Zeitschrift für Sozialpsychologie: Band 6, Heft 2 1975 [Reprint 2021 ed.]
 9783112470022, 9783112470015

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C. F. G R A U M A N N KLAUS HOLZKAMP MARTIN IRLE

BAND 6

1975

H E FT 2

V E R L A G HANS HUBER BERN STUTTGART WIEN

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, Band 6, Heft 2 INHALT

Zu diesem Heft

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THEORIE PEUCKERT, R.: Über geschlechtsspezifische Unterschiede im konformen Verhalten

112

EMPIRIE GRABITZ-GNIECH, G . , A U S L I T Z , K . & GRABITZ, H . J.: D i e S t ä r k e d e s R e -

aktanz-Effektes als Funktion der absoluten Größe und der relativen Reduktion des Freiheitsspielraumes

122

AHRENS, H. J. & STÄCKER, K. H.: Diagnostische Urteilsbildung und

sprachliche Kommunikation

129

NAATZ, T. & DIECKHOFF, U.: Zur empirischen Bewährung der kognitiven

Akzentuierungstheorie

150

DISKUSSION FEGER, H. & FALTIN, G.: Die Einstellungsstruktur von Gruppen: Anmerkungen zur Arbeit von Hartmann & Wakenhut

160

HARTMANN, H . & WAKENHUT, R . : Strukturanalysen in der Attitudenfor-

schung: Theorie und Methode BIERHOFF, H. W.: Kommentar zu Schwanenberg & Huth «Zur Relevanz experimenteller Nichtnullsummenspiele»

164 172

SCHWANENBERG, E. & HUTH, W.: Kommentar zum Kommentar

176

Rezension: Herrmann, Th. (Hg.) Dichotomie und Duplizität. Grundfragen psychologischer Erkenntnis. Ernst August Dölle zum Gedächtnis Besprechung durch R. M. Lepsius

179

LITERATUR Neuerscheinungen Titel und Abstracto

184 186

AUTOREN Vorankündigungen Copyright 1975 by Verlag Hans Huber Bern Stuttgart Wien Satz und Druck: Druckerei Heinz Arm Bern Printed in Switzerland Library of Congress Catalog Card Number 78 -126626 Die Zeitschrift für Sozialpsychologie wird im Social Sciences Citation Index (SSCI) erfaßt.

188

111

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6

Zu diesem Heft Wenn nicht alles trügt, nimmt die Bereitschaft zur Diskussion der in der Zeitschrift für Sozialpsychologie publizierten Arbeiten zu. In diesem Heft können gleich vier Diskussionsbeiträge angeboten werden, und sie müssen alle in einem Heft untergebracht werden, um die zeitlichen Abstände zwischen Rede und Gegenrede akzeptabel gering halten zu können. Weitere Diskussionsbeiträge wurden den Herausgebern angekündigt. Dem Autor einer diskutierten Arbeit sollte prinzipiell die Chance zur Erwiderung eingeräumt werden. Die Diskutanten seiner Arbeit sollten sich kurz fassen und auf personenbezogene Argumente zugunsten sachbezogener Beiträge verzichten. Die Herausgeber werden solche Initiativen fördern; eröffnet sich ihnen doch hiermit die Möglichkeit, kleine Symposien in dieser Zeitschrift zu veranstalten. Sie hoffen auf die «scientific Community» der Sozialpsychologie im engeren Verbreitungsgebiet dieser Zeitschrift. Konsequente weitere Schritte könnten «Workshops» und Konferenzen sein (und Symposien auf Kongressen). Nach ihren Kräften werden die Herausgeber hierzu gerne Hilfestellung leisten. Es sei hier auch einmal an die «Umfrage zu unveröffentlichten Fragebogen im deutschspra-

chigen Raum» erinnert, die dem Heft 1, Band 6 (1975) beigelegt wurde. Je vollständiger die zu publizierende Dokumentation wird, um so höher werden die Chancen, daß die Resultate von Forschungen vergleichbarer werden können, soweit die Vergleichbarkeit von der Benutzung konventionalisierter Meßinstrumente abhängt. Es bedurfte der Ankunft des Jahres der Frau, daß die Zeitschrift endlich das Angebot einer systematischen Analyse bisheriger Forschung zu geschlechtsspezifischen Unterschieden eines sozialen Verhaltens-Musters erhielt. — Erst das Erscheinen einer Denkschrift für Ernst A. DÖLLE weckte die Herausgeber auf: Wir befinden uns auch schon mitten im Dölle jähr. Jede Rezension dieser Denkschrift durch einen Fachkollegen der Denkschrift-Autoren hätte den Verdacht positiver oder negativer Vorurteiligkeit erregen müssen. Es galt Objektivität durch Distanz zu erlangen, die nur bei einem Soziologen, gepaart mit Sachverstand, zu finden sein wird. Die Herausgeber schätzen sich außerordentlich glücklich, daß sie den scheidenden Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Soziologie persönlich für diese Aufgabe gewinnen konnten. Martin Irle

112

Peuckert: Geschlechtsspezifische Konformität

Theorie Über geschlechtsspezifische Unterschiede im konformen Verhalten R Ü D I G E R PEUCKERT Seminar für Soziologie der Universität Erlangen-Nürnberg

In Konformitätsexperimenten verhalten sich weibliche Teilnehmer meist konformer als männliche. Eine Ursache für die größere Konformität von Frauen dürfte in der Wahl ganz bestimmter experimenteller Stimuli gesehen werden, die die Ergebnisse systematisch zuungunsten weiblicher Teilnehmer verfälschen. Daneben scheint eine geschlechtsspezifische Sozialisation einen wesentlichen Einfluß auszuüben. Weibliche Vpn verhalten sich wegen ihres stärkeren Affiliationsbedürfnisses in angsterzeugenden Situationen konformer als Männer. Ein Zusammenhang zwischen Geschlecht, Leistungsmotivation und Konformität konnte nicht nachgewiesen werden. Studies of conformity have reported that w o m e n conform more than men. A n analysis of experimental data leads to the conclusion that a disregard for the particular characteristics of the judgmental tasks may have contributed to artificially inflated observations of sex differences in conformity, i. e. sex differences might be related to the content of the measuring instrument for conformity. Furthermore, observations suggest that the observed sex-determined differences in conformity may be partly due to secondary factors associated with sex differences, such as need for affiliation.

Im Folgenden wird untersucht, ob Unterschiede in der sozialen Beeinflußbarkeit von Männern und Frauen bestehen und worauf diese zurückzuführen sind. Die in der Literatur vorherrschende Meinung behauptet eine größere Beeinflußbarkeit von Frauen. So gelangt M C G U I R E (1969), einer der prominentesten Vertreter dieser These, nach Durchsicht der umfangreichen Literatur zu dem Schluß, daß "there seems to be a clear main-order effect of sex influenceability such that females are more susceptible than males" (p. 251). Die größere Beeinflußbarkeit von Frauen konnte nach M C G U I R E sowohl in Suggestions- als auch in Konformitätsund Argumentationssituationen experimentell nachgewiesen werden. Auch laut HECKMANN (1973, p. 178) kann dieser Zusammenhang zwischen Geschlecht und sozialer Beeinflußbarkeit, zumindest in der experimentellen Forschung in

den USA, als relativ unumstritten angesehen werden. Es soll deshalb noch einmal genauer analysiert werden, ob diese These auch im Licht neuerer Ergebnisse aufrechterhalten werden kann und - sollte dies der Fall sein - welche Gründe hierfür ausschlaggebend sind. Angesichts der ungeheuer großen Zahl von Publikationen auf diesem Gebiet beschränken wir unsere Analyse auf einen Bereich sozialer Einflußnahme: die experimentelle Erforschung konformen Verhaltens unter Gruppendruck. Im ersten Abschnitt grenzen wir den Gegenstandsbereich der experimentellen Erforschung konformen Verhaltens ab und untersuchen, ob man tatsächlich von einer geschlechtsspezifischen Tendenz konformen Verhaltens sprechen kann. Im zweiten Abschnitt diskutieren wir die vorwiegend in neueren Publikationen aufgestellte These, daß

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 112-121

das gegenüber männlichen Versuchsteilnehmern häufigere Auftreten konformer Reaktionsweisen unter weiblichen Versuchspersonen auf die Benutzung bestimmter experimenteller Stimuli (Problemlösungsaufgaben) zurückgeführt werden kann, die die Ergebnisse systematisch zuungunsten der weiblichen Teilnehmer verfälschen. Im dritten Abschnitt befassen wir uns mit zwei weiteren Erklärungsversuchen, die die Unterschiede im konformen Verhalten von Männern und Frauen mit einer geschlechtsspezifischen Sozialisation begründen.

I Bevor wir uns näher mit der These vom geschlechtsspezifischen konformen Verhalten befassen, soll der Gegenstandsbereich beschrieben werden, anhand dessen wir unsere Ausführungen belegen: die experimentelle Erforschung konformen Verhaltens unter Gruppendruck. 1 Im «typischen» Konformitätsexperiment wird eine Diskrepanz zwischen dem Urteil eines Individuums und dem Urteil der Mehrzahl der übrigen Gruppenmitglieder erzeugt (GERARD 1968, p. 464); eine Diskussion dieser Diskrepanz, der Austausch von Informationen, die die Urteilsalternativen eventuell in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen, wird dabei ausgeschlossen. "For the situation to be called a 'conformity one' in the present sense, it is required that the source give no arguments for his position and that he not give any explicit indication that he expects the subjects to agree with him" (MCGUIRE 1968, p. 1133 f.). Einige Sozialwissenschaftler sprechen in diesem Sinne von einem passiven Gruppendruck, da die Gruppenmitglieder lediglich ein vom Urteil des Individuums abweichendes Urteil äußern, ohne direkt Einfluß auszuüben (ALLEN 1965, p. 135).

1

Z u r Illustration können die «klassischen» Arbeiten von SHERIF (1935, 1936), ASCH (1951, 1952, 1956) und CRUTCHFIELD (1955, 1959) herangezogen werden, deren Versuchsanordnungen in der modernen Forschung im wesentlichen unverändert übernommen werden. Neuere Experimente unterscheiden sich nur dadurch von diesen «klassischen» Arbeiten, daß teilweise andere experimentelle Stimuli und andere Techniken zur Erzeugung passiven Gruppendrucks verwendet werden (s. BLAKE & MOUTON 1961a) und der Einfluß weiterer, bisher nicht erforschter unabhängiger Variablen auf die Wahrscheinlichkeit des Auftretens konformer Verhaltensweisen untersucht wird. 2 Eine Person verhält sich demnach konform, wenn sie ihr Urteil in Richtung des Gruppenurteils als Ergebnis einer perzipierten Diskrepanz zwischen eigenem Urteil und Gruppenurteil ändert, ohne daß ein Austausch von Informationen stattgefunden hat. Auf die Schwierigkeiten, die einer Übertragung theoretischer Aussagen, die diese Definition von Konformität verwenden, auf «natürliche» Situationen im Wege stehen, kann an dieser Stelle nicht ausführlicher eingegangen werden (s. hierzu PEUCKERT 1973). Nach Ansicht der meisten Sozialwissenschaftler, die sich mit dem Zusammenhang zwischen der Geschlechtszugehörigkeit der Person und ihrem konformen Verhalten befaßt haben, scheint folgender Zusammenhang vorzuliegen: E j : Frauen verhalten sich mit größerer Wahrscheinlichkeit konform als Männer. So gelangen FREEDMAN et al. (1974, p. 236) nach Durchsicht der umfangreichen Literatur zur Konformitätsforschung zu dem Ergebnis, daß "in past research, the strongest and most consistent factor that has differentiated people in the amount they conform is their sex. Women have been found to conform more than men." Zu einer ähnlichen Schlußfolgerung gelangen

Einen Uberblick über den Stand der experimentellen Konformitätsforschung geben u. a. A L L E N (1965), K I E S (1969), N O R D (1969), KIESLER & KIESLER (1970). Für den deutschsprachigen Bereich siehe vor allem B R A N D T & KÖHLER (1972) und PEUCKERT (1974b). Der Ausdruck «Gruppendruck» ist insofern nicht ganz zutreffend, als Druck in diesem Sinne auch von Einzelpersonen ausgehen kann und selbst dann auftreten kann, wenn abgesehen vom Versuchsleiter keine weiteren Personen anwesend sind (s. NISBETT & G O R D O N 1 9 6 7 ; R U L E & SANDILANDS 1 9 6 9 ) . LER

2

113

Peuckert: Geschlechtsspezifische Konformität

114 NORD ( 1 9 6 9 , p . 1 9 8 ) , MCGUIRE ( 1 9 6 9 , p . 2 5 1 )

sowie SISTRUNK & MCDAVID ( 1 9 7 1 , p. 2 0 0 ) . Auf der anderen Seite finden wir jedoch auch einige Sozialwissenschaftler, die die Inkonsistenz der vorliegenden Ergebnisse betonen. "Conformity differences as a function of a subject's sex have not been consistent" (CRANO 1 9 7 0 , p. 241). Vor allen Dingen in den letzten Jahren wurden zahlreiche Experimente durchgeführt, in denen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede im Ausmaß konformen Verhaltens auftraten (s. ISCOE e t a l . 1 9 6 4 ; MCDAVID &

SISTRUNK

1 9 6 4 ; ENDLER

MCDAVID

1965;

SISTRUNK &

1 9 6 5 ; COSTANZO & SHAW 1 9 6 6 ; HOFFMAN & MAIER 1 9 6 6 ; VAUGHAN & WHITE 1 9 6 6 ; E N D LER & HOY 1 9 6 7 ;

TIMAEUS 1 9 6 8 ;

SISTRUNK

1 9 6 9 ; ALLEN & LEVINE 1 9 6 9 , 1 9 7 1 ; FRAGER 1 9 7 0 ; CRANO 1 9 7 0 ; KLEIN 1 9 7 1 / 7 2 ) . Auch sind uns zwei Experimente bekannt, in denen sich Männer konformer verhielten als Frauen (s. KANAREFF & LANZETTA 1 9 6 1 ; SAMPSON & H A N -

Insgesamt scheint aber tatsächlich die in Ej behauptete Tendenz vorzuliegen, daß sich Frauen konformer verhalten als Männer. Welche Variablen eventuell hierfür verantwortlich sind, untersuchen wir in den folgenden Abschnitten. COCK 1 9 6 7 ) .

II Sozialwissenschaftler betrachten die im Vergleich zu Männern größere Konformität von Frauen meist als das Ergebnis einer geschlechtsspezifischen Sozialisation. Bevor wir diese These ausführlicher diskutieren, soll zunächst auf einen anderen Erklärungsansatz eingegangen werden, der seine Entstehung nach FREEDMAN et al. (1974, p. 236 f.) der Frauenemanzipationsbewegung mit ihrer "heightened awareness of possible forms of subtle discrimination and unfair treatment of women" verdankt. Man 3

führt die größere Konformität von Frauen darauf zurück, daß in Konformitätsexperimenten in der Regel ganz bestimmte experimentelle Stimuli (Problemlösungsaufgaben) verwendet werden, die die Ergebnisse systematisch zuungunsten weiblicher Versuchsteilnehmer verzerren (MCGINNIES 1970, p. 124). Keine Übereinstimmung besteht allerdings darüber, auf welche Weise das verwendete Stimulusmaterial die Wahrscheinlichkeit konformer Reaktionsweisen verfälschen soll. Einige Forscher begründen die größere soziale Beeinflußbarkeit von Frauen damit, daß sich die in den meisten Konformitätsexperimenten benutzten Stimuli auf Gegenstände beziehen, mit denen Frauen weniger vertraut (familiar) sind als Männer. 3 Dabei gehen sie davon aus, daß folgender Zusammenhang als relativ gesichert angesehen werden kann: "The more familiar the subject is with the object of the attitude or behavior to be influenced by a norm, the less effective the pressure toward conformity" (WALKER & HEYNS 1967, p. 29). In Form des deduktiv-nomologischen Erklärungsmodells: Gji Je vertrauter eine Person mit dem Gegenstandsbereich ist, auf den sich der experimentelle Stimulus bezieht, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich konform verhält. Aj: Frauen sind mit dem Gegenstandsbereich, auf den sich der experimentelle Stimulus bezieht, weniger vertraut als Männer. E 1 : Frauen verhalten sich in Experimenten mit größerer Wahrscheinlichkeit konform als Männer. Wenn die in den Aussagen G t und A j behaupteten Zusammenhänge tatsächlich zutreffen, dann läßt sich E x logisch aus G ( und A t ableiten. Denn wenn es stimmt, daß mit zunehmender Vertrautheit (Informiertheit) einer Per-

Dabei scheint die Variable «Vertrautheit der Person mit dem Material» die abhängige Variable Konformität nicht direkt, sondern über die intervenierende Variable «Überzeugung der Person von der objektiven Richtigkeit ihres Urteils» (bei Tatsachenaussagen) bzw. über die Variable «Überzeugung der Person von der Legitimität ihres Urteils» (bei Bewertungen) zu beeinflussen, wie an anderer Stelle (PEUCKERT 1974b) gezeigt werden konnte. Dies gilt auch für einige weitere Variablen wie «self-esteem» und «perceived competence», die ebenfalls häufig in Relation zu Konformität gesetzt wurden.

Zeitschrift für S o z i a l p s y c h o l o g i e 1975, 6, 1 1 2 - 1 2 1

son mit dem Gegenstandsbereich die Wahrscheinlichkeit sinkt, daß sie sich konform verhält (Gj) und wenn Frauen mit dem Gegenstandsbereich, auf den sich die experimentellen Stimuli gewöhnlich beziehen, weniger vertraut sind als Männer (AJ), dann folgt logisch, daß sich Frauen in Experimenten mit größerer Wahrscheinlichkeit konform verhalten als Männer ( E ^ . Es ist uns nur eine Untersuchung bekannt ( M Y E R S & A R E N S O N 1 9 6 8 ) , in der G j nicht bestätigt wurde. In allen übrigen Untersuchungen lag der in G j behauptete Zusammenhang vor ( s . KIESLER

1963;

SISTRUNK &

MCDAVID

ENDLER

WALKER 1971;

&

HEYNS

SISTRUNK

1967; 1972;

1973).

Bisher sind wir davon ausgegangen, daß das experimentelle Stimulusmaterial über die Variable «Vertrautheit» die Häufigkeit konformen Verhaltens beeinflußt. Möglicherweise ist aber in Wirklichkeit die persönliche Bedeutung, die der jeweilige Gegenstandsbereich, auf den sich der Stimulus bezieht, für die Person hat, die ausschlaggebende Variable. Von den Autoren, die der Wahl des Aufgabenmaterials einen entscheidenden Einfluß auf die abhängige Variable Konformität beimessen, werden die beiden Variablen Vertrautheit der Person mit dem Gegenstandsbereich (familiarity) und persönliche Bedeutung des Gegenstandsbereichs für die Person (value, interest, importance) nicht klar genug getrennt. Z. B. verwenden SISTRUNK & M C D A V I D ( 1 9 7 1 ) abwechselnd die Ausdrücke «familiarity» und «interest», und in ihre Operationalisierung gehen beide Bedeutungen untrennbar ein (p. 201). Legen wir die zweite Interpretation zugrunde, so lautet der Begründungszusammenhang: G 2 : Für je bedeutsamer eine Person den Gegenstandsbereich hält, auf den sich der experimentelle Stimulus bezieht, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich konform verhält. A 2 : Frauen halten den Gegenstandsbereich, auf den sich die experimentellen Stimuli beziehen, für persönlich weniger bedeutsam als Männer.

115

Ej: Frauen verhalten sich in Experimenten mit größerer Wahrscheinlichkeit konform als Männer. V A U G H A N & M A N G A N (1963) ermittelten zunächst mit Hilfe einer revidierten Fassung der " Allport-Vernon-Lindzey Study of Valúes Scale", welche Bedeutung ökonomische, religiöse, politische und andere Problembereiche für die Personen einer Vergleichsgruppe hatten. Später legten sie den Personen der Experimentalgruppe Einstellungsitems aus diesen Bereichen vor. Je bedeutsamer der Problemkreis für die jeweilige Person war, desto seltener paßte sie sich dem Gruppenurteil an. Bestätigt wird G 2 auch durch ein Experiment von B A C K & D A V I S (1965). Je bedeutsamer die Versuchsperson auf einer 7-Punkte-Skala die jeweilige Aufgabe bezeichnete, desto seltener verhielt sie sich konform. In beiden Experimenten kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, daß eine Scheinkorrelation vorliegt: Personen, die das Material für persönlich bedeutsamer halten, sind gleichzeitig mit dem Material besonders gut vertraut, und dieses Vertrautsein beeinflußt das konforme Verhalten. Um diese Möglichkeit auszuschalten, manipulierten einige Forscher experimentell die Bedeutung des jeweiligen Stimulusmaterials für die Person. Als D I V E S T A (1959) seinen Vpn mitteilte, daß die Leistung in dem Test hoch mit der Intelligenz korreliere, verhielten sie sich weniger konform als die Personen einer Vergleichsgruppe, die diese Information nicht erhielten. Analog verfuhr M I L G R A M (1961), der Studenten die Längen mehrerer Töne schätzen ließ. Sobald er die Bedeutung der Ergebnisse für die Flugsicherung hervorhob, ging das konforme Verhalten zurück (s. auch die Experimente von W Y E R Jr. 1967 und PHILLIPS 1972). Daß andererseits auch die Vertrautheit der Person mit dem Material, unabhängig von dessen Bedeutung für die Person, die Wahrscheinlichkeit konformen Verhaltens beeinflußt, wiesen SNYDER et al. (1960) nach. Als sie die Bedeutung des Materials konstant hielten und das Verhalten von Teilnehmern, die mit dem Material sehr vertraut waren mit dem Verhalten von Teil-

116

Peuckert: Geschlechtsspezifische Konformität

nehmern verglichen, die mit dem Material kaum vertraut waren, trat ebenfalls der in G j behauptete Zusammenhang auf. Demnach scheinen beide Variablen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens konformer Verhaltensweisen zu beeinflussen, d. h. sowohl Gj als auch G 2 sind wahr. Um E j aus den Aussagen G 1 und A1 bzw. G 2 und A 2 ableiten zu können, müssen weiterhin A j und A 2 wahr sein: Frauen sind mit dem in Experimenten üblicherweise benutzten Stimulusmaterial weniger vertraut als Männer und/ oder Frauen halten den Gegenstandsbereich, auf sich die experimentellen Stimuli beziehen, für persönlich weniger bedeutsam als Männer. Ob A j und/oder A 2 tatsächlich zutreffen, können wir nicht entscheiden, da die relevanten Variablen in den meisten Experimenten nicht gemessen wurden. FREEDMAN et al. ( 1 9 7 4 ) nehmen den in A, behaupteten Zusammenhang als selbstverständlich an und begründen dies damit, daß in den meisten Experimenten Männer als Versuchsleiter fungieren. "Yet because men were doing the research, they tended to choose items with which they were more familiar and this unintentionally did produce a biased Situation" (p. 238). Zwar klingt diese These nicht unplausibel; aber angesichts der Tatsache, daß gerade vorher als selbstverständlich angenommene Hypothesen häufig durch die Forschung widerlegt wurden, können wir A x ohne eingehende Prüfung nicht akzeptieren. Da wir nicht feststellen können, ob A t und/oder A 2 wahr oder falsch sind, müssen wir die Frage offen lassen, ob die größere Konformität von Frauen auf besondere Merkmale des in Experimenten häufig benutzten Stimulusmaterials zurückzuführen ist oder ob in Wirklichkeit andere Variablen maßgebender sind. Wir können aber eine andere Behauptung von

SISTRUNK

&

MCDAVID

(1971,

p.

200)

überprüfen, wonach die in neueren Untersuchungen häufig fehlenden Unterschiede im konformen Verhalten von Männern und Frauen ihre Ursache darin haben, daß sich gegenüber älteren Untersuchungen die experimentellen Stimuli geändert haben. Eine genauere Analyse der benutzten Stimuli zeigt jedoch, daß von

einer derartigen Tendenz nicht die Rede sein kann. Wie in früheren Untersuchungen - siehe z. B . die Ubersicht bei BLAKE & M O U T O N (1961b) - werden auch in neueren Arbeiten, in denen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede im konformen Verhalten auftraten, meist einfache Wahrnehmungsaufgaben (am häufigsten der AscH-Linienvergleichstest) benutzt (s. ENDLER & H O Y 1 9 6 7 ; TIMAEUS 1 9 6 8 ; FRAGER 1 9 7 0 ;

1971; KLEIN 1971/72). Auch die in diesen Experimenten verwendeten Informationsitems (s. ENDLER & H O Y 1967; ALLEN & LEVINE 1969, 1971) und Einstellungsitems (s. ALLEN & LEVINE

ENDLER 1 9 6 5 ; ALLEN &

LEVINE 1 9 6 9 ,

1970;

1971/72) unterscheiden sich überhaupt nicht oder nur ganz geringfügig von dem in älteren Studien benutzten Material. Dies gilt auch für die Experimente von SAMPSON & HANCOCK (1967) und KANAREFF & LANZETTA (1961), in denen sich männliche Teilnehmer konformer verhielten als weibliche. Die Hypothese von SISTRUNK & M C D A V I D scheint uns demnach nicht haltbar zu sein. KLEIN

III

Die meisten Sozialwissenschaftler führen die größere Konformität von Frauen auf unterschiedliche Sozialisationspraktiken von Eltern gegenüber Jungen und Mädchen zurück (KRECH et

al. 1 9 6 2 ,

p. 2 2 3 ;

MCGUIRE

1969,

p. 251).

"The difference in the conformity behavior of the sexes undoubtedly reflects the cultural experiences of the two groups" ( D I V E S T A & Cox 1960, p. 266). Die Aussage ist in dieser Form zu unpräzise, um eindeutige empirische Tests zuzulassen. Zuerst müßte einmal spezifiziert werden, bezüglich welcher Merkmale sich die Sozialisationspraktiken von Eltern gegenüber Jungen und Mädchen genau unterscheiden und welche Konsequenzen diese geschlechtsspezifische Sozialisation im einzelnen hat. Zur weiblichen Geschlechtsrolle (sex role) gehören nach CHILD et al. (1946) u. a. Passivität, Unterordnung, Ängstlichkeit und ein Streben nach Herbeiführung oder Aufrechterhaltung harmoni-

117

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 112-121

scher Beziehungen; zur männlichen Geschlechtsrolle rechnen sie andererseits Aggressivität, Dominanz, Intelligenz und ein Streben nach Leistung. Es würde zu weit führen, den Einfluß sämtlicher Variablen, die in der Literatur im Zusammenhang mit der These von der geschlechtsspezifischen Sozialisation angeführt werden, auf die Wahrscheinlichkeit des Auftretens konformen Verhaltens zu untersuchen. Wir greifen zwei Variablen heraus, die in Konformitätsexperimenten mehrere Male in Beziehung zu Konformität gesetzt wurden: die Stärke des Leistungsmotivs und die Stärke des Affiliationsmotivs. Häufig werden die geschlechtsspezifischen Unterschiede im konformen Verhalten mit der stärkeren Leistungsmotivation (need for achievement) männlicher Personen begründet (BASS 1961, p. 43). Aus der Art der Entstehung von Leistungsmotivation schließen MARLOWE & GERGEN (1970, p. 26), daß es Personen mit hoher Leistungsmotivation in erster Linie darauf ankomme, ein richtiges Urteil abzugeben und nicht darauf, sich sozial anzupassen. Sozialwissenschaftler, die die Unterschiede im konformen Verhalten von Männern und Frauen auf die unterschiedliche Stärke der Leistungsmotivation zurückführen, denken also vermutlich an folgenden Zusammenhang: G 3 : Je stärker die Leistungsmotivation einer Person ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich konform verhält. A 3 : Frauen haben - aufgrund unterschiedlicher Sozialisation - eine schwächere Leistungsmotivation als Männer. E t : Frauen verhalten sich mit größerer Wahrscheinlichkeit konform als Männer. Eine erste Schwierigkeit bei der Uberprüfung dieses Zusammenhangs ergibt sich dadurch, daß die Motivationsstrukturen, die unter dem Begriff «Leistungsmotivation» zusammengefaßt werden, oft sehr unterschiedlich sind und auch bezüglich der Operationalisierung dieser Variablen unter den verschiedenen Forschern erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestehen (s. LEHR 1972). In den relativ seltenen Fällen, in

denen die Stärke des Leistungsmotivs in Beziehung zu Konformität gesetzt wurde, wurde die Leistungsmotivation mit Hilfe eines TAT-Tests gemessen. Dabei wurde die Beziehung G 3 außer in einer Untersuchung von N U R M I ( 1 9 7 0 ) - in allen übrigen Experimenten bestätigt (s. MCCLELLAND e t a l . 1 9 5 3 ;

KREBS 1 9 5 8 ;

MAR-

LOWE 1 9 5 9 ; D I V E S T A & C o x 1 9 6 0 ; SISTRUNK & M C D A V I D 1 9 6 5 ; WALKER & H E Y N S 1 9 6 7 ) .

Wir können E j nur dann aus G 3 und A 3 logisch ableiten, wenn auch A 3 gilt. Man hat versucht, die Hypothese A 3 von der Geschlechtsspezifität der Leistungsmotivation mit Hilfe unterschiedlichster Meßinstrumente zu überprüfen. Hierzu zählen Verhaltensbeobachtungen, Fremd- und Selbstbeurteilungen, projektive Meßverfahren und die Berücksichtigung der erreichten Schulklasse. Die Ergebnisse fielen dabei sehr uneinheitlich aus (siehe die Zusammenstellung von Untersuchungsergebnissen bei MACCOBY 1 9 6 6 , p. 3 4 4 f.). Bei Untersuchungen über den Schulerfolg erwiesen sich im allgemeinen Mädchen als erfolgreicher als Jungen; bei Anwendung projektiver Testverfahren (insbesondere des T A T ) ergaben sich außer in einer Untersuchung von M Ü N Z et al. ( 1 9 6 8 ) keine signifikanten Unterschiede (s. LINDZEY & GOLDBERG 1953;

MCCELLAND

et

al. 1 9 5 3 ;

WRIGHTSMAN

1 9 6 2 ; CRANDALL et al. 1 9 6 2 ) . Bei Arbeiten, die von Selbstbeurteilungen und Selbstbeschreibungen ausgingen, erwiesen sich eher männliche Personen als leistungsmotivierter; in einer Studie von ADAMS & SARASON ( 1 9 6 3 ) traten allerdings keine signifikanten Unterschiede auf. Nach Durchsicht der Literatur gelangt L E H R ( 1 9 7 2 , p. 8 9 6 ) zu dem Schluß, daß die Ergebnisse «... keineswegs eindeutig (sind), wenngleich sich ein gewisser Trend zu einer stärkeren Leistungsmotivation bei Mädchen nachweisen läßt.» Ein ganz anderes Fazit zieht hingegen TYLER ( 1 9 6 8 , p. 2 1 0 ) , die eine stärkere Leistungsmotivation von Männern feststellt. Ob A 3 somit wahr ist oder nicht, können wir beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht eindeutig sagen. Vermutlich müssen bestimmte Zusatzbedingungen erfüllt sein, damit A 3 zutrifft. Wenn aber A 3 falsch ist, dann läßt sich, unab-

118

Peuckert: Geschlechtsspezifische Konformität

hängig davon, ob G 3 wahr oder falsch ist, E j nicht logisch aus G 3 und A 3 ableiten. Die Hypothese, daß die größere Konformität von Frauen auf eine sozialisationsbedingte schwächere Leistungsmotivation von Frauen zurückzuführen ist, scheint dem vorliegenden empirischen Datenmaterial nach zu urteilen nicht zuzutreffen. Andere Sozialwissenschaftler vertreten die These von einem durch die geschlechtsspezifische Sozialisation bedingten stärkeren Affiliationsbedürfnis (Anschlußmotiv) von Frauen, was in einer angsterzeugenden Situation wie dem Konformitätsexperiment4 zu häufigerem konformem Verhalten von Frauen führe, d. h. es liegt folgender Zusammenhang vor: G 4 : Je stärker das Affiliationsbedürfnis einer Person ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich konform verhält. A 4 : Frauen haben ein stärkeres Affiliationsbedürfnis als Männer. E t : Frauen verhalten sich mit größerer Wahrscheinlichkeit konform als Männer. Bei Aussage G 4 geht man offenbar davon aus, daß Personen bei konformem Verhalten eine größere Befriedigung ihres Affiliationsmotivs erwarten als bei nicht-konformem Verhalten. Tatsächlich deuten einige Untersuchungsergebnisse darauf hin, daß Personen im Falle eines ständig vom Gruppenurteil abweichenden Urteils schließlich von der Gruppe abgelehnt und physisch oder psychisch ausgeschlossen werden (SCHACHTER

1951;

SCHACHTER

et

al.

1954;

In den meisten Experimenten, in denen die Stärke des Affiliationsmotivs mit Hilfe eines TAT-Tests gemessen und in Beziehung zu Konformität gesetzt wurde, wurde G 4 bestätigt (s. M C G H E E & T E E SAMPSON &

BRANDON 1 9 6 4 ) .

VAN 1 9 6 7 ; SISTRUNK & M C D A V I D 1 9 6 5 ; WALKER

In einem Experiment von SAMELSON ( 1 9 5 8 ) lag zwischen beiden Variablen keine systematische Beziehung vor, und in Experimenten von BYRNE ( 1 9 6 2 ) und & HEYNS 1 9 6 7 ; H I L L 1 9 7 1 ) .

4

verhielten sich Personen mit mittlerer Affiliationsstärke am konformsten. Berücksichtigt man, daß im «typischen» Konformitätsexperiment das Affiliationsbedürfnis vermutlich nicht sehr stark aktiviert wird (MARLOWE & GERGEN 1 9 7 0 , p. 3 0 ) und daß auch die Operationalisierung dieses Motivs (wie auch des Leistungsmotivs) mit Hilfe des TAT zu wünschen läßt (s. ATKINSON 1 9 5 8 ) - die mit direkten und indirekten Meßinstrumenten erzielten Ergebnisse desselben Motivs korrelieren oft nur sehr schwach (MARLOWE 1 9 5 9 ) - , so scheint G ( durch die vorliegenden Daten recht gut bestätigt zu werden. Bestätigt wurde G 4 auch in Experimenten, in denen experimentell unterschiedliche Stärken des Affiliationsmotivs erzeugt wurden (s. SCHACHTER 1 9 5 9 ; CARRIGAN & J U HARDY ( 1 9 5 7 )

LIAN 1 9 6 6 ) .

Um E j aus G 4 und A 4 ableiten zu können, muß auch A 4 wahr sein, d. h. Frauen müssen ein stärkeres Affiliationsbedürfnis haben als Männer. Es liegen nur wenige Arbeiten vor, in denen die Beziehung zwischen dem Geschlecht der Person und der Stärke ihres Affiliationsmotivs geprüft wurde. In allen Untersuchungen erwiesen sich die weiblichen Teilnehmer als stärker affiliationsorientiert als die männlichen Teilnehmer (s. LANSKY et al. 1961; SPANGLER & THOMAS 1 9 6 2 ; LAGRONE 1 9 6 3 ; ZUNICH

1964;

1972, p. 123 f.). Da demnach mit steigendem Affiliationsbedürfnis die Wahrscheinlichkeit konformen Verhaltens zunimmt (G 4 ) und da Frauen ein stärkeres Affiliationsbedürfnis haben als Männer (A 4 ), verhalten sich Frauen mit größerer Wahrscheinlichkeit konform als Männer ( E J . Somit kann die Wahl ganz bestimmter experimenteller Stimuli, die die Ergebnisse systematisch zuungunsten weiblicher Versuchsteilnehmer verzerren sollen - einmal vorausgesetzt, eine solche Tendenz besteht tatsächlich — keineswegs als einzige Ursache für die größere Konformität von Frauen angesehen werden. HÜTT

Daß es sich bei Konformitätsexperimenten um angsterzeugende Situationen handelt, konnte auch anhand physiologischer Meßinstrumente, die emotionale Reaktionen anzeigen, in mehreren Experimenten nachgewiesen

werden

(s.

HOFFMAN

1957;

GERARD

1961;

BOGDONOFF e t a l . 1 9 6 1 ; BACK e t a l . 1 9 6 3 ) .

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 112-121

Zusammenfassend kann man sagen, daß die weit verbreitete These von einer durchgängig größeren sozialen Beeinflußbarkeit von Frauen für die experimentelle Erforschung konformen Verhaltens unter Gruppendruck in dieser strengen Form nicht haltbar ist. Meist verhielten sich Frauen tatsächlich konformer als Männer; es wurden jedoch auch Untersuchungen durchgeführt, in denen kein signifikanter Zusammenhang zwischen beiden Variablen ermittelt werden konnte oder in denen sich Männer konformer verhielten als Frauen. Vorliegende Ergebnisse deuten darauf hin, daß als ein wichtiger Faktor für das Auftreten konformen Verhaltens bestimmte Eigenschaften des verwendeten Stimulusmaterials anzusehen sind: Je vertrauter eine Person mit dem Gegenstandsbereich ist, auf den sich der Stimulus bezieht, und je bedeutsamer sie diesen Gegenstandsbereich hält, desto seltener verhält sie sich konform. Unbeantwortet blieb allerdings die Frage, ob Männer oder Frauen mit dem Gegenstandsbereich vertrauter sind und/oder ob Männer oder Frauen diesen Gegenstandsbereich für persönlich bedeutsamer halten. Inwieweit die ausgewählten Stimuli die Ergebnisse systematisch zuungunsten weiblicher Versuchsteilnehmer verfälscht haben, kann deshalb nachträglich nicht entschieden werden. Als zwei weitere bedeutsame Variablen, die die Häufigkeit konformen Verhaltens beeinflussen, erwiesen sich die Stärke des Leistungs- und des Affiliationsmotivs: Je leistungsorientierter eine Person ist und je schwächer ihr Affiliationsbedürfnis ist, desto seltener verhält sie sich konform. Da Frauen im allgemeinen ein stärkeres Affiliationsbedürfnis haben als Männer, verhalten sie sich mit größerer Wahrscheinlichkeit konform. Zwischen Geschlecht und Leistungsmotivation scheint hingegen kein systematischer Zusammenhang zu bestehen, so daß diese Variable für die Erklärung geschlechtsspezifischer Unterschiede im konformen Verhalten entfällt. Ob das Aufstellen und Testen empirischer Generalisierungen (zu diesem Begriff siehe OPP 1968, p. 170) - und um eine solche handelt es sich bei der Beziehung zwischen Geschlecht und Konformität - wissenschaftlich sinnvoll ist, kann

119 an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden (s. hierzu O P P 1970, p. 58 ff. und P E U C K E R T 1974a).

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122

Grabitz-Gniech et al.: Psychologische Reaktanz

Empirie Die Stärke des Reaktanz-Effektes als Funktion der absoluten Größe und der relativen Reduktion des Freiheitsspielraumes GISLA GRABITZ-GNIECH

KYRA AUSLITZ

Universität Bremen

Sonderforschungsbereich 24 der Universität Mannheim

HANS-JOACHIM

GRABITZ

Freie Universität Berlin

Die Theorie der Psychologischen Reaktanz von B R E H M (1966) besagt, daß eine Person durch eine Einengung ihrer Freiheit motiviert wird, die verlorene oder bedrohte Freiheit wiederherzustellen. Im Verhalten drückt sich dies in Opposition gegen den Einflußversuch, in einer Aufwertung nicht mehr erreichbarer Objekte oder im Abnehmen sozialer Orientierungen aus. In der vorliegenden Untersuchung wurde die Hypothese geprüft, daß die Stärke des Reaktanz-Effektes von der absoluten Größe des Freiheitsspielraumes abhängt. Die Daten stützen diese Vorhersage. Eine weitere Hypothese, nämlich, daß das relative Ausmaß der Reduktion des Freiheitsspielraumes einen Einfluß auf die Stärke des Reaktanz-Effektes hat, kann nach den hier vorliegenden Ergebnissen nicht beibehalten werden. According to Brehm's theory of psychological reactance (1966) a person is motivationally aroused to restore his freedom whenever he experiences a restriction of his freedom. On the level of actual behavior this arousal manifests itself e. g. in some sort of opposition and an increasing attractivity of the eliminated alternative. The following study tests the hypothesis that the magnitude of reactance is a function of the absolute number of behavioral freedoms. The data give support to this hypothesis while the predictions that the relative reduction of the freedom-space is influential on the magnitude of the reactance-effect could not be hold.

THEORETISCHE GRUNDLAGEN DER UNTERSUCHUNG

Im Jahr 1966 präsentierte B R E H M seine ersten Ausführungen zur Theorie der Psychologischen Reaktanz. Die Theorie besagt, daß eine Person, sobald sie eine Einengung oder Bedrohung ihrer Freiheit spürt, motiviert wird, diese Freiheit wiederzuerhalten. Im Verhalten zeigt sich das Bemühen um Freiheitswiederherstellung z. B. in offenem Widerstandsverhalten gegen den Einflußversuch, in besonderem Engagement in die ausgeschlossenen Möglichkeiten oder in der

Aufwertung verlorengegangener Wahlalternativen. Die Theorie geht also von folgenden zwei Grundannahmen aus: Einmal, daß der Mensch ein subjektiv empfundenes Freiheitsgefühl besitzt, und zum anderen, daß die Freiheit mit Realisationsmöglichkeiten verknüpft ist. Die BREHMSche Konzeption basiert weiterhin auf der Bedingung, daß alle Individuen ihre Freiheiten auch positiv bewerten. Kontrovers zu dieser Annahme einer positiven Bewertung von Freiheit behauptet nämlich z. B. G R E E N

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 122-128

123

(1966), daß der Mensch Angst vor der Freiheit

tig ist. Diese wesentlichen Bedingungen für das

hat. Dabei baut GREEN gedanklich auf FROMM

Auftreten eines Reaktanz-Effektes bleiben nach

(1941) auf, der sagt, daß der Mensch aus seinem

BREHM (1972) unkontrollierbar und können so-

Bedürfnis nach sozialer Anerkennung heraus

mit durch ihr Nichtvorhandensein das Auftre-

und der Angst vor emotionaler Isolierung zu

ten des Reaktanz-Effektes verhindern. Das um

Konformität tendiert und sein Verhalten nach

so mehr, als der Nachweis eines Reaktanz-

den Normen der Allgemeinheit ausrichtet. Aus

Effektes hauptsächlich in solchen Experimen-

diesen Überlegungen läßt sich die Folgerung

talsituationen erfolgt, in denen der Freiheits-

ziehen, daß der Mensch bei Freiheitseinengung,

spielraum der Versuchspersonen künstlich eta-

entgegen der Auffassung von BREHM, nicht un-

bliert werden muß. Das bedeutet, den Ver-

bedingt mit Widerstand reagieren muß (siehe

suchspersonen werden irgendwelche Alterna-

dazu auch GRABITZ-GNIECH 1971).

tiven zur Auswahl angeboten, von denen ange-

Angesichts dieser beiden kontroversen A u f -

nommen wird, daß sich die Person in ihrer

fassungen über die Bewertung der Freiheit ist

Wahlmöglichkeit dieser ihrer Freiheit bewußt

auch für die vorliegende Untersuchung als kriti-

wird und sie gleichermaßen positiv bewertet.

scher Vorbehalt geltend zu machen, daß das

Bei der Messung von Psychologischer Reak-

Alltagsverhalten der Individuen sicher von de-

tanz geht man davon aus, daß sich der Span-

ren subjektiver Definition von Freiheit abhängt,

nungszustand, in dem sich das Individuum be-

die sich wiederum nach den individuell ver-

findet,

schiedenen Bewertungsgrundlagen und den kon-

äußert.

kreten Verhältnissen ausrichtet, in denen die Person agiert.

beobachtbaren

Verhaltensweisen

In der bisherigen Forschungsliteratur lassen sich drei unterschiedliche Operationalisierungen

Als Voraussetzung für das Auftreten von psychologischer

in

Reaktanz

gilt

nach

von

Reaktanz

unterscheiden.

Psychologische

BREHM

Reaktanz wird gemessen (a) als negative Attitü-

(1966) außer dem subjektiv empfundenen Frei-

denänderung in sozialen Einflußsituationen (vgl.

heitsgefühl die Wichtigkeit der Freiheit für die

M a r y L . BREHM, i n BREHM 1 9 6 6 ) , ( b ) als k o n -

Person und eine perzipierte Freiheitseinengung.

krete Verhaltensbereitschaft in Untersuchungen

Die Stärke des motivationalen Erregungszustan-

außerhalb des Laboratoriums

des hängt dabei nach BREHM im wesentlichen

GNIECH & BENAD 1 9 7 2 ) u n d ( c ) als A t t r a k t i v i -

von der Proportion der eliminierten Verhaltens-

tätsänderung von Wahlalternativen in der Ex-

freiheiten ab, d. h. von dem Verhältnis der A n -

perimentalsituation

zahl der gesamten Möglichkeiten zur Anzahl der

GRABITZ 1973b). Die Messung der Attraktivi-

eliminierten Verhaltensmöglichkeiten.

tätsveränderung ist die am häufigsten verwen-

(vgl.

(vgl. GRABITZ-

GRABITZ-GNIECH

&

dete Operationalisierung von Reaktanz, wobei Empirische

Überprüfung

der

Reaktanz-Theorie

sowohl der Attraktivitätsanstieg der eliminier-

Als Freiheitsspielraum einer Person bezeichnet

ten bzw. bedrohten Verhaltensfreiheiten als auch

BREHM (1966) die 'free

d. h. die

der Attraktivitätsabfall der restlichen Alterna-

freien Möglichkeiten, die einem Individuum zu

tiven als Reaktanz-Effekt interpretiert werden

einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung

k a n n ( v g l . GRABITZ-GNIECH & GRABITZ 1 9 7 3 b ) .

stehen. Die Größe des Freiheitsspielraumes ist

Die Freiheitseinengung erfolgt dabei durch das

behaviors',

dabei vorstellbar als Anzahl der für die Person

Angebot von Wahlalternativen, von denen dann

potentiell

Verhaltensfreiheiten.

die zweit-, dritt- oder viertattraktivste Wahlal-

Bei der empirischen Überprüfung der Reaktanz-

ternative eliminiert, bedroht oder positiv her-

Theorie liegt die Schwierigkeit

vorgehoben wird.

realisierbaren

darin, einen

Freiheitsspielraum zu etablieren. Dieser soll der Person qua Definition ein Freiheitsgefühl vermitteln, das sie positiv bewertet und das ihr wich-

124 Theoretische

Grabitz-Gniech et al.: Psychologische Reaktanz

Erwartungen

Wie schon ausgeführt wurde, richtet sich die Stärke des Reaktanz-Effektes nach der Proportion der eliminierten Verhaltensfreiheiten, d. h. nach der relativen Reduktion des Freiheitsspielraumes. Die Stärke der Reduktion kann dabei folgendermaßen variiert werden: Bei konstanter Größe des Freiheitsspielraumes (Anzahl der für die Person anfänglich verfügbaren Wahlalternativen) durch Vergrößerung der Anzahl der eliminierten Alternativen und bei konstanter Größe der Freiheitseinengung durch Verkleinerung des Freiheitsspielraumes. Bisher haben sich mit dem Problem der Abhängigkeit der Stärke des Reaktanz-Effektes von der relativen Reduktion des Freiheitsspielraumes nur zwei Untersuchungen beschäftigt. In Untersuchungen von B R E H M , M C Q U O W N & S H A BAN ( i n B R E H M 1 9 6 6 ) u n d v o n W I C K L U N D , SLAT-

(1970) wurde die Stärke der Einengung variiert. Die Ergebnisse der beiden Untersuchungen, die allerdings gewisse methodische Probleme aufwerfen (s. G R A B I T Z - G N I E C H & GRABITZ 1973a), können die BREHMsche Behauptung vorläufig bestätigen. Es mangelt jedoch an einem Experiment, das nicht nur den Prozentsatz der Einengung variiert, sondern außerdem und davon unabhängig die Größe des Freiheitsspielraumes. In den bisherigen ReaktanzUntersuchungen, die in einem Laborexperiment stattfanden, bestand die Größe des Freiheitsspielraumes in den meisten Fällen aus maximal sechs Wahlalternativen. So stellt sich die Frage, inwieweit schon allein die absolute Größe des Freiheitsspielraumes die Stärke des ReaktanzEffektes beeinflußt, und weiterhin, inwieweit die Stärke der Einengung und eine Verbindung beider Variablen für die Reaktanz-Stärke verantwortlich ist. TUM & SOLOMON

METHODE

Versuchspersonen Als Versuchspersonen nahmen 80 Studenten und Studentinnen unterschiedlicher Fachrichtungen der Universität Mannheim am Experi-

ment teil. Eine Voruntersuchung zur Auswahl der im Experiment als Wahlalternative zu verwendenden Reizvorlagen wurde mit weiteren 31 Teilnehmern eines Kolloquiums durchgeführt. Auswahl der Reize Als Alternativen zur Etablierung einer Wahlfreiheit wurden moderne Kunstdrucke (in der Größe 40 x 30 cm) verwendet. Die Auswahl der für das Experiment erforderlichen 12 Kunstdrucke (Reize) geschah in folgender Weise: Zunächst wurden (von 7 Beurteilern) aus einer Gesamtmenge von 33 Kunstdrucken - unter dem Aspekt möglichst gleicher Attraktivität - 20 zur Verwendung im Vortest ausgewählt. Im Vortest wurden diese 20 Bilder von den erwähnten Kolloquiumsteilnehmern auf einer Rating-Skala (0 bis 100) nach Attraktivität beurteilt. Die Auswahl der endgültigen 12 Kunstdrucke erfolgte nach zwei Gesichtspunkten: Erstens sollten zur Vermeidung von ce/Zmg-Effekten bei der (zweifachen) Beurteilung im Experiment die Attraktivitätsmittelwerte der Bilder nicht an den Skalenenden lokalisiert sein. Zweitens sollte die Streuung der Beurteilungen eines Bildes möglichst gering sein. Unabhängige

Variablen

Unabhängige Variablen des Experimentes waren die «Größe des Freiheitsspielraums» (2 Stufen) und die «Stärke der Einengung» (ebenfalls 2 Stufen). Die Größe des Freiheitsspielraums wurde durch die Zahl der bei der Etablierung der Wahlfreiheit angebotenen Alternativen (Kunstdrucke) variiert. Es wurden 12 (großer Freiheitsspielraum) bzw. 6 (kleiner Freiheitsspielraum) Alternativen vorgegeben. Die 6 Alternativen bei kleinem Freiheitsspielraum stellten dabei eine Untermenge der 12 Alternativen bei großem Freiheitsspielraum dar, die unter dem Gesichtspunkt möglichst gleicher durchschnittlicher Attraktivitätseinstufung gebildet wurde. Die Stärke der Einengung bestimmt sich nach dem Prozentsatz der nachträglich wieder von der Wahl ausgeschlossenen Alternativen. Diese Prozentsätze waren 33 % (geringe Einengung) und 66 o/o (starke Einengung), so daß bei klei-

125

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 122-128

nem Freiheitsspielraum 2 bzw. 4 und bei großem Freiheitsspielraum 4 bzw. 8 Alternativen nachträglich eliminiert wurden. Versuchsdurchführung

und

Instruktion

Das Experiment wurde in zwei Sitzungen durchgeführt, die im Abstand von 4 - 6 Tagen aufeinanderfolgten. Die erste Sitzung Die erste Sitzung diente der Schaffung einer Wahlfreiheit sowie zur Festlegung derjenigen Alternativen (Kunstdrucke), die aus dem Freiheitsspielraum einer jeweiligen Person wieder eliminiert werden sollten. Dazu wurde zunächst ein Stapel mit 12 (bzw. 6 bei kleinem Freiheitsspielraum) Kunstdrucken präsentiert und die Vpn wurden aufgefordert, jedes Bild auf einer Rating-Skala (0 bis 100) danach einzustufen, wie gut es ihnen persönlich gefiel. Als Anerkennung für die Teilnahme am Experiment, so wurde weiterhin gesagt, könne sich die Person eines der Bilder als Geschenk aussuchen (Etablierung der Wahlfreiheit), da jedoch die Lieferung der Bilder erst in einigen Tagen erfolge, müsse die Vp nochmals kommen. Die zweite Sitzung Bei Beginn der zweiten Sitzung wurde den Vpn mitgeteilt, daß die Lieferung der Bilder eingetroffen sei, daß aber versehentlich einige Bilder fehlen würden, so daß diese von der Vp nicht gewählt werden könnten (Elimination). Alle Bilder wurden daraufhin der V p erneut gezeigt und sie wurde unter dem Vorwand, daß man sehen wolle, ob das mehrmalige Ansehen

eines Bildes dessen Beurteilung beeinflusse, gebeten, diese nochmals einzustufen. Die bei der Sendung angeblich fehlenden Bilder waren bei dieser Beurteilung mit Zetteln gekennzeichnet. Von der Wahl eliminiert, d. h. bei der zweiten Darbietung mit Zetteln als nicht vorhanden gekennzeichnet, wurden jeweils die Bilder, die bei der ersten Einstufung nach persönlichem Gefallen die mittleren Rangplätze belegt hatten. Es wurden die Bilder mit mittleren Attraktivitätsrängen (und nicht z. B. nach dem Zufallsprinzip) eliminiert, um bei allen Objekten die Möglichkeit einer Höher- und einer NiedrigerBewertung zu gewährleisten. War eine Person also beispielsweise der Experimentalbedingung «Großer Freiheitsspielraum, Geringe Einengung» zugeordnet worden, so wurden diejenigen Bilder eliminiert, die die Person bei der ersten Einstufung auf der Rating-Skala, bezogen auf die Gesamtmenge der Bilder, als mittel attraktiv bezeichnet hatte, d. h. die Bilder, die in der Attraktivitätsrangfolge der Person die Plätze 5, 6, 7 und 8 einnahmen. Entsprechend wurde in den anderen Versuchsgruppen verfahren. Abhängige

Variable

Als abhängige Variable wurde der Mittelwert der erhobenen Attraktivitätseinstufungen der eliminierten Alternativen sowohl aus der ersten als auch aus der zweiten Sitzung verwendet. ERGEBNISSE

Die Mittelwerte der eliminierten Objekte aus Erst- und Zweitmessung sind in Tabelle 1 zu finden. (Die Werte sind angegeben in Millimetern der ca. 150 mm langen Beurteilungsskala).

Tabelle 1: Gemittelte Attraktivitätswerte der eliminierten Alternativen

Größe des Freiheitsspielraumes

Meßwerte

Stärke der Einengung Absolute Zahl

Prozent

2

1. Messung

2. Messung

33 °/o

85,500

87,550

4

66 o/o

86,400

91,950

4

33

o/o

75,250

70,613

8

66 %>

76,108

75,989

6 Alternativen

12 Alternativen

126

Grabitz-Gniech et al.: Psychologische Reaktanz

Es fallen zwei Dinge auf: Einmal sind die Ausgangsdaten, also Werte der Erstmessung für die beiden Stufen des Faktors «Größe des Freiheitsspielraums» nicht gleich groß; bei 6 Alternativen liegt der mittlere Wert höher als bei 12 Alternativen. Zum anderen zeigt sich ein Attraktivitätsanstieg von Erst- zu Zweitmessung nur bei dem kleinen Freiheitsspielraum (6 Alternativen), wohingegen beim größeren Freiheitsspielraum (12 Alternativen) ein Gleichbleiben, wenn nicht gar ein Attraktivitätsabfall zu beobachten ist. Bezüglich des Faktors «Stärke der Einengung» zeigt sich zunächst kein augenfälliger Trend in den zwei Zahlenwerten jeder Bedingung. Vorläufig läßt sich bei ausschließlicher Betrachtung der Zweitwerte sagen, daß bei stärkerer Einengung (66 o/o) im Vergleich zu schwächerer Einengung immer der höhere Wert zu finden ist.

Reaktanz-Effekt. In den Gruppen mit einem Freiheitsspielraum von 12 Alternativen ist entgegen allen Erwartungen ein allgemeiner Attraktivitätsabfall zu verzeichnen, d. h. es zeigt sich weniger (oder keine) Reaktanz. Wie in Hypothese 1 vorhergesagt wurde, ist ein ReaktanzEffekt in Gruppen mit kleinem Freiheitsspielraum stärker ausgeprägt als in Gruppen mit großem Freiheitsspielraum.

Um die unterschiedlichen Attraktivitätswerte der Erstmessung zu berücksichtigen, ohne daß Differenzwerte zwischen Erst- und Zweitmessung gebildet werden - gegen die in der Literatur häufig Einwände erhoben werden (z. B. bei CRONBACH & FURBY 1970) wurde zur Überprüfung der Hypothesen eine 2 x 2 Kovarianzanalyse gerechnet (s. Tabelle 2). Eine Analyse der Daten in bezug auf die Voraussetzungen für die Anwendung des gewählten Prüfverfahrens ergab, daß Linearität der Regression und Homogenität der Regression innerhalb der Klassen (F = 0.8077; df = 3/72) als gegeben angenommen werden können.

Nach der Theorie der Psychologischen Reaktanz von BREHM (1966, 1972) bewirkt die Elimination von Wahlalternativen einen Attraktivitätsanstieg der ausgeschlossenen Möglichkeiten. Dies ist Ausdruck eines Motivs, die persönliche Wahl- und Entscheidungsfreiheit mit allen Ausgängen wiederherzustellen. Entsprechend dieser theoretischen Aussage zeigte sich in den Experimentalbedingungen der vorliegenden Untersuchung bei kleinerem Freiheitsspielraum (6 Alternativen) eine Höherbewertung der kritischen Objekte bei der Zweitmessung: Dies kann eindeutig als Reaktanz-Effekt interpretiert werden.

Es zeigt sich ein signifikanter Effekt auf dem Faktor «Größe des Freiheitsspielraumes». In den Gruppen mit einem Freiheitsspielraum von 6 Alternativen erhöht sich die Attraktivität von Erst- zu Zweitmessung, d. h. es zeigt sich ein

Jedoch sank die Attraktivität der eliminierten Objekte in den Gruppen mit großem Freiheitsspielraum (12 Alternativen) z. T. geringfügig (bei 66 % Einengung um 0,119), z. T. auffälliger (bei 33 °/o Einengung um 4,637).

Die in Hypothese 2 enthaltene theoretische Aussage, daß der Reaktanz-Effekt mit der Stärke der Einengung zunimmt, kann nach den vorliegenden Daten nicht uneingeschränkt aufrechterhalten werden, da kein akzeptables Signifikanz-Niveau erreicht wurde. DISKUSSION

Tabelle 2: Zusammenfassung der Kovarianzanalyse mit den mittleren Attraktivitätswerten der eliminierten Alternativen QuS

A Größe des Freiheitsspielraums B Stärke der Einengung

1.106,327

Fg

1

MQuS

F

1.106,327

5,294

5 °/o

1,637

25 °/o

342,171

1

342,171

A x B

5,125

1

5,125

Fehler

15.672,944

75

208,973

p

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 122-128

Es erhebt sich die Frage, aus welchen Gründen Attraktivitätsbeurteilungen mehrerer Objekte nach Elimination (d. h. der Zweitmessung eines typischen Reaktanz-Experimentes) absinken, wenn es sich um viele Alternativen (12) handelt und ansteigen, wenn weniger Alternativen (6) präsentiert werden. Handelt es sich um einen Effekt, der nur mit der Reaktanz-Theorie erklärt werden kann oder sind andere Interpretationen denkbar? ZAJONC et al. ( 1 9 7 2 ) nennen einige Untersuchungen, bei denen Attraktivitätsveränderungen nach wiederholter Darbietung von Alternativen beobachtet worden sind. Die Autoren nennen das Phänomen des Ansteigens der Attraktivitätswerte nach mehrmaligem Vorzeigen «Exposure»-Effekt und erklären ihn über den Zusammenhang von positivem Affekt und Vertrautheit mit Objekten (bereits HOMANS, 1 9 6 1 , stellte in anderem Zusammenhang fest, daß Kontakt und Sympathie gekoppelt sind). Die Ergebnisse zeigen allerdings ein lineares Ansteigen der Attraktivität nur für bestimmte Objektgruppen, nämlich Fotos von Gesichtern und sinnlose Silben (diese sind nach ZAJONC et al. ausgezeichnet durch die Merkmale: neue Reize, neutrale Objekte, ähnliche Alternativen). Manchmal war allerdings nach anfänglichem Anstieg in einer Reihe von Darbietungen ein Attraktivitätsabfall zu beobachten (beim 25. Durchgang sogar bis unter den Ausgangswert). Diese umgekehrt uförmige Atrraktivitätskurve ergibt sich für abstrakte Gemälde. Sie wird mit Sättigung erklärt. Die Neuartigkeit, Neutralität und Ähnlichkeit nimmt nach genauerer Beobachtung der Objekte ab. ZAJONC und seine Kollegen erwähnen die Möglichkeit, daß allgemein interessantes Material, das häufig präsentiert wird, zunächst aufgrund eines Reaktanz- oder FrustrationsEffektes nach wiederholter Darbietung abgewertet wird, weil neue Alternativen erwünscht werden. Auch im vorliegenden Experiment wurde Malerei als Material verwendet. Insgesamt läßt sich das Ergebnis reaktanztheoretisch sehr gut erklären: Bei einem zu großen Freiheitsspielraum ist die Vp überfordert bezüglich der Ubersichtskapazität. Eine real ge-

127

sehene abgegrenzte Freiheit wird nicht erlebt, deshalb kann auch keine Einengung stattfinden, auf die eine Reaktion stattfindet. 6 Alternativen scheinen noch eine überschaubare Menge darzustellen (möglicherweise ist der Gesichtspunkt der Kontrolle - wie er bei GRABITZ-GNIECH & GRABITZ (1973b, p. 365) angesprochen wird ein wesentlicher Faktor), 12 Alternativen dagegen sind eher eine unstrukturierte Masse von Objekten, die keinen Freiheitsspielraum umreißen. Die theoretische Vorhersage, daß mit der Menge der zur Verfügung stehenden Alternativen (hier vielleicht nicht ganz richtig bezeichnet als «zunehmende Größe des Freiheitsspielraumes») die Stärke des Reaktanz-Effektes abnimmt, ist also geprüft und kann unwidersprochen aufrechterhalten bleiben. Das Ausmaß der Einengung zeigte lediglich einen schwachen Effekt (p < .25). Nach FESTINGER ( 1 9 6 4 ) stellen sich Personen im Vorentscheidungsprozeß eine Präferenz der Wahlalternativen auf. Nach JECKER ( 1 9 6 8 ) treffen Personen «tentative» Festlegungen, bevor sie sich explizit entscheiden. Eine für ReaktanzExperimente wichtige Bedingung ist, daß die Personen zur Etablierung eines Freiheitsspielraumes schon bei der Erstbeurteilung wissen, daß sie später eine Auswahl treffen können. Es ist denkbar, daß bei dem vorliegenden Material (nämlich Gemäldereproduktionen) starke Geschmacksunterschiede das Urteil derart beeinflußten, daß sich schon bei der Erstmessung relativ stabile Präferenzen bildeten. Ungeachtet der Stärke der Einengung beeinträchtigte die Eliminierung einiger Bilder von mittlerer Attraktivität in der zweiten Sitzung folglich kaum die Vorrangstellung und damit die Wahl (-absieht) des schon vorher präferierten Objektes. Besonders bei erhöhter Anzahl der anfänglichen Wahlmöglichkeiten (12 Alternativen) blieb den Personen bei schwacher Einengung (33 °/o) die freie Auswahl aus den vier attraktivsten Bildern und bei starker Einengung (66 %) aus den zwei attraktivsten Objekten erhalten. Wenn man dazu bedenkt, daß möglicherweise 12 Alternativen keinen überschaubaren

Grabitz-Gniech et al.: Psychologische Reaktanz

128 F r e i h e i t s s p i e l r a u m m e h r d a r s t e l l e n , s o ist d i e R e a k t i o n d e r V p n erklärbar. Die

Ergebnisse

der

vorliegenden

Untersu-

c h u n g sind für die T h e o r i e der P s y c h o l o g i s c h e n R e a k t a n z i n s o f e r n i n t e r e s s a n t , als s i e e i n e n erklärenden Hinweis für den dort Begriff

«Freiheit»

geben.

verwendeten

Entscheidungen

im

R a h m e n vieler, g l e i c h attraktiver O b j e k t e v e r unsichern

und

überfordern

Daraus folgt, daß in e i n e m

das

Individuum.

solchen

Reaktanz-Effekte nicht zu erwarten

Kontext sind,

sei

es, w e i l d i e F r e i h e i t f ü r d i e P e r s o n n i c h t w i c h t i g ist (BREHM 1 9 6 6 ; JONES & BREHM 1 9 7 0 ) , o d e r s e i es, w e i l d i e s e A r t v o n F r e i h e i t z u r ü c k g e w i e sen wird, da sie d e m I n d i v i d u u m keine Vorteile s o n d e r n K o s t e n bringt (GRABITZ-GNIECH 1 9 7 1 ) . M ö g l i c h e r w e i s e ist e i n e A n w e n d u n g d e r t h e o retischen Erkenntnisse für komplexere Alltagssituationen nur bedingt möglich. Einige wenige Beispiele

für Verhaltensbereitschaft

als

Aus-

druck v o n Reaktanz zeigten in eng definierten Real-Bedingungen

z. T . n u r

schwache

Reak-

t a n z - E f f e k t e ( K a u f v e r h a l t e n : BREHM, 1 9 6 6 , p. 8 2 ; H i l f e v e r h a l t e n : BREHM & COLE, 1 9 6 6 ; H O ROWITZ, 1 9 6 8 ; JONES, 1 9 7 0 ;

SCHWARTZ,1970).

E i n e A u s w e i t u n g auf u n k o n t r o l l i e r t e tionen mit lebens- und berufserfahrenen

SituaPer-

s o n e n ist s i c h e r n i c h t o h n e E i n s c h r ä n k u n g e n z u vollziehen.

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TAVRIS,

C.

&

VAN K R E -

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DIESEM

BEITRAG

D i e s e A r b e i t ist i m S o n d e r f o r s c h u n g s b e r e i c h 2 4 , Sozial- und wirtschaftspsychologische Entscheidungsforschung

der

Universität

Mannheim,

unter V e r w e n d u n g der v o n der D e u t s c h e n F o r schungsgemeinschaft zur V e r f ü g u n g gestellten Mittel u n d mit Unterstützung des

^ ^ ^

Landes Baden-Württemberg entstanden.

A

129

Zeitschrift f ü r Sozialpsychologie 1975, 6, 129-149

Diagnostische Urteilsbildung und sprachliche Kommunikation H A N S JOACHIM A H R E N S

K A R L H E I N Z STÄCKER

Psychologisches Institut der Universität Heidelberg

Fachbereich Psychologie der Universität M a r b u r g

Im theoretischen Teil der Untersuchung wird ein Kommunikationsmodell diagnostischer Urteilsbildung entwickelt. Das Experiment richtet sich auf die Analyse des Gebrauchs sprachlicher Zeichen im diagnostischen Kommunikationsprozeß. A n einer Stichprobe von N = 42 Psychologiestudenten wird im Vergleich zwischen Anfangssemestern, mittleren und höheren Semestern mit Hilfe multivariater Methoden untersucht, wie und mit welcher subjektiven Sicherheit diagnostische Zeichen der Alltagssprache («Popularzeichen») und korrespondierende Begriffe der Wissenschaftssprache («Konstruktzeichen») im diagnostischen Urteilsprozeß verwendet werden. Die Ergebnisse werden vor allem unter dem Gesichtspunkt der strukturellen Differenzierung diagnostischer Zeichen mit zunehmender E r f a h r u n g des Diagnostikers diskutiert. The theoretical part of this study presents a communication model concerning the diagnostic judgment process. T h e experiment tends to analyse the use of verbal labels within the process of diagnostic communication. T h e sample investigated consists of 42 students of psychology. It is subdivided into three groups defined by their different degree of psychological experience attained at university and a comparison between these subgroups is made. By means of multivariate methods the a m o u n t of subjective certainty concerning the use of diagnostic labels in colloquial speech ("popular labels") and of corresponding concepts in scientific speech ("construct labels") is investigated. The results are predominantly discussed in terms of structural differentiation of the diagnostic labels along with increasing experience of the diagnostician.

KOMMUNIKATIONSASPEKTE DIAGNOSTISCHER URTEILSBILDUNG Als Bezugsrahmen für Aussagen und Untersuchungen zur Psychodiagnostik werden meistens übliche testtheoretische und instrumenteile Grundlagen der Psychometrie herangezogen (vgl. z. B. H U B E R 1973). Als notwendige Ergänzung dieser eingeschränkten, mehr statisch-psychometrisch orientierten Sichtweise erscheinen besonders solche Arbeiten wichtig, in denen nicht das testpsychologische Fundament, sondern vielmehr der Vorgang der diagnostischen Urteilsbildung als übergeordneter, zusammenhangstiftender Bezugsrahmen für die Untersuchung bestimmter Teilaspekte der Psychodia-

gnostik in den Vordergrund gerückt wird. Solche Teilaspekte (vgl. KAMINSKI 1970, p. 22 ff.) sind etwa die Gegenüberstellung von klinischer und statistischer Vorhersage ( M E E H L 1954), die Analyse der kognitiv-logischen Struktur des diagnostischen Urteils (SARBIN, T A F T & B A I L E Y 1 9 6 0 ; SHELLY & B R Y A N 1 9 6 4 ; B I E R I e t a l . SCHRÖDER e t a l . 1 9 6 7 ; C O H E N 1 9 6 9 ;

1966;

KAMINSKI

1970 u. a.) oder die Grundlegung einer normativen Theorie des Diagnostizierens (WESTMEYER 1972). Weitere wichtige Gesichtspunkte sind die Berücksichtigung entscheidungstheoretischer Aspekte (CRONBACH & G L E S E R 1965), die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Diagnostiker und Probanden (vgl. z. B. G R A U M A N N 1 9 5 7 ; R O S E N T H A L 1 9 6 6 ; S A D E R 1 9 5 7 ; SADER KEIL

&

1966) und vor allem übergeordnete An-

130

Ahrens & Stäcker: Diagnostische Urteilsbildung

sätze, in denen der soziale Kontext der Interaktion und Kommunikation und der verwendeten Sprache als entscheidende Ausgangsbasis der Psychodiagnostik angesehen wird (vgl. z. B. HOLZKAMP 1 9 6 6 ; WATZLAWICK e t a l . 1 9 6 9 ; D I E TERICH 1 9 7 3 ; FRITZSCHE 1 9 7 4 u. a.). Unsere Untersuchung bezieht sich hauptsächlich auf diesen letztgenannten Gesichtspunkt, nämlich auf die Bedeutung der Sprache als Kommunikationsmittel im diagnostischen Prozeß.

Versucht man unter dem Kommunikationsgesichtspunkt eine Bedingungsanalyse des diagnostischen Urteils, so müssen mindestens drei Phasen der diagnostischen Kommunikation unterschieden werden (HOLZKAMP 1966, p. 19 ff.): 1. Ein Auftraggeber stellt eine diagnostische Frage an den Diagnostiker. 2. Der Diagnostiker tritt mit dem Probanden in eine kontrollierte Kommunikation und bildet ein diagnostisches Urteil. 3. Der Diagnostiker tritt wieder mit dem Auftraggeber in Kommunikation und beantwortet (meistens in Form eines Gutachtens) die gestellte Frage. Der soziale Kontext diagnostischer Kommunikation wird hier insbesondere durch die Kommunikationspartner Auftraggeber, Diagnostiker und Proband und durch das jeweilige, meistens

sprachlich-symbolische Zeichensystem des Diagnostizierens repräsentiert. Auf dieser Basis und in Anlehnung an ein informationstheoretisches Konzept diagnostischer und sprachlicher Kommunikationsketten von M E Y E R - E P P L E R ( 1 9 5 9 ) läßt sich ein einfaches Kommunikationsschema der diagnostischen Grundstruktur herleiten (vgl. Abb. 1). Das Schema repräsentiert als Kommunikationspartner den Auftraggeber (A), den Diagnostiker (D) und das betroffene Subjekt (S). Jeder diagnostische Prozeß nimmt gewöhnlich seinen Ausgang von der Frage eines «Auftraggebers» (der im Spezialfall das zu diagnostizierende Subjekt selbst sein kann) an den Diagnostiker. Diese Frage bildet den Eingang der diagnostischen Kommunikationskette zwischen Diagnostiker und Subjekt. Der Diagnostiker gewinnt seine diagnostischen Informationen unter Anwendung einer entsprechenden Untersuchungsstrategie (vgl. z. B. CRONBACH & GLESER 1 9 6 5 , p. 18 ff.) und unter Verwendung bestimmter diagnostischer Hilfsmittel (H). Die diagnostischen Hilfsmittel können beispielsweise Explorationsfragen oder auch Items eines Testinstrumentes sein. In die diagnostische Interaktion D x S zwischen Diagnostiker (D) und Subjekt (S) wird also als vermittelndes Agens ein bestimmtes dia-

Relevanzprobleme

Diagnostische Interaktion D x (Hl x S zwischen Dia. gnostiker und Subjekt unter Vermittlung diagnostischer Hilfsmittel

1 z (A) 6 3 Z ( D ) 2 r Zeichen Vorräte

Abb. 1: Kommunikationsschema der diagnostischen Urteilsbildung

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 129-149

gnostisches Hilfsmittel (H) eingeschaltet, so daß dieser Anteil der diagnostischen Kommunikation insgesamt durch eine «Interaktion» D x (H) x S beschrieben werden kann. Die unmittelbaren diagnostischen Informationen werden in der durch den Diagnostiker kontrollierten «Interaktion» H x S zwischen Meßsystem (H) und zu messendem System (S) gewonnen (vgl. dazu allgemein LEINFELLNER 1 9 6 7 , p. 1 0 8 ff.; A H R E N S 1974, p. 39 ff.), beispielsweise in Form von Testwerten. Bei ideal objektiven Tests würde man erwarten, daß in der gesamten Interaktion D x (H) x S der Diagnostiker ohne systematischen Einfluß auf die diagnostische Information bleibt, so daß sich die Interaktion auf H x S reduziert. Auf der Grundlage der diagnostischen Informationen kommt der Diagnostiker zu einer Diagnose, die er dem Auftraggeber - meistens in Form eines sprachlichen Gutachtens - als Antwort auf die anfangs gestellte Frage übermittelt. Der gesamte diagnostische Entscheidungsprozeß wird gewöhnlich durch den Auftraggeber bzw. Gutachtenempfänger abgeschlossen, indem dieser eine «endgültige» Entscheidung trifft (z. B. Selektion, Klassifikation). Wegen der Betroffenheit des diagnostizierten Subjekts und der Beteiligung sozialer und gesellschaftlicher Instanzen kann diese Entscheidung Anlaß für die Einschätzung der äußeren Relevanz (z. B. emanzipatorischen Relevanz; vgl. HOLZKAMP 1 9 7 2 ) diagnostischer Urteilsbildung geben. In dem gesamten abgebildeten Kommunikationsvorgang ist mindestens die Kommunikation zwischen Auftraggeber (A) und Diagnostiker (D) als sprachliche Kommunikationskette anzusehen. In den meisten Fällen vollzieht sich jedoch auch die Kommunikation zwischen Diagnostiker (D) und Subjekt (S) unter Vermittlung der Interaktion H x S in sprachlichen Medien, die teils der Umgangssprache entsprechen, teils jedoch in einer konstruktabhängigen diagnostischen Wissenschaftssprache oder sogar nur in numerisch verschlüsselten Zeichen (z. B. Testscores) bestehen können. In beiden Anteilen und allen genannten Fällen diagnostischer Kommunikation ist die Urteilsbildung in ihren informa-

131

tionsübermittelnden und informationsverarbeitenden Schritten an das Vorhandensein bestimmter Zeichensysteme gebunden, nämlich an a) diagnostische Zeichen des Subjekts (S) gegenüber dem Diagnostiker (z. B. Ausdruckszeichen, Explorationsantworten, Testantworten; vgl. Z CS)); b) Zeichen des Diagnostikers (D) gegenüber dem Subjekt (z.B.Explorationsfragen, Testfragen, apparative Reize; vgl. Z (D) x ) und gegenüber dem Auftraggeber (z. B. gutachtliche Äußerungen; vgl. Z (D) 2 ); c) Zeichen des Auftraggebers A gegenüber dem Diagnostiker (z. B. sprachliche Gutachtenwünsche; vgl. Z (A)). Zur genaueren theoretischen Einordnung unseres Experimentes über Struktureigenarten im Erwerb diagnostischer Sprachzeichen sollen abschließend einige weitere allgemeine Gesichtspunkte angeführt werden, die den Gesamtrahmen möglicher Grundlagenforschung zur Psychodiagnostik deutlicher erkennen lassen. Eine kürzlich erschienene Abhandlung zur «Logik der Diagnostik» von WESTMEYER ( 1 9 7 2 ) ist primär wissenschaftstheoretisch orientiert und zielt die Grundlegung einer «normativen» Diagnostik an. Für die Untersuchung der diagnostischen Urteilsbildung bzw. der Handlungen des Diagnostikers sieht WESTMEYER (p. 18) vier Betrachtungsweisen «ohne scharfe Grenzen» für bedeutungsvoll an, nämlich - deskriptive Untersuchungen zur Beschreibung, Ordnung und Systematisierung von Vorgängen der diagnostischen Urteilsbildung; - explanative oder explikative Untersuchungen mit dem Ziel der wissenschaftlichen Erklärung; - spekulative Untersuchungen, die sich zunächst auf die systemimmanente Verbindlichkeit des Theoretisierens beschränken und lediglich heuristischen Wert haben; - präskriptive oder normative Analysen zur Festlegung von Regeln, «nach denen der diagnostische Prozeß abzulaufen hat, wenn er den Kriterien der Wissenschaftlichkeit und Korrektheit genügen will. Es geht dabei um

132 die Grundlegung einer Lehre vom korrekten Diagnostizieren» (p. 18). Vor allem die zwei erstgenannten Betrachtungsweisen sind im Prinzip empirisch ausgerichtet und orientieren sich an der Frage, wie Diagnostik tatsächlich im einzelnen vollzogen wird. Demgegenüber bezieht sich der präskriptive Ansatz auf eine logische Analyse der diagnostischen Urteilsbildung unter der Fragestellung, wie eine korrekte Diagnostik sein soll und begründet werden kann. Zur Explikation des Begriffs der Diagnose verwendet WESTMEYER das allgemeine Konzept wissenschaftlicher Erklärungen nach HEMPEL & OPPENHEIM (1948) u. a. In seinen letzten Arbeiten zur Diagnostiktheorie versucht WESTMEYER (1974a, b), das STEGMÜLLERsche Konzept der statistisch-kausalen Analyse (vgl. STEGMÜLLER 1973) auf den diagnostischen Prozeß zu übertragen, um bestimmte Probleme der induktiv-statistischen Erklärung zu vermeiden. DIETERICH (1973) orientiert sich bei der Behandlung von Grundlagenfragen der Diagnostik gleichfalls an einer wissenschaftstheoretischen Perspektive, die allerdings neben dem logischen Aspekt auch verschiedene inhaltlich-empirische Gesichtspunkte gleichberechtigt miteinbezieht. Der Autor sieht die besondere Aufgabe einer Analyse der diagnostischen Urteilsbildung darin, «... Psychodiagnostik aus dem Bereich der Begrenzungen des menschlichen Erkenntnisvermögens heraus zu entwickeln. Als solche Begrenzungen erkennen wir im wesentlichen:

1. Die Einflüsse der Sprache auf das diagnostische Urteil, 2. die Grenzen des kognitiven Apparats, 3. Vorwissen, Vorurteile und 'implizite Persönlichkeitstheorien', 4. vorgegebene logische Strukturen bei der Formulierung diagnostischer Urteile» (DIETERICH 1973, p. 13). Für unser eigenes Experiment zur diagnostischen Kommunikation ist vor allem der erstgenannte Gesichtspunkt, nämlich der Zusammenhang von Sprache und diagnostischer Urteilsbildung von Belang, wobei DIETERICH ( 1 9 7 3 , p. 1 6 ff.) besonders die Kommunikationsfunktion und

Ahrens & Stäcker: Diagnostische Urteilsbildung

die Repräsentanzfunktion der Sprache hervorhebt. Wie im nächsten Abschnitt präzisiert wird, richtet sich unsere Untersuchung hauptsächlich auf bestimmte Fragen der Kommunikationsfunktion diagnostischer Sprachzeichen, während die Frage der Validität diagnostischer Urteile als Problem der Repräsentanz vorerst unberücksichtigt bleibt.

EXPERIMENTELLE FRAGESTELLUNG Die von WESTMEYER und DIETERICH genannten «Betrachtungsweisen» bzw. zu beachtenden «Begrenzungen» bei der Durchführung von Untersuchungen zur diagnostischen Urteilsbildung lassen sich zur zweckmäßigen Einordnung unserer experimentellen Fragestellung verwenden, sofern man diese Aspekte nicht als scharf gegeneinander abgegrenzte Gesichtspunkte betrachtet. Schwerpunktmäßig läßt sich unser Experiment dann primär als empirisch-deskriptive Untersuchung zur Kommunikationsfunktion der Sprache bei der diagnostischen Urteilsbildung einordnen (vgl. Tab. 1). Indem auch stichprobenspezifische Strukturanalysen der untersuchten diagnostischen Zeichen aus der Umgangssprache im Übergang auf die diagnostische Wissenschaftssprache durchgeführt wurden, beschäftigt sich unser Experiment im Ansatz auch mit der Begriffsstruktur von «impliziten Pe-sönlichkeitstheorien» der untersuchten Diagnostiker. Unser Experiment richtet sich auf bestimmte sprachliche Voraussetzungen diagnostischer Kommunikation und Eindrucksbildung, nämlich auf die Strukturierung eines Repertoires diagnostischer Sprachzeichen auf Seiten des Diagnostikers, wie sie im konkreten Akt der diagnostischen Urteilsbildung in Erscheinung tritt. Um Einblick in die fortschreitenden Stadien entsprechender Zeichenbildungsprozesse zu gewinnen, wählen wir die Situation von Psychologiestudenten, die im Laufe ihrer Ausbildung bestimmte sprachliche Zeichensysteme und ihre Anwendung in der diagnostischen Urteilsbil-

133

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 129-149 Tabelle 1

Aspekte der Grundlagenforschung zur diagnostischen Urteilsbildung und Schwerpunkte (X) der vorliegenden Untersuchung zum Erwerb und Gebrauch diagnostischer Zeichen der Alltags- und Wissenschaftssprache

_____ DIETERJCH (1973, p . 13)

empirisch

WESTMEYLR (1972, p . 18)

spekulativ

—•—

Sprache (Kommunikationsfunktion, Repräsentanzfunktion etc.)

deskriptiv

logisch explanativ

normativ

X

Kognition und Grenzen des kognitiven Apparats

Vorwissen, Vorurteile, implizite Persönlichkeitstheorien

(X)

Logische Strukturen der diagnostischen Urteilsbildung

dung erlernen. Um den zeitlichen Aufwand einer regulären Längsschnittuntersuchung vorerst zu umgehen, sollen drei Gruppen von Psychologiestudenten als «Diagnostiker» unterschiedlichen Ausbildungsstandes im Querschnitt erfaßt und miteinander verglichen werden. Damit untersuchen wir innerhalb der diagnostischen Kommunikation zunächst einmal den fortschreitenden Prozeß der Normierung und Objektivierung diagnostischer Sprachzeichen (vgl. DIETERICH 1973, pp. 38 und 42 ff.). Insbesondere um auch die Untersuchung von Studienanfängern im Vergleich zu höheren Semestern zu ermöglichen, wird - unabhängig von jeder Validitätsfrage bzw. «Repräsentanzfunktion» der Sprache - eine sehr einfache diagnostische Urteilssituation gewählt, nämlich die Eindrucksbildung bei der Beurteilung ausdruckshaltiger Porträtfotos. Im diagnostischen Zeichensystem (vgl. Z (D) x ; Abb. 1) sollen als Urteilseigenschaften zunächst übliche Begriffe der diagnostischen Wissenschaftssprache verwendet werden, die wir wegen ihrer Abhängigkeit von den theoretischen Konstruktionen impliziter (oder auch expliziter) Persönlichkeitstheorien der Diagnostiker kurz als «Konstruktzei-

chen» bezeichnen (z. B. dysphorisch). Mit der Bezeichnung «Konstruktzeichen» haben wir auch einen von LEINFELLNER (1967, p. 24) herausgestellten Präzisierungsaspekt der Wissenschaftssprache in ihrer Tendenz zur theoretischen Sprache anzuzielen versucht, nämlich die Verankerung diagnostischer Sprachzeichen in einem System theoretischer Konstruktionen der diagnostischen und differentiellen Psychologie. Wir gehen davon aus, daß der Fortschritt diagnostischer Ausbildung u. a. an diesen Präzisierungsprozeß geknüpft ist, der im Ubergang von der Umgangssprache in die «Konstruktzeichen» einer diagnostischen Wissenschaftssprache zum Ausdruck kommt. Man kann auch sagen, daß die Zusammenhänge zwischen umgangssprachlichen «persönlichen Konstrukten» und wissenschaftssprachlichen «theoretischen Konstrukten» geklärt werden müssen (vgl. SCHNEEWIND 1 9 6 9 ; WESTMEYER 1 9 7 2 , p . 1 3 8 f f . ; DIETERICH

1973, p. 104 ff.). Um im Vergleich von Studentengruppen unterschiedlichen Ausbildungsstandes den Übergang von der Umgangssprache in eine diagnostische Wissenschaftssprache bzw. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen beiden beobachten zu können, wird jedem

134 «Konstruktzeichen» ein entsprechender Begriff der Umgangssprache zugeordnet, den wir kurz als «Popularzeichen» bezeichnen (z. B. mißgestimmt). Dieser Aspekt, nämlich die Klärung der Beziehungen zwischen Umgangssprache und Wissenschaftssprache in der diagnostischen Urteilsbildung - wird beispielsweise von DIETERICH (1973, p. 38) nachdrücklich als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Gewährleistung der Kommunikationsfunktion des diagnostischen Vokabulars herausgestellt. Auch WESTMEYER (1972, p. 138 ff.) weist z. B. auf die Bedeutung der umgangssprachlichen Bezugsetzung diagnostischer Zeichen besonders für den Fall hin, daß der diagnostische Prozeß unmittelbar mit einer psychologischen Beratung verknüpft wird. Auf dem Hintergrund so verstandener Systeme diagnostischer Zeichen läßt sich unsere experimentelle Fragestellung zur strukturellen Analyse des Gebrauchs von Sprachzeichen in diagnostischen Kommunikationsprozessen folgendermaßen differenzieren und präzisieren: 1. Wie verschieden sind die Strukturen diagnostischer Zeichensysteme («Konstruktbegriffe» und «Popularbegriffe») im Vergleich von Psychologiestudenten unterschiedlichen Ausbildungsstandes? 2. Wie verschieden ist innerhalb der Strukturierung des diagnostischen Zeichensystems die Verknüpfung und der gegenseitige Bezug von diagnostisch-wissenschaftlichen Begriffen («Konstruktbegriffen») und zugeordneten Begriffen der Umgangssprache («Popularbegriffe»)? Da im Rahmen einer empirischen Untersuchung zum Gebrauch eines diagnostischen Vokabulariums in Abhängigkeit von der Erfahrung des Diagnostikers auch die subjektive Wahrscheinlichkeit oder Sicherheit von Interesse ist, mit der ein Diagnostiker die einzelnen Begriffe im diagnostischen Schlußprozess verwendet (vgl. z. B. WESTMEYER 1972, p. 4 1 f.), soll als

dritte Frage untersucht werden: 3. Wie verschieden ist in Bezug auf den unterschiedlichen Ausbildungsstand die subjektive

Ahrens & Stäcker: Diagnostische Urteilsbildung

Sicherheit im Umgang mit den Begriffen des diagnostischen Zeichensystems?

VARIABLEN STICHPROBE VERSUCHSDURCHFÜHRUNG Urteilsobjekte, diagnostische Urteilsbegriffe und weitere Variablen An Stelle von konkreten Individuen sollen als Urteilsobjekte n = 15 ausdruckshaltige Porträtfotos männlicher Personen einer mittleren Altersgruppe (etwa 30-35 Jahre) beurteilt werden. Die Fotos können hier wegen Wahrung der Anonymität nicht wiedergegeben werden. Da wir jedoch keine Untersuchung zur Ausdrucksdiagnostik mit inhaltlichen Geltungsfragen planen und lediglich eine Auswahl geeigneter Urteilsobjekte benötigten, die den kontrollierten Gebrauch bestimmter diagnostischer Zeichen auslösen soll, kann diese Einschränkung hier u. E. in Kauf genommen werden. Als diagnostische Zeichen wurden insgesamt m = 26 Urteilseigenschaften ausgewählt, davon rrij = 13 «Konstruktzeichen» (KO) und m 2 = 13 zugeordnete «Popularzeichen» (PO). Die zugeordneten Paare von Sprachzeichen sind aus Tab. 2 im Ergebnisteil ersichtlich. Die Zuordnung dieser Begriffe und ihre Auswahl aus einer größeren Zeichenmenge wurde durch eine Expertenschätzung abgesichert (N = 8 Diplompsychologen). Begriffspaare mit zu geringer Zuordnungsähnlichkeit und zu großer Streuung der Ähnlichkeitsschätzungen wurden ausgeschieden. Die subjektive Sicherheit im Umgang mit den ausgewählten Begriffen in der diagnostischen Urteilsbildung wurde auf einer einfachen 7Punkte-Schätzskala eingeschätzt. Diagnostikerstichprobe Als «Diagnostiker» wurden insgesamt N = 42 Psychologiestudenten am Institut für Psychologie der TU Braunschweig untersucht. Hinsichtlich des geplanten Vergleiches von Studenten

135

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 1 2 9 - 1 4 9

unterschiedlichen Ausbildungsstandes teilte sich die Gesamtstichprobe folgendermaßen auf: Gruppe Gj = 19): Anfangssemester (1. und 2. Semester) Gruppe G 2 (N 2 = 12): Mittlere Semester (5., 6. und 7. Semester) Gruppe G 3 (N 3 = 11): Höhere Semester (9., 10. und höhere Semester). Versuchsdurchführung Das Experiment wurde im Gruppenversuch mit Hilfe eines Projektors durchgeführt. Zur Beurteilung der n = 15 Porträtfotos auf 7-PunkteSchätzskalen (7 = trifft am stärksten zu) wurden alle m = 26 Begriffe zufällig gemischt, wobei allerdings zusätzlich darauf geachtet wurde, daß zugeordnete Konstrukt- und Popularbegriffe nicht unmittelbar aufeinanderfolgen. Die Beyrteilung erfolgte jeweils pro Urteilsobjekt nach allen Begriffen. Nach Abschluß aller Beurteilungen hatten die Pbn auf einer 7-Punkte-Schätzskala für jeden Begriff einzuschätzen, mit welcher subjektiven Sicherheit sie alle Porträtfotos beurteilt hatten.

METHODE

DER

DATENANALYSE

Gemäß unserer Fragestellung soll die interne Beschaffenheit und die Veränderung von Systemen diagnostischer Sprachzeichen strukturanalytisch untersucht werden. Der Begriff «Struktur» soll hier ganz im Sinne von multivariaten bzw. dimensionsanalytischen und geometrischen Strukturmodellen verstanden werden, wie sie beispielsweise der Faktorenanalyse oder der multidimensionalen Skalierung zugrundeliegen. In unserem Fall kann etwa die Struktur der diagnostischen Zeichen in Form von Distanzen (Strukturdaten) zwischen den Teilmengen «Konstruktzeichen» und «Popularzeichen» in Erscheinung treten. Die empirische Ähnlichkeitsstruktur der Urteilsobjekte kann z. B. durch eine Interkorrelationsmatrix oder nach deren Faktorenanalyse durch ein Faktorenmuster numerisch abgebildet werden.

Als Methoden der strukturellen Datenanalyse sollen vor allem Profilvergleichsmethoden und faktorenanalytische Verfahren herangezogen werden. Profilvergleiche müssen beispielsweise durchgeführt werden, wenn in den verschiedenen Probandengruppen G 1 ; G 2 und G 3 die Ähnlichkeit zwischen KonstruktzeichenProfil und Popularzeichen-Profil festgestellt werden soll. Ähnlichkeitskoeffizienten, die Profilhöhe, Profilstreuung und Verlaufsgestalt gleichzeitig berücksichtigen, stammen z. B. von CATTELL ( 1 9 4 9 , 1 9 6 6 ) . Wir beschränken uns bei den Profilvergleichen unserer Untersuchung für den Fall, daß hauptsächlich nur die Ähnlichkeit hinsichtlich der Verlaufsgestalt interessiert, auf die Berechnung von Produktmoment-Korrelationen (vgl. BAUMANN 1 9 7 1 , p. 3 6 f.). Insbesondere wenn es sich um orthogonale Raumachsen handelt (wie in Faktorenräumen), kann die Ähnlichkeit (bzw. Unähnlichkeit) je zweier Profile zweckmäßig durch den Abstand entsprechender Raumpunkte ausgedrückt werden, beispielsweise durch euklidische Distanzen. Dieses Distanzmaß ist von der Verteilungsform der Variablen unabhängig und berücksichtigt Unterschiede zwischen Profilmittelwert, Profilstreuung und Verlaufsgestalt. Der CATTELsche Ähnlichkeitskoeffizient ist eine monoton

Matrix von Faklorenwerten der Begriffe (für G1 . G 2 . G 3 )

Ausgangsmatrix der mittleren Urteilswerte ifür G 1 , G 2 . G J I n = 15 Urteilsobjekte

interkorrelationsmatrix der Urteilsobjekte

Faktorenladungen der Urteilsobjekte [Ar= reduzierte, r-dimensionale Faktorenstruktur)

rotierte r e d u z i e r t e Fakorenstruktur (Varimax)

Abb. 2: Plan der faktorenanalytischen Strukturanalyse der Urteilsdaten

136 fallende Funktion der euklidischen Distanz (vgl. BAUMANN 1 9 7 1 , p . 3 9 f . ) .

Für die dimensionale Strukturanalyse des diagnostischen Zeichensystems bzw. zur Deskription der impliziten Persönlichkeitstheorie der «Diagnostiker» auf der Basis der untersuchten Sprachzeichen soll das übliche Hauptkomponentenmodell der Faktorenanalyse herangezogen werden. Für die Strukturanalyse der Urteilsobjekte und vor allem des diagnostischen Zeichensystems (Konstruktzeichen und Popularzeichen) soll die Faktorenanalyse in jeder der drei Gruppen folgendermaßen angewandt werden (vgl. Abb. 2): 1. In jeder Gruppe G p G 2 und G 3 werden die Urteile über die jeweiligen Beurteiler (N,, N.,, N s ) arithmetisch gemittelt. Es liegt dann für jede Gruppe pro Urteilsobjekt (i, j = 1, 2, ..., n) ein durchschnittliches Urteilsprofil über alle m, + m 2 = m (q = 1, 2,..., m) Urteilseigenschaften vor, also insgesamt eine m x n-Matrix X mit mittleren Urteilsdaten. 2. Zur Vorbereitung von Faktorenanalysen zur Strukturierung der Urteilsbildung werden die n Urteilsobjekte (Porträtfotos) miteinander korreliert, so daß für jede Gruppe eine n x nInterkorrelationsmatrix R^ der Urteilsobjekte vorliegt. 3. Die Korrelationsmatrix Rjj wird nach dem Hauptkomponentenmodell faktorisiert. Es resultiert im vollständigen Fall (bei Kommunalitäten h ; 2 = 1) eine n x n-Matrix A mit Faktorenladungen a ik der Urteilsobjekte. Nach Inspektion des Eigenwertabfalls X, ^ ... ^ l T ^ ... ^ An wird für jede Gruppe eine reduzierte r-dimensionale Lösung (r 0

4.65 5.10 0.58 0.47

der vorsichtiger verwendet werden (sekundäre Distanzierung, sekundäre Unsicherheit). Die Veränderung der subjektiven Urteilssicherheit ist hinsichtlich der Mittelwerte, Mittelwertsdifferenzen und Standardabweichungen beider Begriffsarten in Abb. 9 als idealisierter Trend

Abb. 9: Schematisch vereinfachte Verteilungen der mittleren Sicherheitsschätzungen für Konstrukt- und Popularbegriffe (Mittelwerte in der oberen Zeile, Standardabweichungen in der unteren Zeile unter den Verteilungen).

zusammengefaßt. Unter Berücksichtigung der qualitativen Profilinspektion (vgl. Abb. 8) und

a) Die Konstruktbegriffe werden in allen Grup-

der Profilkorrelationen (vgl. Tab. 9) fällt in E r -

pen mit durchschnittlich geringerer Sicher-

gänzung zum schon festgestellten Trend der

heit gebraucht als die Popularbegriffe. Für

durchschnittlichen Abnahme der Distanzen und

die Konstruktbegriffe

entsprechenden Zunahme der Profilkorrelatio-

Sicherheit jedoch offensichtlich mit zuneh-

nen folgendes auf:

mender diagnostischer Erfahrung an (G s

steigt die subjektive -

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 129-149

147

G 2 - G 3 ), während sie bei den Popularbegriffen annähernd konstant bleibt bzw. sogar geringfügig abnimmt, b) Die Standardabweichung der mittleren Sicherheitswerte aller Konstruktbegriffe ist in allen Gruppen größer als die der Popularbegriffe. Erst in der Gruppe G 3 mit dem höchsten Ausbildungsstand erscheinen die Streuungen bei größter Annäherung der Mittelwerte ausgeglichen. Für die Konstruktbegriffe ist die Standardabweichung in den Anfangsgruppen G, und G 2 im Vergleich zu den hohen Semestern deutlich größer, während sie für die Popularbegriffe geringer und annähernd konstant ist. Insgesamt zeigt die Analyse der subjektiven Urteilssicherheit, daß die Popularbegriffe von Anfang an mit größerer Sicherheit verwendet werden, und daß die Konstruktbegriffe sich diesem Sicherheitsniveau kontinuierlich annähern. Vor allem in der Endstufe wird schließlich ein Trend zur Abnahme der Sicherheit in der Verwendung der umgangssprachlichen Zeichen sichtbar, den man vielleicht als Anzeichen für eine sekundäre Verunsicherung der Probanden durch die zunehmende Normierung der korrespondierenden Wissenschaftsbegriffe während der diagnostischen Ausbildung interpretieren könnte. Die von uns postulierte und schon für die Beurteilung der Porträtfotos aufgewiesene Konvergenz der beiden diagnostischen Zeichen-

systeme zeigt sich also auch im Reaktionsbereich der eingeschätzten Urteilssicherheit, d. h. vermutlich auf der Ebene eines deskriptiven Konstrukts für die subjektive Wahrscheinlichkeit diagnostischer Schlüsse. Dieser Interpretationsaspekt konnte auch durch direkte Vergleiche von Urteilssicherheit und Faktorwert-Distanzen aus der Strukturanalyse der diagnostischen Zeichen in differenzierter Form gestützt werden, wie die Inspektion der Mittelwerte und Korrelationen in Tab. 10 zeigt.

Zusammenfassender Überblick der Ergebnisse Unsere Untersuchung ging von der Konzeption aus, daß Vorgänge der diagnostischen Urteilsbildung theoretisch und empirisch nur unvollständig erfaßt werden, wenn man sie beispielsweise nur als Anwendungsfälle statistisch-struktureller Test- und Persönlichkeitstheorien oder nur als Realisierung kognitiver und anderer Fähigkeiten des Diagnostikers untersucht. Schon in den Arbeiten von CRONBACH & G L E SER ( 1 9 6 5 ) , HOLZKAMP ( 1 9 6 6 ) , BIERKENS ( 1 9 6 8 )

u. a. wird der prozessuale Aspekt des Diagnostizierens mehr in den Vordergrund gerückt. Dieser dynamische, handlungspsychologische Gesichtspunkt wird - unter jeweils unterschiedlicher theoretischer Perspektive - auch in neueren Arbeiten von KAMINSKI ( 1 9 7 0 ) , WEST-

Tabelle 10 Mittelwerte und Korrelationen für Faktorenwert-Distanzen und Sicherheitsschätzungen gegenüber Konstruktbegriffen (KO) und Popularbegriffen (PO) in den Gruppen G 1 ; G 2 und G 3 Korrelationen zwischen Distanzen und mittleren Sicherheitsschätzungen für Konstrukt- und Popularbegriffe

Mittelwerte Gruppe

Mittlere FaktorenwertDistanz d(KO, PO)

Mittlere Sicherheitsschätzungen KÖ



Einfache Korrelationen

r

K O , PO

r

d , KO

r

d , l'O

Multiple Regressionsgewichte ß d , K O . PO

ß d , P O . KO

Multiple Korrelation

Rd;

K O , PO

G,

1.42

2.92

5.83

-0.051

-0.567

-0.227

-0.581

-0.298

0.385

G2

1.11

3.93

5.44

0.143

-0.590

-0.072

-0.591

0.789

0.540

G3

0.80

4.65

5.10

0.562

-0.332

0.245

-0.685

0.485

0.589

148 (1972,1973) DIETERICH (1973) u. a. stärker beachtet. Auch in der Zielsetzung unseres Experimentes wurde der prozessuale Aspekt und der soziale und kommunikative Hintergrund diagnostischer Urteilsbildung als besonders wichtig herausgestellt. Deshalb wurde im theoretischen Teil der Untersuchung dem Prozeß der diagnostischen Urteilsbildung ein Kommunikationsmodell zugeordnet, dessen Medium in erster Linie die Sprache ist. Der soziale Kontext wird durch die Kommunikationspartner Auftraggeber, Diagnostiker und Proband gebildet. Auf dieser Basis lassen sich eine Reihe empirisch prüf barer Fragestellungen herleiten. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Untersuchung einer der wichtigsten Voraussetzungen diagnostischer Kommunikation, nämlich auf das Erlernen und die Strukturierung diagnostisch bedeutsamer, wissenschaftssprachlicher Sprachzeichen auf dem Hintergrund entsprechender Begriffe der Alltagssprache. MEYER

Auf diesem theoretischen Hintergrund lassen sich die wichtigsten empirischen Untersuchungsergebnisse in vereinfachter, pointierter Form folgendermaßen umreißen: 1. Als allgemeiner Trend zeigt sich sowohl bei Profilvergleichen als auch auf der Ebene faktorieller Strukturen eine zunehmende Annäherung im diagnostischen Gebrauch von «Konstruktzeichen» und «Popularzeichen» mit fortschreitendem Ausbildungsstand. Dieser Trend zunehmender Explikation umgangssprachlicher Zeichen durch wissenschaftssprachliche Begriffe wird relativiert durch bestimmte différentielle Auffälligkeiten, und zwar sowohl in Hinblick auf einzelne Begriffspaare als auch in Bezug auf den differentiellen Aufforderungscharakter der verschiedenen Urteilsobjekte in der diagnostischen Situation. Auch zeigt sich anhand der Faktorenwerte in den verschiedenen Dimensionen der diagnostischen Urteilsbildung, daß zwar die relative Bedeutung der Konstruktzeichen im Laufe der Ausbildung zunimmt, jedoch immer dominiert wird durch die umgangssprachlichen Äquivalente.

Ahrens & Stacker: Diagnostische Urteilsbildung

2. Gleichzeitig mit der allgemeinen Konvergenz von Umgangssprache und Wissenschaftssprache infolge der abgelaufenen diagnostischen Lernprozesse zeigt sich im Durchschnitt beider Zeichensysteme eine zunehmende Differenzierung des diagnostischen Urteils. Diese zunehmende Urteilsdifferenzierung scheint auch in der Anzahl der Faktoren zum Ausdruck zu kommen, durch welche die jeweiligen Urteilsstrukturen bzw. «impliziten Persönlichkeitstheorien» der Diagnostiker beschrieben werden können: Bei interpretativ nahezu identischen zweifaktoriellen Grundstrukturen in allen Ausbildungsgruppen kommt bei höheren Semestern ein dritter Urteilsfaktor hinzu. 3. Die allgemeine Konvergenz im Gebrauch umgangssprachlicher und wissenschaftssprachlicher Zeichen spiegelt sich auch im subjektiven Sicherheitsniveau der diagnostischen Urteilsbildung wider: Die Unterschiede der eingeschätzten Urteilssicherheit nivellieren sich zwischen beiden Zeichensystemen mit zunehmender diagnostischer Erfahrung. Dieses auf den ersten Blick triviale Ergebnis wird interessanter, wenn bestimmte differentielle Aspekte berücksichtigt werden: - Beim Vergleich zwischen Umgangs- und Wissenschaftssprache zeigt sich, daß Popularbegriffe immer - auch in der Gruppe höherer Semester - mit größerer subjektiver Sicherheit verwendet werden. - Dabei zeigt sich jedoch, daß die Sicherheit der Konstruktzeichen stetig zunimmt, während die Sicherheit der Popularbegriffe eher abnimmt. Wir interpretierten diese zunehmende Tendenz hauptsächlich als Folge einer sekundären Verunsicherung durch zunehmende Normierung diagnostischer Sprachzeichen im Laufe der Ausbildung. - Ein ähnlicher Trend zeigt sich auch in der Variationsbreite der subjektiven Sicherheit: Bei Konstruktzeichen wird die Streuung im Vergleich zwischen Anfängern und höheren Semestern deutlich geringer, während sie bei umgangssprachlichen Zeichen auf jeder Ausbildungsstufe sehr gering bleibt.

149

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Naatz & Dieckhoff: Kognitive Akzentuierungstheorie

150

Zur empirischen Bewährung der kognitiven Akzentuierungstheorie Eine experimentelle Entscheidung zwischen der allgemeinqualitativen Konzeption Ertels und dem Berliner habituell-kognitiven Ansatz TILO NAATZ

U W E DIECKHOFF

Psychologisches Institut (FB 11) der Freien Universität Berlin

In der vorliegenden Berliner Untersuchung zum Phänomen der Wahrnehmungsakzentuierung konnte gezeigt werden, daß Akzentuierung nicht nur im Falle einer ValenzDimensions-Verknüpfung, sondern auch im Falle einer Potenz-Dimensions-Verknüpfung durch gelernte kognitive Verknüpfungen bedingt ist. Wir betrachten deshalb die allgemeinqualitative Akzentuierungstheorie ERTELS mit ihrer Annahme entsprechender autochthoner Wahrnehmungsfaktoren als falsifiziert, unsere Berliner Akzentuierungstheorie der kognitiven Steuerungsfunktion dagegen als aufs neue empirisch bewährt. In the present experimental study the phenomenon of perceptual accentuation has been shown determinated by learned cognitive connections not only when valence but even when potency is correlated with a certain physical dimension. According to that findings ERTELS general-quality approach of accentuation which claims accentuation as not learned at all seems to be falsified, and our concept of accentuation as a function of cognitive control has been proved again by empirical evidence.

ZUR

THEORIE

EINER

KOGNITIVEN

WAHRNEHMUNGSAKZENTUIERUNG

Wir wollen hier auf einen Überblick über die kurze, aber kontroversenreiche Geschichte der Wahrnehmungsakzentuierung verzichten: ihre ausführliche Darstellung unter Einbeziehung des Stellenwertes der Akzentuierungshypothese innerhalb der Gesamtkonzeption von sozialer Wahrnehmung (social-perception) findet sich bei NAATZ ( 1 9 7 3 ) ; eine kurze Zusammenfassung der einzelnen akzentuierungstheoretischen Ansätze geben NAATZ & HÜMMELINK ( 1 9 7 1 ) . Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist es, das im Berliner Psychologischen Institut entwickelte Erklärungsmodell der Wahrnehmungsakzentuierung weiter empirisch abzusichern bzw. zugleich die - soweit wir sehen - letzte akzentuierungstheoretische Konkurrenzkonzeption, nämlich diejenige ERTELS, dem Versuch der

empirischen Falsifikation auszusetzen. Dabei soll Akzentuierung ausgewiesen werden als Spezialfall hypothesengeleiteten Urteilsverhaltens, wie es einerseits bereits zu Beginn des Forschungsprogramms über soziale Wahrnehmung (vgl. hier besonders die allgemein-theoretischen Abhandlungen von BRUNER & POSTMAN 1 9 4 9 / 5 0 , 1 9 5 1 , sowie das Sammelreferat von GRAUMANN 1 9 5 5 / 5 6 ) und andererseits in der kognitiven Determinante von Einstellungsverhalten (s. TAJFEL, SHEIKH &

GARDNER

1964;

LILLI

1 9 7 0 ; LILLI & LEHNER 1 9 7 1 ; sowie NAATZ 1 9 7 3 ) zu theoretischer und praktischer Bedeutung gelangte.

Der Begriff der Wahrnehmungsakzentuierung erfuhr entsprechend den empirischen Befunden, die die jeweiligen Erklärungskonzepte falsifizierten bzw. zur Modifikation zwangen, eine deutliche Veränderung: Zunächst galt Wahrnehmungsakzentuierung als Inbegriff motiva-

Z e i t s c h r i f t f ü r S o z i a l p s y c h o l o g i e 1975, 6, 1 5 0 - 1 5 9

tionsbedingter Größenüberschätzung von Gegenständen (Stimuli), nach denen ein Bedürfnis bestand, im Vergleich zur Schätzung bedürfnisneutraler konfigurativ ähnlicher Objekte. Die Untersuchung von B R U N E R & G O O D M A N (1947), in der amerikanische Kinder US-Münzen mit Hilfe eines Lichtkreises (genauer: eines LichtSechsecks) größer reproduzierten als größenidentische Pappscheiben, war der erste experimentelle Beleg für diese Akzentuierungstheorie. Da sich die Befunde von B R U N E R & GOODMAN bei Nachuntersuchungen (vgl. CARTER & SCHOOLER 1949) jedoch nicht wieder einbringen ließen, wohl aber eine subjektive Stimulusdifferenzenerhöhung bei metrisch und wertmäßig serial kovariierenden Objekten im Vergleich zu metrisch serialen, dabei aber wertneutralen Gegenständen, beobachtet wurde ( B R U N E R & RODRIGUES 1953), wurde die anfängliche Konzeption einer «absoluten» durch die einer «serialen» oder «relativen» Akzentuierung ersetzt und später besonders von TAJFEL und Mitarbeitern (vgl. T A J FEL 1957,1959a u. b; TAJFEL & CAVASJEE 1959; TAJFEL & W I N T E R 1963) weiter vertreten. Diese «Überverdeutlichungsthese» entsprach denn auch den experimentellen Befunden von D U K E & B E V A N (1952), die eine Uberschätzung nicht nur valenzpositiver, sondern auch valenznegativer Stimuli festgestellt hatten. Ein methodischer Mangel sämtlicher bis dahin vorliegender akzentuierungstheoretischer Untersuchungen bestand darin, daß jeweils valenzbesetzte Objekte aus dem täglichen Leben (etwa Geldmünzen) oder künstliche Wertdesignate (etwa Papiergutschriften) mit wertlosen, dabei aber auch in ihrer Stimuluskonfiguration differierenden Gegenständen (z. B. Pappscheiben oder leeren Papierzetteln) verglichen worden waren, so daß die gefundenen Größenschätzunterschiede prinzipiell auch auf diese Stimuluskonfigurationsdifferenz zurückgeführt werden konnten; die Möglichkeit einer Scheinrealisation 1 der in Frage stehenden Theorien war also auf diesem Wege nicht auszuschließen. Eine methodisch verbesserte experimentelle 1

V g l . d a z u HOLZKAMP (1964 u. 1968)

151 Überprüfung akzentuierungstheoretischer Modelle mußte deshalb mit in Experimental- und Kontrollgruppe unterschiedlich «künstlich» valenzbesetzten Beurteilungsobjekten arbeiten, da nur auf diese Weise eine metrisch-konfigurale Identität der Objekte bei interindividuell unterschiedlicher Valenz gewährleistet werden konnte. Bei derart methodisch angemessenerer Überprüfung der einzelnen Konzeptionen ergab sich nun, daß sich weder die alte «absolute» Akzentuierungstheorie von B R U N E R & G O O D M A N in ihrer ursprünglichen Form noch ihre «relative» oder «seríale» Revision von B R U N E R & R O D R I GUES sowie TAJFEL und seinen Mitarbeitern als empirisch haltbar erwiesen: Aufbauend auf den Arbeiten von HOLZKAMP (1965) und HOLZKAMP & PERLWITZ (1966) konnten HOLZKAMP & K E I LER (1967) eine Größenüberschätzung sowohl von experimentell positiv als auch negativ valenzbesetzten Einzelstimuli nachweisen, wodurch sowohl die «relative» Theorie mit ihrem Postulat, Akzentuierung sei ein bloß intraseriales Phänomen, als auch die Wunscherfüllungsthese der absoluten Konzeption zugleich als empirisch falsifiziert gelten mußten. Da sich in einer folgenden Berliner Untersuchung auch die Akzentuierungsrichtung als umkehrbar erwies - bei entsprechender experimenteller ValenzDimensions-Verknüpfung (je kleiner desto höhere Valenz) kam es zur Kleinerschätzung der Stimuli (HOLZKAMP, KEILER & PERLWITZ 1968) - , wurde der kognitive Charakter der Akzentuierung im Gegensatz zum ursprünglich von B R U N E R & G O O D M A N (1947) postulierten Bedürfnisbezug dieses Phänomens deutlich. Unterstützt wurde diese kognitive Konzeption durch den empirischen Nachweis einer bereits präexperimentell bestehenden assoziativen Verknüpfung zwischen Größe und positiver, aber auch negativer Valenz von Gegenständen ( N A A T Z 1970) sowie besonders durch den Nachweis einer «absoluten» Akzentuierung serial angeordneter Stimuli bei experimentell konstituierter Kovariation von Stimulusgröße und einer unanschaulichen, fiktiven kognitiven Variable

152

N a a t z & Dieckhoff: Kognitive Akzentuierungstheorie

ohne Valenzbezug (vgl. NAATZ & HÜMMELINK 1971). Nicht also der bedürfnisabhängige Wert eines Gegenstandes und auch nicht die subjektive Tendenz zu intraserialer Stimulusdifferenzenmaximierung führen zu Wahrnehmungsakzentuierung, sondern die kognitive Steuerung eines Wahrnehmungsurteils als Zusammenhangsstiftung zwischen dem metrisch-dimensionalen Aspekt (z. B. der Größe) des Urteilsgegenstandes und einer beliebigen mit diesem dimensionalen Aspekt konzeptiv verbundenen kognitiven Variable (z. B. der Valenz).

gen oder Relativierungen auf i. w. S. kognitive bzw. perzeptive Prozesse, wenn diese sich auf Dimensionen beziehen, die in den betreffenden Kategorisierungen oder Relativierungen angesprochen sind» (NAATZ 1 9 7 0 , p. 2 9 0 f.). Wir bestreiten heute wie damals lediglich, daß das Akzentuierungsphänomen von einem aktuellen und sei es auch nur vorgestellten - Serienbezug des in Frage stehenden Stimulus abhängig sei (und eben dies behauptete die ursprüngliche, nicht «erweiterte» seriale Konzeption von BRU-

In Parenthese sei an dieser Stelle vermerkt, daß LILLI ( 1 9 7 2 ) , der die von ihm «erweiterte» seriale Theorie TAJFELS gegen die Berliner absolute Akzentuierungstheorie zu rechtfertigen versucht, sowohl die neuere Entwicklung unserer Konzeption als auch die Experimente, auf die diese Entwicklung sich stützt, nicht angemessen berücksichtigt zu haben scheint: Zumindest seit der Verdeutlichung und Erweiterung des Begriffs der «Akzentuierungsbereitschaft» im Sinne von HOLZKAMP & PERLWITZ ( 1 9 6 6 ) durch den Begriff der «kognitiven Steuerungsfunktion» (NAATZ 1 9 7 0 ) wurde deutlich, daß auch wir die Grundlage «aktueller Akzentuierung» von auf der Größendimension zu beurteilenden Stimuli in einer letztlich - wenn man so will - «serial» gelernten Kovariation von Größe und einer unanschaulich-kognitiven Variable (im vorliegenden Fall: der Valenz) betrachten; dies schließt freilich eine nicht-serial gelernte kategoriale Urteilssteuerung für andere konfigurative Stimulusvariablen keineswegs aus. Schon seit 1970 «fassen wir unsere Akzentuierungstheorie nur als methodisch relativ leicht angehbaren Sonderfall der allgemeinen Theorie kognitiver Steuerungsfunktionen auf, den Sonderfall nämlich, daß die Steuerungsfunktion eine Valenzvariable als konstituierendes Moment enthält. Generell - d. h. ohne Einschränkung auf bestimmte Variablen - meint unsere Theorie den Einfluß kognitiver Kategorisierun-

- vgl. dazu auch EISER & STROEBE 1972). Ein aktueller oder auch nur vorstellbarer Serienbezug des zu beurteilenden Stimulus ist aber schon in der Untersuchung von HOLZKAMP & KEILER ( 1 9 6 7 ) nicht aufzufinden, was nicht nur von uns, sondern etwa auch von EISER & STROEBE ( 1 9 7 2 ) im Sinne einer Widerlegung der TAJFELschen Theorie verstanden wird. Von «Response-Skalen» im Sinne LILLIS ( 1 9 7 2 , p. 292) kann hier also keine Rede sein. Aber selbst da, wo sich gemäß unserer experimentellen Anordnung ein solcher Response-Skalen-Effekt gegen die von uns postulierte Akzentuierungsbereitschaft im Sinne einer kognitiven Steuerungsfunktion hätte bewähren können, erwies er sich dieser gegenüber als unbedeutend (vgl. 2 NAATZ & HÜMMELINK 1 9 7 1 ) . Im übrigen bilden LILLIS eigene Befunde einer negativen Akzentuierung (LILLI 1 9 7 2 , p. 2 9 2 ) eine wiederholte Bestätigung unserer Theorie der kognitiven Steuerungsfunktion; mit TAJFELS ursprünglicher These intraserialer Uberverdeutlichung haben sie nichts mehr gemein. Und gerade weil LILLI offenbar die seriale Akzentuierungstheorie auf den Berliner Ansatz hin «erweitert» hat, halten wir seine Kritik an unserer Konzeption, die in Übereinstimmung mit dem Klassifikationsmodell TAJFELS (vgl. z. B. TAJFEL & W I L KES 1963) dessen seriale Akzentuierungstheorie eindeutig falsifiziert, für unbegründet.

2

NER & RODRIGUES 1 9 5 3 , b i s z u TAJFEL & W I N TER 1 9 6 3

Parallel zur Berliner Weiterentwicklung der

Bedauerlicherweise erfährt diese Untersuchung, die eine neuerliche eindeutige empirische Falsifikation der serialen Akzentuierungskonzeption TAJFELS erbrachte, weder bei EISER & STROEBE (1972) noch bei LILLI (1972) eine eingehende bzw. sachgerechte Diskussion.

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 150-159

Akzentuierungstheorie, nach der das Phänomen der Akzentuierung letztlich als Effekt einer präexperimentell etablierten oder auch erst im Experiment konstituierten, jedenfalls aber gelernten kognitiven Steuerungsfunktion verstanden wird, setzten sich auch ERTEL und seine Mitarbeiter (vgl. ERTEL & STUBBE 1 9 6 8 ; ERTEL & PRODÖHL 1 9 6 9 , ERTEL & STUBBE 1 9 7 0 ) m i t d e n

vorliegenden Akzentuierungshypothesen auseinander und entwickelten eine eigene Konzeption. ERTEL und Mitarbeiter gehen aus von einer metaphorischen Bedeutungsübertragung zwischen anschaulicher Größe einerseits und Valenz bzw. besonders Potenz andererseits und erklären dabei - in Abhebung vom Berliner Ansatz - Wahrnehmungsakzentuierung zu einer autochthonen Eigenschaft des psychophysischen Systems: «Die Kovariationsverhältnisse zwischen sensorisch-perzeptiven Prozessen und allgemeinqualitativen Komponenten sind als Merkmale der psychophysischen Organisation festgelegt, sie sind nicht das Ergebnis eines Lernens im individuellen Leben» bzw. «Ertel & Sttibbe nehmen an, der Zusammenhang zwischen motivationaler und perzeptiver Dimension sei ein autochthones psychophysisches Systemmerkmal; Holzkamp et al. nehmen an, er sei gelernt» (ERTEL & STUBBE 1 9 7 0 , p. 2 2 7 bzw. 229).

Wir finden zwar den Begriff «autochthon» hier wenig glücklich, weil er von den Inauguratoren der Social-perception-Forschung den an die reine Stimulus-Rezeptor-Interaktion gebundenen Bedingungsfaktoren der Wahrnehmung (in Abhebung von den motivationalen, individuell-subjektiven Faktoren) vorbehalten worden war. Bei der Operationalisierung der ERTELschen Hypothesen aber mußten die verschiededenen Objekte erst experimentell mit Potenz und Valenz affiziert werden (um zu methodisch einwandfreien Schätzvergleichen zu gelangen, s. o.), so daß hier also von einer im ursprünglichen Sinne «autochthonen» Wahrnehmung der der Beurteilungsgegenstand anhaftenden Valenz oder Potenz prinzipiell keine Rede sein kann. Gleichwohl haben ERTEL & STUBBE den Unterschied zwischen ihrer und der Berliner

153

Konzeption in fruchtbarer Weise deutlich gemacht. Daß eine eindeutige empirische Entscheidung zwischen diesen beiden Positionen bislang nicht getroffen worden ist, vielmehr beide gleichsam nebeneinander ihren Beitrag zur Überwindung älterer, unangemessener Konzeptionen leisteten, liegt wohl vor allem daran, daß sich aus ihren zwar divergierenden Theorien doch sehr weitgehend identische empirische Konsequenzen ableiten lassen: Wenn ERTEL aufgrund seiner allgemeinqualitativen Theorie die Größerschätzung hochpotenter Objekte im Vergleich zu weniger potenten Gegenständen gleicher Stimuluskonfiguration erwartet, so kommen wir auf der Basis unserer Konzeption einer kognitiven Steuerungsfunktion zu derselben Voraussage; dabei gehen wir von einer das Wahrnehmungsurteil steuernden «lebensraumrepräsentativen» assoziativen (also gelernten) Verknüpfung von Potenz und Größe aus - einer Verknüpfung, wie wir sie zwischen (positiver und negativer) Valenz und Größe bereits nachweisen konnten (NAATZ 1 9 7 0 ) . Hinsichtlich der Auswirkung negativer Valenz eines Gegenstandes auf dessen Größenschätzung allerdings divergieren unsere und die ERTELSchen Voraussagen: Während wir gemäß der lebensraumrepräsentativen assoziativen Verknüpfung von negativer Valenz und Größe (die Beziehung zwischen Valenz und Größe erwies sich sowohl im positiven als auch im negativen Valenzbereich als positiv; vgl. NAATZ 1 9 7 0 ) eine Uberschätzung auch valenznegativer Gegenstände im Vergleich zu neutralen Gegenständen erwarten müssen und diese Erwartung auch empirisch bestätigt fanden (vgl. HOLZKAMP & KEILER 1 9 6 7 ) , kommt ERTEL für diesen Fall zu der Voraussage einer Unterschätzung: aus der im positiven Valenzbereich festgestellten «metaphorischen Übertragung» von Valenz und Größe folgern ERTEL und Mitarbeiter nämlich eine monotone Fortsetzung dieser Beziehung auch im negativen Valenzbereich - ein Schluß, der logisch nicht zwingend und auch (vgl. NAATZ 1 9 7 0 ) empirisch nicht zutreffend ist. ERTEL konnte denn auch seine Prognose einer Unterschätzung negativ valenz-

Naatz & Dieckhoff: Kognitive Akzentuierungstheorie

154

besetzter Stimuli nirgends realisieren (vgl. ERTEL & STUBBE 1 9 6 8 , ERTEL & PRODÖHL 1 9 6 9 ) .

Freilich ist in diesem Bewährungsvorsprung der Berliner Theorie noch keine eindeutige Entscheidung zu sehen: ERTEL selbst führt dieses Scheitern bzw. die Berliner Überschätzung valenznegativer Stimuli stets auf deren erhöhte Potenz zurück (gemäß ERTELS Konzeption übertrifft der Effekt der Potenz den der Valenz bei der Größenschätzung). Auch könnte er die Hypothese, daß negative Valenz zu Größenunterschätzung führe, als empirisch nicht haltbar und aus seinen Untersuchungen zur metaphorischen Übertragung nicht zwingend ableitbar anerkennen, ohne dabei seine Grundkonzeption entscheidend ändern zu müssen: lediglich das Ausmaß, nicht aber mehr das positive Vorzeichen der Valenz, wäre dann für die Größenüberschätzung bestimmend; die Kennzeichnung dieses Prozesses als nicht gelerntes «psychophysisches Systemmerkmal» bliebe davon unberührt. Eine fundamentale Entscheidung zwischen der Akzentuierungstheorie ERTELS und seiner Mitarbeiter und unserer Berliner Konzeption steht mithin, wie gesagt, noch aus. Die hier vorliegende empirische Untersuchung soll diese Lücke schließen.

ZUM

EXPERIMENT

Die angestrebte experimentelle Entscheidung hat also die zwischen ERTEL und Mitarbeitern und uns strittige Frage zu klären, ob Potenz gleichsam aufgrund eines «psychophysischen Systemmerkmals» (so ERTEL) zur metrisch-dimensionalen Überschätzung der betreffenden Objekte führt, oder ob sie als Spezialfall einer im Lebensraum von Versuchspersonen grundsätzlich mit der Stimulusgröße kovariierenden unanschaulich-kognitiven Variable aufzufassen ist, die quasi als Hintergrundinformation konkretes Urteilsverhalten steuert (so die Berliner 3

Theorie). Sollte sich zeigen lassen, daß die Potenz-Dimensions-Verknüpfung in experimenteller Habitualisierung umgekehrt werden kann und dabei zur Umkehrung der Akzentuierungsrichtung, also zur Größenunterschätzung höher potenzbesetzter Stimuli führt, so müßte die ERTELsche Konzeption als falsifiziert, die Berliner Theorie aber als weiterhin empirisch bewährt gelten. Wir ließen deshalb in Einzelversuchen unsere Versuchspersonen (Berliner Bereitschaftspolizisten im Alter von 19-22 Jahren) in einer Experimentalgruppe die Potenz-Dimensions-Verknüpfung «je bedeutsamer 3 desto kleiner» lernen, während in der Kontrollgruppe eine derartige konsistente negative Beziehung zwischen Potenz und Größe nicht hergestellt wurde. Dies geschah in folgender Weise: Da wir aus arbeitsökonomischen Gründen die aus früheren Berliner Akzentuierungsuntersuchungen bekannten weißen Plastikstäbchen (5 mm breit, 1,5 mm tief, in der vorliegenden Untersuchung 50, 40 und 30 mm lang) und die auf diese Stimuli abgestimmte Größenschätzapparatur verwenden wollten, mußten wir die Stäbchen für die beiden Vergleichsgruppen in konsistenter bzw. nichtkonsistenter Relation zur Größe mit Potenz besetzen. Wir erreichten dies dadurch, daß wir in Simulation eines «Glücksspiels» in der Experimentalgruppe das große (50 mm lange) Stäbchen jeweils den Gewinn oder Verlust eines Geldbetrages von 10 Pf., das mittlere (40 mm lange) Stäbchen den Gewinn oder Verlust eines Geldbetrages von 50 Pf. und das kleine (30 mm lange) Stäbchen den Gewinn oder Verlust von 1 DM anzeigen ließen und dabei diese drei Stäbchen entsprechend als «bedeutsam», «sehr bedeutsam» und «extrem bedeutsam» bezeichneten. Über Gewinn oder Verlust der einzelnen Stäbchen entschied ein «Glücksrad» mit alternierenden Plus- und Minuszeichen, das von der Versuchsperson zwar in Bewegung gesetzt, vom Versuchsleiter aber (für die Versuchsperson unbemerkt) manipuliert wurde, so daß Gewinn

Der Begriff «bedeutsam» ist einer der möglichen verbalen Potenzindikatoren im Sinne ERTELS (vgl. ERTEL & STUBBE 1 9 7 0 ) .

155

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 150-159

und Verlust einander bei allen Stäbchengrößen entsprachen - wodurch eine systematische positive oder negative Valenzerwartung verhindert werden sollte. Die einzelnen Stäbchen - als zu gewinnende oder zu verlierende Geldbeträge unterschiedlicher Höhe indizierende Stimuli von verschieden hoher Potenz - hatte die Versuchsperson zuvor einzeln je einem als «Glückslos» fungierenden schwarzen Papiertütchen entnommen. Die Reihenfolge der so ausgegegebenen Stäbchen war jeweils zufällig; die Hälfte der Tütchen war leer, um für den großen, nur «bedeutsamen» Stimulus wenigstens diese schwache Potenz zu erreichen, die ansonsten aufgrund des Einpendeins des Adaptationsniveaus im mittleren Bereich der Dreierserie womöglich nicht zustande kommen würde. Bei der Entscheidung, ob das jeweils «gezogene» Stäbchen gewinnt oder verliert, lag dieses Stäbchen in einer Position unter dem «Glücksrad», die hinsichtlich Entfernung und vertikaler Lage seiner späteren Position beim Größenschätzvorgang in etwa entsprach. Während die Versuchspersonen der Experimentalgruppe vor diesem «Spiel» die auf den jeweils zu gewinnenden oder zu verlierenden Geldwert bezogene unterschied-

liche Bedeutsamkeit der Stäbchen (groß = bedeutsam, mittel = sehr bedeutsam, klein = extrem bedeutsam) verbal lernten und auch auf die Beziehung «je kleiner desto bedeutsamer» explizit aufmerksam gemacht wurden, lernten die Versuchspersonen der Kontrollgruppe ebenfalls die jeweilige «Bedeutsamkeit» der Stäbchen und wurden ihrerseits auf die nicht-systematische Beziehung zwischen Stäbchengröße und Bedeutsamkeit ausdrücklich hingewiesen. Da wir in der Kontrollgruppe prüfen wollten, inwieweit eine experimentelle unsystematische Größe-Potenz-Relation zu einer Extinktion bzw. gegenstands-spezifischen partiellen Außerkraftsetzung der vorexperimentellen Verknüpfung beider Variablen führen kann - was unter der Bedingung eines von ERTEL postulierten psychophysischen Systemmerkmals freilich unmöglich wäre unterteilten wir die Kontrollgruppe in zwei Untergruppen und hielten innerhalb dieser Untergruppen die jeweilige Potenzbedeutung der einzelnen Stimuli konstant, um auf diese Weise auch noch die Schätzungen der beiden Kontrollgruppen vergleichen zu können. Wir machen die Stimulus-Potenz-Besetzungen in den einzelnen Gruppen in einem Schema deutlich:

Stimulus-Potenz-Besetzungen in den einzelnen experimentellen Gruppen Stimulus 5 cm

4 cm

3 cm

Experimentalgruppe (n = 41)

«bedeutsam»

«sehr bedeutsam»

«extrem bedeutsam»

Kontrollgruppe I (n = 21)

«extrem bedeutsam»

«bedeutsam»

«sehr bedeutsam»

Kontrollgruppe II (n = 20)

«bedeutsam»

«extrem bedeutsam»

«sehr bedeutsam»

Gruppe

Bevor wir aus dieser Stimulus-Potenz-Verknüpfung in den einzelnen Gruppen die divergierenden experimentellen Behauptungen der beiden konkurrierenden Konzeptionen ableiten, noch ein Wort zum Schätzvorgang selbst: Nachdem die Versuchspersonen jeweils die Konditionierungsphase erfolgreich durchlaufen hatten, 4

d. h. die verbale Potenzbezeichnung jedes Stimulus auf Befragen reproduzieren konnten (dies gelang erwartungsgemäß allen Versuchspersonen), wurden sie in einen bis dahin nicht einsehbaren Teil des Raumes geführt und gebeten, den Lichtschlitz unserer Schätzapparatur 4 mit Hilfe zweier Korrekturtasten auf die gleiche Größe

Diese Apparatur wurde bereits in den vorliegenden akzentuierungstheoretischen Untersuchungen des Berliner Psychologischen Instituts, zuletzt von NAATZ & HÜMMELINK ( 1 9 7 1 ) , ausführlicher beschrieben.

156

N a a t z & Dieckhoff: Kognitive Akzentuierungstheorie

wie das in Zufallsabfolge jeweils als Vergleichsreiz alternierend rechts und links neben der ca. 80 cm von der Versuchsperson entfernten Schätzapparatur dargebotene Stäbchen einzustellen. Alle Stimuli wurden von jeder Versuchsperson zweimal (einmal im «aufsteigenden», einmal im «absteigenden» Verfahren) geschätzt; das arithmetische Mittel beider Schätzungen ging in die weitere Verrechnung ein. Die experimentellen Hypothesen lauten für die einzelnen Stimuli gemäß den beiden Akzentuierungstheorien wie folgt: Fassen wir die beiden Kontrollgruppen zusammen - was uns wegen der relativ geringen Versuchspersonenzahl notwendig erschien dann ergibt sich aus der ERTELSchen Konzeption die Voraussage einer Überschätzung des kleinen Stäbchens in der Experimentalgruppe gegenüber der zusammengefaßten Kontrollgruppe («extrem bedeutsam» ist potenter als «sehr bedeutsam»), während wir aufgrund der experimentell etablierten kognitiven Steuerungsfunktion «kleiner = bedeutsamer» eine Unterschätzung dieses Stimulus in der Experimentalgruppe erwarten. Ebenso erwarten wir auch für das mittlere Stäbchen eine Unterschätzung in der Experimentalgruppe, während ERTEL hier, setzt man den Durchschnitt aus «bedeutsam» und «extrem bedeutsam» mit der Mittelposition «sehr bedeutsam» gleich, eine Gleichschätzung in beiden Gruppen voraussagen muß. Hinsichtlich des großen Stäbchens erwarten sowohl wir (aufgrund der kognitiven

Steuerung) als auch ERTEL (aufgrund der allgemeinqualitativen Beziehung zwischen Größe und Potenz) eine Unterschätzung des Stimulus in der Experimentalgruppe; hier divergieren die experimentellen Prognosen also nicht. Stellen wir nun die Schätzerwartungen beider Konzeptionen hinsichtlich der beiden Kontrollgruppen gegenüber, so ergeben sich bezüglich des kleinen Stimulus keine Differenzen - wir verzichteten deshalb hier auf eine Unterschiedsprüfung. Für das mittlere Stäbchen dagegen muß ERTEL mit seiner allgemeinqualitativen Theorie eine Größerschätzung in der Kontrollgruppe II und für das große Stäbchen eine Größerschätzung in der Kontrollgruppe I erwarten (vgl. Schema auf p. 155), während wir in der Annahme einer Extinktion der präexperimentellen assoziativen Verknüpfung «größer = potenter» eine Gleichschätzung dieser beiden Stimuli in beiden Gruppen voraussagen. RESULTATE

Betrachten wir nun in Tabelle 1 die durchschnittlichen Schätzwerte für die einzelnen Stimuli in der Experimentalgruppe und der zusammengefaßten Kontrollgruppe (bei der Unterschiedsprüfung verwendeten wir den t-Test für unabhängige Stichproben und legten der Entscheidung über die Akzeptierung bzw. Verwerfung der in Frage stehenden Konzeptionen ein Signifikanzniveau von 5 % zugrunde):

Tabelle 1 Größenschätzwerte der Experimentalgruppe und der Kontrollgruppe für die drei Stäbchen Stimulus Gruppe

4 cm

5 cm

3 cm

x

Varianz

x

Varianz

x

Varianz

Experimentalgruppe (n = 41)

5,16

0,05

4,06

0,02

3,06

0,03

Kontrollgruppe (I u. II) (n = 41)

5,14

0,03

4,15

0,04

3,15

0,03

t = 0,47 p für H 0 > 5 °/o

t = 2,20 p für H 0 < 5 °/o

t = 2,55 p für H 0 < 2 %>

157

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 150-159

Wie sich zeigt, unterscheiden sich die Größenschätzungen der Experimentalgruppe und der Kontrollgruppe bezüglich des kleinen und des mittleren Stäbchens signifikant in der von uns vorausgesagten Weise: beide werden in der Experimentalgruppe überzufällig unterschätzt, während der ERTELschen Konzeption entsprechend hinsichtlich des mittleren Stäbchens keine Schätzunterschiede zwischen beiden Gruppen hätten bestehen dürfen bzw. hinsichtlich des kleinen Stäbchens sogar Größerschätzungen in der Experimentalgruppe hätten registriert werden müssen. Lediglich hinsichtlich des großen Stäbchens ergeben sich keine signifikanten Unterschiede; dies entspricht weder unserer noch der ERTELschen Konzeption - sowohl ERTEL wie auch wir kamen hier ja zu der Prognose einer eindeutigen Unterschätzung in der Experimentalgruppe, so daß eine Entscheidung zwischen den beiden Ansätzen hier ohnehin nicht möglich gewesen wäre. Während jedoch ERTEL seine Theorie der «metaphorischen Übertragung» auch bezüglich dieses Befundes kaum exhaurieren kann, können wir das Versagen unserer

Theorie hinsichtlich der Schätzung des großen Stäbchens auf Mängel in der Realisierung der Anfangsbedingungen zurückführen: womöglich hatte sich trotz unserer experimentellen Gegenvorkehrung in der Konditionierungsphase ein Adaptationsniveau im Mittelbereich der Dreierserie herausgebildet, so daß das große Stäbchen nicht, wie intendiert, als immerhin schon «bedeutsam», sondern in Anbetracht des nur sehr geringen indizierten Geldwertes von 10 Pf. doch als recht bedeutungslos kogniziert worden ist. Demzufolge hätte dann die experimentell konstituierte assoziative Verknüpfung zwischen Potenz und Kleinheit bei dem großen Stäbchen noch gar nicht in Anwendung geraten können. Freilich muß diese Post-factum-Exhaustion spekulativ bleiben, solange sie nicht durch eine unabhängige experimentelle Prüfung belegt werden kann. Bei der Betrachtung der für unsere Kontroverse mit ERTEL relevanten Schätzunterschiede zwischen den beiden Kontrollgruppen bezüglich des großen und des mittleren Stäbchens ergibt sich folgendes Bild:

Tabelle 2 Größenschätzwerte der beiden Kontrollgruppen bezüglich des großen und des mittleren Stäbchens Stimulus Gruppe

5 cm

4 cm

x

Varianz

x

Varianz

Kontrollgruppe I (n = 21)

5,12

0,06

4,11

0,05

Kontrollgruppe II (n = 20)

5,17

0,05

4,18

0,04

t = 0,81 p für H 0 > 5 °/o

Wie wir erwartet hatten, unterscheiden sich beide Kontrollgruppen in ihren Größenabschätzungen nur zufällig (wobei die Mittelwertabweichung der Schätzungen des großen Stäbchens sogar der ERTELschen Konzeption entgegengesetzt ist).

t = 1,06 p für H 0 > 5 o/o

Betrachten wir unsere Ergebnisse insgesamt, so hat sich gezeigt, daß nicht die «metaphorische Übertragung» von Potenz auf anschauliche Größe die Schätzurteile bestimmt, sondern daß diese Schätzurteile von einer habitualisierten Potenz-Dimensions-Verknüpfung abhängig

Naatz & Dieckhoff: Kognitive Akzentuierungstheorie

158

sind. Wir betrachten deshalb die ERTELsche allgemeinqualitative Theorie der Wahrnehmungsakzentuierung als falsifiziert, unsere Berliner Konzeption der kognitiven Steuerungsfunktion aber als einmal mehr empirisch bestätigt.

SCHLUSSBEMERKUNG

Bereits in früheren Publikationen zur Bewährung einer kognitiven Theorie der Wahrnehmungsakzentuierung (vgl. NAATZ 1 9 7 0 sowie NAATZ & HÜMMELIHK 1 9 7 1 ) betonen wir die Relevanz unseres Konzeptes der «kognitiven Steuerungsfunktion» für die Stereotypen- und Vorurteilsforschung-hier haben wir von TAJFEL (vgl. TAJFEL 1 9 6 3 ; TAJFEL, SHEIKH & GARDNER 1964)

gelernt und wissen uns mit LILLI (vgl.

LILLI 1 9 7 0 ; LILLI & LEHNER 1 9 7 1 ; LILLI 1 9 7 3 )

einig, gerade weil deren kategoriale Konzeption mit der ursprünglichen serialen Akzentuierungstheorie nicht mehr vereinbar und von unserem eigenen akzentuierungstheoretischen Ansatz kaum mehr zu unterscheiden ist. Nach der Falsifikation der allgemeinqualitativen Theorie ERTELS bei gleichzeitiger neuerlicher empirischer Bestätigung unserer Konzeption halten wir nun die Zeit für gekommen, den sehr engen - wenngleich methodisch vorteilhaften Rahmen der Wahrnehmungsakzentuierung endgültig zu verlassen und unsere Aussagen und Überlegungen künftig auf kognitives Urteilsverhalten überhaupt zu beziehen. Damit ergibt sich nun eine Perspektive, die hier freilich nur ganz kurz angerissen werden kann: Wenn wir aufgrund eigener empirischer Befunde wie auch der von TAJFEL und LILLI davon ausgehen, daß kognitive Kategorisierungen oder Konzeptualisierungen neue Erfahrungen kanalisieren und dabei bisweilen unrealistisch verfälschen, dann stellt sich das psychologische Problem, wie mit diesem uns nun bekannten Kognitionsverhalten bzw. seiner mit dieser Bekanntheit womöglich verbundenen Veränderbarkeit umzugehen ist. Bei der Lösung dieses Problems hätte man über die bloß typisierende Unterscheidung von «engen» und «breiten Kategorisierern», wie sie von

diskutiert wird, hinauszugehen. Man hätte, sofern man an «zutreffender» Erfahrung von Weltsachverhalten interessiert ist, zu überprüfen, inwieweit das verfälschende Moment kategorialer Kognition, wie es besonders prägnant in der Stereotypen-Forschung nachgewiesen werden konnte, durch geeignete Sozialisationsmaßnahmen zu korrigieren wäre. Dabei könnte in Analogie zu modernen methodologisch-wissenschaftstheoretischen Überlegungen, die sich ja mit dem durchaus verwandten Problem der empirischen Bewährung von Theorien bzw. umgekehrt mit dem Erkenntniswert theoriegeleiteter und dabei immer schon schematisierter Erfahrung sehr intensiv auseinandergesetzt haben (vgl. in jüngerer Zeit besonders HESSE 1 9 7 0 ) , ein kognitionstheoretisches SollModell «kritischer Rationalität» entwickelt werden, das die methodologischen Forderungen der normativen Wissenschaftstheorie auf kognitives Alltagsverhalten zu übertragen hätte (vgl. hierzu NAATZ 1 9 7 3 ) . Die Realisierungswürdigkeit und Realisierbarkeit eines solchen Modells kritischer Rationalität im kognitiven «Alltagsverhalten» müßte freilich sehr eingehend im Kontext motivations- und emotionspsychologischer Argumente diskutiert werden. Jedenfalls scheint sich hier ein Feld weiterer psychologischer Forschung aufzutun, dessen Probleme und Möglichkeiten, etwa auch hinsichtlich psychotherapeutischer Prozesse unter kognitiven Gesichtspunkten, noch kaum abzusehen sind - ein Feld indessen, in dem die bislang lediglich in alltagsenthobener akademischer Auseinandersetzung interessante Akzentuierungsforschung ihren Beitrag zur Aufhellung von bestimmten Momenten des konkreten Lebensgeschehens des Menschen sinnvoll einbringen könnte. LILLI ( 1 9 7 3 )

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quantitative judgement. British Journal of Psychology 54, 101-114. T A J F E L , H . & W I N T E R , D. G. 1963. The interdependence of size, number and value in ^ J H young children's estimates of magnitude. Journal of Genetic Psychology 102,115-124. J

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Feger & Faltin: Anmerkungen zu Hartmann & Wakenhut

Diskussion Die Einstellungsstruktur von Gruppen Anmerkungen zur Arbeit von HUBERT FEGER

HARTMANN & WAKENHUT GEORG FALTIN

Institut für Psychologie der R W T H Aachen

haben in dieser Zeitschrift einen Beitrag veröffentlicht, in dem sie die Dimensionalität gesellschaftlich-politischer Einstellungen bei unterschiedlichen Gruppen untersuchen. Diese Arbeit bereitet uns in zweifacher Hinsicht Schwierigkeiten. Die erste Schwierigkeit liegt u. E. in der Aggregierungsproblematik. Wir sind der Meinung, daß zunächst die Einstellungsstruktur, auch ihre Dimensionalität, beim einzelnen Individuum bestimmt werden soll, denn das theoretische Konstrukt Einstellung bezieht sich, so wie wir es verstehen, auf Zustände und Prozesse einer einzelnen Person. Will man Feststellungen über Gruppenstrukturen treffen, so sollte zunächst für jedes Gruppenmitglied seine Einstellungsstruktur bestimmt werden, dann sollte die Zusammenfassung für alle Gruppenmitglieder erfolgen. Wir haben diese Überlegung zusammen mit einem Verfahren zur Erfassung der individuellen Einstellungsstruktur an anderer Stelle ausführlich dargelegt ( F E G E R 1 9 7 4 ) . HARTMANN & WAKENHUT ( 1 9 7 2 )

Die zweite Schwierigkeit, auf die wir eingehen wollen, sehen wir in der Verwendung der Faktoranalyse als Verfahren zur Bestimmung der Dimensionalität, wie es in diesem Problembereich seit den Arbeiten von EYSENCK und FERGUSON in den vierziger Jahren herangezogen wird. Die Wahl des Analysemodells ist nicht irrelevant, da jedes Modell zu einer Theorie des Gegenstandsbereiches wird, auf das man es anwendet. Wir möchten dem linearen Modell, das

der Faktoranalyse zugrunde liegt, ein Distanzmodell gegenüberstellen. Die Eigenschaften beider Modelle sind miteinander nicht vereinbar (ROSKAM 1 9 6 8 ) .

Man kann in zweifacher Weise beschreiben, wie das lineare Modell der Faktoranalyse zugrunde liegt: Jeder Faktor ist eine lineare Kombination der Variablen, oder - da sich die Rollen von Prädiktoren und Kriterien her vertauschen lassen - jede Variable wird aufgefaßt als eine lineare Kombination der Faktoren. Die Faktoren sind bekanntlich hypothetische Konstrukte. Sie werden interpretiert als Ursachen gemeinsamer Variation zwischen Variablen oder als zugrundeliegende Beschreibungsdimensionen, wenn die Variablen weniger verläßlich oder weniger vollständig das messen, wofür die Faktoren stehen. Faktoren haben also gegenüber Variablen kausale oder deskriptive Priorität sonst gäbe es keinen Grund, sie zu suchen. HARTMANN

&

WAKENHUT

(1972,

p.

101)

zitieren zustimmend SANAI ( 1 9 5 1 , p. 2 6 2 ) , woraus hervorgeht, daß sie für ihre Analyse Faktoren nicht als konkrete Einheiten oder kausale Wirkkräfte, sondern lediglich als Klassifikationsprinzipien betrachten. Kovariation zwischen Skalenwerten wird somit von HARTMANN & WAKENHUT inhaltlich gedeutet als Anzeichen für eine fundamentalere (oder abstraktere) Einstellungsdimension: Es gibt eine globalere, weniger an einzelnen, spezifischen Einstellungsobjekten orientierte Einstellung als die zur

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Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 160-163

APO, zur Sexualmoral, zum Kommunismus usw. Auf diese globale Einstellung werden die Einstellungen zu spezifischen sozialen Objekten zurückgeführt oder als deren Aspekte oder Konkretisierungen gedeutet. Wir kontrastieren dem bisher der Forschungstradition in diesem Bereich zugrundeliegenden Modell das Distanzmodell, wie es von den bekannten Ansätzen der multidimensionalen Skalierung als gültig angenommen wird. Kovariation ist hier Anzeichen von Ähnlichkeit: Wenn die Reaktionen der Vpn gegenüber zwei Einstellungsobjekten vergleichbar sind (die gleichen Vpn lehnen beide ab oder sind gegenüber beiden positiv orientiert), dann - so schließt man - sind beide Einstellungsobjekte für die Vpn ähnlich. Auf die semantische Äquivalenz der Konzepte der Ähnlichkeit und der Distanz hat ROSKAM ( 1 9 6 8 ) hingewiesen; das Distanzmodell ist von daher prinzipiell indiziert. Da nicht beide Modelle für die gleiche Datenmenge gleichzeitig gelten können, gilt es Kriterien zu finden, nach denen man entscheiden kann, welches Modell den Daten angemessener ist. Zu diesen Kriterien gehört sicher die Forderung, die Anwendung eines Modelles dürfe nicht zu Artefakten führen und sie müsse eine möglichst einfache und vollständige Beschreibung der Datenvarianz ergeben. Wenn eine Faktoranalyse auf Präferenzdaten - und so können Einstellungsscores formal gedeutet werden zur Bestimmung der Dimensionalität angewandt wird, besteht die Gefahr eines Artefaktes. Wie COOMBS ( 1 9 6 4 , p . 1 8 1 ) u n d ROSKAM ( 1 9 6 8 ,

p.

76) darlegen, kann eine zusätzliche Dimension auftauchen, die sich auf die Extremheit der Reize bezieht und keine Information enthält, die nicht schon in den anderen eruierten Dimensionen enthalten wäre. Verfahren, die von einem anderen Modell ausgehen als die Faktoranalyse, könnten somit am gleichen Datenmaterial zu einer geringeren Dimensionalität kommen. Zur Prüfung dieser Vermutung unterzogen wir die Daten von HARTMANN & WAKENHUT einer Sekundäranalyse mit einem Verfahren der multidimensionalen Skalierung. Wir wählten das Programm MINISSA (siehe LINGOES 1 9 7 3 ; L I N -

für weitere Informationen) mit den Optionen «semi streng monotonicity» mit euklidischer Metrik. Die Lösungen, für die wir die City-block-Metrik benutzten, unterscheiden sich nicht wesentlich von den hier berichteten. Wir analysierten die Matrizen der Interkorrelationen zwischen 10 Variablen für die Gesamtstichprobe und zwischen 13 Variablen für die Studentenstichprobe, die in HARTMANN & WAKENHUT auf p. 1 0 9 bzw. 1 0 8 wiedergegeben sind. Für die Studentenstichprobe berechneten wir die nach den Werten aus Tab. 2, HARTMANN & W A K E N H U T p. 1 0 3 , minderungskorrigierten Korrelationskoeffizienten; diese Lösung ist hier wiedergegeben, unterscheidet sich jedoch nicht bemerkenswert von der Skalierung mit unkorrigierten Werten. In der folgenden Tabelle 1 sind für jede vorgegebene Anzahl der Dimensionen die Anzahl der Iterationen, G U T T M A N - L I N G O E S Alienationskoeffizient und KRUSKALS Streß wiedergegeben. GOES & ROSKAM 1 9 7 3

Tabelle 1 Gütecharakteristika der multidimensionalen Skalierungen Dimensionen Iterationen

Alienationskoeffizient

Streß

Gesamtstichprobe 4 3 2 1

25 0,003 25 0,022 13 0,060 degenerierte Lösung

studentische

Stichprobe

4 3 2 1

25 25 25 18

0,026 0,055 0,086 0,173

0,002 0,015 0,046

0,018 0,038 0,064 0,135

Aus Tabelle 1 geht eindeutig hervor, daß für jede Stichprobe eine zweidimensionale Lösung angebracht ist. Dies ist jeweils eine Dimension weniger als HARTMANN & W A K E N H U T veranschlagen. Die drei Faktoren erfassen für die Daten der Gesamtstichprobe 68 % und für die Daten der Studentenstichprobe 69 % der Gesamtvarianz. Diesen Werten am ehesten vergleichbar scheint uns ROSKAMS Indikator für Anpassungsgüte F = (1-s 2 ) zu sein, der von

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Feger & Faltin: Anmerkungen zu Hartmann & Wakenhut

Streß s ausgeht; s 2 kann etwa wie ein Alienationskoeffizient interpretiert werden. Demnach wären durch das Modell der multidimensionalen Skalierung für die Daten der Gesamtstichprobe 99,8«/« und für die Daten der studentischen Stichprobe 99,6 °/o der Varianz erklärt. Zwar ist eine direkte Vergleichbarkeit der Indikatoren für Anpassungsgüte nicht gegeben, doch wird die geringere Dimensionenzahl sicherlich nicht durch verringerte Anpassungsgüte erkauft. KRUSKALS

Für die inhaltliche Interpretation sind in Tabelle 2 die Koordinaten der Skalen im zweidimensionalen Raum für beide Stichproben wiedergegeben. Ausgangspunkt der Interpretation sind nicht die Dimensionen, sondern die Konfiguration der Punkte; jede Skala wird durch einen Punkt repräsentiert. Diese Konfiguration erscheint für die Gesamtstichprobe in Form eines Kreuzes. Auf der

Tabelle 2 Koordinaten für die zweidimensionalen Lösungen Gesamtstichprobe Skala

Strafrechtsreform Nationalismus «Weltanschauung» Ehe und Familie Sexualmoral Kommunismus APO Kirche Erziehung Antisemitismus

1. Dimension - 17,57 - 17,85 -100,00 - 48,30 - 65,08 - 38,79 - 33,06 - 96,75 - 23,75 100,00

2. Dimension - 68,41 - 90,15 -100,00 - 75,70 - 83,43 - 30,09 - 55,75 - 86,88 - 79,25 - 58,35

Studentenstichprobe Skala

Universität Strafrechtsreform Nationalismus «Weltanschauung» Ehe und Familie Sexualmoral Kommunismus APO Psychotherapie Militarismus Kirche Erziehung Antisemitismus

1. Dimension 62,91 31,60 58,45 66,34 55,57 54,80 100,00 77,57 40,23 78,76 81,15 32,75 -100,00

2. Dimension 3,42 23,29 21,07 76,22 16,20 41,08 - 23,43 - 10,31 - 98,84 - 29,13 65,28 4,16 -100,00

-

ersten orthogonalen Achse sind die Skalen Kommunismus, APO, Strafrechtsreform, Erziehung und Nationalismus in dieser Reihenfolge angeordnet. Der zweite rotierte Faktor bei HARTMANN & WAKENHUT entspricht dieser Achse nur scheinbar. Die Interpretation dieses Faktors als «politischer Konservativismus» legt die Existenz einer Tendenz in der Gesamtstichprobe nahe, Kommunismus abzulehnen und gleichzeitig nationalistisch gesinnt zu sein oder umgekehrt. Die entsprechenden Ergebnisse der multidimensionalen Skalierung lassen sich dahingehend interpretieren, daß die Einstellungsobjekte Kommunismus, APO, ..., Nationalismus unter dem Zustimmungsgesichtspunkt zunehmend unähnlicher werden. Für die Analyse von Einstellungsstrukturen mithilfe des Distanzmodelles und den darauf beruhenden Verfahren der multidimensionalen Skalierung bietet sich die Strategie an, Theorien darüber zu formulieren, welche Eigenschaften von Einstellungsobjekten für Ähnlichkeitsperzeptionen relevant sind. Dann wäre jedes Einstellungsobjekt als Kombination dieser Eigenschaften zu kennzeichnen. Bei den Eigenschaften «Lage auf der politischen Rechts-Links-Dimension» und «rassische Zugehörigkeit» wären beispielsweise Neger auf einer und Black Panther auf beiden Eigenschaftsdimensionen für konservative Weiße extrem. Es ließe sich empirisch prüfen, ob die relevanten Eigenschaften erfaßt wären, und vor allem, ob die Grundannahme dieser Strategie haltbar ist, daß die Ähnlichkeit zwischen sozialen Objekten die Einstellung zu ihnen bestimmt und somit Einstellungsstrukturen durch die wahrgenommenen Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den untersuchten Einstellungsobjekten vorgegeben sind.

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 160-163

163

LITERATUR

LINGOES, J. C. 1973. The Guttman-Lingoes nonmetric program series. Ann Arbor: Mathesis Press.

COOMBS, C. H. 1964. A theory of data. New York: Wiley. FEGER, H. 1974. Die Erfassung individueller Einstellungsstrukturen. Zeitschrift für Sozialpsychologie 5,

LINGOES, J. C . & ROSKAM, E . E . 1973. A m a t h e m a t i c a l

242-254. HARTMANN, H . & WAKENHUT, R . 1972. Z u r

Dimensio-

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and empirical analysis of two multidimensional scaling algorithms. Psychometrika, Monograph, Supplement Nr. 19, Vol. 38. J^^M ROSKAM, E. E 1968. Metric analysis of ordinal data. Vorschoten, YAM Niederlande. "1

164

Hartmann & Wakenhut: Replik zu Feger & Faltin

Strukturanalysen in der Attitudenforschung: Theorie und Methode Eine Erwiderung auf Feger und Feger & Faltin

1

H A N S HARTMANN & R O L A N D W A K E N H U T Fachbereich Psychologie der Universität Gießen

PROBLEM

THEORETISCHE

In unseren Untersuchungen «Zur Dimensionalität gesellschaftlich-politischer Attitüden bei unterschiedlichen Gruppen» (HARTMANN & WAKENHUT 1972a) ermittelten wir einen Generalfaktor (Radikalismus-Konservatismus) bzw. drei rotierte Faktoren (Religionismus, Nationalismus und Humanitarismus), die sich über 10 heterogene Stichproben (Studenten, Geistliche, Polizisten) in Transformationsanalysen nach FISCHER & R O P P E R T (1965) als invariant erwiesen. Wir interpretierten die gefundene Faktorenstruktur als ein offenbar weitgehend generalisierbares Kognitionssystem, das die «Kognitionen von Zusammenhängen sozialer Sachverhalte» steuert (p. 113) und verglichen unsere Befunde mit entsprechenden von FERGUSON (1942) und E Y SENCK (1971). Neuerdings haben F E G E R (1974) und F E G E R & FALTIN (1975) gegen diesen Forschungsansatz theoretische (Bestimmung der Attitudendimensionen auf Gruppenebene) und methodische Einwände (Verwendung der Faktorenanalyse) erhoben, eine andere Strategie und Methode vorgeschlagen und unsere Daten einer Sekundäranalyse unterzogen. Die folgende Erwiderung skizziert unsere in nahezu allen Punkten konträre Auffassung.

F E G E R und F E G E R & FALTIN vertreten die Auffassung, Einstellungsstrukturen und deren Dimensionalität müßten an Individuen ermittelt und erst dann zusammengefaßt (aggregiert) werden, da sich das theoretische Konstrukt der Einstellung «auf Zustände und Prozesse einer einzelnen Person» beziehe. Dieser Auffassung können wir - zumindest in ihrer allgemeinen Form - nicht zustimmen. Bezüglich des theoretischen Konstrukts der Einstellung müssen mindestens zwei Aspekte unterschieden werden: die Funktion und die Genese von Einstellungen. Die Funktion mag individuumzentriert sein in dem Sinne, daß Einstellungen vor allem etwas mit der Orientierung einzelner Personen zu tun haben. Doch bereits hier muß bedacht werden, daß Einstellungen durch ihren engen Konnex zu Gruppennormen und -werten zugleich eine wichtige Funktion für den Zusammenhalt von Gruppen besitzen. Die Gruppenzentrierung von Einstellungen wird vollends deutlich, wenn man sich dem Aspekt ihrer Genese zuwendet.

1

ASPEKTE

Entstehung, Verfestigung und Wandel sozialer Attitüden sind ganz überwiegend Produkte gruppenspezifischer Sozialisation, darüber herrscht in der Sozialpsychologie weitgehend Einigkeit, wenn auch die Definitionen mancher Autoren (z. B. ALLPORT 1935), die mehr die Orientierungsfunktion als die Sozialisationsge-

Angesichts der Umfangbeschränkung für Diskussionsbeiträge können wir nur einen Teil unserer Gegenargumente mehr andeuten als ausdiskutieren.

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Hartmann & Wakenhut: Replik zu Feger & Faltin

Strukturanalysen in der Attitudenforschung: Theorie und Methode Eine Erwiderung auf Feger und Feger & Faltin

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H A N S HARTMANN & R O L A N D W A K E N H U T Fachbereich Psychologie der Universität Gießen

PROBLEM

THEORETISCHE

In unseren Untersuchungen «Zur Dimensionalität gesellschaftlich-politischer Attitüden bei unterschiedlichen Gruppen» (HARTMANN & WAKENHUT 1972a) ermittelten wir einen Generalfaktor (Radikalismus-Konservatismus) bzw. drei rotierte Faktoren (Religionismus, Nationalismus und Humanitarismus), die sich über 10 heterogene Stichproben (Studenten, Geistliche, Polizisten) in Transformationsanalysen nach FISCHER & R O P P E R T (1965) als invariant erwiesen. Wir interpretierten die gefundene Faktorenstruktur als ein offenbar weitgehend generalisierbares Kognitionssystem, das die «Kognitionen von Zusammenhängen sozialer Sachverhalte» steuert (p. 113) und verglichen unsere Befunde mit entsprechenden von FERGUSON (1942) und E Y SENCK (1971). Neuerdings haben F E G E R (1974) und F E G E R & FALTIN (1975) gegen diesen Forschungsansatz theoretische (Bestimmung der Attitudendimensionen auf Gruppenebene) und methodische Einwände (Verwendung der Faktorenanalyse) erhoben, eine andere Strategie und Methode vorgeschlagen und unsere Daten einer Sekundäranalyse unterzogen. Die folgende Erwiderung skizziert unsere in nahezu allen Punkten konträre Auffassung.

F E G E R und F E G E R & FALTIN vertreten die Auffassung, Einstellungsstrukturen und deren Dimensionalität müßten an Individuen ermittelt und erst dann zusammengefaßt (aggregiert) werden, da sich das theoretische Konstrukt der Einstellung «auf Zustände und Prozesse einer einzelnen Person» beziehe. Dieser Auffassung können wir - zumindest in ihrer allgemeinen Form - nicht zustimmen. Bezüglich des theoretischen Konstrukts der Einstellung müssen mindestens zwei Aspekte unterschieden werden: die Funktion und die Genese von Einstellungen. Die Funktion mag individuumzentriert sein in dem Sinne, daß Einstellungen vor allem etwas mit der Orientierung einzelner Personen zu tun haben. Doch bereits hier muß bedacht werden, daß Einstellungen durch ihren engen Konnex zu Gruppennormen und -werten zugleich eine wichtige Funktion für den Zusammenhalt von Gruppen besitzen. Die Gruppenzentrierung von Einstellungen wird vollends deutlich, wenn man sich dem Aspekt ihrer Genese zuwendet.

1

ASPEKTE

Entstehung, Verfestigung und Wandel sozialer Attitüden sind ganz überwiegend Produkte gruppenspezifischer Sozialisation, darüber herrscht in der Sozialpsychologie weitgehend Einigkeit, wenn auch die Definitionen mancher Autoren (z. B. ALLPORT 1935), die mehr die Orientierungsfunktion als die Sozialisationsge-

Angesichts der Umfangbeschränkung für Diskussionsbeiträge können wir nur einen Teil unserer Gegenargumente mehr andeuten als ausdiskutieren.

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1975, 6, 164-171

nese betreffen, in eine andere Richtung weisen und Verwirrung stiften mögen. HARTLEY & HARTLEY ( 1 9 5 5 , p. 4 5 2 ) etwa, die aufgrund umfangreicher Forschungsergebnisse die Schlußfolgerung ziehen, Attitüden seien «kaum eine individuelle Angelegenheit, sondern ... zum großen Teil der Gruppe entnommen, der sich das Individuum am stärksten verbunden fühlt», weisen u. E. zu Recht darauf hin, daß individuelle Faktoren viel eher eine Bedeutung für den Anschluß an bestimmte Gruppen und für die Empfänglichkeit für Gruppeneinflüsse besitzen. Natürlich spielen bei der Entstehung sozialer Attitüden individuelle Faktoren, wie sie schon ALLPORT ( 1 9 3 5 ) als Integration und Differenzierung persönlicher Erfahrungen und Traumata beschrieben hat, auch eine unmittelbare Rolle; ihre Bedeutung dürfte allerdings wesentlich geringer sein als die von Gruppeneinflüssen. Auch die in aller Regel recht niedrigen Korrelationen zwischen Persönlichkeitsund Attitudenvariablen aus zahlreichen empirischen Untersuchungen sprechen nicht gerade für eine Dominanz der Individualgenese von Attitüden und deren starker Verankerung in anderen Teilsystemen der Persönlichkeit. In ähnlichem Argumentationszusammenhang kommentiert SCHÄFER ( 1 9 7 2 ) die inhaltliche Kritik an der Autoritarismusforschung mit dem Hinweis, «daß sich soziologische Gruppenkriterien stärker als Persönlichkeitscharakteristika zur Differenzierung von Personen mit und 'ohne' ethnischen Vorurteilen eignen» (p. 79) und kommt zu dem Schluß: «Es erscheint nach den vorliegenden Befunden trotz mancher methodologischer Bedenken unumgänglich, den Einfluß von Merkmalen sozialer Gruppenzugehörigkeit als wesentliche Determinante sozialer Einstellungen anzusehen» (p. 83). In nahezu allen empirischen Untersuchungen ließ sich nachweisen, daß die Varianz von Einstellungen innerhalb sozialer Gruppen wesentlich geringer ist als zwischen Gruppen, was für gruppenspezifische Sozialisation von Einstellungen und somit generell für Analysen auf Gruppenebene spricht. Gerade auch für Studenten, wie wir sie vor allem untersucht haben,

165

ist die universitäre gruppenspezifische Sozialisation gesellschaftlich-politischer Attitüden in zahlreichen Analysen belegt worden (vgl. die zusammenfassende Darstellung bei WEINERT 1972, pp. 848 ff.). FEGER (1974, p. 243) stützt u. a. seinen Einwand gegen Strukturanalysen auf Gruppenniveau mit einer «Analogie aus der Lernforschung ..., wo aus der Gruppenlernkurve nicht unbedingt auf die Form der Individualkurve geschlossen werden kann». Diese Analogie trifft u. E. den gegebenen Sachverhalt deshalb nicht, weil Lernverhalten und Lernleistungen einen ganz anderen Sozialisationshintergrund haben als gesellschaftlich-politische Attitüden. Diese werden relativ spät in Sekundärgruppen (peergroups), jene relativ frühzeitig in der Primärgruppe (Familie) erworben. Kommen wir zur Quintessenz unserer Argumentation. Wir bestreiten keineswegs prinzipiell die Angemessenheit von Attitudenanalysen (gleichviel ob struktureller oder anderer Art) auf individueller Basis. Wir bezweifeln lediglich - auch im Hinblick auf FEGERS bisher mitgeteilte Befunde daß sich dieses Vorgehen lohnt. Umgekehrt halten wir Analysen auf Gruppenebene prinzipiell für angemessen, wenn nicht sogar aus sozialpsychologischer Perspektive für geboten. Es handelt sich hier um zwei verschiedene Forschungsstrategien, die beide Vor- und Nachteile besitzen. FEGER su.ht Ähnlichkeiten zwischen Individuen, definiert solche Ähnlichkeiten als gruppenstiftende Merkmale und aggregiert ähnliche Individuen - sofern er welche findet - zu synthetischen Gruppen. Wir betrachten Zugehörigkeit zu konkreten Gruppen als eine Art Vortestmerkmal und analysieren Individuen, die dieses Merkmal aufweisen, gemeinsam. Beide Strategien sind prinzipiell möglich; es fragt sich nur, welche von beiden im Hinblick auf den gegebenen Forschungsgegenstand angemessener ist. FEGER erfaßt mit seinem ideographisch akzentuierten Ansatz vor allem die individuelle Variation, die u. E. für soziale Attitüden eher von sekundärer Bedeutung ist. Unser nomothetisch akzentuierter Ansatz vernachlässigt zwar die individuelle Variation, was

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Hartmann & Wakenhut: Replik zu Feger & Faltin

einen gewissen Mangel darstellen mag, bietet aber die Chance, Aussagen auf einem allgemeineren Niveau zu formulieren, das dem sozialwissenschaftlichen Gegenstand angemessener erscheint. Sollte unser Befund der Invarianz von Attitudenstrukturen heterogener Gruppen einer methodischen Kritik standhalten, was wir im nächsten Abschnitt noch zu untermauern suchen, so müßte man daraus schließen, daß für Strukturanalysen in diesem Forschungsbereich selbst die Gruppenebene als analytisches Niveau noch zu niedrig angesetzt ist.

METHODISCHE ASPEKTE RECHTFERTIGUNG

DES

FAKTORENANALYTISCHEN

Ansatz zur Bestimmung von Attitudenstrukturen zu. Unser methodisches Vorgehen wurde von zwei inhaltlichen Perspektiven geleitet: einmal ging es um die différentielle Beschreibung von Probanden und Probandengruppen anhand gesellschaftlich-politischer Attitüden, zum anderen um die theorierelevante Analyse der Struktur dieses Merkmalskomplexes. Eine Verknüpfung beider Perspektiven war nur in einem Analysemodell möglich, das den differentiellen und strukturellen Aspekt gleichzeitig berücksichtigte. Als Modell der Wahl erwies sich die multiple Faktorenanalyse (= FA), die mit den Faktorenladungen strukturelle und mit den Faktorscores 2 différentielle Parameter bereitstellt. Z u r Verdeutlichung unserer Entscheidung kann das bei COOMBS (1964) diskutierte Schema zur Klassifikation von Datenanalysemodellen herangezogen werden:

ANSATZES

Wenden wir uns zunächst dem von FEGER & (1975) kritisierten faktorenanalytischen

FALTIN