Zeitschrift für Sozialpsychologie: Band 5, Heft 4 1974 [Reprint 2021 ed.]
 9783112470121, 9783112470114

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C. F. G R A U M A N N KLAUS HOLZKAMP MARTIN IRLE BAND 5

1974

HEFT4

A K A D E M I S C H E VERL A G SG ES E L L S C HA FT FRAN K F U R T / M AI N V E R L A G HANS H U B E R BERN STUTTGART WIEN

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1974, Band 5, Heft 4 INHALT

Zu diesem Heft

241

THEORIE FEGER, H.: Die Erfassung individueller Einstellungsstrukturen SAUER, C.: Zur Erforschung der Gruppenextremisierung nach Diskussion

242 255

EMPIRIE RIM, Y.: Schwierigkeiten mit sozialen Gruppen

274

GAENSSLEN, H . , MAY, F . & WÖLPERT, F.: Alltäglicher R e c h t s b r u c h im

Urteil Jugendlicher

280

WENDER, I . , NEU-WEISSENFELS, R . & GROFFMANN, K . J . : D e r E i n f l u ß

von Sozialstatus des Beobachters und Verstärkungsart des Modells auf Imitationsverhalten

292

CROTT, H . W., SIMON, K . & YELIN, M . : D e r E i n f l u ß des A n s p r u c h s n i -

veaus auf den Verlauf und das Ergebnis von Verhandlungen

300

Rezension: Jones, Kanouse, Kelley, Nisbett, Valins & Weiner: Attribution: Perceiving the causes of behavior Besprechung durch B. Köhler Besprechung durch K. R. Scherer

315 324

LITERATUR Neuerscheinungen

333

Titel und Abstracta

336

AUTOREN Vorankündigungen,

Mitteilung

Gesamtinhaltsverzeichnis

337

Band 5 (1974)

341

Namens- und Sachregister Band 5 (1974)

343

Copyright 1974 by Akademische Verlagsgesellschaft Frankfurt und Verlag Hans Huber Bern Stuttgart Wien Satz und Druck: Druckerei Heinz Arm Bern Printed in Switzerland Library of Congress Catalog Card Number 78 -126626 Die Zeitschrift für Sozialpsychologie wird im Social Sciences Citation Index (SSCI) erfaßt.

241

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1974, 5

Zu diesem Heft Seit Gründung dieser Zeitschrift ist es für die Herausgabe selbstverständlich, Kurzfassungen sozialpsychologischer Diplomarbeiten aufzunehmen, weil der Entstehungszusammenhang eines angebotenen Beitrages unter den AuswahlKriterien nicht enthalten ist. Erstmals kann in diesem Heft ein übergewichtig theoretischer Beitrag vorgestellt werden, der aus einer Diplomarbeit hervorgegangen ist Verständlicherweise haben Diplomanden als Mitarbeiter an Projekten einer großen Forschungs-Organisation höhere Chancen, publikationsreife Arbeiten zu produzieren. Den Herausgebern bereitet es Unbehagen, daß sozialpsychologische ErstlingsPublikationen in dieser Zeitschrift übergewichtig aus einer solchen Forschungs-Organisation stammen. Sie möchten junge Kollegen, die eine solche Chance nicht genießen, nachdrücklich ermutigen, auch ihrerseits einen Versuch zu wagen. In jüngerer Zeit genießt die AttributionsTheorie zunehmend Aufmerksamkeit. Es mag sein, daß manche Sozialpsychologen (vor allem in den USA) sich in ihrer empirischen Forschung dieser Theorie zugewandt haben, weil sie sich auf der Höhe der Zeit befinden möchten. U m so mehr ist es an der Zeit, das bedeutendste

1

Werk der originalen Verfechter dieser Theorie in zwei sehr gründlichen Besprechungen zu würdigen. Mit diesem Heft haben die Herausgeber versuchsweise zwei Neuerungen eingeführt. Erstens wird diesem Heft ein Personen- und Sachindex für den fünften Band der Zeitschrift beigefügt. Die Herausgeber erwarten die Reaktionen der Leser. Zweitens: Herausgeber und Verleger haben mehrfach beraten, ob sie regelmäßig Nachrichten und Mitteilungen aus der Profession in diese Zeitschrift aufnehmen wollen. Aus verschiedenen Gründen wurde bisher hiervon abgesehen. Nachrichten aus der Psychologie beziehungsweise Soziologie finden sich regelmäßig in zwei anderen Zeitschriften. Ohne ein Instrument der Nachrichtensuche lassen sich spezifische Informationen aus der Sozialpsychologie schwerlich in vollständiger Form präsentieren. Dieses Heft enthält erstmals eine Mitteilung und zwar über ein herausragendes Ereignis zur Verbesserung der Infrastruktur sozialwissenschaftlicher Forschung. Ähnliche Ereignisse können die Herausgeber veranlassen, diese Sparte «Mit- H H teilungen» in unregelmäßiger Weise fort- ^ ^ ^ zuführen. Martin Irle 1

Die Kurzfassung der Diplomarbeit befindet sich in einer befreundeten Zeitschrift: Lamm, H. & Sauer, C. 1974. Discussion-induced shift toward higher demands in negotiation. European Journal of Social Psychology 4, 85-88.

Feger: Erfassung individueller Einstellungsstrukturen

242

Theorie Die Erfassung individueller Einstellungsstrukturen H U B E R T FEGER

Institut für Psychologie der RWTH Aachen

Die Notwendigkeit eines Verfahrens zur Erfassung einer individuellen Einstellungsstruktur wird begründet. Das vorgestellte Verfahren ermöglicht die Darstellung der Orientierung einer Person gegenüber mehreren sozialen Objekten, ohne daß empirische Informationen von anderen Vpn als der gemessenen verwendet werden. Die Auswertung bedient sich eines mehrdimensionalen nonmetrischen Skalierverfahrens. To describe the attitude structure of a group it seems necessary to analyse the attitude of every single individual first and then to aggregate. It is therefore necessary to have a procedure to describe the attitude of a single subject towards several social objects. Such a procedure is introduced which uses a multidimensional nonmetric scaling technique. The empirical information used is obtained only from the subject to be measured and thus not confoundable by information from other subjects.

Inzwischen gibt es so zahlreiche Verfahren zur Einstellungsmessung, daß es einer besonderen Begründung bedarf, wenn ein weiteres Verfahren vorgestellt werden soll. Im ersten Teil soll versucht werden, diese Begründung zu geben. Aus der Begründung lassen sich dann die Anforderungen ableiten, die wir an eine Technik zur Erfassung individueller Einstellungsstrukturen stellen sollten. In einem Vergleich mit bereits bekannten Verfahren prüfen wir dann, ob diese Anforderungen nicht schon in diesen anderen Verfahren erfüllt werden. Es folgt eine Darstellung der Grundzüge unserer Methode mit einem Beispiel. Schließlich sollen in den Abschnitten «Kritik» und «Diskussion» Vor- und Nachteile der neuen Methode herausgearbeitet und auf verschiedene Anwendungsbereiche hingewiesen werden. Gründe, die zur Entwicklung der neuen Technik führten H A R T M A N N & W A K E N H U T ( 1 9 7 2 ) haben eine Arbeit mit dem Titel «Zur Dimensionalität gesellschaftlich-politischer Attitüden bei unter-

schiedlichen Gruppen» veröffentlicht. Beispielsweise für Studenten, Geistliche beider Konfessionen und Polizisten, aber auch für ihre Gesamtstichprobe von 811 Vpn bestimmten sie die Art und Anzahl der Faktoren, auf die sich Einstellungen zu Bereichen wie Strafrechtsreform, Kommunismus, Kirche etc. reduzieren ließen. Sie griffen damit eine Thematik auf, die in der Einstellungsforschung eine längere Geschichte hat und ihre Parallele in der Diskussion findet, die innerhalb der Intelligenzforschung über die Existenz eines Generalfaktors geführt wurde. Wie andere Forscher vor ihnen erhoben H A R T M A N N & W A K E N H U T mit Hilfe von Likertskalen bei jeder Vp die Einstellung zu 13 gesellschaftlich relevanten oder aktuellen Bereichen und korrelierten über alle Vpn, so daß sich eine Matrix von 78 Korrelationen ergab, die dann faktorisiert wurde. Die resultierende Faktorenstruktur wird als «Beschreibungssystem für die Strukturierung sozialer Attitüden» (p. 112) gedeutet und in einer bewußt pointiert formulierten Rahmenhypothese als kognitives System bezeichnet; es «steuert offenbar die Kog-

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nitionen von Zusammenhängen sozialer Sachverhalte... oder konstituiert überhaupt erst solche Zusammenhänge.» (p. 113) Abgesehen von der Kritik, die m. E. an der Verwendung der Faktorenanalyse - etwa anstelle eines Verfahrens der multidimensionalen Skalierung - vorzubringen wäre, bereitet mir der gesamte Forschungsansatz in dieser Form, der auf Arbeiten FERGUSONS und EYSENCKS in den vierziger Jahren zurückgeht, eine grundsätzliche Schwierigkeit. Was ist die Einstellungsstruktur einer Gruppe? Zwar kann man sich vorstellen, daß die Zugehörigkeit einzelner Individuen zu einer sozialen Gruppe und damit ein partiell gemeinsames Sozialisationsschicksal zu Übereinstimmungen in den Einstellungsstrukturen der einzelnen Personen führt - aber es sind doch stets Einstellungen einzelner Individuen. Will man von Gruppenstrukturen sprechen, so muß in irgendeiner Form zusammengefaßt, aggregiert, werden. Die Form, in der bisher in dieser Forschungstradition aggregiert wurde, erscheint mir schwer zu rechtfertigen. Da «Einstellung» ein theoretisches Konstrukt ist, das sich auf Zustände und Prozesse einer einzelnen Person bezieht, sollte zunächst die Einstellungsstruktur jedes Individuums erfaßt und dann erst aggregiert werden. Tut man dies nicht, so kann es zu groben Fehlaussagen über die Gruppenstruktur kommen - eine Analogie aus der Lernforschung ist bekannt, wo aus der Gruppenlernkurve nicht unbedingt auf die Form der Individualkurven geschlossen werden kann. Bei Einstellungsstrukturen scheint insbesondere die Frage der Dimensionalität berührt. Wäre z. B. für jede Vp die Einstellungsstruktur eindimensional, jedoch von Vp zu Vp verschieden, so könnte eine mehrdimensionale Gruppenstruktur resultieren. Nicht nur in der Einstellungsforschung werden Individualkonstrukte bei der statistischen Datananalyse so behandelt, als seien sie Gruppenkonstrukte (wie Interaktion oder Kommunikation). Aus der großen Zahl sozialpsychologischer Beispiele sei nur noch eines erwähnt: die kognitive Dissonanz, die zweifellos als ein Zustand des kognitiven Systems einer einzelnen Person konzipiert wurde; aber seit der klassi-

schen Untersuchung von FESTINGER & CARLSMITH (1959) werden Hypothesen durchgängig in Form von Gruppenmittelwertvergleichen o. ä. überprüft. Geht man davon aus, daß Hypothesen, die auf Individualkonstrukten basieren, empirisch so zu prüfen sind, daß die Analyseebene die einzelne Vp ist und dann erst die Verallgemeinerungsfähigkeit der Ergebnisse durch Zusammenfassung über mehrere Vpn erfolgen sollte, so muß ein Verfahren zur Erfassung individueller Strukturen vorliegen. Anforderungen zur Erfassung turen

an ein Verfahren individueller Einstellungsstruk-

Drei Anforderungen an das gesuchte Verfahren scheinen notwendig: (1) es soll die Einstellung einer einzelnen Person zuverlässig und gültig erfassen; (2) es soll dies auf mindestens Intervallskalenniveau geschehen; und (3) es soll die Struktur ermittelt werden. Diese Anforderungen seien nun erläutert. Wenn wir die Einstellung eines Individuums bestimmen wollen, so gilt auch hier, daß das Meßverfahren und das zugrundeliegende Modell so wenig a priori festlegen sollen wie möglich. So nehmen fast alle klassischen Verfahren, z . B . d i e v o n THURSTONE, LIKERT u n d GUTTMAN,

an, daß die Orientierung verschiedener Vpn gegenüber einem Einstellungsobjekt nur auf einer Dimension interessiert, und zwar der Pro-contra-Dimension. Man hat sich nicht nur daran gewöhnt, daß der Vp vom Skalenkonstrukteur Art und Anzahl der Einstellungsdimensionen gewissermaßen aufgezwungen werden, vielmehr werden häufig auch die Items vorgegeben und wie in THURSTONES Verfahren - die Lage der Items im kognitiven Raum durch eine Art Eichstichprobe von Beurteilern festgelegt. Jede von außen herangetragene Festlegung, sei es eine oft implizite theoretische Annahme des Meßmodelles, sei es eine empirische Bestimmung durch andere Personen als die zu messende, stellt eine Gefahrenquelle für eine zutreffende und präzise Abbildung der Einstellung eines bestimmten einzelnen Individuums dar. Man wird nicht ohne einige - möglichst schwache - theore-

244 tische Festlegungen durch ein Meßmodell auskommen, jedoch ist für die Erfassung der individuellen Einstellungsstruktur als Ideal anzustreben, ausschließlich Daten zu berücksichtigen, die von der zu messenden Person stammen. Zweitens suchen wir ein Modell, das Messungen bereitstellt, deren Intervallskalendignität prüfbar ist. Auch in der Einstellungsforschung liegen inzwischen Theorien vor, die zu exakten Vorhersagen führen, welche nur noch mit Messungen prüfbar sind, die Intervallskalenniveau aufweisen. Erinnert sei lediglich an die Forschungen über die Art des funktionalen Zusammenhangs zwischen Einstellungsänderung einerseits und der Diskrepanz zwischen der Meinung der Einflußquelle und des Rezipienten andererseits. Die Form dieser Funktion wird von SHERIF & HOVLAND (1961) als U-förmig, einen Bumerang-Effekt einschließend, angegeben. Die Form der Funktion kann durch Rangdaten nicht geprüft werden. Schließlich fordern wir von dem gesuchten Verfahren, daß es in der Lage sein sollte, nicht nur die Einstellung einer Person zu einem Einstellungsobjekt, sondern zu mehreren sozialen Objekten gleichzeitig zu erfassen, wobei die Struktur der kognitiven, affektiven und intentionalen Orientierungen der Person zu allen untersuchten sozialen Objekten deutlich werden sollte. Dabei nehmen wir mit DAWES (1972, p. 148) die Existenz von Struktur allgemein dann an, wenn nicht alle logisch möglichen, sondern nur eine begrenzte Anzahl von Beziehungen zwischen Elementen eines Systems realisiert sind. Die Abbildung der Struktur ist nicht nur ökonomisch und für einige inhaltliche Fragestellungen - wie etwa die von HARTMANN & W A KENHUT - erforderlich. Sie scheint auch notwendig zu sein, wenn Intervallskalenniveau angestrebt wird, denn jedes Skaliermodell, das auf /

Intervallskalenniveau prüfbare Messungen liefert, benötigt Meßwiederholungen. Diese Replikationen können nicht am gleichen Einstellungsobjekt gewonnen werden, denn die Vp erinnert sich wenigstens zum Teil an ihre Reaktionen.

Feger: Erfassung individueller Einstellungsstrukturen

Vergleich mit bekannten

Verfahren

Werden diese Anforderungen nicht durch bereits vorliegende Verfahren erfüllt, insbesondere durch Methoden, die mehr oder minder deutlich diesen Anspruch erheben? Es sind dies u. a. das Semantische Differential, KERLINGERS Q Sortierung und Techniken der multidimensionalen Skalierung, die interindividuelle Unterschiede berücksichtigen. Bei der Diskussion dieser Verfahren läßt sich auch der Zweck des von uns gesuchten Verfahrens weiter klären. Für die Technik des Polaritätsprofiles betont DAWES (1972, p. 97): "One particular strength of the technique ist that it can be used intraindividually; that is, a semantic space can be constructed separately for each individual to represent the ways he views the concepts he rates; there is no need to collect observations from a number of people and then pool these observations in some way..." DAWES führt dann die bekannte Untersuchung von OSGOOD & LuRIA (1954) an, in der Art und Verlauf einer Geisteskrankheit aus den Einschätzungen auf einem semantischen Differential zutreffend diagnostiziert wurden. In dieser wie in anderen Arbeiten wird jedoch von einer bekannten und an anderen Vpn ermittelten konstanten Dimensionalität des semantischen Raumes ausgegangen. Im übrigen werden alle Annahmen eines linearen faktoranalytischen Modelles meist ungeprüft übernommen. Das zugrundeliegende Meßmodell wird also nicht expliziert und geprüft. Erst kürzlich kamen GRIMM, LÜCK & TIMAEUS (1973, p. 547) zu dem Schluß: «Die ,wahre' Position eines Gegenstandes im Raum der Konnotationen läßt sich nur dann ermitteln, wenn eine Polaritätenliste zur Anwendung gelangt, die sich durch einen engen Problembezug bei gleichzeitiger dimensionaler Ausgewogenheit auszeichnet. Im Einzelfall dürfte dies - allein wegen des Forschungsaufwandes — sehr schwer zu verwirklichen sein.» Diese Ausführungen beziehen sich auf ein Vorgehen, das mit Vpn-Stichproben arbeiten kann. Sie gelten in verstärktem Maße, wenn alle Messungen an nur einer Vp vorzunehmen sind.

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hat sich mit der Erfassung individueller Einstellungsstrukturen schon früh und nachhaltig befaßt. In seiner Arbeit "The attitude structure of the individual" (1956) verwendet er das Q-sort Verjähren nach STEPHENSON, bei dem eine Vp gebeten wird, auf Karten gedruckte Einstellungsitems in 11 Stapel zu ordnen. In Stapel 1 sollen die Aussagen sortiert werden, denen die Vp am stärksten zustimmt, in Stapel 11 diejenigen, welche die Vp am stärksten ablehnt. Der Vp wird vorgeschrieben, wieviel Karten sie in jeden Stapel einzuordnen hat; diese Verteilung der Anzahlen nähert sich einer Normalverteilung an. Jedem Item wird als Meßwert die Zahl zugeordnet, die die Kennummer des Stapels ist. Intervallskalenniveau der Meßwerte ist durch dieses Vorgehen nicht gesichert und auch nicht prüfbar. Die weiteren varianzund faktorenanalytischen Auswertungen, die KERLINGER vornimmt, verstoßen gegen einige statistische Anforderungen, besonders solche, die leicht verletzt werden, wenn alle Daten Meßwiederholungen an nur einer Vp sind. Am ehesten scheint das gesuchte Verfahren bei den neueren Methoden auffindbar zu sein, in denen interindividuelle Unterschiede berücksichtigt werden, etwa bei den ein- oder mehrdimensionalen Varianten von COOMBS Entfaltungstechnik oder in der Anwendung der RASCHSkalierung auf die Einstellungsmessung, wie sie | 1 WAKENHUT ( 1 9 7 2 ) kürzlich probeweise vorgenommen hat. Die Zahl der Vpn., die wegen Modellunverträglichkeit «ausgeschieden» werden müssen, scheint bei beiden Ansätzen jedoch recht groß zu sein. Vielversprechend sind die Modelle in der nonmetrischen multidimensionalen Skalierung, die für jede Vp einen oder mehrere Werte liefern, um interindividuelle Unterschiede im kognitiven Raum oder bei Präferenzen abzubilden. Allerdings liegen mit diesen Modellen noch kaum publizierte Erfahrungen vor; uns ist für das Gebiet der Einstellungsforschung nur eine größere Studie von WISH,'/ DEUTSCH & BIENER ( 1 9 7 2 ) bekannt, in der mit dem INDSCAL-Modell gearbeitet wird. Diese Untersuchung sei daher - freilich nur sehr kurz skizziert. KERLINGER

245

Das dem INDSCAL-Programm zugrundeliegende Modell geht auf eine Arbeit von CARROLL & CHANG ( 1 9 7 0 ) zurück. Die Eingabedaten bestehen aus Matrizen von Ähnlichkeitsmaßen, und zwar eine Matrix je Vp. Wie auch sonst bei der multidimensionalen Skalierung wird angenommen, daß eine — hier monotone - Beziehung zwischen den Ähnlichkeitsmaßen und Distanzen in einem latenten psychologischen Raum bestehen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Verfahren ist es jedoch mit INDSCAL möglich, für jede Vp Gewichte zu berechnen, welche die Bedeutung ausdrücken, die jede Dimension des psychologischen Raumes für jede Vp hat. Diese Dimensionsgewichte legen fest, wie sehr für eine bestimmte Vp jede Dimension gestreckt werden sollte, damit die Distanzen zwischen den Reizen im psychologischen Raum so hoch wie möglich mit den Ähnlichkeitsmaßen dieser Vp korrelieren. Das Programm bestimmt die Koordinaten der «Reize» - in dieser Untersuchung Namen von Völkern (im Rahmen der Vorurteilsforschung) — und zwar in einem «group space», also einem psychologischen Raum für alle Vpn, und weiter bestimmt das Programm die Gewichte für die Vpn. Es wird also angenommen, die Vpn benutzten gemeinsame Dimensionen, wenn auch von Vp zu Vp in unterschiedlichem Ausmaß. Im Exremfall benutzt eine Vp eine oder alle Dimensionen nicht, ihre Gewichte für die nicht benutzten Dimensionen wären dann Null und die Vp könnte somit ganz oder teilweise nicht berücksichtigt werden. Hier sind die für uns interessanten Grenzen dieses Verfahrens angedeutet; ob und in welchem Umfang sie praktisch relevant werden, ist eine empirische Frage, zu der wir erste Information aus der Untersuchung von WISH et al. erhalten. An der Studie nahmen 90 Vpn, Studenten aus verschiedenen Ländern, teil. Sie beurteilten mit paarweisen Ähnlichkeitseinschätzungen 21 Nationen. Ergebnis: «Vier Dimensionen erfaßten 41 % der Varianz in den Daten aller Vpn. (Mit anderen Worten, 41 % war der durchschnittliche Varianzbetrag, der in der Matrix einer einzelnen Vp erklärt wurde.)» (WISH et al., p. 297). Dieses Ergebnis ist alles andere als be-

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friedigend. Schon die Anzahl der Dimensionen muß als hoch bezeichnet werden, es liegen also pro Vp vier Personenparameter vor; dennoch wird bei der Hälfte der Vpn weniger als 41 % der Varianz in ihrer Ähnlichkeitsmatrix erklärt. Es muß eine - leider nicht berichtete - Anzahl von Vpn geben, deren kognitive Struktur durch dieses Modell völlig unzulänglich erfaßt wurde. Doch liegt der Vorteil dieses Modelles eben darin, daß solche Sachverhalte nicht verwischt werden. Grundzüge eines Verfahrens zur Erfassung individueller Einstellungsstrukturen Das Verfahren sei an einem Beispiel dargestellt, mit dem wir erste praktische Erfahrungen gewonnen haben. Uns interessierte die Struktur der Einstellung zu den Parteien NPD, CSU, CDU, FDP, SPD, DKP. Wir glauben davon ausgehen zu können, daß erwachsene Vpn in der Regel gegenüber diesen Parteien relativ feste Einstellungen entwickelt haben und eine Einstellungsbildung nicht erst oder zu einem wesentlichen Teil während des Erhebungsprozesses stattfindet. Zu den sechs sozialen Objekten, den Parteien, treten nun Aussagen, zufällig auch sechs, die den Kategorien LIKERTS ähneln. Wir verwandten folgende Kategorien: außerordentlich fern (af), sehr fern (sf), fern (f), nahe (n), sehr nahe (sn), außerordentlich nahe (an). Die Vp bekam nun auf Karten gedruckte Sätze vorgelegt von der Form: «Ich stehe der Partei x sehr fern», wobei jede Partei mit jeder Kategorie verbunden wurde, so daß sich 6 x 6 = 36 Aussagen der erwähnten Art ergaben. In randomisierter Reihenfolge wurde jeder Vp im Einzelexperiment alle Paare von Aussagen, das sind 630 Paarvergleiche insgesamt, mit folgender Instruktion vorgelegt: «Was trifft eher zu, daß Ihre Einstellung durch die Feststellung A oder durch B wiedergegeben wird?» Die Vp wählte also von den zweien die Aussage, die ihre Einstellung zutreffender beschrieb. Die Daten las-

Feger: Erfassung individueller Einstellungsstrukturen

sen sich als eine spiegelsymmetrische RohdatenMatrix der Form schreiben: NPD af sf . . . an

CSU af

DKP an

N P D af sf

DKP .

an

in die wir eine 1 eintragen, wenn die Zeilenaussage beim Vergleich mit der Spaltenaussage als zutreffender bezeichnet wird, sonst eine Null. Diese Datenmatrix kann in sehr verschiedener Weise ausgewertet werden, die Datenstruktur muß also zunächst durch ein Meßmodell interpretiert werden. Wir nehmen folgendes an: Im psychologischen Raum wird jedes soziale Objekt durch einen Punkt abgebildet, der die Einstellung der Vp zu diesem Objekt angibt. Ferner befindet sich im gleichen subjektiven Raum für jede Kategorie ein Punkt. Die Punkte für Kategorien drücken Grade positiver oder negativer Einstellung aus, und zwar für alle sozialen Objekte einer speziellen Versuchsdurchführung in der gleichen Weise. Somit wird angenommen, man könne etwa bestehende Kontexteffekte zwischen sozialen Objekten und Kategorien vernachlässigen; beispielsweise sei die Bedeutung der Aussage «Ich stehe x sehr fern» stets gleichbedeutend, ob für x nun CDU oder DKP eingesetzt wird. Jede der Vp vorgelegte Feststellung bezieht sich auf ein soziales Objekt und gleichzeitig auf eine Kategorie; Objekt und Kategorie werden durch je einen Punkt im psychologischen Raum repräsentiert. Zwischen diesen Punkten besteht eine Entfernung, eine Distanz. Dann interpretieren wir das Wahlverhalten einer Vp: Wählt die Vp Feststellung A, so ist diese Distanz kürzer als die Distanz zwischen den Punkten, durch die Feststellung B wiedergebbar ist. Dies sei an einem Beispiel und einem zweidimensionalen Schaubild erklärt. Die Vp habe zu wählen zwischen Feststellung A: «Ich stehe der FDP nahe» und Feststellung B: «Ich stehe der NPD außerordentlich nahe». Die Ein-

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stellungsstruktur sei für diese Vp so, wie in der Abbildung 1 skizziert:

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«10

6 DKP

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Abb 2: Lösung für Vp 2

Wesentlich für die Interpretation ist die Konfiguration der Punkte, die Achsen sind sekundär. Die Parteien sind fast halbkreisförmig um die Kategorien gelagert. DKP und FDP sowie CDU und CSU weisen für Vp 2 eine gewisse Ähnlichkeit auf, diametral entgegengesetzt sind NPD einerseits, DKP und SPD andererseits; das gilt auch für DKP einerseits und CDU, CSU und auch NPD andererseits. Will man die Achsen nach orthogonaler Rotation interpretieren, so lassen sich die Parteien in folgender Ordnung von links nach rechts auf die Horizontale projizieren: DKP, SPD, FDP, CDU, CSU, NPD. Die Interpretationen dieser Achse als die «Progressivitäts-Konservativitäts»- oder «RechtsLinks»-Dimension erscheint plausibel. Die Vertikale ist schwieriger zu deuten. Die extremen

Parteien liegen oben, unten die gemäßigten Parteien, doch paßt die FDP nicht in dieses Bild. Auch die Gruppierung nach großen gegenüber mitgliederschwachen Parteien ist nicht völlig überzeugend. Eine stimmige Deutung wird von der Vp weitere Informationen benötigen, die nach dieser Skalierung gezielt erfragt werden kann, und zwar über die Gesichtspunkte, nach denen die Vp Gemeinsamkeiten zwischen F D P und DKP, weniger jedoch zwischen diesen beiden Parteien und der SPD beurteilt. Die Kategorien bilden zwei Dreiergruppen; alle Kategorien, die eine positive Orientierung ausdrücken, liegen eng beieinander. Das Gleiche gilt für die Kategorien, die eine negative Einstellung wiedergeben. Die Tendenz dieser Vp, die Kategorien dichotom und nicht als etwa

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gleich große Abschnitte auf einer Schätzskala zu gebrauchen, ist nicht zu übersehen. Die Distanz zwischen «außerordentlich fern» und «fern» beträgt nur etwa ein Viertel der Distanz zwischen «fern» und «nah». Will man aufgrund dieser Lösung den Grad der positiven oder negativen Einstellung zu jeder einzelnen Partei bestimmen, so bieten sich mehrere Möglichkeiten an. Man kann von einer Kategorie, z. B. «außerordentlich nahe», ausgehen und kommt dann zu der Feststellung, daß Vp 2 die FDP am stärksten vorzieht, dann die SPD und nur wenig schwächer die DKP. Es folgen CDU, CSU und mit großem Abstand NPD. Man kann auch die Kategorie bestimmen, die einer Partei am nächsten liegt usw... Erwähnenswert scheint mir noch, daß die KategorienPunkte nicht unbedingt auf einer Linie liegen müssen. Zwar ist das theoretische Präferenzkonzept eindimensional - man ist, in unterschiedlichen Stärkegraden, für oder gegen etwas. Aber mit den sprachlichen Begriffen sind vielleicht nicht nur Abstufungen auf der pro-contraDimension assoziiert, sondern auch unterschiedliche Werte auf anderen Dimensionen - wenn z. B. das Adjektiv «außerordentlich» als übertriebene Kennzeichnung einer Einstellung empfunden würde. Als Vergleich seien die Ergebnisse der Vp 1 referiert. Hier die Häufigkeitsmatrix:

af sf f n sn an

NPD

CSU

CDU

FDP

SPD

DKP

28 28 23 11 7 6

10 16 23 21 19 13

5 10 16 32 31 24

6 11 19 25 27 19

18 26 29 19 9 4

34 31 27 2 1 0

Beim gleichen Auswertungsmodus ergab sich wiederum die zweidimensionale Lösung mit einem Streß von 0,02 als optimal. Sie ist in Abb. 3 wiedergegeben. Schon auf den ersten Blick sieht man die Andersartigkeit dieser Einstellungsstruktur - trotz gleicher Dimensionalität. Für die Kategorien läßt sich feststellen, daß diese Vp die Intensitätsabstufungen ausgeprägter und konsistenter benutzt, wenn auch hier

das bei weitem größte Intervall zwischen den Kategorien «fern» und «nahe» liegt. Mit aller Vorsicht, die erforderlich ist, wenn man sich für die Interpretation auf nur sechs Punkte stützen kann, sei die Vermutung ausgesprochen, daß für Vp 1 bei der Beurteilung dieser Parteien die Richtungsdimension (fern - nahe) eine gewisse Unabhängigkeit von der Intensitätsdimension (außerordentlich - sehr - ohne Adjektiv) aufweist. Auffällig verschieden ist die Anordnung der Parteien; die Vp steht der CDU am nächsten, wenn auch eher «nahe» als «außerordentlich nahe», es folgen FDP, CSU, SPD, NPD und DKP. Welche Gesichtspunkte zu dieser Reihenfolge geführt haben, kann man nur vermuten. Möglicherweise lehnt diese gemäßigt konservative Vp Extreme ab, dabei linke Extreme stärker als rechte. Übrigens ließ sich auch in der dreidimensionalen Lösung keine Konfiguration erkennen, die der «Rechts-Links»-Dimension der Vp 2 vergleichbar gewesen wäre. (Sollte diese Dimension eine latente Dimension im CooMBSschen Sinne sein, so könnte die Rangfolge bei Vp 1 als gefaltete Skala gelten.) KRITIK

Zu den großen Schwierigkeiten, die uns das Verfahren noch bereitet, gehört die lange Dauer der Erhebung; unsere Vpn benötigten im Durchschnitt 2-3 Stunden einschließlich der Pausen. Eine so lange Zeit ist für viele Fragestellungen, zu deren Untersuchung das Verfahren helfen könnte, eindeutig zu lang. Wir sehen mehrere Möglichkeiten, die Erhebungszeit zu verkürzen. Im Augenblick arbeiten wir an einer vollprogrammierten Darbietung mit automatischer Registrierung. Aus der Verhaltensbeobachtung ging hervor, daß ein beachtlicher Teil der Zeit benötigt wurde, um zwischen Aussagen zu wählen, die nach Meinung der Vp beide nicht eine auch nur halbwegs zutreffende Beschreibung ihrer Haltung darstellten. Einige Vpn äußerten, beide Feststellungen träfen in gleicher Weise nicht zu. Man könnte vorsehen, nach einer gewissen Zeit die Darbietung abzubrechen und in diesen Fällen den Wert V2 in die Rohdaten-Matrix zu schreiben.

250

Feger: Erfassung individueller Einstellungsstrukturen

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-«2 •96 -100

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20

-TO

A b b 3: Lösung für V p 1

Andererseits ist der Zeitaufwand für die Erhebung gewiß nicht beliebig stark zu reduzieren. Wenn man die Einstellung beispielsweise zu sechs Parteien mit 6 Likert-Skalen ä 25 Items erheben will, braucht man dafür nach unseren Erfahrungen auch schon mehr als eine Stunde. Ein gewisser Zeitaufwand scheint notwendig zu sein, will man über viele Replikationen zuverlässige Ergebnisse erhalten. Schließlich war es besonders die fehlende Reliabilität ihrer Daten, auf die WISH et al. (1972) den relativ geringen Anteil an Varianzerfassung bei ihrer Untersuchung mit dem INDSCAL-Programm zurückführten. U. E. muß der Reliabilitätsfrage in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit zugewendet werden, weil durch unzuverlässige

Daten zusätzliche, nämlich Fehler-Dimensionen auftauchen können und somit eine wesentliche Information über die Einstellungsstruktur, ihre Dimensionalität, nicht eindeutig gegeben werden kann. Man könnte befürchten, daß eine Vp durch die Art der Aufgabenstellung und durch die Dauer des Erhebungsvorganges überfordert und der Wert der Daten deshalb vermindert wäre. Es scheint geboten zu prüfen, ob eine denkbare Uberforderung sich auf die Daten auswirkt, etwa indem die Daten so inkonsistent werden, daß man sie als Zufallsprodukte ansehen könnte, oder indem die Daten den üblichen Reliabilitätsansprüchen nicht genügen. Um zu prüfen, ob eine Vp in sich stimmig, konsistent geurteilt

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hat, steht uns KENDALLS (1948) Konsistenzkoeffizient £ zur Verfügung. Völlige Konsistenz können wir nicht erwarten, da einige Distanzen zwischen den Punkten durchaus gleich sein und somit zu intransitiven Urteilen führen können; wir erwarten jedoch Werte, die nicht nur überzufällig von Null verschieden, sondern auch substantiell sind. Bisher haben wir für 17 Vpn den Konsistenzkoeffizienten berechnet, sein Mittelwert liegt bei 0,95 und ist also sehr hoch. Zur Ermittlung der Retest-Reliabilität bietet sich eine einfache Möglichkeit an. Man vergleicht die Ausgangsmatrizen einer ersten und einer zweiten Erhebung an der gleichen Vp. Die resultierenden Frequenzen lassen sich dann z. B. als cp-Koeffizient zusammenfassen. Wir haben bei 7 Vpn, an denen im Zeitintervall von etwa einer Woche eine Meßwiederholung durchgeführt wurde, ein durchschnittliches Übereinstimmungsprozent von 87 o/o erhalten. Sowohl das Ergebnis der Konsistenzprüfung als auch das Resultat der Reliabilitätsprüfung bestätigen die Befürchtung nicht, die Vpn seien überfordert gewesen und hätten Zufallsdaten geliefert. Aus einer anderen Perspektive kann an der Auswertung Kritik geübt werden, und zwar mit dem Argument, für die vorgenommene Lösung sei zu wenig Information vorhanden. Man könnte diesen Einwand folgendermaßen begründen: Bei einer multidimensionalen Skalierung mit nichtmetrischen Modellen gilt, daß eine Lösung um so eindeutiger wird, je größer das Verhältnis «Anzahl der Festlegungen für die Rangordnung» (a) zu «Anzahl der Koordinatenangaben für die zu lokalisierenden Punkte» (b) ist. Für vollständige Matrizen gilt: a = ^ 2 ) 'n

=

der Reize,

251

a

36

Schon eine dreidimensionale Lösung wäre also kritisch. Als Ergebnis dieser Kritik dürfte feststehen, daß der Forscher diesen Quotienten bei der Wahl der Anzahl der Kategorien und der Reize vor Beginn der Untersuchung berücksichtigen muß. In diesem Zusammenhang erscheint es angebracht, die Güte der Lösung nicht nur dem Streß-Maß zu entnehmen, sondern in einem Vergleich der Matrix der als Ähnlichkeitsmaße interpretierten Häufigkeiten mit den abgeleiteten Koeffizienten detaillierter zu betrachten. Die folgende Tabelle bringt die aus dem Skalierverfahren für die zweidimensionale Lösung abgeleiteten Koeffizienten für beide Vpn. Vpl af sf f n sn an

NPD

CSU

CDU

FDP

SPD

DKP

1,12 1,04 1,08 1,65 1,80 1,90

1,66 1,43 1,27 1,25 1,36 1,59

1,85 1,63 1,45 0,95 0,94 1,16

1,82 1,59 1,40 1,09 1,14 1,38

1,36 1,18 1,11 1,47 1,62 1,79

0,88 1,03 1,20 1,82 1,94 1,91

Vp 2 af sf f n sn an

NPD

CSU

CDU

FDP

SPD

DKP

0,26 0,40 0,44 1,22 1,37 1,35

0,75 0,63 0,61 1,02 1,22 1,22

1,02 0,87 0,84 0,85 1,02 1,03

1,50 1,40 1,36 0,61 0,44 0,44

1,67 1,53 1,48 0,64 0,57 0,59

1,89 1,81 1,76 1,02 0,84 0,84

b = nr, r = Anzahl der Dimensionen.

Wären beispielsweise wie in unserem Demonstrationsfall 12 Reize gegeben und eine zweidimensionale Lösung gesucht, so wäre das Verhältnis 2.75, also noch zufriedenstellend. Bei unvollständigen Matrizen wird dieses Verhältnis stets ungünstiger als bei vergleichbaren vollständigen Matrizen, im Beispielsfall gilt:

Korreliert man die Eingabedaten mit diesen abgeleiteten Werten, so ergibt sich für Vp 1 eine Produkt-Moment-Korrelation r = - 0 , 9 8 und für Vp 2 r= -0,99. Bei so günstigen Werten erübrigt sich eine weitere Analyse, welche die durchaus modellangemessenen nichtlinearen Beziehungen prüfen könnte.

252

DISKUSSION

In der abschließenden Diskussion möchten wir uns zwei Fragen zuwenden: Welche Anwendungsmöglichkeiten des Verfahrens gibt es? Und: Wie ist die geometrische Struktur, die als Lösung bei dem hier vorgeschlagenen Auswertungsweg erscheint, psychologisch zu deuten? Zunächst zu den Anwendungsmöglichkeiten. Naheliegend ist die Übertragung von der eigentlichen Einstellungsforschung auf die Analyse von Vorurteilen und Stereotypen, wenn die entsprechenden sozialen Gegebenheiten und Kategorien gewählt werden. Eine weitere Anwendung liegt im Bereich der Erforschung intra-individueller Konflikte: Wenn die wesentlichen Handlungsziele oder Alternativen bekannt sind, läßt sich durch dieses Verfahren die Struktur der Ziele und bei entsprechender Formulierung der Kategorien auch Richtung und Intensität von Motiven bestimmen. Danach können dann für jede einzelne Person Annahmen über Zusammenhänge zwischen Motivstrukturen einerseits, Konflikterleben und -verhalten andererseits geprüft werden. Noch ein anderes Forschungsgebiet der Psychologie bietet sich an: die Analyse impliziter Persönlichkeitstheorien. Nach ROSENBERG & SEDLAK (1972, p. 235 f) befaßt sich dieser Bereich mit «the traits that a person perceives as characteristic of himself and of others and the beliefs that he holds about which traits tend to go together and which do not». Wenn man aus vorangegangenen Untersuchungen bereits weiß, welche Verhaltenszüge für die implizite Persönlichkeitstheorie eines Menschen relevant sind, kann man sie in unserem Verfahren als die zu beurteilenden Sachverhalte vorgeben und die Kategorie so wählen, daß sie unterschiedliche Stärkegrade des Miteinander-Vorkommens von Verhaltenszügen ausdrücken. Die Datenanalyse führt dann zu einem Abbild der impliziten Persönlichkeitstheorie jeder einzelnen Vp, die untersucht wurde. Dann ist es also möglich, erst die Daten für jede V p einzeln zu analysieren und danach zusammenzufassen, und nicht wie in der bisherigen Forschung auch auf die-

Feger: Erfassung individueller Einstellungsstrukturen

sem Gebiet erst zu aggregieren, dann Gruppendaten zu analysieren. - Zusammenfassend läßt sich die Frage nach den Anwendungsbereichen wohl dahingehend beantworten, daß sich im Prinzip eine Vielzahl kognitiver Strukturen anbieten und eine wesentliche Grenze dort liegt, wo psychische Gegebenheiten nicht (mehr) bewußtseinfähig sind oder verbalisiert werden können. Zum Schluß noch einige Anmerkungen zu der Frage, wie denn das Ergebnis der multidimensionalen Analyse f ü r unseren Beispielsfall inhaltlich, psychologisch zu interpretieren sei. Das Verfahren stellt uns bei der hier vorgeschlagenen Auswertung eine räumliche Struktur zur Verfügung, über deren psychologische Natur folgende Überlegungen informieren könnten: Bei der Datenerhebung fallen Präferenzdaten an, denn die Vp wird gefragt, welche Aussage sie vorzieht. Wenn man jedoch unter Bezug auf die CooMBSsche Datenklassifikation (z. B. COOMBS 1964) berücksichtigt, daß von der Vp ein Vergleich verlangt wird, den man als Vergleich von zwei Punktpaaren formalisieren kann, und dann unsere Auswertung betrachtet, so ist die räumliche Struktur ein subjektiver Ähnlichkeitsraum. Je ähnlicher die Parteien untereinander, die Kategorien untereinander, sowie Parteien und Kategorien einander sind, desto näher liegen die sie darstellenden Punkte im R a u m beieinander. Die Dimensionen dieses Raumes sind diejenigen, die in die Präferenzurteile der Vp über die sozialen Objekte eingehen, sofern die Objekte sich für diese Vp überhaupt auf ihren generellen Präferenzdimensionen unterscheiden. Wegen der Art der gewählten Kategorien wird es möglich, in diesem Ähnlichkeitsraum die Stellen zu lokalisieren, die den Idealvorstellungen der V p entsprechen. Zu Parteien, die nahe dem Punkt gelegen sind, der die Kategorie «außerordentlich nahe» repräsentiert, besteht eine ausgesprochen positive Einstellung. Parteien nahe der Kategorie «außerordentlich fern» liegen bei einer Art negativem Idealpunkt. Weil wir abgestufte Kategorien verwendet haben, verfügen wir nicht nur über Richtungs-, sondern auch Intensitätsinformation. (Selbst-

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1974, 5, 242-254

verständlich können auch andere Arten von Kategorien verwendet werden, beispielsweise um die inhaltliche Interpretation des psychologischen Raumes zu erleichtern. Erwartet z.B. der Untersucher, daß eine Radikalismus-KonservatismusDimension die Präferenzen einer Vp bestimmt, so kann er seine Kategorien entsprechend dieser gezielten Hypothese formulieren. Will der Forscher nicht eine globale Einstellung erfassen, sondern die Haltung gegenüber den sozialen Objekten in vorgegebenen Hinsichten, beispielsweise zu den Parteien als Verfechtern einer bestimmten Außen-, Bildungs- oder Sicherheitspolitik, so kann er dies ebenfalls durch die Formulierung der Kategorien erreichen.) Die Wahl eines Verfahrens der multidimensionalen Skalierung besagt grundsätzlich und auch in diesem Falle nicht, der Forscher ginge von der Vorstellung aus, Menschen trügen Matrizen mit Ähnlichkeitskoeffizienten mit sich im Kopf herum. W i e D'ANDRADE et al. ( 1 9 7 2 ) be-

tonen, ist auch nicht unbedingt davon auszugehen, daß Personen «innere Abbilder» verfügbar haben, die den geometrischen Strukturen entsprechen. Die sich als Lösung ergebende geometrische Struktur ist kein Röntgenbild psychischer Zustände. Wie können dann Vpn solche Daten erzeugen, die sich erfolgreich skalieren lassen? Man darf vermuten, daß die Befragten über ein System von Meinungen verfügen, das - sofern es überhaupt bewußt wird und sprachlich artikulierbar ist - als eine begrenzte Menge von Ansichten oder Maximen beschrieben werden kann. U m bei unserem Beispiel zu bleiben, könnte eine Vp etwa folgende Ansichten haben: «Die D K P ist die Partei, die ich auf keinen Fall einer anderen vorziehe» und «Die NPD ist schlimmer als die DKP». Wenn diese Ansichten konsistent sind - was die eben erwähnten nicht wären - und sich so auf alle sozialen Objekte beziehen, daß eine durchgängige Rangordnung abgeleitet werden kann, sind die psychologischen Voraussetzungen gegeben, um zu einer geschlossenen Abbildung einer Einstellungsstruktur, auch mit Verfahren wie dem hier vorgestellten, zu gelangen.

253 LITERATUR CARROLL, J . D .

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254

ZU DIESEM BEITRAG Der vorliegende Artikel entspricht der geringfügig geänderten Fassung eines Vortrages, der auf Einladung der Psychologischen Institute der

Feger: Erfassung individueller Einstellungsstrukturen

Universitäten Göttingen und Tübingen gehalten wurde. Herrn G. Faltin danke ich für die geduldige Kooperation mit dem CDCComputer der RWTH Aachen,

5

Zeitschrift f ü r Sozialpsychologie 1974, 5, 255-273

255

Zur Erforschung der Gruppenextremisierung nach Diskussion CLAUDIUS SAUER

Sonderforschungsbereich 24 «Sozial- und Wirtschaftspsychologische Entscheidungsforschung» der Universität M a n n h e i m

Zur Erklärung der Gruppenextremisierung nach Diskussion sind bislang mehrere Einzelhypothesen entwickelt worden, deren jeweiliger Stellenwert jedoch unklar ist, d a jede in verschiedenen Untersuchungen empirisch gestützt werden konnte. Diese Unklarheit wird im wesentlichen durch die bisher geübte inadäquate F o r m der Datenanalyse verschuldet: es wird immer nur - wenn überhaupt - eine Erklärung p r o Untersuchung getestet, die Informationen, die durch die P r ü f u n g aller Hypothesen pro Datensatz gewonnen werden könnten, werden verschenkt. In dieser Arbeit werden Hypothesen zu allen bewährten Erklärungen abgeleitet und getestet. Sehr starke Stützung erhielt die "release theory", die annimmt, daß die W a h r n e h m u n g der extremsten Person die weniger extremen von H e m m u n g e n vor exponierten Entscheidungen befreit und die Ü b e r n a h m e extremerer Positionen ermöglicht. Die "informationexchange theory" u n d die Erklärung der pluralistischen Ignoranz werden mit Einschränkungen bestätigt, die ihrerseits auf die vorrangige Gültigkeit der '"release t h e o r y " hinweisen. Nicht bestätigt wurden die "leader-confidence theory" u n d die Konformitätserklärung. In order to explain discussion-induced group-extremization several single hypotheses have been developed, the weight of which, however, is vague, since each of t h e m was empirically supported in different experiments. This vagueness is mainly due to the so f a r practised inadequate m e t h o d of data-analysis: there is always only one - if a n y - explanation per experiment being tested; thus the informations which might be obtained by testing all hypotheses per set of data are wasted. In this study hypotheses to each of the heretofore verified explanations are derived and tested. Very strong evidence was f o u n d for release theory which supposes that the perception of the most extreme decision-level releases the less extreme persons f r o m their restraints f r o m exposed decisions and makes possible the acceptance of m o r e extreme positions. The information-exchange theory and the theory of pluralistic ignorance are confirmed with reservations which in their turn again point to the superior validity of the release theory. There was n o support f o r the leader-confidence theory and the explanation by conformity-processes.

VORBEMERKUNG Nachdem STONER (1961) von einer Extremisierung - statt Konvergenz - der Gruppenposition nach einer Diskussion des Entscheidungssachverhaltes berichtet hatte, schloß sich daran ein über die Jahre immer umfangreicher werdendes experimentelles Forschungsgebiet an: die «Extremisierungsforschung», oft auch als «risky-

shift»-Forschung bezeichnet, da im weitaus größten Teil der Untersuchungen Risikoentscheidungen diskutiert wurden. Diese Konstituierung eines thematisch neuen Forschungsgebiets verleitete (und verleitet) bereits zu einem frühen theoretischen Irrweg: Konvergenz- und Extremisierungsprozeß werden quasi unabhängig voneinander behandelt, eine Erforschung von Randbedingungen, unter de-

Sauer: Gruppenextremisierung nach Diskussion

256

nen der eine oder andere eintritt, findet nicht statt. Die veröffentlichten Arbeiten befassen sich entweder mit Fragen der internen (Meßprobleme) oder der externen Validität (Effekte unterschiedlicher Struktur der Diskussionssituation oder Effekte unterschiedlicher Entscheidungsund Diskussionsinhalte). Die wenigen Ausnahmen hiervon sind sammelreferatähnliche Artikel, die den theoretischen Entwicklungsstand zum entsprechenden Zeitpunkt festzustellen versuc h e n (z. B . PRUITT 1 9 7 1 ) .

Ziel der vorliegenden Arbeit ist weder, den Effekt einer möglichen weiteren, situational relevanten Variable auf die Extremisierung zu untersuchen, noch eine Zusammenfassung der bisherigen Forschung und theoretischen Überlegungen darzubieten; ich möchte vielmehr zeigen, daß die bisherigen Experimente bzw. die daran angeschlossenen Datenanalysen unter einem gemeinsamen Mangel leiden, der zu der vorhandenen unbefriedigenden theoretischen Situation von mehreren, unverbunden nebeneinanderstehenden Einzelhypothesen führte und eine umfassende Erklärung der psychologischen Prozesse, die einer Extremisierung zugrundeliegen, bislang blockierte. Eine entsprechende Verbesserung wird vorgeschlagen und an einem Beispiel praktisch durchgeführt. Zuvor scheint - gerade für nicht in die spezielle Thematik eingearbeitete Leser - nähere Klärung des Begriffes Extremisierung angebracht. WAS H E I S S T

EXTREMISIERUNG?

Das experimentelle Paradigma der Extremisierungsforschung kann in vier Phasen aufgegliedert werden: Phase 1: Die Vpn (üblich sind 6 oder 8 Personen) bezeichnen individuell und in keiner Interaktion miteinander stehend ihre Position zu einem jeweils spezifizierten Sachverhalt (Item) auf einer dem Item entsprechenden Skala: Die Anfangsposition liegt vor. Phase 2: Aus den Vpn werden zufällige Gruppen gebildet (üblich sind Dreier- oder Vierergruppen).

Phase 3: Die so entstandene Ad-hoc-Gruppe diskutiert über das oder die Item(s). Phase 4: Nach Beendigung der Diskussion bezeichnen die Gruppenmitglieder pro Item zum zweiten Mal individuell ihre jeweilige Position: die Schlußposition liegt vor (in vielen Experimenten wird ein Gruppenkonsens gefordert, so daß in diesen Fällen alle Individualpositionen nach der Diskussion identisch sein müssen). Individualextremisierung ist definiert als die Differenz zwischen Schluß- und Anfangsposition (absolute Werte) mit einem (signifikanten) Wert größer Null. Als Gruppenpoúúon gilt jeweils das arithmetische Mittel der Positionen jener Individuen, die die jeweilige Gruppe konstituieren. Gruppenextremisierung ist definiert als die Differenz zwischen der Gruppenschluß- und der Gruppenanfangsposition (absolute Werte) mit einem (signifikanten) Wert größer Null. Zur Verdeutlichung dieser Definitionen ein kurzes fiktives Beispiel: Drei Personen - X , Y und Z - nehmen bei der Frage «Wie reformfreudig ist die SPD?» auf einer Skala von + 5 bis - 5 folgende Positionen ein: Vor der Diskussion: X (+ 3), Y (+ 2), Z ( - 2); Mittel: + 1. Nach der Diskussion: X (+ 4), Y (+ 4), Z (+ 1); Mittel: + 3. Diese Gruppe extremisierte also von + 1 zu + 3. Wenn wir nur die Individualverschiebungen betrachten, so ergibt sich für X und Y eine Individualextremisierung von 3 zu 4 bzw. von 2 zu 4, während Z in seiner Extremität von 2 auf 1 zurückgeht. Gruppenextremisierung muß also nicht notwendigerweise mit der Extremisierung jedes Individuums koinzidieren.

MÄNGEL

BISHERIGER

THEORETISCHER

ARBEIT

Die Frage nach der Existenz einer allgemeinen Theorie der Gruppenextremisierung stellen heißt, sie verneinen. Entwickelt wurden bisher mehrere Einzelhypothesen (vgl. Teil «Die Erklärungsthesen zur Gruppenextremisierung»),

Zeitschrift f ü r S o z i a l p s y c h o l o g i e 1974, 5, 2 5 5 - 2 7 3

257

über deren Erklärungsstellenwert sich keine zuverlässigen Aussagen machen lassen, da sie alle in verschiedenen Arbeiten empirisch gestützt wurden. Die Unfähigkeit, die Erklärungskraft einer bestimmten Hypothese abschätzen zu können, folgt aus der allgemein praktizierten Strategie, mit der bislang die Datenanalysen durchgeführt wurden: in jeder Arbeit wird außer dem Eintreten oder Ausbleiben der allgemeinen (over-all-) Gruppenextremisierung nur selten wenn überhaupt - eine spezielle Erklärungsthese getrennt überprüft (so z. B . bei B R O W N 1 9 6 5 ; PRUITT 1 9 7 1 ; M O S C O V I C I & ZAVALLONI

1969).

In diesen Arbeiten beschränkt man sich allerdings auf die Prüfung einer - wohl aus subjektiver Plausibilität heraus favorisierten - Hypothese, über die gleichzeitig mögliche Gültigkeit anderer Erklärungsthesen werden keine Angaben gemacht. Die bisher berichteten Forschungsergebniss e ( v g l . PRUITT 1 9 7 1 ;

CARTWRIGHT 1 9 7 1 )

las-

sen nur den Schluß zu, daß es keine monokausale Erklärung des Exremisierungsprozesses geben kann. Das beschriebene Vorgehen, immer nur eine spezielle Erklärung zu testen, wirkt daher um so unverständlicher und forschungsstrategisch höchst unökonomisch. Angemessener erscheint eine Überprüfung aller Teilerklärungen pro Extremisierungsexperiment. Im Laufe vieler, auf diese Art gewonnener Ergebnisse wird eine sicherere Beurteilung des Stellenwertes einzelner Erklärungen möglich sein als zur Zeit. Die Sekundäranalyse der Daten früherer Experimente steht dabei gleichberechtigt neben noch durchzuführenden Untersuchungen. Dieses Vorgehen bei der Datenanalyse schließt die Konzeption von Designs, die auf die spezielle Prüfung einer bestimmten Erklärung abzielen, ebensowenig aus wie die Entwicklung neuer, heute noch unbekannter Erklärungsthesen. Ein weiteres theoretisches Defizit: in allen Arbeiten (Ausnahmen: B R O W N 1 9 6 5 ; M O S C O VICI & ZAVALLONI 1 9 6 9 ) fehlt eine explizite Herleitung der Prüfhypothese, so daß nicht eindeutig ist, ob die Stützung der jeweiligen partikularen Erklärung durch ihre exakte Überprü-

fung erreicht wurde oder nur durch eine spekulative Interpretation der beobachteten Over-allExtremisierung. Im folgenden werden - nach einer knappen Erwähnung falsifizierter bzw. in ihrem Geltungsbereich sehr stark eingeschränkter Erklärungsthesen - die bislang bewährtesten Erklärungen der Gruppenextremisierung referiert, ihre Prüfhypothesen abgeleitet und die abhängigen Variablen operationalisiert. Danach erfolgt an einem - prinzipiell beliebigen - Beispiel eine praktische Veranschaulichung der vorgeschlagenen Strategie der Datenanalyse mit anschließender Diskussion der Ergebnisse.

DIE ZUR

ERKLÄRUNGSTHESEN GRUPPENEXTREMISIERUNG

Erst mit der Arbeit von M O S C O V I C I & Z A V A L LONI ( 1 9 6 9 ) , in welcher politische Attitüden als Diskussionsinhalte benutzt wurden, war die Untersuchung des Gruppenextremisierungsphänomens nicht mehr identisch zu sehen mit der Untersuchung des Risikoschubs. Es ist daher verständlich, daß die früh entwickelten Erklärungsthesen sich speziell auf eine Extremisierung entlang der Risikodimension beziehen. Falsifizierte Erklärungen (1) Die These der

Verantwortungsdiffusion

Diese von W A L L A C H , K O G A N und anderen Mitarbeitern vorgeschlagene Erklärung besagt, daß während der Diskussion im Rahmen der Gruppe die Angst vor möglichen negativen Folgen der riskanten Entscheidung reduziert wird. Die Verantwortlichkeit für solche negativen Folgen liegt nicht mehr ausschließlich bei der Einzelperson, sondern ist unter alle aufgeteilt. Die reduzierte Angst ermöglicht dann die Übernahme einer riskanteren Position. Notwendige Voraussetzung für die Wirksamkeit dieses Mechanismus ist das Vorhandensein einer emotionalen Verbundenheit der Gmppenmitglieder untereinander. Diese Erklärung ist selbst für den Risiko-

Sauer: Gruppenextremisierung nach Diskussion

258 schub nur eingeschränkt anwendbar (vgl. WALLACH, KOGAN & B E M 1 9 6 2 ; LAMM 1 9 6 7 ) ; E x t r e -

(4) Die «commitment theory»

misierung zum Vorsichtpol kann sie ebensowe-

MOSCOVICI & ZAVALLONI ( 1 9 6 9 )

nig erklären wie die Extremisierung auf anderen

folgende Erklärung der Gruppenextremisierung:

Dimensionen, z. B . Attitüden.

Während der Diskussion fühlt sich das Individuum an jene Richtung der beiden möglichen

(2) Die Familiarisierungsthese Die Bezeichnung

entwickelten

Pole eines Items gebunden, die es durch die A n -

Famiiiarisierung

entstammt

gabe einer Anfangsposition eingeschlagen hat.

der Eindeutschung des englischen Begriffs 'fa-

Den Mechanismus, der die Individualextremi-

miliarization'. Gemeint ist die im Laufe des E x -

sierung (und damit - von Ausnahmekonstella-

periments zunehmende Vertrautheit der Vpn

tionen abgesehen - auch die Gruppenextremi-

mit den Inhalten der zu diskutierenden oder

sierung) bewirkt, erklären MOSCOVICI & ZAVAL-

schriftlich zu bearbeitenden Items, so daß diese

LONI s o :

Reduzierung der Ungewißheit eine größere B e -

" I n the course of handling the information,

reitschaft zur Risikoübernahme mit sich bringt.

as he interacts with real or imaginary locutors,

Die Experimente von BATESON ( 1 9 6 6 ) bestä-

he chooses alternatives, binds himself to the

tigten seine Theorie: sowohl die Diskussions-

choice, and thus commits himself to work he is

gruppen extremisierten bei Risiko-Items als auch

doing" ( 1 9 6 9 , p. 1 2 7 ) .

nicht-interagierende Individuen, die schriftliche Notizen zu den Items anfertigten.

Zwei Untersuchungen haben den Erklärungsanspruch der 'commitment theory'

erheblich

Bestätigt wurden diese Resultate nur von

herabgesetzt: KOGAN & WALLACH ( 1 9 6 6 ) u n d

FLANDERS & THISTLETHWAITE ( 1 9 6 7 ) u n d B L A S -

MCCAULEY ( 1 9 7 2 ) stellten in ihren Experimen-

COVICH et al. ( 1 9 7 3 ) . Weit in der Überzahl sind

ten fest, daß zwar eine signifikante Gruppenex-

jedoch jene Experimente, in denen Individuen

tremisierung, nicht aber eine signifikante Indi-

in einer zweiten Messung keine Positionsverän-

vidualextremisierung eintrat. Signifikante Indi-

derungen zeigten, so daß die Familiarisierungs-

vidualextremisierung ist jedoch zentrale Impli-

erklärung auch mit der Einschränkung auf das

kation der Theorie MOSCOVICIS.

Risikoschubphänomen als nicht bewährt gelten

Ebenso sind mehrere Untersuchungen

be-

kann.

kannt, die eine Kontrollgruppe benutzten, in

(3) Thesen vom Einfluß einer Führerpersönlichkeit

tionen wiederum individuell zum zweiten Male

denen die Vpn nach Angabe der Anfangsposieine Angabe zu dem jeweiligen Item machen

E s existieren zwei Erklärungen, die beide E x -

sollten, dieses Mal jedoch nach

tremisierung auf Einflüsse von Führerpersön-

einer kurzen schriftlichen Stellungnahme zu der

lichkeiten zurückführen. V o n diesen kann eine,

Entscheidung. D a diese schriftliche Begründung

die folgende,

als

durchaus im Sinne einer Diskussion mit sich

umstritten gelten; ich rechne die letztere kon-

selbst bzw. Arbeit, an die man sich bindet, zu in-

als falsifiziert,

die andere

Anfertigung

servativerweise zu den bewährten Erklärungen

terpretieren ist, müßte auch hier eine Indivi-

(siehe p. 2 5 9 ) .

dualextremisierung eintreten, wenn MOSCOVICIS

Personen, die extremere Positionen einneh-

Theorie gültig ist. D a in diesen Kontrollgruppen

men, sind per se überzeugender (WALLACH, KO-

bis auf Ausnahmen, die wir bereits bei der F a -

GAN & BURT 1 9 6 8 ) . Diese Hypothese, aufge-

miliarisierungstheorie

erwähnten,

nie

Indivikonnte,

stellt bei einer Untersuchung mit Risiko-Items,

dualextremisierung registriert werden

erwies sich bei Items anderen, risikoneutralen

ist auch dies als Argument gegen MOSCOVICIS

Inhalts als ungültig. Selbst für die Risikodimen-

Erklärung zu werten. Auch eine solche in der

sion konnte sie in

U n t e r s u c h u n g v o n LAMM & SAUER ( 1 9 7 4 ) ein-

Replikationsexperimenten

nicht bestätigt werden.

gesetzte Kontrollgruppe extremisierte nicht.

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1974, 5, 255-273

(5) Die

Nutzenwertthese

Die Konsequenz, die eine Entscheidung nach sich zieht, oder nach sich ziehen soll, wird vom Individuum bewertet: sie erhält einen Nutzenwert. Die nutzenwerttheoretische Erklärung von Extremisierung sieht vor, daß das Individuum den Nutzenwert, den es der mit der Anfangsentscheidung (Anfangsposition) gekoppelten Konsequenz zugeordnet hat, während der Gruppendiskussion ändert, und zwar in Richtung des anfänglich befürworteten Pols der jeweils gegebenen Itembeurteilung. Diese Erklärung kann in zweifacher Hinsicht kritisiert werden: Gesichertes empirisches Material liegt für die Nutzenwerterklärung nicht vor. Wie PRUITT (1971, p. 5 0 7 ) zeigen konnte, haben die entsprechenden Arbeiten (z. B . BURNSTEIN et al. 1 9 7 1 ) erhebliche methodische Mängel: nicht Nutzenwerte wurden gemessen, sondern Attitüden. Der zu den anderen Erklärungen postulierte Unterschied, kein extremeres Verhalten werde in der Diskussion hervorgerufen, sondern eine Änderung der Nutzenwerte, ist daher empirisch nicht bestätigt. Weiterhin kann den Vertretern dieser Erklärung vorgeworfen werden, daß sie ein Problem durch ein anderes ersetzen: Extremisierung wird erklärt durch Veränderung der Nutzenwerte; Ursachen dieser Veränderung der Nutzenwerte, die man als Extremisierung entlang der Nutzenwertdimension auffassen kann, werden nicht weiter hinterfragt.

259

Die implizite positive Korrelation zwischen individueller Positionsextremität und dem entschiedeneren Auftreten während der Diskussion wurde in den Studien von BURNSTEIN ( 1 9 6 9 ) , CLAUSEN ( 1 9 6 5 ) u n d STROEBE & FRÄSER ( 1 9 7 1 )

bestätigt; sie wurde nicht gefunden von STONER ( 1 9 6 1 ) , PRUITT & TEGER ( 1 9 6 7 ) u n d

MCCAU-

LEY (1972). Zur Überprüfung dieser Erklärung benötigen wir also (a) die Angabe der Positionsextremität aus einer Vorerhebung und (b) einen Index des Einflusses der jeweiligen Person auf die Entscheidungen der anderen Gruppenmitglieder. Hypothese 1: Je extremer die Position einer Person ist, desto einflußreicher wird diese Person in der Diskussion sein. Definition der abhängigen Variablen: (a) abhängige Variable Positionsextremität

V

Die Positionsextremität einer Person sei definiert als die additive Relation seiner Position in der Vorerhebung zu den Positionen der anderen Mitglieder, entsprechend den folgenden Definitionsgleichungen (hier für Dreiergruppen, gilt analog für jede Gruppengröße): PEE=(PE-PK) + (PE-PG) PE m = ( P m - P e ) + ( P m - P g ) PEg = ( P g - P e ) + ( P g - P m )

Es bedeuten: P E : Position des Extremsten P M : Position des Zweitextremsten («Mittleren») P G : Position des Gemäßigtesten PE: Positionsextremität (gleiche Indizierung) Bei bipolaren Skalen müssen die Positionen ohne Vorzeichen verrechnet werden. Bewährte Erklärungen Der Extremitätswert des Extremsten einer (1) These vom Einfluß einer FührerpersönlichGruppe wird also stets ein positives Vorzeichen keit erhalten, der des Gemäßigtesten stets ein negaSie besagt, daß Personen, die extremere Positio- tives. Das Vorzeichen des dritten, «mittleren» nen einnehmen, von ihrer Position überzeugter { Gruppenmitgliedes richtet sich nach der Nähe sind als weniger extreme Positionsinhaber und seiner Position entweder zum Extremen oder daß sich diese relativ hohe Positionsüberzeugt- zum Gemäßigten. heit in ein entschiedeneres und damit einflußreicheres Auftreten während der Diskussion (b) abhängige Variable Beeinflussungsvermögen umsetzt ('leader-confidence theory', BURNSTEIN Das Beeinflussungsvermögen einer Person in der 1969). Diskussion auf die Entscheidungen der anderen

260 Personen sei definiert als die additive Relation der Beurteilungsscores, die dieser Person von den anderen Gruppenmitgliedern nach Abschluß der Diskussion zu den drei Fragen - wie sicher wirkte er? - wie stichhaltig waren seine Argumente? - wie engagiert wirkte er? auf einer 10-Punkte-Skala (1 = gar nicht... 10 = äußerst...) zugeordnet werden. Der über die drei Fragen summierte Skalenwert stellt die Operationalisierung von Beeinflussungsvermögen dar. Diese drei Fragen dekken die wesentlichsten Dimensionen von Beeinflussungsvermögen ab, da angenommen werden kann, daß nicht unmittelbar erfragte Dimensionen wie Sympathie/Antipathie usw. sich bereits mittelbar in einer höheren/niedrigeren Einstufung auf den berücksichtigten Dimensionen niederschlagen. Definitionsgleichungen : BE=(FE-FM) + (FE-FG) BM = ( F m - F e ) + ( F m - F g ) Bg = ( F g - F e ) + ( F g - F m ) Es bedeuten: B: Beeinflussungsvermögen F: der zu den der Operationalisierung von B entsprechenden drei Fragen abgegebene Punktwert für das indizierte Gruppenmitglied (Indizierung wie bei Variable Positionsextremität). Zu beachten ist, daß bei einseitig gerichteten Skalen (von Null bis..; ohne echten Mittelpunkt) Hypothese 1 nur unter Hinzunahme der aus den Werte-Erklärungen (vgl. p. 260 f. dieser Arbeit) entliehenen Annahme gültig ist, ein Pol ist attraktiver, sozial anerkannter als der andere. Ohne diese Annahme wäre die 'leader confidence theory' bei einseitigen Skalen tautologisch, da numerisch kleine Positionen auch als «extrem» in Richtung Null interpretiert werden dürfen. Einem von beiden Polen - Positionsverschiebung überhaupt vorausgesetzt - muß man sich jedoch annähern, so daß ohne die genannte Annahme Vorhersageunfähigkeit eintreten würde.

Sauer: Gruppenextremisierung nach Diskussion

(2) Die

Werte-Erklärungen

Unter diesem Sammelbegriff sind jene Exiremisierungserklärungen zusammengefaßt, die als zentrale Annahme gemein haben, daß Gruppen zu jenem Skalenpol (Wert) hin extremisieren, zu dem schon vor der Diskussion die meisten Mitglieder tendierten. (a) die 'information-exchange

theory'

(1965) entwickelte diese Erklärung (dort: 'risk-as-value theory') speziell für RisikoExtremisierung, STONER (1968) und MYERS & BISHOP (1970) erweiterten sie zu einer allgemeineren, nicht an Risiko-Items gebundene Erklärung. Sie lautet in der allgemeinen Form: Jedem diskutierten Item haftet ein kulturell bzw. in der relevanten Bezugsgruppe anerkannter Wert an und es wirkt belohnend, diesem Wert zu entsprechen. Während einer Gruppeninteraktion findet ein sozialer Vergleichsprozeß statt, in dem das Individuum erkennt, inwieweit es diesem Wert entspricht relativ zu den relevanten Bezugspersonen. Jene Personen, die unter dem wahrgenommenen Durchschnitt der Positionen aller Gruppenmitglieder liegen, vermindern diese Diskrepanz zwischen idealem und faktischem Standort durch Verschiebung ihrer Position über den Durchschnitt. Hypothese 2: Die Extremisierung der Personen auf oder über dem Gruppendurchschnitt (gemessen in der Vorerhebung) ist geringer als die Extremisierung der Personen unter dem Gruppendurchschnitt. Aus den Annahmen zum sozialen Vergleichsprozeß, der während der Diskussion in Gang kommt, läßt sich folgern, daß eine um so stärkere Inadäquatheit der eigenen Position empfunden wird, je weiter der Abstand der eigenen Position zum Gruppenmittelwert ist, vorausgesetzt, man liegt unter dem Durchschnitt. Daraus ergibt sich Hypothese 3: Je größer die Differenz zwischen der eigenen Position und dem Gruppenmittelwert, desto stärker ist die nach der Diskussion erfolgende Individualextremisierung der unter dem Durchschnitt liegenden Personen. BROWN

261

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1974, 5 , 2 5 5 - 2 7 3

(b) Die Erklärung der pluralistischen Ignoranz

1

Diese E r k l ä r u n g v o n LEVINGER & SCHNEIDER

(1969) geht ebenfalls von der Annahme aus, daß der jeweils itemspezifische Wert kulturell anerkannt ist und ein ihm entsprechendes Verhalten als belohnend empfunden wird. Es kommt die von den beiden Autoren bestätigte Annahme hinzu, daß man sich dessen nicht völlig bewußt ist, inwieweit andere einer bestimmten Werthaltung entsprechen; man schätzt sich typischerweise extremer auf einer bestimmten Dimension ein (z. B. riskantes Verhalten) als relevante Bezugspersonen 2 . Damit besteht der Konflikt, ob man sich nach der eigenen Meinung entscheiden (die man ja extremer glaubt als die anderen Gruppenmitglieder) oder ob man mit dem angenommen, niedrigeren Gruppenstandard konform gehen soll. Dieser Zustand der mehrfachen Fehleinschätzung gab dieser Erklärung ihren Namen. Während der Diskussion stellt sich für eine oder mehrere Personen heraus, daß sie ihren relativen Standort falsch eingeschätzt hatten: sie liegen unter einem wahrgenommenen Gruppendurchschnitt, so daß andere Gruppenmitglieder näher am eigenen Ideal liegen als man selbst. Als Folge tritt eine Positionsverschiebung zum eigenen Idealpunkt hin ein. Theoretisch wird dabei postuliert, daß eine Bezugnahme auf einen angenommenen durchschnittlichen Gruppenstandard erfolgt, dessen Abweichung von der eigenen Position auch die Stärke der Extremisierung der unter diesem Gruppendurchschnitt liegenden Personen bestimmt: je größer die Differenz zwischen eigener und dieser durchschnittlichen Gruppenposition, desto stärker die Extremisierung. Wie bei der 'information-exchange theory' basiert die Gruppenextremisierung auf Individualextremisierun-

1

gen der unter dem Gruppendurchschnitt liegenden Mitglieder. Die Überprüfung der Hypothesen 2 und 3 ist daher auch zugleich Uberprüfung dieser Erklärung, denn die 'information-exchange theory' und die Erklärung der pluralistischen Ignoranz unterscheiden sich leicht hinsichtlich des psychologischen Prozesses, den sie als Ursache der Gruppenextremisierung vermuten, nicht aber phänomenologisch, was die Art der Positionsverschiebungen betrifft. Eine Beurteilung, ob diese oder jene Version vorzuziehen sei, bleibt letztlich der Plausibilität überlassen. (c) Die 'release theory' PRUITT (1971) sieht zwei Werte, die allgemein akzeptiert sind, die aber unverträglich einander gegenüberstehen: auf der einen Seite den Wert «Riskantheit», gleichbedeutend mit Zeugnis des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten, auf der anderen einen allgemeinen, nicht mit bestimmten Situationen gekoppelten Wert, sich nicht zu' exponieren, maßvoll zu sein, Verantwortlichkeit zu zeigen 3 . In der Diskussionsphase sieht die Vp ein Modell, das sich extremer als sie verhält. Angenommene soziale Verhaltensbeschränkungen, die dadurch entstehen, daß man zu einem Teil seine Entscheidung vom Wert der Mäßigung und Verantwortlichkeit leiten läßt bei gleichzeitigem Wunsch, dem Wert Risiko zu entsprechen, fallen angesichts des extremeren Modells weg und es erfolgt eine extremere Entscheidung. Im Unterschied zu der ähnlich argumentierenden Erklärung der Verantwortlichkeitsdiffusion von KOGAN & WALLACH ist es hier nicht die G r u p -

penatmosphäre, die Ängste reduziert, sondern die Möglichkeit der Imitation, des Sich-Anhängens an ein Modell. Ein wichtiger Unterschied zu den davor dar-

Der englische Begriff "pluralistic ignorance" wird eingedeutscht. Diese Annahme der Unterschätzung des Positionsniveaus anderer Personen wurde nicht bestätigt von LAMM et al. (1972a) und KÖRTE (1972); es wurde jeweils eine Überschätzung des Positionsniveaus anderer Personen hinsichtlich Risikobereitschaft (LAMM et al.) und Radikalismus (KÖRTE) ermittelt. In beiden Untersuchungen trat eine Gruppenextremisierung ein. 3 Im Original: " . . . widely held values attaching to moderation and being reasonable" (1971, p. 351).

2

262 gestellten Erklärungen liegt in dem theoretisch angenommenen Bezugspunkt des oder der weniger extremen Gruppenmitglieder, nach dem sie ihre Verschiebung ausrichten. Sowohl in der 'information-exchange theory' als auch in der Erklärung der pluralistischen Ignoranz änderte das Gruppenmitglied seine Position in Reaktion auf ein wahrgenommenes durchschnittliches Niveau. In der 'release theory' ist dagegen der Bezugspunkt die extremste wahrzunehmende Position. Wegen der exponierten Rolle, die das extremste Gruppenmitglied in dieser Erklärung spielt, wäre sie auch als eine weitere Version jener Erklärungen einzuordnen, deren zentrale Kategorie der Einfluß einer Führerpersönlichkeit ist. Die Zuordnung zu den Werte-Erklärungen erfolgte, weil es für die Gültigkeit der 'release theory' nicht notwendig ist, daß das Modell argumentativ oder rhetorisch in exponierter Weise in Erscheinung tritt. Notwendig ist das Wahrnehmen einer extremeren Position aus der Sicht weniger extremer Gruppenmitglieder. Die beiden wichtigsten Implikationen dieser Erklärung sind: (1) Bezugspunkt des Individuums für seine Positionsverschiebung ist das extremste Positionsniveau. (2) Dies bedeutet auch, daß die extremste Person nicht extremisiert, da für sie die notwendige Bedingung des Vorhandenseins eines Modells nicht erfüllt ist. Eine Extremisierung dieser Personen müßte auf andere als von der 'release theory' vermutete Prozesse zurückzuführen sein. Aus der Implikation (1) kann weitergefolgert werden, daß zwischen dem Abstand der Position des Extremsten von denen der anderen Mitglieder und der Stärke der in seine Richtung stattfindenden Positionsverschiebungen der an-

4

Sauer: Gruppenextremisierung nach Diskussion

deren Mitglieder ein nicht unabhängiger Zusammenhang bestehen muß 4 . Hypothese 4: Je größer der Abstand zwischen der Position des Extremsten und den Positionen der anderen Mitglieder, desto stärker sind die Verschiebungen der Positionen der beiden anderen Mitglieder in seine Richtung. Definition der abhängigen Variablen der Hypothese 4: (1) Der Abstand der Position des Extremsten von den Positionen der übrigen Gruppenmit-' glieder sei definiert als der Mittelwert der beiden Differenzen seiner Position zu den beiden übrigen Positionen (Dreiergruppe). (2) Die Positionsverschiebung der anderen Mitglieder sei definiert als der Mittelwert der Zuwachsraten der Positionen dieser Mitglieder vor und nach der Diskussion. Implikation (2) besagt, daß eine Individualextremisierung der extremsten Person einer Gruppe nicht stattfindet. Geschieht sie doch, müßte sie auf andere als Leitmodelleinflüsse zurückzuführen sein. Da die Überprüfung der Implikation (2) der nicht statthaften Testung und Bestätigung einer Nullhypothese gleichkäme, wird der Inhalt dieser Implikation näherungsweise getestet durch Hypothese 5: Die Individualextremisierung der extremsten Personen wird geringer sein als die Individualextremisierung der anderen Gruppenmitglieder. Um aber auszuschalten, daß dadurch eine vorhandene Extremisierung der Gruppenextremsten übersehen wird, wird die Extremisierungsrate der extremsten Personen und der jeweils anderen Gruppenmitglieder auch getrennt zu prüfen sein. (3) Die Erklärung durch

Konformitätsprozesse

Ausgehend vom Grundgedanken der Konformi-

PRUITT glaubt, die Annahme "that the degree of shift for low-risk members is a positive function of the level of risk taken by the highest risk-taker in the group" (1971, p. 352), ableiten zu können. Es ist zwar plausibel, daß eine solche Korrelation zu finden sein wird, aber eine unmittelbare Stützung der "release theory" wäre sie nicht. Der Einfluß des Extremsten kann nicht untersucht werden in der absoluten Größe seiner Position, ohne Rücksicht auf die Konstellationen der Positionen der anderen Mitglieder der Gruppe, sondern in der relativen Stellung seiner Position bzw. des Abstandes seiner Position von den übrigen.

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tätstheorie, daß sich - grob vereinfacht dargestellt - unter Gruppendruck 5 die Minderheit sich der Mehrheit anschließt und nicht umgekehrt, sieht sich eine konformitätstheoretische Extremisierungserklärung drei möglichen Situationsvarianten gegenüber, wenn man eine bipolare Skala zugrunde legt: 1) Alle Gruppenmitglieder lokalisieren ihre Anfangspositionen auf der gleichen Seite der Skala. 2) Auf beiden Skalenseiten befinden sich gleich viele Mitglieder. 3) Auf einer Seite der Skala befinden sich mehr Mitglieder als auf der anderen, die unter 1) genannten Fälle ausgeschlossen. Die Vorhersagen lauten: In den Fällen 1) und 2) erfolgt keine (von Null signifikant unterschiedliche) Gruppenextremisierung, da keine Mehrheits-/Minderheitsverhältnisse herrschen. Dabei wird für den Fall 1) zusätzlich angenommen, daß es in der Diskussion nicht um subtile Graduationen geht, ob man also beispielsweise für + 2 oder + 3 votieren soll, sondern um die grundlegende Beurteilungsrichtung Plus oder Minus pro Item. Für den Fall 3) wird die Vorhersage gemacht, daß sich die Minderheit der Mehrheit anschließt und somit eine Gruppenextremisierung stattfindet. Obgleich in Verbindung mit Entscheidungstheorien von einigen Autoren erwähnt (CECIL 1 9 6 7 ; MILLER 1 9 7 0 ) , kann man die Konformitätserklärung für Extremisierungsprozesse als stark vernachlässigt bezeichnen. Empirische Untersuchungen, die explizit auf eine Prüfung dieser Erklärung abzielen, sind dem Autor außer einer Untersuchung von LAMM ( 1 9 7 2 ) 6 nicht bekannt. In diesem Experiment sollten ausgewählte Machiavellismusitems ohne Zwang zu Konsensbildung diskutiert werden. Bestätigt wurde die Hypothese des obigen Falles 2), daß keine Individual- und/oder Gruppenextremisierung auftritt, wenn auf beiden Seiten einer bipolaren

5

263

Skala eine gleiche Mitgliederanzahl lokalisiert ist. Die Hypothesen für die Fälle 1) und 3) wurden nicht überprüft. Im Prinzip analoge, jedoch leicht veränderte formale Vorhersagemodelle ergeben sich, wenn - wie im später in dieser Arbeit folgenden empirischen Beispiel - keine bipolare, sondern eine einseitig gerichtete Skala ohne neutralen Mittelpunkt verwendet wird. Bei solchen Skalen kann nicht absolut von mäßigen oder extremen Entscheidungen gesprochen werden, sondern man kann nur pro Diskussionsgruppe unabhängig von den absoluten Größen relativ gemäßigtere oder extremere Positionen feststellen. Die folgenden Formalisierungen gelten für Dreiergruppen, sind aber analog auf jede Gruppengröße anwendbar. Wenn A die Person mit der höchsten (extremsten) Position ist, B jene mit einer gemäßigteren und C jene mit der gemäßigtesten, dann gilt (im Grenzfall) A !> BSä C. Die Abstände der drei Positionen untereinander bestimmen die Vorhersage der Konformitätserklärung: (1) Wenn A ^ B ^ C u n d ( A - B ) > ( B - C ) , wenn also B und C näher beisammen liegen als A und B, dann verschiebt A seine Position in Richtung B und C in stärkerem Maße als B und C ihre Positionen in seine Richtung verschieben. (2) Wenn A £ B ^ C und ( A - B ) < (B - C), wenn also A und B näher beisammen liegen als B und C, dann verschiebt C seine Position in Richtung A und B in stärkerem Maße als A und B ihre Positionen in seine Richtung verschieben. (3) Wenn A Sä B 2; C und (A - B) = (B - C), wenn also zwischen den drei Personen gleiche Positionsabstände herrschen, dann entsteht keine Positionsverschiebung, da keine Mehrheits-/ Minderheitsverhältnisse vorliegen. Jede Konstellation der drei Positionen der Mitglieder einer Dreiergruppe ist in eine dieser drei Kategorien einordenbar. Nach der Diskussion muß die Konstellation sich in der vorhergesag-

Auch unter jener experimentellen Bedingung, in der kein Konsens von der Diskussionsgruppe verlangt wird, kann durch die immanente Situationscharakteristik der gemeinsamen Lösungssuche von Gruppendruck gesprochen werden, wenn auch in schwächerer Form als unter einer Konsensbedingung. 6 Hierüber existiert keine schriftliche Stellungnahme. Die Information geht auf eine private Mitteilung zurück.

264 ten Art verschoben haben, wenn die Konformitätserklärung gültig sein soll. Zur Feststellung dieser Gültigkeit muß weiterhin festgelegt werden, inwieweit Verschiebungen der Mehrheit noch im Einklang mit der Konformitätsvorhersage stehen oder ihr widersprechen. Erste notwendige Bedingung ist eine Verschiebung der Position der Minderheit nach der Diskussion in Richtung der Position der Mehrheit. Zweite notwendige Bedingung ist, daß die Mehrheit nach der Diskussion sich nicht stärker der Minderheit annähert als umgekehrt. Diese abhängige Variable der Positionsverschiebung der Mehrheit sei definiert als die Differenz der Mittelwerte der beiden Positionen vor und nach der Diskussion der die Mehrheit bildenden zwei Personen (bei Dreiergruppen). Dritte notwendige Bedingung ist, daß die Mehrheit gegenüber der Minderheit nach der Diskussion keine stärkere Positionsverschiebung in der gleichen Beurteilungsrichtung durchführt. Diese dritte Bedingung ergibt sich aus der Grundannahme der Konformitätstheorie, daß eine Konvergenz der Positionen einer Gruppe durch Annäherung der Minderheit an die Mehrheit erfolgt. Wenn sich jedoch die Mehrheit von der Minderheit weiter entfernt als diese sich der Mehrheit annähert, entsteht keine Konvergenz, sondern eine Positionsdispersion, so daß der größere Anteil der Positionsverschiebungen nicht durch Konformitätsannahmen erklärt wird, denn Bewegungen der Mehrheit können nicht mit Annahmen der Konformitätstheorie abgedeckt werden. Es ist nur mit der Begründung eines konservativen Überprüfungsvorgehens zu rechtfertigen, wenn Konvergenz genügen soll und nicht als weitere notwendige Bedingung die Positionskonstantheit der Mehrheit aufgenommen wird; konservativ deshalb, weil so mehr «gültige» Fälle entstehen können als wenn man auf Positionskonstantheit als Gültigkeitskriterium pochen würde.

7

Sauer: Gruppenextremisierung nach Diskussion

Um den Gültigkeitsanspruch der Konformitätserklärung zu überprüfen, wird eine Prüfhypothese benutzt, die die Anzahl der gültigen Fälle (jene, die alle drei Bedingungen erfüllen) gegen die Anzahl der ungültigen Fälle testet. Die Prüfung der Wenn-Dann-Beziehung, die üblicherweise durch die Hypothese erfolgen soll, wurde in die Entscheidung der Gültig- oder Ungültigkeit einer Positionsverschiebung durch Prüfung von drei notwendigen Bedingungen verlagert. Hypothese 6: Es werden mehr Fälle beobachten sein, die den aufgeführten notwendigen Bedingungen der Konformitätserklärung entsprechen als Fälle, die diesen Bedingungen nicht entsprechen.

METHODE VERSUCHSPERSONEN

An der Untersuchung nahmen 60 männliche Studenten (20 Dreiergruppen) der Universität Mannheim (alle deutsche Staatsangehörigkeit) freiwillig teil 7 . Jeweils sechs Vpn wurden durch im wesentlichen vorgedruckte Briefe zu passenden, in einer Vorbesprechung angegebenen Terminen eingeladen. Das angekündigte und auch ausbezahlte Honorar betrug D M 15.-. Die Auswahl der für einen Termin eingeladenen Personen erfolgte durch Los. Das durchschnittliche Alter der Vpn betrug 21,7 Jahre (bei einer Streuung von 1,56 zwischen 18 und 29). DAS E X P E R I M E N T

Zur Prüfung der aufgestellten Hypothesen wird ein experimentelles Vorgehen verwendet, das genau dem auf p. 256 beschriebenen vierphasigen Paradigma eines Extremisierungsexperimentes entspricht. Als Beurteilungs- und Diskussionsitem, das für die mit dieser Arbeit verfolgten theoretischen Ziele prinzipiell beliebig gewählt werden könnte, wurde die Anfangsforderung in

Das hier beschriebene Experiment ist nur ein Teil der durchgeführten Versuchsreihe, an der insgesamt 140 Studenten der Universität Mannheim teilnahmen.

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Zeitschrift für Sozialpsychologie 1974, 5, 255-273

einem Zwei-Personen-Verhandlungsspiel nutzt 8 . Beschreibung des

be-

Verhandlungsspiels

Das Verhandlungsspiel stellt eine modifizierte Version des 'Game of Nines' von KELLEY, BECKMAN & FISCHER (1967) dar. Den Verhandlungspartnern A und B stehen 18 Punkte zur Verfügung, die in einem von 19 möglichen Verhältnissen zwischen den beiden aufgeteilt werden müssen. (A erhält 18 / B erhält 0; A erhält 17 / B erhält 1; usw.). Die Vpn wissen, daß bei einer Einigung auf eine dieser Verteilungen einem Gewinnpunkt 10 Pfennig entsprechen; bei Nichteinigung gehen beide leer aus. Das gesamte Spiel besteht aus neun einzelnen Verhandlungspartien, in denen jeweils um die 18 Punkte verhandelt wird. In jeder Partie muß jeder Spieler bezüglich seiner Forderungen einen jeweils unterschiedlichen Kostenbetrag in Rechnung stellen, der vom erhandelten oder noch zu erhandelnden Punkteanteil abgezogen werden muß; die Differenz zwischen erhandeltem Punkteanteil und Kostenbetrag ergibt den Gewinn der Verhandlung, Einigung vorausgesetzt. Dieser Kostenbetrag kann aus der Sicht der Vp pro Partie zufällig jeden Wert zwischen 0 und 18 annehmen, in Wirklichkeit wird er nur die Werte 0, 2, 4, 6, 7, 8, 10, 12 und 14 besetzen. Die Kosten des Gegenübers sind stets unbekannt und dürfen nicht bekanntgegeben werden. Die Kostenabfolgen sind für Spieler A und B unterschiedlich, entsprechend der späteren Kombination in den Verhandlungen: A (6-14-4-8-0-10-2-12-7), B (6-2-10-8-12-4-14-0-7)». Uber die Verhandlungssituation selbst, das Verfahren der Verhandlung, werden die Vpn sofort zu Beginn des Experimentes informiert. Da die faktischen Verhandlungen hier nicht nä8

her interessieren, braucht darauf nicht eingegangen zu werden. Ablauf des

Experimentes

Phase 1: 6 Vpn geben - nachdem sie mit dem Verhandlungsspiel vertraut sind - individuell ihre Anfangsforderungen zu den neun Kostenbeträgen (Partien) schriftlich auf vorgedruckten Formularen an: die Anfangspositionen stehen fest. Phase 2: Die 6 Vpn werden in zwei Dreiergruppen geteilt (zufällig), indem sie in zwei getrennte Räume geführt werden. Phase 3: Jede Dreiergruppe diskutiert nacheinander über die neun Anfangsforderungen zu jenen Kostenbeträgen, wie sie in der Phase 1 vorgelegt wurden. Die eine Gruppe diskutiert in der Reihenfolge des Spielers A, die andere in der des Spielers B. Die Diskussionen werden mit Wissen der Vpn auf Band festgehalten. Phase 4: Nach jeder Diskussion (maximal fünf Minuten) geben die Vpn individuell ihre jetzige Anfangsforderung an: die Schlußpositionen liegen fest. Nach Beendigung der neunten und letzten Diskussion füllt jede Vp einen Fragebogen aus, in dem das Diskussionsverhalten der drei Mitglieder erfragt wird (Fragen: wie stichhaltig - wie engagiert - wie sicher; vgl. p. 260).

Die Vpn erhielten nach Phase 2 den schriftlichen Hinweis, daß «Die beiden Gruppen lediglich zufällige Gruppierungen (sind), innerhalb derer ein Meinungsaustausch stattfinden soll», um Spekulationen seitens der Vpn über die Trennung in zwei Gruppen vorzubeugen. Es war eindeutig, daß der spätere Verhandlungspartner der anderen Diskussionsgruppe angehörte. Die Diskussionen selbst wurden als Vorbereitung auf die eigentlichen Verhandlungspartien motiviert. E R G E B N I S S E I »

Im Gegensatz zu Untersuchungen, in denen über Risiko-Items oder ähnliche Entscheidungsinhalte diskutiert wird, sind die hier verwendeten

Die Wahl dieses spezifischen Diskussionsitems bestimmt sich zum einen aus der Kontinuität früherer Forschungen des Teilprojektes, innerhalb dessen die diesem Artikel zugrundeliegende Diplom-Arbeit entstanden ist, zum anderen wird damit ein Beitrag zur externen Validität der Extremisierungsergebnisse geleistet, da diese spezifische Itemqualität noch nicht in Extremisierungsexperimenten verwendet wurde (vgl. LAMM & SAUER 1974). 9 Kostenabfolgeeffekte brauchen nicht angenommen zu werden: F = 0.36, df = 1, n. s. 10 Die over-all Extremisierung war hoch signifikant: t = 2.891, p < .005, df = 38, einseitig geprüft (vgl. dazu LAMM & SAUER 1 9 7 4 ) .

266 neun Items nicht unabhängig voneinander. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die neun Partien von den Vpn als eine Gesamtaufgabe betrachtet werden. Primärer Bezugspunkt der Überlegungen der Vpn ist der Gesamtgewinn nach Ende aller Partien, Einzelgewinne bzw. -partien liegen nur auf dem Weg zu diesem primär relevanten Ziel und werden zum Teil stark von strategischen Überlegungen begleitet. Psychologisch sinnvoll können daher nur Hypothesenpriifungen mit den Daten der Gesamtforderung (Summe über alle neun Forderungen) sein. Gegen einen Vergleich der Gesamtforderung der Vorerhebung mit jener nach den Diskussionen gilt nicht das Argument der Verzerrung durch Interdependenzen von vorangehenden oder folgenden Diskussionen, das gegen den Vergleich von Einzelpartien eingewendet werden könnte. Abhängige Variable ist damit die Gesamtforderung bzw. die Zuwachsrate (Extremisierung) der Gesamtforderung über alle neun Verhandlungspartien (Skala der Forderung von 0 bis 18). (1) Hypothese 1: Einfluß einer Führerpersönlichkeit Die Hypothese lautete: Je extremer eine Person ist, desto einflußreicher wird diese Person in der Diskussion sein. Die Produkt-Moment-Korrelation zwischen Positionsextremität (X) und Beeinflussungsvermögen (Y) betrug r xy = .016 (df = 58, n.s.; x x = 0, s x = 42.03; x y = 0, s y = 19.65). Um weitere Informationen zu gewinnen, wurde die Korrelation zwischen diesen beiden Variablen nur bei den extremsten und nur bei den gemäßigtesten Personen jeder Gruppe überprüft. Extremste Personen: r xy = - .384 (df = 18, n.s.; x x = 37.50, s x = 31.89; x y = - 2.40, s y = 20.12). Gemäßigteste Personen: r xy = .067 (df = 18, n.s.; x x = - 41.35, s x = 27.13; x y = - 8.20, sy = 20.01). Schließlich war auch die post-factum konstruierte Korrelation zwischen Positionsextremität und Beeinflussungsvermögen bei den Personen mit jenen Marginalpositionen, in deren Richtung die Gruppe ihre Position verschob, nicht signifikant:

Sauer: Gruppenextremisierung nach Diskussion

r xy = - .108 (df = 18, n.s.; x x = 35.35, s x = 23.75; x y = — 0.90, sy = 18.48). Diese Marginalposition war in 18 von 20 Fällen identisch mit der extremsten Position. Interpretation: Der von der 'leader-confidence theory' angenommene Zusammenhang zwischen Stärke der Positionsextremität und Stärke des Beeinflussungsvermögens wurde nicht gefunden. Für die allgemeine Fassung der Hypothese liegt die Korrelation nahe Null (.016), spezifiziert auf die extremste Person zeigt sich zwar ein höheres, dafür aber negatives und nicht signifikantes Ergebnis ( - .384). Da schließlich auch der Zusammenhang zwischen den Positionen der gemäßigtesten Personen und ihrem Beeinflussungsvermögen tendenziell positiv war (.067) und der post-factum konstruierte Zusammenhang zwischen der Positionsextremität der Marginalperson (der Extremste oder der Gemäßigteste), in deren Richtung die Gruppe ihre Position verschob, und ihrem Beeinflussungsvermögen tendenziell negativ war ( - .108), ist der Schluß gerechtfertigt, daß ein systematischer Zusammenhang zwischen den beiden Variablen hier nicht gegeben war. (2) Hypothesen 2 und 3: Werte-Erklärungen 'information-exchange theory' und Erklärung der pluralistischen Ignoranz Der allgemein angestrebte Wert, der dem Diskussionsinhalt Verhandlungsforderungen anhaftet, ist das Gewinnstreben. Die Untersuchungsresultate von SIEGEL & FOURAKER (1960) weisen eindeutig auf die Alleinherrschaft zweier Verhandlungstypen hin: den 'simple maximizer', der auf einen mehr oder weniger hohen Gewinn abzielt, dem aber der gleichzeitige Gewinn seines Verhandlungspartners gleichgültig ist, und den 'rivalistic (competitive) type', dem die absolute Höhe seines Gewinnes gleichgültig ist, der lediglich mehr als sein Gegenüber erhandeln will. Beide Strategien schlagen sich in mehr oder weniger hohen Forderungen nieder, da man mit seinen Angeboten zwar immer heruntergehen, nicht aber sie erhöhen kann. Da ein altruistischer Verhandlungstyp praktisch nicht existiert

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Zeitschrift für Sozialpsychologie 1974, 5, 255-273

(vgl. SIEGEL & F O U R A K E R , Anhang) kann erwartet werden, daß in den Diskussionen zu Verhandlungsanfangsforderungen der Wert des Gewinnmaximierens bzw. der Kompetition dominiert und Argumente und Forderungshöhen bestimmt. Im Zusammenhang mit dieser Dominanz der beiden Verhandlungstypen erhält zugleich die Fähigkeit, hohe Gewinne zu erhandeln, Bedeutung als attraktiver Persönlichkeitszug. JELLISON & R I S K I N D ( 1 9 7 1 ) weisen darauf hin, daß der Grad, in dem man einem anerkannten Wert entspricht, in vielen Fällen gleichgesetzt wird mit dem Grad, in dem man eine bestimmte, sozial erwünschte Fähigkeit ausführen kann. Inadäquatheit kann die Vp während der Diskussion in zwei Bereichen erfahren: zum einen entspricht man (durch zu niedrige Forderungen) dem Wert Gewinnstreben nicht ausreichend, zum anderen bedeutet zu geringer Gewinn, daß man nur minderes Verhandlungsgeschick besitzt. Hypothese 2 lautete: Die Extremisierung der Personen auf oder über dem Gruppendurchschnitt (Anfangsposition) ist geringer als die Extremisierung der Personen unter dem Durchschnitt. Hypothese 3 lautete: Je größer die Differenz zwischen der eigenen Position und dem Gruppenmittelwert, desto stärker ist die nach der Diskussion erfolgende Individualextremisierung. Zur Prüfung der Hypothese 2 wurde ein tTest für unabhängige Beobachtungen verwendet. Ergänzend dazu wurden separat die Extremisierungsraten der Personen auf oder über (I) und der Personen unter dem Gruppendurchschnitt (II) mit jeweils t-Tests für abhängige Beobachtungen ermittelt. Zur Hypothese 3 wurde der vermutete positive Zusammenhang zwischen der Differenz der

X

s

t

93 2.91 8.39 1.97 t-Test (abh.) I t-Test (abh.) II 476 19.04 12.95 7.35 t-Test (unabh.) II > I

5.69

sign. (2seit.)

df

p < .06 31 p < .001 24 p