Zivilrechtlich begründete Garantenpflichten im Strafrecht? [1 ed.] 9783428500482, 9783428100484

Die Autorin problematisiert eine vorbehaltlose Übertragung zivilrechtlicher Pflichten auf das Strafrecht zur Begründung

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Zivilrechtlich begründete Garantenpflichten im Strafrecht? [1 ed.]
 9783428500482, 9783428100484

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ANETIE GRÜNEWALD

Zivilrechtlich begründete Garantenpflichten im Strafrecht?

Schriften zum Strafrecht Heft 122

Zivilrechtlich begründete Garantenpflichten im Strafrecht? Von

Anette Grünewald

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Grünewald, Anette:

Zivilrechtlich begründete Garantenpflichten im Strafrecht? I Anette Grünewald. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zum Strafrecht; H. 122) Zug!.: Hamburg, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10048-4

Alle Rechte vorbehalten Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany

© 2001

ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-10048-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1999 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung, die nach dem Frühjahr 1999 erschienen ist, wurde (wenn auch nur im Fußnotentext) bis Sommer 2000 berücksichtigt. Herrn Prof. Dr. Kurt Seelmann, meinem Doktorvater, danke ich für seine Geduld und das große Interesse, mit dem er das Entstehen dieser Arbeit begleitet hat. Seine stete Gesprächsbereitschaft machte es möglich, daß sich die (weite) Entfernung zwischen Hamburg und Basel letztlich auf das Betreuungsverhältnis nicht ausgewirkt hat. Bei Herrn Prof. Dr. Uwe Hansen bedanke ich mich für die zügige Erstattung des Zweitgutachtens. Zu ganz besonderem Dank bin ich Herrn Privatdozent Dr. Diethelm Klesczewski für die zahlreichen wertvollen Gespräche verpflichtet, in denen ich viele konstruktive Anregungen erhielt. Der Bibliothekarin im Strafrechtsseminar der Universität Hamburg, Frau Regina Wohlers, danke ich für ihre unermüdliche Hilfsbereitschaft bei der Literaturbeschaffung. Hamburg, im September 2000

Anette Grünewald

Inhaltsverzeichnis Einleitung.................................................................................

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Erstes Kapitel Einfluß des Zivilrechts auf die Begründung strafrechtlicher Garantenpflichten § 1 Einführung ............................................................................ § 2 Strafrechtliche Konzeptionen zur BegIiindung von Garantenpflichten ...............

I. Traditionellere Konzeptionen . . . . . . .. .. . . . . . . .. . . . .. .. . .. .. .. . . .. . . . . . . . . . .. . . . . .. . 1. Fonnale Konzeption: Rechtsquellenlehre ..................... ................. 2. Materiale dualistische Konzeption: Obhuts- und Sicherungspflichten ......... ll. Materiale monistische Konzeptionen .............................................. 1. Gefahrschaffung ................................................................ 2. Herrschaft ...................................................................... 3. Vertrauen....................................................................... 4. Verhaltenserwartungen ......................................................... III. Neuere materiale dualistische Konzeptionen ...................................... 1. Organisationszuständigkeit und institutionelle Zuständigkeit .................. 2. Handlungsverantwortung und soziale Zuordnung .............................. § 3 Zivilrechtliche Handlungsptlichten und ihre Übertragung auf das Strafrecht ........ I. Deliktische Verkehrs(sicherungs)ptlichten ........................................ 1. Zivilrechtliche Grundlagen ..................................................... 2. Bedeutung zivilrechtlicher Verkehrs(sicherungs)ptlichten im Strafrecht....... ll. Familienrechtliche Pflichten ....................................................... III. (Quasi-)Vertragliche Handlungsptlichten .......................................... 1. Zivilrechtliche Grundlagen ..................................................... 2. Parallelen zu den strafrechtlichen Begründungskonzeptionen ................. § 4 Ergebnis ...............................................................................

16 16 18 19 19 20 22 22 23 24 25 27 27 28 29 30 30 34 35 39 39 43 45

Zweites Kapitel Anforderungen an die Begründung strafrechtlicher Garantenpflichten § 1 Einführung............................................................................ § 2 Der Rechtsbegriff: Zur Abgrenzung (straf)rechtlicher von moralischen Pflichten. . . . I. Recht, Schicklichkeit und Sittlichkeit bei Thomasius ............................. 11. Der Bereich der juridischen Legalität bei Kant .................................... III. Abstraktes Recht, Moralität und Sittlichkeit bei Hegel ....................... . . . . .

47 47 48 49 51 55

8

Inhaltsverzeichnis IV. Ergebnis ...........................................................................

§ 3 Zum Verhältnis von Strafrecht und Zivilrecht ........................................ I. Aufgaben des Zivilrechts .......................................................... 1. Zwischen Ausgleich und Prävention ...........................................

64 65 65 65 67 71 76 78 82 82 84 88 93 97 99 99 102 106 108 111 115 119 119

a) Schmerzensgeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Weitere Beispiele........................................................... c) Ergebnis.................................................................... 2. Verteilungserwägungen .............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Aufgaben des Strafrechts .......................................................... 1. Vorbemerkungen ............................................................... 2. Normstabilisierung durch Bestätigung der Normgeltung ...................... 3. Strafrecht als formalisierte Sozialkontrolle . . . . . . .. . .. . . . .. . . . . . .. . .. . . . . . . .. . . . 4. Freiheitliches Strafrechtsverständnis ................. . ......................... 5. Ergebnis........................................................................ III. Annäherung der Rechtsgebiete? ................................................... 1. Vorbemerkungen zu den historischen Bezügen ................................ 2. Privatstrafe? .................................................................... 3. "Abschaffen des Strafens?" .................................................... a) Sektorale Modelle.......................................................... b) Weitgehender Ersatz des Strafrechts durch das Zivilrecht? ................ c) Schadenswiedergutrnachung............................................... IV. Problematik einer Übertragung zivilrechtlicher Pflichten auf das Strafrecht . . . . .. 1. Zivilrechtlicher Pflichtbegriff .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Divergenzen zwischen zivilrechtlichem Pflichtbegriff und strafrechtlichen Prinzipien ....................................................................... 124 3. Einheit der Rechtsordnung? .................................................... 131

Drittes Kapitel Folgerungen für die Bildung strafrechtlicher Garantenpßichten

133

Literaturverzeichnis ....................................................................... 142 Sachwortverzeichnis ..................................................................... 158

Abkürzungsverzeichnis a.a.O. Abl.EG AcP a.E. AE-BJG AE-GLD AE-WGM

AK

Anm. ArbGG ARSP Art. Aufl. BayObLG BB bes. BGB BGB!. BGH BGHR BGHSt BGHZ BT-Drucks. bzw. cap. ders., dens. d.h. ebd. etc. EuGH EuGH Slg. EWG f., ff. FamRZ FG Fn. FS

am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Archiv für civilistische Praxis am Ende Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Betriebsjustiz Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung Alternativkommentar Anmerkung Arbeitsgerichtsgesetz Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Auflage Bayerisches Oberstes Landesgericht Der Betriebs-Berater besonders Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof BGH-Rechtsprechung in Strafsachen, hrsg. von den Richtern des Bundesgerichtshofs Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundestagsdrucksache beziehungsweise caput derselbe, denselben das heißt ebenda et cetera Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht. Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Festgabe Fußnote Festschrift

10 GA GeschmMG GG GMS GS Hrsg. hrsg. i.d.R. i.V.m. JA Jura JuS JZ KJ KR KritV lib. LK MDR MDR/D MdS MdS-RL MdS-TL MK MschrKrim m.w.N.

NJW

NK Nr. NStE NStZ NZV OLG ProdHaftG RabelsZ RdA Rdnr. RGSt RGZ RL RPh S. SJZ

Abkürzungsverzeichnis Goltdammers Archiv für Strafrecht Geschmacksmustergesetz Grundgesetz Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Der Gerichtssaal Herausgeber, Herausgeberin herausgegeben in der Regel in Verbindung mit Juristische Ausbildungsblätter Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Kritische Justiz Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen schutzrechtlichen Vorschriften Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft libri Leipziger Kommentar Monatsschrift für Deutsches Recht Monatsschrift für Deutsches Recht/bei Dallinger Die Metaphysik der Sitten Die Metaphysik der Sitten - Rechtslehre Die Metaphysik der Sitten - Tugendlehre Münchener Kommentar Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsrefonn mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Nomos Kommentar Nummer Neue Entscheidungssammlung für Strafrecht, hrsg. von Rebmann/Dahs/Miebach, München 1995 Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht Oberlandesgericht Produkthaftungsgesetz Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, begründet von E. Rabel Recht der Arbeit Randnummer Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Rechtslehre Grundlinien der Philosophie des Rechts Satz, Seite Süddeutsche Juristenzeitung

Abkürzungsverzeichnis SK S/S StGB StPO u.a. UrhG VersR vgl. Vorbem. z.B. ZEE ZfA ZIP ZRP ZStW ZVersWiss

Systematischer Kommentar Schönke/Schröder Strafgesetzbuch StrafprozeBordnung und andere, und anderswo Urheberrechtsgesetz Versicherungsrecht vergleiche Vorbemerkungen zum Beispiel Zeitschrift für Evangelische Ethik Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft

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Einleitung Im modemen Strafrecht lassen sich Tendenzen zur Ausdehnung des Anwendungsbereichs in vielfaItigen Formen ausmachen. Exemplarisch kann verwiesen werden auf die Einbeziehung von neueren Lebensbereichen, wie sie sich zum Beispiel im Umwelt-, Drogen- und Wirtschafts strafrecht zeigt, oder auf die wachsende Bedeutung bestimmter Deliktstypen, zu denen etwa die abstrakten Gefährdungsdelikte, die Fahrlässigkeits- sowie die sogenannten unechten Unterlassungsdelikte1 zählen, oder - mehr allgemein und grundsätzlich formuliert - auf die Aufweichungen der das traditionelle, rechts staatlich-liberale Strafrecht prägenden Zurechnungsstrukturen2 • Diese Entwicklung läßt schon auf den ersten Blick einen Widerspruch vermuten zu einem Verständnis des Strafrechts, das überwiegender Ansicht nach immer noch gekennzeichnet ist durch seine Ultima-ratio-Funktion und das daher zu begrenzen ist auf den Schutz eines Kembereichs fundamentaler Rechtsgüter. Andererseits ließe sich dagegen aber womöglich vorbringen, die Ausweitung des Strafrechts gehe mit der These eines Kembereichs durchaus konform, da sie notwendige wie selbstverständliche Folge einer Anpassung des Strafrechts an die gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse sei. Modeme Gesellschaft nämlich zeichne sich wesentlich durch komplex verflochtene Handlungsgefüge und somit "multiple Kausalzusammenhänge" aus, bei denen ein individueller Verantwortungsnachweis für Schäden häufig nicht mehr zu erbringen seP. Zieht man aus dieser Erkenntnis sodann nicht den Schluß, auf das Strafrecht zu verzichten, sofern eine individuelle Zurechnung nicht geleistet werden kann, ist die Forderung nach einer flexibleren Handhabung des strafrechtlichen Instrumentariums, die de facto zu einer Erweiterung des Anwendungsbereichs führt, nur konsequent. Das unechte Unterlassungsdelikt zeigt sich für eine Ausdehnung der Strafbarkeit aus verschiedenen Gründen ebenso anfällig wie geeignet, ganz besonders in einer 1 Der Bezeichnung "unechtes" Unterlassungsdelikt und ebenso der Einteilung in "echte" und "unechte" Unterlassungsdelikte kommt - darauf wurde bereits mehrfach hingewiesen - nicht nur kaum Aussagekraft zu, sie beruht überdies auf inhaltlich nicht überzeugenden Erwägungen (vgl. dazu Kahlo, Problem des Pflichtwidrigkeitszusarnmenhanges, S. 26 ff.; Vogel, Norm und Pflicht, S. 93 ff.; Harzer, Die tatbestandsmäßige Situation, S. 83 f.). Wenn hier gleichwohl von "unechten" Unterlassungsdelikten die Rede ist, so geschieht dies nicht, weil der Terminus als gelungen angesehen wird, sondern lediglich, weil diese Benennung üblich ist. Gemeint ist damit das Unterlassungsdelikt, welches eine Sonder-, also Garantenptlicht erfordert. 2 Siehe in diesem Kontext besonders Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit, S.l ff., 70ff., 109ff.; Prittwitz, Strafrecht und Risiko, S. 43ff., 320ff.; P.-A. Albrecht, KritV 1993, S. 163 (164, 166ff.); dens., in: Vom unmöglichen Zustand, S.429 (439f.); Hassemer, ZRP 1992, S.378 (381); See/mann, KritV 1992, S.452 (453ff.). J In diesem Sinne etwaSchünemann, GA 1995, S.201 (211 ff.).

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Einleitung

Kombination mit dem Fahrlässigkeitsdelikt. Bedingt durch die Komplexität von Interaktionsprozessen ist der zu einem Schadenseintritt führende Verlauf oftmals undurchschaubar und der Ursprung der Gefahren bleibt unklar. Für potentiell Betroffene wird es hierdurch zunehmend schwieriger, teils sogar unmöglich, sich sinnvoll auf Gefahren einzustellen oder ihnen konkret vorzubeugen. Daraus entsteht ein Bedürfnis nach einer möglichst umfassenden Verantwortungszuschreibung für Gefahren, wobei hier zunächst dahingestellt sei, aufgrund welcher Überlegungen diese im einzelnen vorgenommen wird. Der jeweils für zuständig erachteten Person werden jedenfalls diverse Handlungs- beziehungsweise Sorgfaltspflichten auferlegt. Hierzu führt Günther aus: "Unter dem Eindruck von Risiken und Gefahren wird die Handlungsfreiheit selbst zu einer abstrakten Gefahr. In dicht vernetzten Handlungsfeldern, wie sie für die Risikogesellschaft kennzeichnend sind, ist individueller Freiheitsgebrauch schon an sich riskant."4 Mit der steigenden Relevanz des unechten Unterlassungsdelikts geht es schließlich einher, wenn Vertreter der Literatur vermehrt dazu neigen, der herkömmlichen Differenzierung zwischen Handlungs- und Unterlassungsdelikt keine beachtenswerte Aussagekraft mehr zuzuerkennens. In einer Zeit, in der es weithin vom Zufall abhängt, ob ein Schaden durch eine Handlung oder Unterlassung ausgelöst wird, und in der sich die faktische Bedeutsamkeit beider Delikte einander anzugleichen scheint, wird der einstige generelle Ausnahmestatus einer Unterlassungsstrafbarkeit und die dogmatische Vorrangstellung des Handlungsdelikts als einer Art Grunddelikt fragwürdig. Darüber hinaus werden die Ausweitungstendenzen im Bereich der Garantenpflichten begünstigt durch die dürftige Fassung des § 13 I StGB, der lediglich das Erfordernis einer rechtlichen Einstandspflicht benennt. Ein klar begrenzter und präzise bestimmbarer Anwendungsbereich wird damit gerade nicht vorgegeben. Von daher bleibt es bei der Feststellung Stratenwerths: "Die bisher noch immer unzureichend gelöste Kernfrage der Garantenlehre aber geht dahin, mit Hilfe welcher Kriterien sich Pflichten dieses Ranges von anderen unterscheiden lassen.''6 In der folgenden Arbeit wird den Tendenzen zu einer Ausdehnung der Garantenpflichten beim Unterlassungsdelikt in einer bestimmten Richtung, nämlich der des Zivilrechts, nachgegangen. Dabei wird im ersten Kapitel zunächst gezeigt, wie sehr die Kriterien und Argumentationsfiguren, die im Strafrecht zur Begründung von Garantenpflichten herangezogen werden, denen ähnlich sind, auf die die Herleitung zivilrechtlicher Handlungspflichten gestützt wird. Zu Beginn des zweiten Kapitels wird der Rechts- und daraus abgeleitet der Rechtspflichtbegriff des traditionellen liberalen Strafrechts erörtert, wie er in Anlehnung an die (Rechts-)Philosophie des deutschen Idealismus gewonnen werden kann. Anschließend wird das Verhältnis von Zivilrecht und Strafrecht auf der Grundlage der Aufgabenbestimmungen beider K. Günther, in: Vom unmöglichen Zustand, S.445 (458). Siehe nur Jakobs, Strafrecht, 7/58, 70f., 28/14, 29/28; dens., Zurechnung, S. 15, 19,25; Timpe, Strafmilderungen, S. 162f., 175, 185; Freund, Erfolgsdelikt, S. 36ff. 6 Stratenwerth, Strafrecht, § 13 Rdnr.15. 4

S

Einleitung

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Rechtsgebiete untersucht. Thematisiert wird in diesem Zusammenhang auch eine mögliche Annäherung der Rechtsgebiete. Aus der Bestimmung der Aufgaben ergeben sich sodann die Zurechnungsprinzipien, die entsprechend den unterschiedlichen Aufgaben, die Strafrecht und Zivilrecht zu erfüllen haben, voneinander abweichen. Zuletzt - im abschließenden dritten Kapitel- können, vor allem aus den Ausführungen im zweiten Kapitel, Folgerungen für die Begründung strafrechtlicher Garantenpflichten gezogen werden. Ziel der Arbeit ist es hierbei allerdings nicht, eine ins Detail gehende Garantenpflichtdogmatik vorzustellen. Vielmehr sollen lediglich Leitlinien angegeben werden, an denen sich die Bildung der Garantenpfiichten im Strafrecht - im Gegensatz zu einer zivilrechtlichen Begründung von Handlungspflichten - orientieren müßte.

Erstes Kapitel

Einfluß des Zivilrechts auf die Begründung strafrechtlicher Garantenpflichten § 1 Einführung Die dogmatische Auseinandersetzung mit dem Unterlassungsdelikt reicht an den Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Aus dieser Zeit stammt die erste, von Feuerbach geäußerte Stellungnahme, der sich etwas zur Relevanz des Zivilrechts und somit zivilrechtlicher Pflichten für die Begründung strafrechtlicher Garantenpflichten entnehmen läßt. Dagegen erschöpften sich Gesetze und Erörterungen im Schrifttum zuvor in der bloßen Aufführung oder Besprechung vereinzelter Bestimmungen, in denen ein Unterlassen unter Strafe gestellt war l . Feuerbach führte zur Strafbarkeit des Unterlassens dann folgendes aus: "Weil aber die ursprüngliche Verbindlichkeit des Bürgers nur auf Unterlassungen geht; so setzt ein Unterlassungsverbrechen immer einen besondern Rechtsgrund, (Gesetz oder Vertrag) voraus, durch welchen die Verbindlichkeit zur Begehung begründet wird. Ohne diesen wird man durch Unterlassung kein Verbrecher. "2 Danach kam dem Zivilrecht für die strafrechtliche Pflichtbegründung offenkundig eine tragende Bedeutung zu. Das Reichsgericht übernahm Feuerbachs Ansatz3 und fügte noch eine Rechtspflicht aus vorangegangenem gefahrdenden Tun (sogenannte Ingerenz)4, später auch aus enger LebensgemeinschaftS hinzu. Demgegenüber spielte der Rechtspflichtgedanke in der sich anschließenden wissenschaftlichen Debatte zur Strafbarkeit des Unterlassens zunächst keine weitere Rolle. Die Problematik des Unterlassungsdelikts wurde dort nämlich einzig in der Begründung der Kausalität gesehen6 • Nachdem dieser Weg, über den 1 Vgl. zur Entwicklungsgeschichte Clemenll, Unterlassungsdelikte, S. 6ff.; L. v. Bar, Gesetz und Schuld II, S. 246ff.; eine ausführliche Darstellung gibt Glaser, Abhandlungen, S. 326ff.; siehe auch Honig, FG R. Schrnidt, S. 3ff. 2 Feuerbach, Lehrbuch, § 24. Schon vorher ging Westphal davon aus, die Omission verlange eine besondere Pflicht zur. Tatigkeit. Eine Konkretisierung dieser Pflicht, die Aufschluß über ihre Beschaffenheit, Herkunft oder theoretische Grundlage geben könnte, nahm er allerdings nicht vor (vgl. Criminalrecht, 7.Anm., S.I2f.). 3 Siehe nur RGSt 58, 130 (131 f.); 63, 392 (394). 4 RGSt 24, 339f.; 64, 273 (276). 5 RGSt 69,321 (322f.); 74, 309 (31Of.). 6 Siehe Luden, Abhandlungen II, S. 228; Krug, Commentar, S. 34; Merkei, Kriminalistische Abhandlungen I, S. 83; Geyer, Grundriß, S.124; Binding, Normen 11/1, S.561, 565, 554; Hälschner, Strafrecht I, S. 239; v.Buri, in: Beiträge, S. 209 (216).

§ 1 Einführung

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Kausalnexus eine Handlungspflicht zu begründen, als Irrweg erkannt war, wurde quasi eine Rückkehr zu Feuerbach vorgeschlagen7 , die alsbald dazu führte, das gesamte Zivilrecht sowie das öffentliche Recht als mögliche Quellen einer strafrechtlich relevanten Rechtspflicht anzusehen8 • Vor allem Mezger, der die darin liegende Gefahr einer Ausuferung der Handlungspflichten sah, benannte schließlich zusätzlich materielle Kriterien, die eine Einschränkung der Pflichten bezweckten9 • Grundlage der Handlungspflichten war auch für ihn, ausgehend von einer formellen Pflichtbegründung, das ganze öffentliche wie private Recht. Eine Begrenzung ergebe sich aber insofern, als es einer Pflicht bedürfe, deren erweislicher Sinn es sei, eine strafrechtliche Haftung für den Erfolg zu begründen lO • Beispielsweise genüge für eine Rechtspflicht aus besonderer Übernahme, gleich ob diese auf vertragliches Handeln, konkludentes Verhalten oder eine Geschäftsführung ohne Auftrag gestützt werde, nicht schon das Bestehen der Ptlicht an sichlI. Vielmehr müsse die Pflichtenübernahme zur Schaffung einer besonders gefahrlichen Lage geführt oder eine Steigerung einer bereits vorhandenen Gefahr bewirkt haben und gerade zum Zweck der Abwendung dieser Gefahr erfolgt sein. Für Mezger lag der maßgebliche Gesichtspunkt, der eine strafrechtliche Haftung eintreten läßt, darin, daß der Vertragsgegner sich auf die zugesagte Hilfe verläßt und im Vertrauen auf diese von anderen Sicherungsmaßnahmen absieht l2 • Die Kriterien der Gefahrschaffung beziehungsweise -erhöhung sowie des Vertrauens, in Verbindung mit dem Aspekt der rechtlich-sozialen Stellung des Täters waren ferner nach der rein materialen Lehre Sauers und Kissins die entscheidenden Gründe für die Annahme einer Handlungsptlichtl3 - und sie sind es cum grano salis bis heute geblieben l4 • Abgelehnt wurde es demnach explizit, die Pflicht formal aus einer nichtstrafrechtlichen Vorschrift, wie zum Beispiel dem Zivilrecht, zu entnehmen lS • Eine deutliche Absage erfuhr das Zivilrecht außerdem von der sogenannten Kieler Schule l6 , wie schon der kämpferische Titel einer Monographie von Bruns belegt l7 • Jedoch intendierten die Vertreter dieser Richtung damit keine Begrenzung der Handlungspflichten l8 • Die Ablehnung einer Bedeutung des Ziv.Rohlanti, Unterlassung, S.122. v.Hippel, Strafrecht 11, S.161 ff.; femerv.Liszt, Lehrbuch, 2. Aufl., S.116f. (differenzierter aber in der 7. Aufl., S.113f.). 9 Mezger, Strafrecht, S.140ff. 10 Mezger, Strafrecht, S.140. 11 Dazu und zum Folgenden Mezger, Strafrecht, S.I44. 12 Mezger, Strafrecht, S.I44. 13 Sauer, FG Frank I, S.202 (220f.), sowie GS 114 (1940), S.279 (293f., 304ff.); Kissin, Rechtspflicht, S. 101 ff., 107 ff. 14 Dazu sogleich § 2. 15 Sauer, GS 114 (1940), S. 279 (304). 16 Vgl. Schaffstein, FS Gleispach, S.70 (84f.). 17 Bruns, Die Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken. 18 Eine Einschränkung der Strafbarkeit ergibt sich übrigens auch nicht aus der Lehre des Tätertyps (vgl. dazu aber Roxin, Strafrecht, § 6 Rdnr. 10). Die Begrenzungsfunktion, die dieser Lehre zukommt, dient lediglich dazu, die zuvor über den Bereich der Sittlichkeit weit ausge7

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2 Grünewald

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1. Kap.: Einfluß des Zivilrechts

vilrechts für die strafrechtliche Pflichtbegründung geschah vielmehr deshalb, weil der rechtlich-gesetzliche Rahmen als zu eng empfunden wurde; auch aus ethischen und sittlichen Pflichten sollte sich eine strafrechtliche Handlungspflicht herleiten lassen 19 • Insgesamt kann festgehalten werden, daß mit den materialen Lehren zur Begründung der Garantenpflichten eine Entwicklung eingesetzt hatte, die weder aufzuhalten noch rückgängig zu machen war und die bis heute den wissenschaftlichen Diskurs beherrscht20 • Durch die Materialisierung der Garantenpflichtbestimmung scheint die Gefahr einer schlichten Übertragung zivilrechtlicher Pflichten auf das Strafrecht gebannt. In den modemen Theorien, in denen durchweg materiale Konzepte, seien es dualistische oder monistische, vertreten werden, erinnert daher auf den ersten Blick auch nichts an zivilrechtliehe Handlungspflichten. Ganz im Gegenteil, die Begründungsmodelle scheinen spezifische Kategorien des Strafrechts wiederzugeben. Im folgenden wird jedoch gezeigt, welche Bedeutung dem Zivilrecht nach wie vor bei der Begründung strafrechtlicher Garantenpßichten zukommt. Dazu werden zuerst die geläufigsten Konzepte zur dogmatischen Fundierung der Garantenpflichten im Strafrecht vorgestellt (in § 2). Der anschließende Vergleich mit den entsprechenden zivilrechtlichen Handlungspflichten und deren theoretischer Grundlage soll dann verdeutlichen, inwieweit diese Pflichten aus dem Zivilrecht abgeleitet sind (§ 3).

§ 2 Strafrechtliche Konzeptionen zur Begründung

von Garantenpflichten

Die im Strafrecht vertretenen Ansätze zur Herleitung von Garantenpflichten sind ausgesprochen vielfaItig21 , weshalb hier eine Auswahl zu treffen war. Erörtert werden demnach nur die gängigsten Legitimationsmodelle. Darüber hinaus reichen die folgenden Ausführungen der gestellten Aufgabe entsprechend lediglich so weit, daß sie es ermöglichen, inhaltliche Übereinstimmungen der Begründung strafrechtlicher Garantenpflichten mit der Bildung der anschließend zu behandelnden zivilrechtlichen Handlungspflichten erkennbar zu machen22 • dehnten Pflichten im Ergebnis wieder etwas einzuschränken (siehe SchaJfstein, FS Gleispach, S.70 [102ff.]). Summa summarum werden die Pflichten und schließlich die Strafbarkeit dadurch aber nicht reduziert, sondern ausgeweitet (vgl. auch Seebode, FS Spendel, S. 317 [331]; See/mann, in: Recht und Moral, S.295 [300]). 19 SchaJfstein, FS Gleispach, S. 70 (72f., 79,81, 96ff.). 20 Vgl. nur Schünemann, ZStW 96 (1984), S.287 (292). Hingegen hat neuerdings Seebode den Vorschlag gemacht, in Besinnung auf Feuerbach die Herleitung der rechtlichen Einstandspflicht auf Gesetz und Vertrag zu beschränken, da nur so dem Bestimmtheitserfordernis aus Art. 103 IIGG Genüge getan werden könne (vgl. FS Spendel, S.317 [340ff. und 344ff.]; ebenso Baumann/Weber/M itsch, Strafrecht, § 15 Rdnr. 41 ; Kamberger, Treu und Glauben, S. 200 f., 264 f.). Siehe dazu noch § 3 IV 2 des zweiten Kapitels. 21 Vgl. nur Jakobs, Strafrecht, 29/28 mit Fn. 53. II Die Darstellung der einzelnen Ansätze war ebenso wie die Kritik an ihnen bereits des öfteren Gegenstand von wissenschaftlichen Abhandlungen. Es kann insoweit verwiesen werden

§ 2 Strafrechtliche Konzeptionen

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I. Traditionellere Konzeptionen

1. Formale Konzeption: Rechtsquellenlehre Die auf Feuerbach23 zurückgehende fonnale Rechtsquellenlehre wird heutzutage in ihrer Reinfonn kaum noch vertreten24 • Nach ihr ergibt sich die Rechtspflicht beim Unterlassungsdelikt entweder aus Gesetz oder Vertrag und kann demzufolge unter anderem aus dem Zivilrecht hergeleitet werden. Vorzugsweise die ältere Rechtsprechung griff in Anknüpfung an diese Lehre zur Begründung von Garantenpflichten auf die beiden genannten rechtlichen Quellen zurück2s , setzte sich über diese aber recht früh hinweg, indem sie zunächst Garantenpflichten aus vorangegangenem gefährdenden Tun (sogenannte Ingerenz) anerkannte26 und dann die enge (Lebens-)Gemeinschaft27 in den Kanon mitaufnahm. Dadurch wurde das formale Konzept augenscheinlich überwunden28 • Gleichwohl ist das Lippenbekenntnis zur fonnalen Rechtsquellenlehre bis heute in der Rechtsprechung präsent geblieben; zumindest hat sie diesen Begründungsansatz explizit weder aufgegeben, noch sich einem anderen angeschlossen. Betrachtet man allerdings die inhaltliche Herleitung der Garantenpflichten in den Entscheidungen der Gerichte näher, gewinnt man rasch ein anderes Bild. Nicht selten wird auf materielle Erwägungen Bezug genommen, beispielsweise wenn Pflichten des Wohnungsinhabers begründet werden. Entscheidend soll dafür nämlich sein, daß die Wohnung wegen ihrer besonderen Beschaffenheit oder Lage eine Gefahrenquelle darstellt, die der Inhaber zu sichern oder zu überwachen habe29 • Von Schutzpflichten spricht der Bundesgerichtshof, wenn der Wohnungsinhaber jemanden willentlich und bewußt in die Wohnung aufgenommen und so die Wohnung als Schutzbereich zur Verfügung gestellt hat; denn hierdurch werde eine Vertrauensgrundlage solcherart geschaffen, daß der Aufgenommene sich darauf verlassen dürfe, der Wohnungsinhaber werde ihm bei schwerwiegenden Gefahren zur Seite stehen30• Des weiteren hat die Rechtsprechung das fonnale Kriterium des Vertrags durch das der faktischen Übernahme etwa auf die umfangreichen Erörterungen von Sangenstedt, Garantenstellung, S.123ff., und die eher kurzen wie prägnanten Ausführungen von Vogel, Norm und Pflicht, S. 337ff. 23 Siehe dazu bereits § 1 dieses Kapitels. 24 Sieht man einmal von der unlängst erhobenen Forderung Seebodes ab (FS Spendel, S. 317 [340ff., 344ff.]). Dazu bereits soeben Fn.20 sowie § 3 IV2 des zweiten Kapitels. 25 RGSt 58,130 (131 ff.); 63, 392 (394); BGHSt 2,150 (153); 19, 167 (168). 26 RGSt 24, 339f.; 64, 273 (276); BGHSt 4, 20 (21 f.); 11, 353 (355). 27 RGSt66, 71 (73f.); 69, 321 (322ff.); 74, 309 (31Of.); BGHSt 2,150 (153); 19, 167 (168). 28 Siehe auch Jakobs, Strafrecht, 29/26 in Fn. 44. 29 BGHSt 30,391 (396); BGH NStE Nr.6 zu § 13 StGB; BGHR, Fall 8 zu § 13 I StGB. 30 BGHSt 27, 10 (12f.); 30, 391 (396). Der Bundesgerichtshof operiert hauptsächlich im letztgenannten Fall sowohl mit Schutzpflichten gegenüber einer aufgenommenen Person, die aus einer Vertrauensbeziehung resultierten, als auch mit Überwachungspflichten, soweit von Gefahren, die innerhalb der Wohnung entstehen können, gesprochen wird.

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1. Kap.: Einfluß des Zivilrechts

substituiert, welches nunmehr als Grundlage von Obhutspflichten herangezogen wird3l • Mit einer ausschließlich formellen Pfiichtbestimmung läßt sich die notwendige materiell-strafrechtliche Legitimation von Garantenpflichten nicht leisten32 • Überdies kann der bloße Verweis auf Gesetz oder Vertrag wegen seiner Allgemeinheit und Undifferenziertheit allein nicht weiterführen33 , da er die entscheidende Frage, welche vertraglichen oder gesetzlichen Pflichten im Strafrecht Bedeutung erlangen können, unbeantwortet läßt. Auf der anderen Seite ist die Ersetzung des Vertragskriteriums durch die faktische Übernahme ein Beleg dafür, daß die formale Rechtsquellenlehre zu eng sein kann. Schutz- und Sicherungspfiichten können durchaus auch außerhalb eines Vertrags angenommen werden34 • 2. Materiale dualistische Konzeption: Obhuts- und Sicherungspjlichten Nach dem immer noch weit verbreiteten materialen dualistischen Ansatz sind die Garantenpfiichten nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung zu bestimmen. Danach werden Schutz- oder Obhutspfiichten, die gegenüber einem Rechtsgut bestehen, von Pflichten unterschieden, die der Überwachung beziehungsweise Sicherung einer Gefahrenquelle dienen3s • Da sich die der Garantenpfiicht zugrunde liegende Garan31 BGHSt 32,367 (374f.); OLG Celle, NIW 1961, S.1939; noch auf den Vertrag abstellend dagegen BGHSt 5, 187 (190). Kritisch zur Verdrängung des Vertrags aspekts zugunsten einer faktischen Übernahme von Schutzpflichten Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, § 15 Rdnr.63. 32 Vgl. etwa Henkel, MschKrim 1961, S.178 (184f.); Köhler, Strafrecht, 4/14; Vogel, Norm und Pflicht, S. 338. 33 V gl. nur Gallas, in: Studien, S.67 (76). Die Unzulänglichkeit einer formellen Garantenpflichtbegründung, die lediglich auf eine - wie auch immer geartete - Vertragspflicht Bezug nimmt, kann an zwei Beispielen aus der Rechtsprechung verdeutlicht werden. So hielt der Bundesgerichtshof einen Arbeitnehmer für verpflichtet, einen im Betrieb geplanten Diebstahl zu verhindern, obwohl eine nähere Verbindung des Arbeitnehmers zu den betroffenen Rechtsgütern nicht bestand (vgl. BGHSt 5, 187 [190]; siehe auch BGHSt 2, 325 [326]; zur Kritik Gallas, in: Studien, S. 67 [84f.]; Welzel, Strafrecht, S. 215; Stree, FS H. Mayer, S. 145 [163f.]; LKlJescheck, § 13 Rdnr. 25; SK/Rudolphi, § 13 Rdnr.57). In einer anderen Entscheidung leitete der Bundesgerichtshof die Pflicht, einen Brand des eigenen Wohnhauses zu löschen, aus dem Versicherungsvertrag her (BGH MDR/D 1951, S. 144f.; siehe auch schon RGSt 64, 273 [277]), durch den dem Versicherungsnehmer aber kaum der Schutz der Allgemeinheit vor Brandgefahren übertragen wird. Auch die pauschale Berufung auf solidarische Pflichten - das sind hier solche, die sich aus dem Gedanken der Gemeinschaft der Versicherungsnehmer ergeben (siehe BGH MDR/D 1951, S. 144 [145] "Gefahrengemeinschaft") - kann eine entsprechende Garantenpflicht nicht begründen (kritisch auch Brammsen, Entstehungsvoraussetzungen, S. 217 f.; S/S/Stree, § 13 Rdnr. 43). Zur Abgrenzung rechtlicher von moralischen Pflichten, die § 13 I StGB ausdrücklich verlangt, siehe noch § 2 und § 3 IV 2 des zweiten Kapitels. 34 Vgl. nur Blei, FS H. Mayer, S.119 (121 f.); Stree, FS H. Mayer, S.145 (150ff.). 3S Siehe Kühl, Strafrecht, § 18 Rdnr. 44 f.; LKlJescheck, § 13 Rdnr. 20 ff. , 30ff.; S/S/Stree, § 13 Rdnr.9; SK/Rudolphi, § 13 Rdnr. 26ff., 46ff.; Schmidhäuser, Strafrecht, 16/41 ff., 48 ff. Die Differenzierung geht zurück auf Arm. Kaufmann, Dogmatik, S.283. Wie oben gezeigt wurde

§ 2 Strafrechtliche Konzeptionen

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tenstellung an der Funktion orientiert, die der Betroffene zu erfüllen hat, mithin einer Schutz- oder Sicherungsfunktion zuzuordnen ist, spricht man insoweit auch von der sogenannten Funktionenlehre36 • Auf der Grundlage dieser Einteilung hat hauptsächlich die Literatur durch die Bildung von Fallgruppen zur systematischen Erfassung der Garantenpflichten beigetragen. Demnach können Obhutspflichten vor allem im familiären Bereich oder bei engen Lebens- und Gefahrengemeinschaften bestehen; sie können sich für Amtsträger ergeben, oder sie resultieren aus der freiwilligen Übernahme entsprechender Ptlichten37 • Überwachungsptlichten hingegen erwachsen etwa dem Ingerenten sowie demjenigen, der die Sachherrschaft über Gefahrenquellen hat und den daher die Verkehrssicherungsptlichten treffen. Außerdem können Überwachungsptlichten aus einer Übernahme folgen oder sich aus einem Aufsichtsverhältnis über Dritte ergeben 38 • Die Einordnung in Schutz- und Überwachungsptlichten einschließlich der ausgearbeiteten Fallgruppen ist nicht zu überschätzen. Allerhöchstens bietet sie eine Möglichkeit der Systematisierung und erfüllt somit eine Ordnungsaufgabe39 • Darüber hinaus besagt sie jedoch weder etwas über den eigentlichen Grund der jeweiligen Pflichten noch etwas über deren Inhalt und Umfang40 • Solange es an Klarheit über den Rechtsgrund der Garantenpflichten fehlt, lassen sich Pflichten sowohl zum Schutz eines Rechtsguts wie auch zur Sicherung einer Gefahrenquelle beinahe in einem beliebigen Ausmaß konstruieren41 • Eine klare Grenze können diese Kriterien jedenfalls nicht vorgeben. Hinzu kommt, daß die beiden Funktionen nur durch eine Umformulierung an sich identischer Aufgaben ausgetauscht werden können42 • Letzteres läßt sich an dem soeben erwähnten Beispiel des Wohnungs inhabers verdeutlichen (siehe dazu 1): Entweder stellt man dessen Schutzptlicht gegenüber einem in die Wohnung Aufgenommenen in den Vordergrund, oder man hebt seine Ptlicht hervor, die Wohnung, aus der dem Aufgenommenen Gefahren drohen können, zu über(soeben 1), argumentiert auch die Rechtsprechung zunehmend mit Sicherungs- oder Obhutspflichten. Zudem plädieren einige Vertreter der Literatur ebenfalls für eine Verbindung des formalen mit dem materialen Ansatz (vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 59 IV 2; Maurach/GösseI/Zipf, Strafrecht, § 46 Rdnr. 64; Arzt, JA 1980, S. 647 [648]). 36 Vgl. nur Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 59 IV2; Vogel, Norm und Pflicht, S. 340. 37 Siehe z.B. Kühl, Strafrecht, § 18 Rdnr.47ff.; Wessels/Beulke, Strafrecht, Rdnr. 718ff.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 59 IV 3; S/S/Stree, § 13 Rdnr. 17 ff. 38 Zur ÜberwachungsgarantensteIlung etwa Kühl, Strafrecht, § 18 Rdnr. 91 ff.; Wessels/ Beulke, Strafrecht, Rdnr.722ff.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch, § 59 IV 4; S/S/Stree, § 13 Rdnr.32ff. 39 In diesem Sinne Jakobs, Strafrecht, 29/27; Schünemann, ZStW 96 (1984), S.287 (305); Stratenwerth, Strafrecht, § 13 Rdnr. 15; ähnlich schon Vogt, ZStW 63 (1951), S. 381 (394ff.); skeptisch jedoch NK/Seelmann, § 13 Rdnr.35. 40 SieheNK/Seelmann, § 13 Rdnr. 36; Jakobs, Strafrecht, 29/27; S/S/Stree, § 13 Rdnr. 9; PawIik, Betrug, S.130f. 41 Vgl. Freund, Erfolgsdelikt, S.43; ähnlich wohlJakobs, Strafrecht, 29/27; NK/Seelmann, § 13 Rdnr. 35; Seebode, FS Spendei, S. 317 (333). 42 Jakobs, Strafrecht, 29/27; NK/Seelmann, § 13 Rdnr. 35; Vogel, Norm und Pflicht, S. 341.

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1. Kap.: Einfluß des Zivilrechts

wachen43 • Zur Konkretisierung der Schutz- und Überwachungspflichten werden schließlich weitere Gesichtspunkte herangezogen, und zwar vornehmlich die Gefahrschaffung, der Herrschaftsbereich, das Vertrauen sowie die Verhaltenserwartungen. Bei diesen Erwägungen handelt es sich zugleich um die den materialen monistischen Konzeptionen eigentümlichen Begrundungskriterien. Generell läßt sich eine Tendenz beobachten, die Schutzpflichten dem Vertrauensprinzip und die Überwachungspflichten dem Gefahrdungsprinzip zu unterstellen44 • Aber auch die Gedanken des Herrschaftsbereichs und der Verhaltenserwartungen wurden rezipierrs.

11. Materiale monistische Konzeptionen 1. GejahrschajJung

In der Gefahrschaffung sieht Arzt ein sämtlichen Garantenpflichten eigenes und außerdem übergeordnetes Kriterium. Dazu führt er aus: "In allen Garantensteilungen steckt eine rudimentäre Gefahrschaffung als Begehungselement."46 Und ferner: "Insbesondere die Ingerenz legt es nahe, den Gedanken der Gefahrschaffung als ein für alle GarantensteIlungen wesentliches Element zu begreifen [ ... ]."47 Damit bildet die Ingerenz für Arzt den Ausgangspunkt seines Konzepts und fungiert wegen ihrer Gefahrschaffungskomponente als eine Art Grundfali, an dem sich die Statuierung der übrigen Garantenpflichten auszurichten hat. Der Schwachpunkt dieses Ansatzes liegt darin, daß die sogenannten Obhutspflichten, also beispielsweise die elementaren Versorgungspflichten der Eltern gegenüber ihren Kindern, im Grunde genommen nicht integrierbar sind. So erweist sich für derartige Pflichten das Kriterium der Gefahrschaffung als wenig passend48 • Arzt rekurriert daher auch zusätzlich auf den Aspekt der Lebensgemeinschaft, der neben der Gefahrschaffung heranzuziehen sei. In den Lebensgemeinschaften, so Arzt, sei das Moment der Gefahrschaffung enthalten, soweit es um die "Enttäuschung berechtigten Vertrauens" gehe49 • In einer ähnlichen Weise argumentiert er zudem bei den üblicherweise aus Vertrag oder Übernahme abgeleiteten Garantenpflichten: Das Ge43 Demnach verwundert es nicht, wenn in der entsprechenden Entscheidung des Bundesgerichtshofs sowohl von Schutz- als auch von Sicherungspflichten die Rede ist (siehe BGHSt 30, 391 [395f.]); dazu schon oben zu 1. 44 SieheNKISeelmann, § 13 Rdnr.41; Vogel, Nonn und Pflicht, S.340. 45 Zum Herrschaftsbereich SKIRudolphi, § 13 Rdnr. 21 ff.; siehe aber auch schon dens., Gleichstellungsproblematik, S. 96 ff.; vgl. ferner TröndlelFischer, § 13 Rdnr. 12; zu den Verhaltenserwartungen MaurachIGössel/Zipf, Strafrecht, § 46 Rdnr. 77.