Wörter im Kopf. 3484220562, 9783484220560

Das Buch behandelt den menschlichen Wortspeicher, das "mentale Lexikon", und damit die Frage, wie wir Wörter l

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German Pages [383] Year 1997

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Wörter im Kopf.
 3484220562, 9783484220560

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78-166 Pages de Aitchison Wörter im Kopf-2(1)
167-191 Pages de Aitchison Wörter im Kopf-3(1)
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Jean Aitchison

Wörter im Kopf Eine Einführung in das mentale Lexikon

Aus dem Englischen von Martina Wiese

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997



Original English language edition: Jean Aitchison, Words in the Mind. An lntroduction to rhe Mental Lexicon. First edition published 1987 Second edition published 1994 Published by Blackwell Publishers Ltd, 108 Cowley Road, Oxford OX4 lJF, UK © Jean Aitchison, 1994 Ins Deutsche übersetzt aus der 2. Auflage 1994.

Die Deutsche Bibliothek - ClP-Einheitsaufnahme Aitchison, Jean: Wörter im Kopf: eine Einführung in das mentale Lexikon/ Jean Aitchison Aus dem Eng!. von Martina Wiese. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Konzepte der Sprach- und Literatm wissenschaft ; 56) Einheitssacht.: Words in the mind

ISBN 3-484-22056-2

ISSN 0344-6735

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Hugo Näde!e, Nehren

Inhalt

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Danksagung ............. Teil I 1 2 3

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Ziele und Indizien

Willkommen in Dictionopolis .............. , ................................. Der menschliche Wortspeicher Glieder in der Kette ......................................................... Das Auswerten von Indizien , .................. Dumbella wird programmiert ........................... Ein Modell des mentalen Lexikons

Teil II 4

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3 20 35

Die Grundausstattung

Aalglatte Burschen ..................................... -.. ·... ·..... , .......... 49 Wie nagelt man die Bedeutung von Wörtern fes~? 5 Schräge und bessere Vögel ........................................ , ....... 65 Prototypentheorien 6 Flüsternde Kammern der Phantasie .................................... , . 81 Prototypen als mentale Modelle 7 Den Sprachatomen auf der Spur .......................................... 93 Auf der Suche nach semantischen Primitiven 8 Wortgewebe ................................................................ 105 Semantische Netzwerke 9 Lexikalisches aller Art ..................................................... 126 Wortarten 10 Die Macht der Verben ...................................... , ................ 141 Verbfunktionen 11 Wortteilchen ........................................... , ....................... 158 Die innere Struktur der Wörter 12 Achtgeben auf die Laute ............................... , ....•• , ... , ....... 174 Der Umgang mit Lautstrukturen

vi Teil III Neulinge 13 Zuckerhut-Interpretationen ............................................... 191 Die Erweiterung alter Wörter 14 Globbernde Matratzen ..................... , ............................... 205 Das Erzeugen neuer Wörter 15 »Was ist ein Bondaluh, Papi?« ......................................... . 221 Wie Kinder Wortbedeutungen lernen 16 Aggergog miggers, Dits und Tügüs ..... , .. . . . . .. . . . . . .... . .. . ....... . 239 Kinder und die Lautstruktur der Wörter

Teil IV Das Gesamtbild 17 Suchen und Finden ........................................................ 257 Die Wortwahl 18 Wohlgeleitete Vermutungen .............................................. 272 Das Erkennen von Wörtern 19 Sonderbare Anordnungen und komische Lösungen ................... 290 Die Struktur des mentalen Lexikons 20 Schlußwort ................................................................. 302 Letzte Bemerkungen und Fragen für die Zukunft Literatur ............... , ... , ............. , ........................................ 311 Register .......................................................................... 344Wörterbuch ...................................................................... 358

Vorwort

In diesem Buch geht es um Wörter. Dabei werden fo]gende Fragen behandelt: Wie bringen die Menschen es fertig, so viele Wörter zu speichern, und wie finden sie die Wörter, die sie brauchen? Kurz gesagt: Wie ist der menschliche Wortspeicher, das »mentale Lexikon«, beschaffen? Dieses Thema hat in der letzten Zeit das Interesse sehr vieler Wissenschaftler geweckt. Leider sind die meisten der betreffenden Arbeiten in gelehrten Zeitschriften und Tagungsberichten versteckt. Darüber hinaus sind sie äußerst bruchstückhaft', da viele Forscher nur einen kleinen Bereich des Themas bearbeiten. Dieses Buch ist ein Versuch, die neuesten Erkenntnisse über das mentale Lexikon einem breiten Publikum zugänglich zu machen und einen zusammenhängenden Überblick über seine mögliche Funktionsweise zu geben. Dabei sollen sich alle, die mit Wörtern zu tun haben, von dem Buch angesprochen fühlen - Studenten der Linguistik und Psychologie, Sprachtherapeuten, Sprachlehrer und andere Pädagogen, Lexikographen und alle, die einfach nur wissen möchten, wie man sich an Wörter erinnert und wie Kinder sie lernen. In gewisser Weise bietet das Buch auch eine allgemeine Einführung in die Linguistik aus einer neuen Perspektive. Es wird keinerlei Vorwissen über Linguistik oder Psychologie vorausgesetzt. Das Buch beschränkt sich auf ein Minimum an Fachterminologie, und alle Fachausdrücke werden erläutert. Möchte jemand mehr über ein Thema wissen, so bieten die Anmerkungen eine Fülle an Literaturverweisen und -vorschlägen. Seit der englischen Erstausgabe dieses Buches ( 1987) ist die Forschungsarbeit zum mentalen Lexikon geradezu explodiert. War das mentale Lexikon zuvor von gewissem Interesse für einige wenige, so ist es nun für viele von sehr großem Interesse. Dem trägt die stark erweiterte Neuausgabe Rechnung. Zwei Kapitel sind hinzugekommen; das ursprüngliche Kapitel über Prototypen wurde nach einer umfangreichen Ergänzung zweigeteilt und ein Kapitel über Verben eingefügt. Semantische Relationen und Wortarten erhielten sehr viel mehr Raum, und im gesamten Buch wurden Absätze und Seiten hinzugefügt. Kein Kapitel blieb unverändert. Überdies gibt es mehr als 300 neue Literaturhinweise. Um den Text nicht mit bibliographischen Angaben zu überladen, finden sich diese ausnahmslos in den Fußnoten.

vm Ich möchte die Personen besonders erwähnen, die diese zweite Ausgabe maßgeblich beeinflußt haben. Es sind (in alphabetischer Reihenfolge) Dirk Geeraerts (Löwen), George Lakoff (Berkeley), Beth Levin (Chicago) und George Miller (Princeton). Gerne erinnere ich mich auch an die langen und interessanten Diskussionen mit Leonhard Lipka (München) und George Miller. Dann möchte ich Oxford University Press und Longman Dictionaries danken, deren Wörterbücher mir unschätzbare Dienste geleistet haben. Sehr dankbar bin ich allen Freunden und Kollegen, die hilfreiche Vorschläge gemacht haben, einschließlich derjenigen, die sich die Zeit genommen haben, den Fragebogen von Blackwell auszufüllen. In der ersten Ausgabe findet sich eine Liste der Personen, die mir geholfen haben. Inzwischen wäre diese Liste aber mehrere Seiten lang. So kann ich an dieser Stelle allen nur sehr herzlich für ihre Kommentare und Artikel danken. Sie haben mir wertvolle Dienste geleistet, und ich habe alles aufmerksam studiert, auch wenn einiges aus Platzgründen nicht in die Endfassung aufgenommen werden konnte. Selbstverständlich sind die in diesem Buch vertretenen Auffassungen meine eigenen und stimmen nicht zwangsläufig mit den Meinungen der oben genannten Personen überein; manchmal halfen mir die Meinungsverschiedenheiten mit ihnen, meine eigenen Gedanken präziser zu formulieren. Für alle vielleicht noch verbliebenen Fehler bin allein ich verantwortlich. Jean Aitchison Oxford 1993

Zur Übersetzung

Für die deutschsprachigen Leser wurden zahlreiche Sprachbeispiele aus dem Deutschen eingefügt. Im Anhang befindet sich ein englisch-deutsches Wörterbuch für die im Text genannten englischen Beispielwörter. Da sich die Englischkenntnisse der Leser weder vorhersagen noch vereinheitlichen lassen, wurden der Einfachheit halber sämtliche Wörter aus den Hauptwortarten aufgenommen. Literaturzitate erscheinen meistens in einer deutschen Fassung. Existierte bereits eine deutsche Version, so wurde diese in der Regel übernommen und durch den deutschen Titel kenntlich gemacht. In der Bibliographie finden sich die ausführlichen Literaturangaben dazu. Erscheint nur der englische Titel, so stammt die deutsche Fassung von der Übersetzerin. In einigen Fällen wurde der englische Text belassen und die Übersetzung in einer Fußnote angefügt.

IX

In der englischen Originalausgabe fehlen fast alle ausführlichen bibliographischen Angaben zu Zitaten aus der Belletristik, da diese Literaturzitate nicht den eigentlichen Gegenstand des Buches darstellen, sondern lediglich zur Veranschaulichung dienen. Die entsprechenden Angaben fehlen daher auch in der Bibliographie der Übersetzung. Die Bibliographie wurde außerdem um einige Titel zur deutschen Sprache erweitert. Wenn englische Titel auch auf deutsch existieren, wurden die entsprechenden Angaben an ihre englischen Pendants angehängt. Bei der Übersetzung habe ich von verschiedenen Seiten wertvolle Anregungen und Informationen erhalten. Besonders danken möchte ich Jean Aitchison, Susanne Bartke, Hartmut Günther, Ulrike Janßen, Ingrid Kaufmann, Martina Penke und Richard Wiese. Martina Wiese

Danksagung

Für die freundliche Genehmigung zum auszugsweisen Autorin und Verlag:

Nachdruck danken

Collins und The Sterling Lord Agency Inc. für Zeilen aus Norton Juster, The Phantom Tollbooth (London: Collins, 1962), copyright © 1961 Norton Juster - Dt.: Verhext in

Wörtersta.dt, oder Weckerhund, Wedermann und Schlafittchen (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, 1978); Roald Dahl für Zeilen aus My Uncle Oswald (London: Michael Joseph Ltd und Penguin Books Ltd, 1979), copyright © 1979, 1980 Roald Dahl, Neuauflage mit Genehmigung von Alfred A. Knopf, lnc. - Dt.: Onkel Oswald und der Sudan-Käfer. Eine haarsträubende Geschichte (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag GmbH, 1981); Andre Deutsch und Little, Brown and Company für Zeilen aus Ogden Nash, "Who called that pied-billed grebe a podilymbus podiceps podiceps?", copyright © 1968 Ogden Nash, zuerst erschienen im New Yorker, " ... Any milleni ums today, lady ... ?", copyright © 1948 Ogden Nash, zuerst erschienen im New Yorker, "Thunder over the Nursery ... ", copyright © 1936 Ogden Nash; Faber and Faber Ltd und Grove Press Inc. für Zeilen aus Samuel Beckett, All That Fall, in The Complete Dramatic Works von Samuel Beckett (London: Faber, 1986) - Dt.: Alle, die da/allen, in Glückliche Tage und andere Stücke (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1971); Faber and Faber Ltd und Harcourt Brace Jovanovich lnc. für Zeilen aus T.S. Eliot, "Macavity the mystery cat", in Old Possum's Book of Practical Cats (London: Faber, 1939), copyright © 1939 T.S. Eliot, 1967 erneut an Esme Valerie Eliot, Neuauflage mit Genehmigung von Harcourt Brace Jovanovich Inc., "Little Gidding" und "Burnt Norton", aus T.S. Eliot, "Four Quartets", in The Collected Poems 1909-1962 (London: Faber, 1969), copyright © 1943 T.S. Eliot, 1971 erneut an Esme Valerie Eliot, Neuauflage mit Genehmigung von Harcourt Brace Jovanovich Inc. - Dt.: Gesammelte Gedichte l 909-1962 herausgegeben und mit einem Nachwort von Eva Hesse, 2., verbesserte Auflage (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1988); Harmony Music Ltd und Sanga Music Inc. für Zeilen aus "Words, words, words 11 von Pete Seeger, copyright © 1967 Harrnony Music Ltd, 19/20 Poland Street, London Wl V 3DO, internationale Rechte gesichert, alle Rechte vorbehalten, mit besonderer Genehmigung, copyright © 1967, 1968 Sanga Music Inc., alle Rechte vorbehalten, mit besonderer Genehmigung; Laurence Lerner und Secker and Warburg für Zeilen aus 11Meanings 11, in Lerner, Rembrandt's Mirror (London: Secker and Warburg, 1987); Ira Levin für Zeilen aus The Stepford Wives (London: Michael Joseph

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LLd, 1972); James MacGibbon für Zeilen aus Stevie Smith, "In the park", in The Col-

lected Poems of Stevie Smith (London: Allen Lanc, 1975); Spike Milligan für Zeilen aus "The bongaloo", in Silly Verse for Kids (London: Puffin Books, 1959); Pan Books und Thc Crown Publishing

Group für Zeilen aus Douglas Adams, So lang and Thanks Jor

All the Fish (London: Pan, 1982) - Dt.: Macht's gut, und danke für den Fisch, 6. Auflage (Frankfurt am Main: Ullstein Verlag, 1992).

Teil I Ziele und Indizien

1 Willkommen in Dictionopolis Der menschliche Wortspeicher

Nicht lange danach erblickten Milo und Tock in der Feme die Türme und Mauern von Dictionopolis. Milo gab Gas, und Augenblicke später hielt das Auto vor dem Stadttor. DerTorhüter salutierte. »Meine Herrschaften, Sie befinden sich vor den Mauern von Dictionopolis, dem glücklichen Königreich, das in den Vorbergen von Kuddelmuddel liegt. Der sanfte Wind vom Ozean des Wissens bläst zu uns her . . . . [Dictionopolis ist der Ort, von dem alle Wörter der Weil herkommen. Hier in unseren Obstgärten reifen sie heran.]« Norton Juster, Verhext in Wörterstadt

» Wörter glitzern. Wörter verbreiten strahlenden Glanz. Wörter bergen einen

Zauber und schlagen uns in ihren Bann ... Wörter sind gleißende Mosaiksteine, aus denen eine jede Sprache zusammengefügt wird ... Wörter sind Rosen, die ihre Umgebung zum Duften bringen.« Dies behauptet der Verfasser eines Handbuchs, das der Wortschatzverbesserung dienen soll. 1 Nur wenige Menschen betrachten Wörter mit derselben Ehrfurcht und Ehrerbietung wie dieser Autor. Die meisten von uns benutzen sie ständig, ohne darüber nachzudenken. Dennoch sind Wörter von größter Wichtigkeit. Jeder braucht sie, und ein normaler Mensch begegnet im Laufe eines normalen Tages Tausenden von ihnen. Ohne sie wären wir verloren: »Ich habe das Wort vergessen, das ich sagen wollte, und körperlos kehrt der Gedanke ins Prunkgemach der Schatten zurück«, sagte der russische Dichter Mandel 'stam. 2 Die Frustration, keine Wörter zu besitzen, bringt Stevie Smith in seinem Gedicht In the park nachdrücklich zum Ausdruck: »Pray for the Mute who have no ward to say.« Cried the one old gentleman, »Not because they are dumb, But they are weak. And the weak thoughts beating in the brain Generate a sort of heat, yet cannot speak. Thoughts that are bound without sound In the tomb of the brain's room, wound. Pray for the Mute.« 3 1

2 3

Chand (o.J.: 3-4). Zitiert in Wygotski (1934; 1971: 291) »Betet für die Stummen, die keine Worte haben« / Schrie der eine alte Herr, »Nicht

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Auf einer weniger poetischen Ebene können uns Leute, ·die einen Schlaganfall hatten, eindringlich vor Augen führen, was es heißt, einfach nicht die Wörter zu finden, nach denen man sucht. So gelingt es dem folgenden Patienten, einem 69jährigen Professor für Elektrotechnik, nicht, einen Koffer zu benennen: »Das sind die tageskritikülon .... die praktischen killen, sehr praktische külen.« Als ihm ein Rasierapparat gezeigt wird, hat er ähnliche Probleme: »Das warn andere teilgreise für foreinlich von ... von automatischen tupde automatische haupdäler.«4 Die meisten Leute glauben, sehr viele Wörter kennen zu müssen, und machen sich Sorgen, wenn sie ein bestimmtes Wort nicht finden können. Doch meistens erinnern sie sich problemlos an die Tausende von Wörtern, die sie in Alltagsgesprächen benötigen. Das ist eine beachtliche Leistung. Dennoch schenken die Sprecher einer Sprache dieser bemerkenswerten Fähigkeit vermutlich recht wenig Beachtung. Selbst die, die sich von Berufs wegen mit Sprache auseinandersetzen, wie beispielsweise Sprachtherapeuten und Lehrer, wissen relativ wenig darüber, wie der Mensch sich mit all diesen Wörtern zurechtfindet. Dieser Mangel an Wissen überrascht nicht, denn es gibt nur wenig leicht zugängliche Informationen über sokhe Kernfragen wie »Wie werden Wörter im Kopf gespeichert?«, »Wie findet man beim Sprechen die gewünschten Wörter?« oder »Merken sich Kinder Wörter genau so wie Erwachsene?« Darum geht es in diesem Buch. Es setzt sich in erster Linie damit auseinander, wie wir Wörter in unserem Kopf speichern und welchen Zugriff wir bei Bedarf auf sie haben. Unser langfristiges Ziel ist, einen Entwurf für ein Arbeitsmodell des Wortspeichers im menschlichen Geist vorzulegen. Das erweist sich als sehr umfangreiche Aufgabe. Um sie etwas einzugrenzen, konzentriert sich das Buch auf die gesprochene Sprache von Personen mit Englisch als Muttersprache, wobei für die Leser der deutschen Übersetzung auch deutsche Beispiele aufgenommen wurden. Die Wahl fiel auf Englisch, weil dies bisher die am intensivsten erforschte Sprache ist. Und die Wahl fiel auf gesprochene Sprache, weil englische Muttersprachler zuerst sprechen, bevor sie lernen, ihre Sprache zu lesen oder zu schreiben. Von Lesen, Schreiben und anderen Sprachen wird gelegentlich dann die Rede sein, wenn es wissenschaftliche Untersuchungen gibt, die zum besseren Verständnis des Themas beitragen. Sich nur auf gesprochenes Englisch zu konzentrieren, bedeutet, daß Zwei- und Mehrsprachigkeit hier nicht direkt behandelt werden - obwohl die gewonnenen Erkenntnisse hoffentlich auch

4

weil sie taub sind, / Sondern schwach. Und die schwachen Gedanken, die im Hirn pochen,/ Erzeugen eine Art Hitze, können aber nicht sprechen. / Gedanken, gefesselt ohne Laut/ Im Grabe der Hirnkammer, gewunden. Betet für die Stummen.« Penke (1991).

5 Licht auf die Frage weifen, wie Menschen die Vokabeln von mehr als einer Sprache bewältigen.

Den Regeln zum Spott? Gewundenen Ganges, drall, exzentergleich Verschoben, doch am regelmäßigsten, Wo jeder Regel sie zu spotten scheinen.

Miltons Beschreibung von den Planeten in Das verlorene Paradies kann man ebensogut auf den menschlichen Wortspeicher beziehen. Dem ungeübten Beobachter könnte es scheinen, als wanderten die Planeten planlos durch den Nachthimmel. Doch in Wirklichkeit folgen sie strengen Naturgesetzen, die für das bloße Auge nicht erkennbar sind. Genauso sind die Wörter in unserem Kopf nicht einfach kunterbunt aufeinandergehäuft wie Laub für ein Herbstfeuer. Sie sind vielmehr in einem verschlungenen und verzahnten System angeordnet, dessen zugrundeliegende Prinzipien es zu entdecken gilt. Aus zwei Gründen können Wörter nicht zufällig im Geist angehäuft sein. Erstens gibt es so unglaublich viele. Zweitens lassen sie sich so unglaublich schnel1 finden. Psychologen haben gezeigt, daß das menschliche Gedächtnis sowohl flexibel als auch erweiterbar ist, sofern die Informationen strukturiert sind. 5 Zufällig ausgewählte Fakten und Zahlen lassen sich extrem schwer ins Gedächtnis rufen, doch man kann ungeheure Datenmengen abrufen und nutzen, solange sie gut organisiert sind. Doch es bleibt etwas vage, zu sagen, daß Menschen »so viele« Wörter kennen und sie »so schnell« finden. Über welche Zahl sprechen wir? Und um welche Geschwindigkeit geht es? Wenden wir uns kurz diesen beiden Fragen zu. Muttersprachler kennen höchstwahrscheinlich mehr Wörter, als sie glauben. Es gibt die These, daß gebildete Erwachsene ihren eigenen Wortschatz im allgemeinen auf 1 bis 10 Prozent des tatsächlichen Wertes schätzen. 6 Die meisten Leute verhalten sich ähnlich wie die Bauern in Oliver Goldsmiths Gedicht Das verlassene Dörfchen. Die versammelten Dotfbewohner lauschen voll Ehrfurcht dem Schulmeister, dessen umfangreicher Wortschatz sie in Erstaunen versetzt:

5 6

Einen nützlichen Überblick über Arbeiten zur Gedächtnisforschung bieten Baddeley (1986a, 1986b, 1990) und Gregg (1986). Seashore, Eckerson (1940: 14).

6 Dann strömt' aus seinem Mund' ein ungeheurer Schwall Von Wörtern, Ellenlang, dem Donner gleich an Schall; Die Bauern horchten zu; Aufmerksamkeit, Vergnügen Und Staunen mahlte sich in den gespannten Zügen, Und als ein Wunder ward der Redner angegafft, In dessen engem Kopf so viele Wissenschaft ...

In der Bewunderung für die Wortgewalt ihres Dorflehrers entgeht den Bauern völlig, daß der Wortspeicher in ihren eigenen Köpfen vermutlich fast ebenso umfangreich wie der des Lehrers ist. Selbst hochgebildete Leute können von lächerlich geringen Schätzwerten ausgehen. Mitte des letzten Jahrhunderts gab Dean Farrar, ein angesehener Intellektueller, seine Meinung über den Wortschatz einiger Bauern kund, die er bei einem Schwätzchen belauscht hatte: »Einmal hörte ich eine ganze Weile der Unterhaltung von drei Bauern zu, die unter den Zweigen einiger Obstbäume Äpfel auflasen, und soweit ich vermuten konnte, überstieg die Gesamtzahl der von ihnen verwendeten Wörter nicht einmal hundert.« 7 Seiner Ansicht nach kamen sie mit dieser geringen Anzahl aus, weil »dasselbe Wort unzähligen verschiedenen Zwecken diente und dieselben ungehobelten Ausdrücke mit grausiger Häufigkeit für jede einzelne Wortart eingesetzt wurden«. In jüngerer Zeit wurde dem französischen Autor Georges Simenon die Behauptung nachgesagt, in einem möglichst einfachen Stil schreiben zu wollen, weil er irgendwo gelesen habe, daß mehr als die Hälfte der Bevölkerung Frankreichs nicht mehr als insgesamt 600 Wörter benutze. 8 Diese Zahl entspringt möglicherweise demselben Wunschdenken wie Simenons Behauptung, in seinem Leben mit 10000 Frauen geschlafen zu haben. Zumindest wären wohl die Zahlen für Wörter und Frauen zu vertauschen, obwohl 10000 Wörter wahrscheinlich immer noch zu niedrig gegriffen sind. Nach einer Berechnung kennt ein gebildeter Erwachsener wahrscheinlich mehr als 150000 Wörter und ist in der Lage, 90 Prozent davon aktiv zu nutzen. 9 Diese Zahl ist umstritten, weil die Definition von » Wort« problematisch ist und weil sich Vokabelkenntnisse nicht zuverlässig schätzen lassen. Dennoch haben Seashore und Eckerson als erste eine Methode entwickelt, die zum Messen des Wortschatzumfangs mittlerweile weitverbreitet ist. Es ist daher sinnvoll, sich vor Augen zu führen, wie sie zu diesem Ergebnis kamen, auch wenn man heute glaubt, daß ihre Schätzung insgesamt zu hoch war, und ihr Verfahren daraufhin modifiziert wurde.

7 8 9

Farrar (1865: 59). Bresler (] 983). Seashore, Eckerson (1940).

7 Seashore und Eckerson definierten ein »Wort« als Eintrag in der Ausgabe von Funk und Wagnalls New Standard Dictionary of the English Language von 1937, das etwa 450000 Einträge enthält. Durch das Auslassen alternativer Bedeutungen kamen sie schließlich auf 370000. Knapp die Hälfte davon, etwa 166000, betrachteten sie als »Basiswörter« wie loyal, und die restlichen 204000 waren Ableitungen und Komposita, wie loyalism, loyalize, loyally und Loyal Legion. Da es offenkundig unpraktisch ist, jemanden auf alle Wörter aus dem Wörterbuch zu testen, braucht man eine repräsentative Stichprobe. Diese erhielten die Forscher, indem sie das dritte Wort von oben in der ersten Spalte jeder linken Seite auswählten. Das ergab eine Liste von 1320 Wörtern, die sie in vier Listen aufteilten. Dann wurden mehrere hundert Collegestudenten daraufhin getestet, ob sie die Wörter auf jeder Liste definieren und in Beispielsätzen verwenden konnten. Seashore und Eckerson entdeckten, daß ihre Versuchspersonen erstaunlich kenntnisreich waren. Durchschnittlich kannten die Studenten 35 Prozent der gebräuchlichen »Basiswörter« aus der Liste, 1 Prozent der seltenen »Basiswörter« und 47 Prozent der Ableitungen und Komposita. Auf die Gesamtzahl der Wörter im Wörterbuch hochgerechnet, erwies sich, daß der durchschnittliche Collegestudent etwa 58000 gebräuchliche »Basiswörter«, 1700 seltene »Basiswörter« und 96000 Ableitungen und Komposita kannte. Die Gesamtsumme belief sich auf über 150000. Das höchste Ergebnis lag bei 200000, und selbst das niedrigste betrug noch über 100000. Später wiesen andere Wissenschaftler auf mehrere Fehler in Seashore und Eckersons Vorgehen hin. Möglicherweise waren die Studenten in der Lage, von ihren Kenntnissen der » Basiswörter« auf die Bedeutung und Nutzung der mit ihnen verwandten Ableitungen zu schließen. Überdies neigen intelligente Studenten dazu, ihr Wissen zu überschätzen. Nehmen wir das Wort kneehole. Dabei handelt es sich um den Raum unter einem Schreibtisch, der Platz für die Knie läßt. Doch jemand, der sich »ganz sicher« war, das Wort zu kennen, behauptete, es handele sich um ein Loch, das ein Knie in eine dünne Stoffhose scheuert. Dagegen glauben weniger gute Schüler, Wörter zu kennen, die anderen Wörtern ähneln. Ein Kind, das das Wort burrow in einem Satz verwenden sollte, schrieb: »May I burrow your pencil?« statt »May I borrow your pencil >Darf ich deinen Bleistift ausleihen?«Abfall beseitigt man mit einer Schubkarre«müssen< (»You must wash your hands«). Doch eine Wörterbuchstichprobe könnte auch auf must mit der Bedeutung >Most< gefallen sein oder gar mit der Bedeutung >Zustand übersteigerter sexueller Erregung bei männ1ichen Großsäugetieren, ins besondere EIefanten jemand, der singtjemand, der mit Singen seinen Lebensunterhalt verdient