellipse zuordnen. Wohl gemerkt: Auch beim grammatisch determinierten Typ muss man, wie Lötscher (2013: 197) richtig erkennt, als Rezipient „die Vorgängeräußerung schon als Äußerung auch inhaltlich interpretiert haben […] bevor man eine Adjazenzellipse interpretiert“. Erst dann ist eine inhaltliche Ergänzung möglich. Eine diesem Verstehensakt vorgängige rein syntaktische Rekonstruktion eines vollständigen Satzes ist somit, wie Lötscher betont, unmöglich. Während aber beim grammatischen Typ dieses verstehende Anknüpfen an Vorgängeräußerungen in der Erkenntnis mündet, dass die zu expandierenden Teile der elliptischen KM auf der semantischen und/oder gar der formal-syntaktischen Ebene allein aus der Bezugs-KM zu gewinnen sind, ist dies beim rein inferentiellen Typ nicht der Fall. Grammatisch gesehen, fällt die elliptische KM aus den Strukturvorgaben der Bezugs-KM heraus. Der erste Teil von [2] ist klar als „externe Prädikation“ im Sinne von Behr / Quentin (1996: 56–60) bzw. Behr (2013: 269ff., vgl. auch Hennig 2011: 251) zu identifizieren, also als Prädikation über einen außerhalb der elliptischen KM, in der Bezugs-KM genannten Referenten. Rekonstruiert man, wie Hennig es tut, diesen Bezug durch einen Kopulasatz, so lautete dieser hier: Der Opel Kapitän ist gelb. Die Bezugs-KM ist kein Kopulasatz, dient also keineswegs als Strukturvorgabe. Adjektive wie gelb oder auch Nominalphrasen wie ein toller Wagen, neuester Bauart bzw. Präpositionalphrasen wie vor dem Rathaus usw. werden in dem jeweils gegebenen Kontext als prädikative Zuschreibungen über das erschlossene externe Referenzobjekt verstanden, als einstellige Prädikate im logisch-semantischen Sinne. Externe Prädikation ist eine äußerst gängige Praxis, auch bei situativen Ellipsen – man denke z.B. an den Kommentar wunderbar beim Anblick eines Sonnenuntergangs. Die „semantisch leere“ Kopula wird ja in vielen Sprachen, z.B. Russisch, auch in nicht-elliptischen Äußerungen nicht benötigt. Wir können also auch hier von einer ,direkt-prädikativen‘ Konstruktion ausgehen, ohne Umweg über den Kopulasatz. Voraussetzung für die Inferenz einer externen Prädikation ist, dass das anzunehmende Referenzobjekt überhaupt unter die Prädikation fallen kann, es

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muss also mindestens eine Art sortale Verträglichkeit vorliegen, darüber hinaus auch eine situative: Im Kontext der staunend-erinnernden Beschreibung wäre z.B. eine Prädikation wie hässlich oder geschmacklos über das angehimmelte Objekt nicht zu erwarten. Was das anzunehmende Referenzobjekt angeht, so spielt die Informationsstruktur die entscheidende Rolle. Aussichtsreichster Kandidat ist ein bereits eingeführter thematischer Gegenstand. Unter Themakonstanz (vgl. IDS-Grammatik 1997: 536f.) ist die „Ersparung“ einer Wiederbenennung das ökonomischste Verfahren. Genau dies ist hier der Fall. Der zweite Teil von [2] kann nicht als Kopulasatz rekonstruiert werden, ebenso wenig wie [3]: *Er ist mit weißem Dach. Zwar wird auch hier, ebenso wie in [3] über dasselbe Referenzobjekt prädiziert; es handelt sich jedoch semantisch nicht um ,SEIN‘-, sondern um ,HABEN‘-Prädikationen; Der Opel Kapitän hat ein weißes Dach, Autoradio, Weißwandreifen und über der Windschutzscheibe eine Sonnenblende aus blaugrünem Glas. mit weißem Dach könnte syntaktisch als Attribut zu einen gelben Opel Kapitän von Text-KM [1] bewertet werden – sofern man die durch den Punkt markierte Grenze syntaktisch ignoriert. Bei dieser Sehweise ist dann auch die gesamte Koordination [2] als „appositive Erweiterung“ (vgl. IDS-Grammatik 1997: 2035–2038) zu einen gelben Opel Kapitän zu betrachten. Sie bestünde aus einem nachgestellten unflektierten Adjektiv und einer Präpositionalphrase, also einer Form, die „konstruktionsgleich ist mit einer restriktiven Erweiterung“ (vgl. IDS-Grammatik 1997: 2037). Nun sind jedoch appositive Erweiterungen im Grunde auch implizite (SEIN- oder HABEN-)Prädikationen, die bezüglich der KM, in die sie orthografisch einbezogen sein mögen, „syntaktisch und semantisch nicht oder nicht vollständig integrierte Erweiterungen“ darstellen (vgl. IDS-Grammatik 1997: 2036). Diese Analyse erbringt somit wenig Unterschied gegenüber der hier zunächst angesteuerten, nämlich als externe Prädikationen, somit als rein inferentielle Ellipsen. Man beachte auch die Übergänge, die der Autor hier zwischen den verschiedenen Typen der externen Prädikation vollzieht: Er steigt ein mit der offensichtlichsten Form, der SEIN-Prädikation, geht über zu einer durch die komitative Präposition mit expliziten externen HABEN-Prädikation, um dann in [3] rein assoziativ eine implizite HABEN-Prädikation anzuschließen. Text-KM [3] schließlich könnten wir alternativ auch als „Existenzialsatz“ (vgl. Behr / Quintin 1996: 68, Behr 2013: 273f.) einordnen, wenn nur das Vorhandensein der einzelnen bewundernswerten Details im Fokus gesehen wir, nicht deren Status als Teile des Opel Kapitäns. Text-KM [13] und [14] greifen die Struktur von [2] wieder auf. In [13] liegt wiederum die explizitere Form der externen HABEN-Prädikation vor: Mit silbernen Speichenrädern – diesmal ist das externe Referenzobjekt ein Mercedes. [14] kopiert Text-KM [2] mit der Koordination von SEIN- und HABEN-Prädikation: Weiß und mit roten Ledersitzen. Bemerkenswert ist hier, dass das Referenzobjekt

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nicht in der unmittelbar vorausgehenden Text-KM erscheint, sondern in KM [11]. Es liegt also keine direkte Adjazenz vor. Rein inferentiell bezogene Sequenzellipsen sind verglichen mit grammatisch bezogenen, metaphorisch gesprochen, Inseln ohne grammatische Verbindung zum Festland der Text-KM, an die sie semantisch und pragmatisch anknüpfen. Wohl kann man natürlich diese Inseln selbst grammatisch beschreiben: In [2] handelt es sich, wie gesagt, um ein unflektiertes Adjektiv, das durch und koordiniert ist mit einer Präpositionalphrase. Es gibt jedoch keine (text-)grammatische Regel, die auf der Basis dieser Formbestimmung kompositional die entsprechende kontextadäquate semantische Seite, nämlich die Interpretation als Text-KM, herleiten würde. Zur Verdeutlichung vergleiche man die folgende Variation des Textanfangs: [1a] Durch Lollar fährt ein junger Mann in einem gelben Opel Kapitän. [2a] Schnell und ohne Führerschein.

[2a] hat dieselben grammatischen Merkmale wie [2], jedoch eine andere Interpretation. Diese ergibt sich, wie entsprechend auch bei [2] aus der lexikalischen Semantik der Teile (z.B. ,schnell‘ als Eigenschaft von Handlungen wie ,fahren‘) im Verbund mit dem Weltwissen und der generellen Inferenzstrategie der inkrementellen Anknüpfung. 3.4

Kontextablösbare KM ohne Finitum im Beispieltext und Mischformen

Die Text-KM [10] Das Dach offen stellt in der Klassifikation von Behr / Quintin (1996: 66–68) eine „interne Prädikation“ dar. Hennig (2011: 252) bestimmt so: Die interne Prädikation kann mit der gleichen Paraphrase definiert werden wie die externe Prädikation: X „ist“ Y. Der Unterschied besteht hier darin, dass sowohl X als auch Y Konstituenten des VLS sind, während bei den externen Prädikationen X im Linkskontext angesiedelt ist und der VLS nur aus Y besteht. Interne Prädikationen weisen deshalb ein höheres Maß an Selbständigkeit auf als externe.

Allerdings: Wenn beide semantischen Bestandteile einer Prädikation – das Referenzobjekt und das (einstellige) Prädikat – in einem „verblosen Satz“ (VLS) artikuliert sind, liegt keine Sequenzellipse mehr vor. Text-KM [10] ist aus meiner Sicht nicht nur „mit einem höheren Maß an Selbstständigkeit ausgestattet“, sondern es ist anders als sein Pendant, die externe Prädikation, „dekontextualisierbar“. Das Konzept der ,Dekontextualisierbarkeit‘ von KM wird in der Studien von Zifonun 1986 und 1987, die als Vorarbeiten zur IDS-Grammatik dienten, an

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zwei Voraussetzungen geknüpft: das Vorhandensein eines ausdifferenzierten propositionalen Gehalts und die Erkennbarkeit des illokutiven Potentials. Beide Bedingungen sind in [10] gegeben. Insbesondere ist der propositionale Gehalt vollständig ausdifferenziert, insofern als „alle verständigungsrelevanten Entitäten, auf die sich der entsprechende Geltungsanspruch bezieht, auch sprachlich benannt sind“ (vgl. Zifonun 1987: 59). Dies zeigt der Vergleich mit dem entsprechenden Vollsatz: Das Dach ist offen. Auch dieser ist natürlich in dem oft bemühten Sinne „unvollständig“ (und wie manche sagen „elliptisch“, vgl. Hennig 2013: 9), in dem unsere Äußerungen häufig, wenn nicht immer unvollständig sind. Natürlich fehlt hier die Angabe, welches Dach offen ist. Diese Art von Unvollständigkeit tangiert aber unsere zentrale Frage nach einer strikten Text- bzw. Ellipsengrammatik nicht. Die Lücke lässt sich aus dem thematischen Textzusammenhang und unserem Wissen über Autos problemlos lösen; textgrammatische Regeln benötigen wir hier nicht. Weitere kontextablösbare Nicht-Finit-KM gibt es in unserem Textausschnitt in dieser reinen Form nicht. Allerdings habe ich Text-KM [9] und Text-KM [12] als „Übergangs-„ bzw. Mischformen“ zwischen Sequenzellipse und Nicht-FinitKM eingeordnet. In Zifonun 1987 (S. 114) wird eine graduelle Abstufung der Dekontextualisierbarkeit angenommen. So wird postuliert, es gebe im Deutschen eine „konventionalisierte Klasse von nicht-finit-verbaler Konstruktionen, die prädizierende Funktion (…) übernehmen können“ und mit denen eine konventionalisierte Prozedur zur Referentengewinnung aus dem Kontext verbunden ist. Hierzu zählten neben Partizipien II wie Stillgestanden prototypischerweise (erweiterte) Infinitive des Präsens wie Die Hände hochnehmen. Eine Messerspitze Zimt zugeben. Text-KM [9] ist ein solcher erweiterter Infinitiv oder vielmehr eine Koordination von zwei erweiterten Infinitiven: Einen richtigen Porsche sehen und einen offenen Mercedes 190 SL. Typisch für solche Infinitive ist die im weitesten Sinne ,deontische‘ Interpretation. Die durch den Infinitiv ausgedrückte Handlung ist eine erwünschte, beabsichtigte oder gebotene, unabhängig davon, ob eine interrogative oder eine direktive Illokution vorliegt.7 Welche dieser Spielarten von Deontik im KM-token gemeint ist, hängt u.a. von den intendierten Akteuren ab. Auf den ersten Blick würde man die in [8] genannten „Männer und Kinder“ bzw. die „ganzen Familien“ hier als Referenten und Akteure ansetzen, die in intentionaler bzw. volitiver Spielart von Deontik den Porsche oder Mercedes sehen wollen. Andererseits haben gerade infinitivische KM oft einen verallgemeinernden Charakter: Es handelt sich dann hier um einen Wunsch, den jeder in dieser Situation 7

Behr / Quintin (1996: 63) sprechen von „Aufforderungen oder Fragen, die Bezüge zwischen Sender, Empfänger und Agens des intendierten Prozesses“ herstellen und führen eine infinitivische Frage als Beleg an.

Text und Grammatik – Allianz oder Mesalliance?

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haben könnte, z.B. der Autor oder auch diejenigen, die sich als Leser in diese Situation nur hineinversetzen. Auch Behr / Quintin (1996: 62) zählen „Infinitivsätze“, wie sie sie nennen, „zu den VLS, die auf eher konventionalisierten, habitualisierten Interpretationsmustern“ beruhen. Die Text-KM [12] Ungelogen! enthält mit dem Teil gelogen ein Partizip II, wäre also derselben größeren Klasse von Nicht-Finit-KM zuzuordnen wie die eben erörterten Infinitive. Durch das Adjektivpräfix un- wird jedoch der adjektivische, nicht verbale Charakter der Form klargestellt. Zudem handelt es sich um eine „idiomatisierte kommunikative Formel“ (Hennig 2011: 254). Ungelogen kann im Sinne einer externen Prädikation als Aussage über den (als erstaunlich zu betrachtenden) Inhalt der vorausgehenden KM gelten. Ein Kopulasatz kann aber nicht restituiert werden: *Das ist ungelogen. ungelogen kommt weder als Prädikativkomplement noch als Attribut vor, sondern nur als ,Kommentarglied‘ innerhalb der linearen Satzstruktur, meist im Mittelfeld (vgl. (1)), oder parenthetisch abgehoben (2), als Nachtrag (3), als Vorauskommentar (4) oder als eigene KM wie in (5) und bei Text-KM [12]. (1) (2) (3) (4) (5)

Denn von außen sieht der Laden ungelogen aus wie ein ganz normales ukrainisches Restaurant. (Mannheimer Morgen, 19.06.2012, S. 3) Für auserwählte Gäste hat Jan hier, ungelogen, klabautische Feste abgezogen. (Berliner Zeitung, 08.05.2000, S. 11) Jedenfalls hat mir Angelika das erzählt, ungelogen. (Berliner Zeitung, 30.10.1999. S. XI) Ungelogen: die Leute an der Haltestelle klatschten Beifall. (Berliner Zeitung, 12.10.2000, S. 13) Gegen Paraguay zeigte der listige Kehl ein starkes Spiel. Ungelogen. (Berliner Zeitung, 29.06.2002, S. 35)

In all diesen unterschiedlichen Umgebungstypen hat die kommunikative Formel dieselbe semantische Funktion: Es handelt sich um einen Sprecherkommentar zur umgebenden, nachfolgenden oder vorausgehenden Aussage. Damit ist die Analyse der elliptischen KM (im weiteren Sinne der Äußerungsformen aus dem elliptischen Formenkreis) in unserem Beispieltext abgeschlossen. Wir erweitern nun Tabelle 1 um die noch fehlenden Typen und tragen die Nummern der Text-KM ein.8 8

Die drei Haupttypen A, B und C unterscheiden sich nach Maßgabe der drei Hauptmerkmale ,grammatisch bezogen‘, ,rein inferentiell bezogen‘ und ,dekontextualisierbar‘. Für den Untertyp A.2 gibt es keinen Beleg im Text, er wurde aus systematischen Gründen mit aufgenommen. Bei B und C ist jedoch auch mit weiteren Untertypen, die nicht im Text vorkommen, zu rechnen.

492

Gisela Zifonun grammatisch bezogen

Sequenzellipse (A.1) [8] Sequenzellipse (A.2) Sequenzellipse (B.1): ‚externe Prädikation‘ [2], ([3]), [13], [14] Sequenzellipse (B.2):,Existenzialsatz‘ ([3]) kontextablösbare Nicht-Finit-KM (C.1) ,interne Prädikation‘ [10] Mischform (B-C) [9], [12]

rein inferentiell bezogen

dekontextualisierbar







+





+







+



(+)

(+)

formal +

semantisch +



+

Tab. 2 Aus Tabelle 2 wird deutlich, dass grammatisch bezogene Sequenzellipsen nur einen von mehreren Text-KM-Typen aus dem elliptischen Formenkreis darstellen, und möglicherweise einen empirisch weniger bedeutenden. Wenn man nun weiter in Rechnung stellt, dass es einen skalaren Übergang (Hennig 2011: 257) zwischen den einzelnen Ellipsentypen gibt – wir sahen dies an der Ambiguität zwischen externer Prädikation und Existenzialsatz in [3] –, dass mit der Identifikation weiterer Formen zu rechnen ist und, vor allem, dass die Formen als solche z.T. chamäleonartig je nach Kontext wechseln und ineinander übergehen (Was z.B. in einem Kontext rein inferentiell bezogen, z.B. ein Existenzialsatz ist, ist im anderen eindeutig grammatisch bezogen), so liegt folgender Schluss nahe: Bei der Verarbeitung von Ellipsen sind in unterschiedlichem Maße, aber doch immer manifest die strukturelle Information (die Grammatik) und die inferentielle, wissensgesteuerte Information intim verknüpft. Auf der strukturellen Ebene bedeutet dies, wie wir gesehen haben, dass – neben den Formaten für kontextablösbare Nicht-Finit-KM – allenfalls Bausteine einer relationalen Grammatik für Sequenzellipsen gegeben sind, ein komplettes grammatisches Regelsystem aber wohl nicht anzunehmen ist. Von einer Autonomie der Ellipsensyntax bzw. -grammatik kann jedenfalls weder prozedural noch strukturell die Rede sein. Daraus aber nun den Schluss zu ziehen, dass wir alles zur Interpretation Heranzuziehende (Struk-

Text und Grammatik – Allianz oder Mesalliance?

493

tur, Inferenzpotential, Wissen) nun zur Ellipsengrammatik zählen, kann nicht die richtige Schlussfolgerung sein. Das ist jedenfalls meine Antwort auf die Frage von di Meola (2006: 129f.), die im Kontext einer Diskussion über Textgrammatik gestellt wird: „Oder sind in den Grammatikbegriff auch semantische, kognitive, pragmatische und informationsstrukturierende Phänomene mit einzubeziehen?“

4

Fazit



Es gibt unter den Aspekten Regeln/constraints, Gegliedertheit und Formbezogenheit keinen Grund für die Annahme, Texte hätten eine spezifische Grammatik (strikte Deutungsrichtung für Textgrammatik). Transsententiale Beschränkungen existieren nur in einem „Metasinn“. So sind die Kongruenzregeln bei der Anaphorik als grammatische Ausführungsbedingungen für Referenzsicherung, nicht als Wohlgeformtheitsbedingungen zu verstehen. Textgegliedertheit ist keine grammatische Gegliedertheit (Glieder einer Kette versus Glieder des menschlichen Körpers). Formbezogenheit und (Nicht-)Wohlgeformtheit z.B. bei Ellipsen ist erklärbar auf der Ebene der Relationen zwischen Text-KMs (Kommunikativen Minimaleinheiten im Text). Die Struktur von Ellipsen geht jedoch nicht darin auf. Eine komplette ,relationale Textgrammatik‘ für Ellipsen ist nicht zu erwarten. Inferenz- und wissensbasierte Eigenschaften von Ellipsen sind aber nicht Teil der Grammatik.



• •

5

Schlussbemerkung

Das Stichwort „Textgrammatik“ hat eine Zeitlang, dies beobachtet Gerhard Helbig (2003: 19), wie eine „Faszination“ gewirkt, „von der man sich die Lösung vieler Probleme erwartet, die von anderen Ansätzen her nicht lösbar schienen.“ Dabei hat die Unklarheit des Begriffs sicher eine stimulierende Wirkung gehabt, nach dem Motto: je unklarer, desto deutungsmächtiger. Man mag sogar im Sinne von Kindt (2010) hier von einem der Irrtümer oder Missverständnisse der Linguistik sprechen. Sicher jedoch ein produktives Missverständnis, hat es uns doch einerseits die Augen geöffnet für die Kontextabhängigkeit von Sätzen bzw. Kommunikativen Minimaleinheiten, etwa was die informationsstrukturelle Gliederung angeht. Andererseits wurde uns in diesem Bemühen klar, wie nützlich die Grammatik für die Textanalyse ist, auch wenn Texte eigentlich keine Grammatik „haben“.

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Gisela Zifonun

6

Literatur

6.1

Primärliteratur

KURZECK, Peter (2011): Vorabend. Das alte Jahrhundert, Band 5. Frankfurt a.M. / Basel: Stroemfeld REMARQUE, Erich Maria (1996): Im Westen nichts Neues. 15. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch REMARQUE, Erich Maria (1974): Na zachodzie bez zmian. Übersetzt von Stefan Napieralski. 3. Aufl. Kraków: Wydawnictwo Literackie REMARQUE, Erich Maria (2008): Nyugaton a helyzet változatlan. Übersetzt von Katalin Ortutay. Budapest: Európa Könyvkiadó 6.2

Sekundärliteratur

ÁGEL, Vilmos / KEHREIN, Roland (2013): Ellipse und Prosodie. Eine empirische Analyse zum Deutschen. In: HENNIG (Hrsg.), 107–158 BEHR, Irmtraud (2013): Syntaktisch-grammatische Aspekte von verblosen Sätzen nach dem logisch-semantischen Modell von J.M. Zemb. In: HENNIG (Hrsg.), 253–280 BEHR, Irmtraud / QUINTIN, Hervé (1996): Verblose Sätze im Deutschen: zur syntaktischen und semantischen Einbindung verbloser Konstruktionen in Textstrukturen. Tübingen: Stauffenburg (= Eurogermanistik 4) BÜHLER, Karl (1934): Sprachtheorie. Jena: Gustav Fischer CHOMSKY, Noam (1957): Syntactic Structures. ’S-Gravenhage: Mouton & CO (= Janua Linguarum IV) DI MEOLA, Claudio (2006): Satzgrammatik oder Textgrammatik im universitären Daf-Unterricht? - (Vor-)Bemerkungen zu einer Fragestellung. In: Neuland, Eva / Foschi Albert, Marina / Hepp, Marianne (Hrsg.): Texte in Sprachforschung und Sprachunterricht. Pisaner Fachtagung 2004 zu neuen Wegen der italienisch-deutschen Kooperation. München: Iudicium, 127–130 DREWNOWSKA-VARGÁNÉ, Ewa / ZIFONUN, Gisela (2011): Formensystem und textuelle Verwendung von Possessiva. Ein deutsch-, polnisch- und ungarischsprachiger Paralleltextvergleich. Deutsche Sprache 3, 207–233 EISENBERG, Peter (2006): Grundriss der deutschen Grammatik Band 2: Der Satz. 3. durchgesehene Auflage. Stuttgart / Weimar: Metzler HARRIS, Zellig (1951): Methods in Structural Linguistics. Chicago: University Press HELBIG, Gerhard (1994): Textgrammatik versus Satzgrammatik? Zu H. Weinrichs „Textgrammatik der deutschen Sprache“. Deutsch als Fremdsprache 2, 67–73 HELBIG, Gerhard (1999): Möglichkeiten und Grenzen von „Textgrammatik“. In: Simeonova, Ruska / Staitscheva, Emilia (Hrsg.): 70 Jahre Germanistik in Bulgarien. Sofia: Universitätsverlag, 115–122

Text und Grammatik – Allianz oder Mesalliance?

495

HELBIG, Gerhard (2003): Einige Bemerkungen zur Idee und Realisierung einer Textgrammatik. In: Thurmair, Maria / Willkop, Eva-Maria (Hrsg.): Am Anfang war der Text – 10 Jahre „Textgrammatik der deutschen Sprache“. München: Iudicium, 19–32 HENNIG, Mathilde (2011): Ellipse und Textverstehen. Zeitschrift für germanistische Linguistik 39, 239–271 HENNIG, Mathilde (Hrsg.) (2013): Die Ellipse. Neue Perspektiven auf ein altes Phänomen. Berlin / New York: de Gruyter (= Linguistik – Impulse und Tendenzen 52) HENNIG, Mathilde (2013): Einleitung. In: HENNIG (Hrsg.), 1–17 HERINGER, Hans Jürgen (1984): Gebt endlich die Wortbildung frei! Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 15, 43–53 IDS-Grammatik (1997) = Zifonun, Gisela et al. (Hrsg.): Grammatik der deutschen Sprache. Berlin / New York: de Gruyter (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7) KINDT, Walther (2010): Irrtümer und andere Defizite in der Linguistik. Wissenschaftslogische Probleme als Hindernis für Erkenntnisfortschritte. Frankfurt a.M.: Lang KLEIN, Wolfgang (1993): Ellipse. In: Jacobs, Joachim et al. (Hrsg.): Syntax. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Bd.1. Berlin / New York: de Gruyter, 763–799 (= HSK 9.1) KLOTZ, Peter (2011): Linearität und Textualität. In: Köpcke, Klaus-Michael / Ziegler, Arne (Hrsg.): Grammatik – Lehren, Lernen, Verstehen. Zugänge zur Grammatik des Gegenwartsdeutschen. Berlin / New York: de Gruyter, 383–396 LÖTSCHER, Andreas (2013): Einsetzen – finden – erfinden – erahnen? Ellipsenverstehen aus der Perspektive von Textverstehen und Textbedeutung. In: HENNIG (Hrsg.), 183–226 PLEWNIA, Albrecht (2013): Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten,. Was man in der Dependenzgrammatik mit syntaktischen Leerstellen tun kann. In: HENNIG (Hrsg.), 227–251 RICKHEIT, Gert / SICHELSCHMIDT, Lorenz (2013): Verstehen von Ellipsen – ein holistischer Ansatz. In: HENNIG (Hrsg.), 159–182 WEINRICH, Harald (2005): Textgrammatik der deutschen Sprache. 3. rev. Aufl. Hildesheim u.a.: Olms WIESE, Bernd (1983): Anaphora by pronouns. Linguistics 21, 373–417 ZIFONUN, Gisela (1986): Eine neue Grammatik des Deutschen. Konzept zu Inhalt und Struktur. In: Zifonun, Gisela: Vor-Sätze zu einer neuen deutschen Grammatik. Tübingen: Narr, 11–75 (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 63) ZIFONUN, Gisela (1987): Kommunikative Einheiten in der Grammatik. Tübingen: Narr (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 65)

II. Literatur- und rechtwissenschaftliche Zugänge

Gerhard Stickel Mannheim

Einleitung zum Podiumsgespräch über „Zugänge zum Text“ Die bisherigen Beiträge zu diesem Kolleg haben wieder einmal deutlich gemacht, wie weit und aspektreich der Gegenstandsbereich all dessen ist, was sich unter der Bezeichnung Text subsumieren lässt: von der knappen Aufforderung Komm bis beispielsweise zu Thomas Manns Roman Josef und seine Brüder auf fast 2000 Druckseiten oder gar Marcel Prousts A la recherche du temps perdu, von der Aufschrift auf dem Schild eines Zahnarztes bis zum Schlussplädoyer eines Staatsanwalts, von den graphematischen Eigenschaften eines Briefs bis zu den Intonationskonturen eines Streitgesprächs. Wir fünf hier auf dem Podium werden erst gar nicht versuchen, in bloß anderthalb Stunden die Fülle und Vielfalt des Phänomenbereichs ‚Text‘, so wie er in den vielen Vorträgen präsentiert wurde, unter einen Hut zu bringen. Das heißt: erwarten Sie bitte kein Resümee oder eine Konklusion aus der gesamten bisherigen Tagung. In der Hoffnung, zumindest das eine oder andere bisher diskutierte Motiv wieder aufnehmen zu können, möchten wir uns darauf beschränken, das uns gestellte Thema „Zugänge zum Text“ in einer seiner möglichen Lesarten arbeitsteilig zu behandeln. Das heißt, wir wollen einander und damit auch den anderen Tagungsteilnehmern kurz über den Umgang mit geschriebenen Texten berichten, wie er für die Literaturwissenschaft, die Rechtswissenschaft und die Linguistik charakteristisch ist. Dabei werden wir besonders auf die Rezipienten von geschriebenen Texten eingehen. Zum Ablauf vielleicht so viel: Jeder von uns wird zunächst kurz aus der Sicht seines Fachs auf das Thema eingehen. In einer zweiten Runde kann dann Ergänzendes vorgetragen werden. Danach sollte möglichst bald die Gesprächsrunde geöffnet werden; das heißt, dann kann sich auch das verehrte Publikum mit Fragen, Meinungsäußerungen oder Zusatzinformationen beteiligen. Aber zunächst zu uns hier auf dem Podium Lassen Sie mich bitte die ,Podianten‘ kurz vorstellen: • •



Frau Professor Orosz von der ELTE in Budapest und Herr Kollege Csúri von der Szegediner Universität vertreten die Literaturwissenschaft. Die beiden Universitätsdozenten Frau Karsai und Herr Szomora vom Institut für Strafrecht an der hiesigen Universität sind uns als Juristen willkommen. Ich bin Linguist und komme vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim.

500

Gerhard Stickel

Nun zu unserem Thema „Zugänge zum Text“. Als wissenschaftliches Fach tut sich die Linguistik mit Texten meist recht schwer; denn sie sieht sich der ganzen Breite und Vielfalt von Texten gegenüber, die ich zu Beginn kurz angedeutet habe. Es gibt für die Linguistik keine ausgezeichneten Textaspekte oder Textsorten außer denen, die der einzelne Linguist für seine Arbeit ausgewählt hat. Im Unterschied zu den Kolleginnen und Kollegen in der Literaturwissenschaft haben Textlinguisten eine gewisse Präferenz für prosaische Gebrauchstexte, Zeitungsartikel und Alltagsgespräche. Dies wurde ja auch in mehreren der bisherigen Beiträge deutlich. Linguisten, die sich mit Texten als Menge wichtiger Erscheinungsformen von Sprache befassen, sind von den Texten, die sie untersuchen, zumeist nicht als Adressaten gemeint. Prinzipiell verhalten sich Linguisten Texten gegenüber extrakommunikativ. Sie können sich allenfalls probeweise in die Rezipientenrolle versetzen, um Texteigenschaften und Situationsbedingungen im Hinblick auf Hörer oder Leser zu analysieren. Ein gemeinsames Interessengebiet sehe ich für die Textlinguistik wie für die Literaturwissenschaft und die Rechtswissenschaft: es ist die Intertextualität, d.h. die Beziehung die viele Texte auf andere Texte haben durch direkte und indirekte Zitate, Verweise, thematische Anspielungen und Wiederaufnahmen. Hierüber könnte es zu einem fruchtbaren Austausch kommen. Leicht hat es aber auch die Literaturwissenschaft nicht mit den Texten, zumal sie auch Texte zu berücksichtigen hat, die keine Entsprechungen in alltäglicher Kommunikation haben. Ich denke etwa an lyrische Gedichte. Immerhin kann sich die Literaturwissenschaft auf fiktionale Texte beschränken, also solche, die nicht für den alltäglichen Gebrauch intendiert sind. Zu den heiklen Fragen, die zu erörtern sind, gehört die nach den Unterscheidungsmerkmalen von fiktionalen und nichtfiktionalen Texten. Gibt es charakteristische textinterne strukturelle Eigenschaften, vielleicht eine spezifische Kohärenz? Wie steht es mit den Zwecken, die mit literarischen Texten intendiert sind? (Diese Frage ist vielleicht verboten, weil sie zu sehr an die altmodische Suche nach dem erinnert, was der Dichter wohl gemeint hat.) Vielleicht ist aber die moderne Literaturwissenschaft über die vage allgemeine Bestimmung dichterischer Zwecke hinausgelangt, die seit Horaz tradiert wird: aut prodesse aut delectare: nützen oder erfreuen oder beides. Doch wie steht es mit der Adressatenorientiertheit eines Romans oder eines Gedichts? Wie werden sie von wem rezipiert? Immerhin gibt es eine entwickelte Rezeptionsästhetik. Auch der einzelne Literaturwissenschaftler ist ja wie der so genannte normale Leser ebenfalls Rezipient literarischer Texte. Welche konzeptionellen und methodischen Zugänge zum jeweiligen Text hat sie, hat er im Unterschied zu laienhaften Literarturfreunden? Ich habe die Zuversicht, dass Frau Kollegin Orosz und Herr Kollege Csúri sich mit diesen und verwandten Fragen auseinandersetzen werden.

Einleitung zum Podiumsgespräch über „Zugänge zum Text“

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Mit ihren Ausführungen werden vermutlich die Beiträge der beiden anderen Gesprächsteilnehmer kontrastieren, der beiden Dozenten für Rechtswissenschaft Frau Karsai und Herr Szomora. Damit möchte ich nicht auf die möglicherweise unterschiedlichen Vortragstile anspielen. Nein, es sind die Texte, mit denen sich die Vertreter der beiden Fächer befassen. Aus der Sicht der Textlinguistik sind Rechtstexte viel deutlicher konturiert als die vielen anderen Texte, denen wir im Alltag oder auch als Leser fiktionaler Literatur begegnen. Zugegeben, wenn man an die verschiedenen Texte denkt, mit denen Recht gesetzt, verordnet, vereinbart, gefordert, erörtert, erläutert und entschieden wird, erkennt man eine große Vielfalt von Textsorten. (Die Abfolge von Partizipien gesetzt, verordnet, vereinbart, gefordert, erörtert, erläutert und entschieden habe ich mir nicht für dieses Podium ausgedacht. Ich habe sie nach früheren Diskussionen mit Juristen aufgeschrieben.) Trotz dieser Vielfalt haben all die Texte im Rechtswesen eine gemeinsame Zweckbestimmung: Sie sollen Recht schaffen oder wieder herstellen. Als Texte in Funktion haben sie eine deutliche Handlungsqualität. Wie sich aus der vorbereitenden Korrespondenz ergibt, können wir von den beiden Juristen einen lehrreichen Überblick über Textsorten und Textverwendungen im Rechtswesen, speziell im Strafrecht erwarten und auch Hinweise auf die Intertextualität von Rechtstexten. Als naiver Linguist, der nur gelegentlich mit dem Sprachgebrauch von Juristen zu tun gehabt hat, würde ich Rechtstexte sicherlich zum prototypischen Kernbereich des gesamten Textfeldes rechnen, weil sie durchweg kohärent, klar abgegrenzt und funktional bestimmt sind. Die folgenden schriftlichen Beiträge der beteiligten Literaturwissenschaftler und Juristen gehen über unser Szegediner Podiumsgespräch weit hinaus. Sie sind Ergebnis einer fruchtbaren Weiterarbeit der Beteiligten, die unser Gespräch zum Anlass genommen haben, ihre fachspezifischen „Zugänge zum Text“ ausführlicher zu erläutern und zu begründen, als das bei unserem kurzen Zusammensein auf dem Podium möglich war.

Károly Csúri Szeged

Literarische Kohärenz 1

Einführende Bemerkungen

Im Sinne des zentralen Themas des Kollegs „Schnittstelle Text“ wird im Folgenden gezeigt, dass unter diesem Aspekt auch so verschiedene Wissenschaftsbereiche wie die Literaturtheorie, die Kohärenztheorie der Wahrheit und die logische Semantik miteinander produktiv verknüpft werden können. Es sei jedoch von vornherein betont, dass es sich dabei nicht um eine direkte Verbindung der einzelnen Untersuchungsgebiete handelt, sondern vielmehr nur um das Aufweisen einer überraschenden Ähnlicheit in ihrer Denk- und Betrachtungsweise. Die spezifischen Methoden der Kohärenztheorie der Wahrheit oder der logischen Semantik können unmittelbar weder auf literarische Texte angewandt noch in das Instrumentarium der Literaturwissenschaft integriert werden. Die Frage der Wahrheit in der Literatur ist mit Hilfe logischer Wahrheitstheorien ebenso wenig zu lösen wie sich das Konstrukt der möglichen Welten, die literarischen Werken als Erklärung zugeordnet werden, unmittelbar aus dem Konzept der möglichen Welten der logischen Semantiken oder der Modallogiken ableiten lässt. Andererseits sind sie aber als Denkmodelle durchaus geeignet dafür, zur Ausarbeitung einer soliden Basis für rationale Interpretationstheorien allgemein beizutragen. Im ersten Teil wird eine Theorie der literarischen Erklärung von Texten umrissen. Da dieser Ansatz in vieler Hinsicht dem kohärenztheoretischen Verfahren ähnelt, werden anschließend entsprechende Bezüge einer Kohärenztheorie der Wahrheit kurz angedeutet. Weil das Konzept der möglichen Welten in dieser Art literarischen Erklärung eine bestimmende Rolle spielt und weil auch die Propositionen eines kohärenztheoretischen Wahrheitskonzepts bei der Festlegung von möglichen Welten grundlegend sind, wird im dritten Teil der Begriff der möglichen Welten in der logischen Semantik bestimmt und die Parallelität ihres Aufbaus in der Logik mit der Konstruktion von möglichen Welten in der Literatur in Form von Kurzkommentaren dargelegt. Schließlich wird ein kurzer Hinweis gegeben, wie die Problematik der „Wiederholung“, einer der wichtigsten Konstituenten literarischer Kohärenz, mit Hilfe der dargestellten, von drei Gesichtspunkten her fundierten literarischen Erklärungstheorie expliziert werden kann.

504 2

Károly Csúri Literarische vs. nichtliterarische Erklärung1

Ein semiotisches System funktioniert anders, wenn angenommen wird, dass die Sachverhalte, die es darstellt, auch unabhängig von diesem System bestehen, und wiederum anders, wenn angenommen wird, dass sie unabhängig von diesem System nicht existieren. Im ersten Fall wird das semiotische System als das Dokument von etwas bereits Vorhandenem betrachtet, im letzteren Fall hingegen bringt es etwas zustande, was allein und ausschließlich durch das fragliche semiotische System zugänglich und erkennbar ist. Auf diese Unterscheidung geht Bernáths Auffassung von literarischer und nichtliterarischer Erklärung zurück. Beim Lesen von literarischen und nichtliterarischen Texten wird nach ihm zumindest eine Welt etabliert, die als Textwelt bezeichnet wird. Die Konstruktion der Textwelt, das heißt die Zuordnung einer Welt zu dem Text stellt laut Bernáth die erste Phase der Textverarbeitung, das Verstehen des Textes dar, wobei auf unser kognitives, sprachliches und enzyklopädisches Wissen zurückgegriffen wird. Eine Textwelt besteht, abstrakt gesprochen, aus einer Menge komplexer Sachverhalte, die sich wiederum aus Objekten und Attributen zusammensetzen. Der Aufbau jeder Textwelt erscheint dem Leser notwendigerweise willkürlich. Es lassen sich dabei zwei Typen der Willkürlichkeit beobachten. Die Operationen, die zu ihrer Aufhebung dienen, werden Erklärung genannt. 2.1 Willkürlich ist der Aufbau einer Textwelt, wenn der Leser nicht weiß, ob die Aussagen des Textes wahr oder falsch sind. Dies kann jedoch geklärt werden, wenn die dargestellte Welt auch unabhängig von der Textwelt besteht und dem Leser zugänglich ist. Werden die Wahrheitswerte bzw. das Bestehen oder NichtBestehen der Sachverhalte in der fraglichen Textwelt mit Hilfe der unabhängig bestehenden Welt festgestellt, dann handelt es sich um einen Prozess nichtfiktionaler und, fügen wir gleich hinzu, nichtliterarischer Erklärung der Textwelt. 2.2 Der Aufbau der Textwelt kann auch dann willkürlich sein, wenn der Leser den Wahrheitswert der Aussagen zwar als gegeben, etwa als „wahr“ ansieht, den Aufbau der Textwelt aber für unbegründet hält. Er denkt nämlich, dass es keine von der Textwelt unabhängige Welt zur Verfügung steht, die als relevante und umfassende Grundlage für eine Wahrheitswert-Analyse dienen könnte. Unbegründet ist der Aufbau der Textwelt, wenn der Leser nicht weiß, warum sie gerade auf die gegebene Weise und aus den gegebenen Sachverhalten aufge1

Die hier dargelegten Ansichten beruhen grundsätzlich auf dem frühen Aufsatz von Bernáth (1978), vgl. dazu auch Bernáth / Csúri 1981 und Bernáth / Csúri 1985.

Literarische Kohärenz

505

baut ist. Selbst in diesem Falle kann er aber denken, dass der Aufbau der Textwelt zwar nicht begründet, aber begründbar ist, wenn man eine Theorie konstruiert, die alle wichtigen Anweisungen für den Aufbau der Textwelt enthält. Bei solcher Einstellung lässt sich über eine fiktionale und, fügen wir hinzu, literarische Erklärung der gegebenen Textwelt sprechen.

3

Kohärenztheorie der Wahrheit und die literarische Erklärung2

Im ersten Falle, bei der nichtfiktionalen Erklärung der Textwelten, vefahren wir im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit, nach deren Auffassung das Wesen der Wahrheit in ihrer Übereinstimmung mit Tatsachen besteht und durch eine Definition expliziert werden soll. Im zweiten Falle, bei der fiktionalen Erklärung von Textwelten, verfahren wir dagegen im Sinne der Kohärenztheorie der Wahrheit. Nach dieser Auffassung stellt gegenüber der nichtliterarischen Annäherung die Kohärenz der Aussagen das geeignete Kriterium für die Überprüfung der Wahrheit dar.3 Im Folgenden wird auf manche Analogien in der Denkweise zwischen logischen Kohärenztheorien und literarischen Erklärungstheorien hingewiesen. 3.1 Laut Coomann, der Reschers Theorie zusammenfasst und teilweise modifiziert, beginnt jede Untersuchung der Wahrheit mit Daten. Die Daten oder Propositionen bilden meist eine inkonsistente Menge, sie sind „Wahrheitskandidaten“, das heißt mögliche Anwärter auf Wahrheit. Ein „Wahrheitskandidat“ wird in diesem Konzept „wahr“, wenn er mit der größtmöglichen Menge der restlichen Daten verträglich ist, s. Coomann (1983: 98). Datenschaft ist also nicht die Eigenschaft einzelner Propositionen, sondern das kontextuelle Kennzeichen einer Gruppe von Daten, s. Coomann (1983: 103). Um aus den Daten als Prämissen Schlüsse ziehen zu können, wird der Begriff der „maximal konsistenten Teilmenge“ eingeführt, s. Coomann (1983: 107f.). Mittels dieses Begriffs wird die inkonsistente Datenmenge auf eine Form von alternativen Datengruppierungen gebracht, das heißt, in ein Strukturnetz von an sich konsistenten Datenmengen umgewandelt. Die Schlüsse sind dann jene „plausiblen Konsequenzen“, die aus den bevorzugten „maximal konsistenten Teilmengen“ einer Datenmenge gezogen werden. Im 2

Für die ausführlichere Darstellung des Zusammenhangs zwischen beiden Wissenschaftsbereichen s. Csúri 1991. 3 Eine umfassende und kritische Behandlung dieser Problematik, vor allem der Theorie Reschers (s. Rescher 1980) und ihres historischen Hintergrunds findet sich in Cooman 1983.

506

Károly Csúri

Gegensatz zur deduktiven Logik gilt gemäß der induktiven Kohärenzanalyse eine Proposition auch dann als „wahr“, wenn sie aus einer Menge präferierter Daten folgt, s. Coomann 1983: 113.4 Aus literaturtheoretischer Sicht fragt man sich bezüglich dieser Überlegungen, wie die „inkonsistente Menge von Daten“ anhand eines literarisch erklärten Textes zu deuten ist. Inkonsistent bzw. inkohärent ist eine Datenmenge im Hinblick auf die Warum-Fragen, die sich auf die Begründung des Textwelt-Aufbaus beziehen.5 Wie schon ausgeführt, weiß der Leser beim literarischen Lesen zunächst nicht, warum der Text gerade aus den gegebenen Propositionen und auf die gegebene Weise aufgebaut ist. Die Antworten auf diese Fragen stellen eigentlich die stufenweise Formulierung von Konstruktionsanweisungen und parallel damit den Prozess der Etablierung möglicher Welten dar. Die auf diesem Weg konstruierte poetologisch mögliche Welt bildet die literarische Bedeutung des Textes und somit dessen literarische Kohärenz. Inkonsistent bzw. inkohärent ist daher eine Datenmenge aus literarischer Sicht solange, bis die Konstruktionsprinzipien der möglichen Welt des Textes vom Leser erschlossen werden. Dies schließt allerdings nicht aus, dass eine vorgegebene Datenmenge auf Grund eines vom Text unabhängigen Wirklichkeitsmodells dem Leser ebenfalls als kohärent erweist, nur dürfte diese Kohärenz mit dem „literarischen“ Verständnis im Sinne von Bernáth nicht verwechselt werden, da man, wie immer wieder betont, hinsichtlich der Datenmenge nicht wissen kann, warum gerade diese Daten und warum gerade auf diese Weise und in der gegebenen Anordnung die jeweilige Geschichte konstituieren. Stellt man die Warum-Fragen nicht, dann bewegt man sich bezüglich der Kohärenz offenbar im nichtliterarischen Bereich einer Textwelt. Demnach haben die Textwelt und die mögliche Welt eines Werkes zwar diesselbe Textbasis, aber sie werden gemäß abweichenden Aspekten strukturiert und konstruieren daher verschiedene semantische Räume. Anders formuliert: eine poetologisch mögliche Welt lässt sich gemäß der veränderten Fragestellung und Begründungsgrundlage als virtuelle Transformation der zugrunde liegenden Textwelt und damit als die mögliche Erschließung neuer, für die literarische 4

Rescher entwickelt eigene Präferenzkriterien für die Bildung „maximal konsistenter Teilmengen“ von Propositionen. Die Methoden, die durch den jeweiligen Anwendungsfall ausgewählt werden sollen, sind die propositionalen Angelpunkte, die Mehrheitsregeln, die probabilistischen Präferenzen und die Plausibilitätsindizierung. Der Reihe nach handelt es sich dabei um aus externen Gründen akzeptierte oder abgelehnte Propositionen, um die Bevorzugung von „maximal konsistenten Teilmengen“, die mehr notwendige Konsequenzen enthalten, um Teilmengen mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit, die eliminiert werden und um Zuverlässigkeit, Einfachheit, Uniformität sowie strukturelle Überlegenheit von Propositionen, s. Coomann 1983: 117–119. 5 S. dazu die unter Punkt 2.2 dargelegte Erklärungstheorie von Bernáth (1978).

Literarische Kohärenz

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Erklärung relevanter Kohärenzebenen in der Textwelt ansehen. Die „Textwelt“ und die „mögliche Welt“ eines Textes bilden verschiedene Systeme, wobei den Propositionen in ihnen abweichende Wahrheitswerte zukommen können. Von der jeweils etablierten Ebene der möglichen Welt öffnen sich immer neuere Levels von Zusammenhängen, wodurch die semantischen und axiologischen Strukturen weiter bereichert und differenziert werden. In den einzelnen Zwischenstadien kann im Verhältnis der Figuren und ihrer Perspektiven oft auch das korrespondenztheoretische Prinzip eine wichtige Rolle spielen. Die letzte hierarchische Ebene der Erklärung stellt in dieser Hinsicht jedoch die umfassende „literarisch-kognitive“ Kohärenz dar, die als autorisierendes Wahrheitskriterium über die Wahrheitswerte der Propositionen entscheidet. 3.2 Ein wichtiges Charakteristikum der Kohärenztheorie ergibt sich aus dem Vergleich kriterientheoretischer Wahrheitstheorien mit anderen Typen von Wahrheitstheorien. Für letztere können laut Cooman kriterientheoretische Wahrheitstheorien wahrheitserweiternd sein, wenn ihr Output an Wahrheiten größer als ihr Input ist. Außerdem kann eine solche Wahrheitstheorie auch wahrheitsstiftend sein, wenn sie Wahrheiten erzeugt, ohne dass diese aus vorher feststehenden Wahrheiten abgeleitet werden können. Wahrheitsstiftende oder originäre Wahrheitstheorien brauchen keine wahren Inputs zur Erzeugung neuer Wahrheiten, s. Coomann 1983: 137. Ein weiteres Kennzeichen dieser Wahrheitstheorien ist die zentrale Rolle des Systemgedankens und der Systematizität innerhalb des Kohärenzbegriffs. Dabei werden Parameter wie Umfassendheit, Zusammengefügtheit, Konsistenz, Kompatibilität, funktionale Regularität, Simplizität, Ökonomie und Effektivität in den Mittelpunkt gestellt, s. Rescher 1980: 31f. Unter diesem Aspekt zeigt die Kohärenztheorie der Wahrheit eine enge Verwandtschaft zu den systemtheoretisch orientierten Erkenntnistheorien, s. Coomann 1983: 135f. Die kognitive Systematisierung mittels kohärenztheoretischer Methode, die Bestimmung der Wahrheit durch die Beziehung von Daten zu Gruppen anderer Daten ist nämlich ein durchaus legitimes erkenntnistheoretisches Verfahren. Ähnlich wie bei der Erzeugung von Wahrheiten stellt der Begriff des Systems bei Rescher auch epistemologisch nicht nur ein erkenntnisorganisierendes Prinzip bereit. Er erfüllt darüber hinaus vor allem eine erkenntnisgenerierende und erkenntniskonstituierende Funktion, s. Coomann 1983: 165f. Bestimmte Ähnlichkeiten zwischen der dargestellten Funktion von Kohärenztheorien und dem Funktionieren literarischer Werke auf abstrakt-struktureller Ebene sind kaum zu übersehen. Wie immer man über Form und Charakter der wahrheitsstiftenden bzw. erkenntniskonstitutiven Funktion literarischer Texte denken mag, soviel lässt sich festhalten, dass Erkenntnisse und Wahrheiten dieser Art strukturgebunden sind, indem sie durch literarisch erklärte Text- bzw. Textwelt-

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Strukturen generiert werden. Das heißt, sie können dem Leser allein und ausschließlich durch den Aufbau der jeweiligen möglichen Welten zugänglich werden. Daraus folgt andererseits, dass kohärenztheoretische Systematisierungsverfahren aus literaturtheoretischer Sicht einer definitorischen Wahrheitsbestimmung notwendigerweise vorauszugehen haben. Mögliche Welten literarischer Texte, konstruiert durch die kohärenztheoretische Methode, müssen an sich als Alternativen von vorgegebenen Wirklichkeitsmodellen noch keineswegs „wahr“ sein, das heißt sie beruhen nicht notwendigerweise auf (propositionalen) Wertstrukturen, die allgemein als „wahr“ betrachtet werden. Durch ihre Systematizität im kohärenztheoretischen Sinne wird nur die Voraussetzung einer möglichen Wahrheit bzw. Erkenntnis erfüllt, die dann in einem breiten Spielraum von konkurrierenden Weltmodellen unterschiedlicher Normen und Wertordnungen vom jeweiligen Leser akzeptiert oder abgelehnt wird. Über diesen definitorischen Aspekt, das heißt über das Wesen der Wahrheit entscheidet der Leser meist nach seinen Überzeugungen, Kenntnissen, Gefühlen, Fähigkeiten und Sympathien. Um jedoch überhaupt entscheiden zu können, bedarf er in erster Instanz konsistenter Modelle der Erklärung, die grundsätzlich, wie gezeigt, mittels kohärenztheoretischer Prinzipien konstruiert werden können.

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„Mögliche Welten“ – aus logischer Sicht

4.1 Die Idee der möglichen Welt in den modalen und philosophischen Logiken kann wie folgt umschrieben werden.6 Wir können uns leicht vorstellen, dass die Welt, in der wir leben, auch anders sein könnte als sie in Wirklichkeit ist. Auch können wir sinnvoll darüber sprechen, was geschehen würde, wenn die Welt wirklich anders wäre. Im Prinzip gibt es dementsprechend zahlreiche Weisen, wie die Welt hätte sein können und wie sie letztendlich doch nicht geworden ist. Anstelle der umständlichen Formulierung „Weisen, wie die Welt hätte sein können“ verwendet man oft den einfacheren Ausdruck „mögliche Welt“ oder „mögliche Situation“, s. Allwood / Andersson / Dahl 1977: 22. Das, was ein Satz bei einer bestimmten Gelegenheit über die Welt aussagt, wird in der Logik allgemein mit der Proposition gleichgesetzt. Propositionen können mit Hilfe von möglichen Welten gekennzeichnet werden. Sie werden durch jene Menge der möglichen Welten bestimmt, in denen sie „wahr“ sind. Umgekehrt, und dies ist aus literaturtheoretischer Sicht besonders wichtig, lassen sich die mögliche Welten 6

Bei der Darstellung des Konzepts der möglichen Welten in der logischen Semantik werde ich mich vor allem auf das einführende Buch von Allwood / Andersson / Dahl (1977) sowie auf meine Studie: Csúri 1991 stützen.

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mit Hilfe von Propositionen charakterisieren. Eine mögliche Welt ist demnach durch jene Menge von Propositionen festgelegt, die in ihr „wahr“ sind, s. Allwood / Andersson / Dahl 1977: 22. Texte, die konventionell als literarische Texte betrachtet werden, sind von fiktionalem Charakter. Gegen diese These wäre allerdings einzuwenden, dass nicht nur die Literatur, sondern alles, was Sprache zustande bringt, Fiktion ist und somit auch alle Texte notwendigerweise fiktionale Texte sind. Akzeptiert man diese Annahme, dann ist einsehbar, dass die Unterscheidungskriterien von Fiktionalem und Nichtfiktionalem unter diesem Aspekt weniger in den Texten, als vielmehr in der Leseeinstellung zu suchen sind. Das heißt, auch in diesem Fall kehren wir zu Bernáths These zurück, wonach sprachliche Fiktionen wenigstens auf zweierlei Art, fiktional oder nichtfiktional gelesen werden können, indem man den fiktionalen Charakter bewahrt und entfaltet oder ihn einschränkt und aufhebt. Eine fiktional zu erklärende Textwelt könnte zwar bezüglich ihres Wahrheitswertes auch als ein Komplex von „unbestimmten“ oder „falschen“ Propositionen angesehen werden, doch scheint es besonders im Falle von literarischen Werken zweckmäßig, von einer Menge hypothetisch „wahrer“ Propositionen auszugehen. Dies erklärt sich aus der Tatsache, dass mangels einer Erklärungsinstanz außerhalb der Fiktion, die als mögliche Basis einer Wahrheitswertanalyse dienen könnte, in erster Annäherung nur „wahre“ Propositionen, das heißt nur bestehende Sachverhalte sinnvoll zu postulieren sind.7 4.2 Anhand der Satzsemantik bietet die logische Semantiktheorie folgende Überlegung als möglichen Lösungsweg an. Der kognitive Aspekt der Bedeutung läßt sich erfassen, wenn man sich vorstellen kann, wie die Welt aussehen sollte, damit die Proposition in ihr „wahr“ ist. Oder anders ausgedrückt: Man soll die Bedingungen formulieren können, die die Welt zu erfüllen hat, um die fragliche Proposition „wahr“ zu machen. Gelingt dies, so wird die Bedeutung des Satzes verstanden. Die Bedingungen, denen die Welt in diesem Falle zu begegnen hat, heißen in der Logik die Wahrheitsbedingungen der Proposition. Auf diese Weise wird die Bedeutung einer Proposition mit den Wahrheitsbedingungen der Proposition selbst gleichgesetzt, s. Allwood / Andersson / Dahl 1977. Bei der literaturtheoretischen Erörterung der fiktionalen Erklärung von Texten wurde bereits behauptet, dass man dabei am besten vom hypothetisch „wahren“ Wahrheitswert der Textpropositionen ausgehen sollte. Dies ist jedoch nur ein formales Postulat, das für die Texterklärung an sich noch keinen Gewinn be7

Erste systematische Überlegungen zu der Methode literarischen und nichtliterarischen Lesens, wie sie hier vertreten wird, siehe in Bernáth 1978, Bernáth / Csúri 1978 und Bernáth / Csúri 1985.

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deutet. Verwendet und extrapoliert man jedoch die Denk- und Verfahrensweise der logischen Semantik auf Texte, dann kommt man zu der Folgerung, dass die Bedeutung eines Textes – vereinfacht gesagt – nur zu erklären ist, wenn man sich vorstellen kann, wie die fiktional gelesene Textwelt tatsächlich aussehen, das heißt aufgebaut werden sollte, damit alle Textpropositionen über sie „wahr“ sind. Während sich die logische Semantik mit einzelnen Propositionen beschäftigt, erscheinen die Propositionen im Text nicht gesondert, sondern zusammen und bilden deshalb eine inkonsistente Menge. Im Prinzip können sie nämlich alle bei jeweils unterschiedlichen Bedingungen „wahr“ sein. Leicht einzusehen ist daher, dass äußerst komplizierte kognitiv-semantische Operationen durchgeführt werden müssen, wenn man eine gemeinsame mögliche Welt für den ganzen Komplex von Propositionen etablieren will. Textuelle „Wahrheitsbedingungen“ für diese inkonsistente Menge von Propositionen stellen die Konstruktionsanweisungen dar, die für die virtuelle Umstrukturierung der Textwelt zu einer möglichen Welt sorgen. Wenn andererseits die „Wahrheitsbedingungen“ der Propositionen, wie erwähnt, mit ihrer Bedeutung identisch sind, dann lässt sich die Bedeutung der nunmehr geordneten Menge textueller Propositionen aus literarischer Sicht in der Tat als die aufgrund der Konstruktionsanweisungen konstruierte mögliche Welt des Textes begreifen. Als eine Welt, in der sich der Leser auskennt und zurechtfindet, weil sie in Form der Konstruktionsanweisungen und ihrer Kombinatorik über eine funktionierende „Verkehrsordnung mit eigenen Verkehrsregeln“ verfügt. In diesem Sinn kann man über die literaturtheoretische Explikation des Begriffs der möglichen Welt sprechen, und in diesem Sinn lässt sich der metaphorische Charakter der Begriffsübernahme aus der logischen Semantik aufheben.

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„Wiederholung“ − eine spezifische Form literarischer Kohärenz8

5.1 Die Beziehung von Textwelt und möglicher Welt lässt sich aber auch auf eine Weise formulieren, die bis jetzt keine Rolle spielte. Die Textwelt stellt demnach eine mögliche Welt dar, wenn sie sich als das bildlich-konkrete Modell einer poetologisch fundierten Erklärungstheorie erweist. Diese Verbindung von Theorie und Modell bildet eine entfernte Analogie zum Verhältnis von den formalen und angewandten Wissenschaften. Im literarischen Bereich sind sie besonders eng und organisch miteinander verknüpft. Die jeweiligen Wertordnungen, ihre Etablierungs- und Umstrukturierungsprozesse, die als theoretische Konstrukte durch den narrativen Verlauf der Sachverhalte in den Textwelten modelliert 8

Zu dem Problem der Wiederholung in literarischen Werken unter ähnlichem Aspekt s. vor allem Bernáth 1971, ferner Bernáth / Csúri 1978 und Csúri 1980.

Literarische Kohärenz

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werden, sind nämlich dem Rezipienten nicht vorgegeben, sondern werden erst während der literarischen Erklärung selbst konstruiert. 5.2 Die Rolle der Wiederholung, die einen grundlegenden Aspekt der literarischen Kohärenz darstellt, kann hier nur angedeutet werden. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass das umrissene Theorie-Modell-Konzept in vieler Hinsicht als geeigneter Rahmen für die Erörterung dieser Problematik dienen kann. Auf seinem Hintergrund lässt sich bestimmen, was eine Wiederholung allgemein, und was eine literarisch relevante Wiederholung spezifisch darstellt. Mit seiner Hilfe können theoretisch auch der unterschiedliche Relevanzgrad literarischer bzw. literarisch relevanter Wiederholungen und die Unterscheidung zwischen textinternen und intertextuellen Wiederholungen literarischer Relevanz expliziert werden. Ohne auf Einzelheiten eingehen zu können, sei hier abschließend auf ein einziges Moment hingewiesen. Über die „literarische Relevanz“ von Text- bzw. Textwelt-Stellen kann unter diesem Aspekt nur gesprochen werden, wenn diese die zugrunde liegenden Konstruktionsprinzipien (bzw. deren Einzelkomponenten oder Teilstrukturen), das heißt die Erklärungshypothesen der in mögliche Welten verwandelten Textwelten abbilden. „Literarisch relevant“ sind dementsprechend jene „textinternen Wiederholungen“, welche dieselben abstrakten Prinzipien durch zwei oder mehr Text- und/oder Textwelt-Stellen interpretieren und dadurch in der Erklärung als Text- bzw. Textwelt-Entsprechungen miteinander verbunden werden. „Intertextuelle Wiederholungen“, die unterschiedliche Textwelten miteinander verknüpfen, weisen dann eine „literarische Relevanz“ auf, wenn die außerhalb liegenden Text- bzw. Textweltbezüge ebenfalls durch die Konstruktionsprinzipien/Erklärungshypothesen der untersuchten Textwelt integriert werden können. Zum Schluß sei noch erwähnt, dass der „literarische Relevanzgrad“ der Wiederholungen vor allem damit zusammenhängt, wie umfassend die fragliche Erklärungshypothese bezüglich der gesamten Textwelt ist, die sie modellieren.

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Literatur

ALLWOOD, Jens / ANDERSSON, Lars-Gunnar / DAHL, Osten (1977): Logic in Linguistics. Cambridge / London / New York / Melbourne: Cambridge University Press BERNÁTH, Árpád (1971): A motívum-struktúra és az embléma-struktúra kérdéséről [= Zur Frage der Motivstruktur und der Emblemstrukur, ung.]. In: Hankiss, Elemér (szerk.): Formateremtő elvek a költői alkotásban [= Formbildende Prinzipien im dichterischen Werk, ung.]. Budapest: Akadémiai Kiadó, 439−468

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Károly Csúri

BERNÁTH, Árpád (1978): Narratív szövegek irodalmi magyarázata [= Zur literarischen Erklärung narrativer Texte, ung.]. Literatura Nr. 3–4, 191−196 BERNÁTH, Árpád / CSÚRI, Károly (1978): Zur Theorie literarisch relevanter Wiederholungstypen in narrativen Textstrukturen. In: Dressler, Wolfgang Ulrich / Meid, Wolfgang (ed.): Proceedings of the Twelfth International Congress of Linguists. Vienna, 28. August − 2. September 1977. Innsbruck, 643−646 BERNÁTH, Árpád / CSÚRI, Károly (1981): A „lehetséges világok“ szemantikájának irodalomelméleti relevanciája [= Zur literaturtheoretischen Relevanz der Semantik möglicher Welten, ung.]. Magyar Mühely 19. Nr. 64 (Paris), 19−33 BERNÁTH, Árpád / CSÚRI, Károly (1985): Remarks on Literary Text-Explanation. Quaderni di Semantica, VI./1. June 1985, 53−64 COOMANN, Heiner (1983): Die Kohärenztheorie der Wahrheit. Frankfurt a.M. / Bern / New York: Peter Lang CSÚRI, Károly (1980): Két ismétlés-típus irodalomelméleti státusáról. [= Über den literaturtheoretischen Status von zwei Wiederholungstypen, ung.] In: Horváth, Iván / Veres, András (szerk.): Ismétlődés a művészetben. Budapest: Akadémiai Kiadó, 309−333 [= Wiederholung in der Kunst, ung.] CSÚRI, Károly (1991): Mögliche Welten, Kohärenztheorie der Wahrheit und literarische Erklärung. In: Werner, Hans-Georg / Müske, Eberhard. (Hrsg.): Strukturuntersuchung und Interpretation künstlerischer Texte. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Wissenschaftliche Beiträge, Halle (Saale), 1991/ 14, 3−14 RESCHER, Nicholas (1980): Induction. An Essay on the Justification of Inductive Reasoning, Pittsburgh

Magdolna Orosz Budapest

An der Schnittstelle von Texten. Intertextualität und Textanalyse

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Die Karriere eines Begriffs

Die Blütezeit der Einführung des Begriffs der ,Intertextualität‘ in die wissenschaftliche Diskussion fällt in eine Zeit, in der sowohl in der Literatur- als auch in der Sprachwissenschaft wichtige Veränderungen vor sich gingen: In den 1960er Jahren wurden, mit der strukturalistischen und kurz danach der poststrukturalistischen Annäherung an den (literarischen) Text solche Phänomene in den Mittelpunkt gestellt, die auch in der linguistischen Forschung eine „Wende“ hervorriefen, und die Textlinguistik als eine Disziplin etablierten, deren Ergebnisse unsere Betrachtungsweise sprachlicher Erscheinungen vielfach veränderten. Durch die Konzentration auf den ,Text‘ als Untersuchungsgegenstand näherten sich beide Disziplinen einander an, indem Literaturwissenschaft linguistische Termini und Methoden anwendete, zugleich aber ihre bereits vorhandenen – wenn auch unterschiedlich reflektierten – textanalytischen, stilistischen, gattungstheoretischen und interpretatorischen Herangehensweisen der sprachwissenschaftlichen texttheoretischen Untersuchungen zur Verfügung stellen konnte. Es ergab sich daraus eine teilweise nebeneinander laufende, teilweise vielfach vernetzte Erforschung von Erscheinungen, die den Text, seine Textualität und die textübergreifenden, d.h. intertextuellen Momente, Faktoren in den Mittelpunkt stellten. Die in den 1960er Jahren als bahnbrechend erschienenen Überlegungen sind längst zur Selbstverständlichkeit literatur- und sprachwissenschaftlicher Forschung geworden: mit dem Ausklingen der (post)strukturalistischen Euphorie ist dann eine Periode der sich auf einzelne Phänomene, auf Typologien und Textanalysen konzentrierenden Beschäftigung mit Textualität und Intertextualität angekommen, in der beide Disziplinen, ihre zwischenzeitlich ebenfalls vollzogenen „Wenden“ reflektierend, ihre analytische Kleinarbeit fortführen und ihre Ergebnisse in sich inzwischen öffnende breitere Zusammenhänge stellen können. Im Weiteren soll eine kurze Zusammenfassung über die Herausbildung des literaturwissenschaftlichen Intertextualitätsbegriffs, über die wichtigsten Annäherungsweisen sowie über eine semiotisch fundierte Konzeption gegeben werden, der abschließend ein kleiner Ausblick auf die Möglichkeit der Einbettung der ,Intertextualität‘ in größere Untersuchungszusammenhänge folgen wird.

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Magdolna Orosz Intertextualitätskonzeptionen

Das Phänomen, dessen Erforschung unter der Rubrik ,Intertextualität‘ seinen Siegeszug am Ende der 1960er Jahre begann, ist vielfältig und gar nicht neu, denn es war in der literaturwissenschaftlichen Motivforschung oder Wirkungsgeschichte, teilweise auch in der Rhetorik oder Gattungslehre unter Bezeichnungen wie ‚Zitat‘, ‚Anspielung‘, ‚Allusion‘, ‚Adoption‘, ‚Übersetzung‘, ‚Parodie‘, ‚Travestie‘, ‚Plagiat‘ bekannt und traditionell vielfach untersucht. Im Zuge der mehrfachen Verabschiedung des Autors, wie dies Roland Barthes oder Michel Foucault formulierten, wird der ,Text‘ zu „einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen.“ (Barthes 2000: 190). Der so verstandene Text ist damit „ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur“ (Barthes 2000: 190), d.h. „intertextuell“ – somit wird der Begriff allmählich inter- und transdisziplinär, da er auch auf Erscheinungen übertragen wurde, die nicht nur literarisch und /oder nicht nur textuell sind, sondern vielfältige Phänomene der Kultur / von Kulturen bezeichnet, die in diesem Rahmen miteinander vergleichbar werden. 2.1

Text als Intertext

Eine der wirkungsmächtigsten VertreterInnen einer erweiterten Intertextualitätskonzeption war Julia Kristeva, die sich an Michail Bachtins Begriff des „Dialogs“ anlehnte: Sie fasste Bachtins Dialog-Begriff, den Bachtin selbst jedoch als Dialog sowohl innerhalb eines Textes (wie z.B. im sog. polyphonen Roman) als auch als einen „Dialog“ zwischen Texten verstand, in einer kritischen Annäherung als umfassendes, alle Erscheinungen der Kultur bestimmendes Phänomen auf (Bachtin 1979: 352).1 Kristeva übernimmt die kritisch-antiautoritäre Einstellung von Bachtin, aber sie verallgemeinert und erweitert seine ‚Dialogizität‘, indem sie behauptet, ‚Dialogizität‘ sei jedem Text eigen, denn „jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes.“ (Kristeva 1972: 348). Weiterhin wird auch der Textbegriff bei Kristeva zu einem alle anderen Formen kultureller (oder sozialer) Praxis umfassenden Phänomen, das per definitionem als ein „translinguistisches“ Mittel betrachtet wird, das die Sprache in seinem „Raum“ dadurch neu ordnet, daß es sie mit früheren oder gleichzeiti1

Außerdem wird bei Bachtin vor allem das als dialogisch verstanden, was sich festgewordenen literarischen Traditionen entgegensetzt; vgl. dazu Pfister (1985); für eine Analyse des Bachtinschen Dialogizitätskonzepts vgl. Lachmann (1990: 171ff.).

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gen „Äußerungen“ (énoncés) in Beziehung setzt, m.a.W. sie „inter-textualisiert“. Der „andere Text“ wird zur Gesamtheit literarischer Texte, sogar zur gesamten Kultur erweitert, denn „[…] das Wort im Text orientiert sich an dem vorangegangenen oder synchronen literarischen Korpus“ (Kristeva 1972: 347). Die Existenz der Texte in diesem im weitesten Sinne ‚kon-textuellen‘ Raum – damit Bachtins Plädoyer für die Einbeziehung des (bei ihm allerdings noch textuell verstandenen) Kontextes weiterführend (Bachtin 1979: 353) – bezeichnet Kristeva als ‚Intertextualität‘.2 Ihre Begriffsprägung hat seitdem unterschiedliche Interpretationen und Anwendungen hervorgerufen. Kristeva (1970) hat auch versucht, den von ihr geprägten Begriff textanalytisch in der Analyse des Romans Jehan de Saintré von Antoine de la Sale zu verwenden, den sie Bachtin folgend als „dialogisch“ betrachtete und den Roman als „eine[n] doppelten Raum“ („un espace double“) beschrieb (Kristeva 1970: 148). Ihr Ansatz – dem der Gruppe Tel Quel, Jacques Derrida oder Roland Barthes ähnlich – orientiert sich jedoch überwiegend philosophisch und verzichtet auf detaillierte Textanalysen (Plett 1991: 3); diese Einstellung kann für die literarische Textanalyse als ein Mangel betrachtet werden, denn „[d]ie universalen Kategorien, die sie [d.h. die Vertreter eines entgrenzten Text- und Intertextualitätsbegriffs] bevorzugen, sind in der Analysepraxis […] von geringem heuristischem Wert“. (Herwig 2002: 165) 2.2

Intertextualität als textanalytischer Begriff

Die andere „Richtung“ der Intertextualitätsforschung, die recht disparate Annäherungen versammelt, versucht vor allem, intertextuelle Bezüge über eingehende Textanalysen nachzuweisen und auf diese Weise zu allgemeineren theoretischen Einsichten zu gelangen. Sie integriert damit alte Traditionen literarischer Interpretation, sowie Motivforschung und Gattungstheorie in die Untersuchung, deren methodologisch weniger reflektierte Begrifflichkeit und Verfahren sie zu klären und genauer zu definieren versucht.3 Außerdem legt sie, die theoretischen Ergebnisse der (frühen) Intertextualitätsdebatte einbeziehend, den Akzent vor allem auf die Begriffsklärung sowie die Herausarbeitung einer klar umrissenen Terminologie oder Typologie. Hierzu kann man solche – immerhin verschiedenartige 2

Bei Kristeva ist der ,kontextuelle Raum‘ nicht nur literarischer und textueller Natur, denn Intertextualität sei „[…] cette inter-action textuelle qui se produit à l’intérieur d’un seul texte. […] l’intertextualité est une notion qui sera l’indice de la façon dont un texte lit l’histoire et s’insère en elle.” (Kristeva 1969: 443). 3 Für eine Übersicht über neuere Intertextualitätskonzeptionen und Begriffe vgl. Clayton / Rothstein 1991.

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Magdolna Orosz

und methodologisch auch nicht gleichzusetzende – Arbeiten zählen, die die Frage in den Mittelpunkt stellen, „wie das Spektrum intertextueller Relationen, das in literarischen Texten zu erwarten ist, festzulegen, präzise zu beschreiben und im Hinblick auf das bedeutungskonstitutive Potential intertextueller Relationen einzuordnen ist“ (Holthuis 1993: 4). Gérard Genette (1982: 8ff.) z.B. ist bemüht, eine weitverzweigte Systematik der intertextuellen (in seiner Terminologie: transtextuellen) Phänomene zu erarbeiten, in der die umfassende Transtextualität in verschiedenen Formen, Typen (Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Architextualität, Hypertextualität) erscheint. Renate Lachmann (1983, 1990) nimmt den Bachtinschen Begriff des „Dialogs“ auf; sie bestimmt drei Forschungsperspektiven (die texttheoretische, die textdeskriptive und die literatur- bzw. kulturkritische) und verbindet die intertextuell angelegte literarische Textanalyse zugleich mit einem breiteren kulturellen Kontext bzw. mit dem Konzept des kulturellen Gedächtnisses. Ulrich Broich und Manfred Pfister (1985) streben klare Definitionen und transparente Systematisierungen von verschiedenen Formen und Typen der Intertextualität sowie textanalytische Fallstudien an. Susanne Holthuis (1993) beabsichtigt eine vor allem rezeptionsorientierte und theoretisch fundierte intertextuelle Analyse durchzuführen und beschränkt sich nicht nur auf literarische Intertextualität.4 Peter Stocker (1998: 9) erarbeitet ein komplexes System intertextueller Phänomene „in den komplementären Kontexten von Produktion und Rezeption literarischer Texte durch die Vermittlung von Leser und Autor“. Sein System umfasst auch potenzielle Formen, und er exemplifiziert seine theoretischen Ansätze ebenfalls in Textanalysen. Jörg Helbig (1996) widmet sich der Systematik eines Aspekts des komplexen Phänomens der Intertextualität, der Frage der Markierung intertextueller Bezüge und somit der Rezipierbarkeit solcher Phänomene. All diese Versuche (die als Repräsentanten der methodologisch unterschiedlich geprägten textanalytischen Einstellung angesehen werden können) lassen sich durch die Verbindung von Theorie und Praxis (der Textanalyse) charakterisieren und können durchaus auch in Richtung linguistischer intertextueller Textanalyse geöffnet werden.

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Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte erscheinen auch in anderen Annäherungen miteinander verbunden, vgl. Klein / Fix (Hrsg.) (1997).

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Intertextualität: semiotische Konzeption

In der hier vertretenen semiotischen Annäherungsweise wird die intertextuelle Bezugnahme zwischen Texten als komplexe Zeichenrelation aufgefasst5: Wie Posner in Bezug auf das Zitieren, also in einem etwas engeren Rahmen betont, „geht [es] dabei um Zeichenkomplexe, die ohne Einbeziehung anderer Zeichenkomplexe nicht angemessen interpretiert werden können“ (Posner 1992: 4). Im Falle von „Intertextualität“ handelt es sich – gerade wegen der „Einbeziehung anderer Zeichenkomplexe“ – um eine spezielle Art von Referenz, um eine MetaReferenz, d.h. eine Bezugnahme zweiter Stufe, die eine komplexe Zeichenrelation zwischen Texten bzw. Elementen von Texten zustandebringt.6 In textanalytischer Perspektive scheint am wichtigsten zu sein, die semantische Funktion von Intertextualität, die spezielle Referenzrelation und die enge Verbindung zwischen textinternen und textexternen Elementen, ihre Rezipierbarkeit und ihre Interpretation zu betonen.7 Die intertextuelle Referenz kommt zwischen verschiedenen Texten zustande: Ein hierarchisch (syntaktisch, semantisch und pragmatisch) vielfach strukturiertes und zusammengesetztes Zeichen, ein Text, nimmt Bezug auf ein ähnlich strukturiertes und komplexes anderes Zeichen, einen anderen Text. Die Referenz ist demzufolge eine Meta-Referenz zu nennen, weil der ,referierte Text‘ (Trt) selbst eine eigene Referenz zur außertextuellen Welt hat, und der ,referierende Text‘ (Trd)8, der wiederum über eine eigene Referenz verfügt, etabliert durch die Einbettung in intertextueller „Verkettung“ eine Referenz zweiter, oder auch dritter, vierter usw. Stufe. Für solche intertextuellen „Verkettungen“ können zahlreiche Beispiele gefunden werden, z.B. in verschiedenen Bearbeitungen des FaustStoffes, die aufeinander auch Bezug nehmen, oder antiker Stoffe wie z.B. der

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Bei dieser Darstellung stütze ich mich weitgehend auf meine früheren Forschungen und folge meiner Darstellung dieses Fragenkomplexes in mehreren Arbeiten, vgl. dazu u.a. Orosz (1997a; 1997b; 1999; 2001; 2005). 6 Kristeva selbst betrachtet die Untersuchung intertextueller Relationen als Teil einer semiotischen Textanalyse, und Plett vertritt ebenfalls eine semiotische Annäherungsweise. 7 Árpád Bernáths Modell der ,Motiv‘- und ,Emblem‘-Struktur literarischer Texte ist auch im Rahmen einer Intertextualitätstheorie (um)interpretierbar, indem der Begriff des in einem spezifischen Sinne verstandenen ,Emblems‘ als intertextuelles Element verstanden werden kann, vgl. Bernáth (1970). Besonders hervorzuheben ist in seiner Konzeption die integrierte Betrachtung textinterner und textexterner Bezüge. 8 Meine Terminologie, die zwar von Posners Zitatanalyse unabhängig entstanden ist, könnte jedoch als eine verallgemeinernde Variante der Posnerschen Termini „zitiertes Zeichen“ und „zitierendes Zeichen“ (Posner 1992: 7) betrachtet werden.

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Odyssee. Die Bearbeitung biblischer Motive, Elemente, Parabeln könnte auch dazu erwähnt werden. Die Frage der Meta-Referenz ist komplex, weil einerseits der referierende Text selbst seine komplexen eigenen referentiellen Bezüge hat, und weil andererseits es sich eigentlich nicht um eine (globale) Bezugnahme eines Textes auf einen anderen handelt, sondern bestimmte Elemente eines Textes, deren genaue Abgrenzung oft nicht einfach ist, in dieser speziellen Referenzrelation zu verschiedenen Elementen eines anderen Textes oder mehrerer Texte stehen. Innerhalb eines referierenden Textes gibt es zur gleichen Zeit ,einfache‘ und meta-referentielle Bezüge, obwohl die intertextuellen, d.h. meta-referentiellen Elemente durch ihre Integration in den referierenden Text den referentiellen Status des ganzen Textes weitgehend beeinflussen. Überdies verweisen sowohl der referierte als auch der referierende Text als literarische Texte nicht auf die wirkliche außertextuelle Welt, sondern auf eine fiktive ,mögliche Welt‘.9 Das trägt dazu bei, dass die intertextuelle Bezugnahme den fiktionalen (literarischen) Charakter des referierenden Textes verstärkt und hervorkehrt. Wohl denkbar ist aber auch die Möglichkeit, dass der referierte Text selbst kein fiktionaler ist, in diesem Fall werden seine Elemente durch ihre Aufnahme in den fiktionalen Text „fiktionalisiert“. Es ist aber auch möglich, dass die Aufnahme von Elementen eines nichtfiktionalen Textes durchaus dem Zweck dienen kann, einen scheinbar nicht-fiktionalen Charakter des referierenden Textes als Spiel mit der Fiktion zu begründen. Die meta-referentielle Bezugnahme zwischen dem referierten und dem referierenden Text bringt die Einbettung von fremden Texten/Textelementen in den „eigenen“ Text zustande, so dass die intertextuellen Bezüge die textinterne semantische Struktur weitgehend beeinflussen. Es entstehen zahlreiche Varianten der Einbettung, die eingebetteten Elemente des referierten Textes, die selbst ihre Bedeutung haben, können verschiedene Funktionen in der Bedeutungskonstitution des referierenden Textes erfüllen, sie können z.B. seine Bedeutung verstärken, weiterführen, ihr widersprechen, sie modifizieren, erweitern usw. Am wichtigsten ist jedoch, dass die Bedeutung des referierenden Textes erst recht durch die Einbettung von Elementen des referierten Textes konstruiert/konstituiert wird.10 9

Die Auffassung von literarischen Texten als (fiktive) ,mögliche Welten‘ geht auf logischsprachphilosophische Ansätze zurück und ist heute in der semiotischen Literaturforschung vertreten (vgl. dazu die Arbeiten von János S. Petőfi, Umberto Eco, Lubomir Doležel, Marie-Laure Ryan, Ruth Ronen u.a. und in der ungarischen Literaturwissenschaft Árpád Bernáth, Károly Csúri, Zoltán Kanyó sowie der Autorin dieses Beitrags). 10 Für Lachmann (1990: 57) können die möglichen semantischen Funktionen der Einbettung „als eine Arbeit der Assimilation, Transposition und Transformation fremder Zeichen beschrieben werden“.

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Die eingebetteten Elemente werden zu Konstituenten der Bedeutung des referierenden Textes, d.h. sie werden in ihn integriert. Außerdem ist die intertextuelle Meta-Referenz weiter unterteilbar, weil sie sich auf eigene Texte eines Autors oder auf Texte anderer Herkunft beziehen kann. Im ersten Fall könnte man von selbstreferierender, im zweiten von fremdreferierender Intertextualität sprechen.11 Diese Unterscheidung taucht auch bei Dällenbach auf, der einerseits zwei Formen der Intertextualität, „allgemeine“ und „begrenzte“ Intertextualität (intertextualité générale/ intertextualité restreinte) postuliert, andererseits aber zwischen ,Intertextualität im allgemeinen‘ (intertextualité en général) und ,Autotextualität‘ differenziert. Letztere umfasst nach ihm die möglichen Beziehungen, die der Text mit sich selbst unterhält (Dällenbach 1976: 283)12, deren Spezialfall die „mise en abyme“ sei. Die Bedeutungsintegration ist keine einfache Operation (selbst die Frage der Bedeutung eines Textes ist viel komplexer), sondern sie umfasst mehrere Varianten, sie kann jedoch zwei grundsätzliche Formen haben, nämlich die ,bestätigende‘ und die ,abweichende‘ Integration. Die ,bestätigende‘ Integration besteht darin, daß durch die Bezugnahme zwischen dem referierten und dem referierenden Text eine Verstärkung, eine zustimmende Annahme der Aussageinhalte des referierten Textes im referierenden erfolgt, wie dies in parabelhaften Texten der Fall sein kann. Die ,abweichende‘ Integration „deformiert“, verändert durch die Bezugnahme zwischen dem referierten und dem referierenden Text die ursprünglichen Aussageinhalte des referierten Textes durch die Integration in den referierenden Text. In diese Gruppe gehören solche traditionell auch bekannten Formen wie z.B. Umkehrung, Paraphrase, Ironie, Parodie, Travestie usw., denen allen eine gewisse semantische „De-Formation“ des zur intertextuellen Vorlage dienenden Textes gemeinsam ist. Mit der Differenzierung zwischen ,bestätigender‘ und ,abweichender‘ Integration ließen sich die von Genette unterschiedenen Typen der Intertextualität „Imitation“ und „Transformation“ vergleichen, indem die „Imitation“ einen bestätigenden Aspekt und die „Transformation“ eine Veränderung, Ab- oder Umkehrung, eine Modifikation, Deformation implizieren könnte (Genette 1982: 12f.). Genette aber versteht seine zwei Typen in einem anderen Sinn, seine Kategorien wären eher mit der Einzeltextreferenz und der

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Selbstreferierende Intertextualität kann z.B. bei E.T.A. Hoffmann vielfach entdeckt werden. Der Typ der fremdreferierenden intertextuellen Bezugnahme ist wesentlich häufiger anzutreffen und durchzieht die ganze Geschichte der verschiedenen Literaturen. 12 Um eine terminologische Undifferenziertheit zu vermeiden, ziehe ich die Bezeichnungen „selbstreferierende“ und „fremdreferierende“ Intertextualität vor, die als besonderen Fall die Referenz eines Textes auf sich selbst miteinschließen kann.

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Magdolna Orosz

Systemreferenz bei Broich und Pfister vergleichbar, deshalb wird hier auf ihre Verwendung verzichtet. Die intertextuellen Bezüge können außerdem auch unter einem pragmatischen Aspekt untersucht werden, d.h. hinsichtlich der Funktionen, die die intertextuellen Elemente im (literarischen) Kommunikationsprozess erfüllen. Die Analyse sollte sich deshalb nicht nur auf die Rezeption solcher Texte, sondern auch auf den gesamten Kommunikationsprozess erstrecken, indem z.B. Intention, Dominanz, Formen und Funktionen von intertextuellen Beziehungen in den Texten von bestimmten Autoren oder Epochen in die Untersuchung einbezogen werden. In der Textproduktion verdient die Frage der Intendiertheit intertextueller Bezugnahmen durch den Autor eine besondere Aufmerksamkeit. Bestimmte Formen wie parabelartige, ironische oder parodierende Bezugnahmen setzen einen hohen Grad bewusster Referenz voraus, in vielen anderen Fällen kann die Bezugnahme punktuell oder ein allgemeines kulturelles Wissen mobilisierend erfolgen. In der Textrezeption erschweren die verschiedenen intertextuellen Elemente meistens die Rezeption, weil ihr richtiges Verständnis auch das Erkennen der intertextuellen Elemente und ihrer Funktion(en) in der Bedeutungskonstitution des referierenden Textes voraussetzt. Die intertextuellen Bezüge eröffnen eben durch die erschwerte Rezeption zugleich auch neue Perspektiven des Verstehens für den Leser, indem sie nicht nur für die Bedeutungskonstitution und Rezeption des referierenden Textes entscheidend werden, sondern auch den referierten Text in einem neuen Licht des Verstehens erscheinen lassen und seine Bedeutung eben durch seine intertextuelle Anwendung in einem späteren Rezeptionsprozess modifizieren.13 Das Erkennen von intertextuellen Relationen ist in manchen Texten schwieriger als in anderen, weil die intertextuellen Elemente in vielen Fällen nicht auffallend und erst durch eine aufmerksame Textanalyse erschließbar sind. Der Erkennbarkeit intertextueller Bezugnahmen dienen verschiedene Formen von Markierungen (z.B. Figuren- und Ortsnamen, Titel, Untertitel, Vor- oder Nachwort, Gattungs- und Strukturierungskonventionen oder ihre Kombinationen usw.), die die Rezeption lenken können. Umgekehrt erschwert das Fehlen der Markierung die Identifikation intertextueller Bezugnahmen, wodurch sie sozusagen verborgen bleiben und erst durch eine semantische Analyse erschließbar werden.14 Die Identifikation von intertextuellen Elementen als solche hängt auch weitgehend von den interpretativen Fähigkeiten und dem Wissen des jeweiligen Rezipienten ab. Ein und derselbe Text kann von verschiedenen Rezipienten in Bezug auf intertextuelle Elemente sehr unterschiedlich interpretiert werden, wo13

Vgl. darüber auch Worton / Still (1990: 11). Es ist durchaus möglich, dass innerhalb eines Textes bestimmte intertextuelle Bezugnahmen markiert, andere dagegen nicht markiert sind. 14

An der Schnittstelle von Texten

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bei eine vollständige Interpretation die Aufdeckung und Deutung aller in den gegebenen referierenden Text eingebetteten intertextuellen Beziehungen einschließen sollte.15 Diese Tatsache kann auch manche Rezeptionsprobleme moderner und postmoderner Literatur erklären. Der dritte Aspekt der Untersuchung und Klassifikation intertextueller Bezugnahmen ist formaler, syntaktischer Art, indem es um die Quantität, den Umfang und die Kategorien der durch die intertextuelle Bezugnahme betroffenen Texte/ Elemente geht. In dieser Hinsicht wird untersucht, welche und wieviele Elemente/ Texte davon betroffen sind. Theoretisch sind die folgenden Varianten denkbar: ein referierender Text nimmt Bezug auf einen referierten Text; ein referierender Text nimmt Bezug auf mehrere referierte Texte; mehrere referierende Texte nehmen Bezug auf einen referierten Text; mehrere referierende Texte nehmen Bezug auf mehrere referierte Texte. Obwohl alle vier Varianten denkbar sind, kommen die ersten zwei Fälle viel häufiger vor, und sie werden in intertextuellen Untersuchungen vorwiegend in Betracht genommen.

4

Intertextualität in kulturellen und medialen Kontexten

Die textanalytisch fundierte Analyse der Intertextualität kann, die Analyseergebnisse verallgemeinernd, aus dem Kreis des Textes herausführen und sie mit der Problematik der Funktion und des Funktionierens von Intertextualität im größeren Kontext der Kultur/der kulturellen Diskurse verbinden. ,Kultur‘ wird in einem semiotischen Rahmen als „funktional und hierarchisch geordnete Korrelation derjenigen Zeichensysteme [verstanden], die in einem bestimmten Sozium verwendet werden“ (Bernard / Grzybek / Withalm 2000: 18). Lachmann (1993: XVII) definiert die ‚Kultur‘ in Anlehnung an Lotman vom Gedächtnisbegriff her „als nicht vererbbares Gedächtnis eines Kollektivs […]“. Das Phänomen der Intertextualität lässt sich dadurch mit der Frage des kulturellen Gedächtnisses in Beziehung bringen: Das kulturelle Gedächtnis „speichert“ die Vergangenheit als rekonstruierte Vergangenheit (Assmann 1999: 31), in ihm werden Erinnerungen einer Kultur „archiviert“, aufbewahrt und als solche erneut abrufbar. In dieser Archivierung spielt die Schrift16 eine ausgezeichnete Rolle, die – trotz Vergessen

15

Vgl. dazu auch die sog. „perceptional modes“ bei Plett (1991: 15), und auch die rezeptionsorientierte Konzeption von Holthuis. 16 In seinen frühen kultursemiotischen Überlegungen definiert Lotman (1981: 29) ,Kultur‘ als historisch herausgebildete Menge semiotischer Systeme und die Gesamtheit der Texte einer Sprache (d.h. in einem bestimmten Sinne als Archiv): „[…] umschließt die Kultur

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Magdolna Orosz

und Verdrängen – immer wieder „lesbar“ und ins Gedächtnis/in die Erinnerung (zurück)holbar ist, außerdem auch zu einer Umordnung, Umstrukturierung oder Umwertung der Elemente dieses Gedächtnisses, zu ihrem „Neu-Schreiben“ taugt. Der intertextuelle Umgang mit verschiedenen (Schreib)traditionen, literarischen Konventionen und Kanons ließe sich auch als eine Form der kulturellen „Gedächtnisarbeit“ bezeichnen. Texte seien „Gedächtnisstifter einer Kultur“ (Lachmann 1990: 35): sie artikuliere sich demnach (auch) durch intertextuelle Textbezüge: „Die Intertextualität der Texte zeigt das Immer-Wieder-Sich-Neu- und Umschreiben einer Kultur, einer Kultur als Buchkultur und Zeichenkultur, die sich über ihre Zeichen immer wieder neu definiert“ (Lachmann 1990: 36). Die Aufgabe der semiotisch orientierten Intertextualitätsforschung wäre dann, Arten, Formen, Funktionen intertextueller „Gedächtnisarbeit“ in festgelegten kulturellen Ausschnitten sowie ihre Verschränkung mit anderen Formen und Typen der „Archivierung“ (Ritualisierung, Aufbewahren, Verdrängen, Vergessen und Zurückholen, Subversion, Dekonstruktion etc.) auf der Grundlage einer semiotischen Textologie als auch einer umfassenden Kultursemiotik zu sichten und zu beschreiben. Ein anderer Aspekt intertextueller Phänomene verbindet sie mit einem Forschungsfeld, das sich auf mediale Erscheinungen konzentriert: Da Texte grundsätzlich mediale Erscheinungen sind, können ihre Eigenschaften und ihre Beziehungen auch aus medialer Sicht untersucht und im breiteren Kontext von Intermedialität erschlossen werden.17 Intertextuelle Phänomene, die Bezüge zwischen Texten etablieren, gehören damit – nach der Typologie von Rakewsky (2002: 19) – zur Kategorie intramedialer Erscheinungen, indem sie verschiedene Text-Text-Relationen, d.h. intertextuelle Verbindungen schaffen. Sie bilden mit den Bild-BildBezügen und Musik-Musik-Beziehungen den Typus intramedialer Bezüge, die damit in Hinsicht auf die Eigenschaft, dass sie den eigenen Text / das eigene Bild / Musikstück übersteigende, aber innerhalb des eigenen Mediums verbleibende Bezüge zustandebringen, eine Kategorie bilden. Die Konzentration auf den medialen Aspekt erlaubt zugleich auch die einheitliche Behandlung von ein Medium involvierenden Phänomene mit medientranszendierenden Erscheinungen: so könnten z.B. die Fragen von Verfilmung, Vertonung oder Ins-Bild-Setzen von literarischen Texten mit den Ergebnissen der umrissenen Intertextualitätskonzeption in einem intermedialen Rahmen kombiniert werden. nicht nur eine bestimmte Verbindung semiotischer Systeme, sondern sie umfaßt auch die Gesamtheit der historisch vorfindlichen Mitteilungen in diesen Sprachen (Texten)“. 17 Vgl. u.a. Hess-Lüttich / Posner (1990). Mit einer intermedialen Ausrichtung könnte die frühere intertextuell angelegte Untersuchung eigentlich (inter)medialer Wechselerscheinungen wie z.B. Verfilmung im erweiterten Rahmen erschlossen werden.

An der Schnittstelle von Texten 5

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Literatur

ASSMANN, Jan (21999): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck BACHTIN, Michail (1979): Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt/M.: Suhrkamp BARTHES, Roland (2000): Der Tod des Autors. (Aus dem Französischen von Matías Martínez). In: Jannidis, Fotis u.a. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam, 185–197 BERNARD, Jeff / GRZYBEK, Peter / WITHALM, Gloria (2000): Modellierungen von Geschichte und Kultur. Vor- und Grundüberlegungen. In: Bernard, Jeff / Grzybek, Peter / Withalm, Gloria (Hrsg.): Modellierungen von Geschichte und Kultur. Bd. I. Wien: ÖGS, 13–27 BERNÁTH, Árpád (1970): Irodalmi művek értelmezésének kérdéséhez. [Zur Frage der Interpretierbarkeit literarischer Werke] Irodalomtörténeti Közlemények 2/1970, 213–221 BROICH, Ulrich / PFISTER, Manfred (Hrsg.) (1985): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer CLAYTON, Jay / ROTHSTEIN, Eric (1991): Figures in the Corpus: Theories of Influence and Intertextuality. In: Clayton, Jay / Rothstein, Eric (eds.): Influence and Intertextuality in Literary History. Madison: The University of Wisconsin Press, 3–36 DÄLLENBACH, Lucien (1976): Intertexte et autotexte. Poétique 27, 282–296 GENETTE, Gérard (1982): Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris: Seuil HELBIG, Jörg (1996): Intertextualität und Markierung. Heidelberg: C. Winter HERWIG, Henriette (2002): Literaturwissenschaftliche Intertextualitätsforschung im Spannungsfeld konkurrierender Intertextualitätsbegriffe. Zeitschrift für Semiotik 24, 2–3, 163–176 HESS-LÜTTICH, Ernest W.B. / POSNER, Roland (1990): Code-Wechsel. Texte im Medienvergleich. Opladen: Westdeutscher Verlag HOLTHUIS, Susanne (1993): Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen: Stauffenburg KLEIN, Josef / FIX, Ulla (Hrsg.) (1997): Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität. Tübingen: Stauffenburg KRISTEVA, Julia (1969): Narration et transformation. Semiotica 1/1969, 422–448 KRISTEVA, Julia (1970): Le texte du roman. The Hague / Paris: Mouton KRISTEVA, Julia (1972): Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Ihwe, Jens (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. III. Frankfurt a.M.: Athenäum, 345–375 LACHMANN, Renate (1983): Intertextualität als Sinnkonstitution. Andrej Belyjs Petersburg und die „fremden“ Texte. Poetica 15, 66–107 LACHMANN, Renate (1990): Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp LACHMANN, Renate (1993): Kultursemiotischer Prospekt. In: Haverkamp, Anselm / Lachmann, Renate (Hrsg.): Memoria – Vergessen und Erinnern. München: Fink (= Poetik und Hermeneutik 15), XVII–XXX

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Magdolna Orosz

LOTMAN, Jurij M. (1981): Kunst als Sprache. Leipzig: Reclam OROSZ, Magdolna (1997a): Intertextualität in der Textanalyse. Wien: ISSS OROSZ, Magdolna (1997b): Intertextuality and Meaning Construction in Literary Texts. A Semiotic Analysis. In: Rauch, Irmengard / Carr, Gerald (eds.): Semiotics around the World: Synthesis in Diversity. Berlin / New York: Mouton / de Gruyter, 445–448 OROSZ, Magdolna (1999): Narrator and Intertextuality. In: Carr, Gerald F. / Harbert, Wayne / Zhang, Lihua (eds.): Interdigitations. New York u.a.: Peter Lang, 657–666 OROSZ, Magdolna (2001): „Das verworrene Gemisch fremdartiger Stoffe“. Intertextualität und Authentizität bei E.T.A. Hoffmann. Hoffmann-Jahrbuch 9, 91–124 OROSZ, Magdolna (2005): Literarische Bibellektüre(n). Aspekte einer semiotischen Intertextualitätskonzeption und intertextueller Textanalyse. In: Alkier, Stefan / Hays, Richard B. (Hrsg.): Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre. Tübingen: Narr, 217–236 PFISTER, Manfred (1985): Konzepte der Intertextualität. In: Broich, Ulrich / Pfister, Manfred (Hrsg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer, 1–30 PLETT, Heinrich F. (1991): Intertextualities. In: Plett, Heinrich F. (ed.): Intertextuality. Berlin / New York: de Gruyter, 3–29 POSNER, Roland (1992): Zitat und Zitieren von Äußerungen, Ausdrücken und Kodes. Zeitschrift für Semiotik 14, Heft 1–2, 3–16 RAKEWSKY, Irina O. (2002): Intermedialität. Tübingen / Basel: Francke STOCKER, Peter (1998): Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien. Paderborn: Schöningh WORTON, Michael / STILL, Judith (1990): Introduction. In: Worton, Michael / Still, Judith (eds.): Intertextuality: theories and practices. Manchester / New York: Manchester University Press, 1–44

Krisztina Karsai / Zsolt Szomora Szeged

„gesetzt, verordnet, vereinbart, gefordert, erörtert, erläutert und entschieden“ Zugänge zu Rechtstexten (mit strafrechtlichen Schwerpunkten)

1

Einführung

Im Dezember 2012 hatten wir die wunderbare Gelegenheit, eine fruchtbare und lebendige Diskussion mit Linguisten und Literaturwissenschaftlern über den Zugang zu verschiedenen Texten im Rahmen eines Humboldt-Kollegs in Szeged zu führen. In der Diskussion konnten wir den Anwesenden – jedoch nur – einen kurzen Blick in die Welt der juristischen, vor allem strafrechtlichen Texte anbieten und versuchten unsere Methoden skizzenhaft vorzustellen und die Auslegungsmatrix eines Juristen in einer kurzen Darstellung von allgemeinen Hauptfaktoren anzublenden. In unserem Beitrag werden nur die Highlights der Diskussion zusammengefasst und keine tiefgreifende rechtsmethodische bzw. rechtslinguistische Abhandlung veröffentlicht. Grund dafür ist, dass wir uns beide als Rechtswissenschaftler, oder besser gesagt Strafrechtswissenschaftler, mit strafrechtlichen Texten zwar ohne Ende beschäftigen, aber einen Strafrechtstext immer in seiner Bedeutung (Sinngehalt des positiven Rechts) und nicht als einen Text im engen Sinne wahrnehmen. Das Recht mag wohl in Sprache gefasst sein, wir untersuchen aber nicht das „Gefäß“ sondern den Inhalt. Vielleicht sind diese Thesen aber doch zu kategorisch und gleichzeitig ein bisschen idealistisch. Solange der Text die Bedeutung eines Rechtstextes vermittelt, müssen sich die Juristen – ohne zu Linguisten ausgebildet zu sein – bereitstellen, mit den Texten anhand „formeller“ Methoden zu arbeiten und die Texte als Früchte der sprachlichen Äußerungen genießen zu können. Das tun wir auch jetzt. Gerhard Stickel hat der Diskussion mit seiner lehrreichen Einführung guten Auftakt gegeben und auf den Punkt gebracht: die Vielfalt von Rechtstexten ist allein auch daran messbar, dass „mit denen Recht gesetzt, verordnet, vereinbart, gefordert, erörtert, erläutert und entschieden wird“.1 1

Stickel, Gerhard: Einleitung zum Podiumsgespräch über „Zugänge zum Text“. (S. 499ff. in diesem Band)

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Krisztina Karsai / Zsolt Szomora

Recht kann mit der Verfassung, mit Gesetzen und in jeglicher Form von Rechtsnormen gesetzt werden. Die Gültigkeit der erlassenen Rechtsnorm, des gesetzten Rechts ist an mehrere Bedingungen gebunden. Vor allem muss das Organ oder die Person, die das Recht setzt, durch die Verfassung dazu befugt sein. Recht zu verordnen ist auch eine Art Rechtsetzung. Rechtsverordnungen werden vor allem von Akteuren der Staatsorganisation erlassen, die in der Rechtssetzung dem Parlament unterstehen. Recht kann mit schriftlichen Verträgen, aber auch mit mündlichen Abkommen vereinbart werden. Bei rechtlichen Vereinbarungen handelt es sich vor allem nicht mehr um die Rechtsetzung des Staates, sondern um die Rechtsetzung von Privatpersonen, die den Inhalt ihrer einander gegenüberstehenden Rechte und Verpflichtungen selbst bestimmen. Das vereinbarte Recht hat auch einen verpflichtenden Charakter, aber nur für die an der Vereinbarung beteiligten Parteien. Auch der Staat kann Verträge schließen, und wenn er so tut, unterscheidet er sich nicht mehr wesentlich von anderen Rechtssubjekten des Privatrechts. Recht kann mit einer Klageschrift, mit einem Ersuchen aber auch mit einer Beschwerde gefordert werden. Recht wird seinem Kunden von einem Anwalt oder den Parteien vom Gericht erörtert, damit sie genau wissen, was für konkrete Rechte und Pflichten sie in der bestimmten Rechtssache haben. Recht wird in vielen Fällen von Rechtswissenschaftlern erläutert. Wir versuchen den Rechtsnormen solche Bedeutungen zuzuordnen, die sowohl den – meistens schon vorgegebenen – dogmatischen Strukturen als auch den Zielsetzungen der Kriminalpolitik und dadurch den Erwartungen der Gesellschaft entsprechen. Die Rechtswissenschaft orientiert sich also vornehmlich am Gesetz oder am „Rechtssatz“ (als Text)und hat nicht die Aufgabe, einen bestimmten Fall zu lösen. Aber oft greift auch der Gesetzgeber selbst zur Methode der Rechtserläuterung, wenn er sichern will, dass die Praxis einen Rechtssatz „richtig“ versteht und anwendet. Zu diesem Zweck erlässt der Gesetzgeber die sogenannten Begriffsbestimmungen. Recht wird vom Gericht entschieden, was es auch immer sein mag (Schieds-, Schwur-, Laien-, Fach- usw.), und dies tun auch die Menschen, wenn sie sich über ihren Rechtsstreit einigen können. Recht zu gewinnen ist die spannendste Aufgabe während der Auslegung eines Rechtssatzes, während derer sich der Text als sprachliches Phänomen in einer Norm entpuppt, die eine Soll-Regel vermittelt. Über Rechtsfortbildung spricht man, wenn neues, gesetzergänzendes oder lückenfüllendes Recht von Richtern gesetzt wird. In den verschiedenen Rechtsbereichen steht dem Gericht unterschiedlicher Spielraum zur Rechtsfortbildung zur Verfügung; in Zivilrecht ist Rechtsfortbildung quasi ein Zwang, da der Rechts-

„gesetzt, verordnet, vereinbart, gefordert, erörtert“

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streit der Parteien unbedingt entschieden werden muss, während im Strafrecht die richterliche Rechtsfortbildung an ganz enge Grenzen gebunden ist. Wie man sieht, ist ein rechtlicher Text in den meisten der genannten Fälle die Grundlage des Geschehens, das die Absicht der Handelnden vermittelt. Im Folgenden wird auf die wichtigsten Charakteristika der Rechtstexte kurz eingegangen.

2

Textsorten (Gattungen) – stark von dem jeweiligen Rechtsbereich beeinflusst

Wird über Rechtstexte auf Gesetzesebene gesprochen, sollten zum Umgang mit dem Text die zwei Ausgangsfragen, die auch als grundsätzliche Charakteristik eines juristischen Textes wahrgenommen werden können, geklärt werden. Die Fragen also, ob ein Text kasuistisch2 oder abstrakt3 ist und ob der juristische Text verbindlichen oder dispositiven Charakter hat, sind immer von entscheidender Bedeutung. Sowohl für die Interpretation der Normen als auch – damit zusammenhängend – für die Entscheidung einer Rechtssache. In Bezug auf diese Ausgangsfragen weisen die Normentypen verschiedener Rechtsbereiche andere Eigenschaften auf. Verfassungsrecht – Art. 46 GG4 (1) Die Aufgabe der Polizei ist es, Straftaten zu verhindern und aufzuklären, und die öffentliche Sicherheit, die öffentliche Ordnung und die Ordnung der Landesgrenze zu schützen. – Art. XXVIII GG: (4) Niemand darf wegen einer Tat für schuldig gesprochen und bestraft werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach ungarischem Recht oder […] nach dem Recht eines anderen Staates keine Straftat war.

2

Kasuistik ist eine Regelungsmethode, die einzelfallbezogen ist, sehr enge Auslegungsmöglichkeiten bietet, dadurch Inflexibilität zeigt und somit unerwünschte Rechtslücken in der Anwendung hinterlässt. 3 Abstrakte Rechtssätze haben einen breiten Anwendungsbereich, sind aber sehr auslegungsbedürftig, deren Bedeutungsgehalt ist von Fall zu Fall zu konkretisieren, sie bieten jedoch große Flexibilität bei der Anwendung. Eine ausgeuferte Abstraktion kann zur Rechtsunsicherheit führen. 4 Grundgesetz Ungarns; seit 1.1.2012 in Kraft.

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Das Verfassungsrecht weist eine besondere Mischung der oben erwähnten Grundcharakteristika auf. Das erste Textbeispiel ist eine Aufgabenbestimmungsnorm, die eher kasuistisch und verpflichtend wirkt, in der Tat ist es aber vielmehr eine Art Deklaration (Deklarationsnorm) als eine Norm mit echtem juristischem Charakter. Da es hier eher um eine Deklaration geht und die Vorschrift keine direkte Anwendung findet, ist sie nicht besonders auslegungsbedürftig. Demgegenüber steht das zweite Textbeispiel, das im Verhältnis zwischen der Staatsmacht und dem Einzelnen eine essentielle Garantiefunktion einnimmt. Als Garantie ist sie verpflichtend, aber auch sehr abstrakt. Bei der Anwendung dieser Garantie ist die Bestimmung der Bedeutung der Worte schuldig sprechen, bestrafen, ungarisches Recht, Straftat ziemlich auslegungsbedürftig. Verwaltungsrecht bildet den Typ Rechtsgebiet für kasuistische und verpflichtende Normen. Zivilrecht – § 428 ungBGB5 (1) Der Mieter hat den Mietbetrag je nach der bestimmten Mietperiode im Voraus zu bezahlen. Für die Zeitperiode, in welcher der Mieter aus einem Grund, der ihm nicht vorzuwerfen ist, nicht in der Lage ist, die Sache zu nutzen, fällt der Mietbetrag aus.

Zivilrecht bildet den Typ Rechtsgebiet für abstrakte Normen mit dispositivem Charakter. In privatrechtlichen Verhältnissen sind es vor allem die betroffenen Personen, die über den Inhalt ihres Rechtsverhältnisses bestimmen (darüber disponieren – dispositiver Charakter). Sollten sie relevante Fragen ihres Rechtsverhältnisses nicht vereinbaren, dann treten die „Empfehlungsnormen“ des Bürgerlichen Gesetzbuches in den Vordergrund. Von diesen Normen – falls das Gesetz nichts anderes bestimmt – können die Parteien einvernehmlich abweichen. Sie können z.B. die bestimmten Fälle, in denen der Mietbetrag ausfällt, in dem Mietvertrag vorsehen, auflisten (Kasuistik). Kommt es zu einer in dem Vertrag nicht vorgesehenen Situation, in der aber der Mieter unverschuldet die Sache nicht benutzen kann, darf er sich weiterhin auf die (abstrakte) Norm des BGB berufen (sein Recht fordern). Dieses Recht steht ihm aber nur zu, wenn in dem Vertrag der Rückgriff auf diese Norm des BGB nicht ausgeschlossen worden ist. Die Parteien können nämlich den Rückgriff auf diese Vorschrift einvernehmlich in dem Vertrag ausschließen, da das BGB eine solche Vereinbarung nicht verbietet.

5

Ungarisches Bürgerliches Gesetzbuch, Gesetz Nr. IV vom Jahre 1959.

„gesetzt, verordnet, vereinbart, gefordert, erörtert“

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Strafrecht– § 10 ungStGB6 (1) Wegen eines Versuchs ist zu bestrafen, wer das Begehen einer vorsätzlichen Straftat beginnt, aber nicht beendet. (2) Auf den Versuch sind die Strafsätze der vollendeten Straftat anzuwenden. (3) Das Gericht kann die Strafe uneingeschränkt mildern oder von ihr absehen, wenn der Versuch an einem untauglichen Gegenstand, mit einem untauglichen Mittel oder auf eine untaugliche Weise begangen wird.

Strafrecht bildet den Typ Rechtsgebiet für abstrakte Normen mit verpflichtendem Charakter. Diese Vorschrift findet sich im Allgemeinen Teil des ungarischen Strafgesetzbuches, unter den Grundregeln der strafrechtlichen Verantwortung (der sog. Lehre der Straftat), die die allerabstraktesten Normen eines jeglichen kontinentalen Rechtssystems enthalten. Die strafrechtlichen Normen sind – der Natur der Sache nach – verpflichtend. Hinter diesem Text stehen komplexe Theorien und aufeinander gebaute Begriffsstrukturen, die die Strafrechtler als Dogmatik bezeichnen. Dieses dogmatische Instrumentarium ermöglicht die einzelfallbezogene und einheitliche Auslegung abstrakter Strafrechtsnormen. Rechtstexte, die höchsten Abstraktionsgrad bei bestimmten Tatbeständen des Zivilrechts und im Allgemeinen Teil des Strafrechts aufweisen, gehören zu dem prototypischen Kernbereich des jeweiligen Textfeldes, müssen durchweg kohärent, klar abgegrenzt und funktional bestimmt sein. Je abstrakter ein Rechtsgebiet und seine Texte sind, desto komplexer und entwickelter ist seine Dogmatik: Strafrecht und etliche Normen des Zivilrechts stehen auf dem einen und Verwaltungsrecht auf dem anderen Endpunkt dogmatischer Komplexität.

3

Einführung in die juristische Textauslegung – juristische Methodenlehre7 als Origo für juristisches Denken

Die konkrete Verwendung von allen Rechtstexten setzt unentbehrlich die juristische Auslegung, also das Verstehen und die Interpretation der sprachlichen Äußerungen voraus. Sie ist unumgänglich bei der Beurteilung eines Lebenssachverhaltes. Die Auslegung der Rechtsnormen, die Rechtsfindung ist Teil der juristischen Methodenlehre. Sie bildet „das Bindeglied zwischen rechtlicher Regelung und Lebenswirklichkeit.“ (Gropp 2005: 56) Jeder Rechtssatz enthält die Aussage, dass für einen konkreten Lebenssachverhalt die definierte Rechtsfolge gilt, wenn 6 7

Ungarisches Strafgesetzbuch, Gesetz Nr. C vom Jahre 2012. Siehe mehr bei Larenz (1991), Bydlinski (1991) und Pawlowski (1999).

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es sich um einen Fall des Tatbestandes der jeweiligen Straftat handelt. Mit der Auslegung wird auch die Frage beantwortet, ob ein Sachverhalt überhaupt einen oder den gegebenen gesetzlichen Tatbestand verkörpert, und ob der Sachverhalt ein Fall des Tatbestandes ist. Bevor man aber die Antwort auf diese Fragen zu geben versucht, muss als erste Frage gestellt werden, ob überhaupt der Tatbestand selbst Fälle dieser Art (was man im Lebenssachverhalt wahrnimmt) regelt.8 Und dann kommt – anhand der Auslegung – die sog. juristische Subsumtion. Sie ist die Hauptaufgabe des Rechtsanwenders: im Mittelpunkt eines Jurastudiums stehen gerade das Wissen und Können der Subsumtion an allen Universitäten der Welt. Oder zumindest sollten sie stehen. In Ungarn wird aber an den Jurafakultäten juristische Methodenlehre nur mäßig unterrichtet – es gibt in den ersten Semestern eines Jurastudiums Grundfächer, die die Grundzüge der Methodik im Groben und anhand ausgewählter Beispieltexte bzw. rechtshistorischer Materialien vermitteln, allerdings sind diese Kurse für Anfänger – meistens – einfach unverständlich. Später werden in den Fächern, wo sie schon geltendes Recht studieren, die fachspezifischen Einzelheiten der juristischen Methodenlehre unterrichtet und damit wächst auch die Hoffnung (leider keine Gewissheit), dass sich dadurch die zukünftigen Juristen die Eigenschaften und die Funktion (und den Modus Operandi) der rechtlichen Abstraktion aneignen, damit sie später die abstrakten Rechtssätze auch für unbekannte Probleme, noch nie vorgekommene Fallgestaltungen verwenden können. Der Kern der juristischen Methodenlehre ist also die Rechtsfindung, die Auslegung der Rechtsnormen. Die traditionellen Auslegungsmethoden (Kanone der Auslegung) enthalten vier Elemente. 1) Sprachlich-grammatisches Element: Wortlaut des Gesetzes 2) Systematisches Element: Bedeutungszusammenhang des Gesetzes 3) Subjektives oder historisches Element: Absicht des historischen Gesetzgebers/ der Entstehungsgeschichte9 4) Objektiv-teleologisches Element: Sinn und Zweck des Gesetzes.

Die verfassungskonformen10 und die unionsrechtskonformen11 Auslegungen – als relativ neue Auslegungsmethoden – bilden Untergruppen in dem systematischen Auslegungskanon. Diese Auslegungsmethoden kommen parallel zur Anwendung. Keiner der Auslegungsmethoden kommt ein absoluter Vorrang zu. In einem Idealfall führen 8

Siehe mehr bei Gropp (2005: 56–58). Savigny 1840: 212–239. Zitiert nach Larenz 1991: 4. 10 Siehe Kuhlen 2006, im ungarischen Schrifttum siehe Szomora 2012: 459–469. 11 Siehe mehr bei Karsai (2004).

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die genannten Auslegungsmethoden zu demselben Ergebnis. Aber nicht immer: führen die Auslegungsmethoden zu unterschiedlichen Ergebnissen, kommt ihnen die Funktion zu, Argumentationskriterien für die Abwägung zu liefern und die Entscheidung für das eine oder andere Ergebnis transparent und nachvollziehbar zu machen. Von einem Juristen, der Recht anwendet, wird verlangt, dass er die verschiedenen Auslegungsmethoden heranzieht. Er ist berechtigt, einem von mehreren möglichen Auslegungsergebnissen Vorrang zu geben, jedoch hat er diese Wertentscheidung zu begründen. Diese Aussage stimmt auch im Hinblick darauf, dass die Auslegung z.B. eines zivilrechtlichen oder strafrechtlichen Textes im Ergebnis verfassungs- und unionskonform zu sein hat. Um aber die Verfassungs- und Unionskonformität des Auslegungsergebnisses beurteilen zu können, müssen auch die verfassungsrechtlichen und unionsrechtlichen Normen ausgelegt werden, wozu aber schon wieder die herkömmlichen Methoden heranzuziehen sind.

4

Intertextualität von Texten im materiellen Strafrecht

4.1

Grundlagen zur Diskussion

Intertextualität bedeutet, dass (fast) jeder Text sich auf andere Texte bezieht, explizit durch Zitate oder durch erkennbare Ausdrücke oder Inhalte, die in einem oder mehreren anderen Texten wahrnehmbar oder sogar bestimmt sind.12 Intertextualität ist besonders charakteristisch für Rechtstexte, deren Adressaten (die sog. Normadressaten) fast nie in der Lage wären, den Inhalt einer für sie relevanten Vorschrift richtig zu erfassen, wenn sie die bezüglichen anderen Rechtsvorschriften nicht kennten. Das oben skizzierte Vorgehen der Auslegung findet auch immer in einem Gefüge von mehreren Rechtstexten statt, die als verschiedene Ebenen des Rechts bezeichnet werden.13 Im Folgenden wird kurz auf das Gefüge von materiellen Strafrechtsnormen14 vor dem Hintergrund der Intertextualität eingegangen, wobei auch die verschie12

Stickel, Gerhard: Einleitung zum Podiumsgespräch über „Zugänge zum Text“. (S. 499ff. in diesem Band) 13 Über die Ebenen des Rechts siehe Pokol (2005). 14 Materielles Strafrecht bildet einen Teil des Strafrechts im weiteren Sinne. Das materielle Strafrecht enthält die Normen, die die einzelnen Straftaten, die Sanktionen und die Voraussetzungen und Hindernisse der strafrechtlichen Verantwortung bestimmen. Das materielle Strafrecht unterscheidet sich vom Strafprozessrecht und Strafvollzugsrecht. Diese drei Gebiete gehören zum Strafrecht im weiteren Sinne.

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denen Ebenen des Rechts, die für das Strafrecht ausschlaggebend sind, dargestellt werden. Für einen einfacheren Ansatz werden hier nur innerstrafrechtliche Texte erwähnt, wobei aber auch vor Augen zu halten ist, dass die strafrechtlichen Normen auch mit den Normen des Völkerrechts und des Rechts der Europäischen Union verlinkt sind. Die wichtigste Quelle des materiellen Strafrechts ist das Strafgesetzbuch (Gesetz Nr. C von 2012), das auch Strafkodex genannt wird. Als Kodex enthält dieses Gesetzbuch alle Normen, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer natürlichen Person in einer einheitlichen Struktur und einheitlichen Terminologie bestimmen. Das ungStGB ist als ein auf hohem Abstraktionsgrad kodifiziertes Gesetzbuch auf den Grundgedanken der Intertextualität aufgebaut, die Aufeinanderbezogenheit der Vorschriften ist eines der wichtigsten strukturierenden Prinzipien des Kodexes. Ein wesentlicher Unterschied zum deutschen Strafrechtssystem ist, dass das Material des ungarischen Strafrechts nicht in das sog. Kernstrafrecht und Nebenstrafrecht aufgeteilt ist, wie das des deutschen Strafrechts. Während das deutsche Rechtssystem – neben dem Strafgesetzbuch (Kernstrafrecht) – zahlreiche strafrechtliche Nebengesetze in Bezug auf spezielle Lebensbereiche enthält (Nebenstrafrecht),15 werden in Ungarn praktisch alle eine strafrechtliche Verantwortung statuierenden Vorschriften vom ungStGB erfasst.16 Diese Kodifikationslösung im ungarischen Strafrecht bedeutet eine wesentliche Vereinfachung der Intertextualtität im Vergleich zu dem deutschen Strafrecht; deutsche Strafrechtler beschweren sich nicht selten, dass sie nicht einmal fähig sind, die gesamte Struktur der Strafrechtsvorschriften zu überblicken. Der gemeinsame Bezugspunkt der Nebengesetze in Deutschland ist aber auch der Allgemeine Teil des dStGB; er steht also auch im Mittelpunkt der Intertextualität deutscher Strafvorschriften. 4.2

Beispiele für die Intertextualität materiellen Strafrechts

Im Folgenden werden typische Beispiele für Intertextualität innerhalb des ungStGB dargestellt. Darauffolgend werden Beispiele für intertextuelle Beziehungen mit außerstrafrechtlichen Gesetzen erwähnt. Wenn man über die Gesetzesebene 15

Einige Beispiele aus knapp einhundert deutschen Nebengesetzen: Wehrstrafgesetz (WStG), Waffengesetz (WaffG), Betäubungsmittelgesetz (BtMG), Jugendgerichtsgesetz (JGG), Straßenverkehrsgesetz (StVG), Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG). 16 Das alleinige, für natürliche Personen relevante Nebengesetz im ungarischen Strafrecht ist das Gesetz Nr. CCX von 2011 über die Strafbarkeit und den Ausschluss der Verjährbarkeit von Straftaten gegen die Menschlichkeit bzw. über die Ahndung bestimmter, während der kommunistischen Diktatur begangener Straftaten. Das Gesetz hat aber kaum eine praktische Relevanz.

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blickt, muss man sich mit der Beziehung der Strafrechtstexte zu der Verfassung beschäftigen. Wenn man unter die Gesetzesebene blickt, wird man mit dem Begriffsnetzwerk der strafrechtlichen Dogmatik und mit den Texten der Strafrechtsprechung konfrontiert, die zwar nicht mehr als geschriebenes Recht gelten, für die richtige inhaltliche Erfassung von geschriebenen (Gesetzes)normen jedoch unerlässlich sind. 4.2.1 Intertextualität innerhalb des ungStGB A) Allgemeiner Teil des StGB als allgemeiner Text hinter dem Besonderen Teil: Der allgemeine Teil des StGB (AT) enthält die allgemeinen Grundnormen für die strafrechtrechtliche Verantwortung, die für alle Straftaten relevant sind (oder deren Mehrheit relevant sein kann). Der Besondere Teil (BT) enthält die Tatbestände einzelner Straftaten. Um den Inhalt der einzelnen Straftatbestände zu erfassen, muss man immer auf die Vorschriften des AT zurückgreifen, der AT hält die ganze Struktur des BT zusammen. Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel, einen der lakonischsten Texte des BT ungStGB: den Tatbestand des Totschlags. § 160 ungStGB sieht Folgendes vor: (1) Wer einen anderen tötet, begeht ein Verbrechen und ist mit Freiheitsstrafe von fünf bis zu fünfzehn Jahren zu bestrafen. […] (3) Wer Vorbereitungen zum Totschlag trifft, ist wegen eines Verbrechens mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren zu bestrafen. (4) Wer den Totschlag fahrlässig begeht, ist wegen eines Vergehens mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren zu bestrafen.

Absatz (1) umfasst nur vorsätzlich begangene Tötungshandlungen, was aber diesem Satz nicht unmittelbar zu entnehmen ist; es folgt aus dem gesetzlichen Begriff der Straftat (§ 4 ungStGB). Was Vorsatz und Fahrlässigkeit bedeuten, wird in §§ 7 und 8 bestimmt. Wenn man Abs. 3 liest, muss man wieder im AT nachschlagen: der Begriff strafbarer Vorbereitung (als die erste Verwirklichungsstufe der vorsätzlichen Straftat) wird in § 11 vorgesehen. Über Versuch (als die zweite Verwirklichungsstufe) kann man in § 10 lesen; um einen versuchten Totschlag inhaltlich zu erfassen, hat man § 7 (Vorsatz), § 11 (Versuch) und § 160 Abs. (1) (Totschlag) unter Berücksichtigung aller Bereiche auszulegen. Um die Verantwortung der Beteiligten an einem Totschlag (Täter und Teilnehmer) feststellen zu können, sind §§ 12 bis 14 über die Beteiligungsformen anzuwenden.

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B) Eindeutige Verweisungsnormen: Eindeutige Verweisungsnormen sind die einfachsten Beispiele für Intertextualität. Der Gesetzgeber fügt solche Texte in das StGB ein, um überflüssige Textwiederholungen zu vermeiden und die Gesetzesstruktur zu vereinfachen. Diese Normen enthalten einen expliziten Verweis auf einen anderen § des ungStGB. § 311 ungStGB – Gewalt gegen öffentliche Aufgaben versehende Personen: Nach den Bestimmungen von § 310 ist zu bestrafen, wer die dort festgelegte Tat gegen eine öffentliche Aufgabe versehende Person begeht.

§ 310 enthält den Tatbestand „Gewalt gegen Amtspersonen“. Und noch ein anderes Beispiel von Intertextualität ist hier zu erwähnen: das Opfer dieser Straftat ist eine Person, die eine öffentliche Aufgabe versieht; § 459 Abs. 1 Punkt 12 listet die Tätigkeiten auf, die als öffentliche Aufgaben anzusehen sind und die Qualifikation des Opfers begründen. § 459 stellt eine sog. Begriffsbestimmung dar, in der bestimmte Gesetzesmerkmale von dem Gesetzgeber selbst ausgelegt, d.h. weiter präzisiert sind. C) Abgrenzung gesetzlicher Tatbestände zueinander: Um eine konkrete Tat richtig zu subsumieren, muss man alle relevanten Texte (Tatbestände) im StGB kennen. Manchmal können die Abgrenzungskriterien ganz einfach aufgrund der relevanten Texte gefunden werden. Nach § 198 ungStGB (Sexueller Missbrauch) ist eine Person über 18 Jahren zu bestrafen, wenn sie eine sexuelle Handlung mit einer anderen Person, die ihr 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, vollzieht. Aufgrund dieses Satzes könnte man denken, dass z.B. auch ein Opfer in seinem 10. Lebensjahr unter diesen Tatbestand fällt. Wird aber § 197 Abs. 2 auch in Betracht gezogen, dann fällt auf, dass die sexuellen Handlungen, die mit Kindern unter 12 Jahren vollzogen werden, eine schwerere Straftat (sexuelle Gewalt) verwirklichen. Um den Opferkreis des sexuellen Missbrauchs nach § 198 ungStGB richtig zu bestimmen (d.h. Kinder zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr), muss auch der Tatbestand nach § 197 (sexuelle Gewalt) mitberücksichtigt werden. In anderen Konstellationen können die Straftaten nicht so einfach zueinander abgegrenzt werden. Wenn z.B. sowohl Inzest (§ 199) als auch sexuelle Gewalt (§ 197) durch dieselbe Handlung verwirklicht werden (oder verwirklicht zu sein scheinen), muss man die in der Rechtsprechung niedergelegten Kriterien in Betracht ziehen, um entscheiden zu können, ob die konkrete Tat entweder nur unter sexueller Gewalt oder unter beiden Straftaten zu subsumieren ist.

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4.2.2 Intertextualität durch Einbeziehung von Normen anderer Rechtsbereiche – Blanketttatbestände § 319 ungStGB – Untreue: Wer mit der Verwaltung eines fremden Vermögens beauftragt wurde und unter Verletzung seiner sich daraus ergebenden Pflicht einen Vermögensnachteil verursacht, begeht Untreue.

Blanketttatbestände sind solche Strafnormen, die die Strafbarkeit einer Handlung in dem StGB bestimmen, die inhaltlichen Merkmale dieser Handlung sind aber dem Tatbestand nicht zu entnehmen, sondern diese sind in anderen Rechtsbereichen, in außerstrafgesetzlichen Rechtsnormen niedergelegt. Nimmt man das Beispiel von Untreue, die Pflichten eines Vermögensverwalters sind typischerweise im Zivilrecht, im Handelsrecht, oder – bei öffentlichen Anstalten – im öffentlichen Recht bestimmt. Diese sind zahlreiche außerstrafgesetzliche Normen, die in einem konkreten Fall zur Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortung heranzuziehen sind. Um eine weitere typische Gruppe von Blanketttatbeständen zu erwähnen, wird hier auf die Verkehrsdelikte verwiesen. Die Tathandlung in den meisten Straftatbeständen des Verkehrsstrafrechts (Abschnitt XXII ungStGB) ist die Verletzung der Verkehrsregeln. Die Verkehrsregeln der verschiedenen Verkehrsbereiche (Land-, Bahn-, Wasser- und Luftverkehr) sind in zahlreichen Verordnungen bestimmt, die zum Bereich des Verwaltungsrechts gehören. 4.2.3 Horizontale Intertextualität: Gesetz – Rechtsprechung (Dogmatik) Wie in der Einführung bereits erwähnt wurde, stößt man, wenn man unter die Gesetzesebene blickt, auf das Begriffsnetzwerk der strafrechtlichen Dogmatik und auf die Texte der Strafrechtsprechung. Dieses dogmatische Begriffsnetzwerk ist in der Strafrechtswissenschaft und in der Rechtsprechung über mehrere Jahrzehnte, bei bestimmten Straftaten sogar über mehr als ein Jahrhundert erarbeitet worden. Die dogmatischen Kategorien sind feste, aber ungeschriebene (d.h. nicht in einer geschriebenen Rechtsnorm bestimmte) Auslegungsergebnisse, in deren Kenntnis die Auslegung im Fall von einem typischen, alltäglichen Sachverhalt nicht immer wieder von Anfang an zu vollziehen ist. In der Juristenausbildung spielt die Vermittlung der strafrechtsdogmatischen Kategorien eine große Rolle. Hier werden nur ganz wenige Beispiele – als eine Art Kostprobe – erwähnt: – § 370 ungStGB sieht vor, dass das Tatobjekt des Diebstahls eine fremde Sache ist. Die Rechtsprechung hat die weiteren Kriterien des Tatobjekts festgelegt: die fremde Sache muss eine bewegliche Sache sein, die einen messbaren

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Handelswert hat. Das Kriterium des „Fremd-Seins“ der Sache ist auch in der Dogmatik verfeinert worden. – „Die Opfer von sexueller Gewalt können auch Personen sein, die zum Selbstschutz oder zur Willenserklärung unfähig sind“ – besagt § 197 Abs. 1 lit. b) ungStGB. In der Rechtsprechung wurde mit der Zeit präzisiert und konkretisiert, was unter diesen Opferkategorien zu verstehen ist. Diese Kategorien liefern auch ein gutes Beispiel für das nachträgliche gesetzgeberische Anerkennen der Auslegungsarbeit von Gerichten. Vor einigen Jahren ist die Kategorie „Opfer, das zum Selbstschutz unfähig ist“ in eine Begriffsbestimmung vom Gesetzgeber aufgenommen worden [§ 459. Abs. 1 Punkt 29 ungStGB]. Relativ neue, aber in der Rechtsprechung schon seit langem unverändert existierende Begriffsbestimmungen sind z.B. die Kategorie der sexuellen Handlung im Bereich der Sexualdelikte [§ 459. § Abs. 1 Punkt 27 ungStGB] oder die Kategorie der Gewalthandlung im Zusammenhang mit Landfriedensbruch [§ 459. § Abs. 1 Punkt 4 ungStGB]. – Die Körperverletzung wird schwerer bestraft, wenn sie zu dauerhaften Schäden oder zu schwieriger Gesundheitsbeeinträchtigung führt [§ 164 Abs. 6 lit. d)]. Was ein dauerhafter Schaden oder eine schwierige Gesundheitsbeeinträchtigung bedeutet, wird von der Rechtsprechung ganz präzise bestimmt und schon seit mehreren Jahrzehnten einheitlich ausgelegt.17 4.2.4 Horizontale Intertextualität: Gesetz – Verfassung An der Spitze der Hierarchie der Rechtsquellen steht die Verfassung (Grundgesetz vom 25. April 2012), so müssen das StGB und alle Auslegungsergebnisse aufgrund des StGB mit der Verfassung im Einklang stehen. Diese Beziehung zwischen dem Strafkodex und der Verfassung ist sehr komplex und in ihren bestimmten Einzelheiten auch nicht unumstritten, die detaillierte Darstellung dieser Problematik würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.18 Um ein einziges Beispiel zu nennen, wird jetzt auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. IX ungGG) und die Straftaten Verleumdung und Beleidigung hingewiesen. Nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung kann die Meinungsfreiheit gegenüber Personen breiter ausgeübt werden, die eine öffentliche Tätigkeit ausüben, und die Grenzen der Meinungsfreiheit sind noch geringer und enger gegenüber Personen im öffentlichen Amt. Wenn man darüber zu entschei17

In puncto Intertextualität zeigt sich hier ein anschaulicher Unterschied zum deutschen Strafrecht, da das deutsche StGB selbst bestimmt, was unter diesen Schäden zu verstehen ist (§ 226 dStGB), während die Subsumtion in Ungarn in Unkenntnis der Rechtsprechung nicht möglich wäre. 18 Zu einer kompakten, kurzen Darstellung dieses Themas siehe Tiedemann 1991.

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den hat, ob eine Handlung die Straftatbestände Verleumdung oder Beleidigung verwirklicht, oder ob es sich um eine gerechtfertigte (Kritik) Äußerung handelt, müssen folgende Texte in Betracht gezogen werden: – – –

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relevante Gesetzestatbestände im ungStGB (§ 226 u. 227); der dogmatische Hintergrund dieser Tatbestände und die Rechtsprechung der Strafgerichte; die Vorschriften des Grundgesetzes über die Meinungsfreiheit (Art. IX) und die einschlägige Entscheidung des Verfassungsgerichts [ungVerfGE: 36/1994 (VI. 24.) AB hat.].19

Literaturverzeichnis

BYDLINSKI, Franz (1991): Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, Wien: Springer GROPP, Walter (2005): Strafrecht. Allgemeiner Teil. Berlin: Springer KARSAI, Krisztina (2004): Az európai büntetőjogi integráció alapkérdései [Grundfragen der europäischen Strafrechtsintegration]. Budapest: KJK-Kerszöv KUHLEN, Lothar (2006): Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen. Heidelberg: C.F. Müller LARENZ, Karl (1991): Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 6. Auflage. Berlin: Springer PAWLOWSKI, Hans-Martin (1999): Methodenlehre für Juristen: Theorie der Norm und des Gesetzes: ein Lehrbuch. Heidelberg: C.F. Müller POKOL, Béla (2005): Jogelmélet. Társadalomtudományi Trilógia II. [Rechtstheorie. Gesellschaftswissenschaftliche Trilogie II.]. Budapest: Századvég SAVIGNY, Friedrich Carl von (1840): System des heutigen römischen Rechts. Band 1, Berlin: Veit TIEDEMANN, Klaus (1991): Verfassungsrecht und Strafrecht. Heidelberg: C.F. Müller SZOMORA, Zsolt (2011): Schranken und Schrankenlosigkeit der Meinungsfreiheit in Ungarn – Grundrechtsbeeinflusste Widersprüche im ungarischen Strafrecht. Zeitschrift für die internationale Strafrechtsdogmatik 1/2011, 29–43 SZOMORA, Zsolt (2012): Az alkotmánykonform normaértelmezés és a büntetőjog – problémafelvetés [Die verfassungskonforme Auslegung und das Strafrecht – ein Problemaufriss]. In: Juhász Zsuzsanna – Nagy Ferenc – Fantoly Zsanett (Hrsg.): Sapienti sat. Ünnepi kötet dr. Cséka Ervin professzor 90. születésnapjára. Szegedi Tudományegyetem Állam- és Jogtudományi Kar. Szeged, 459–469

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Zu dieser Frage in Details, siehe Szomora 2011.

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Péter Bassola Institut für Germanistik, Universität Szeged; Egyetem u. 2, H-6722 Szeged Prof. em. Dr. Árpád Bernáth Institut für Germanistik, Universität Szeged; Egyetem u. 2, H-6722 Szeged Prof. Dr. Károly Csúri Institut für Germanistik, Universität Szeged; Egyetem u. 2, H-6722 Szeged Dr. habil. Erzsébet Drahota-Szabó Lehrstuhl für Deutsch und Deutsch als Nationalitätenkultur, Universität Szeged; Hattyas u. 10, H-6725 Szeged Dr. habil. Ewa Drewnowska-Vargáné Institut für Germanistik, Universität Szeged; Egyetem u. 2, H-6722 Szeged Prof. em. Dr. Hans-Werner Eroms Deutsche Sprachwissenschaft, Universität Passau; Leopoldstr. 4, D-94032 Passau Dr. Ilona Feld-Knapp Germanistisches Institut, Eötvös-Lorád-Universität Budapest; Rákóczi u. 5, H-1088 Budapest Jun.-Prof. Dr. Olaf Gätje Institut für Germanistik, Universität Kassel; Kurt-Wolters-Straße 5, D-34125 Kassel Dr. habil. Zsuzsanna Iványi Institut für Germanistik, Universität Debrecen; Egyetem tér 1, H-4010 Debrecen

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Autorenverzeichnis

Péter Kappel Institut für Germanistik, Universität Szeged; Egyetem u. 2, H-6722 Szeged Dr. habil. Krisztina Karsai Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Universität Szeged; Rákóczi tér 1, H-6722 Szeged Dr. Tamás Kispál Institut für Germanistik, Universität Szeged; Egyetem u. 2, H-6722 Szeged Dr. Nina-Maria Klug Institut für Germanistik, Universität Kassel; Kurt-Wolters-Str. 5, D-34125 Kassel Prof. Dr. habil. Michail L. Kotin Institut für Germanistik, Universität Zielona Góra; Aleja Wojska Polskiego 71A, Pl-65-001 Zielona Góra Dozent Dr. Hartmut Lenk Institut für moderne Sprachen / Germanistik, Universität Helsinki; Pf. 24, FI-00014 Prof. Dr. Heinz-Helmut Lüger Universität Koblenz-Landau (bis 2011); Zeppelinstraße 45, D-76887 Bad Bergzabern Prof. Dr. Magdolna Orosz Germanistisches Institut, Eötvös-Loránd-Universität Budapest; Rákóczi út 5, H-1088 Budapest Orsolya Rauzs Institut für Germanistik, Universität Szeged; Egyetem u. 2, H-6722 Szeged M. A. Paul Reszke Institut für Germanistik, Fachbereich 02 – Geistes- und Kulturwissenschaften, Universität Kassel; Kurt-Wolters-Str. 5, D-34125 Kassel

Autorenverzeichnis Ágnes Sántáné-Túri Institut für Germanistik, Universität Szeged; Egyetem u. 2, H-6722 Szeged Dr. György Scheibl Institut für Germanistik, Universität Szeged; Egyetem u. 2, H-6722 Szeged Prof. Dr. Gerhard Stickel Institut für Deutsche Sprache; R5, 6-13, D-68161 Mannheim Dr. Zsolt Szomora Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Universität Szeged; Rákóczi tér 1, H-6722 Szeged Dr. habil. Roberta V. Rada Germanistisches Institut, Eötvös-Loránd-Universität Budapest; Rákóczi út 5, H-1088 Budapest Prof. Dr. Gisela Zifonun Obere Brunnenstr. 1, D-74918 Angelbachtal

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Szegediner Schriften zur germanistischen Linguistik Herausgegeben von Ewa Drewnowska-Vargáné und Péter Bassola Band

1

János Németh: Buchstabengebrauch in der Ödenburger Kanzleischriftlichkeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (1510–1800). 2012.

Band

2 Gabriella Gárgyán: Der am-Progressiv im heutigen Deutsch. Neue Erkenntnisse mit besonderer Hinsicht auf die Sprachgeschichte, die Aspektualität und den kontrastiven Vergleich mit dem Ungarischen. 2014.

Band

3 Péter Bassola / Ewa Drewnowska-Vargáné / Tamás Kispál / János Németh / György Scheibl (Hrsg.): Zugänge zum Text. 2014.

www.peterlang.com