Stimme im Raum und Bühne im Kopf: Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane [1. Aufl.] 9783839421376

Die Feststellung, dass die höfischen Romane ihrem Publikum vorgelesen wurden, zählt zu den Binsenweisheiten der Mediävis

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf: Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane [1. Aufl.]
 9783839421376

Table of contents :
INHALT
Vorwort: ein Plädoyer für den Dilettantismus
1. VOM VERMEINTLICHEN MEDIENKONFLIKT
2. VOM MEDIALEN CHARAKTER DER PERFORMATIVITÄT
2.1 Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator
2.1.1 Die Bedingungen performativer Kommunikation
2.1.2 Poetria Nova: eine Rhetorik als Rollentheorie
2.2 Wahrnehmung: Autopsie und Kinästhetik
2.2.1 Das bewegte Schema: Vorüberlegungen zum Körperbild der kinästhetischen Wahrnehmung
2.2.2 Spuren einer höfischen Wahrnehmungstheorie
2.3 Korporalität: die Grausamkeit des Sprechens
3. DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TRANSITORISCHEN EINMALIGKEIT
3.1 Vom Öffnen der arke: der Wigalois-Prolog als inszenatorischer Nebentext
3.2 Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation
3.3 Vom Blick auf Pferde und anderen Wundern
3.3.1 Kinematisches Bedürfnis und WAHRnehmung
3.4 Die Sinnesregie der Wunderketten
3.4.1 Erklärende Engel und der visionäre WAHRnehmungsmodus
3.4.2 Verlorene Aventüren und Sinneskonkurrenz
3.4.3 WAHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick
3.5 Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera
4. VON DER SPRECHHANDLUNG ZUM RAUM
4.1 Raumverschaltung
4.1.1 Sprachliche ‚Grausamkeit‘ als Verschaltung
4.1.1.1 Der mundtote Rezitator im ersten Teil des Daniel
4.1.1.2 Lautgemetzel: Kinästhetik und sprachliche Grausamkeit in den Cluseschlachten
4.1.2 Das Festmahl: eine Schnittstelle der Verschaltung
4.1.2.1 Die performative Doppelgesichtigkeit des Truchsessen
4.1.2.2 Knurrende Mägen vor dem Aufzug des Vorhangs
4.2 Der Verfremdungseffekt
4.2.1 Zugeständnis ungenügender erzählerischer Fähigkeit
4.2.2 Narrative Eigenmächtigkeit
4.2.3 Hervorhebung von WAHRnehmungsleistungen
4.2.4 Hervorhebung der korporalen Person
4.2.5 Offenlegung fiktionsvermittelnder Mechanismen
4.2.6 ‚Persönliche‘ Distanzierung zum Geschehen
4.3 Ein Sonderfall der Verfremdung: Der Cliffhanger
4.3.1 Höfische Literatur und Fernsehserie: ein definitorischer Versuch
4.3.2 Der Cliffhanger im höfischen Roman
4.3.3 Die Verabsolutierung des Cliffhangers
5. SCHLUSS: EIN ENDE DEM 19. JAHRHUNDERT
Siglenverzeichnis
Bibliographie
A Mittelhochdeutsche und ältere Primärtexte
B Sonstige Primärtexte, Musikalben und Filme
C Theorie und Sekundärliteratur
Register

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Matthias Däumer Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 9

2012-10-29 15-19-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a6318913475840|(S.

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Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Matthias Däumer (Dr. phil.) wurde an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz promoviert.

2012-10-29 15-19-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a6318913475840|(S.

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Matthias Däumer

Stimme im Raum und Bühne im Kopf Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane

2012-10-29 15-19-02 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a6318913475840|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Matthias Däumer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2137-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2011 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Förderung erfuhr sie in den Jahren 2007/2008 von der Landesgraduiertenförderung RheinlandPfalz. Für den Druck wurde sie überarbeitet. Ich möchte meinen Promotionsbetreuern, Friedemann Kreuder und Uta Störmer-Caysa, sowie den Gutachtern der Dissertation, Annette Gerok-Reiter, Cora Dietl und Michael Bachmann, für Impulse und Ansporn ebenso wie für Kritik und Widerspruch danken. Auch meinen Kollegen am Deutschen Institut der Universität Mainz, Gießen und Tübingen sowie am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin zolle ich Respekt für die vielen Kaffeepausen-Diskussionen über das ‚P-Wort‘, die sie mit mir durchgestanden haben. Die Arbeit des Mainzer Forschungsschwerpunkts Historische Kulturwissenschaften war mir über die Zeit der Abfassung stets ein intellektueller Bezugspunkt; die Aufnahme in die Buchreihe des HKW ist mir deshalb eine große Freude. Dem transcript-Verlag gilt mein Dank für die unkomplizierte Zusammenarbeit und professionelle Betreuung bei der Drucklegung. Berlin, im September 2012

Matthias Däumer

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Vorwort: ein Plädoyer für den Dilettantismus ................... 11

1.

VOM VERMEINTLICHEN MEDIENKONFLIKT ................... 19

2.

VOM MEDIALEN CHARAKTER DER PERFORMATIVITÄT

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2.1 Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator ................................................................ 40

2.1.1 Die Bedingungen performativer Kommunikation ........ 63 2.1.2 Poetria Nova: eine Rhetorik als Rollentheorie ............. 74 2.2 Wahrnehmung: Autopsie und Kinästhetik .................. 87

2.2.1 Das bewegte Schema: Vorüberlegungen zum Körperbild der kinästhetischen Wahrnehmung ............ 87 2.2.2 Spuren einer höfischen Wahrnehmungstheorie ............ 102 2.3 Korporalität: die Grausamkeit des Sprechens ............ 122

3. DAS KUNSTWERK IM ZEITALTER SEINER TRANSITORISCHEN EINMALIGKEIT ................................ 147 3.1 Vom Öffnen der arke: der Wigalois-Prolog als inszenatorischer Nebentext .................................... 148 3.2 Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation .................................... 171

3.3 Vom Blick auf Pferde und anderen Wundern ............. 195

3.3.1 Kinematisches Bedürfnis und WAHRnehmung ............ 228 3.4 Die Sinnesregie der Wunderketten .............................. 241

3.4.1 Erklärende Engel und der visionäre WAHRnehmungsmodus ................................ 241 3.4.2 Verlorene Aventüren und Sinneskonkurrenz ............... 259 3.4.3 WAHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick ........... 266 3.5 Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera ............................................. 294

4. VON DER SPRECHHANDLUNG ZUM RAUM .................... 325 4.1 Raumverschaltung ........................................................ 329

4.1.1 Sprachliche ‚Grausamkeit‘ als Verschaltung ............... 333 4.1.1.1 Der mundtote Rezitator im ersten Teil des Daniel ... 339 4.1.1.2 Lautgemetzel: Kinästhetik und sprachliche Grausamkeit in den Cluseschlachten ....................... 343 4.1.2 Das Festmahl: eine Schnittstelle der Verschaltung ...... 360 4.1.2.1 Die performative Doppelgesichtigkeit des Truchsessen ........................................................ 376 4.1.2.2 Knurrende Mägen vor dem Aufzug des Vorhangs ... 389 4.2 Der Verfremdungseffekt ............................................... 399

4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6

Zugeständnis ungenügender erzählerischer Fähigkeit . Narrative Eigenmächtigkeit ......................................... Hervorhebung von WAHRnehmungsleistungen ........... Hervorhebung der korporalen Person .......................... Offenlegung fiktionsvermittelnder Mechanismen ....... ‚Persönliche‘ Distanzierung zum Geschehen ...............

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4.3 Ein Sonderfall der Verfremdung: Der Cliffhanger ...... 450

4.3.1 Höfische Literatur und Fernsehserie: ein definitorischer Versuch .......................................... 451 4.3.2 Der Cliffhanger im höfischen Roman .......................... 465 4.3.3 Die Verabsolutierung des Cliffhangers ........................ 477

5. SCHLUSS: EIN ENDE DEM 19. JAHRHUNDERT ............. 495

Siglenverzeichnis ................................................................. 507 Bibliographie ......................................................................... 511

A B C

Mittelhochdeutsche und ältere Primärtexte ..................... 511 Sonstige Primärtexte, Musikalben und Filme ................. 517 Theorie und Sekundärliteratur ......................................... 520

Register ................................................................................. 561

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Vorwort: ein Plädoyer für den Dilettantismus „To the world I seem, by intention on my part, a dilettante and dandy merely – it is not wise to show one’s heart to the world.“ Oscar Wilde in einem Brief an Ph. Houghton, Feb. 18941

‚Die folgende Dissertation versteht sich als kulturwissenschaftliche Studie‘: Mit diesem Satz ist viel, doch zugleich herzlich wenig gesagt. Der Begriff der Kulturwissenschaft floriert seit den letzten zwei Jahrzehnten in gehörigem Maße. Viele Promotionsprojekte berufen sich auf ihn, Graduiertenkollegs firmieren darunter, Konferenzen schreiben ihn sich auf die Fahnen und Exzellenzinitiativen meinen über ihn ihren Status zu legitimieren. Doch trotz seiner Konjunktur scheint es oft, als würden die Konturen des Begriffs mit jeder weiteren Nennung immer mehr verschwimmen. Als ‚Kulturwissenschaften‘ (Plural) ziert der Begriff viele grundlegende Publikationen, die u. a. Theorien der Historischen Anthropologie, Medien- und Kommunikationstheorie, der New Philology, der Performanzforschung, der Gender-Studies und der Interkulturalitätsforschung akkumulierend nebeneinander stellen. 2 Eine wirkliche Definition von ‚Kulturwissenschaft‘ (Singular) blieb dabei

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Wilde, 1962, S. 353. Besonders hervorzuheben sind: BÖHME/SCHERPE, 1996 und BENTHIEN/ VELTEN 2002. Gerade in der letztgenannten Einführung in die Germanistik als Kulturwissenschaft wird die dargelegte Strategie dezidiert betrieben, Kulturwissenschaft als eine Auffächerung von gleichberechtigten, auf die Germanistik bezogenen Teilwissenschaften zu beschreiben.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

aber zumeist aus.3 Auch aktuelle Forschungsschwerpunkte, wie die Mainzer Historischen Kulturwissenschaften (HKW), in dessen Reihe diese Untersuchung erscheint, meiden den Singular häufig (doch nicht durchgängig)4 und weisen sich als „Integrationswissenschaft“5 durch die mit dem Plural implizierte Heterogenität als anschlusswillig an die bestehenden Disziplinen aus. Der Plural scheint einer Akkumulation von Teilaspekten oder von sogenannten turns geschuldet – derer es nach der Zählung Bachmann-Medicks 2006 schon 23 gab.6 Durch die Akkumulation heterogener ‚Metadisziplinen‘ verwaschen jedoch die Konturen einer Kulturwissenschaft (Singular) und es scheint methodisch impliziert, dass es für eine kulturwissenschaftliche Studie reiche, mit einem kleinen Schritt abseits der jeweilig gefestigten disziplinären Methoden die eine oder andere Wendung anzutäuschen. Dabei dürften die präsentierten Ergebnisse aber weiterhin im gesicherten Rahmen der jeweiligen Disziplin bleiben. Dieses Verfahren kommt über den Charakter von Anleihen bei entsprechenden ‚Hilfswissenschaften‘ nicht hinaus. Dabei fordern Verbünde wie der HKW ganz unmissverständlich nach spezifisch kulturwissenschaftlichen Forschungsgegenständen, die verhindern würden, dass ausgerechnet ihre „Diffusität“ die Kulturwissenschaft zum „Neue[n] Jerusalem“7 werden lasse: „Die historischen Kulturwissenschaften sollen als ein fächerübergreifendes Regulativ mit dem Ziel, verschiedene Fächer zu integrieren, verstanden werden. Sie bilden ein Dach, unter dem sich die verschiedenen Fächer gemeinsam in der Reflexion- und Theoriekompetenz schulen

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Der Begriff ‚Kulturwissenschaft‘ scheint sich generell zwischen Plural und Singular-Verwendungen aufzureiben. So ist auch die Verwendung von ‚Kultur‘ strittig, impliziert der Singular doch 1.) eine Einheitlichkeit, die weder der Heterogenität unseres Alltags, noch der der kulturwissenschaftlichen Forschung entspricht und 2.) eine normative Auszeichnung (‚Leitkultur‘, ‚Nationalkultur‘), die politisch nicht (oder nur schwer) tragbar ist. Am überzeugendsten verteidigt Dieter Teichert die Verwendung als „Kollektivsingular, der eine interne Vielfalt keinesfalls ausschließt“; TEICHERT 2010, S. 14. Vgl. ROGGE, 2010, S. 356 et passim. ROGGE, 2010, S. 351. BACHMANN-MEDICK, 2006, S. 385. BÖHME, 1998, S. 478.

Ein Plädoyer für den Dilettantismus sowie Sachthemen bearbeiten. Es handelt sich dabei jedoch um Themen, die aufgrund der wachsenden Wissensbestände und komplexen Problemstellungen nur interdisziplinär bearbeitet werden können. [...] [D]ie Aussichten auf weiteren Erkenntnisgewinn im Rahmen des Konzepts der historischen Kulturwissenschaften wird davon abhängen, ob es gelingt, [...] Forschungsthemen und -strategien zu entwerfen, die notwendigerweise erfolgreich nur in fächerübergreifender wissenschaft8 licher Anstrengung bearbeitet werden können.“

Eine ‚wirklich‘ kulturwissenschaftliche Studie sollte neue Problemfelder eröffnen und Forschungsobjekte bearbeiten, die überhaupt nicht im Rahmen nur einer Disziplin verhandelt werden könnten.9 So richtig und wichtig diese Forderung des HKW auch ist: Der Verfasser solch einer Studie begibt sich, da er aufgrund der aktuellen universitären Struktur bspw. im Rahmen eines bestimmten Fachs promoviert werden muss, immer in die Gefahr, in den jeweils anderen, im schlechtesten Fall auch in der eigenen Disziplin als Dilettant zu gelten. Und dieser Vorwurf wäre nicht unberechtigt. Denn ein Kulturwissenschaftler hat gar keine andere Möglichkeit, als den Disziplinen genau dies zu sein – ein Dilettant. Auf kulturwissenschaftlichem Boden erwirbt er sich dann freilich wiederum die Freiheit, diesen ‚Vorwurf‘ nach den eigenen Regeln zu behandeln: Ja, er ist ein Dilettant – jedoch nicht im Sinn der pejorativen Wortbedeutung, wie sie in der deutschen Literatur vor allem von dem sich als ‚Meister‘ von seinen Zeitgenossen absetzenden Goethe geprägt wurde,10 sondern im Sprachgebrauch des

8 ROGGE, 2010, S. 363 und S. 375. 9 Ähnlich auch: FAUSER, 2003, S. 9. 10 Die Kontrastierung von ‚Meister‘ und ‚Dilettant‘ wird vor allem in dem Schema „Über den Dilettantismus“ und in den Maximen und Reflektionen vorgenommen (vgl. Goethe, [Weimarer Ausg. I, 47] 1987, S. 299-326 und Goethe, [Hamburger Ausgabe 12] 1994, S. 479-482); vgl. für eine eingehende Untersuchung der Kontrastierung von ‚Meisterschaft‘ und ‚Dilettantismus‘ bei Goethe: VAGET, 1971. Der direkte Gegensatz zwischen dem Goethe’schen Verständnis des Begriffs zu dem in der vorliegenden Studie angestrebten wird v. a. anhand der 821. Maxime deutlich: „Ursache des Dilettantismus: Flucht vor der Manier, Unkenntnis der Methode, törichtes Unternehmen, gerade immer das Unmögliche leisten zu wollen“; Goethe, 1994, S. 481. Wo Goethe einen Mangel an Methode moniert, soll hier der Überschuss an Methoden proklamiert werden und der Dilettantismus dazu

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Fin de Siècle, resultierend aus der Geisteshaltung also, die den Begründern der ‚ersten‘ Kulturwissenschaft direkt vorausging und in vielen Hinsichten die Grundlage für die ‚Gründungsväter‘ Heinrich Rickert, Max Weber und Ernst Cassirer bildete.11 Im europäischen Fin de Siècle wurde zwecks einer Reformulierung der zeitgenössischen Lebens- und Kunststile der Dilettant (von ital. dilettare bzw. lat. delectare: ‚sich angenehm beschäftigen‘)12 eher im Sinne des Spielers denn des Stümpers als ein „jongleur d’idées“13 begriffen, als jemand, der sich möglichst vielen Ideen und Weltanschauungen öffnet, „ohne sich je einer besonderen ganz hinzugeben oder sich mit einer einzigen völlig zu identifizieren.“14 Genauso wie der den Dilettantismus zur Ideologie erklärende Dandy der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hat auch der Kulturwissenschaftler der Gegenwart viele Bälle in der Luft zu halten, um einem originär kulturwissenschaftlichen Anspruch gerecht zu werden: Er ist ein jongleur des methodes. Die Kulturwissenschaft liefert dabei das Wissen vom Werfen der Bälle bzw. – als Methodologie – die Anleitung zum Umgang mit heterogenem Handwerkszeug. Jedoch sollte es sich beim kulturwissenschaftlichen Jonglieren nicht um einen selbstgenügsamen l’art pour l’art(bzw. la science pour la science-)Vorgang handeln; der Aufwand muss – wie auch der HKW fordert – vielmehr auf ein überdisziplinäres Objekt ausgerichtet sein. Nur ein kulturwissenschaftliches Problem rechtfertigt die kulturwissenschaftliche ‚Metamethode‘. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die performative Umsetzung von Romanen am mittelalterlichen Hof zu beschreiben. Das Ziel der Bemühungen ist somit ein trans-, evtl. sogar metadisziplinäres: Es liegt jenseits der Grenzen, die philologische Behandlungen

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dienen, ihre Vielzahl wie Heterogenität zu ‚meistern‘ – ein Vorhaben, das keineswegs unmöglich erscheint. Für eine Darstellung der ‚alten‘ Kulturwissenschaft und ihrer Beziehung zu den aktuellen Tendenzen vgl. TEICHERT, 2010. Vgl. PFEIFER, 1996, S. 226. Diese Umschreibung prägte Paul Bourget 1883 in seinen Essais de Psychologie Contemporaine (vgl. SØRENSEN, 1969, S. 251), einer Abhandlung, welche eine Umwertung des Begriffs verzeichnet, die sich in vielen poetischen Werken der Jahrhundertwende, bspw. bei Heinrich (vgl. ebd.) und Thomas Mann (vgl. WIELER, 1996) oder bei Oscar Wilde (siehe Motto) finden lässt. SØRENSEN, 1969, S. 252.

Ein Plädoyer für den Dilettantismus

des höfischen Romans sich disziplinär gesetzt haben.15 Gleichzeitig ist es nicht Teil der herkömmlichen Theatergeschichtsschreibung, die sich der performativen Realisierung dieser Romane aufgrund eines exkludierenden Theatralitäts-Begriffs oder aufgrund der mangelnden Quellenlage (und der damit einhergehenden Notwendigkeit einer engen Bindung an den Text) bisher nicht zuwandte. So steht die Aufführung höfischer Romane im disziplinären Off – in dem Gebiet, das die vorliegende Studie als Spielraum der Kulturwissenschaft begreift. Die Analysen dieser Dissertation müssen es sich demnach gefallen lassen, dass beide Disziplinen sie als (pejorativ) ‚dilettantisch‘ begreifen werden. Die Methode der Dissertation zielt nicht auf den Text, sondern durch den Text hindurch auf die transitorische performative Realisation. Dem mediävistischen Philologen kann dieser Status des mittelalterlichen Schrifttums als Mittel zum Zweck bzw. als randständiges Zeugnis einer flüchtigen Aufführungssituation nach den Regeln seiner Disziplin nicht zusagen. Er wird einen Mangel an textueller Materialität und damit der Möglichkeit zur philologischen Analyse konstatieren und die Dissertation für eine theaterwissenschaftliche halten. Ebenso kann es dem Theaterwissenschaftler nicht gefallen, dass die in ihren Grundlagen philologische Betrachtung der mittelalterlichen Texte den beinahe einzigen Weg zur Erfassung der Aufführungssituation darstellt. Er wird keinen Mangel, sondern eine zu große Abhängigkeit vom Text konstatieren und diese Dissertation als eine germanistische betrachten. Um diesem Dilemma zu entgehen, muss die kulturwissenschaftliche Metamethode der vorliegenden Studie in doppelter Hinsicht eine 15 Eine vergleichbare Notwendigkeit zum transdisziplinären Arbeiten schildern Hedwig Meier und Gerhard Lauer bei ihrem Versuch, die im Codex Buranus überlieferten Texte nicht nur als Lieder, sondern als theatrale Spiele zu analysieren: „Nicht zuletzt durch die Ausdifferenzierungen der Disziplinen in Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft und Musikwissenschaft ist ein Gegenstand wie der Codex Buranus nur schwer adäquat zu beschreiben, denn die Ausdifferenzierung ist selbst Folge jener Trennung von Text, Aufführung und Notation, deren Einheit für das Mittelalter zu vermuten ist und gerade zu beschreiben wäre“ (MEIER/LAUER, 1996, S. 34). Es ist die im Laufe der Wissenschaftsgeschichte erschaffene, ‚künstliche‘ Vorstellung von disziplinärer Autonomie, die der Behandlung von grenzüberschreitenden Kunstwerken des Mittelalters nicht entsprechen kann.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

translatorische sein:16 Einerseits muss sie die Methoden und Objekte zweier Disziplinen ineinander übersetzbar machen, andererseits eine Translation zweier unterschiedlicher Kulturen sein, der mittelalterlichhöfischen und der gegenwärtigen. Dabei träume ich nicht den Traum von der unverfälschten Translation.17 Jeder Übersetzer ist, genauso wie jeder Rezipient einer Translationsleistung, eingebunden in seine Disziplin und in seine Kultur. Es soll vielmehr das Ideal einer vergleichenden, d. h. die disziplinären und kulturellen Werte nicht ver- oder gar gleichschaltenden, sondern verschränkenden Translation angestrebt werden. Es wird dementsprechend im Folgenden zu Vergleichen der gegenwärtigen Kultur mit der des Mittelalters kommen, dies jedoch nicht zu dem Zweck, die eigene Kultur rückzuprojizieren, sondern aus dem grundlegenden Verständnis heraus, dass ein Einbeziehen des gegenwärtigen kulturellen Hintergrunds in die Analyse unvermeidlich ist: Die eigene kulturelle Prägung wird ohnehin mit in die Analyse einfließen – warum also sollte man sie unter dem aus dem 19. Jahrhundert geerbten Deckmantel eines objektiv nachzeichnenden Historismus verbergen? Ein offenes Bekenntnis zu Hans-Georg Gadamers Methode des ‚hermeneutischen Verstehens‘, die eine Vermengung der untersuchten

16 Zum Vorgang der Translation als Kernmethode kulturwissenschaftlicher Forschung vgl. u. a. BURKE, 2005, S. 171-177. 17 Als ein Beispiel für dieses v. a. im 19. Jahrhundert virulente Ideal kann Friedrich Schleiermachers Abhandlung Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens dienen; vgl. SCHLEIERMACHER, 1883. Es bestehen laut Schleiermacher die Möglichkeiten, entweder den Text zum Leser oder den Leser zum Text zu bringen. Der eine Translationsweg bedeutet, dass das Original mit Elementen der Kultur des Übersetzers bzw. des Rezipienten verbunden wird, um ein entsprechendes Verständnis zu bewirken; der andere Weg befreit sich von dieser Beimischung der Eigenkultur und beruft sich auf die idealisierte Vorstellung, einen Text im Rahmen seiner historischen Kultur zu begreifen. Der Rezipient solch einer Übersetzung wird ein Befremden empfinden, das ein wirkliches Verstehen des Texts unmöglich, ihm jedoch die Alterität des Originals erfahrbar macht. Die letztgenannte Methode ist wohl diejenige, welche in der germanistischen Mediävistik häufig als richtig erachtet wird, da die Vermengung gegenwärtiger Kultur mit der mittelalterlichen als ‚Verunreinigung‘ eines ursprünglichen Sinns betrachtet wird. In dieser Form hält sich das Ideal der unverfälschten Translation entgegen aller Paradigmenwechsel der Mediävistik noch bis heute.

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Ein Plädoyer für den Dilettantismus

und der Kultur des Interpreten a priori als unvermeidlich proklamiert, scheint wesentlich angebrachter.18 Ebenso wird es in dieser Dissertation Passagen geben, in denen zeitweise philologische oder theaterwissenschaftliche Methoden dominieren, jedoch nicht, um einer Disziplin den Vorrang zu geben, sondern um – so ist zu hoffen – dem ‚undisziplinierten‘ Jonglieren des Dilettanten stets zugeneigt zu sein und sich nach bestem (Ge-)Wissen ‚als kulturwissenschaftliche Studie verstehen‘ zu können.

18 Vgl. GADAMER, 1990. Zum ‚hermeneutischen Verstehen‘ als eine – analog zur Umdeutung des Dilettantismus-Begriffs – positive Interpretation eines ‚Irregehens‘ vgl. THIEMER, 2010.

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1. Vom vermeintlichen Medienkonflikt „Contre l’écrit non parlé. Contre le parlé non écrit.“ Philippe Sollers, Lois1

In der Forschung zu den medialen Bedingungen2 der höfischen Epen respektive Romane dominierte lange Zeit die dichotome Beschreibung von einer entweder als primär oral oder aber als Geburtsstunde des modernen Schriftverständnisses begriffenen Kultur. Auf der einen Seite stand der Phonozentrismus, der die am Hof kursierenden Erzählungen unter dem Schlagwort der ‚Oral Poetry‘ ausschließlich auf der mündlichen Medialität fußen ließ.3 Für diesen Forschungsansatz bedeutete 1 2

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Sollers, 1972, S. 109. Im Folgenden wird ein weiter Medienbegriff verwendet, wie er u. a. von Roland Posner aufgestellt wurde: „Jede Kommunikation ist auf Kommunikationsmittel angewiesen. Sie werden gewöhnlich Medien genannt und lassen sich nur im Systemzusammenhang definieren. [...] [E]in Medium [ist] ein System von Mitteln für die Produktion, Distribution und Rezeption von Zeichen, das den in ihm erzeugten Zeichenprozessen bestimmte gleichbleibende Beschränkungen auferlegt“; POSNER, 1968, S. 293f. Der programmatische Aufsatz, der zu Beginn der 1980er Jahre die Bemühungen der mediävistischen Philologien auf die methodische Bearbeitung der Oralität ihrer Texte lenkte, war „Orality, Literacy, and Medieval Textualization“ von Walter Ong; vgl. ONG, 1984. Eine sehr gute Übersicht über ältere Forschungsansätze zur Oralität mittelalterlicher Literatur liefert ZUMTHOR, 1990, S. 19-70. Zu nennen ist hier v. a. Albert Bates Lord, der die Oralität der frühen Texte als mit den Techniken der Skripturalität unvereinbar betrachtete, als „contradictory and mutually exclusive“; LORD, 1965, S. 129. Die Absolutheit dieser Position hat, ebenso wie Behauptungen einer die mittelalterliche Kulturlandschaft dominierenden Skripturalität, den Nachteil, dass sie zugunsten der eigenen medialen Gewichtung das historische Material nicht adäquat behandelt und, oft ohne schlüssige Be-

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

– überspitzt formuliert – die Schriftsprache nichts weiter als ein ungenügendes Surrogat der Lautsprache, das uns den Zustand einer zu großen Teilen illiteraten höfischen Kultur nur verfälscht überliefert. Man unternahm deshalb den Versuch, die Schrift weitestmöglich zu ignorieren, um die (angeblich rein akustische) Rezeptionshaltung eines Zuhörers4 simulieren zu können. Auf der anderen Seite wurde die skripturale Tradition mittelalterlicher Texte betont und an programmatischen Stellen der Epen bewiesen, dass sich die Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts durchaus als Schriftsteller begriffen und sich in den Manuskripten erstmals ein eigenständiges Schriftbild entwickelte.5 Der intendierte Rezipient sei der Leser und die höfische Gesellschaft (zumindest in ihren Darstellungen) alles andere als ein illiterates System gewesen. 6 Erst gegen Ende der sogenannten ‚Literacy Debate‘ der 1980er und frühen 1990er Jahre kristallisierten sich Positionen heraus, die eine Verflechtung von Skripturalität und Oralität anstrebten und die Darstellung der Höfe im 12. und 13. Jahrhundert als eine Mischkultur dieser

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gründung, die Existenz von zwei Medialitäten als ein exzeptives Verhältnis betrachtet. Hier wie im Folgenden werden Begriffe wie ‚Zuhörer‘, ‚Leser‘, ‚Rezipient‘ u. ä. ausschließlich im maskulinen Genus verwendet. Dies ist eine Forschungskonvention und soll nicht die Existenz von ‚Zuhörerinnen‘, ‚Leserinnen‘ oder ‚Rezipientinnen‘ ausschließen. Aus Gründen der Lesbarkeit wird auf Schreibungen wie ‚Leser/innen‘ etc. verzichtet. Ivan Illich beschreibt in seinem Essay Im Weinberg des Textes anhand der Didascalion des Hugo von St. Viktor „einen technischen Durchbruch, der um 1150 stattfand“; ILLICH, 1991, S. 10. Dieser Wechsel vom monastischen zum scholastischen Lesen brachte es mit sich, dass „aus der Partitur für fromme Murmler [...] der optisch planmäßig gebaute Text für logisch Denkende“ (ebd., S. 8) wurde. Dieser Wechsel stellt eine Grundlage für den höfischen Literaturkonsum dar, da es des bei Illich beschriebenen Verständnisses bedarf, um einen textgebundenen Vortrag halten zu können. Ausschlaggebend für diese Position ist in der deutschen Forschung v. a. die Monographie Manfred Günter Scholz’ Hören und Lesen (vgl. SCHOLZ, 1980), die Arbeit des von 1986 bis 1999 aktiven Münsteraner Sonderforschungsbereichs Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter (vgl. v. a. KELLER u. a., 1992 und MEIER, 1996) und in neuester Zeit die umfangreiche Studie von Ulrich Ernst zu Facetten mittelalterlicher Schriftkultur (vgl. ERNST, 2006). Weitaus häufiger jedoch findet man Studien, die sich gar nicht explizit zu den medialen Bedingungen der mittelalterlichen Kultur positionieren, sondern, ausgehend vom eigenen textgebundenen Rezeptionsvorgang, diesen auch ihren Objekten ‚unterjubeln‘.

Vom vermeintlichen Medienkonflikt

Medienformen anstrebten.7 So zeigt Dennis Howard Green in einer kritischen Auseinandersetzung mit der die Skripturalität als dominierendes Medium behauptenden Studie von Manfred Scholz,8 dass die meisten höfischen Epen nicht nur eine dominierende Rezeptionsart kannten, sondern dass die Texte eine ‚intermediate reception‘ ansteuern, die Dichter also ihre Verse für Leser ebenso wie für Hörer gestalteten. Der Romanvortrag ist dabei die Form der Kulturentfaltung, bei der beide Medien in einem koexistieren: 9 „The intermediate mode is potentially present whenever an audience listens to a reciter deliver a work from a manuscript in front of him. This type of delivery shares with the exclusively acoustic situation the presence of assembled listeners, reception by ear, and dependence on a reciter, but it also shares with the exclusively literate situation the fact of a manuscript and the possibility of reading: for the reciter, but also for any literate member of the audience who might gain access to the text.“10 7

Die wichtigsten dieser Ansätze sind ZUMTHOR, 1994; GREEN, 1994 und 2003; MÜLLER, 1996; WENZEL, 1995; EGIDI, 2000, 2002 und 2004. 8 Green gelingt es, die von Scholz aufgezeigten Marker für eine höfische Lesekultur in ein Skripturalität und Oralität verbindendes System zu überführen. Dabei kann man wie David F. Tinsley durchaus bemängeln, dass Green „still treats utterances about composition and reception without sufficient regard for the possibility that medieval authors were writing for performance“; TINSLEY, 1996, S. 953f. Doch obwohl Greens Ansatz eine adäquate Auseinandersetzung mit einem Aufführungsbegriff vermissen lässt, teile ich keinesfalls die sonstigen in Tinsleys Verriss geäußerten Einschätzungen. 9 In der höfischen Kultur des 12. und 13. Jahrhunderts bleibt der individuelle Leser weiterhin die Ausnahme. So sind auch bei Green die meisten Beispiele für eine Rezeption durch private Lektüre (vgl. GREEN, 1994, S. 142147) durch das schon gegen Scholz angebrachte Statement Kartschokes zu entkräftigen: „Ich sehe keinen Grund, weshalb wir die sehr häufige Doppelform ‚hœren unde/oder lesen‘ nicht auf Vorleser und Zuhörer [...] sollten beziehen können“; KARTSCHOKE, 1983, S. 258. Doch selbst bei den Beispielen, welche die Annahme eines Lesers rechtfertigen, ist zu bedenken, dass der Rezitator, der ein Werk zur Aufführung bringen will, in der Vorbereitung seines Auftritts erst einmal ein Leser sein muss. Es kann also ebenso argumentiert werden, dass selbst wenn ein rein optischer Lektürevorgang angesteuert wird, dies auch in Hinsicht auf die Aufführung geschehen kann, da im Leser ein potenzieller Rezitator angesprochen wird. 10 GREEN, 1994, S. 171.

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Die von Green angestrebte Beilegung eines akademischen Medienstreits durch den Beweis, dass die höfischen Texte Oralität wie Skripturalität ansteuerten, eröffnet den Blick auf die simple Tatsache, dass sich ein kulturelles System generell nicht nur über ein Medium verbreitet und dass ein Kunstobjekt dieser Kultur nicht nur einen Weg der Rezeption kennen muss. Es handelt sich bei Schrift- und Phonozentrismus sowie bei der Verortung medialer Umbrüche um Polarisierungen der Forschung, wohingegen die mittelalterliche Kulturlandschaft sich – größtenteils unprogrammatisch und ohne Konkurrenzkonstruktionen – mehrerer Medien bedienten konnte. Der Grund für diese lang anhaltende Debatte um vermeintlich primäre mediale Zustände ist an der Basis der (post)modernen Medientheorie zu finden: Marshall McLuhans ‚Dreistadienmodell‘11 wurde oft so gedeutet, dass es unabhängige Entwicklungsstufen der menschlichen Kultur geben oder ein Medium das andere komplett ablösen könne, obwohl dies eine grobe Simplifizierung kultureller Entwicklungsprozesse darstellt. McLuhan selbst machte für die Zäsuren zwischen den Epochen zwar das Auftreten neuer Medien verantwortlich, behauptete jedoch nie die Notwendigkeit einer Verdrängung alter durch neue Medien.12 Es handelt sich auch in McLuhans Denksystem bei einer histori11 Vgl. MCLUHAN, 1962. „Er [McLuhan] unterscheidet (1) das Zeitalter vor dem Buchdruck (mit Aspekten von Mündlichkeit und Schriftlichkeit), (2) das Zeitalter Gutenbergs (die typographische und mechanische Ära seit Gutenbergs Erfindung 1450) und (3) das Zeitalter Marconis (das elektronische Zeitalter), nach Gugliemo Marconi, dem Erfinder der drahtlosen Telegraphie (1894)“; WENZEL, 2002, S. 127. 12 Vgl. SPAHR, 2000, S. 59. Die Entwicklung, in der McLuhan Zäsuren aufzeigt, ist nicht die der Medien, sondern die Entwicklung der durch sie beeinflussten menschlichen Sinne: „Die Einbeziehung der Technik des phonetischen Alphabets führt den Menschen aus der magischen Welt des Ohres hinaus in die neutrale visuelle Welt“; MCLUHAN, 1968, S. 21. Dabei ist der Übergang ein allmählicher und gradueller, jedoch auch ein irreversibler: „Wenn eine Technik, sei es von innen oder außen, in eine Kultur eingeführt wird und wenn sie dem einen oder anderen unserer Sinne ein neues Gesicht oder einen neuen Auftrieb gibt, dann verschiebt sich das gegenseitige Verhältnis aller unserer Sinne“; ebd., S. 29f. Eine evolutionär fortschreitende Veränderung der menschlichen Sinne ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer medialen Teleologie bzw. dem Ausschluss älterer Medien durch neuere – die älteren Medien werden nach dem Durchschreiten der Entwicklungsstufen lediglich mit veränderten, neu geprägten Sinnen wahrgenommen.

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schen Kultur um ein symbiotisches Nebeneinander heterogener Medien bzw. um deren gegenseitigen Bezug zu- und Reflexion übereinander. Um diese medialen Mechanismen beschreiben zu können, empfiehlt es sich – anstatt Kulturgeschichte als Entwicklung auf das (vermeintlich) gerade aktuelle Medium hin zu denken –, sich von teleologischen Tendenzen zu befreien und den Fokus auf die kleinste partizipierende Einheit einer Kultur zu lenken: den Rezipienten. In einer vielfältig kulturkonsumierenden Haltung fungiert der Rezipient selbst bei Kunstobjekten, die aus sich heraus keine aktive Intermedialität betreiben, als Schnittpunkt und Vermittlungsinstanz der existenten Medien; er bezieht in seiner rezeptiven Haltung ‚alte‘ wie ‚neue‘ Medien aufeinander und hält sie gleichermaßen kulturell relevant. Ein lesekundiger Mensch des mittelalterlichen Hofs wird aufgrund seiner erlernten Fähigkeit nicht nur noch murmelnd13 im Kämmerlein gelesen haben. Es liegt vielmehr nahe, dass der höfische Leser als (durch einen überdurchschnittlichen Bildungsstand im gesteigerten Maße aktives) Mitglied seiner Kultur in verschiedener Gewichtung alle Medien seiner Zeit nutzte. 14 Es ist folglich auch nicht davon auszugehen, dass mit dem Auftauchen der privaten Lektüre in der Sphäre des Hofes der Literaturvortrag plötzlich obsolet wurde. Wie Green zeigt, ist eher das Gegenteil der Fall: Das Vorhandensein einer grundlegenden Lesefähigkeit im modernen Sinne ermöglichte erst die Entstehung des geselligen Romanvortrags und dieser wirkte sich dann womöglich, wie nach Hanns Fischers Hypothese zur Märendichtung,15 auf die weitere Entwicklung privater Lektüre 13 Illich zeigt, dass man sich das private Lesen (zumindest vor 1150) keineswegs als ein stilles Lesen vorzustellen habe. Selbst bei Lektürevorgängen ohne Publikum handelt es sich beim Lesen stets um ein Murmeln für das eigene Ohr; der Vorgang des wirklich stillen Lesens galt hingegen seit der Antike als Kunst für Ausnahmetalente; vgl. ILLICH, 1991, S. 91f. Im Normalfall sind „die Zeilen [...] wie eine Tonspur, die mit dem Mund aufgenommen und vom Leser für das eigene Ohr wiedergegeben wird“; ebd., S. 57. 14 Es ist ja auch heute noch so, dass manch ein ‚Berufsleser‘ trotz oder gerade wegen seiner erhöhten Fähigkeit zur analytischen Lektüre ab und an gerne den Fernseher anschaltet oder ins Kino geht, wobei sich die rezeptiven Modalitäten der Lektüre auf die Wahrnehmung von Fernsehsendungen oder Filmen genauso auswirken, wie die durch das Fernsehen oder Kino geprägten Sehgewohnheiten sich im Lektüreprozess niederschlagen. 15 Fischer zeigt anhand der Märendichtung die Möglichkeit auf, dass die ersten Verschriftlichungen der Texte zum Zwecke des Vortrags stattfanden

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aus. Hier zeigt sich, dass ein Medium weder bei produktions- noch bei rezeptionsästhetischer Betrachtungsweise als untrennbare Einheit verstanden werden kann.16 Vielmehr handelt es sich – selbst wenn man als Interpret die Entscheidung trifft, nur ein einzelnes Medium zu betrachten – stets um einen Zusammenhang vielschichtiger Austauschprozesse mit anderen medialen Erscheinungsformen. Dabei ist die Wechselwirkung bezüglich der mittelalterlichen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts nicht nur, wie oft behauptet, eine zweiteilige, die zwischen den Polen der Skripturalität und Oralität oszilliert. Horst Wenzel definiert die vermeintlich bipolare Wechselwirkung zwischen Schrift und gesprochenem Wort wie folgt: „Implizit ist dieser Argumentation [um das Verhältnis von ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘] der bimediale Charakter der mittelalterlichen Kommunikationsverhältnisse, die wechselseitige Referenzialität von materieller Schrift und körpergebundenem Wort, die sich nicht alternativ gegenüberstehen, sondern bedingen und modifizieren. Der Text erscheint als ‚Werk‘ im Zustand der Latenz, als Bedingung für die Mög17 lichkeit seiner körpergebundenen Aktualisierung [...].“ und erst in einem zweiten Schritt von privaten Lesern als Objekt des Textkonsums entdeckt wurden; vgl. FISCHER, 1968, S. 275f. Ähnliches stellt Herbert Kolb bezüglich der Manuskripte des Helmbrecht von Wernher dem Gartenære fest; vgl. KOLB, 1962, S. 110. Eine Wandlung des Manuskripts von einer Vortrags-Partitur hin zum Objekt der privaten Lektüre könnte sich für den höfischen Roman in der von Heinrich von Veldeke festgehaltenen Anekdote um das bei der Hochzeit der Gräfin Cleve gestohlene Manuskript abzeichnen; vgl. ENEAS, V. 13429-90 und GREEN, 1994, S. 140. 16 Für die gegenteilige Methode tritt Ulrich Ernst ein, der einleitend schreibt, dass in seiner Studie „die Forschungsobjekte Mündlichkeit und Schriftlichkeit trotz unbestrittener Wechselbeziehungen nicht als untrennbare Einheit verstanden werden“ (ERNST, 2006, S. VII) sollen. Dies führt im späteren Verlauf dazu, dass Ernst manche Fundstelle als eindeutigen Beweis programmatischer Schriftlichkeit darstellt, die jenseits des von ihm gewählten Fokus gerade vom Gegenteil zeugen kann. So führt der Autor schon gleich zu Anfang (vgl. ebd., S. 6) die Ablehnung der Spielleute in Chrétiens Erec-Prolog als Beweis für die Performanzfeindlichkeit des Dichters an, ohne sich damit auseinanderzusetzen, dass der Text viele Indizien dafür aufweist, dass der Prolog selbst die Aufführungssituation direkt ansteuert; siehe Kapitel 2.1 und 3.1. 17 WENZEL, 1994, S. 141f.

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Auch wenn Wenzels Beschreibung einer Referenzialität der Medien den oben geschilderten medialen Austauschprozessen entspricht, soll hier doch eine Distanzierung von ihrem bimedialen Charakter stattfinden. Zwar trifft es zu, dass ein wechselseitiger Bezug zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit besteht, doch es macht einen entscheidenden Unterschied, in welcher Form die ‚Mündlichkeit‘ auftritt – einen Unterschied, der mit dem Konzept einer bimedialen Kultur nicht erfasst werden kann. Denn eine Oralität, welche die Schrift überhaupt nicht kennt, also nach der Theorie der Oral Poetry in einem generationsübergreifenden Stille-Post-Spiel die gleichen Geschichten weitererzählt, erzeugt eine völlig andere mediale Situation als die, welche die kulturelle Realität der höfischen Romane des 12. und 13. Jahrhunderts ausmacht. 18 Die Sänger oraler Kulturen, seien es die Skalden und Skops, der antike Aoide (ܻȠȚįިȢ), der fili der Kelten oder der arabische shah’ir, lassen im mythischen Bewusstsein der jeweiligen Kultur jenseitige Größen, bspw. die Musen, durch das eigene Sprechen wirken. Der Sänger ist ein Medium und der Vortrag ein Akt der Präsentation, ein ‚Präsent-Machen‘ jenseitiger Entitäten.19 Beim Vortrag höfischer Romane sind die im Regelfall zwar auch ‚fernwirkende‘, jedoch profane Autorität des Dichters und der präsente, jedoch medial andersartige Text durch die vom Vortragenden gesprochenen Worte wirksam. Der Grund hierfür ist der allmähliche Wechsel20 vom vortextlichen zum textgeprägten Lesen, der um die Mitte und in der zweiten Hälfte 18 So auch Volker Mertens: „Ich gehe [...] von zwei unterschiedlichen Vortragsformen aus, die ich den produzierenden und den reproduzierenden Vortrag nenne. Mit dem produzierenden Vortrag meine ich die Generierung eines Liedes mit Formel- und Situationsinventar der mündlichen Tradition, wie es die Oral-Poetry-Forschung erschlossen hat, mit dem ‚sekundären‘, reproduzierenden das Vorlesen oder memorierte Vortragen eines schriftlich fixierten Textes“; MERTENS, 1996, S. 360f.; ähnlich auch SCHAEFER, 1994. 19 V. a. in der Darstellungsweise Sybille Krämers bezüglich (himmlischer) Botengestalten (vgl. KRÄMER, 2008, S. 112), wird diese mediale Funktion später noch zur Sprache kommen; siehe Kapitel 3.4.1. 20 „In der Sozialgeschichte des Alphabets trennt eine Gebirgskette das vortextliche und das textgeprägte Lesen, Schreiben, Sprechen und Denken voneinander“; ILLICH, 1991, S. 123. Illich beschreibt den medialen Umbruch vom monastischen zum scholastischen Lesen, also die um 1150 stattfindende Entstehung des ‚stillen Lesens‘, mittels einer Vereinfachung medialer Wandlungsprozesse: „Bezeichnenderweise war das fünfzig Jahre

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des 12. Jahrhunderts zu verorten ist. Beim Vortrag höfischer Romane geht es um eine Oralität, die auf Basis einer schriftlichen Vorlage performativ den Text zum Ereignis macht. Deshalb handelt es sich nicht mehr um einen Akt ritueller Präsentation wie in den oralen Kulturen, sondern um den einer theatralen ‚Re-Präsentation‘, bei dem der Vortragende nicht zum Medium jenseitiger Entitäten, sondern zum Stellvertreter von Text, Dichter und Figuren wird. Aus diesem medialen und kulturellen Wandel heraus ist es zu begründen, dass es im heutigen Umgang mit dem textgebundenen Vortrag des Mittelalters (so Margreth Egidi in Zurückweisung der Thesen Franz Bäumls)21 „zumindest irreführend und ungenau [ist], von einer ‚Oralisierung‘ oder ‚Reoralisierung‘ konzeptionell schriftlicher Texte in der Performanz auszugehen. Hier entsteht die Gefahr, die vokale Aufführung mit Oralität zu verwechseln und damit der oral-literalen Mischkultur, als die das Mittelalter zu begreifen ist und die nicht einfach eine Variante ge22 nuiner Oralität darstellt, nicht mehr gerecht zu werden.“

Des Weiteren sollte man bezüglich des Romanvortrags nicht von Oralität oder Vokalität23 sprechen, da zur performastiven Realisierung nach Hugo [von St-Victor, gestorben 1141,] nicht mehr so. Der technische Akt des Entzifferns schafft keinen auditiven, und daher auch keinen sozialen Raum mehr. Jetzt durchblättert der Leser das Buch. Seine Augen spiegeln die zweidimensionale Seite. Bald wird er seinen eigenen Verstand in Analogie zu seinem Manuskript wahrnehmen. Das Lesen wird zu einer individualistischen Tätigkeit werden, zu einem Hin und Her zwischen einem Selbst und einer Seite“; ebd., S. 86). Auch wenn die Zäsur Aussagekraft für das Leseverhalten in Klöstern hat, taugt sie dennoch nicht zur Konstatierung eines grundlegenden Medienwechsels und ist in ihrer Formulierung teleologisch. Denn die höfische Kultur nutzte den niedergeschriebenen Text in vielfacher Hinsicht zur Erschaffung eines auditiven, performativen und somit im besonderen Maße sozialen Raums. Ein lautes Lesen (sei es für sich selbst oder vor Publikum) wurde hier keinesfalls durch die moderne ‚Intimbeziehung‘ zum Buch abgelöst. Mit dem stillen Lesen entstand lediglich ein neues Textverständnis, das Grundlage neuer medialer Verwirklichungen wie des Romanvortrags sein konnte. 21 Vgl. BÄUML 1998, S. 253. 22 EGIDI, 2004, S. 18; meine Hervorhebung. 23 Gegen den von Ursula Schaefer verwendeten Begriff der ‚Vokalität‘ für ‚stimmliche‘ Inszenierungen in einer Schriftkultur (vgl. SCHAEFER, 1992) spricht, dass, auch wenn alle anderen semiotischen Systeme nur schwer

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des Texts noch viele andere körpergebundene semiotische Systeme gehören: kinesische, mimetische, gestische und proxemische Zeichen24 sowie schwer zu erfassende vorprädikative oder paralinguistische Phänomene,25 welche ich als Spezifika des medialen Zustands ‚Performativität‘ subsumiere.26 Aus dem selben Grund ist auch die häufige Bezeichung des Romanvortrags als ‚Verlesung‘ zu meiden, da er eine Texttreue impliziert, die der performativen Kreativität und der eigenen Semiotik keinen Freiraum zuspricht. Ebensowenig wie ein Argumentieren aus den Thesen der Oral Poetry heraus kann es genügen, die körperliche Verwirklichung der Schrift aus dem Medium der Skripturalität heraus zu begründen. Christian Kiening definiert, ebenfalls unter der Prämisse einer bimedialen Verfasstheit der mittelalterlichen Kultur, deren Literatur als durch „Wiederholung, Performativität und Unfestigkeit“27 charakterisiert. Performativität meine dabei das Folgende: „Sie [die Texte] existieren nicht in einer von Raum und Zeit abgelösten Gestalt, sondern bleiben – zumindest grundsätzlich – gebunden an Situationen gemeinschaftlichen Vollzugs (Kult, Ritual, pararituelle Formen), an Formen repräsentativer Öffentlichkeit, an Dimensionen synäs28 thetischer Wahrnehmung, an die Präsenz von Körpern.“

Kiening stellt demnach Performativität als ein spezifisches Charakteristikum mittelalterlicher Texte dar. Wenn in den mittelalterlichen Romanen also Probleme artikuliert werden, die aus der Differenz von schriftlicher Verfasstheit und performativer Umsetzung erwachsen, so wäre dies – nach Kiening – eine binnenmediale Selbstreflexion.29 Die schriftlich vorliegenden Romane richten sich an den Stellen, an denen sie sich auf ihre Verwirklichung in einem Vortrag beziehen, jedoch gegen ein

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fassbar sind, es nicht genügen kann, den Vortrag höfischer Romane auf das Phänomen der Stimme zu beschränken. Dies sind die Kategorien, die Erika Fischer-Lichte in ihrer Semiotik des Theaters als nicht oder nur indirekt aus dem Text zu erschließende Zeichen des theatralischen Codes anführt; vgl. FISCHER-LICHTE, 1988, S. 25-93). Siehe Kapitel 2.2. Siehe Kapitel 2. KIENING, 2003, S. 25. Ebd. Ähnlich auch in HAUBRICHS/KIENING, 2008, S. 12f.

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mediales Außen, ein Jenseits der Schrift. Einer Tatsache wird Kiening in seiner Begriffswahl somit nicht gerecht, nämlich dem Umstand, dass die Schrift sich, trotz all ihrer Instabilität als neu entstandenes Zeichensystem, anderer semiotischer Mittel bedient als der Vortrag. Deswegen darf bei der Beschreibung von Performativität diese nicht als Unterkategorie eines primär schriftlichen Literaturbegriffs gelten und ihre Spuren30 im Text müssen keinem binnen-, sondern einem intermedialen Diskurs zugerechnet werden.31 Auch eine einfache Unterscheidung von sibi legere (für sich lesen) und clara lectio (für die Ohren des anderen gedacht)32 trifft nicht das Wesentliche des Romanvortrags, da die Aufführung einer schriftlich vorliegenden Erzählung eine semiotisch autonome Übersetzungsleistung ist, ein eigenständiger medialer Vorgang, der auch als solcher in den Texten thematisiert wird. Wenn Kiening fordert, „[d]ie Beschäftigung mit älteren Texten [...] [habe] ihre sowohl performative wie skripturale Dimension zu berücksichtigen“,33 so entspricht dies auch dem Vorhaben dieser Arbeit. Auch hier gilt die von ihm und Cornelia Herberichs formulierte Methode: „Performativ gesehen hieße ‚Lektüre‘: genauer Blick auf die in und von Texten entworfenen Bedingungen der Möglichkeit von Aufführungen, die spezifischen Konstellationstypen und Interaktionsrahmen, die wirklichkeitskonstituierende Potentiale schriftlicher Sprachhandlungen, die

30 Das im Folgenden wiederkehrende Denkmuster des im Text Spuren hinterlassenden Mediums entstammt methodisch dem Spuren-Begriff, den Stephen Greenblatt in seinem Vorwort zu Verhandlungen mit Shakespeare prägte; vgl. GREENBLATT, 1993. Er wurde bezüglich der mittelalterlichen Literatur in Frankreich von Paul Zumthor (vgl. ZUMTHOR, 1994) und in Deutschland v. a. von Jan-Dirk Müller als methodologisches Bild etabliert; vgl. z. B. MÜLLER, 1999 (Performativer Selbstwiderspruch), S. 384. 31 Auch die Kontraststellung der Performativität zum Medialen, die Cornelia Haubrichs und Christian Kiening im Vorwort zum Sammelband Literarische Performativität aufstellen, scheint mir als heuristisches Instumentarium nicht passend: „Performativität wäre dergestalt etwas, was im Medialen als dessen Vollzug wirksam ist, so wie umgekehrt Medialität das wäre, was im Performativen als dessen Vermittlungsdimension fungiert“; HAUBRICHS/KIENING, 2008, S. 10. Nur wenn man die Schrift als Leitbild des ‚Medialen‘ denkt und den eigenen medialen Charakter der Performativität vernachlässigt, ergibt diese Wechselwirkung einen Sinn. 32 Vgl. ILLICH, 1991, S. 58f. 33 KIENING, 2003, S. 26.

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Vom vermeintlichen Medienkonflikt transgressiven Momente der Zeichenverwendung, das Verhältnis von Setzungen und Überschreitungen – und dies anhand von Texten der Vormoderne, in denen das Performative nicht einfach schon einem Bereich der Ästhetik zuzuordnen wäre.“34

Performativität soll hier jedoch nicht als Dimension des Textes, auch nicht als Bereich der Ästhetik, sondern – auch im Widerspruch zu Wenzel – als autonome Medialität verstanden werden. Mit der Betonung von Performativität als mediales sowie autonomes Phänomen soll auch eine Abgrenzung von der in der germanistischen Mediävistik seit Mitte der 1990er bis heute grassierenden Verwendung des Begriffs zur Beschreibung bestimmter textueller Phänomene stattfinden. In neuester Zeit war bspw. in dem Sammelband Aspects of the Performative in Medieval Culture diese Verwendung des Begriffs sehr gut zu beobachten.35 In diesem Band beschreibt Melanie Florence in einer der wenigen Analysen eines Artusromans unter dem Blickwinkel (vermeintlicher) Performativität die ‚set-piece descriptions‘ in Hartmanns Erec.36 Dabei nimmt Florence nur im Anfangsteil ihres Texts Bezug auf die realen medialen Bedingungen des höfischen Romans, um sodann bestimmte Strategien örtlicher Beschreibungen (‚settings‘) bei Chrétien und Hartmann in den Fokus zu nehmen. Natürlich kann man den Aufbau eines Settings als Inszenierung der Handlung beschreiben und natürlich kann man dabei sowohl an das Theater wie an den Film denken – doch eine descriptio ist und bleibt lediglich im metaphorischen Sinne performativ. ‚So wie‘ auf einer Bühne ein Bühnenbild aufgebaut wird und ‚so wie‘ beim Film gewöhnlich ein establishing shot den Handlungsraum eröffnet, baut auch Hartmann ein Setting auf – das macht den Text aber noch lange nicht zu einer Aufführung oder zu einem Film, sondern überträgt lediglich fremdmediale Elemente auf ein rein textuelles Phänomen. Ich möchte versuchen, im Gegensatz zu dieser ‚metaphorischen Performa34 HAUBRICHS/KIENING, 2008, S. 16. 35 Vgl. GRAGNOLATI/SUERBAUM, 2010. Während die erste Sektion des Bandes noch rituelle Präsenzeffekte, also ‚wirkliche‘ Performativität unter die Lupe nimmt, widmet sich die zweite schon der (textuellen) Inszenierung von ‚Autoren‘ und die dritte Sektion trägt die Aporie des primär am Text orientierten Performativitätsforscher schon im Titel: Embodied Voice: Reading and Re-reading. 36 Vgl. FLORENCE, 2010.

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tivität‘ den Vortrag des Textes als ‚wirkliche‘ Aufführung und Performativität somit nicht nur als Hilfsbegriff, sondern im eigentlichen Sinn als selbstständiges System der Sinnerzeugung jenseits der Textualität zu beschreiben. Phänomene hingegen wie die Szenenhaftigkeit bestimmter Passagen oder Ansteuerung bestimmter kommunikativer Vorgänge, Phänomene also, die in einem textuellen Latenzzustand vorliegen, sollen mit dem Begriff der ‚Performanz‘ bezeichnet werden.37 Unter der Perspektive der medialen Dynamik der höfischen Kultur wird deutlich, dass die nur bipolar begriffene Medialität als Folge reduktionistischer Analysen lediglich ein heuristisches Hilfskonstrukt darstellt.38 Mit seiner Verabschiedung wird die im Zuge der Literacy Debate erwachsene Vorstellung obsolet, dass die Aufführung aus einem Wechselspiel zweier antithetischer Zustände entstünde. Weder die Auffassung Bäumls, dass Aufführung eine den Text ins Orale rücküberführende Praktik sei,39 noch die Beschreibung einer Art Brückenfunktion der Aufführung zwischen Oralität und Skripturalität in Form einer indirekten Medialität40 taugen zur Beschreibung eines mehr als nur zweipo37 Vgl. die äquivalente, jedoch auf einem anderen Performativitäts-Begriff fußende Unterscheidung bei HAUBRICHS/KIENING, 2008, S. 11. 38 Hier handelt es sich um die Paraphrase einer Aussage, die Jürgen E. Müller hinsichtlich der Intermedialität der modernen kulturellen Kommunikation prägte: „Betrachten wir die Geschichte der audiovisuellen Künste unter der Perspektive ihrer medialen Dynamiken, dann wird deutlich, daß das ‚eindimensionale mediale Kunstwerk‘ ein Konstrukt reduktionistischer Ästhetiken darstellt“; MÜLLER, 1996, S. 75. 39 Vgl. BÄUML, 1998, S. 253. 40 Helmut Lüdtke unterscheidet in seiner Abhandlung über die Entstehung romanischer Schriftsprachen zwei Arten von Kommunikationskanälen: direkte, wie Oralität und Schriftlichkeit, und indirekte, zu denen auch die Aufführung gehöre, da in ihr die schriftlich vom Dichter dargelegte Information zum Rezipienten gelange; vgl. LÜDTKE, 1964, S. 7f. Diese Beschreibung ist nur gültig, wenn man die schriftliche Botschaft als das Primat der Übermittlung erachtet. Sobald man aber die Performativität und die durch sie mitgeteilten Botschaften als eigenwertiges System betrachtet und nicht nur als Umsetzung eines Texts, ist die Schrift plötzlich die indirekte Kanalisierung einer Aussage, die nur in der Aufführung verwirklicht werden kann. Die Unterscheidung von direkter und indirekter Medialität unterliegt somit einer willkürlichen Überhöhung der Schrift zum einzigen Garanten der ‚Wahrheit‘. Eine ähnliche Apriori-Hierarchisierung prägt stellenweise auch Greens Darstellung mittelalterlicher Medialität, wenn er bspw. den performativen Akt des Textvortrags als ‚asymmetrische Medialität‘ bezeichnet; vgl. GREEN, 1994, S. 171.

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ligen Mediensystems. Auch Ruth Finnegan, die gegen die theoretische Polarisierung der mittelalterlichen medialen Verhältnisse anschreibt, sieht in der Aufführung zwar eine autonome Kunstform, definiert diese aber dennoch als ‚Mischpraxis‘ von Skripturalität und Oralität: „A kind of mixture is and has been a common and ordinary feature of cultures throughout the centuries rather than the ‚abnormal‘ case implied by the ideal types model.“41 Selbst Sonja Glauch, die dem Romanvortrag in ihren theoretischen Betrachtungen viel Aufmerksamkeit zukommen lässt, und die selbst schreibt, dass ‚Mündlichkeit‘ und ‚Schriftlichkeit‘ als polare Begriffe zum Einfangen des medialen Zustands mittelalterlichen Erzählens „nur annäherungsweise geeignet“ seien,42 fällt in puncto der medialen Verortung des höfischen Romans in das binäre Muster zurück.43 Wenn aber Finnegans Beobachtung stimmt und die ‚Mischformen‘ in der vermeintlich binären kulturellen Landschaft des mittelalterlichen Hofes häufiger sind als die ‚Reinformen‘ und Glauch zurecht die mediale Neuerung des höfischen Romans „als Zusammenführung zweier Traditionslinien“44 beschreibt, so erscheint der Sinn einer wissenschaftlichen Kategorisierung dieser Landschaft nach dem binären Muster fraglich, da doch die Zusammenführung offensichtlich etwas Neues, Drittes erzeugt, das auch als solches analysiert werden kann (will und muss). Deshalb definiere ich ‚Performativität‘ als einen dritten medialen Zustand der höfischen Kultur, der sich darin äußert, dass mit der Aufführung von Texten eine zwar intermedial durchlässige, doch bezüglich ihrer Sinngenerierung autonome Sphäre gebildet wird, in der nach eigenen semiotischen Regeln Nachrichten übertragen werden. Es handelt sich – so meine Annahme – um einen (mindestens) ‚trimedialen‘ Charakter der höfischen Kultur:45 41 FINNEGAN, 1988, S. 141. 42 GLAUCH, 2009, S. 35. 43 Vgl. ebd., S. 76. Für meine Übernahmen von und Auseinandersetzungen mit Glauchs narratologischen Neuakzentuierungen siehe Kapitel 2.1. 44 Ebd. 45 Vgl. EGIDI, 2000, S. 132: „Sobald man die Semioralität des Mittelalters nicht mehr als Übergangsstadium zwischen ‚reiner‘ Mündlichkeit und ‚reiner‘ Schriftlichkeit betrachtet, besteht die Chance, ihre Analyse nutzen zu können, um ebensolche Dichotomien aufzubrechen“. Dass Egidi beim Erstellen der ‚Tri-Medialität‘ den Begriff ‚Semioralität‘ als dritte Kategorie

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ŏ ‚Oralität‘ bezeichnet die Tradierung und Realisierung von Geschichten ausschließlich auf mündlichem Wege. Der Vorgang der Verschriftlichung dieser Geschichten stellt eine Verfälschung der medialen und erzählerischen Intention dar und muss bei der Interpretation der überlieferten Schriftstücke mitgedacht werden. ŏ ‚Skripturalität‘ beschreibt die schriftliche Komposition von Geschichten für einen Leser. Dieses Verfahren ist für das 12. und 13. Jahrhundert noch neu und führt zu einer starken autoreflexiven Auseinandersetzung mit seiner Bedeutung und dem Status von Dichter und Leser. ŏ ‚Performativität‘ meint die performative Realisierung schriftlich verfasster Geschichten in einer kommunikativen face-to-face-Situation. Es handelt sich nicht nur um eine der möglichen Wechselwirkungen von Oralität und Skripturalität, sondern um einen eigenständigen medialen Zustand mit einer spezifischen Semiotik, welche vom Text genauso wie vom Körper des ihn Sprechenden mitbestimmt wird. Bedingt durch die allmähliche Etablierung der Skripturalität stellt auch die Performativität (in dem hier definierten Sinn) ein für das 12. und 13. Jahrhundert neues Phänomen dar, das zwar aus den Traditionen der oralen Epenüberlieferung und deren Vortrag schöpfen kann, sich jedoch nicht auf die Züge der Oral Poetry reduzieren lässt. Performativität schlägt sich in dem Text abzulesenden Reflexionen und der Verwendung adäquater narrativer Techniken nieder. Sie interagiert mit den koexistierenden medialen Gegebenheiten von Oralität und Skripturalität, ohne sich aus ihnen zu definieren. Wenn also die folgenden Untersuchungen Performativität bzw. die Aufführung, in welcher sie emergiert, in ihren Fokus nimmt, so nicht, um damit die kulturelle Relevanz der anderen Medien für den höfischen Roman zu widerlegen und einen ‚primären Modus‘ medialer Vermittlung zu behaupten. Ziel ist es vielmehr, den komplexen Wechselwirkungen der Medien im Schnittpunkt ‚Rezipient‘ eine dritte Beschreibungsgröße hinzuzufügen.

einführt, scheint mir keine gute Wahl, verweist die Wortschöpfung doch eben gerade wieder auf eine Teilhabe an den beiden anderen medialen Kategorien. In späteren Publikationen (vgl. EGIDI, 2002 und 2004) verwendet sie dann auch den Begriff ‚Performativität‘ als autonome Kategorie der literarischen Kommunikation; siehe hierzu auch Kapitel 2.1.

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Inszenierung: Der Dichter, der Text und sein Rezitator

2. Vom medialen Charakter der Performativität „So las ich denn von Fischer-Lichte, währenddess’ ich mir ein Licher fischte.“ Jan Dottermann, Geschüttelter Übersprung1

Im Jahr 1961 schrieb John L. Austin: „Es ist durchaus verzeihlich, nicht zu wissen, was das Wort performativ bedeutet. Es ist ein neues Wort und ein garstiges Wort, und vielleicht hat es keine sonderlich großartige Bedeutung. Eines spricht jedoch für dieses Wort, nämlich daß es nicht tief klingt.“2 Was Austin auf längere Sicht mit dieser Äußerung bewirkte, ist ihre eigene Widerlegung. Denn ausgehend von der Definition und Unterscheidung von Sprechakten in Performativa und Konstativa, die später in die mittlerweile kanonische Dreiteilung in lokutionäre, perlokutionäre und illokutionäre Sprechakte mündete, entwickelte sich in den letzten nahezu fünf Jahrzehnten ein in seiner Heterogenität beinahe unüberschaubares Feld von Definitionen des Performativen. Der Begriff ‚performativ‘ ist weiterhin ein ‚garstiges‘ Wort, doch nicht aufgrund eines Mangels an Bedeutung, sondern aufgrund eines Überschusses derselben. Was einstmals in Austins Ohren nicht tief klang, ist im Laufe der Jahre zum Abgrund geworden. Entscheidend für diesen 1

2

Randnotiz auf einer Korrekturfahne dieses Kapitels, mit deren Zitierung ich mich bei Dennis Battenfeld, Hardy Däumer, Jan Dottermann, Vincent Fröhlich, Heinrich Hofmann, Katja Knäpper, Claudia Lauer, Kathrin Saskia Pirr und Christian Riedel für die bereichernden, ermutigenden, technisch beschlagenen, kämpferisch echauffierten, kritisch fragenden und nicht zuletzt kreativ-humorigen Korrekturen dieser Arbeit in den verschiedenen Stadien ihrer Entstehung bedanken möchte. AUSTIN, 1986, S. 305.

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Überschuss an Definitionen ist nicht zuletzt der so genannte performative turn, der seit dem Ende der 1990er Jahre in vielen Disziplinen, oft ohne Orientierung an einem verbindlichen, interdisziplinär vermittelnden Überbau, vollzogen wird. So definiert jede (Teil-)Disziplin ihren eigenen Performanzbegriff; der interdisziplinäre Dialog bzw. das Angleichen der Theorien hinkt dieser rasanten Entwicklung hinterher. Die vorliegende Studie wird sich zur Entwicklung ihrer Methoden in diesem heterogenen Überschuss vor allem auf Austins Sprechakttheorie, die neueren theaterwissenschaftlichen Prägungen des Performanzbegriffs und dessen Transfer ins mediävistische Forschungsfeld beziehen. Der Vortrag eines schriftlich vorliegenden mittelalterlichen Texts befindet sich nicht nur, wie im vorigen Kapitel dargelegt, in einem Spannungsfeld angrenzender Medien, sondern, aus methodischer Sicht, auch an einer Schnittstelle zwischen sprachlicher performativity und theatraler performance. An dieser Schnittstelle setzt Sybille Krämer mit ihrem Versuch an, „‚sprachliche Performativität‘ [...] als ‚Medialität‘ zu rekonstruieren“.3 Krämer macht darauf aufmerksam, dass „[s]elbst die Sprechakttheorie [...] das Kommunikationsgeschehen auf eine Weise [idealisiert], die mit [...] der Medialität und der Zeitlichkeit endlicher menschlicher Kommunikationsereignisse wenig gemein hat.“4 Für Krämer muss es einer performativen Sprachforschung vor allem darum gehen, sich von „der Idee der ‚reinen‘, der homogenen, der virtuellen Sprache“5 zu befreien, um sich ihrer Materialität und ihrer Medialität bewusst zu werden. Die Medialität des Sprechakts ist „an der Entstehung von Sinn und Bedeutung [...] auf eine Weise beteiligt, die von den Sprechenden weder intendiert, noch völlig kontrollierbar ist“.6 Deshalb – so formuliert Krämer Marshall McLuhans programmatischen Slogan um – ist das Medium „zwar nicht die Botschaft, doch die Botschaft ist die Spur des Mediums.“7 Für die hiesige Untersuchung bietet Krämers Abkehr von der ‚virtuellen Sprache‘ ein methodisches Äquivalent: Im Folgenden soll eine Distanzierung vom reinen Textsinn stattfinden und stattdessen ein Bewusstsein für die eingelagerten Spuren der Performativiät entste3 4 5 6 7

34

KRÄMER, 2002, S. 333. Ebd., S. 328. Ebd., S. 329. Ebd., S. 332. Ebd.

Vom medialen Charakter der Performativität

hen. Die Semantik der niedergeschriebenen Verse soll zwar weiterhin als hauptsächliches Kommunikationsziel gelten; die Sinnverschiebungen, welche die mediale Übertragung der Botschaft via Aufführung mit sich bringt, sollen jedoch nicht mehr ignoriert werden. Krämer zeigt mehrere Strategien auf, die dazu dienen können, diesen Spuren der Performativität zu folgen; eine davon ist die „Rehabilitierung der Stimme als Phänomen“,8 ein Hauptinteresse des sich seit den letzten Jahren abzeichnenden sonic turns in den Kulturwissenschaften.9 In Hinblick auf die mittelalterlichen Epen hat sich schon weit vor der neuesten ‚Wendung‘ der Kulturwissenschaft Paul Zumthor auf ebendiese Spurensuche begeben. In der Vorlesungsreihe Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft verfolgt er auf der Basis seines ein Jahr zuvor erschienenen Grundlagenwerks Einführung in die mündliche Dichtung das Ziel, „das Phänomen der menschlichen Stimme als Dimension des poetischen Texts“10 wiederzuentdecken. Dabei bedient er sich von Anfang an einer Spezifizierung des theatralen Aufführungsbegriffs: „Die performance ist die komplexe Handlung, durch die eine poetische Botschaft gleichzeitig übertragen und wahrgenommen wird [...]. Der Sprecher, der (oder die) Empfänger, die Umstände (ob der Text sie übrigens mit Hilfe sprachlicher Mittel darstellt oder nicht) sind konkret miteinander konfrontiert, unbestreitbar vorhanden.“11 8 9

Ebd., S. 338. Erika Meyer-Dietrich beginnt die Einleitung zu dem 2011 erschienenen Band Laut und Leise mit den Worten „Zwar ist es verfrüht von einem sonic turn in den Kulturwissenschaften zu sprechen, doch gewinnt die Bedeutung von Stimme und Klang bei der Erforschung von Kulturen zunehmend Geltung“; MEYER-DIETRICH, 2011, S. 7. Schon vor diesem Band, der zu großen Teilen recht disziplinär aus Sicht der (experimentellen) Archäologie die Möglichkeiten der lautlichen Erforschung vergangener Kulturen auslotet, waren es vor allem Sybille Krämers Publikationen und im Speziellen die von ihr (mit-)herausgegebenen Bände Stimme. Annäherung an ein Phänomen (vgl. KOLESCH/KRÄMER, 2006) und Verletzende Worte (vgl. HERRMANN/KRÄMER/KUCH, 2007), die der Hoffnung recht geben, dass das Phänomen der Stimme wirklich zu einem disziplinübergreifenden Forschungsfeld werden könnte. Für die Positionierung der hiesigen Methodik im Rahmen des sonic turns siehe Kapitel 2.3. 10 ZUMTHOR, 1994, S. 11. 11 ZUMTHOR, 1990, S. 29.

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Und im Speziellen für die mittelalterliche Dichtung: „Mit dem Wort performance bezeichne ich die vokale Aktion, die den poetischen Text an seine Adressaten übermittelt, einschließlich der Umstände und Vorgänge, die ihr vorangehen, sie begleiten, ihr folgen.“12

Zumthor definiert bezüglich der mittelalterlichen Romane Performativität also ebenfalls als autonomen medialen Zustand, der, gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit von Übertragung und Wahrnehmung, seine Spuren hinterlässt, ob der Text sie darstellt oder nicht. Was Zumthor mit dem Zusammenfallen von semiotischer Produktion und Rezeption anspricht, macht schon seit Bestehen der Theaterwissenschaft die definitorische Grundkomponente theatraler Medialität aus: „Das gemeinsame strukturelle und semantische Element der verwandten Termini – mittelalterliche performance, modernes Theater – besteht in der gleichzeitigen Präsenz, die sich um den menschlichen Körper herum durch den Einsatz der Stimme sowie der sinnlichen, affektiven und intellektuellen Momente einer totalen Aktion, die zugleich Schauspiel und Partizipation ist, artikuliert.“13

So liegt der methodische Ansatz nahe, sich der performativen Realisierung höfischer Romane auf der Basis moderner theaterwissenschaftlicher Forschung zu nähern. In einem Aufsatz von 1998 definiert Erika Fischer-Lichte den Begriff der Theatralität neu, um den Beschreibungsbedürfnissen der aktuellen kulturwissenschaftlichen Forschung, die der Auffassung ist, „daß Kultur sich generell maßgeblich in und durch performative Prozesse konstituiert“,14 gerecht zu werden: „[D]er Begriff [Theatralität lässt sich] in vier Aspekte ausdifferenzieren, die ihn in ihrer Gesamtheit und in je wechselnden Konstellationen bestimmen:

12 ZUMTHOR, 1994, S. 35. 13 Ebd., S. 44. 14 FISCHER-LICHTE, 2002, S. 299.

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Vom medialen Charakter der Performativität 1. den der Inszenierung, der als spezifischer Modus der Zeichenverwendung in der Produktion [der performance] zu beschreiben ist; 2. den der Korporalität, der sich aus dem Faktor der Darstellung bzw. des Materials ergibt; 3. den der Wahrnehmung, der sich auf den Zuschauer, seine Beobachtungsfunktion und -perspektive bezieht; 4. den der Aufführung/Performance, die als Vorgang einer Darstellung durch Körper und Stimme vor körperlich anwesenden Zuschauern gefaßt wird und das ambivalente Zusammenspiel aller beteiligten Faktoren beinhaltet.“15

Mit der Wahl des Oberbegriffs ‚Theatralität‘ etabliert Fischer-Lichte diesen als ein interdisziplinäres Diskurselement, das die Kunstform Theater zum systematischen und überhistorischen Denkmodell macht, welches in spezifischen, jeweils historischen Ausformungen emergiert.16 Diesem Verfahren möchte ich folgen, indem ich den Romanvortrag als ein theatrales Darbieten eines Texts vor Publikum verstehe. Auch wenn der Begriff ‚Theatralität‘ schon einige Erweiterungen zum kulturhistorischen, systematischen Modell erfahren hat,17 empfiehlt es sich trotzdem, ihn zu meiden und stattdessen den der ‚Performativität‘18 15 Ebd., S. 299; Hervorhebungen im Original. 16 Vgl. auch WARNING, 1983, S. 193. 17 Als Beispiel für solche Erweiterungen des Begriffs ‚Theatralität‘ sind u. a. Helmar Schramms Definition in Karneval des Denkens (vgl. SCHRAMM, 1996) oder die historiographischen Begriffsprägungen des sogenannten Leipziger Theatralitätskonzepts von Rudolf Münz (vgl. MÜNZ, 1998) zu nennen. Während Schramm anhand philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts aufzeigt, dass es sich bei Theatralität um ein universelles, selbst an als äußerst ‚untheatral‘ geltenden Texten nachzuweisendes Denkmuster handelt, prägt Münz mit seinem Konzept eine Theatergeschichtsschreibung, welche die herkömmlich als ‚Theater‘ begriffenen Formen um eine Vielzahl anderer kultureller Phänomene erweitert. 18 Fischer-Lichte spricht in ihrer Definition von (engl.) performance, was an dieser Stelle vor allem ihrem Forschungsobjekt, einem 1952 von John Cage organisierten Happening, geschuldet ist. Die Autorin übersetzt diesen Begriff selbst meist mit ‚Performativität‘, nicht mit ‚Performanz‘. Der Grund hierfür ist der im 1. Kapitel bereits dargelegte Unterschied zwischen ‚Performanz‘ als statisches Latenzphänomen des Texts und ‚Performativität‘ als Vollzug bestimmter semiotischer Handlungen, der grundsätzlich unabhängig von tradierbaren Aufzeichnungen ist und nur im Moment der Aufführung existiert; siehe 1. Kapitel.

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zu wählen. Der Grund hierfür ist, dass trotz aller Neudefinitionen das Denkmodell der Guckkastenbühne noch immer die dominante Verknüpfung mit dem Begriff ist. Mit dieser anhaltenden Assoziation hat der Vortrag mittelalterlicher Epen jedoch nichts (oder nur sehr wenig) zu tun. Ein Beharren auf dem Begriff würde deshalb zu Missverständnissen führen. Wie Fischer-Lichte in ihrer Definition bemerkt, ist die Aufführung (unabhängig von Bühnenformen) das ambivalente Wechselspiel von Inszenierung, Korporalität und einer spezifischen Wahrnehmung der Rezipienten. Deshalb soll der Romanvortrag – als eine spezielle Art der Aufführung – im Folgenden auch als Konstrukt dieser drei Elemente verstanden werden. Eine genauere Bestimmung ihres Aufführungsbegriffs nimmt Fischer-Lichte in Ästhetik des Performativen vor, indem sie den Thesen des Gründers der Theaterwissenschaft, des Berliner (und dies bitte mit Betonung:) Mediävisten Max Hermann folgt: „Es ist die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern, welche eine Aufführung allererst ermöglicht, welche die Aufführung konstituiert. [...] Die Zuschauer werden nicht länger als distanzierte oder einfühlsame Beobachter von Handlungen begriffen, [...] noch als intellektuelle Entzifferer von Botschaften [...]. Es handelt sich hier weder in dem Sinne um ein Subjekt/Objekt-Verhältnis, daß die Zuschauer die Akteure zum Objekt ihrer Beobachtung machen würden, noch in dem, daß die Akteure als Subjekte die Zuschauer als Objekte mit nicht verhandelbaren Botschaften konfrontieren. Die leibliche Ko-Präsenz meint vielmehr ein Verhältnis von Ko-Subjekten.“19

Übertragen auf den Vortrag mittelalterlicher Romane heißt dies, dass der Text, der uns als Artefakt überliefert ist, in seiner Darbietung zum Ereignis wird, einem flüchtigen und transitorischen Vorgang, 20 an dem der Vortragende ebenso wie die Zuhörer als kreative Instanzen beteiligt sind. Dieses nur indirekt in textuellen Spiegelungen zu erfassende, gemeinschaftlich erschaffene und erfahrbare Ephemere war jedoch

19 FISCHER-LICHTE, 2004, S. 47. 20 „[Da] eine Aufführung sich zwischen Akteuren und Zuschauern ereignet, [ist sie] also weder fixier- noch tradierbar [...], sondern flüchtig und transitorisch“; ebd., S. 49.

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aufgrund der medialen Bedingungen im 12. und 13. Jahrhundert für jeden Zuhörer, den Vortragenden und auch für den Dichter die ‚wahre Existenz‘ des Romans, die als solche nicht mehr nachzukonstruieren ist.21 Darum muss es gelten, mittels differenzierter methodischer Einzelschritte Wege zu finden, dem Artefakt Aussagen über das Ephemere zu entlocken. Zu diesem Zweck sollen die drei von Fischer-Lichte unterschiedenen Konstituenten der Aufführung – ihre Inszenierung, die fiktionskonstituierende Wahrnehmung und die korporale Wirkung des Textvortrags – methodisch in einzelnen Schritten erfasst werden. ŏ ‚Inszenierung‘ meint (für mein Forschungsziel) die vorherige Planung semiotischer Funktionsweisen eines Romanvortrags durch den Dichter (textuell) oder den Vortragenden (konzeptuell). Dem überlieferten Text muss man sich somit über Fragen nähern wie: (a) Wo und wie versucht der Dichter die performative Realisierung seiner Texte zu steuern? (b) Inwiefern liegen Stil- oder Strukturmerkmale vor, die bestimmte performative Handlungen diktieren?22 (c) Welchen Status nimmt ein Vortragender gegenüber der Textvorlage ein und wie wird er sich auf die Aufführung vorbereitet haben? Bei der Suche nach den inszenatorischen Elementen der Aufführung mittelalterlicher Epen geht es also hauptsächlich darum, anhand der kommunikativen Grundbedingungen des Vortrags die Zeichenverwendungen der entsprechenden Beteiligten (Dichter, Rezitator, Publikum) voneinander zu unterscheiden und ihre Funktion in einem Kommunikationsmodell zu charakterisieren (siehe Kapitel 2.1). ŏ Die spezifische ‚Wahrnehmung‘ mittelalterlicher Rezipienten ist in einer rezeptionsästhetischen Darstellung als historisch wandelbares Muster zu verdeutlichen. Dabei ist davon auszugehen, dass die 21 In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Vorhaben von den Versuchen der v. a. englischsprachigen ‚experimental philology‘, durch neue Inszenierungen der Texte – bspw. zur jährlichen International Conference on Medieval Studies in Kalamazoo – zu Aussagen zu kommen (vgl. v. a. ZAERR, 2005 und weitere Publikationen in VITZ u. a., 2005; für ähnliche Ansätze in der experimentellen Archäologie vgl. PARKINSON, 2011). Die Erfahrung solch einer modernen performativen Realisierung ist zwar eindrucksvoll, doch kann sie nicht zu einem allgemeingültigen Vokabular führen. Die Differenzerfahrung, wie ‚anders‘ ein Text als vorgetragener funktioniert, ist nicht gleichbedeutend mit einer (anzunehmenden) mittelalterlichen Erfahrung. 22 Im Sinne des (mhd.) tihtære als ‚Diktierendem‘; siehe dazu Kapitel 2.1.

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Korporalität des Romanvortrags eng mit dieser spezifischen Wahrnehmung zusammenhängt. Deshalb wird der Dichter als Objekt der wissenschaftlichen Betrachtung geschwächt, da primär die körperlich an der Aufführung beteiligten Größen zählen: der Vortragende, sein Publikum und die Sprache. Es muss darum gehen, darzustellen, wie die textuell tradierte Sprache die Sinne eines Publikums reizt und welche performativen Techniken ein Vortragender dabei eingesetzt haben könnte (siehe Kapitel 2.2). ŏ Bei einer Untersuchung der vortragsspezifischen ‚Korporalität‘ sind dem Interpreten enge Grenzen gesetzt, denn die an der Aufführung Beteiligten sind nur als abstrakte, also gänzlich unkörperliche Größen konzipierbar. Doch was wir besitzen, ist der Text, die ‚Partitur‘ einer sprachlichen, auf den Körper abzielenden Handlung. Die Korporalität ist somit, ausgehend von der spezifischen Wahrnehmung der Rezipienten, in der somatischen Wirkung der gesprochenen Verse zu suchen (siehe Kapitel 2.3).

2.1 Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator „Ein Bleistift / ein Blatt Papier eine Tasse Kaffee / eine Zigarette [...] eine Hand / einige Worte ein Auge / ein Mund.“ Rolf Dieter Brinkmann, Gedicht am 19. März 196423

Ih sage iu: Unzählige Male lassen sich Formeln dieser Bauart in den höfischen Epen finden, die als Spuren von verschiedenen Ebenen der Kommunikation gesehen werden können. Als rund 800 Jahre nach Entstehung der Epen rezipierender Leser von Schrifttexten tendiert man dazu, hier den Dichter bzw. als Literaturwissenschaftler den Erzähler, d. h. (im Fall des höfischen Romans) die konstruierte, den Dichter repräsentierende Stimme zu erkennen, die zu einer kollektiven Leserschaft spricht. Zur Bekräftigung dieses produktionsästhetischen Verständnis23 Brinkmann, 1980, S. 45.

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Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator

ses der Apostrophen lassen sich einige recht bekannte Passagen, vor allem aus Prologen, Epilogen und Exkursen, anbringen, in denen sich der Erzähler als Sender zu erkennen gibt. Diese Passagen findet man vor allem in Romanen, die mit einer stark konturierten Erzählerfigur arbeiten. Paradebeispiele hierfür sind die Autornennungen im Parzival: „[I]ch bin Wolfram von Eschenbach / und kann ein teil mit sange“: 24 So heißt es schon in den ersten Versen der so genannten ‚Selbstverteidigung‘, in denen das sich selbst ‚Wolfram‘ nennende Ich gegen untreue Frauen und fehlgeleitete Rezeption wettert.25 Ähnlich explizit gibt sich ‚Wolfram‘ im Epilog des Parzival zu erkennen: „[N]iht mêr dâ von nu sprechen wil / ich Wolfram von Eschenbach, / wan als dort der meister sprach“.26 In Bezug auf seine Quelle nennt sich der Erzähler beim Namen und behauptet, nicht mehr als sein Vorgänger erzählen zu wollen (was er – und dies ist die ironische Pointe der Äußerung – natürlich schon längst getan hat).27 Ähnlich wie diese Stelle lassen sich auch andere Verse, in denen zwar kein Name genannt wird, bei denen es sich jedoch ebenfalls um eine Rechtfertigung des narrativen Vorgehens handelt, als Belege dafür lesen, dass der Erzähler Wolfram der Sender der kommunikativen Syntagmen ist: Swer mich dervon ê frâgte unt drumbe mit mir bâgte, ob ichs im niht sagte, umprîs der dran bejagte. mich batez helen Kyôt.

Wer auch immer mich zuvor danach gefragt oder mich gar deswegen geschimpft hat, dass ich es ihm nicht erzählt habe, der hat dadurch Schande auf sich geladen. Kyot bat mich, es zu verschweigen.28

(PARZIVAL, V. 453,1-5)

24 PARZIVAL V. 114,12f. (‚Ich bin Wolfram aus Eschenbach und verstehe etwas vom Singen‘). 25 Für eine frühe treffende Analyse des performativen Potenzials dieser Passage vgl. NELLMANN, 1973, S. 26f. 26 PARZIVAL V. 827,12-14. (‚Ich, Wolfram aus Eschenbach, / will nicht mehr davon erzählen, / als dort schon der Meister sagte‘). 27 Chrétiens Conte du Graal ist ein Fragment und konnte Wolfram an dieser Stelle nicht als Vorlage dienen. Kyot, der hier viel eher als meister angesprochen wird, ist aber aller Wahrscheinlichkeit nach eine Fiktion (vgl. BUMKE, 1997, S. 165-167), sodass Wolfram mit der Behauptung, sich an seine Quelle(n) zu halten, das genaue Gegenteil betont. Nur wenn man Kyot als historisch versteht (oder als Decknamen einer historischen Person; siehe Kapitel 3.5) wäre die Passage nicht ironisch. 28 Hier wie im Folgenden, falls nicht anders vermerkt: meine Übersetzung.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Der Erzähler begründet hier unter Berufung auf eine (aller Wahrscheinlichkeit nach fingierte)29 Quelle, warum er dem Rezipienten erst so spät die Geheimnisse des Grals enthüllt. Mit dem Ich im fünften Vers kann nur der Erzähler namens Wolfram gemeint sein, der (so die von ihm aufgebaute Illusion) einer von Kyot übersetzten heidnischen Schrift über den Gral folgte und aufgrund seiner Quellentreue keine andere Möglichkeit gehabt habe, als die Geschichte eben so zu erzählen, wie der Rezipient sie vorfindet.30 Passagen wie diese (und gerade die Äußerungen der Erzählerfigur im Parzival) haben in der älteren mediävistischen Forschung zu dem Missverständnis geführt, sie als autobiographische Hinweise zu lesen und anhand der Andeutungen ein Bild des Dichters Wolfram von Eschenbach zu zeichnen, das die neuere Forschung aufgrund der nachweislichen Konstruiertheit der Erzählerfigur verworfen hat.31 Dieses Missverständnis ist jedoch nicht das einzige, das aus einer Überbewertung der Wolfram’schen Selbstnennungen resultiert. Die starke Beschäftigung mit vermeintlich autobiographischen Einschüben führte auch für andere Artusromane zu der Tendenz, bei jedem ih sage iu den jeweiligen Dichter bzw. die von ihm geformte Erzähler-Maske sehen zu wollen. Dabei sind Stellen mit expliziter Festschreibung des kommunikativen Senders Sonderfälle der höfischen Literatur. Vor Wolfram sind Autorennennungen an sich schon selten und zusätzlich dazu fast ausschließlich in der dritten Person abgefasst. So heißt es im Epilog zum Eneas-Roman Heinrichs von Veldeke: Nû solen wir enden diz bûch.

Nun müssen wir dieses Buch beenden.

ez dûht den meister genûch,

Es scheint dem Meister genug [erzählt],

derz ûz der welsche kêrde,

der es aus dem Französischen übersetzte

29 Vgl. BUMKE, 1997, S. 165-167. 30 Eine mit der angestrebten Interpretation dieser Studie korrespondierende Analyse des Kyot-Problems liefert Klaus Ridder, der Kyot, seine vorgebliche Quelle Flegetanis und das Wolfram’sche Erzähler-Ich als „Stufe[n] der Wahrnehmung von Autorenkompetenz“ begreift; vgl. RIDDER, 1998, S. 184. Die daraus bei Ridder resultierende Dreistufigkeit der Autorenschaft lässt sich ebenso – im Sinne der hier entwickelten Theorie – als Ausformulierung der Position eines Dichters in einer trimedialen Sphäre begreifen; siehe Kapitel 3.5 zum Kyot-Problem und 4.2.4 zur Selbstverteidigung. 31 Vgl. RIDDER, 1998, S. 128.

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Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator ze dûte herz uns lêrde:

und uns verständlich wiedergab:

daz was von Veldeke Heinrîch.

Das tat Heinrich von Veldeke.

(ENEAS, V. 13429-33)

Mit einer ähnlich distanzierten Haltung wird Hartmann im Iwein-Prolog vorgestellt: Ein rîter, der gelêret was

Ein Ritter, der gelehrt war

unde ez an den buochen las,

und sie [die Geschichte] in Büchern las

(swenner sîne stunde

(immer wenn er mit seiner Zeit

niht baz bewenden kunde,

nichts Besseres anzufangen wusste,

daz er ouch tihtennes pflac,

als dass er sich auch des Dichtens annahm,

daz man gerne hœren mac,

bemühte er sich um das,

dâ kêrt er sînen vlîz an:

was man gerne hört;

er was genant Hartman

er wurde Hartmann genannt

und was ein Ouwære),

und war einer derer von Aue),

der tihte diz mære.

der dichtete diese Geschichte.

(IWEIN, V. 21-30)32

Das ‚Datenmaterial‘ solcher Verse33 wurde in der älteren Forschung häufig verhandelt, um daraus ‚biographische‘ Aussagen abzuleiten.34 Über diese Interpretationen gerät es aber leicht aus dem Blick, dass die Nennungen der Dichter grammatikalisch in der dritten Person abgefasst sind und sich deshalb die berechtigte Frage aufdrängt, wer denn überhaupt vom Dichter spricht. In seiner Analyse mittelalterlicher Prologe

32 Im obigen Zitat wurde die von Benecke, Lachmann und Wolf eingeführte Klammerstellung verändert, um den syntaktischen Zusammenhang der Verse zu verdeutlichen. 33 Man könnte hier für Hartmann auch die Autorennennung im Armen Heinrich (HEINRICH V. 1-5) als Beispiel anbringen; ebenso Passagen aus Chrétiens Prologen zu Erec et Enide (vgl. EREC ET ENIDE, V. 9-14; siehe Kapitel 3.1) oder Le Conte du Graal (vgl. CONTE V. 7-12 und 61-68). 34 Gemeint sind hier biographische Hinweise wie die ständischen Bezeichnungen „dienstman“ im Armen Heinrich und „ein Ouwere“ in der oben zitierten Iwein-Passage, welche die Vermutung zulassen, dass Hartmann in der Zeit zwischen den Werken vom unfreien Ministralen in den Adelsstand erhoben wurde; vgl. z. B. CRAMER, 1972, S. 443f. Ebenso wurde die im Eneas-Epilog enthaltene Erzählung vom Diebstahl des Manuskripts als autobiographische Aussage gewertet; vgl. z. B. KARTSCHOKE, 1997, S. 846.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

liefert Henning Brinkmann eine Begründung für das Phänomen, die aus dem Fundus der antiken Gerichtsrhetorik schöpft: „Die Sympathie des Hörers (benevolentia) kann [...] gemäß den Momenten [gewonnen werden], die bei einer Gerichtsrede zusammenwirken. Das kann einmal von der Person des Redners aus geschehen, der zugleich die Sache seiner Partei vertritt (a nostra): Er kann in bescheidener Weise seine Verdienste um Staat, Verwandte und Freunde hervorheben“.35

Die zitierte Passage des Iwein-Prologs fasst Brinkmann dieser rhetorischen Tradition entsprechend wie folgt zusammen: „Anschließend stellt sich der Autor bescheiden mit seinem Namen vor“.36 Laut Brinkmann handelt es sich bei dieser Art der Nennung um einen Bescheidenheitsgestus zum Ziele der captatio benevolentiae; trotz der Formulierung in grammatikalisch dritter Person bestimmt er als Sprecher also den Dichter/Erzähler. Diese produktionsästhetische Reduktion ignoriert jedoch, dass jedem ‚Er‘ der Prologe systematisch ein ‚Ich‘ zur Seite steht. So findet man kurz nach der vorne zitierten Passage aus dem Eneas-Epilog eine Dedikation an den Pfalzgrafen Heinrich von der Neuenburg bei der Unstrut, in welcher der Dichter (vorerst) weiterhin in dritter Person genannt wird: volmachen herz ouch began

Auch vollendete er es [das Buch]

dorch den phalenzgrâven Herman

für den Pfalzgrafen Hermann

von der Nûwenborch bî der Unstrût,

von der Neuenburg an der Unterstrut,

want diu rede dûhte in gût

weil dem der Vortrag so gut

und daz getihte meisterlîch.

und das Gedichtete meisterlich erschien.

dô volbrahtez Heinrîch

Daraufhin vollendete es Heinrich

dorch sîn gebot und dorch sîn bete.

auf sein Geheiß und seine Bitte hin.

(ENEAS, V. 13475-81)

Der Begriff rede verweist auf ein Verständnis der Erzählung als primär orales Phänomen, was an diesen Versen besonders deutlich wird, weil rede mit dem getihte kontrastiert wird. Es kann mit rede also einerseits 35 BRINKMANN, 1964, S. 5. 36 Ebd., S. 9.

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Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator

die nicht-textuelle Existenz der Erzählung im medialen Zustand der Oralität oder aber – und dies ist bei einem schriftlich konstruierten Text wie dem Eneas-Roman wahrscheinlicher – ihre performative Realisierung auf Textbasis gemeint sein. Wenige Verse nach dieser medialen Kontrastierung taucht unvermittelt ein Ich auf: Ich hân gesaget rehte

Ich habe wahrheitsgemäß erzählt

des hêren Enêê geslehte

von der Sippe des Eneas

und daz kunne lobesam,

und dem ruhmwürdigen Geschlecht,

daz sint von ime quam,

das von ihm abstammte,

gewaldech unde rîche.

mächtig und herrlich.

(ENEAS, V. 13491-95)

Wenn es um die Vollendung des Werks (als geschriebenes getihte) für einen Mäzen geht (der es als rede rezipierte), wird über den Dichter Heinrich von Veldeke gesprochen; jedoch von dem Punkt an, an dem es um das konkrete Erzählen (hân gesaget) der nun zu Ende gebrachten Eneas-Narration geht, meldet sich ein Ich zu Wort. Eine ähnliche Konstruktion findet man hinsichtlich der Quellennennung: daz is genûgen kuntlîch,

Das [Geschlecht des Eneas] ist vielen bekannt,

als ez dâ tihte Heinrîch,

so wie es dort Heinrich dichtete,

derz ûzer welschen bûchen las,

der davon in/aus37 französischen Büchern las,

da ez von lâtine getihtet was

in denen es aus dem Lateinischen

al nâch der wârheide.

wahrheitsgetreu nachgedichtet stand.

diu bûch heizent Êneide,

Die Bücher heißen Eneide,

diu Virgiljûs dâ von screib,

die Vergil darüber schrieb,

von dem uns diu rede bleib.

von dem uns die rede überliefert ist.

(ENEAS, V. 13505-12)

Die gleiche mediale Dichotomie durchzieht den gesamten Epilog: Solange es um den Umgang mit schriftlichen Quellen geht, ist Heinrich das Agens der Verse; doch sobald man von der rede spricht, also vom oralen Erzählen, das im gerade ablaufenden Vortrag des Romans Eneas 37 Es ist nicht eindeutig, ob mit ûzer bûchen lesen ein (stiller) Lektürevorhang (‚in Büchern lesen‘) oder ein performatives Lesen (‚aus Büchern lesen‘) gemeint ist.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

ein vorläufiges Etappenende gefunden hat, zeigt ein integratives uns, d. h. eine nicht näher bestimmte Gemeinschaft, sich dafür zuständig, dass mittels ihrer fortwährenden Verbalisierung die Fabel von der Zeit Vergils bis in die performative Gegenwart am Leben erhalten wurde. Der Text thematisiert mit der durch eine Gemeinschaft erhaltenen Vergil’schen Narration und ihrer Bezeichnung als rede einen Mechanismus der oralen Tradierung, der erst in die französische und dann in Heinrichs Verschriftlichung mündete. Durch solche dichotomen Darstellungen der Tradierung des Romans wird dem in dritter Person genannten Heinrich eine Kommunikationsgemeinschaft aus einem Ich und einer lauschenden Gemeinschaft gegenübergestellt, die auf verschiedenen medialen Ebenen tätig ist: der Dichter auf der des getihte und die Gemeinschaft in der rede. Auch dem Iwein-Prolog liegt diese mediale Dichotomie zugrunde. Nachdem der Dichter als Bearbeiter schriftlicher Quellen zur Gestaltung einer verbalen Unterhaltung in grammatikalisch dritter Person beim Namen genannt wurde („er ouch tihtennes pflac, / daz man gerne hœren mac“),38 wechselt der Text vom prologus praeter rem zum prologus ante rem39 und für mehrere Verse wird nun vom Mittelpunkt der zu erzählenden Welt berichtet: dem Artushof. Der Zustand höfischer vreude wird geschildert und erst nach diesem kurzen Ausflug in das fiktionale Setting meldet sich ein Ich zu Wort: mich jâmert wærlîchen,

Wahrhaftig, es bekümmert mich

und hulfez iht, ich woldez clagen,

und würde es helfen, ich wollte beklagen,

daz nû bî unseren tagen

dass nun in unseren Tagen

selch vreude niemer werden mac der man ze den zîten pflac.

solch Frohsinn nicht mehr zustande kommen kann, wie man ihn damals kannte.

doch müezen wir ouch nû genesen.

Doch wir sollen auch im Jetzt selig sein.

38 IWEIN, V. 25f. (‚er geruhte zu dichten, / was man gerne hört‘); meine Hervorhebungen. 39 Brinkmann untersucht diese für die höfischen Romane übliche Zweiteilung von Prologen und deren Funktion. „Die ritterliche Dichtung des Mittelalters hat für den Prolog eine eigene Struktur entwickelt, die auf dem Gesetz der Zweiteiligkeit beruht. Der erste Teil [prologus praeter rem oder prooemium] nimmt das Gespräch mit den Empfängern auf; der zweite Teil [prologus ante rem oder prologus] führt in das Werk ein“; BRINKMANN, 1964, S. 8).

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Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator ichn wolde dô niht sîn gewesen,

Ich hätte nicht damals leben wollen,

daz ich nû niht enwære,

sodass ich heute nicht existierte,

dâ uns noch mit ir mære

da uns noch mit der Erzählung von ihnen

sô rehte wol wesen sol:

ein wahres Wohlsein beschert wird;

dâ tâten in diu werc vil wol.

ihnen hingegen taten die Taten gut.

(IWEIN, V. 47-58)

An dieser Stelle wird das Denkmuster der laudatio temporis acti in sein Gegenteil verkehrt. Der Sprecher beginnt damit, die fiktive Ära des Artushofs mit seiner Gegenwart zu vergleichen; doch dieser Vergleich geht nicht – wie zu erwarten gewesen wäre – zu Ungunsten der Gegenwart aus. Wo man sich früher an den echten Taten erfreute, so erfreut man sich in einem Jetzt und Hier an der Erzählung derselben. Es muss beachtet werden, wer dieses die Freuden der Gegenwart lobende Ich ist, das den Erzählvorgang den ehemaligen Heldentaten vorzieht. Hier tritt ein Sprecher aus der Gemeinschaft (das uns in V. 56) hervor, der das Ziel formuliert, auch gegenwärtig und gemeinschaftlich mit der bereits vorliegenden Erzählung zu genesen. Für eine performative Analyse kann dieser Sprecher nicht als der Dichter gelten, da dieser sich beim Verfassen der Verse fern von der Rezipientengemeinschaft befindet. Bei dieser verkehrten laudatio temporis acti handelt es sich nicht um ein Lob auf die Zeit, in welcher der Text verfasst wurde, sondern um eines der jeweils gegenwärtigen Situation, in der der Text performativ verwirklicht wird, sozusagen um eine laudatio temporis pronuntiationis. Die gelobte Zeit ist keine spezifische und aus dem Blickwinkel des Dichters stets eine zukünftige, da sie erst nach der Niederschrift in den diversen Momenten der Verbalisierung Wirklichkeit wird. Sie ist – produktionsästhetisch betrachtet – eine Utopie. Ausgehend von diesen Autorennennungen in dritter Person Singular als konzipierte Aussagen für kommende Vortragende lassen sich auch Wolframs Selbstnennungen anders lesen, wie es Kiening anhand der Körperlichkeit40 des in der ‚Selbstverteidigung‘ präsentierten Autorenbilds aufzeigt:

40 Diese Körperlichkeit weist – laut Kiening – vor allem das finale Bild der Selbstverteidigung auf; vgl. KIENING, 2003, S. 200f.; siehe Kapitel 4.2.4.

47

Stimme im Raum und Bühne im Kopf „Einen Autor als Sprecher im Text auftreten zu lassen setzt die Dissoziation zwischen dem Urheber und dem Vortragenden voraus (die auch dort greifbar wird, wo die Namensnennung des Autors in der dritten Person erfolgt) und ist zugleich schon Beleg eines ansatzweise reflektierten Umgangs mit ihr. Möglich werden nun spielerische Überblendungen zwischen textinternem Ich und textexternem Autor, die sich auch in der Situation des mündlichen Vortrags nicht einfach vereindeutigen.“41

Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem in einem Vortrag die Sätze äußernden Ich und dem ‚Wolfram‘ genannten Erzähler, der, im Unterschied zu grammatisch distanzierten Autorennennungen in anderen Romanen, in einem Rollenspiel vermittelt werden muss, da der Dichter nicht anwesend ist, ja, seine Abwesenheit diese Nennungen erst nötig machen.42 Am deutlichsten wird die Notwendigkeit einer rollenspielerischen Vermittlung an Stellen, bei denen der abwesende Sender nur der (von Vortragspublikum imaginierte) ‚Dichter‘ sein kann. Am Ende des sechsten der Lachmann’schen Bücher meldet ein Ich sich wie folgt zu Wort: ze machen nem diz mære ein man,

Sie zu erschaffen nehme sich dieser Erzählung

der âventiure prüeven kan

ein Mann an, der die Aventüre dartun

unde rîme künne sprechen,

und Reime sprechen,

beidiu samnen unde brechen.

sowohl binden wie auch brechen kann.

ich tætz iu gerne fürbaz kunt,

Ich würde euch gerne Weiteres kundtun,

wolt ez gebieten mir ein munt.

wenn es mir ein Mund darbieten würde,

den doch ander füeze tragent

den doch andere Füße tragen,

dan die mir ze stegreif wagent.

als die, die mir im Steigbügel wackeln.

(PARZIVAL, V. 337,23-30)

Der Abbruch der Erzählung an dieser Stelle wurde häufig so gedeutet, dass Wolfram mit dem ihm gebietenden Mund seinen Mäzen verbild41 KIENING, 2003, S. 201. 42 „Dem Autor, der nicht mehr unbedingt, sondern – systematisch verstanden – nur noch zufällig, bei Vortrag oder Lektüre seines Werks persönlich zugegen ist, diesem Autor können sich spezifische literarische Motivationen für die Nennung oder Verschweigung seines Namens ergeben“; HELLGARDT, 1998, S. 51.

48

Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator

licht und mit man einen potenziellen Fortsetzer meine.43 Doch was diese Lesart übersieht, ist die Doppeldeutigkeit der füeze: Denn sie meinen einerseits die Füße des Erzählers ‚Wolfram‘ in den Steigbügeln, andererseits aber auch die Versfüße, von denen ein munt getragen wird. Im Welschen Gast (entstanden 1215/16) ist – ausgehend von der lateinischen Tradition – eine solche Verwendung von vuoz als Versfuß zeitnah zum Parzival belegt;44 auch eine althochdeutsche Verwendung ist in Otfrids von Weißenburg Liber Evangeliorum (nach 847) dokumentiert, die ebenfalls schon mit dieser Ambiguität ‚füßelt‘.45 Der Mund, der bei Wolfram von Füßen getragen wird, und auch der man, der die âventiure zu prueven (im Sinne von ‚die Erzählung darzutun‘) vermag, sind so gesehen Verweise auf den Vortragenden, der vom Metrum des Texts getragen wird. Diesem Bildfeld entsprechend ist auch das mdh. gebieten (V. 28) nicht als ‚befehlen‘, sondern in der Grundbedeutung als ‚darreichen, anbieten‘ zu verstehen.46 Von diesem ‚darbietenden‘ man sucht sich Wolfram hier mit aller Bestimmtheit zu unterscheiden, nicht in Form einer – laut Kiening – ‚spielerischen Überblendung‘, sondern ganz im Gegenteil, in Form einer konturierenden Dissoziation von Dichter und Vortragendem. Wolfram sucht einen man (eine Bezeichnung, die – wie sich im Folgenden zeigen wird – 43 Vgl. GREENFIELD/MIKLAUTSCH 1998, S. 8. 44 „ist mîn tor die wîle gespart, / daz mac werren niht ze hart, / wan man in einem winkel muoz / machen dem getiht den vuoz, / daz ez loufe nâch der zît / in der werlde harte wît“ (WELSCHER GAST, V. 12313-18; ‚Ist meine Tür derweil versperrt, / soll das nicht zu sehr verdrießen, / denn man muss im stillen Winkel / seinem Gedicht auf die Füße helfen, / damit es hinterher / weit in der Welt herumkommt‘). 45 „Sie dúent iz filu súazi, joh mézent sie thie fúazi, / thie léngi joh thie kúrti, theiz gilústlichaz wúrti. / Éigun sie iz bithénkit, thaz síllaba in ni wénkit, / sies álleswio ni rúachent, ni so thie fúazi suachent, / […] so mézent iz thie fúazi, / zít joh thiu régula […]. / In gótes gibotes súazi laz gángan thine fúazi, / ni laz thir zít thes ingán: theist sconi férs sar gidán“ (EVANGELIENBUCH I, 1,21-47; ‚Sie [die Dichter] machen diese [die Dichtung] sehr geschmackvoll, sie messen auch die [Vers]Füße, / die Längen und Kürzen, damit ihr Werk Vergnügen bereitet. / Sie haben darauf geachtet, dass ihnen keine Silbe fehlt. / Sie lassen sich nur von den Erfordernissen der Füße leiten, / […] sie messen ihm [dem göttlichen Wort] [Vers]Füße zu, / metrische Zeit und die Ordnung der Teile, das Maß […]. / Lass deine Füße in der Heiligkeit von Gottes Gebot wandeln, / lass dir nie die Zeit dazu fehlen: Das heißt es, sogleich schöne Verse zu machen‘). 46 Vgl. LEXER, 1992, S. 55.

49

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

auch von Hartmann oft für den Vortragenden gewählt wird), der ein Verständnis der Erzählung zusammenführt mit der performativen Fähigkeit, die Verse durch ‚Binden‘ und ‚Brechen‘, also sowohl mittels syntaktisch passender Sprechpausen wie einer die Verse verbindenden Enjambement-Technik,47 sinngerecht zu machen, also die Schrift im Vortrag zu verwirklichen. Wolfram wählt für das Metrum das kriegerische Bild von Füßen in Steigbügeln, was zu seiner generellen Stilisierung als dichtender Ritter zählt, jedoch auch als eine starke Bindung der Füße verstanden werden kann, die der Text aufweist – ohne dabei zu unterschlagen, dass die Füße auch in den Bügeln ‚wackeln‘, d. h. das Metrum nicht an allen Stellen die freie dichterische Sprache einschränkt. Der Vortragende soll sich jedoch von der metrischen Bindung noch weniger beeinflussen lassen: Er soll sich von eigenen prosodischen Füßen tragen lassen. Wolfram gesteht dem Vortragenden also einen freien, kreativen Umgang mit Reim und Metrum zu. Es ist also möglich, dass Wolfram an dieser Stelle nicht, wie bisher angenommen, nach (finanzieller) Zuwendung durch einen Mäzen sucht, sondern in seinem Text eine ‚Suchanzeige‘ für einen fähigen performer inseriert. Die Differenzierung von ‚Wolfram‘ und dem Vortragenden findet hier ganz offen statt: In Form von klar formulierten inszenatorischen Ansprüchen an den Vortragenden und in Form einer (eventuell) auf eine historische Situation verweisenden Notwendigkeit von ‚Personalsuche‘. Die in der Beschreibung des Vortragenden als ein ‚Macher‘ anklingende Einstellung Wolframs, dass sein Roman erst im Vortrag zu existieren beginne, deckt sich mit der Aussage der zuvor zitierten ‚Selbstverteidigung‘. Dort weist Wolfram explizit darauf hin, dass er seinen Text keinesfalls als Buch verstanden wissen möchte. swer des von mir geruoche,

Wer das [Weitererzählen] von mir verlangt,

dern zels ze keinem buoche.

der soll es nicht den Büchern zuzählen.

ine kan decheinen buochstap.

Ich beherrsche nicht einen Buchstaben.

47 Für eine Analyse der Passage im Sinne der Enjambement-Technik vgl. RANDAU, 2011, S. 154.

50

Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator dâ nement genouge ir urhap:

Genug andere beziehen sich auf diesen

disiu âventiure

Ursprung,48 doch diese Geschichte

vert âne der buoche stiure.

geht ohne Bücherhilfe ihren Weg.

(PARZIVAL, V. 115,25-30)

Schließt man die Interpretation der buoche als Verweis auf Wolframs Quellen aus, da sich die Handlung des Parzival an dieser Stelle noch in der stiure Chrétiens befindet, liegt es nahe, eine metamediale Motivation dieser Äußerung anzunehmen. Grund für diese Erklärung des Parzival zum ‚Unbuch‘ könnte es sein, dass Wolfram in seinem Selbstverständnis als Dichter (zu diesem Zeitpunkt seines Schaffens)49 lediglich eine Partitur50 bereitstellt, die erst im Vortrag Wirklichkeit wird. Damit wäre die Aussage passend zu dem performativen Programm, welches schon der Bildlichkeit des Prologs abzulesen ist.51 Stellt man sich die Selbstverteidigungs-Verse von einem mit Wolfram nicht identischen Vortragenden geäußert vor, so geben die Worte diesem die Möglichkeit, einer (vorgeblichen) Unabhängigkeit von der Partitur Ausdruck zu verleihen: Das was in der Aufführung passiert, geschieht âne der buoche stiure, es ist selbstständig gegenüber den von Wolfram oder Chrétien geschriebenen Worten, ja, der Vortragende könne diese (angeblich) noch nicht einmal lesen. Natürlich weiß ein Publikum, dass dem nicht so sein kann und ist sich der Paradoxie einer aus der Partitur abgelesenen Behauptung, nicht lesen zu können bewusst – die Behaup48 ‚urhap‘ ist eine nicht eindeutig zu übersetzende Metapher. KNECHT schreibt: ‚[D]a gibt’s genügend andre, die daraus ihre Hefe nehmen‘. Die Hefe könnte die geschriebenen Buchstaben meinen, die den Vortrag ‚aufgehen‘ lassen (und die der Parzival-Rezitator angeblich nicht nötig hat). 49 Zur gegenläufigen Bewertung der Performativität als defektives Medium im Titurel siehe Kapitel 4.3.3. 50 Den hier und auch im Folgenden noch verwendeten Begriff der ‚Partitur‘ haben Hedwig Meier und Gerhard Lauer für ihre Untersuchung performativer Elemente des Codex Buranus geprägt: „Freilich kann eine solche Partitur der Parameter Text, Aufführung und Klang nicht mehr als eine unvollständige, weil den Ereignischarakter der Aufführung prinzipiell nicht rekonstruierende Lesart, besser Hör- und Sehart anbieten; sie ist nur die Partitur einer modellhaften Rekonstruktion der Stimme in der ‚performance‘, nicht die Stimme selbst“; MEIER/LAUER, 1996, S. 34. 51 Eine Lesweise des vliegenden bîspels (1,15) und der ‚hakenschlagenden Flüchtigkeit‘ als Aufruf zum performativen Nachvollzug präsentiert MERTENS FLEURY, 2008, S. 139f.

51

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

tung der Aufführung als autonome Kunstform bleibt jedoch trotz aller Fingierung und trotz der wolframtypischen Profilierung seiner Erzählerstimme bestehen.52 An dieser Stelle soll vorerst die Frage im Mittelpunkt stehen, wie man generell des Ichs eines Vortragenden, das in einem ständigen kommunikativen Kontakt mit seinen Zuhörern den Akt des Erzählens zelebriert, jenseits solcher Sonderfälle wie dem Wolfram’schen Inserat wissenschaftlich habhaft werden kann. Da man als moderner Interpret nur mit dem Text arbeitet, wird dies zur methodischen Gretchenfrage, denn auch wenn, wie Rainer Warning feststellt, „jeder Text ein Handlungssubjekt und also einen Sprecher“ präsupponiert, so ist doch „[d]ie textuelle Manifestation eines Sprechaktes [...] nicht schon mit diesem Akt selbst identisch.“53 Das Ziel dieser methodischen Bemühungen muss es sein, die textuell überlieferte Stimme eines sich als Erzähler maskierenden Dichters und die eines performativ agierenden Sprechers zu unterscheiden und die stumme Textualität zum Klingen zu bringen. Es geht mir nicht darum, eine konkret historische, auch nicht, eine wahrscheinliche Aufführung nachzuzeichnen. Es ist vielmehr mein Ziel, das performative Potenzial eines mittelalterlichen Romanvortrags aus dem Text zu erschließen. Ich will somit nicht eine erneute Interpretation des in der Wissenschaft stets unter neuen Vorzeichen charakterisierten Spielmanns liefern. Dieser trat zu allen Zeiten der Mediävistik in den Fokus der Betrachtung, sei es, (1.) wie Mitte des 19. Jahrhunderts, als romantisch verklärter Volkssänger oder Taugenichts nach Eichendorff’scher Façon,54 (2.) als mittels „moralgesättigte[r] Ausführungen“ und „ethnischer Ressentiments“55 in der Wilhelminischen Zeit zum 52 Trotz einer Stärkung der Eigenständigkeit des Vortragenden verzichtet Wolfram nicht darauf, ebenfalls den in Rolle zu sprechenden ‚Erzähler‘ stark zu profilieren. Die Notwendigkeit für einen Vortragenden, eine so klar umrissene Erzählerfigur rollenspielerisch zu verkörpern, bildet beim Parzival im Vergleich zu anderen höfischen Romanen einen Spezialfall. Das Verständnis von ‚Wolfram‘ als vom Vortragenden anzulegende ‚Maske‘ und das hiermit implizierte Rollenverständnis sollen im Folgenden noch gesondert beachtet werden. 53 WARNING, 1983, S. 186. 54 Beispiele hierfür finden sich in Joachim Bahrs Untersuchung des ‚Spielmann[s]‘ in der Literaturwissenschaft des 19. Jahrhunderts; vgl. BAHR, 1954. 55 HARTUNG, 2003, S. 18.

52

Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator

Träger deutscher Kultur stilisierter Barde,56 (3.) als „verräterischer, feiler, schlechter, ehrloser Geselle“57 am Ende der 1920er und Beginn der 30er Jahre, (4.) als Objekt faktengeschichtlicher, positivistischer Untersuchungen „mit einem gewissen Hang zur Esoterik“58 nach 1945,59 bis hin zu (5.) seiner Stilisierung zum Mitglied einer gesellschaftlichen Randgruppe im Rahmen einer Abkehr der Geschichtswissenschaft von der Geschichte der Großen seit den 1980er Jahren.60 Im Gegensatz zu all diesen Beschreibungen des Spielmanns als Teil einer Kunst ausübenden und eventuell auch Text produzierenden ‚Entertainmentbranche‘ soll anhand der im Text auftauchenden IchInstanzen nicht auf die soziale Realität geschlossen werden und so die ‚Verkürzungen der Literatursoziologie‘61 vermieden werden. Der Spielmann ist Zeit seines Bestehens eine wissenschaftliche Hohlform gewesen, die vielfach ideologisch gefüllt wurde; letztendlich bleibt er dennoch ein weitestgehend unhaltbares Konstrukt, dessen Neukonturierung keinen Sinn ergäbe,62 da es als sperriges Apriori den Blick auf neue Ergebnisse verstellen würde. Deshalb soll statt einer pseudo-konkreten Zuschreibung an einen ‚Spielmann‘ eine abstrakte kommunikative Größe der höfischen Romane nachgezeichnet werden, die Schlüsse auf eine performative Ästhetik der Texte zulässt, ohne diese historisch verankern zu müssen. Diese kommunikative Denkgröße wird im Folgenden als ‚Rezitator‘ bezeichnet. ‚Rezitator‘ meint also die Leerstelle, welche eine konkrete Person ausfüllt, die einen Roman vor einem Publikum vortrug (oder auch gegenwärtig vorträgt oder zukünftig noch vortragen wird). Dem moder56 Vgl. Wilhelm Hertz’ Spielmannsbuch; vgl. HERTZ, 1886. 57 NEUMANN, 1929 zitiert nach HARTUNG, 2003, S. 20. Wolfgang Hartung weist auf die faschistoide Ideologie dieser Aburteilung der Spielleute hin (ebd.) und kritisiert, dass die Literaturwissenschaft es bisher vermied, „das eindeutig faschistische Denken H. Neumanns als solches zu bezeichnen“; ebd., S. 342. 58 HARTUNG, 2003, S. 20. 59 Als Beispiel mag Walter Salmens 1960 publiziertes Buch Der fahrende Musiker im europäischen Mittelalter dienen; vgl. SALMEN, 1960. 60 Vgl. HARTUNG, 1982 und HARTUNG, 2003. 61 Vgl. HAUBRICHS/KIENING, 2008, S. 15. 62 Vgl. auch die Bedenken, die Wulf-Otto Dreeßen hinsichtlich des Spielmanns vorbringt, der sich bei der Betrachtung westjiddischer Texte noch länger als in der restlichen mediävistischen Literaturwissenschaft als Forschungskonstrukt halten konnte; vgl. DREEßEN, 1981, S. 78-81.

53

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

nen Interpreten ist der Rezitator nur als im Text eingebettete und vom Dichter konstruierte Größe zugänglich. Diese wurde von der Forschung bisher meist unter dem Begriff des ‚Erzählers‘ subsumiert. Der moderne narratologische Begriff birgt für eine performative Untersuchung jedoch eine nicht tolerierbare Ambivalenz, die an einer exemplarischen Aussage Joachim Bumkes illustriert werden soll: „Im Artusroman erzählt der Erzähler nicht einfach seine Geschichte, sondern er reflektiert zugleich auf sein Erzählen und schafft so neben oder hinter der Handlungsebene eine zweite Erzählebene oder Sinnebene, auf der der Erzähler ein die ganze Handlung begleitendes, fiktives Gespräch mit dem Zuhörer führt.“63

Es trifft zu, dass der vom Dichter geschaffene Erzähler eine zweite, die Narration erläuternde Sinnebene eröffnet; doch es ist nicht dieser Erzähler, der ein Gespräch mit dem Zuhörer führt. Bei einer Betrachtung der mittelalterlichen medialen Verhältnisse und einem Fokus auf der Aufführung als Verwirklichung des Romans darf dieses Gespräch gerade nicht als ‚fiktiv‘ oder fingiert gelten, sondern muss als reale Basis der Literaturvermittlung über die (theoretisch nachgezeichnete) Instanz des Rezitators Teil der Analyse werden. Aus diesem Grund soll das Konzept der ‚fingierten Mündlichkeit‘, wie es in der mediävistischen Forschung vor allem durch Manfred Günther Scholz rigoros auf die mittelalterliche Literatur übertragen wurde,64 relativiert werden. Dafür stütze ich mich auf die ‚Abrechnung‘65 mit diesem (und weiteren narratologischen Konzepten; s. u.) in Sonja Glauchs Habilitationsschrift An der Schwelle zur Literatur (2009). Bezüglich der ‚fingierten Mündlichkeit‘ schreibt sie:

63 BUMKE, 2006, S. 127. 64 Vgl. SCHOLZ, 1980; in gemäßigter und abwägender, dennoch sehr stark der skripturalen Stilisierung verpflichteter Form: VON MOOS, 1997. 65 Schon in den 1990ern bemängelte Rupert Kalkofen die durchgängige Inkonsequenz, mit der mediävistische Arbeiten, bemüht darum, dem strukturalistischen Paradigma gerecht zu werden, ‚Autor‘ und ‚Erzähler‘ voneinander trennen, um dann doch den (verkulteten) Dichter als Quelle der Aussagen zu stilisieren; vgl. KALKOFEN, 1995.

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Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator „Diese Auffassung hat sich weit verbreitet: Fingierter Erzähler (oder Autor oder Rhapsode), fingiertes Publikum und fingierte Mündlichkeit bilden einen erzählten Rahmen um die erzählten Geschichten [...] herum. Ich möchte dem widersprechen und das Kriterium zur Scheidung von fingierter und tatsächlicher Mündlichkeit [...] in der Wirkung der Stimme suchen – ‚Stimme‘ im eigentlichen akustischen Sinn. Denn wie erzähltes Brot den Hunger nicht stillt, kann erzählte Mündlichkeit, die ja nur eine durch Sprachzeichen vermittelte Illusion von Vokalität ist, den geschriebenen Text um nichts bereichern, was nur außerhalb dieser Zeichen angesiedelt sein könnte. [...] Sofern man akzeptiert, daß Chrétien, Hartmann und Wolfram primär für den Vortrag gedichtet haben, ergäbe sich hinsichtlich der ‚fingierten Mündlichkeit‘ der Romane eine seltsame und unerklärte Verdoppelung. Der reale Erzähler vor seinem Publikum erzählt einen geselligen, mit dem (erzählten) Publikum kommunizierenden (erzählten) Erzähler, der eine Geschichte erzählt? [...] Wäre es nicht erheblich naheliegender zu schließen, auch um von Ockhams razor ungeschoren zu bleiben, daß der Autor statt dessen den Vortrag eines geselligen, mit dem Publikum kommunizierenden Erzählers entwirft, d.h., dass er für den Vortrag eines Rhapsoden schreibt?“66

Glauchs Einlenken im Namen des Ockham’schen Prinzips scheint mir noch weit mehr mit sich zu bringen, als eine parsimonische ‚Verschlankung‘ des heuristischen Instrumentariums – es sorgt für eine Richtigstellung der mediengeschichtlichen Perspektive: Die Annahme, die sich an ein Publikum wendenden Textbestandteile seien fingiert, resultiert aus einer Überbewertung der produktionsästhetischen Sichtweise respektive aus einer Sakralisierung der Schrift. Zwar ist davon auszugehen, dass die performativen Publikumsapostrophen von einem Dichter erdacht und ohne die Anwesenheit eines Publikums von ihm niedergeschrieben wurden; doch zur kulturellen Relevanz gelangen diese Stellen erst in einem Vortrag, in dem die latent angelegte Performanz zum nicht-textuellen, transitorischen Ereignis wird. Diesen Vorgang ‚kultureller Relevanzentfaltung‘ zu leugnen, stellt – so will mir in Zuspitzung des Glauch’schen Einwands scheinen – eine illegitime Usurpation performativer Praxen durch eine Philologie dar, die mehr einem Werk- und Textverständnis des 19. Jahrhunderts als der Realität mittelalterlicher 66 GLAUCH, 2009, S. 71f.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Medialität verpflichtet ist.67 Der Rezitator kann als in der autonomen Performativität Agierender so auch dem ähnlich gelagerten Teleologismus entgegenwirken, der im Vortrag (Performativität) die Geburt des textuellen Erzählers (Skripturalität) sieht:68 Auch mediale Apfelbäume tragen eher selten Birnen. In der Romantik, die der Nährboden für die frühesten Ansätze der mediävistischen Literaturwissenschaft war, scheint es verständlich, dass solch ein ahistorisches Konzept aufkam, war es doch auch in der literarischen Praxis gang und gäbe, neben der Verschriftlichung genuin oraler Erzählformen, wie des Volkslieds oder des Märchens, die vorgefundenen Elemente in zeitgenössischen skripturalen Kunstformen zu fingieren. Diese mediale Übertragung von Denk-, Erinnerungs- und Erzählformen in das Medium Schrift jedoch noch heute auf die Texte einer nur beschränkt auf skripturaler Basis agierenden Kultur wie der höfischen zu beziehen, heißt, die mittelalterlichen Artefakte ihrem historischen Horizont zu entreißen, um sie in das moderne Gewand rein textueller Denk- und Forschungsweisen zu zwängen. Möglich ist die Untersuchung fingierter Mündlichkeit nur in „der Erzählkunst entwickelter Schriftkulturen“,69 zu denen die mittelalterlichen Höfe des 12. und 13. Jahrhunderts, an denen ein Skripturalitätsdenken erst im Entstehen begriffen ist, nur bedingt zu zählen sind. Für eine kulturwissenschaftliche Studie, die nicht den Text, sondern die kulturelle Landschaft, der dieser entwuchs, als Primat ihrer Betrachtung sieht, ist das Konzept fingierter Mündlichkeit auch in den Theoriebildungen strukturalistischen Charakters nicht zu akzeptieren, die den Text dahingehend untersuchen, dass „eine interne Sprechsituation in Opposition tritt zu einer externen Rezeptionssituation“.70 Das Sprechen des Textes als abstrakte Ebene zu sehen, als das Sprechen in einem externalisierten Raum (eine Forschungslinie, welche sich noch bis in die neuere Literatur zum Minnesang und zur Sangspruchdichtung hinein nachverfolgen lässt),71 mag zwar als Selbstverständlichkeit gelten, wenn man den Text und nicht den Aufführungsraum vor Augen hat, 67 Siehe dazu den Schlussteil der vorliegenden Untersuchung. 68 Vgl. stellvertretend und bezogen auf die Quellenfiktion des Wigalois: LIENERT, 1997, S. 274. 69 Vgl. GOETSCH, 1985; meine Hervorhebung. 70 WARNING, 1983, S. 193. 71 Vgl. STROHSCHNEIDER, 1996, S. 9-13.

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Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator

doch erwächst diese Differenzerfahrung lediglich aus unserer zeitlichen Distanz zum Mittelalter und der Flüchtigkeit der Aufführungssituation. Dem mittelalterlichen Rezipienten war der Raum weder extern noch fern, denn er befand sich just im Moment der performativen Realisierung des Texts in ihm. Für eine Analyse mittelalterlicher Kultur, in der Aufführung und Text koexistieren und sich gegenseitig bedingen, ist eine Distanzhaltung zum Raum nicht förderlich; vielmehr muss sie versuchen, sich dem räumlichen und zeitlichen Hier-und-Jetzt des mittelalterlichen Rezipienten anzunähern. Das ‚Fingieren‘, das es demnach bei einer Untersuchung mittelalterlicher Aufführungspraxen zu bedenken gilt, ist nicht (produktionsästhetisch gedacht) ein Akt des Dichters, sondern (aus rezeptionsästhetischer Perspektive) das Rollenspiel eines Vortragenden72 sowie (aus methodologischer Sicht) die heuristischen Konstruktionen der eigenen analysierenden Imagination. Es ist für eine wissenschaftliche Simulierung dieses Hier-und-Jetzts unumgänglich, die Ambiguität des Begriffs ‚Erzähler‘ auf zwei klar zu differenzierende Größen aufzuteilen. ‚Erzähler‘ bezeichnet, wie zum Beispiel im Parzival, eine Figur, d. h. einen fiktiven ‚Charakter‘ namens Wolfram, der nur indirekt mit dem Personal einer Aufführung zu tun hat, nämlich nur insofern, als er vom Rezitator, genauso wie eine Figur des Romans, als Rolle verkörpert werden musste. Diese Figur soll, um eine Verwechslung mit der performativen Ich-Instanz zu vermeiden, im Folgenden (ebenfalls nach Glauch) als ‚Autorfigur‘ bezeichnet werden. Glauch verdeutlicht, wie sehr die mediävistische Narratologie aufgrund der Übernahme strukturalistischer Grundsätze, die nicht an mittelalterlichen Texten entwickelt wurden, zu Verzerrungen der narratologischen (und medialen) Grundlagen der eigenen Objekte neigt. Die Kayser’sche kategoriale Unterscheidung von Autor und Erzähler,73 aber insbesondere die Übernahme des ‚impliziten Autors‘74 als Beschreibungskategorie für Sprechinstanzen des höfischen Romans stellt Glauch in ihren Unschärfen aus. Generell stellt sie fest, dass sich „produktionsund rezeptionsorientierte Ansätze in der Benutzung derselben Termini [überkreuzen]. Der berüchtigte ‚implied author‘ [...] ist ein Paradefall

72 Siehe 2.1.1. 73 Vgl. GLAUCH, 2009, v. a. S. 30-32; vgl. KAYSER, 1958. 74 Vgl. BOOTH, 1961.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

solch einer Überkreuzung.“75 Der Begriff beschreibt gleichermaßen einen textexternen Urheber wie ein vom Leser erschlossenes AutorSubjekt und kann deshalb als „Schattenfigur“ betrachtet werden „die der ‚Tod des Autors‘ an der Wand hinterlassen hat, [...] als Hilfskonstruktion und Verlegenheitsformel autorkritischer und autorloser Texttheorien.“76 Glauchs Vorschlag, dem für eine Beschreibung historischer Narratologie wie Medialität katastrophalen In-Eins-Fallen von Produktionsund Rezeptionsseite zu entgehen, führt zu einer generellen Absage an den Begriff des ‚Erzählers‘ sowie einer Aufteilung des ‚impliziten Autors‘ auf die textexterne ‚Handlungsrolle Autor‘ und die textuelle ‚Autorfigur‘.77 Für die Methode meines Vorhabens ist es aus den gleichen Gründen unumgänglich, den ‚Erzähler‘ zu substituieren, auch wenn es bezüglich einer Beschreibung des performativen Potenzials nicht nötig scheint, alle Glauch’schen Kategorien zu übernehmen: Der ‚Erzähler‘ spaltet sich hinsichtlich der Aufführung in die heuristischen Größen der rollenspielerisch zu sprechenden ‚Autorfigur‘ und den ‚Rezitator‘,78 die Vorstellung eines Menschen, der vor einem Publikum erzählt. Während es sich bei der Autorfigur um ein „être de papier“79 handelt, sind die dem Rezitator zuzuweisenden Phrasen Leerstellen,80 die aufgrund ihrer Konturlosigkeit von realen Vortragenden zu allen Zeiten genutzt werden konnten. Dabei ist es für die performative Analyse nebensächlich, welche konkrete Person diese Leerstelle besetzte. Sei es ein so genannter ‚Spielmann‘, ein Fürst, ein Ministeriale, der Dichter selbst (was der 75 76 77 78

GLAUCH, 2009, S. 100. Ebd., S. 95f. Vgl. ebd. S. 77-111 und v. a. die Tabelle auf S. 101. Glauch schreibt vom ‚Rhapsoden‘ (vgl. ebd., S. 71f. [s. o.] et passim), doch es scheint mir geraten, diesen Begriff nicht auf den mittelalterlichen Literaturbetrieb zu übertragen, um die Spezifika des medialen Umbruchs in der Antike (vom Aoiden zum Rhapsoden) und im Mittelalter (vom Sänger der Oralität zum Rezitator) nicht einzuebnen. 79 BARTHES, 1966, S. 19. 80 „Das ich ist eine Leerstelle, die die Gattung reserviert hat für jeden, der die Reproduktion der Texte übernimmt, eben weil er als Träger dieser Reproduktion stilisiert ist [...]. Hierin ist begründet, daß dieses epische ich im Vortrag zwar bezogen wird – nämlich auf den, der jeweils in die Stelle eintritt –, daß es aber keinen einmalig fixierten Bezug hat“; GLAUCH, 2009, S. 47.

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Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator

herkömmlichen Betrachtungsweise entspricht) oder gar ein moderner Vorleser: Die Denkgröße ‚Rezitator‘ vermag all diese Besetzungen zu umfassen. Es darf nie aus den Augen verloren werden, dass die Leerstelle, wie sie uns in den Texten vorliegt, konstruiert ist: Es gibt eine übergeordnete Instanz (sei es der Dichter oder aber ein nachträglich den Text erweiternder Schreiber), welche durch die Niederschrift der Sprechpassagen auf die performative Verwirklichung des Texts Einfluss zu nehmen gedenkt. Dabei reicht es jedoch nicht aus, die beiden Ich-Instanzen als ‚Gestaltetes‘ (Rezitator) im Gegensatz zum ‚Gestaltenden‘ (Autorfigur), zu unterscheiden,81 da es dem Dichter freisteht, den Rezitator in der Vortragssituation für entsprechende performative Effekte als ‚Gestaltenden‘ zu fingieren.82 In diesen Möglichkeiten der Gestaltung hinsichtlich des Performativen kommt die etymologische Ambiguität von tihtære zum Tragen. Das althochdeutsche tihtǀn sowie das daraus entstandene mittelhochdeutsche tihten „gelten allgemein als Entlehnungen von lat. dictƗre“.83 Im Neuhochdeutschen haben sich aus diesem lateinischen Begriff zwei Verben mit unterschiedlicher Bedeutung entwickelt: dichten und diktieren.84 Diese Doppeldeutigkeit der mittelhochdeutschen Vokabel entstammt nicht nur, wie Ivan Illich dies schon darlegte,85 einem produktionsspezifischen Charakteristikum mittelalterlicher Schriften, sondern hat ebenso einen performativitätsspezifischen Kern: Der mittelalterliche tihtære ist ebenso Erschaffer des Texts wie Diktierender, der die Aufführung durch sein Vers-Diktat zu lenken beabsichtigt.86 81 Vgl. ebd., S. 97. 82 Die ‚Gestaltung des Rezitators als Gestaltenden‘ wird später als Spielart des Verfremdungseffekts betrachtet werden; siehe Kapitel 4.2 und v. a. 4.2.2. 83 PFEIFER, 1999, S. 223; vgl. auch KLUGE, 1995, S. 178. 84 Eine alternative, jedoch nicht allzu häufig anzutreffende Forschungsmeinung ist, dass das Verb „möglicherweise erst sekundär unter den Einfluss von lat. dictƗre geraten, in Wirklichkeit aber germ. Ursprungs ist“; PFEIFER, 1999, S. 223. 85 „Wir müssen jetzt sorgfältiger zwischen dem Autor als Diktierendem und seinem Sekretär als Schreiber unterscheiden. Der scriptor hält die Feder und der dictator führt sie“; ILLICH, 1991, S. 92; vgl. ERNOUT, 1951, S. 155161. 86 Illich weist darauf hin, dass der Charakter des ‚Diktierenden‘ dem lateinischen Alphabet in seiner im 12. Jahrhundert beginnenden Anwendung

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

In dem Auseinandertreten vom Dichter als Diktierendem und dem Rezitator als ausführender Instanz tritt beim höfischen Roman die Inszenierung als konzeptuell lenkende Größe in Kraft.87 „Ich definiere Inszenierung als den Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien, nach denen die Materialität der Aufführung performativ hervorgebracht werden soll, wodurch zum einen die materielle Ebene als gegenwärtige, in ihrem phänomenalen Sinn in Erscheinung treten kann, und zum anderen eine Situation geschaffen wird,

auf die Volkssprache von Grund auf eigen ist: „Das Alphabet ist schon eine ausgezeichnete Technik zur Sichtbarmachung von Lautäußerungen. [...] Anders als andere Schriftsysteme zeichnet es Laute auf und nicht Gedanken. Und hierin ist es absolut narrensicher: Einem Leser kann beigebracht werden, Dinge zu äußern, die er niemals vorher gehört hat“; ILLICH, 1991, S. 43. Dass das Alphabet jedoch nicht ganz so ‚narrensicher‘ ist, wie Illich dies behauptet, wird sich im Folgenden daran zeigen, dass die Dichter der höfischen Romane stets dagegen anzukämpfen hatten, dass ihre Texte im performativen Akt nicht verfälscht werden. Denn jenseits der textgebundenen Aussagen gibt es diverse andere semiotische Systeme, die dem alphabethischen Diktat nicht unterstehen. Ebenso scheinen mir JeanLuc Nancys Betrachtungen Zum Gehör bezüglich der Bedeutung von ‚dictare‘ für die mediale Konstellation mittelalterlicher Literatur nicht treffend: „[S]prechen ist nicht allein bezeichnen, sondern es ist immer auch diktieren, dictare, das heißt dem Sagen seinen Ton, das heißt seinen Stil geben (seine Tonalität, seine Farbe, seine Klangart) und darum und darin, in dieser Operation oder in dieser Haltung des Sagens, es rezitieren oder es sich rezitieren lassen“; NANCY, 2010, S. 48. Nach dieser Interpretation wäre der Rezitator der Diktierende, der der Sprache ihre konkrete Form, ihre Klangfarbe verleiht. In der Konstellation von Dichter/Rezitator/Publikum ist dies jedoch nicht als ein Diktieren, sondern eher als die Verrichtung des dichterischen Diktats zu beschreiben. 87 Bezüglich des Verhältnisses von Dichter und Rezitator kann nur auf wenig bestehende Forschung zum höfischen Roman zurückgegriffen werden. In Untersuchungen zum Minnesang jedoch tritt die Diskrepanz zwischen Verfasser und dem das Lied später aufführenden ‚Jongleur‘ weitaus stärker in den Vordergrund. So zeigt Rainer Warning an Versen des französischen Dichters Bernard de Ventadour, „wie Autor und Jongleur auseinandertreten“, und zwar an dem Punkt, an dem der sich selbst namentlich nennende Autor „seinerseits einen unbekannten Jongleur beauftrag[t], sein Lied zu lernen und weiterzutragen“; WARNING, 1983, S. 196. Es handelt sich hier um eine explizite Einflussnahme des Dichters auf die spätere Aufführung seiner Verse, wenn auch weniger aus inszenatorischen als aus mnemo- und tradierungstechnischen Gründen.

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Inszenierung: der Dichter, der Text und sein Rezitator die Frei- und Spielräume für nicht-geplante, nicht-inszenierte Handlungen, Verhaltensweisen und Ereignisse eröffnet. [...] Der Begriff der Inszenierung schließt insofern immer schon die Reflexion auf die Grenzen von Inszenierung ein.“88

Auf die medialen Gegebenheiten des höfischen Romans bezogen bedeutet Fischer-Lichtes Definition einerseits, dass der Dichter durch entsprechende Anweisungen zukünftige Rezitatoren, die gegebenenfalls sein Werk für sich lesen und dann erst aufführen, schriftlich unterrichtet, wie er sich die Umsetzung des Texts vorstellt. Andererseits meint Inszenierung die Vorarbeiten, die ein Rezitator leistet, bevor er den Roman zur Aufführung bringt. Es besteht theoretisch die Möglichkeit, dass es sich um nur einen einzigen Prozess handelt, der Text also ohne vorherige Lektüre und inszenatorische Planung spontan vorgetragen wurde. Diese wäre jedoch nicht im Sinne der Dichter, die inszenatorische Reflektionen niederschreiben, und scheint auch hinsichtlich der Komplexität der höfischen Romane eher unwahrscheinlich: „Geschriebene Reimpaarverse im 13. Jahrhundert machten noch viel interpretierende, Stimme restituierende Lesbarkeit nötig. [...] Selbstlektüre forderte vom Leser, daß er den Text möglichst gut kannte, daß er also die Partitur schon so oft durchgearbeitet hatte, daß er letztlich (für sich selbst oder auch für andere) zum kundigen, professionellen Vorleser wurde. [...] Ich behaupte, daß die uns erhaltenen Versromane um 1200 unlesbar gewesen wären: d. h. ‚vom Blatt‘ unlesbar. Die Manuskripte brauchen den erfahrenen Rezitator“.89

Man muss sich den Rezitator also als primären Leser vorstellen, der das Gelesene inszenatorisch bearbeitet und sodann zur Aufführung bringt. Und all das auf ‚professionelle‘, ‚schauspielerische‘ und das heißt: die Schrift in Körperlichkeit überführende Art und Weise. Die rezitatorische Inszenierung ist den Versen jedoch kaum abzulesen und wäre, selbst wenn sie in die tradierte Textform bspw. als Erweiterungen eingeflossen wäre, kaum von Einflussnahmen des Dichters zu unterschei88 FISCHER-LICHTE, 2004, S. 327. 89 GLAUCH, 2009, S. 67 und 72.

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den. Die inszenatorischen Anweisungen sind (wie bei eigentlich allen Notationen performativer Kunstformen) keine spezifischen, sondern medial-translativ90 und als Text offen und artifiziell stilisiert; sie lassen ein Verständnis der Verse als dramatische ‚Nebentexte‘ (Regieanweisungen, Bühnenbildbeschreibungen) genauso zu wie einen Vortrag derselben vor einem Publikum (oder ihre Lektüre). Die von FischerLichte thematisierte Grenzziehung ist in solchen Fällen Aufgabe des Rezitators – der die Nebentexte verlesen kann oder nicht, ebenso wie er ihre inszenatorischen Anweisungen befolgen oder ignorieren kann – und natürlich des Forschers. Für den Dichter sind es viele Eventualitäten, die er bei der Formulierung dieser Nebentexte zu bedenken hat, da er (außer im Sonderfall, dass der Dichter sein Werk selbst vorträgt) nur indirekt Einfluss auf die konkrete Aufführung nehmen kann. Seine einzige Möglichkeit ist die Unterrichtung des Rezitators oder des Publikums durch den Text selbst. Er erschafft so einen inszenatorischen Rahmen, in dem das unkontrollierbare und transitorische Ereignis stattfinden soll.

90 „Natürlich heißt das, dass er [der Autor] einen Text als Vortrag entwirft: einen Text, der einen performativen, stimmlichen, dramatischen Aspekt enthält, der nicht aufgeschrieben werden kann. Ein schriftlich nicht ausreichend fixierter Plan für einen Vortrag oder eine Aufführung ist nur mit großem Aufwand mitteilbar. Das teilt mittelalterliche Vortragsepik mit allen performativen Künsten, von denen bis heute keine eine vollständige Notation hat und haben kann und die deshalb der Interpretation der Aufführenden eigenen Raum lassen“; ebd., S. 71.

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2.1.1 Die Bedingungen performativer Kommunikation „Laß, ich hätte beinahe gesagt, laß das alles. Was liegt daran wer spricht, jemand hat gesagt, was liegt daran wer spricht.“ Samuel Beckett, Texte um Nichts91

Um die inszenatorische Praxis der höfischen Romane untersuchen zu können, sollen in einem ersten Schritt die kommunikativen Bedingungen eines in der Aufführung realisierten Romans modellhaft dargestellt werden. Die entscheidende Grundlage für eine Betrachtung der extratextuellen Bedingungen liefert Rainer Warnings Definition des fiktionalen Diskurses als einer ‚Als-ob-Handlung‘, als einer Spielsituation, die eine eigene Ebene eröffnet, dabei jedoch nicht isoliert, sondern in engem Zusammenhang mit dem Gesamtsystem der höfischen Kultur zu betrachten ist.92 Diese Spielsituation führt hinsichtlich der höfischen Praxis des Romanvortrags dazu, „daß eine interne Sprechsituation in Opposition tritt zu einer externen Rezeptionssituation.“93 Dabei kann „das Theatermodell [...] als Paradigma für die Situationskonstitution fiktionaler Rede generell gelten. Der fiktionale Diskurs ist wesentlich ein gespielter Diskurs, ein von dritter Hand inszenierter Diskurs. Die narrativen Gattungen erweisen sich so besehen als eine Komplexion des dramatischen Diskurses, indem sie die externe Situation, d. h. die Kommunikation zwischen Erzähler und Hörer, ihrerseits in die interne

91 Beckett, 1995, 130. 92 Warning definiert diesen Spielbegriff nach J. Ehrmann: „[I]n an anthropology of play, play cannot be defined by isolating it on the basis of its relationship to an a priori reality and culture. To define play is at the same time and in the same movement to define reality and to define culture. As each term is a way to apprehend the two others, they are each elaborated, constructed through and on the basis of the two others”; EHRMANN, 1971, S. 55. Ehrmann definierte also schon Anfang der 1970er Jahre einen Begriff von ‚Spiel‘ bzw. ‚Aufführung‘, wie ihn die kulturwissenschaftlich orientierte Geisteswissenschaft erst ab Mitte der 1990er Jahre wirklich angewendet hat. 93 WARNING, 1983, S. 193.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf Situation hereinnehmen, so daß der externen Rezeptionssituation nunmehr eine verdoppelte interne Sprechsituation gegenübersteht.“94

Wenn man Warnings Rückführung seines doppelt gespaltenen Modells für die fiktionale Rede auf das Denkmuster ‚Theater‘ in aller Konsequenz weiterführt, so muss die Aufführung im anzustrebenden Modell einen autonomen ontologischen Stellenwert einnehmen. Sie muss zwischen dem fiktiven Geschehen und der extra-theatralen Wirklichkeit verortet werden. Von letzterer ist sie durch einen spezifischen theatralen Kontrakt getrennt, ohne ihr dabei restlos enthoben zu sein. 95 Es sind somit nicht nur wie bei Warning zwei, sondern drei ontologische Ebenen zu unterscheiden, die sich alle auf ihre Art und Weise in den Texten widerspiegeln:96 die historische Realität, die Aufführungssituation und 94 Ebd. 95 Fischer-Lichte beschreibt anhand der Kunst- und Werkbegriff dekonstruierenden Strömung der performance art diesen Zwischenstatus der Aufführung mit der Metapher des Labors: „Das performative Hervorbringen der Materialität von Aufführungen hat zur Folge, daß alles, was in ihnen erscheint, sich wirklich ereignet, auch wenn ihm zusätzliche Bedeutung zugesprochen werden kann. [...] Läßt sich daraus, daß die untersuchten Aufführungen den Gegensatz zwischen Kunst und Wirklichkeit in seinen verschiedenen Manifestationen und Formulierungen kollabieren lassen, nun der Schluß ziehen, daß diese Aufführungen eine Unterscheidung von Kunst und Wirklichkeit nicht mehr zulassen [...]? Ehe man solche Schlußfolgerungen zieht, sollte man freilich bedenken, daß die Künstler in diesen Aufführungen intentional mit künstlerischen Mitteln [...] eine Situation herzustellen suchen, die Situationen des alltäglichen Lebens ähnelt, aber eine Laborsituation ist. Und sowenig wir eine Laborsituation mit der des täglichen Lebens gleichsetzen würden [...], sowenig würden wir eine künstlerische Aufführung mit einer Alltagssituation gleichsetzen“; FISCHER-LICHTE, 2004, S. 297-300. Die Metapher des Labors passt genauso zur Beschreibung des höfischen Romanvortrags. Es handelt sich um ein reales soziales Ereignis bei dem der Aufführungsrahmen bestimmte Verhaltensweisen vorgibt. Diese lassen die Veranstaltung als eine ‚Sozietät im Reagenzglas‘ erscheinen, da die performativ verwirklichten Texte soziales Verhalten als ein kontrollierbares und kommunikables Experiment präsentieren. Die Aufführung stellt somit ein eigenes System dar, dessen Grenzen jedoch sowohl zum Fiktiven als auch zur höfischen Realität hin offen bleiben. 96 Eine ähnliche Erweiterung des Modells findet sich bei Egidi: „Doch gibt es nicht nur die beiden polaren Möglichkeiten der ‚unmittelbaren‘ Kommunikation und der artifiziellen Inszenierung von Unmittelbarkeit – es kann z. B. auch so getan werden, als ob der Sprechakt vollzogen wird. Zwischen den Polen der vollständigen Aufspaltung der textinternen und -externen

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die Fiktion. So kann ein Ih sage iu dieser Dreiteilung entsprechend auch drei verschiedene Funktionen haben: 1. Es redet eine Figur mit Figuren: eine rein fiktive Kommunikation. Auf der Ebene der Aufführung muss der Rezitator hier in eine Rolle schlüpfen; das Publikum kann (doch muss nicht) über eine Identifikation mit den angesprochenen Figuren imaginativ an dem Gespräch teilhaben. 2. Der Dichter, selbst Teil der historischen Realität, nutzt die Maske der Autorfigur, um über den Text seinen Rezipienten etwas mitzuteilen. Dabei kann auch der Rezitator sein Leser sein, den er mittels ‚Nebentexten‘ über seine Vorstellungen einer performativen Umsetzung des Texts unterrichtet. In der Aufführung führt dies – sofern die entsprechende Passage performativ verwirklicht wird – abermals zu einem Rollenspiel des Rezitators. 3. Der Text offeriert eine kommunikative Leerstelle, welche der Rezitator auf der Ebene der Aufführung durch seine Präsenz ausfüllt, um mit dem Publikum zu kommunizieren. Ih sowie iu sind auf der Ebene der Aufführung direkt und ohne Rollenspiel miteinander kommunizierende Körper. Dargestellt in einem Modell, das diese textexternen und -internen Größen nicht als abgeschlossene Systeme, sondern als tendenziell dynamisch aufeinander bezogene Größen denkt,97 könnten die kommunikativen Verhältnisse des höfischen Romans wie folgt aussehen: Sprechsituation einerseits und ihrer vollständigen Verschmelzung andererseits liegt theoretisch eine ganze Skala unterschiedlicher Abstufungen“; EGIDI, 2004, S. 21. Diese werden in der Aufführungssituation durch entsprechende performative Techniken realisiert; siehe 4. Kapitel. 97 „Das Modell [einer Aufführungssituation] muss einerseits die Dynamik im Innern [...] und andererseits die Offenheit nach Außen [...] garantieren. Dies bedeutet für die Sangspruchdichtung als Aufführungskunst, dass eine größere Durchlässigkeit zwischen Realität, Aufführungstradition und Textebene angenommen und dem Sänger ein größerer Handlungsspielraum zugesprochen werden müssen“; LAUER 2008, S. 314. Lauer präsentiert ein Modell für die Aufführung von Sangspruchdichtung, das dem hier entwickelten in vielen Punkten vorausgeht; vgl. ebd., S. 315. So plädiert sie ebenfalls für eine Dreiebenenstruktur (Wirklichkeits- und Gesellschaftsebene / Aufführungs- und Spielraum / Text) und für Entsprechungen der kommunikativen Größen auf diesen Ebenen (Autor / Sänger / Text-Ich kommuniziert mit Welt / Publikum / textinternem Gegenüber). Was Lauers

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Modell 1: Die kommunikativen Größen des höfischen Romans

Für den Besucher eines mittelalterlichen Romanvortrags gab es – wie das Modell zeigt – nur drei Möglichkeiten, wer zu ihm redet: der Rezitator als Romanfigur, als Autorfigur oder der Rezitator als (vermeintlich) eigenständig agierende Person. Der Erzähler hat als ‚être de papier‘98 keine Relevanz für die performative Kommunikation. Des Weiteren erübrigt sich bei einer Betrachtung der Aufführungssituation eine der Performanztheorie zur mittelalterlichen Lyrik entstammende Unterscheidung: Die Differenzierung von konzeptioneller und medialer Mündlichkeit,99 also die Unterscheidung der schriftlich verfassten Erzählung und ihrer Verbalisierung, ist nicht weiter von Belang, wenn man davon ausgeht, dass der uns nachvollziehbare Teil der Sprechakte Modell für die hier angestrebte performative Beschreibung von Artusromanen fehlt, ist eine Erfassung der Art und Weise, wie die Kommunikationspartner auf ihre Analoga der jeweils untergeordneten Ebene Einfluss nehmen oder zugreifen. Diese Zugriffsweisen sind es, die als performative Techniken am Text der Romane fassbar werden, weswegen mein Modell in diesem Punkt das Lauer’sche erweitert. Ich möchte Claudia Lauer an dieser Stelle für die Gespräche über unsere Modelle danken, die für mich sowohl den Auftakt dieser Studie als auch den einer anhaltenden (wissenschaftlichen) Bereicherung bedeuten. 98 Siehe Kapitel 2.1. 99 Vgl. KOCH, 1985.

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stets schriftlich konzipiert, doch genauso stets mündlich realisiert wurde.100 Die performative Realisierung der tradierten Verse ist somit immer gleichzeitig eine vom Dichter konzipierte und vom Rezitator umgesetzte Mündlichkeit. Es ist jenseits der vom Dichter konzipierten Verse auch eine nichttextuelle Kommunikation anzunehmen. Diese kann aus freien sprachlichen Extempores bestanden haben; sie umfasst jedoch ebenso die nonverbale Kommunikation zwischen den körperlich Anwesenden. Dieser Aspekt der Aufführung mittelalterlicher Texte ist als transitorischer verloren;101 von seinem ehemaligen Vorhandensein zeugen jedoch die vielzähligen Bitten der Dichter, die Originalverse in der Aufführungssituation nicht zu verfälschen bzw. ihre Formulierungen einer Angst, von einem Publikum aufgrund solch eines Abweichens vom Text falsch verstanden zu werden. Solche die Aufführungssituation betreffenden Verse wurden im Schaubild (vorerst hypothetisch) als ‚inszenatorische Anweisung‘ für den Rezitator und als ‚Verhaltensregel‘ für das Publikum verzeichnet. ‚Anweisungen‘ sind meist in Prologen oder metafiktionalen bzw. -performativen Exkursen zu finden. Mit ‚Verhaltensre100 Nellmann stellt Ähnliches insbesondere für die im Parzival abgebildete Aufführungssituation fest: „Nicht der real existierende Hörer wird vom Autor des Romans angeredet. Vielmehr ist in den Roman eine fiktive Vortragssituation hineingedichtet“; NELLMANN, 1973, S. 1. Aus produktionsästhetischer Perspektive mag diese Formulierung zutreffen; rezeptionsästhetisch betrachtet ist jedoch der Vorgang des Dichtens wenn nicht ‚fiktiv‘, so doch zumindest ‚fern‘, da er zum Zeitpunkt der Rezeption in der Vergangenheit liegt und somit auch analytisch nur von marginaler Relevanz ist. 101 „Die schriftliche Überlieferung ist nur eine recht unzulängliche Darbietungsform des primär zum Vortrag bestimmten Textes. Was Mimik, Gestik, Stimme dazugetan haben, können wir nur ahnen. Der Autor hatte es nicht nötig, bei einem Vortragstext alles unzweideutig so zu formulieren, daß es auch der Leser im stillen Kämmerlein verstehen musste; NELLMANN, 1973, S. 26. Nellmann beschreibt hier recht treffend das Verhältnis von Textbedeutung und (nonverbalen) semiotischen Systemen. Jedoch setzt er den Rezitator mit dem Dichter gleich, sodass ihm Mimik, Gestik und Stimme als semiotische Systeme gelten, die produktionsästhetisch vom Dichter aus gedacht werden könnten. Das personale und zeitliche Auseinanderfallen von Textproduktion und performativer Textverwirklichung wird nicht mitgedacht und ignoriert so, dass der den Text vorführende Rezitator nur im absoluten Sonderfall als ‚Wolfram‘ identifiziert werden kann.

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geln‘ sind bspw. die v. a. zu Beginn der Epen oder neuer Erzählabschnitte häufig zu findenden Bitten um Ruhe gemeint. Dies sind natürlich keine direkten Wiedergaben von ‚Regeln‘, vielmehr ‚Maßregelungen‘, lassen aber als solche Schlüsse auf das (erwartete) Verhalten eines Publikums zu. In diesem Sinne ist die älteste Spur solch einer ‚Verhaltensregel‘ (aus dem medialen System der Oralität) das den Beowulf wie auch viele andere altenglische Dichtungen eröffnende „Hwæt“,102 das aufgrund der dem sonstigen Metrum enthobenen Stellung als „call to attention [...] accompanied by a chord on a harp or lyre“103 imaginiert wird. Die figuralen Sprechinstanzen des Texts, die Roman- und Autorfiguren, werden vom Rezitator in einem Rollenspiel verkörpert. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass es im Mittelalter eine Vorstellung von ‚Rolle‘ gab und die Autorfigur als eine solche verstanden werden kann. Mir scheint es (und dies in Abgrenzung zu Glauch),104 dass es sich gerade bei der Autorfigur des höfischen Romans um eine Rolle, bzw. eine konstruierte persona im Sinne der antiken105 und zeit102 BEOWULF, V. 1; vgl. HOOPS, 1965, S. 2. 103 MITCHELL/ROBINSON, 1998, Anm. zu BEOWULF V. 1. 104 „Als Rolle würde ich nur das Einnehmen einer konventionell vorgeprägten Haltung beschreiben. Eine Rolle muss mehrfach und von mehreren gespielt werden; ein einmaliger Handlungsakt ist keine Rolle. [...] Eine Wolframrolle bildet sich in der spätmittelalterlichen Epik aus – dagegen scheint es mir unratsam, schon Wolframs (oder Chrétiens, Hartmanns oder Gotfrids) eigene Ich-Manifestation eine Rolle zu nennen – wo wäre diese Rolle denn einzuüben gewesen?“; GLAUCH, 2009, S. 105. Glauch unterschlägt bezüglich der Rolle, entgegen ihrer sonstigen Methodik, den Status, den die Autorfigur in der performativen Umsetzung des höfischen Romans gehabt haben muss. Sie fokussiert (produktionsästhetisch) das einmalige Ausfüllen der Rolle durch den entsprechenden Dichter (bspw. für Wolfram: ebd., S. 63). Davon ist aber eben nicht auszugehen, wenn man dem Parzival eine längere Relevanz zuzusprechen bereit ist, als die zu einer Uraufführung oder aber zur Lebenszeit Wolframs. Wenn man aus Sicht der zeitlich und örtlich verstreuten, gesichtslosen Rezitatoren denkt, die dem Werk eine zeitüberbrückende Relevanz verliehen, muss einem die Autorfigur genau das sein, was Glauch als Rolle beschreibt: Eine (von einem Dichter geschaffene und damit für den Rezitator) vorgeprägte Haltung, die mehrfach und von mehreren (zu vielen Zeiten, an vielen Orten) eingenommen wurde. 105 Gemeint ist v. a. Ciceros personae-Modell aus De officiis. Hier handelt es sich nicht um ein spezifisch theatrales, sondern um ein den sozialen Status des Menschen beschreibendes Modell, welches das Theater nur als Metapher heranzieht. Die vier Masken der Vernunftsfähigkeit (1), des jeweils

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genössisch-mittelalterlichen Rhetoriken106 handelt, eine Maske also, die der reale Dichter zur Selbststilisierung nutzen konnte und ein nachfolgender Rezitator umsetzen musste: „Speakers regularly switch from narration to commentary, with ease and often to interesting effects. [...] This is true particularly of such texts as are structurally given as SPOKEN, i.e., in which the narrator’s PRESENCE constitutes the unique source of each word; in which, quite literally, the narrator’s voice, AS PERFORMED, not only provides the vehicle through which each word must pass but contains, AS AUTHORITY, the guarantee of each word’s genuineness or, for that matter, truth. This kind of text ‚speaks itself out‘ [...] through the PERSONA-presence of a narrator whom we, as audience/reader, are constrained to believe be-

spezifischen Charaktertyps (2), der zufälligen, gegebenen Determinanten (3) und der dem Menschen gegebenen Wahlentscheidung (4) laufen auf das Ideal einer harmonischen Vereinigung im Individuum zu. Dennoch kann das Modell zur Beschreibung performativer Praktiken herangezogen werden, denn gerade in der Vorstellung eines mehrere Masken vereinenden Individuums kann man die Position eines rollenspielenden Rezitators wiederentdecken. Zur Anwendung des personae-Modells auf die höfische Sangspruchdichtung schreibt Claudia Lauer: „Wendet man auch diesen Ansatz [die Feststellung einer Einheit von Vielheit im ciceronischen personae-Modells] strukturell auf die Untersuchung der Konstruktion von Identität in der Gattung der Sangspruchdichtung an, so verweisen die ästhetischen Handlungsrollen auf eine charakteristische Identität, die sich analog zur personalen Identität fassen lässt. Vor dem Hintergrund des semi-oralen Charakters der Sangspruchdichtung handelt es sich hier nicht um eine literarische Text- oder Werk-Identität und auch nicht um eine biographische Autor- oder fiktionale Sänger-Identität, sondern um eine ‚ästhetische Identität‘ als eine wirkungsästhetische Einheit“; LAUER, 2008, S. 41. Was sich also in der Anwendung des im Mittelalter als philosophischrhetorisches Werk rezipierten (vgl. ebd., S. 35-41) personae-Modells Ciceros hinsichtlich des Literaturvortrags konstatieren lässt, ist, dass ebenso wie die Vereinigung diverser Rollen im sozial agierenden Menschen auch das Rollenspiel eines Rezitators zu den akzeptierten Techniken höfischen und performativen Handelns zählten. Der Rezitator formt beim Romanvortrag ebenfalls eine ‚ästhetische Identität‘, die zwischen dem Sprechen in Rollen (als Roman- oder als Autorfigur) und dem fingierten oder ‚echten‘ Sprechen als eigenständige Person changiert; siehe Kapitel 2.1.2. 106 Vgl. die Poetria Nova des Geoffrey von Vinsauf, siehe Kapitel 2.1.2.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf cause (1) he is THERE (we accept this presence as just), and because (2) the text is organized in such a manner as to shore up our belief.“107

Was Uitti Erzähler (narrator) nennt ist die Autorfigur. Der Begriff der „PERSONA-presence“ beschreibt den maskenhaften Typus dieser Instanz, das im Text latente Dasein als eine Rolle, die der jeweilige Rezitator in einer sowohl temporär als auch räumlich konkret historischen Spielsituation108 zu verkörpern hat. Die Beschreibung der Autorfigur als persona,109 also als Maske, erklärt auch die Leichtigkeit, mit der der Dichter des Jüngeren Titurel für über neun Zehntel des Werks vorgibt, Wolfram von Eschenbach zu sein, und sich erst in der 5961. Strophe als Albrecht zu erkennen gibt. Er hat bis zu diesem Punkt des Romans nicht gelogen und auch keinen „eklatanten Täuschungsversuch“ unternommen, wie die ältere Mediävistik diesen Tatbestand deutete.110 Albrecht offerierte seinen Rezitatoren anstelle einer neuen Autorfigur die Maske der Wolfram’schen, was sein mittelalterliches Publikum als performatives Rollenspiel zu würdigen wusste.111 Mag manchen Interpreten die Annahme eines Rollenverständnisses in der höfischen Sphäre des 13. Jahrhunderts als nicht veri107 UITTI, 1979, S. 161; Hervorhebungen im Original. 108 „[H]e [the narrator] is in time, or history, and situated in a locus, a community“; ebd. 109 „The use of ‚persona‘ in Arthurian romance as a mode of authorial ‚self‘description, long a convention of Minnesang, means that readers of Wolfram or Hartmann can never be entirely certain whether they are dealing with rhetorical strategy or historical truth“; TINSELY, 1996, S. 954. Vgl. zum Zusammenhang von Maske, Rolle und persona in Mittelalter und römischer Antike auch FEISTNER, 1996 und FUHRMANN, 1979. 110 Vgl. SCHRÖDER, 1993, S. 8. 111 Die Auffassung der Wolfram’schen Erzählerfigur als Maske ermöglicht es Albrecht, ganz bewusst ein Spiel mit der fremden Dichter-Identität zu betreiben, in das er sein Publikum mit einbezieht. „Am markgräflichen Hof zu Meißen, wo der größte Teil des Riesenwerkes entstanden sein soll, wußte man natürlich, daß sie [die Verfasserfiktion] eine Maske war, in welcher sich der selbstbewußte Dichter gefiel“; SCHRÖDER, 1993, S. 7. So lässt der wirkliche Verfasser des Buchs schon vor seiner endgültigen Offenbarung gerne den Status der Maske anklingen, um sein Publikum an diesem Spiel teilhaben zu lassen. Die Maskenhaftigkeit der Wolfram’schen Identität offenbart er in einem Widmungsgedicht und jeweils kurz vor dem Einsatz der ‚echten‘ Wolfram’schen Titurel-Fragmente in den so genannten Hinweis-Strophen; vgl. SCHRÖDER, 1993.

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fizierbare Präsupposition erscheinen,112 so spricht gerade dieser Umgang mit der ‚Wolfram-Maske‘ (im Jüngeren Titurel und vergleichbar bspw. im Lohengrin)113 doch sehr für ein Vorhandensein desselben. Die Autorfigur differenziert sich im Artusroman als gattungsspezifisches Merkmal aus.114 So stellt Warning fest,115 dass schon seit Chrétien im Artusroman eine Ausdifferenzierung dieser Maske stattfindet, indem die Autorfigur teils durch ironische Distanz,116 teils durch bewusst inadäquate Charakter-Konstruktionen117 von der histoire abgesondert wird. Umformuliert hinsichtlich der Aufführung bedeutet dies: Die Dichter der Artusromane sind durch immer deutlichere Ausarbeitung der sie repräsentierenden Masken darauf bedacht, sich trotz körperlicher Abwesenheit als Instanz der Aufführung zu stilisieren. Sie wollen bestimmte eigene nicht mit den Äußerungen eines Rezitators verwechselt wissen, weshalb sie an wichtigen Stellen die Rollenmarkierungen möglichst eindeutig gestalten. Bei der Einschätzung, ob man es in bestimmten Passagen mit einem Rollensprechen oder einer (schriftlich kreierten) Kommunikation zwischen körperlich Anwesenden zu tun hat, kommt dem Publikum eine 112 Vgl. EGIDI, 2004, S. 22; siehe Kapitel 2.1.2. 113 Beim Lohengrin-Roman (1283/89) besteht freilich der Unterschied, dass über die Wartburgkrieg-Rahmung das Sprechen als Wolfram im Gegensatz zum Jüngeren Titurel ‚fiktiv legitimiert‘ ist; vgl. CRAMER, 1971, S. 34f. Dennoch benutzen beide Romane die Maske des Wolfram-Erzählers gleichermaßen mit einer Selbstverständlichkeit, die einen Zweifel am Rollendenken gänzlich entkräftet. 114 Auf der Basis einer umfangreichen Textstellensammlung präsentierte Justin Vollmann 2011 einen Vergleich von Erzähleräußerungen in der Heldenepik und im Artusroman: „Das Ergebnis des Vergleichs lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die vorgängig Erzählsituation, in der das heldenepische Publikum noch überwiegend eingeschlossen ist, tendiert im Artusroman zu einem exklusiven Tête-à-tête des Erzählers mit der âventiure (wie es seit Wolframs Parzival dann ja auch gerne performativ ausgestaltet wird)“; VOLLMANN, 2011, S. 480. Die bisher veröffentlichten Ergebnisse Vollmanns, an denen die mit dem Artusroman stattfindende Zensur in der performativen Haltung schon gut nachzuvollziehen ist, stellen nur einen kleinen Auszug aus einem größeren Projekt dar, dessen Publikation zur Zeit der Drucklegung dieser Arbeit leider noch nicht stattgefunden hat. 115 Vgl. WARNING, 1979. 116 Vgl. ebd., S. 90f. und UITTI, 1979, S. 165. 117 Vgl. BUMKE, 1997, S. 128-130.

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entscheidende Position zu. Egidi erklärt die Aufgabe des Publikums anhand des Sänger-Ichs der Sangspruchdichtung und führt den Begriff der ‚Entscheidung‘ als basale rezeptive Kompetenz ein: „Die Möglichkeit der Referentialisierung (des textinternen Ich auf den Sänger) ist in einem solchen Modell also eher als Spiel konzipiert. [...] Konkret läßt sich die These potentiell widersprüchlicher Entscheidungen auf die vielfältigen Optionen der Referentialisierung bzw. ‚Aufspaltung‘ als Leistungen des Publikums übertragen [...]: In ihr lebt das skizzierte ‚Referentialisierungsspiel‘, das sich noch durch die Referenz auf den Autor im Sinne einer ‚Autorkonkretation‘ komplizieren kann. [...] Das Modell räumt den Zuhörern/Zuschauern somit erstens eigene Zuschreibungs- und Entscheidungsleistungen ein und zweitens eine potentielle aktive Teilnahme am kommunikativen Geschehen, gerade was die nonverbalen Kommunikationsmöglichkeiten betrifft [...]. [O]b der Sänger ‚tatsächlich‘ preist, tadelt, belehrt oder ob er diese Sprechakte inszeniert, ist den (potentiell wechselnden und widersprüchlichen) ad hoc118 Entscheidungen des Publikums anheimgegeben.“

Auf den höfischen Roman und das präsentierte Kommunikationsmodell übertragen, bedeutet dies, dass jeder einzelne Zuhörer in vielen unterschiedlichen Entscheidungen für sich bestimmt, ob er es beim vom Rezitator geäußerten ‚Ich‘ mit einem Rollenspiel oder einer (fingierten) direkten Aussage zu tun hat.119 Dadurch wird er zum kreativen Bestandteil des Ereignisses ‚Aufführung‘ und erfüllt so die im letzten Kapitel aufgestellten definitorischen Prämissen.120 Produktionsästhetisch formuliert bedeutet dies, dass der Dichter eingedenk der medialen Bedingtheit seines Romans (genauso wie er eine Autorfigur kreiert, die 118 EGIDI, 2002, S. 351-353. 119 Diese Entscheidungsleistung spricht im 13. Jahrhundert auch Thomasin von Zerklære dem Rezipienten zu, wenn er die am Imaginationsprozess beteiligten Kräfte der imaginatio und der memoria dem Diktat der ratio unterstellt; vgl. WELSCHER GAST, V. 8789-8832. Für eine Besprechung dieser Stelle siehe Kapitel 2.3. 120 Mit der Konstatierung dieser kreativen Teilhabe des Zuhörers am Aufführungsprozess werden andere, die Dynamik performativer Verfahren ignorierende Positionen obsolet: „Die in der Performanz zustandekommende ‚Präsenz‘ entzieht dem Hörer größtenteils die Möglichkeit interpretativer Selbststeuerung; BÄUML, 1998, S. 253.

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Die Bedingungen performativer Kommunikation

sich an postulierte Rezipienten121 wendet) zwei performativ zu nutzende Leerstellen erschafft, eine für den Rezitator, der sie in der Aufführung mit seiner individuellen körperlichen Präsenz ausfüllt, und eine für das Publikum, das sich in dieser face-to-face-Kommunikation direkt angesprochen fühlen soll. Dabei wird die vom Rezitator ausgefüllte Leerstelle der einfachen kommunikativen Gegebenheit gerecht, dass, wenn ohne weitere Einschränkungen eine Person ‚Ich‘ sagt, diese Sprachhandlung auch als ein Auf-sich-selbst-Verweisen verstanden wird. Man hat also im Folgenden davon auszugehen, dass eine schriftlich vorliegende, nicht weiter markierte Sprechinstanz vom Publikum mit dem ihnen sichtbaren Rezitator identifiziert wurde. „The convention of oral recitation implied that the ‚I‘ designated the performer, since the listener could refer it only to the individual pronouncing it.“122

Fazit: Nur ein Marker, der eindeutig eine andere Instanz impliziert, rechtfertigt es, im sprechenden Ich nicht den Rezitator, sondern eine Roman- oder Autorfigur zu sehen. Solche Marker, welche die Entscheidungen des Publikums für oder gegen ein Rollensprechen steuern, können Inquit-Formeln oder eine generelle dialogische Situation auf der Ebene der histoire sein: So wird eine Rollenrede als Figur angekündigt. Ebenso kann durch direkte Namensnennung oder einen Verweis auf die dichterische (d. h. ‚diktierende‘) Tätigkeit die Rolle ‚Autorfigur‘ eindeutig markiert werden. Auch das direkte Sprechen des Rezitators kann durch bestimmte Signale als ein solches festgelegt werden, zum Beispiel durch einen Wechsel aus dem narrativen Präteritum in das grammatikalische Präsens oder durch 121 Booth bezeichnet den Empfänger der Botschaften des impliziten Autors als „postulated reader“ (BOOTH, 1961, S. 157), Iser als „impliziten Leser“; ISER, 1972. Beide Studien verdeutlichen strukturalistisch die Selbstverständlichkeit, dass der fiktive Adressat eines Texts nie mit dem seiner realen Rezipientenschaft gleichzusetzen ist. Die ‚Postulierung‘ trifft im Gegensatz zum ‚impliziten Autor‘ auf den Rezipienten des höfischen Romans zu, denn schließlich wurde die Größe vom Dichter in Abwesenheit eines Publikums imaginiert und als notwendige, doch (noch) nicht zu konkretisierende Annahme nur in geringem Maße ‚charakteristisch‘ geformt. 122 ZINK, 1999, S. 22.

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eine an den Raum der Aufführung gebundene Deixis. Es wird zu den Aufgaben der folgenden textgebundenen Arbeitsschritte gehören, Beispiele für die Marker herauszuarbeiten, welche die Entscheidungen des Publikums lenken.

2.1.2 Poetria Nova: eine Rhetorik als Rollentheorie „Ich spiele nicht, ich bin das... Verstehen Sie? Und deswegen bin ich nichts!“ Klaus Kinski in der Talkshow Je später der Abend (1977)123

Eine Frage lässt das im vorigen Kapitel präsentierte Kommunikationsmodell noch offen. Es wird dort behauptet, dass der Rezitator in einem Rollenspiel die Instanzen der Autor- und der Romanfiguren verkörperte und sein Publikum das Rollenspiel auch als ein solches erkannte. Egidi stellt dies bei ihren Überlegungen zur Aufführungssituation der Sangspruchdichtung als nicht zu beweisende Präsupposition dar: „Dass ich mit einer letzten Endes nicht objektivierbaren Prämisse operiere, ist mir bewusst. Sie besteht darin, dass ich von einer wenigstens minimalen Rezeptionskompetenz ausgehe (z. B. der basalen Fähigkeit, zwischen Text-Ich und Sänger zu differenzieren)“.124

Egidi ist bei dem Übertrag der performativen Grundlagen auf die mittelalterliche Literatur selbst ihre größte Kritikerin, indem sie den Rollenbegriff als „nicht zu beweisende Präsupposition“ bezeichnet. Egidis Skepsis scheint jedoch ‚übervorsichtig‘.125 Im vorigen Kapitel diente schon die Verwendung der ‚Wolfram-Maske‘ im Jüngeren 123 http://www.youtube.com/watch?v=0xNhOmLtR5U (vom 15. 08. 2012), 6:30-7:15. Kinski spricht dort nicht über sich selbst, sondern referiert die Aussage eines englischen Schauspielers, der einst als der beste seiner Zeit galt, evtl. Charles Kemble. Später übertragen Kinski sowie seine Fangemeinde das Zitat gerne auf sich/ihn selbst. 124 EGIDI, 2004, S. 22. 125 „Thesen zur Performanz kommen indes, sofern sie eine größere Reichweite zu haben beanspruchen, grundsätzlich nicht ohne Präsuppositionen aus; [...] der Rückgriff auf den Text hat, wie bereits ausgeführt, wohlgemerkt

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Titurel als Indiz dafür, dass ein mittelalterlicher Rollenbegriff in seiner performativen Verwendung wie in seiner rezeptiven Akzeptanz keine ‚unbeweisbare Präsupposition‘, sondern eine Notwendigkeit darstellt. Zwecks einer historischen Darstellung des Rollenbegriffs soll ein Werk herangezogen werden, das aller Wahrscheinlichkeit nach für die Ausbildung der Vortragsfähigkeiten eines Rezitators des 12. und 13. Jahrhunderts größte Bedeutung gehabt haben muss. Das Lehrbuch Poetria Nova des Geoffrey von Vinsauf gilt als eine der wichtigsten zur Zeit des höfischen Romans entstandenen Einführungen in die Rhetorik und „fand sehr rasch Aufnahme in den Schulunterricht und dadurch weite Verbreitung.“126 Aufgrund seiner Widmung an Papst Innozenz III und des an Kaiser Heinrich VI. gerichteten Epilogs, in der eine Bittstellung für die Freilassung König Richard I. zu finden ist, lässt sich das Werk um 1199/1200, also in die so genannte ‚klassische‘ Phase der höfischen Literatur datieren.127 Aufgrund ihres großen Erfolges bekam das Werk den Ehrentitel Poetria Nova und wurde schon im 13. Jahrhundert kommentiert.128 Wenn man nun davon ausgeht, dass ein Rezitator des 13. Jahrhunderts eine grundlegende rhetorische Ausbildung genoss – was aufgrund der für das Mittelalter als Hochspezialisierung geltenden Lesefähigkeit sehr wahrscheinlich ist – eine ausschließlich illustrierende, keine argumentativ absichernde Funktion“; EGIDI, 2004, S. 22. Es trifft nicht nur für Thesen zur Performanz zu, dass Präsuppositionen die folgenden Ergebnisse bestimmen: Jeder interpretatorische Lektürevorgang hat mit denselben Voraussetzungen zu kämpfen, da es nur sehr schwer, zuweilen gar nicht gelingt, jenseits des interpretatorisch ‚Subjektivistischen‘ zu ‚Fakten‘ zu gelangen. Literaturforschung agiert genauso wie die performative Analyse in einem Gebiet zwischen ‚subjektiven‘ und ‚objektiven‘ Aussagen. Dass für die Performanzforschung der Rückgriff auf den Text nur eine das theoretische Modell illustrierende Wirkung haben könne, ist ebenfalls eine die Philologie als vermeintlich ‚sichere Wissenschaft‘ über die Performanzforschung erhebende Aussage: Der Effekt, dass sich als Zirkelschluss am Text im Nachhinein nur genau das beweist, was der Interpret zuvor theoretisch an diesen heranführte, kann bei interpretatorischer Arbeit genauso auftreten wie bei dem Nachweis performativer Spuren. Die heuristische Wertigkeit beider Arbeitsweisen ist gleich; die Skepsis gegen performative Prämissen beruht eher auf einer traditionellen philologischen Dominanz bei der Analyse mittelalterlicher Texte. 126 ZELZER, 1988, S. 220. 127 Vgl. ebd., S. 219. 128 Vgl. ebd. und WOODS, 1985.

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und dass diese Ausbildung nicht nur auf den klassischen Rhetoriken des Cicero oder Quintilian fußte, so kann die Poetria Nova aufgrund ihrer weit reichenden Verfügbarkeit129 als eine wahrscheinliche Grundlage seines Wissens gelten. Sie stellt eine zeitgenössische Umsetzung der antiken Lehren dar und lässt deshalb die Vermutung zu, dass die hier aufgezeichneten Anweisungen im Zusammenhang mit der in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts130 neu entstandenen höfischen Praxis des Romanvortrags stehen. Diese Hypothese lässt nicht nur die geographische Verbreitung des Werks zu; auch inhaltlich erweist sich Geoffreys Lehrbuch als ideal für die Ausbildung eines performativ arbeitenden (Vor-)Lesers. Dies liegt an seiner doppelten didaktischen Zielsetzung. Geoffrey unterweist seine Schüler wie folgt:

129 Die Poetria Nova ist in einer erstaunlichen Anzahl von über 200 Manuskripten aus dem 13. bis zum 15. Jahrhundert über ganz Europa verteilt; vgl. WOOD, 1985, S. XV. Majorie Curry Woods Studie zur Poetria Nova und ihren frühsten Kommentierungen zeigt, dass obwohl Geoffrey Engländer war und auch größtenteils auf der Insel lehrte, sein Werk in ganz Europa rezipiert wurde. Grund dieser weiten Streuung könnten die Reisen des Gelehrten nach Paris und Rom gewesen sein; vgl. ebd., S. XIII-XV. Sicher ist, dass die Poetria Nova im deutschsprachigen Gebiet sehr früh und sehr intensiv studiert wurde. Der Handschriftenbefund des von Wood untersuchten frühesten, in Glossen den Haupttext begleitenden Kommentars In principio huius libri legt hiervon Zeugnis ab: M (Bayrische Staatsbibliothek München) ist in Handschriften aus dem 13. und 14. Jahrhundert tradiert und war ursprünglich im Bestand des Klosters Benediktbeuren, Handschrift V und P (beide Österreichische Nationalbibliothek, Wien) sind beide in einer deutschen Hand aus der zweiten Hälfte bzw. Mitte des 13. Jahrhunderts geschrieben und auch die in der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel lagernde Handschrift G kann mit Sicherheit einem deutschsprachigen Schreiber aus der Mitte des 13. Jahrhunderts zugeordnet werden; vgl. ebd., S. XXXIXf. So beweisen die erhaltenen Handschriften für den deutschsprachigen Raum des 13. Jahrhunderts nicht nur die Verbreitung, sondern auch die intensive Beschäftigung mit Geoffreys Rhetorik. 130 Ich gehe davon aus, dass der Romanvortrag mit dem Eneas-Roman des Heinrich von Veldeke (dessen erste Teillesungen um 1174 stattfanden und der als um 1190 vollendet gilt (vgl. KARTSCHOKE, 1997, S. 857) und dem Erec des Hartmann von Aue (der in den ersten Jahren der 1180er Jahre begonnen und vor 1190 vollendet wurde (vgl. CRAMER, 1972, S. 444) etabliert wurde. Die Poetria Nova wurde somit zu einer Zeit rezipiert, in der sich eine Vortragstechnik schon seit mindestens 20 Jahren an den deutschen Höfen hatte entwickeln können. Zum Status von Heinrichs Eneas als Ausgangspunkt der höfischen Aufführungstradition siehe Kapitel 3.2.

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Poetria Nova: eine Rhetorik als Rollentheorie Non manus ad calamum praeceps, non lingua sit ardens Ad verbum: neutram manibus committe regendam Fortunae; sed mens discreta praeambula facti, Ut melius fortunet opus, suspendat earum Officium, tractetque diu de themate secum. (POETRIA, V. 50-54)

Lass deine Hand nicht zu schnell zum Kiel greifen noch deine Zunge zu schnell das Wort äußern: Empfiehl keinem von den beiden, die gelenkt werden müssen, den Händen der Fortuna an, sondern, um dem Werk ein besseres Geschick zu bescheren, soll ein Abstand nehmender, der Tat voranschreitender Geist ihre Aktivität stoppen und das Thema lange bei sich überdenken.

Es geht Geoffrey darum, nicht nur das Verfassen von Reden oder Dichtkunst im Allgemeinen zu lehren; genauso wie der Schüler seiner schreibenden Hand rationale Erwägungen voranstellen soll, so muss auch der lingua – ein metonymischer Ausdruck für die verbale Umsetzung des Texts – eine entsprechend verinnerlichte Lehre zugrunde liegen. Diese Lehre beinhaltet, den Darstellungen der pronuntiatio/actio der antiken Vorbilder entsprechend, auch bei Geoffrey nicht nur sprachliche Zeichen: [L]abor finalis, ut intret in aures Et cibet auditum vox castigata modeste, Vultus et gestus gemino condita sapore. (POETRIA, V. 84-86)

Als letzten Arbeitsschritt achte darauf, dass deine Stimme maßvoll zurückgehalten in die Ohren deiner Zuhörer gelangt und ihr Gehör mit dem doppelten Beigeschmack von Mimik und Gestik gewürzt ernährt.

Nach der schriftlichen Aus- oder Umarbeitung seines Texts soll der Schüler sich der Verwirklichung seines Vortrags zuwenden. Geoffrey beschreibt dabei aus einem rezeptionsästhetischen Blickwinkel die intendierte Wirkung der Worte: In einem Vorgang, der mit der körperli-

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chen Sättigung des Rezipienten verglichen wird, 131 dienen Mimik (vultus) und Gestik (gestus) als die entscheidenden Gewürze. Als wirklichen ‚Nährwert‘ eines Vortrags begreift Geoffrey in dieser Passage den Inhalt. Den Wirkungsgrad der nonverbalen performativen Elemente setzt er an späterer Stelle jedoch anders an. So heißt es zum Vorgang der auf den Vortrag ausgerichteten Textkorrektur: [F]allitur augur Casibus in multis. Dum sunt in mente sepulta Multa sedent animo, quae non tamen approbat auris. Esto quod, ut mulcet animum, sic mulceat aurem Et duo complaudant in idem. [...] Sit judex ergo triformis Propositi verbi: mens prima, secunda sit auris, Tertius et summus qui terminet usus. (POETRIA, V. 1962-73)

Der Augur versagt in vielen Fällen. Solange sie im Geiste vergraben sind, bleiben viele [Worte] im Herzen, welche das Ohr dennoch nicht billigt. Deswegen lass, was den Geist erfreut, das Ohr ebenso erfreuen und beide gleichermaßen zustimmen. Deshalb lasse den Richter eines vorliegenden Wortes dreifach sein: Zuerst sei es der Geist, dann sei es das Ohr und als drittes und höchstes der Gebrauch, der ausschlaggebend ist.

Der Augur, priesterlicher Zeichendeuter, dient als Bild für denjenigen, der die Wirkung des gesprochenen Worts aus dem geschriebenen Zeichen erahnt. Der Schüler soll ebenso wie der Priester ein Zukunftsdeuter sein, indem er aus dem Vogelflug der Schrift ihren zukünftigen Effekt im Vortrag bestimmen soll. Bei der Beurteilung, wie eine schriftlich dargelegte Phrase in ihrer performativen Realisierung auf den Zuhörer wirken könnte, soll er zuerst den akustischen Effekt einschätzen. Das Ohr ist dabei als ästhetisches Rezeptionsorgan wichtig, entscheidend ist letztendlich jedoch der usus, also die Verwendung der Phrase in einer konkreten Situation und unter Einfluss aller sie begleitenden nonverbalen Zeichen. Was für Geoffrey zu diesem usus als theoretisch 131 Siehe Kapitel 2.3.

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beschreibbare Komponenten jenseits der akustischen gehört, wird deutlich, wenn er die Verfahrensweisen ironischer Brechung erläutert: Contra ridiculos si vis insurgere plene, Surge sub hac specie: lauda, sed ridiculose; Argue, sed lepide gere te, sed in omnibus apte [...]. Praeveniens illum salvere jubeto magistrum. Nec minus interdum transverso lumine ride; Vel quodam rostro manuum quasi punge; vel oris Rictum distorque; vel nares contrahe: tales Ad formas non ore decet, sed naribus uti. (POETRIA, V. 431-454)

Willst du dich gänzlich gegen lächerliche Menschen richten, tu dies in folgender Art: Lobe, doch auf spaßhafte Weise; rüge, doch sei zugleich dabei witzig und in allem maßvoll. Komme [ihm] zuvor und lass ihn als Meister ziehen. Aber lache zwischendurch nicht zu wenig aus den Augenwinkeln. Entweder stich quasi mit einer Art Schnabel der Hände132 zu oder verziehe den offenen Mund oder rümpfe die Nase: Es ist angemessen, zu solchen Dingen nicht den Mund, sondern die Nase zu benutzten.

Kann man in den ersten drei Versen noch eine Ironieerzeugung durch entsprechende Intonation der vorgetragenen Sprache erkennen, also ein prosodisches Phänomen, so geht Geoffrey in den folgenden Versen auf die eigenständige Bedeutungserzeugung durch die zuvor nur als ‚Gewürze‘ des Vortrags behandelten Größen von Mimik und Gestik ein: der falsche, übertriebene Gruß und der ‚Schnabel der Hände‘ als den Sinngehalt verzerrende Gesten; die lachenden Augen, der verzogene Mund oder die gerümpfte Nase als den Textinhalt untergrabende Mimik. Geoffrey beschreibt somit das, was Fischer-Lichte in ihrer Semiotik des Theaters als paralinguistische, mimische und gestische Zeichen bezeichnet.133 Geoffrey ist sich des performativen Faktums bewusst,

132 Mit rostrum manuum ist wohl eine mit zusammengelegten Händen, vielleicht aber auch einhändig mit den Fingern ausgeführte Geste zu verstehen, welche die Aussage des gesprochenen Worts ironisch untergräbt. 133 Vgl. FISCHER-LICHTE, 1988, S. 36-47 und S. 48-87.

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dass Prosodie, Mimik und Gestik neben ihrem Dasein als ‚Würze‘ des Inhalts auch einen eigenen semiotischen Wert haben, der gegebenenfalls der sprachlichen Aussage des Vortrags entgegenwirken kann. Am deutlichsten formuliert Geoffrey die Autonomie der performativen Sinnerzeugung im letzten Abschnitt der Poetria Nova: In recitante sonent tres linguae: prima sit oris, Altera rhetorici vultus, et tertia gestus. (POETRIA, V. 2036f.)

Beim Rezitierenden lass drei Sprachen klingen: Die erste sei die des Mundes, die andere die Beredsamkeit des Gesichts und die dritte die der Geste.

Die Gewichtung der performativen Anteile des Vortrags sowie deren Dreiteilung in Prosodie, Mimik und Gestik ist ursprünglich nicht Geoffreys Verdienst: Sie findet sich in ähnlichen Formen bereits in seinen Vorlagen, vor allem der Rhetorica Ad Herennium134 und Quintilians’ Institutio Oratoria.135 In beiden Werken wurden neben Ciceros De Oratore die entscheidenden Einflüsse auf Geoffreys Ausführungen zur Vortragspraxis erkannt.136 Geoffrey nimmt jedoch gegenüber seinen Vorlagen eine Neugewichtung vor, die hinsichtlich der Frage nach einem performativen Rollenverständnis von entscheidender Aussagekraft ist. In der Rhetorica Ad Herennium heißt es: Hoc tamen scire oportet pronuntiationem bonam id perficere, ut res ex animo agi videatur. (AD HERENNIUM, III,27) Dieses muss man jedoch wissen, dass ein guter Vortrag es bewirkt, dass es scheint, als ob die Rede aus dem innersten Herzen kommt.

134 „Pronuntiatio est vocis, vultus, gestus moderatio cum venustate“; AD HERENNIUM, I,3 (‚Der Vortrag ist der maßvoll abgestufte, anmutig feine Einsatz von Stimme, Mienenspiel und Gebärden‘; Übersetzung: THEODOR NÜßLEIN). 135 „adfectus omnes languescant necesse est, nisi voce, vultu, totius prope habitu corporis inardescunt“; INSTITUTIO, XI, 3,2. (‚Alle Gefühlswirkungen müssen matt werden, wenn sie nicht ihr Feuer erhalten durch die Stimme, das Mienenspiel und nahezu alles in der Haltung des Körpers‘; Übersetzung: HELMUT RAHN). 136 Vgl. GALLO, 1971, S. 221f.

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Der gute Vortrag erzeugt beim Rezipienten den Eindruck, das zu vermittelnde Gefühl sei ein echtes. Wie der Redner diese Gefühlsevokation jedoch bewirken soll, lässt der Verfasser der Rhetorica Ad Herennium offen. Genaueres ist hierzu bei Quintilian zu finden: Iam enim tempus est dicendi, quae sit apta pronuntiatio: quae certe ea est, quae his, de quibus dicimus, adcommodatur. quod quidem maxima ex parte praestant ipsi motus animorum, sonatque vox, ut feritur: sed cum sint alii veri adfectuc alii ficti et imitati, veri naturaliter erumpunt, ut dolentium, irascentium, indignantium, sed carent arte ideoque sunt disciplina et ratione formandi. contra qui effinguntur imitatione, artem habent, sed hi carent natura, ideoque in iis primum est bene adfici et concipere imagines rerum et tamquam veris moveri. (INSTITUTIO, XI 3,61f.)

Denn nun ist es an der Zeit zu sagen, was der passende Vortrag ist; es ist gewiß der, der sich dem, wovon wir sprechen, anpaßt. Das leistet zwar größtenteils die innere Erregung selbst, und es klingt die Stimme, wie man sie zum Klingen bringt. Da aber die Gefühle teils echt, teils verstellt und nachgeahmt sind, brechen die echten in natürlicher Weise hervor, etwa wenn man Schmerz, Zorn, Entrüstung empfindet, es fehlt ihnen aber die kunstvolle Gestaltung und deshalb müssen sie durch Schulung und Überlegung ihre Form gewinnen. Umgekehrt besitzen diejenigen, die durch Nachahmung dargestellt werden, zwar die kunstgemäße Gestaltung, aber es fehlt ihnen die natürliche Grundlage, und deshalb ist es bei solchen Darstellungen das Erste, sich richtig ergreifen zu lassen, die Bilder der Geschehnisse in sich aufzunehmen und sich rühren zu lassen, als wären sie wirklich.137

Quintilian stellt die Frage, ob die Erregung eines Gefühls beim Rezipienten besser funktioniere, wenn es durch eine kunstgerechte Nachahmung oder aber mittels eines wirklichen Durchlebens des Gefühls durch den Redner erzeugt werde. Diese Frage ähnelt dem die moderne Schauspieltheorie bis heute mitbestimmenden Diskurs um das Diderot’sche Paradoxe sur le Comédien. In diesem 1769 entstandenen, als Dialog verfassten Essay stellt Diderot die Frage, ob der ‚heiße‘ oder der ‚kalte‘ 137 Übersetzung: HELMUT RAHN.

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Schauspieler der bessere sei. Das Paradox ergibt sich aus Diderots Antwort auf diese Streitfrage, denn nach seiner Überzeugung besteht das Paradox des Schauspielers darin, daß Gefühle und Leidenschaften nur in kritischer Distanz zur Rolle, bildlich gesprochen: nur im Zustand der Kälte, überzeugend dargestellt werden können.138 „Aber, sagt man, ein Redner ist umso besser, je mehr er sich erhitzt, je mehr er in Zorn gerät. Das bestreite ich. Man müßte sagen: je besser er den Zorn nachahmt. Schauspieler machen Eindruck auf das Publikum, nicht wenn sie rasend sind, sondern dann, wenn sie die Raserei gut spielen. Vor Gericht, in Versammlungen und an allen Orten, an denen man Herr über andere Geister werden will, täuscht man bald Zorn, bald Furcht, bald Mitleid vor, um die anderen zu diesen Gefühlen zu bringen. Was die Leidenschaft selbst nicht leistet: die gut nachgeahmte Leidenschaft bringt es zuwege.“139

Quintilian gibt auf diese Frage eine andere Antwort. Zwar mangele es dem wirklichen Gefühl an Kunstfertigkeit, doch der effektive Redner müsse dennoch in sich das Gefühl ‚wie ein wahres‘ (tamquam veris) erzeugen. Quintilian fordert also keine schauspielerische ‚Als-obKälte‘, sondern die nachempfindende Erzeugung von echten Gefühlen im Darsteller. Seine Position weist somit – betrachtet im Rahmen der Schauspieltheorie – eine geistige Verwandtschaft mit der in Deutschland von Lessing adaptierten „schöne[n] Metaphysik von der Kunst des Schauspielers“140 auf, die noch vor Diderot (1747) von Rémond de Sainte-Albine entwickelt wurde. Dieser fordert nicht die kritische Distanz zur Rolle, sondern setzt ganz im Gegenteil „die Leichtigkeit, [mit der Schauspieler] in ihren Seelen die verschiedensten Leidenschaften, deren ein Mensch fähig ist, aufeinander folgen [...] lassen“,141 als darstellerisches Ideal. Dabei sind die Empfindungen, ebenso wie es Quintilian fordert, Nachahmungen, die der Schauspieler in sich selbst erzeugt.142 138 139 140 141 142

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Vgl. LAZAROWICZ/BALME, 1991, S. 155f. Diderot, 1991, S. 163; Übersetzung: BASSEGE/ LÜCKE. Sainte-Albine übersetzt in LESSING, 1991, S. 142. Ebd., S. 140. „Wollen die tragischen Schauspieler [...] uns täuschen; so müssen sie sich selbst täuschen. Sie müssen sich einbilden, daß sie wirklich das sind, was

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Zwischen diesen beiden unterschiedlichen Methoden der Affekterzeugung durch den Redner bzw. Darsteller nimmt Geoffrey einen Standpunkt ein, der ihn von den älteren Rhetorikern unterscheidet: Ira, genus flammae materque furoris, ab ipso Folle trahens ortum, cor et interiora venenat; Pungit folle, cremat flamma, turbatque furore, Exit in hac ipsa forma vox fellea, vultus Accensus, gestus turbatus; et interiorem Exterior sequitur motus, pariterque moventur Alter et alter homo. (POETRIA, V. 2046-52)

Zorn, eine Art Flamme und Mutter der Raserei, durch seinen eigenen Blasebalg bewirkt er [sein] Entstehen, vergiftet Herz und Eingeweide; er verletzt durch seine Balgstöße, er verbrennt durch Flammen und stürzt durch Raserei in Verwirrung. In der gleichen Gestalt greift eine gallige Stimme an, ein erhitztes Gesicht oder wirbelnde Gesten. Der äußere Aufruhr folgt dem inneren und der eine wie der andere Mensch sind gleichsam bewegt.

Das echte Gefühl wird von Geoffrey über das Bild des Feuers – das Bild, das Jahrhunderte später Sainte-Albine zur Beschreibung eines Idealzustandes benutzen wird –143 als ein destruktiver Angriff dargestellt. Es bewirkt, dass im Inneren wie am Äußeren des Redners und deshalb auch im Zuhörer ein dem Wesen der Kunst widersprechender Aufruhr erzeugt wird. Als Mittel gegen diese zerstörerische Wirkung des echten Gefühls führt Geoffrey im Gegensatz zum Verfasser der Rhetorica Ad Herennium und zu Quintilian den Begriff der persona (Maske oder Rolle) ein:

sie vorstellen; eine glückliche Raserei muss sie überreden, daß sie selbst diejenigen sind, die man verrät, die man verfolgt. Dieser Irrtum muß aus ihrer Vorstellung in ihr Herz übergehen, und oft muß ein eingebildetes Unglück ihnen wahrhafte Tränen auspressen“; ebd., S. 141. 143 Vgl. ebd., S. 140f.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf Personam si geris ejus, Quid recitator ages? Veros imitare furores. Non tamen esto furens: partim movearis ut ille, Non penitus; motusque tuus sit omnibus idem, Non tantus; sed rem, sicut decet, innue. Gestum Praesentare potes agrestis et esse facetus. Vox vocem, vultus vultum gestusque figuret Gestum per notulas. (POETRIA, V. 2052-59)

Wenn du diese persona [die Maske oder Rolle des Zornigen] aufführst, was musst du als Rezitator tun? Imitiere wahre Ausbrüche des Zorns, sei dennoch nicht zornig; sei nur ein Stück weit wie jener [der Zornige] bewegt, nicht im Innern, und deine Bewegung soll der seinen in allem gleichen, doch nicht gleich groß sein. Deute vielmehr das Thema [den Zorn] im Rahmen des Schicklichen an. Du kannst die Gesten eines Wilden vorspielen und doch gelassen bleiben. Deine Stimme soll die Stimme, dein Gesicht das Gesicht und deine Gesten die Gesten nachbilden – über Andeutungen.

Für Geoffrey muss der ideale Redner das Gefühl über die persona darstellen, er muss sich von jeglicher wirklichen Erfahrung des Gefühls fernhalten, um so kunstfertig per notulas die Emotion dem Rezipienten zu überlassen. Im Großen und Ganzen unterscheidet sich dieser Standpunkt Geoffreys somit nicht von dem des rund 570 Jahre jüngeren Diderot: In einem paradoxen performativen Vorgang erschafft der Redner dadurch, dass er kalt bleibt, die emotionale Hitze beim Rezipienten. Bei Geoffrey gibt es im guten Vortrag kein ‚wahres‘ Gefühl mehr; er sieht den Vortragenden als einen Rollenspieler und dessen Publikum als einen über die Rolle bewegten, aktiven Bestandteil des performativen Prozesses; ‚aktiv‘ insofern, als dass der Rezipient aus den bloßen Andeutungen ein wahres Gefühl erschafft. Es gilt hier zu bedenken, dass Geoffrey auch den persona-Begriff einer seiner Vorlagen entlehnt, und zwar aus Ciceros De Oratore bzw. in seiner weiten Bedeutung eventuell auch aus dessen Werk De Officiis.144 Seine Proklamierung des Vortragenden als Rollenspieler 144 Siehe Kapitel 2.1.1.

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ist jedoch neu. Denn bei Cicero heißt es in der Rede des Marcus Antonius,145 der sich durch seinen praktischen Sinn im Umgang mit der Rhetorik auszeichnet: Neque fieri potest, ut doleat is, qui audit, ut oderit, ut invideat, ut pertimescat aliquid, ut ad fletum misericordiamque deducatur, nisi omnes illi motus, quos orator adhibere volet iudici, in ipso oratore impressi esse atque inusti videbuntur. Quod si fictus aliqui dolor suscipiendus esset et si in eius modi genere orationis nihil esset nisi falsum atque imitatione simulatum, maior ars aliqua forsitan esset requirenda. (ORATOR, II,189)

Es ist auch nicht möglich, dass der Zuhörer Schmerz, dass er Hass, dass er Unwillen empfindet, dass er in heftige Furcht vor etwas gerät, dass er dazu gebracht wird, zu weinen und Mitleid zu fühlen, wenn nicht alle diese Regungen, welche der Redner beim Richter hervorrufen möchte, dem Redner selbst tief ins Herz gebrannt erscheinen. Wenn er sich also irgendeinem erheuchelten Schmerz überlassen müsste und in einer derartigen Rede es nur Falsches und durch Nachahmung Vorgetäuschtes gäbe, wäre vielleicht eine noch größere Kunst erforderlich.146

Marcus Antonius vertritt wie Quintilian und der Verfasser der Rhetorica Ad Herennium die Ansicht, dass „in der Redekunst natura wichtiger ist als ars“,147 dass es also beim Redner des wahren Gefühls bedarf, um beim Rezipienten (respektive Richter) das gleiche Gefühl auszulösen. Wenn diese Affektübertragung nur auf Nachahmung beruhe, bedürfe es einer Kunst, die Marcus Antonius nicht einsichtig wäre. Er gibt in den folgenden Überlegungen zu bedenken, dass die Rede (in 145 Da es sich bei De Oratore um einen als Gespräch abgefassten Text handelt, ist es schwer, die Meinung Ciceros zu bestimmen. Die wichtigsten Antagonisten des Gesprächs sind Lucius Licinius Crassus, ein strenger Theoretiker, und Marcus Antonius, ein praktisch veranlagter Rhetoriker (vgl. MANNSPERGER, 1988, S. 1017f.). Die vorliegende Arbeit tendiert dazu, Ciceros eigene Stellung zwischen diesen beiden Extremen zu verorten, lässt aber, da hinsichtlich der performativen Aussagen zum Vortrag der Praktiker natürlich ausschlaggebender ist als der Theoretiker, nur Antonius zu Worte kommen. 146 Übersetzung: THEODOR NÜßLEIN. 147 NÜßLEIN, 2007, S. 631.

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ihrer konzeptuellen Verfasstheit) natürlich etwas Künstliches, Erfundenes sei, das sich nur schwer mit echten Gefühlen vereinen ließe. Und genau an dieser Stelle – die dem Diderot’schen Paradox entspricht – exemplifiziert er den Zusammenhang nicht wie gewohnt an der Gerichtsrede, sondern an der persona des Schauspielers: Sed ut dixit, ne hoc in nobis mirum esse videatur, quid potest esse tam fictum quam verus, quam scaena, quam fabulae? Tamen in hoc genere saepe ipse vidi, ut ex persona mihi ardere oculi hominis histrionis viderentur [...]. (ORATOR, II,193) Aber damit das, wie gesagt, nicht verwunderlich erscheint an uns: Was kann denn so sehr erfunden sein wie Dichtung, wie das Geschehen auf der Bühne, wie Schauspiele? Dennoch habe ich hier oft selbst gesehen, wie die Augen eines Schauspielers aus der Maske [persona] heraus zu glühen scheinen [...].148

Was Marcus Antonius als die zum Gefühl regende Eigenschaft des Schauspielers sieht, ist das ‚Echte‘, das durch die Maske des Schauspielers hindurch scheint. Die persona wird also nicht als ein Mittel der Emotionserzeugung gesehen, sondern vielmehr als ein zu durchdringendes Hindernis. Geoffrey beschreibt also genau das Gegenteil von dem, was er bei Cicero zur Wirkung der persona vorfindet: Für ihn ist gerade die künstlich erschaffene Rolle bzw. die vom Redner angelegte Maske das angemessene Mittel der Gefühlserzeugung. Setzt man diese Neuakzentuierung der persona in Kontext zur kurz vor der Poetria Nova aufkommenden kulturellen Praxis des Romanvortrags, so erscheinen die Bedenken bezüglich eines Rollenverständnisses der höfischen Literaturgemeinschaft unbegründet. Die Maske der Autorfigur, die ein Rezitator genauso wie die Masken der Romanfiguren in der performativen Verwirklichung des Texts anzulegen hatte, war als rhetorischer Grundsatz bekannt und dies nicht aufgrund einer Übernahme antiker Traditionen, sondern aufgrund einer unabhängigen Ausgestaltung rollenspielerischer Techniken. Teil dieser Techniken war eine dem Rezitator zugestandene Eigenständigkeit im Umgang mit dem sprachlichen Material, so zum Beispiel die Möglichkeit, mittels einer 148 Übersetzung: THEODOR NÜßLEIN.

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als eigenes Sprachsystem begriffenen Mimik und Gestik die schriftlichen Verse nach seinem Gutdünken zu variieren. Gerade letzteres scheint häufig der Fall gewesen zu sein, weswegen die Dichter der höfischen Romane diverse Strategien entwickelten, um dieser autonomen Bedeutungserzeugung des Rezitators entgegenzuwirken.149

2.2 Wahrnehmung: Autopsie und Kinästhetik 2.2.1 Das bewegte Schema: Vorüberlegungen zum Körperbild der kinästhetischen Wahrnehmung „Ich interessiere mich für Sprache, weil sie mich verletzt oder verführt.“ Roland Barthes, Lust am Text150

Der Fokus der vorliegenden Studie ist ein rezeptionsästhetischer; die Wahrnehmung des literarischen Ereignisses durch ein mittelalterliches Publikum gilt ihr als entscheidender Faktor: „Die Frage, was das Performative an Darstellungsformen – sei es Film, Text oder Aufführung – ausmacht, ist zugleich die Frage danach, welchen Anteil das Sensorische an ihnen hat. Was immer als performativ bezeichnet werden kann, ist ohne Wahrnehmung nicht denkbar, denn konstitutiv für Performativität ist ihre Zweipoligkeit. Sie erstreckt sich zwischen dem, das greifbar, hörbar und sichtbar vorliegt und demjenigen, der dadurch ‚angesprochen‘ wird, dem es durch Wahrnehmung 151 zum Ereignis werden kann.“

Dabei ist zu bedenken, dass – auch wenn man dazu tendiert, den Gebrauch unserer fünf Sinne als ein historisches Kontinuum zu betrachten – Wahrnehmung ein historisch wandelbares Phänomen ist. Jedes

149 Siehe Kapitel 3.1 und 3.2. 150 BARTHES, 1974, S. 58. 151 Vgl. GRONAU u. a., 2004, S. 15.

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Medium,152 jede anthropologische Verortung des Menschen und seines Körpers führt zu einem anderen Verständnis von Wahrnehmung und dies wiederum zu anderen Strategien, mit denen diese Wahrnehmung in Kunstwerken stimuliert bzw. simuliert wird. Für den Modus des Narrativen stellt sich die Frage, auf welche Weise in den Texten Strategien zu finden sind, die in der performativen Umsetzung bestimmte Wahrnehmungsmuster ansprechen oder diskutieren. Dabei gilt es, die Körperlichkeit eines mittelalterlichen Rezipienten im interpretatorischen Lektürevorgang mit zu imaginieren.153 Der für dieses Vorhaben fruchtbarste Ansatz hinsichtlich der höfischen Epen ist Horst Wenzels und Christina Lechtermanns Übertrag des wahrnehmungstheoretischen Begriffs der ‚Kinästhetik‘ auf mittelalterliche Rezeptionsmodalitäten.154 Lechtermann beschrieb zusammen mit Carsten Morsch in der bislang umfangreichsten Publikation zur Anwendung der Kinästhetik auf kulturwissenschaftliche Forschungsobjekte den Begriff in seiner weitesten Bedeutung: „Der Begriff der ‚Kinästhetik‘ [...] ermöglicht eine Fragestellung, die in besonderer Weise Wahrnehmung und Bewegung als Gemeinsames in den Blick nimmt. Abgeleitet von ‚Kinästhesie‘ (H. Ch. Bastian), der Fähigkeit also, die Position und Richtung von Körperteilen und ihren Bewegungen zu kontrollieren und zu steuern, bezeichnet er, eng gefaßt, die Lehre von Bewegungssensationen [...]. Kinästhetik ist [...] beschreibbar als die Lehre über eine bestimmte Sensation, einen Sinn, der den anderen zur Seite tritt und mitbestimmt, wie man seine Umwelt und sich in ihr wahrnimmt; und sie ist zugleich mehr als das, sie ist die Lehre davon, wie Wahrnehmungsroutinen überhaupt erst erlernt werden, indem ihr Nachvollzug am eigenen Körper darin einübt, wie man in einem bestimmten historischen Moment und in einer bestimmten Gesell155 schaft den Dingen und dem Anderen begegnet.“

152 „Medien machen Dinge wahrnehmbar“; ebd., S. 17. Aus diesem Grund ist die Frage nach der Historizität von Wahrnehmung gleichbedeutend mit einer Frage nach dem „Aisthetisierungspotential historisch sich verändernder Medienkonstellationen“; ebd. 153 Ebd., S. 16. 154 Vgl. WENZEL/LECHTERMANN, 2001. 155 LECHTERMANN/MORSCH, 2004, S. If. Zu einer Erläuterung der Begriffsgeschichte vgl. ebd., S. I-IV.

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In ihrem unspezifischen Sinn beschreibt Kinästhetik die subjektive Erfahrung eigener und die Wahrnehmung fremder motorischer Vorgänge, quasi-kinetische Lernvorgänge am eigenen Körper und die intersubjektive Mitteilbarkeit von Bewegung durch ein Kunstwerk. Hier ist zu bedenken, dass sich die Auffassung von Kinetik bei einem Übertrag von der Physiologie auf die Literatur enorm verändert.156 Es geht bei der literarischen Kinästhetik nicht um körperliche, sondern um geistige Bewegung, die in der Imagination des Rezipienten stattfindet. „Kinästhetik kann vor dieser Folie als Suchbegriff verstanden werden, der danach fragt, wie jemand durch Medien als Wahrnehmender, das heißt, als Hörender oder Lesender, als Sehender und (sich) Spürender in Bewegung versetzt werden kann [...]; ein Suchbegriff, der erlaubt, auf mediale Strategien zu fokussieren, die kinästhetische Wahrnehmungserfahrungen an- und überbieten können.“157

Die Texte sind nach dieser Definition als Konservatoren zweier Bewegungsarten im Latenzzustand zu verstehen:158 der Bewegung der Figuren durch die fiktive Welt und der Bewegung des Geistes im Vorgang der Imagination. Die Fragen, die man an den Text herantragen kann, sind somit einerseits, in welcher Weise er fiktive Bewegung abbildet und wie andererseits die kinetische Latenz im Rezeptionsvorgang aktualisiert werden kann. Beim höfischen Roman kommt dem Vortrag die Funktion einer Rückbindung der entkörperten, textlich tradierten Bewegung an den Körper des Rezipienten zu, wobei ‚Körper‘ als zweiteiliger Begriff verstanden werden muss: Einerseits meint er die reale Physis des Rezipienten, seine Haut, seine Nerven und Organe, die im Rezeptions156 Bei Lechtermann und Morsch wird dieser Wandel nicht problematisiert. Grund hierfür ist, dass, je mehr sich die kinästhetischen Untersuchungen von ihrem disziplinären Ursprung entfernen, Bewegung zunehmend ‚unkörperlich‘ und damit zur Metapher wird. Diese ‚Metaphorisierung‘ und damit stetige semantische Auflösung forschungstechnischer Begriffe zählt zu den unvermeidbaren Nebeneffekten interdisziplinärer Forschung. 157 Ebd., S. IVf. 158 Lechtermann und Morsch führen zur Beschreibung dieses Latenzzustandes den Begriff der ‚virtuellen Welten‘ ein: „Virtuelle Welten sind Angebote, Wahrnehmungswelten im Status der Latenz, Möglichkeiten, die nicht notwendigerweise eintreten, d. h. sich aktualisieren müssen“; ebd., S. VII.

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vorgang meist arbiträr, seltener auch gezielt durch die Laute der Sprache gereizt werden können.159 Andererseits meint ‚Körper‘ aber auch ein Abbild, das sich der Zuhörer von sich selbst macht, um die Reize der fiktiven Bewegungen mit- bzw. nachzuvollziehen. Neurologische Experimente lassen den Verdacht aufkommen, dass diesen Nachvollzug keine abstrakten, über den Intellekt laufenden Mechanismen bestimmen, sondern dass es sich hierbei um einen unmittelbaren Nachvollzug handelt, anhand dessen sich der Unterschied zwischen realer und virtueller Bewegung nur noch bedingt aufrechterhalten lässt. Die seit den letzten Jahren auch in der Betrachtung von Literatur wieder in Mode kommenden Studien zu Spiegelneuronen, die im Gehirn des Menschen unabhängig davon feuern, ob eine Handlung wirklich oder nur imaginär durchgeführt wird,160 verändern den ontologischen Status von Literatur als Ansammlung virtueller Handlungsangebote, da allem Anschein nach das menschliche Gehirn von seinen neuronalen Grundlagen her gar nicht zwischen Realität und Virtualität zu unterscheiden weiß. Somit ist auch der Nachvollzug virtueller Handlungsangebote über einen vom Rezipienten erschaffenen Avatar als weitaus unmittelbarer und weniger bewusst zu verstehen, als es die folgenden theoretischen Überlegungen erscheinen lassen mögen. Der Gedanke, solch einen Avatar – ein ‚Körperschema‘161 – in die Mechanismen der Rezeption mit einzubeziehen, macht es notwendig, in Form eines Exkurses weitere Bälle in das kulturwissenschaftliche Jonglierspiel aufzunehmen. Bei bestimmten Modi der Rezeption – wie bei der kinästhetischen Wahrnehmung – meint ‚Körper‘ mehr als nur die Physis des Rezipienten. Bevor man den Rezeptionsmodus mittelalterlicher Romane selbst konkretisiert, ist es deshalb unumgänglich, sich die Bedingungen der Erschaffung solch eines Ich-Abbilds vor Augen zu führen. 159 Gemeint sind die Wirkungsweisen der Sprache, welche unter dem Schlagwort der ‚Grausamkeit‘ in Kapitel 2.3 und 4.1.2 im Zentrum der Betrachtung stehen. 160 Grundlegend für die Literaturwissenschaft und mit weiterführender Literatur: LAUER, 2007. 161 Ich verwende den Begriff im Sinne Hans Joas’, der in dem Kapitel „Die Konstitution des Körperschemas“ aus Die Kreativität des Handelns eine umfassende Darstellung dieses Phänomens – jedoch ohne Bezug auf seine medialen oder fiktionsvermittelnden Implikationen – geliefert hat; vgl. JOAS, 1992, S. 245-269.

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Initialisieren lässt sich eine Bestimmung des ‚Körperschemas‘ über die Lacan’sche Psychologie. Lacans Betrachtungen nehmen ihren Ausgangspunkt in der frühkindlichen Entwicklung und liefern mit dem ‚Spiegelstadium‘ ein heuristisches Instrumentarium dafür, einen Körper zu begreifen, der sich selbst nur als Abbild seiner selbst begreifen kann. „Die totale Form des Körpers, kraft der das Subjekt in einer Fata Morgana die Reifung seiner Macht vorwegnimmt, ist ihm nur als ‚Gestalt‘ gegeben [...]. Sie [die Gestalt] geht schwanger mit den Entsprechungen, die das Ich (je) vereinigen mit dem Standbild, auf das hin der Mensch sich projiziert [...]. Für die Imagines – wir haben das Vorrecht, zu sehen, wie ihre verschleierten Gesichter in unserer alltäglichen Erfahrung und im Halbschatten symbolischer Wirksamkeit Konturen gewinnen – scheint das Spiegelbild die Schwelle der sichtbaren Welt zu sein, falls wir uns der spiegelartigen Anordnung überlassen, welche die Imago des eigenen Körpers in der Halluzination und im Traum darbietet [...].“162

Das Subjekt erfasst sich selbst nur als seine ‚Gestalt‘, als eine Projektion seiner selbst auf ein mit ‚Ich‘ bezeichnetes Abbild, welches sich im Spiegel oder in den Ich-Abbildern (den ‚Imagines‘ im Vokabular Freuds) des Traums entdecken lässt. Dabei ist das im frühkindlichen Alter erschaffene Abbild nicht Selbstzweck, sondern erfüllt eine bestimmte Funktion: „Die Funktion des Spiegelstadiums erweist sich uns [...] als ein Spezialfall der Funktion des Imago, die darin besteht, daß sie eine Beziehung herstellt zwischen dem Organismus und seiner Realität – oder, wie man 163 zu sagen pflegt, zwischen der Innenwelt und der Umwelt.“

Mit anderen Worten: Das Abbild dient als Medium – wobei die mediale Funktion nicht nur visuell, sondern schon bei Lacan dezidiert als stimmliche Funktion beschrieben wird.164 Das Abbild (visuell wie als abbildende Stimme) erweitert – im Sinne der medialen ‚Extension of

162 LACAN, 1975, S. 64f.; Hervorhebungen im Original. 163 Ebd., S. 66. 164 Zur ‚Stimmlichkeit‘ der Lacan’schen Konstruktion vgl. ABDEL RAHMAN, 2011, S. 196-198.

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Man‘ –165 den Körper hinein in eine Sphäre, in der er mit der Realität und ihren Objekten in Kontakt treten kann. In dieser kommunikativen Funktion wird das Lacan’sche Denkmuster in der Philosophie MerleauPontys von größter Bedeutung, der in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung mit dem Begriff der intercorporalité die Beobachtung beschreibt, dass alle Wahrnehmung nicht nur auf der eigenen Körperlichkeit, sondern auf der Verschränkung der (konstruierten) eigenen Körperlichkeit mit der Erfahrung der anderen Körper beruht.166 Dabei stellt Merleau-Ponty das Entwickeln eines ‚Körperschemas‘ als einen Vorgang dar, der Teil hat an der für theatrale Belange entscheidenden Begriffsdichotomie ‚Präsentation/Repräsentation‘. Er tut dies über das Beispiel des Einschlafens: „[I]ch strecke mich in meinem Bette aus, auf der linken Seite, die Knie leicht angezogen, ich schließe die Augen, ich atme langsamer, ich löse mich von jederlei Vorhaben. Doch hier hat das Vermögen meines Willens und meines Bewußtseins seine Grenze. Wie in den dionysischen Mysterien die Gläubigen den Gott anriefen, indem sie Szenen seines Lebens mimisch darstellten, so beschwöre ich die Heimsuchung durch den Schlaf herauf, indem ich Atem und Haltung eines Schläfers nachahme. Der Gott ist da, wenn die Gläubigen sich von der Rolle, die sie spielen, nicht mehr unterscheiden [...]. So gibt es einen bestimmten Augenblick, in dem der Schlaf ‚kommt‘: er überlagert sich jener Nachahmung seiner, die ich ihm darbot, es gelingt mir zu sein, was ich zu sein 167 fingierte [...].“

Indem der Körper sich selbst auf das Bild eines Schlafenden projiziert und sich nachahmend wie dieses positioniert, vollzieht er den Übergang von der Repräsentation zum Präsent-Sein des Schlafes. Dies ist Morpheus’ Metamorphose, eine rituelle Wandlung, die man (an weniger profanen Beispielen als dem Schlaf) als ‚magisch‘ oder beispielsweise bei der Eucharistie als ‚heilig‘ bezeichnen würde.

165 Gemeint ist hier McLuhans Interpretation der Medien als „extensions of man“, als Werkzeuge also, welche die Sinneswahrnehmungen des Rezipienten verlängern; vgl. MCLUHAN, 1964. 166 Vgl. MERLEAU-PONTY, 1965. 167 Ebd., S. 196.

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Nun sprechen Lacan wie Merleau-Ponty von der Wahrnehmung des Menschen im Allgemeinen. Doch das Denkmuster eines Subjekts, das erst durch seine Verbildlichung zur Welt kommen kann, trifft bei der Rezeption kultureller Produkte – die dem Bild ohnehin näher als der Realität stehen – nur umso mehr zu. Überträgt man die kommunikative und die wandelnde Funktion des Körperschemas auf den Untersuchungsgegenstand des lauschenden höfischen Publikums, so muss man es sich wie folgt vorstellen: In den Grenzen der Aufführung imaginiert der Zuschauer sich einen Körper, der in Kontakt zur vom Rezitator dargebotenen Fiktion tritt. Dieses Körperschema kommuniziert als Stellvertreter der realen Physis auf einer Zwischenebene von Realität und Fiktion. Dabei ist es vom Wesen her imaginiert, also ein Repräsentant, der jedoch die Tendenz besitzt, eng am realen Leib geführt zu werden und (evtl. auch aufgrund der neuronalen Indifferenz hinsichtlich realer und virtueller Handlungen) von der Repräsentation zur wahren Präsenz der leiblichen Erfahrung führen kann. Aus soziologischer Sicht – und wiederum unabhängig von der Rezeption ästhetischer Objekte – beschreibt George H. Mead diesen Übergang wie folgt: „Erst wenn das lebendige Individuum sich selbst zum Objekt wird, und erst, wenn diese Erfahrung mit ihm selbst identifiziert wird – im sozialen Verhalten –, erst dann findet die Identifizierung dieser Erfahrung 168 mit dem Ich statt.“

Im Zusammenfallen vom Spielgelbild und dem sich spiegelnden realen Körper, in der Überschneidung von Abbild und Original, findet die Erfahrung statt. Mead sieht als Movens dieser Verschaltung das soziale Verhalten im Allgemeinen; Lacan zeigt mit einer ähnlichen Beobachtung des Einschlafverhaltens von Kleinkindern, dass es sich bei dieser Selbstbespiegelung um einen dezidiert sprachlichen Vorgang handelt.169 168 Hier handelt es sich um einen Satz aus einem nicht betitelten und an der University of Chicago gelagerten Manuskript (Mead-Papers, Box 1, Folder 4), das Joas in dieser Übersetzung präsentiert; vgl. JOAS, 1992, S. 266. 169 „Lacan [verankert] das Phänomen der stimmlichen Einverleibung im Einschlafmonolog des Kindes. Das Plappern des Kleinkindes vor dem Übergang zum Schlaf – daher auch seine Analogie zum Traum – bricht im Moment des Erscheinens einer weiteren Person im Raum ab“; ABDEL RAHMAN, 2011, S. 198.

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Die These der vorliegenden Studie ist, dass diese Verschaltung – jenseits des Schlafs und doch in Analogie zu ihm – als grundlegende Eigenschaft der Kunst bzw. als grundlegender Mechanismus ihrer Rezeption begriffen werden kann. Ich möchte die Engführung oder Verschaltung imaginierter und realer Körperlichkeit an einer (besonders bekannten und äußerst schmerzhaften) Filmsequenz verdeutlichen: Abbildung 1: Filmstills aus Buñuels Un Chien Andalou (1:16-1:29)

Wolken ziehen von rechts nach links Richtung Mond. (Cut.) Eine Männerhand zieht das linke Augenlid eine Frau nach oben, die andere Hand nähert eine Rasierklinge ihrem Auge. (Matchcut 1.) Die Wolken erreichen den Mond. (Matchcut 2.) Die Klinge wird von rechts nach links (in Übereinstimmung mit dem Zug der Wolken) durch den Augapfel gezogen, dem eine gallertartige Masse entweicht. (Cut.) Warum schmerzt es, diesen Il était une fois… (‚Es war einmal…‘) betitelten Prolog zu Luis Buñuels Un Chien Andalou zu sehen? Schließlich bleibt der rezipierende Körper doch unverletzt. Ist es nicht so, dass die Bilder, die einerseits als Kunstobjekte sanft vom Auge aufgenommen werden (symbolisiert durch die Sanftheit der die Gewalt rahmenden Wolken), andererseits messergleich in das Auge des Körpersche-

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mas fahren, sodass der Rezipient unverletzt den Schmerz mehr als nur in einem symbolischen Akt verspürt? Das wirkliche Auge wird über eine Engführung mit seinem imaginierten Abbild nicht von der Klinge, sondern von den Bildern (und deren filmischen wie teilhabenden Montage)170 verletzt: ein transgressiver Matchcut. Es ist ein medial bedingtes Phänomen, dass der Filmzuschauer sich mit dem Auge und nicht mit der schneidenden Hand identifiziert. Das Medium Film zwingt es dem Rezipienten auf, in einem Auge das Sinnbild seines eigenen Betrachtens zu sehen; deshalb übersteigt die mediale Selbstreflexion alle alternativen Möglichkeiten der Identifikation.171 Der solcherart als programmatische Aussage hervorgehobene schmerzhafte Kontakt von Auge und Messer findet rein auf der Bildebene statt: Das Bild einer Klinge fährt in das Bild eines Auges; das eine existiert als Fremdes auf Zelluloid, das andere als Kopie des eigenen Auges in der rezipierenden Imagination (und bilden so das Äquivalent des durch Matchcuts verdeutlichten Zusammenhangs von Mond und Auge). Der mittels eines Repräsentanten imaginierte Schmerz wird durch diesen Kontakt von abgebildetem und Avatar-Auge präsent. Ebenfalls begegnen sich, katalysiert durch die filmische Montage, der exkorporierte Avatar und sein Original. Buñuel erreicht in seinem Prolog über den gezielt angesteuerten und programmatisch als Medienreflexion betonten Vorgang der Verschaltung eine Inkorporation des imaginierten Schmerzes. Dabei darf man die Übermittlung des Schmerzes keinesfalls als ein dem Film oder generell den bildlichen Kunstformen vorbehaltenes Phänomen sehen. Elaine Scarry stellt in ihrer Untersuchung Der Körper im Schmerz die 170 Zum Begriff der ‚teilhabenden Montage‘ siehe Kapitel 3.1.1. 171 Diese ‚mediale Identifikation‘ lässt sich auch bei vielen anderen Filmen beobachten. Hier sollen nur zwei bekannte Beispiele genannt sein: (1) In Alfred Hitchcocks Rear Window (1954) hat der im Kinosessel bewegungslose Filmzuschauer gar keine andere Möglichkeit, als im an den Rollstuhl gefesselten, voyeuristischen Protagonisten ein Abbild seiner selbst zu sehen und somit den Film zum Teil auch immer als medienreflexiv zu rezipieren. (2) In Michael Powells programmatisch betitelten Film Peeping Tom (1960) nötigt es der Zwang, sich mit dem Instrumentarium des Voyeurismus, der Kamera, zu identifizieren, dem Kinogänger auf, durch den eigenen (cineastischen) Blick zum Mörder zu werden, da der Protagonist mit einem präparierten Stativ der Kamera die Opfer ersticht, deren angsterfüllte Gesichter der Zuschauer auf der Leinwand sieht.

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Mechanismen der Kommunikation von Schmerz als ein vor allem sprachliches Wechselspiel von Ex- und Inkorporierung (bzw. Objektivierung und Subjektivierung) dar: „Wenn die Attribute der Schmerzempfindung (durch sprachliche Objektivierung oder ein anderes Mittel) in den Bereich des Sichtbaren gehoben worden sind und wenn als der Referent dieser nun objektivierten Attribute der menschliche Leib erkannt wird, dann wird die Schmerzempfindung eines leidenden Menschen für andere erkennbar.“172

Was Scarry vom Schmerz schreibt, gilt für den gesamten Körper: Er wird objektiviert, bspw. durch Sprache ‚objektiviert‘, d. h. im Sinn des bisher Dargelegten: in ein Abbild exkorporalisiert und in metaphorischer Rückprojektion auf sich selbst oder die Welt der Objekte kommunikabel. Das Körperschema fungiert im System der Sprache ebenso wie in der Wirkgewalt des (filmischen) Bilds als Medium zwischen ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ bzw. zwischen ‚Rezipient‘ und ‚Kunstobjekt‘. Es ist – im Sinne einer korporalen Rezeption, der natürlich auch eine intellektuelle zur Seite steht – erst das Körperschema, das eine Teilhabe, ein Mit-Leiden (in der mittelalterlichen Terminologie: compassio) an der Kunst ermöglicht. Vice versa ist es das (bildliche wie sprachliche) Kunstobjekt, das als Katalysator das imaginierte Abbild mit den realen Nerven (bspw. zur Wahrnehmung der Sensation ‚Schmerz‘) verschaltet. Dabei profitiert die Kunst von der neuronal bedingten Nähe des Körperschemas zur realen Physis, die sich (unabhängig von der Kunst) an Phänomenen wie dem des Phantomglieds verdeutlichen lässt.173 Ähnlich wie der amputierte Körperteil in der Imagination noch vorhanden ist und als imaginiertes Abbild schmerzt, schmerzt das imaginierte Auge dessen, den das filmische Bild des schneidenden Messers verletzt. Beim Körperschema handelt es sich in erster Linie also um eine imaginierte Haut, eine Projektionsfläche, auf welche die fiktiven Beschreibungen ihre Reize werfen. Übertragen auf den Romanvortrag – und die in ihm performativ Verschalteten, Figur und Zuhörer – zeigt sich eine

172 SCARRY, 1992, S. 26; vgl. im Speziellen zum Schmerz in der mittelalterlichen Literatur SCHIEWER u. a., 2010. 173 Vgl. MERLEAU-PONTY, 1965, S. 106f.

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Analogie, die des Ritters Haut zum Trommelfell des Rezipienten gesellt.174 Auch jenseits archaisch anmutender ‚schmerzender Bilder‘ wird die Rolle des Körperschemas vor allem in der neueren Medienforschung beschrieben. Unter Betonung des Rezipienten als aktivem Teilnehmer und nicht passivem Empfänger der Medienbotschaft entstanden Ansätze zu einer Bestimmung der Funktion des duplizierten Rezipientenkörpers. Friedrich Krotz bspw. beschreibt den ‚symbolischen Interaktionismus‘ als einen inneren Dialog, in den sich der sozial handelnde Rezipient bei Nutzung eines bestimmten Mediums begibt.175 Der Interaktionsraum werde dabei beherrscht von einem Bild des Senders und einem SelbstKonzept des Empfängers. Corinna Pette bezieht diesen ‚virtuellen‘ inneren Dialog auf die Psychologie des Romanlesens: „Wenn der Leser und der Text aufeinandertreffen, kann das Textverstehen bzw. die Bedeutungszuweisung nur dann erfolgen, wenn der Leser sich in eine auf die Situation bezogene spezifische Rolle versetzt. [...] In dieser Rolle organisiert der Leser seine kognitiven und emotionalen Prozesse. Sie ist immer auch mitbestimmt durch Vorstellungen von sich 176 selbst, den anderen und der spezifischen Situation.“

Die von Pette beschriebene ‚Rolle‘ dient dazu, den Lektürevorgang als wechselseitig-kommunikatives Phänomen darzustellen, also ähnlich wie das allgemein wahrnehmungstheoretisch formulierte Körperschema als ein Modus der Fiktionserfahrung erklärt werden kann. Im Unterschied zum multisensuell gefassten Körperschema als Mittel der Romanrezeption am mittelalterlichen Hof, die über eine face to faceKommunikation von Rezitator und Zuhörer abläuft, beschreibt Pette die Kommunikation als ausschließlich virtuell und nur verbal. Auch wenn ihr Konzept in dieser Hinsicht lediglich für den modernen Leser und nicht für den mittelalterlichen Zuhörer zutrifft, lässt sich feststellen, dass Körperlichkeit auf eine vergleichbare Art und Weise imaginiert wird. Das Körperschema fungiert beim Verlesen des mittelalterlichen 174 Der Titel für die erste Präsentation dieses Dissertationsprojekts anlässlich des 42nd International Congress on Medieval Studies an der Western Michigan University, Kalamazoo/USA im Mai 2007 lautete „The Hero’s Skin Is an Eardrum“; vgl. DÄUMER, 2007. 175 Vgl. KROTZ, 1996. 176 PETTE, 2001, S. 23.

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Romans jedoch – im Gegensatz zur kommunikativen ‚Rolle‘ – nicht als pseudo-verbales, sondern als pseudo-physisches und multisensuelles Medium. Nach dem Konzept der kinästhetischen Wahrnehmung ist es vonnöten, zusätzlich den Aspekt der Bewegung mit in das Wechselspiel von Körperschema und Rezipientenkörper einzubeziehen. Hierzu eignen sich Teilaspekte der Wahrnehmungslehre Melchior Palagyis, eines mittlerweile fast in Vergessenheit geratenen Philosophen des frühen 20. Jahrhunderts, dessen Wiederentdeckung und Nutzbarmachung für rezeptionsästhetische und performative Belange der 2007 erschienenen Dissertation Benjamin Wihstutz’ zu verdanken ist.177 Palagyi versteht – ausgehend von den Vorstellungsleistungen Blindgeborener – den taktilen als den grundlegend Wahrnehmung ermöglichenden menschlichen Sinn. Dabei meint das Taktile nicht nur wirkliche Berührung, sondern vor allem deren Imagination: „[W]ir Sehenden [können] uns die räumlichen Gestalten in zweierlei Weise vorstellen [...]: einmal, indem wir sie durch eingebildete Handbewegungen gleichsam in die Luft vor uns hinzeichnen, das andere Mal, indem wir in der Einbildung unseren Blick längs ihrer Umrisse hingleiten lassen. [...] Man begleitet das in der Einbildung Gesehene immer mit irgendwelchen, wenn auch noch so spärlichen Resten einer in der Einbildung ausgeführten, nachzeichnenden und nachtastenden 178 Bewegung.“

Die entscheidende Fähigkeit der Imagination ist die der Bewegung; Palagyi bezeichnet sie als ‚virtuelle Bewegung‘, welche die Leistung der ‚Phantasie‘ ausmache, wobei ‚Phantasie‘ keine eskapistische Vorstellungskraft, sondern eine Grundlage aller Weltwahrnehmung meint: „Die Fähigkeit, in der Einbildung Bewegungen oder, wie man auch sagen kann: virtuelle Bewegungen zu vollziehen, bildet die Grundlage 177 Vgl. WIHSTUTZ, 2007, S. 95-104. Wihstutz beschreibt über ein Konzept der ‚Zwischenkörperlichkeit‘ unter Einbeziehung aller Sinne sowie unter Ausschaltung beschränkender Text- oder Theaterbegriffe die Körperlichkeit der (theatralen) Rezeption. Vor allem seine Untersuchungen zum ‚Videowalk‘ Ghost Machine (vgl. ebd., S. 111-122) zeichnen in eindrucksvoller Weise nach, inwiefern Fiktion, Zeit und Raum in einer zweigeteilten körperlichen Rezeption in eins fallen können. 178 PALAGYI, 1925, S. 70-72.

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Das bewegte Schema unseres Phantasielebens [...]. Und so wird uns nunmehr der Sinn des Fundamentalsatzes der Wahrnehmungslehre klar, daß es ohne Phantasie, namentlich ohne virtuelle Bewegung, nirgends eine Wahrnehmung von räumlich geordneten, gelagerten und gestalteten Dingen oder 179 Erscheinungen geben kann.“

Alles, was der Mensch räumlich wahrnimmt, aber auch alles, was er imaginativ vor seinem inneren Auge entstehen lassen kann, ist laut Palagyi Folge der ‚virtuellen Bewegung‘.180 Die bereits angesprochenen aktuellen neuronalen Studien zu Spiegelneuronen, die unabhängig von der ontologischen Differenz von Imaginärem oder Realem feuern, findet in dieser weitaus älteren Theorie ihre theoretische Grundlage – ebenso wie die Annahme eines Körperschemas. Palagyi schreibt bezüglich der Ausführung der virtuellen Bewegung zwar nie von einem Avatar, implizit ist diese Annahme bei ihm jedoch ebenfalls zu finden: „Man muss also sagen, daß der sensorische Nervenprozeß einen zweiten Nervenprozeß, den der virtuellen Bewegung, anrege und diesen zu dem ersten zurückführe, so dass die Nervenbahnen des ganzen Vorgan181 ges eine in sich geschlossene Linie bilden.“

Was Palagyi mittels des Bilds zweier getrennter Nervensysteme beschreibt, ist genau der Vorgang, den auch der Verlauf des Lacan’schen Spielgelbilds spätestens bei Mead nimmt: Erst in dem Moment, in dem der Mensch sich mit seinem Abbild wieder in Eins bringt, ist Wahrnehmung möglich. Dabei kann bei Palagyi das Eine nie ohne das Andere existieren: Als hätte Palagyi die Entdeckungen der neuronalen Forschung vorausgeahnt, kommt er zu der These, dass die reale Weltwahrnehmung und die gleichzeitig stattfindende Erfindung imaginärer Bilder miteinander verwandt sind, sich einander bedingen und durchdringen. Was diesen Vorgang laut Palagyi ermöglicht, ist, dass Imagination wie Weltwahrnehmung auf Bewegung beruhen, dem Nachzeichnen entlang der Grenzen eines realen Gegenstands durch den wahrnehmenden Blick

179 Ebd., S. 75f. 180 Palagyi unterscheidet diese beiden Fähigkeiten mit den Begriffen der ‚direkten‘ und der ‚inversen Phantasie‘; vgl. ebd., S. 80. 181 Ebd., S. 98.

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oder – im Sinne des bisher Dargelegten – dem ‚Abtasten‘ eines imaginären Objekts durch die imaginativ wahrnehmende Bewegung des Körperschemas. „Es sind die gleichen virtuellen Bewegungen, durch die ich die Gestalten wirklicher Dinge wahrnehme und durch die ich beliebige Figuren in der inversen Einbildung vor mich hinstelle. [...] Der Raum der Wahrnehmung hat aber genau dieselben Eigenschaften wie der Raum der inversen Einbildung. [...] So pendelt unser Bewußtsein im Verlaufe seines wachen Zustandes fortwährend zwischen dem Gegenwärtigen und Nichtgegenwärtigen, und dieses Pendeln wird bald in unwillkürlicher Weise stattfinden, bald durch den Verstand und Willen absichtlich 182 herbeigeführt sein.“

Die Einbildung (imaginatio) ist also der Ort, an dem das ‚Pendeln‘ des Bewußtseins stattfindet, an dem sich im Modus der Bewegung die Wahrnehmung der Realität und die des Imaginären überschneiden und an dem sich somit Physis und Körperschema die Hand reichen.183 Diese Vereinigung kann unwillkürlich stattfinden oder durch eine Instanz kontrolliert werden, die ‚mittelalterlich‘ ratio zu nennen wäre.184 Zusammenfassend lässt sich anhand der präsentierten Theorien der Rezeptionsvorgang beim Vortrag eines höfischen Romans wie folgt beschreiben: Der Zuhörer dupliziert sich in sein eigenes Abbild. Der so erschaffene Avatar hat die Aufgabe, durch virtuelle Bewegung die in der Fiktion beschriebene Welt nachzuzeichnen und so imaginativ wahrnehmbar zu machen. Dadurch, dass auch die Wahrnehmung der Realität über solch eine virtuelle Bewegung funktioniert, vermischen sich in der imaginatio des Zuhörers die realen und fiktionalen Eindrücke, wobei er das Mischungsverhältnis von Realem und Imaginiertem je nach Anfor182 Ebd., S. 84. 183 „[Im] Zusammenarbeiten des zerebrospinalen und sympathischen Nervensystems [...] [spielt] [d]ie Vermittlerrolle […] dabei immer die Einbildung oder genauer die eingebildete Bewegung, die überhaupt eine vermittelnde oder verbindende vitale Funktion repräsentiert und immer im Spiele ist, wo noch nicht Verbundenes in verbundener Weise zum Bewußtsein gebracht werden soll“; ebd., S. 103. 184 Die Begriffe ‚imaginatio‘ und ‚ratio‘ fallen an dieser Stelle als Vorausdeutung auf die mittelalterliche Wahrnehmungstheorie nach der VierKammern-Lehre; siehe Folgekapitel.

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Das bewegte Schema

derung der Situation über seine ratio steuern kann. Die kinästhetische Wahrnehmung ist somit eine zweiteilige, die sich gleichzeitig auf die Physis und den Avatar des Rezipienten bezieht. Es ist deshalb für eine wissenschaftliche Betrachtung zu vermuten, dass es meist nicht möglich sein wird, bei einem Nachzeichnen rezeptiver Vorgänge exakt zwischen Affekten für den wirklichen und Effekten für das Körperschema des Zuhörers zu unterscheiden. Der vorliegenden Studie muss es folglich darum gehen, eine Analyse der medialen Bedingungen der Bindung des zwischen Physis und Konzept oszillierenden Rezipientenkörpers an die fiktive Welt anzustreben. Da der einzelne Rezipient nicht Basis einer wissenschaftlichen Beschreibung sein kann, soll der Einfluss beschrieben sein, den ein Text vortragender Rezitator auf die Aktivierung der kinästhetischen Wahrnehmung haben kann.185 Dazu muss berücksichtigt werden, dass Wahrnehmung – die bis hierhin nur mittels moderner Theorien beschrieben wurde – ein historisches Phänomen ist und dass der mediale Zustand der Performativität, dem sie zugrunde liegt, ebenso in seiner Historizität bedacht sein muss. Aus diesem Grund soll im Folgenden nach Spuren einer vergleichbaren Abstrahierung von Wahrnehmung aus der Epoche des höfischen Romans gesucht werden.

185 „Darum versuchen wir, Kinästhetik als transmediales Phänomen zu verstehen, als eine grundlegende Fähigkeit von Medien, Bewegung wahrnehmbar zu machen und zwar als Darstellungsinhalt und Erfahrungsangebot zugleich“; LECHTERMANN/MORSCH, 2004, S. VI.

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2.2.2 Spuren einer höfischen Wahrnehmungstheorie „Mirst geschên als eime kindelîne, daz sîn schônez bilde in eime glase ersach unde greif dar nâch sîn selbes schîne sô vil biz daz ez den spiegel gar zerbrach.“ Heinrich von Morungen, Spiegellied186

Bezüglich der textuell offerierten Bewegungsmuster und deren Nachvollzug in der Aufführung (der ‚virtuellen Bewegung‘ bzw. der ‚kinästhetischen Wahrnehmung‘) ist zu vermuten, dass ein Zusammenhang mit den Lern- und Erinnerungstechniken des Mittelalters hergestellt werden kann, denn im 12. und 13. Jahrhundert wird die imaginatio, in der laut Palagyi die fiktive Bewegung stattfindet, als ‚Schwester‘ der im Unterricht zu schulenden memoria gesehen. So heißt es im Welschen Gast, einem 1215/16 verfassten, im Mittelalter weit verbreiteten und anscheinend sehr beliebten187 höfischen Erziehungswerk des Friauler Klerikers Thomasin von Zerklære:188 Ein ieglîcher vier krefte hât,

Ein jeder hat vier Kräfte,

von den er sol suochen rât. [...]

deren Rat er in Anspruch nehmen muss. [...]

Einiu heizt imaginâtiô,

Eine heißt imaginatio,

diu ander heizet râtiô,

die zweite heißt ratio,

diu drite memorjâ ist,

die dritte ist memoria,

diu phleget der kamer zaller vrist,

die allzeit die [Schatz-]Kammer hütet,

die vierd ich intellectus heiz.

die vierte nenne ich intellectus.

von der êrsten man nimêre weiz,

Von der ersten weiß man nicht mehr,

wan daz si bringet die gedanke

als dass sie die Gedanken zur Vorstellung

186 MF 145,1-4. 187 Vom Welschen Gast sind 23 Textzeugen erhalten, „15 mehr oder weniger vollständige und 8 Fragmente“ (WILLMS, 2004, S. 15), wobei die Popularität des Werks wohl auch mit dem in mehreren Handschriften erhaltenen Bildprogramm zusammenhängt; vgl. ebd., S. 16f. 188 Zur Lesart der Thomasin-Passage als wahrnehmungstheoretische Beschreibung rezeptiver Vorgänge vgl. auch DÄUMER, 2010 (Hje kam von sinen augen).

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Spuren einer höfischen Wahrnehmungstheorie zer dinge getât, die man lange

derjenigen Dinge bringt,189 die man

vor des niht gesehen hât.

seit langem nicht mehr gesehen hat.

daz kumt von der krefte rât,

Das ist möglich durch die Hilfe der Kraft,

diu da memorjâ ist genant.

die da memoria genannt wird.

si habent vil nâch ein amt,

Sie haben nahezu dieselbe Aufgabe,

wan si sint swester, die zwô,

denn sie sind Schwestern, die beiden,

memorjâ und imaginâtiô.

memoria und imaginatio.

imaginâtiô ir swester gît,

Imaginatio reicht ihrer Schwester alles,

swaz vor den ougen lît.

was vor den Augen liegt.

memorjâ behalten kan

Mamoria kann alles sicher aufbewahren,

wol, swaz ir swester ê gewan.

was ihre Schwester zuvor aufgenommen hat.

(WELSCHER GAST, V. 8789-8816)

Die Verse gehören zur Wissenschaftslehre, die der Erzieher seinem jungen höfischen Publikum unterbreitet. Die Forschung zu dieser Lehre konnte viele von Thomasins Quellen aufzeigen190 und ist relativ einhellig der Meinung, dass das, was wir hier vorfinden, für das 12. und 13. Jahrhundert als ein allgemein und weit verbreitetes Wissen unter den gelehrten Mitgliedern der mittelalterlichen Höfe gelten kann. Die Teilung des menschlichen Innenlebens in vier Kammern nimmt Thomasin demzufolge auch ohne große Änderungen seinen Quellen entsprechend vor. Bezeichnenderweise greift Thomasin – wie Christoph Huber dies nachgewiesen hat –191 gerade an der oben zitierten Stelle, also bezüglich des für die Rezeption eines Romanvortrags entscheidenden Wechselspiels von imaginatio und memoria, auf den Metalogicus des Johannes von Salisbury zurück und weicht so von der kanonisierten Darstellung ab. Denn im Gegensatz zur ansonsten recht dicht dem ‚erweiterten

189 Zur obigen Übersetzung von ‚zer dinge getat‘ und einer Diskussion dieser schwer zu übertragenden Stelle vgl. HUBER, 1988, S. 52, Anm. 108. 190 Man konnte für diese Lehre Ähnlichkeiten mit der Psychologie der Schule von Chartre feststellen und u. a. Alanus ab Insulis, Johannis von Salisbury und Wilhelm von Conches als Hauptquellen der entsprechenden Passagen ermitteln; vgl. HUBER, 1988, S. 48f., Anm. 96. Schon recht früh wurde außerdem bezüglich Thomasins Schematisierungen in diesen Passagen ein starker Bezug zu den frühscholastischen Einteilungen der menschlichen Seele in entsprechende Kammern festgestellt, die als ein im 12. Jahrhundert allgemein verbreitetes Schema gelten dürfen; vgl. MÜLLER, 1935. 191 HUBER, 1988, S. 52.

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Schema‘ der Vier-Kammernlehre folgenden Darstellung192 ordnet Thomasin der imaginatio nicht nur eine, sondern zwei Funktionen zu. Dies ist zwar kein per se innovativer Vorgang – man denke nur an die verbindende Funktion des aristotelischen sensus communis –,193 jedoch von der Quellenlage her recht auffällig. Einerseits nimmt bei Thomasin die imaginatio die Sinneseindrücke auf und liefert sie zur Aufbewahrung ihrer Schwester, der memoria (V. 8813-16); diese Funktion koppelt Thomasin andererseits mit einer zweiten: Die imaginatio kann sich ebenso der in der memoria gespeicherten Sinneseindrücke bedienen, um das vor dem inneren Auge entstehen zu lassen, was „man lange / vor des niht gesehen hat“ (V. 8806f.). Was hier in der Verssprache des 13. Jahrhunderts formuliert wird, gleicht sehr stark der Doppelfunktion der Einbildung, wie sie Palagyi darlegt: In der imaginatio vermengt sich real Wahrgenommenes und Imaginatives, wobei die Bewegung, die sich bei Palagyi als der verbindende Modus erweist, bei Thomasin in den Aktionen der personifizierten Kammern anklingt. Imaginatio ‚nimmt‘ das Wahrgenommene auf und ‚reicht‘ es ihrer Schwester: Auch das Taktile des wahrnehmenden und imaginierenden Blicks, das Palagyi als Bewegung entlang der Ränder des Objekts beschreibt, findet bei Thomasin seine Entsprechung. Doch es bleibt die Frage bestehen, warum der höfische Erzieher zwei Funktionen kombinierte, die er in seinen Quellen nur getrennt vorfinden konnte? Meine These ist, dass Thomasin, der an vielen Stellen des Welschen Gast mit literarischen Anspielungen auf den höfischen Roman arbeitet194 und der seinen eigenen Text – neben der Rezeption über das Lesen – als Objekt einer performativen Umsetzung sah,195 hier (auch) an die inneren Mechanismen dachte, welche beim 192 Vgl. ebd., v. a. S. 49f. 193 Vgl. LEINKAUF, 1995. 194 Schon gleich zu Beginn (WELSCHER GAST, V. 75-86) spielt Thomasin in einer Art und Weise auf den Artusroman an, die nicht nur dessen Figurenwelt, sondern auch dessen performative Eigenheiten zitiert; siehe Kapitel 4.2.1. 195 „der leie sol durch der ôren tür / lâzen die guoten lêre vür. / sperret er der ôren tür vast, dar in kumt niht der lêre gast“; WELSCHER GAST V. 94699472; ‚Der Ungelehrte soll die gute Lehre / durch der Ohren Tür einlassen. / Sperrt er der Ohren Tür fest zu, / kommt die fremde Belehrung nicht hinein‘. Es ist das Lauschen eines Zuhörers, nicht der Blick des Lesers, den Thomasin als primäre Rezeption ansteuert.

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höfischen Textvortrag stattfinden. Denn gerade beim literarischen Vortrag ist es von entscheidender Bedeutung, dass die imaginatio nicht nur momentan Existentes, sondern ebenso und gleichzeitig das NichtVorhandene, das im modernen Wortsinn ‚Imaginierte‘, konstruieren können muss. Das Wechselspiel von imaginatio und memoria ist nicht der einzige Mechanismus, den Thomasin als bedeutsam für die menschliche Wahrnehmung (und die Rezeption verlesener Texte) beschreibt: intellectus und râtiô

intellectus und ratio haben

hânt ane imaginâtiô

die Herrschaft über imaginatio

und an ir swester meisterschaft;

und über ihre Schwester.

die dienent ir nâch eigenschaft.

Sie dienen ihr nach dem, was sie besitzt.

Swaz imaginâtiô begrîft, [...]

Was auch immer imaginatio aufnimmt,

daz sol si hin zir vrouwen bringen,

das soll sie zu ihrer Herrin bringen,

sô mag ir niht misselingen.

dann kann sie nicht fehlgehen.

ratîo bescheiden sol,

Ratio soll unterscheiden,

waz stê übel ode wol,

was gut und was böse ist,

und sol emphelhen, swaz ist guot

und soll, was gut ist, der memoria

der memorjâ ze huot.

zur Aufbewahrung anempfehlen.

(WELSCHER GAST, V. 8817-30)

Die ratio ist dem Wechselspiel der Schwestern als moralische Instanz zwischengeschaltet: Sie bewertet, was die memoria von den durch die imaginatio aufgenommenen Eindrücken speichern soll. Als Folge dieser Entscheidung ist sie auch der Zensor des von der memoria verwalteten Fundus, auf den die imaginatio bei der Konstruktion nicht-realer Eindrücke zurückgreifen kann. Diese Beschreibung entspricht der von Palagyi getroffenen, da dieser die Verschaltung des Gegenwärtigen und des Nicht-Gegenwärtigen als einen Vorgang beschreibt, der auf unwillkürliche Art und Weise stattfinden oder aber „durch den Verstand und Willen absichtlich“196 herbeigeführt werden kann. Thomasin beschreibt die Folgen eines Aussetzens der ratio im Gegensatz zu Palagyi nicht; die Möglichkeit ihrer Ausschaltung ist aber auch im mittelalterlichen Text nicht ausgeschlossen; vielmehr scheint ein zu kontrollierender

196 PALAGYI, 1925, S. 84; siehe Kapitel 2.2.1.

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– ich formuliere dies vorerst hypothetisch – ‚Affektbereich‘ impliziert zu sein.197 Die Wechselwirkung der ‚Schwestern‘ imaginatio und memoria als einen Affektbereich und somit die im Welschen Gast beschriebenen Kräfte nicht nur als seelisch, sondern auch körperlich wirkende (und deshalb zu kontrollierende) Kräfte zu verstehen, steht auf den ersten Blick quer zur philosophiegeschichtlichen Entwicklung. Die Frühscholastiker, von denen Thomasin die Grundlage seiner Lehre übernimmt, gingen von einer strengen Trennung von Seele und Körper aus. 198 Diese Annahme löst sich im Laufe der Scholastik, allerdings erst rund fünfzig Jahre nach dem Welschen Gast bei Thomas von Aquin.199 Dieser fördert eine ‚Korporalisierung‘ der ehemaligen Seelenkräfte v. a. durch die Rückbesinnung auf das, was man ursprünglich in Aristoteles De Anima fand, nämlich die Dreiteilung in eine ‚intellektuale‘, eine ‚virale‘ und eine ‚vegetative‘ Seelenkraft, von denen die beiden letztgenannten auch Tiere, die letzte auch Pflanzen besitzen.200 Eine genaue Betrachtung der Welschen Gast-Passage zeigt, dass Thomasin den Schritt zu ‚Korporalisierung‘ der ehemals reinen Seelenkräfte schon getan hat. Zwei Argumente sprechen dafür: (1.) Wie Christoph Huber zeigt, kannte Thomasin in seinen Grundlagen Alanus’ ab Insulis Werk. Dort konnte er eine Einordnung der Seelenvermögen und Affekte in ein Tugend- und Lastersystem finden.

197 Wie sich zeigen wird, ist gerade die Möglichkeit, die kontrollierende Funktion der ratio aus dem Wechselspiel der Schwestern imaginatio und memoria auszuklammern, eine Methode, die die ästhetischen Besonderheiten der Wunderketten ausmacht; siehe Kapitel 3.4 und 3.5. 198 Vgl. KUNZMANN/BURKARD/WIEDMANN, 1998, S. 73-75. Bspw. bei Anselm von Canterbury ist die Dreiteilung in Erinnerung (memoria), Erkennen (intelligentia) und Liebe (amor) ausschließlich auf die menschliche Seele (als Bild Gottes) bezogen. 199 Vgl. ebd., S. 81-85; Bei Thomas von Aquin ist „[d]er Mensch [...] die substantielle Verbindung von Seele (Form) und Körper (Materie). Beide sind nicht zu trennen, sondern bilden die Einheit der Substanz des Menschen, der somit immer seelisch-leiblich bestimmt ist“; ebd., S. 85. 200 Aristoteles’ Dreiteilung folgend enthält bei Thomas von Aquin „[d]ie Seele [...] in sich versch[iedene] Vermögen: das vegetative (Lebenskraft), sensitive (Sinneswahrnehmung), appetitive (triebhaftes Streben), motive (Ortsbewegung) und rationale (Verstand)“; ebd., S. 85; Hervorhebungen im Original.

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Thomasin übernahm diese Einteilung aber nicht.201 Die Weigerung diese Systematik zu übernehmen könnte dafür sprechen, dass er die affektive Wirkweise in die Seelenkräfte hinein verlagerte. (2.) In der direkt an die Vier-Kammern-Lehre anschließenden moralischen Betrachtung über den Gelderwerb heißt es: Als ich gesprochen hân,

Wie ich gesagt habe,

râtiô, diu kraft kan

kann die Kraft ratio das Gute

bescheiden daz übel vomme guot.

vom Bösen unterscheiden.

die verliust, swer sînen muot

Die verliert, wer sein Streben

an gewinnunge wenden wil. [...]

dem Gelderwerb zuwendet. [...]

imaginâtiô ist im bliben,

Imaginatio ist ihm geblieben,

wan, daz habe wir geschriben,

denn, das haben wir schriftlich,

daz ieglîch vihe die kraft hât

jegliches Vieh besitzt diese Kraft

von der gemeinn natûre rât.

von der gemeinsamen Natur aus.

(WELSCHER GAST, V. 8841-56)

Die ratio wird dem zu sehr auf Geld Bedachten abgesprochen; doch imaginatio (und damit auch implizit die als ‚Schwester‘ auf der gleichen Stufe befindliche memoria) stehen jedem Tier und damit auch dem Geldgierigen zur Verfügung. Bei diesen – nach Aristoteles – viralen Kräften muss es sich aber auch um körperliche handeln, denn das Tier fungiert bei Thomasin als Inbegriff einer intellektlosen Körperlichkeit. Diese Analogisierung von imaginatio und memoria zur viralen Kraft ermöglicht es, ein „Modell ethischer Progression vor[zustellen], das die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen zum Ausgang nimmt, die ihm von der gemeinn nature rat [...] an geborn sind“.202 Thomasin impliziert mit seiner Beschreibung eine Zuständigkeit von imaginatio und memoria für körperliche Affekte. Wenn die ratio also der Richter ist, der über den moralischen Wert des Wechselspiels von memoria und imaginatio entscheidet und so die implizierten körperlichen Affekte im Zaum hält, dann ist der intellectus die Kraft, welche die ‚legislative Grundlage‘ für den Rechtsspruch der ratio liefert. Denn die Funktion der vierten Kraft ist es, eine Verbindung des Menschen zur himmlischen Sphäre herzustellen: „intellectus 201 Vgl. HUBER, 1988, S. 54. 202 Ebd., S. 53.

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sol wesen bot / hin ze engeln und ze got“.203 Durch diese Eigenschaft ist der intellectus im mittelalterlichen Denken die allen anderen Kräften übergeordnete Instanz.204 Dargestellt in einem Schaubild könnte die Vier-Kammern-Lehre nach Thomasin (in Kombination mit der Implikation eines von der ratio nach den Maßgaben des intellectus kontrollierten Affektbereichs) – also das mittelalterliche Konzept der ‚Kopfbühne‘ – wie folgt aussehen: Modell 2: Wahrnehmung nach der Vier-Kammern-Lehre

Die anthropologische Grenze beschreibt die (wahrnehmungstheoretisch definierte) Differenz von Ich und Welt; die transzendente Grenze die Trennung der physikalischen Welt von der Sphäre Gottes. Innerhalb des so abgesteckten menschlichen ‚Innenlebens‘ herrschen die vier Kammern. Imaginatio und memoria sind durch ihr Wechselspiel aus Speicherung und Abruf der Erinnerung die affektiven Kräfte, ratio die durch Zensur der Speicherung kontrollierende Kraft. Dabei handelt sie nach den Leitlinien des intellectus, der, obzwar noch im Menschen verortet, in nächster Nähe Gottes steht und mit dessen Sphäre einen wechselsei203 WELSCHER GAST, V. 8831f. 204 Vgl. ebd., V. 8833-56.

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tigen Austausch von ‚Botschaft‘ und ‚Inspiration‘ unterhält,205 letztere v. a. in Form der Erkenntnis göttlicher Regeln. Kombiniert man diesen mittelalterlichen Schematismus mit den rezeptiven Vorgängen der kinästhetischen Wahrnehmung, bedeutet dies, dass, wenn im Rahmen eines Romanvortrags ein Gegenstand oder ein Bewegungsvorgang beschrieben wird, die Vorstellung eines ehemals erinnerten Gegenstands oder einer erinnerten Bewegung aus der memoria vor das ‚innere Auge‘ der imaginatio gerufen wird, dass also jede Imagination dem Körpergedächtnis des Rezipienten entstammt. Der Fundus des Körpergedächtnisses besteht dabei aus Aufnahmen von Sinneseindrücken, die von der ratio nach den Leitlinien des intellectus zensiert wurden. Ghattas leitet den bei Thomasin beschriebenen Zusammenhalt der ‚Schwestern‘ aus den oralen Wurzeln der höfischen Kultur her: „Techniken des Handelns werden in oralen Kulturen weniger über verbales Erklären denn durch Beobachten und Einüben gelernt. [...] Die Abfolge der einzelnen Informationen, ihre Beziehung zueinander als vor- und nachgängig sowie ihre Position im Geschehensablauf müssen mit allen Sinnen erfahren und abgespeichert werden, damit sie im entsprechenden Kontext reanimiert werden können. [...] Wenn man dabei kein extra-mentales Bild zur Verfügung hat, greift man auf eine Vorstellung zurück, denn diese speist sich ja – gemäß mittelalterlicher Ima206 ginationstheorie – aus der memoria des Lernenden [...].“

Für die kinästhetischen Faktoren der Texte bedeutet dieser Zusammenhang von imaginatio und memoria, dass im Vortrag dem Rezipienten charakteristische, dem mittelalterlichen Menschen bekannte Bewegungsabläufe (physiologische, mentale und sprachliche)207 angeboten 205 Zwar heißt es nur „intellectus sol wesen bot / hin ze engeln und ze got“ (meine Hervorhebung), Thomasins Verse geben also den Eindruck einer einseitigen ‚Rechenschaft‘ des Boten intellectus vor Gott, doch da die ratio durch diesen Botengang die Regeln für ihr zensierendes Eingreifen in den Affektbereich erhält, muss die gegenläufige Richtung der ‚Inspiration‘ mitgedacht sein. 206 GHATTAS, 2004, S. 160. 207 Dies sind nicht alle, sondern lediglich die in der vorliegenden Studie bedachten Kategorien. Die sprachliche Bewegung, „die kinästhetische Wirkung bestimmter rhythmischer Erzähltechniken“ (ebd., S. 159), welche zu

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werden, die er mittels ehemals Erlebtem in der imaginatio konstruiert. Geleitet durch die Worte des Rezitators vollzieht er geistig mit seinem Körperschema diese Bewegungen nach und schreibt sie so in aktualisierter Form wieder in seine Erinnerung ein. Es handelt sich bei diesem Vorgang (im Regelfall) nicht um einen Automatismus, sondern, aufgrund der von Thomasin beschriebenen Einwirkung der ratio auf das imaginäre Wechselspiel, um eine willentliche Entscheidung des Rezipienten. Was Egidi mit dem Begriff der ‚Entscheidung‘ als zentrale Leistung des Rezipienten bei der Differenzierung von Rollen- oder authentischem Sprechen bezeichnet,208 ist also eine Fähigkeit, die im Mittelalter dem Rezipienten auf noch breiterer Basis zugesprochen wurde. Für den Rezipienten sind deshalb die gespeicherten Bewegungsabläufe nach dem Rezeptionsvorgang weiterhin abrufbar, sei es als motorische, sprachliche oder als abermals imaginäre, virtuelle Bewegung. „Das Einschreiben des imaginären Bildes in den Körper [...] wird [...] als physiologischer Prozeß charakterisiert, der aus kognitionspsychologischer Sicht an einen [...] muskulären Effekt erinnert“:209 Das fiktive Bewegungsangebot wird quasi-muskulär verinnerlicht und erinnert. Die Wahrnehmung des bewegten Körpers, die Aktualisierungsprozesse von latenter Bewegung, die entsprechenden narrativen und performativen Strategien und die damit zusammenhängenden Erinnerungstechniken sind durchweg historisch wandelbar. Deshalb gilt es, für den Umgang mit mittelalterlichen Texten die kinästhetischen Parameter soweit möglich in ihrer Historizität zu bedenken. Die Theorie der kinästhetischen Wahrnehmung soll deshalb an zwei mittelalterlichen Beispielen konkretisiert werden.

den Katalysatoren erinnerungstechnischer Vorgänge zählen, sollen im folgenden Kapitel unter dem Begriff der Korporalität näher bedacht werden; siehe Kapitel 2.3. 208 Vgl. EGIDI, 2002, S. 151f.; siehe Kapitel 2.1.1. 209 GHATTAS, 2004, S. 161.

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Erstes Beispiel

210

In katholischen Kirchen zeigen die im Regelfall 14 Einzelbilder des Kreuzwegs den Leidensweg Christi vom Haus des Pilatus bis Golgatha. Der Betrachter schreitet die Stationen ab und konstruiert aus seiner eigenen Bewegung heraus eine chronologische Handlungsabfolge. Seine Motorik wird gewissermaßen zu einer Parallelbewegung zum Leidensweg Christi, die Durchquerung des Kirchenraums zu einem Wandeln durch die passionale Zeit. Nach der mittelalterlichen compassio-Logik, die eine mitleidende Verbindung zwischen dem Heilsbringer Jesus Christus und dem frommen Rezipienten voraussetzt,211 wird bei der Rezeption des Kreuzwegs die „Wahrnehmung selbst als Vorgang 210 Die folgenden Beispiele gehen zurück auf ein gemeinsames Projekt mit Friedemann Kreuder, „Konstituierung von Wissensräumen auf dem Marktplatz und zu Hofe. Vergleich der Überlagerung und Verschaltung räumlicher Strukturen im Geistlichen Spiel und im höfischen Roman“, das zu mehreren Publikationen führte; vgl. KREUDER 2008 und 2010; DÄUMER/ GEROK-REITER/ KREUDER, 2010. 211 Ich halte dieses Denken keinesfalls für einen Indikatior mittelalterlicher Alterität. So wird für das 20. Jahrhundert diese leibliche Teilhabe am Wahrgenommenen bspw. von Merleau-Ponty beschrieben. Für ihn ist das Sinnliche „nichts anderes als eine bestimmte Weise des Zur-Welt-Seins, die sich von einem Punkte des Raumes her uns anbietet und die unser Leib annimmt und übernimmt, wenn er dessen fähig ist: Empfindung ist buchstäblich eine Kommunion“; MERLEAU-PONTY, 1966, S. 249. Der Unterschied zwischen dieser Beschreibung der leiblichen Teilhabe und ihrer mittelalterlichen passionalen Auslebung ist, dass dem modernen Verständnis der Wahrnehmung als den Leib konstituierende ‚Kommunion‘ die Destruktion des Ich-Begriffs vorausgeht, wie sie Ernst Mach Ende des 19. Jahrhunderts in seiner Analyse der Empfindungen vorführt; vgl. MACH, 1991. Bei ihm ist das Ich „unrettbar“, wie es Hermann Bahr in seiner zeitgenössischen Popularisierung der Mach’schen Theorie ausdrückte (BAHR, 2000, S. 147); ‚unrettbar‘, weil es als bloße denkökonomische Größe nur noch als eine konstruierte Schnittstelle sinnlicher Erfahrungen begriffen werden kann. Wie bei Merleau-Ponty ist hier der Leib lediglich ein Durchgangsmedium disparater Wahrnehmungspartikel. Während also in der Moderne die sinnliche Empfindung als dem Subjekt übergeordnete Größe begriffen wird und diese Betrachtungsweise zur Dekonstruktion leiblicher und subjektiver Integrität führt, ist die mittelalterliche ‚Teilhabe‘ als eine quasi-magische, Raum und Zeit überbrückende oder aber transzendentale Verbindung des eigenen Leibs mit dem des Gottessohns zu verstehen. Letztendlich läuft dies auf das Gleiche hinaus; den Unterschied macht lediglich die Festigkeit des Gottes- oder Ich-Begriffs aus.

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einer Teilhabe am Wahrgenommenen vollz[ogen]“. 212 Nach der Mediationstheorie213 erschafft die körperliche Bewegung des Rezipienten die innerlich bewegte Partizipation am erlösenden Leid, verinnerlicht diese Erfahrung und ermöglicht die imitatio Christi. Zweites Beispiel Das gleiche Wahrnehmungsmuster und eine ähnliche Logik liegen den imposanten Oster- und Passionsspielen des Spätmittelalters214 zugrunde. Der Betrachter schreitet die auf einem Platz errichtete Simultan-

212 GRONAU u. a., 2004, S. 19. 213 Die Mediation, verstanden als Aufsuchen und Nachschreiten von historischen oder symbolischen Orten zum Zweck der Kontemplation, wird aufgrund des theaterwissenschaftlichen ‚Wesens‘ als Raum- und Bewegungswissenschaft in den Analysen Geistlicher Spiele oft selbstverständlich als dominierender Rezeptionsmechanismus empfunden (vgl. die Beiträge in KASTEN/FISCHER-LICHTE, 2007, v. a. KOTTE, 2007). Für die Bewegung des Publikums lassen sich auch historische, rituelle Vorgänge v. a. der mittelalterlichen Prozessionspraxis, bspw. das ‚station prayer‘, als Muster annehmen; vgl. DIETL, 2006, S. 192f. 214 „Deutsche Oster- und Passionsspiele lassen sich vereinzelt seit dem 13. Jahrhundert nachweisen. Ihre größte Verbreitung fanden die Osterspiele allerdings im 15. Jahrhundert und die Passionsspiele im 15. sowie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit deutlicher Markierung der Jahrhundertwende, in die ihre größte Popularität fällt“; FISCHER-LICHTE, 1993, S. 19. Es ist möglich, die kinästhetische Wahrnehmung schon an früheren Beispielen mittelalterlicher Theatralität aufzuzeigen, jedoch sind hier sowohl die Quellenlage als auch der Forschungsstand eher spärlich. Es lässt sich trotzdem vermuten, dass noch vor dem Auszug der Spiele aus der Kirche, also vor ihrem Wechsel von der Kleriker- zur Volkskultur, der Kirchenraum für die Aufführungen der Osterspiele segmentiert und semantisiert wurde, sodass auch hier eine Handlungskonstruktion durch den sich bewegenden Zuschauer zugrunde gelegen haben muss. So stellt Wolfgang F. Michael bezüglich des noch auf den Kirchenraum beschränkten Dreikönigsspiels von Fleury fest: „Dieses Dokument ist bedeutungsvoll für ein weiteres Phänomen: Mit der Ausdehnung durch die ganze Kirche wird die gesamte Gemeinde zum Mitspielen gebracht. [...] Die Darstellung wird hier in exemplarischer Form zum Wiedererleben der heiligen Begebenheit“; MICHAEL, 2001, S. 658. In ihrer Tendenz, den Kirchenraum semantisch zu segmentieren, scheinen das frühe Geistliche Spiel und der Kreuzweg durchaus ‚artverwandt‘.

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Spuren einer höfischen Wahrnehmungstheorie

bühne ab,215 bewegt sich in einem oft rechteckigen manchmal auch runden Gesamtausbau zwischen den Polen Himmel und Hölle von einem Schauort zum nächsten. Der Körper des Betrachters wird so zum Sinnbild des Menschen im mittelalterlichen Weltbild: der im Diesseits horizontal Wandelnde zwischen jenseitigen Vertikalen. Die Bewegung des Körpers an den Podien vorbei konstruiert die für den jeweiligen Tag angesetzten Handlungsabschnitte als lineare Narration aus stationären Bildern.216 „Der Mensch erfährt sich [in den Oster- und Passionsspielen] vor allem in seinem und durch seinen Körper“. 217 Auch hier macht die Bewegung den Rezipienten zum körperlichen Teilhaber am heilsgeschichtlichen Geschehen218 – bei gleichzeitiger Teilhabe am bspw. über die städtebauliche Semantik symbolisch auf ihn ausgerichteten Raum

215 „Bühnenform des MA. (z. B. für Passionsspiele u. a. geistliche Dramen), bei der alle für den Ablauf der Handlung erforderlichen Schauplätze (loca) gleichzeitig auf demselben Podium und vollständig sichtbar [...] nebeneinander aufgebaut sind“; WILPERT, 1979, S. 754. 216 Dies trifft natürlich nur für die Teile der Passionsspiel-Inszenierungen zu, in denen die Handlung sich räumlich auf die Podeste beschränkt. Die kinästhetische Wahrnehmung endet dort, wo Darsteller durch den Publikumsraum ziehen, wie zum Beispiel beim Einzug der Heiligen Drei Könige. Hier wird die Trennung von Publikums- und Spielraum aufgehoben, da sich nun Darsteller und Zuschauer im gleichen Raum in Bewegung befinden, weswegen auch der vorherrschende kinästhetische Wahrnehmungsmodus variiert. Bezüglich der Wege der Darsteller im Geistlichen Spiel vgl. KOTTE, 2007, und GRECO-KAUFMANN, 2010; dazu auch DÄUMER, 2009 (Rezension von Zou der Eere Gottes). 217 FISCHER-LICHTE, 1999, S. 91. 218 Die Betonung der körperlichen Teilhabe des Publikums richtet sich in Teilen gegen Jan-Dirk Müllers Betrachtung der Geistlichen Spiele. Er sieht in dem gemarterten Körper Christi einen Träger von inskribierten Gedächtniszeichen. Fokussierend auf die korporale Inskription am Darsteller verliert Müller jedoch die ‚körperlichere‘ Art der Rezeption aus den Augen: „Die Spiele schließen dagegen den Zuschauer von unmittelbarer körperlicher Erfahrung aus. Ihre Mittel sind rein visuell und akustisch. Deshalb muß die Sprache und die Szene emotionalisiert werden“; MÜLLER, 1997, S. 83. An dieser Stelle marginalisiert Müller die sinnlichen Wirkweisen eines theatralen Ereignisses. Um die memoriale Inskription zu beschreiben kann sich die Analyse nicht auf das beschränken, was auf den Podien geschieht und gesprochen wird, sondern muss – bspw. über das Konzept der ‚kinästhetischen Wahrnehmung‘ – auch der Vorgänge und sinnlichen Erfahrungen eingedenk sein, die vor diesen stattfinden.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

der Spiels.219 Es ist anzunehmen, dass aufgrund dieser motorischmentalen Teilhabe der Besuch der Passionsspiele, auch nachdem sie von einer städtischen Trägerschaft übernommen worden waren, im Sinne der Passionsfrömmigkeit „als ein ‚gutes Werk‘ anerkannt wurde, [...] als eine Art Sakrament“.220 Bei beiden hier exemplifizierenden Kunstformen sind die inneren und äußeren Bewegungen „nicht nur körperlich-mentale Vorgänge, sondern zentrale Inszenierungspraktiken des Ästhetischen“,221 bei denen „durch raumzeitliche Nähe Teilhabe im Sinne einer integrierten ‚Teilnahme‘ – also eine Partizipation – erfolgt“.222 Im Falle der Beispiele ist diese Partizipation auch durch den Stoff gegeben, denn schließlich ist die Heils- immer auch die eigene Geschichte. Doch die Wahl des Stoffs ist sekundär, denn die Partizipation durch körperlich-mentale Bewegung kann ebenso bei profanen oder fiktiven Stoffen erwirkt werden. ‚Kinästhetische Wahrnehmung‘ meint also den rezipierenden Modus, den mittelalterliche Kunstwerke – respektive deren Schöpfer und Realisatoren – unabhängig von ihren Stoffen über körperliche oder geistig ‚bewegte‘ Teilhabe auslösen. Wenzel und Lechtermann berufen sich für die Konzipierung dieses Rezeptionsmodus auf Haiko Wandhoffs Thesen zur Wahrheit setzenden „Relevanz von Augenzeugenberichten“.223 Wandhoff etablierte 1996 in Der Epische Blick die Denkfigur eines mittelalterlichen esse est percipi,224 jedoch nicht transzendent bzw. theologisch mit Gott, sondern 219 Den Zusammenhang von Stadtarchitektur und Ausrichtung der Podien erläutert Friedemann Kreuder hinsichtlich des Luzerner Bühnenplans; vgl. KREUDER, 2008, v. a. S. 92-94. 220 Ebd., S. 96. 221 GRONAU u.a., 2004, S. 20. 222 Ebd. 223 Vgl. WENZEL/LECHTERMANN, 2001, S. 203; Zitat: WANDHOFF, 1996, S. 179. 224 „Esse est percipi aut percipere“ (‚Das Sein der Objekte ist Wahrgenommenwerden, das Sein der Subjekte Wahrnehmen‘) ist die Grundthese des irischen Empiristen George Berkeley (1685-1753), nach dessen Theorie des Immaterialismus die Außenwelt nicht wirklich, sondern nur in ihrer Wahrnehmung existiert. Ebenso wie der Mensch durch seine individuelle Wahrnehmung subjektivistisch ‚Welt‘ konstituiert, wird Gott – indem er alles sieht – zum Garanten der gesamten Existenz. „‚Dinge‘ sind für Berkeley also nichts anderes als Komplexe von Ideen, die durch Gott perzipiert und durch Affektion unseres Geistes in uns hervorgerufen werden“; KUNZMANN/BURKARD/WIEDMANN, 1998, S. 123 (Hervorhebungen im Original);

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profan-fiktiv mit dem Interaktionssystem des Artushofs als Existenzgaranten. Aus der Perspektive dieser Theorie ergibt sich die ‚Bewahrheitung‘ der fiktiven Welt coram figuris,225 also aus einer Wahrnehmung des Geschehens durch fiktive Augenzeugen. Wandhoffs Theorie offeriert dem höfischen Roman einen Anschluss an die Theoriebildung zur (literarischen wie außerliterarischen) Zeugenschaft.226 Nach deren Kategorisierungen, bspw. der von Oliver R. Scholz, ist die Beobachtung Wandhoffs jedoch zu erweitern. Denn nicht nur die fiktive Zeugenschaft ist bei einer kulturwissenschaftlichen Perspektive von Belang, sondern ebenso der „transmissive Aspekt“227 des Zeugnisakts ‚Text‘. Mit anderen Worten: Es gilt zu bedenken, dass der mittelalterliche Text durch die Häufung optischer Informationen ebenso als „verlängerte Augen der Hörer und Leser“228 wirkt und der fiktive Augenzeuge so als verbildlichte mediale Selbstreflexion des ‚Zeugen‘ namens Rezipient gelten kann. Deshalb lässt sich die Wahrheitssetzung durch Figuren ebenso im Sinne der Aufführung als eine ‚Bewahrheitung‘ der fiktiven Welt durch den Zuhörer beschreiben, als ein Dasein coram hominibus, wobei der Rezipient beinahe gottgleich zum Garanten der Fiktion wird. Bei der kinästhetischen Wahrnehmung wird Wandhoffs Konzept um eine zusätzliche Größe erweitert – die Bewegung, deren mittelalterliche

225

226

227 228

vgl. auch SANDVOSS, 2001, S. 249-251. In radikal subjektivierter und dadurch nicht mehr auf das Mittelalter anwendbarer Form ist Berkeleys These als Vorverweis auf Schopenhauers Begriff der ‚Vorstellung‘ zu sehen, nach dem Objekte nur in der Weise gegeben sind, in der sie das Subjekt bedingt; vgl. KUNZMANN/BURKARD/WIEDMANN, 1998, S. 161. Hugo von St. Viktor formulierte für seine Schüler den monastischen Grundsatz eines Daseins und Lernens coram deo et coram hominibus (vor den Augen Gottes und der Menschen), der für die obige Anwendung auf die Figurenwelt ausgeweitet wurde; vgl. ILLICH, 1991, S. 82. Ich danke Heike Schlie, Aurélia Kalisky und Denise Reimann für die bereichernden Diskussionen und – mehr noch – für den freundschaftlichen Austausch im Rahmen des ‚Zeugenschaft‘-Projekts am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Unsere langen, doch nie langweiligen Gespräche regten mich zu einem ‚Last-Minute-Einbezug‘ der Zeugenschaft als heuristischer Metapher an. SCHOLZ, 2011, S. 29. WANDHOFF, 1996, S. 178. Wandhoff beruft sich auf McLuhans Mediendarstellung als „extensions of man“; vgl. MCLUHAN, 1964.

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Wahrnehmung Wenzel und Lechtermann kontrastiv zur neuzeitlichen Bewegungserfahrung im Film darstellen: „Während der moderne Film charakterisiert ist durch den festen Standort des Betrachters, vor dessen Auge sich das Bild bewegt, ist die kinästhetische Wahrnehmung des Mittelalters charakterisiert durch das fixierte Bild oder die Bilderfolge, an der die Person des Betrachters sich entlangbewegt. Im Ablauf der vorgezeichneten Wegstationen schreibt sich dieser Weg in das Gedächtnis ein, das jedoch nicht nur die Einzelbilder akkumuliert, sondern die Sensomotorik des Körpers in seiner 229 Ganzheit speichert.“

Bei der kinästhetischen Wahrnehmung handelt es sich um einen Wahrnehmungsmodus, der in unserer Gegenwart seltener geworden ist – die zugespitzte Formulierung jedoch, es handele sich um „die kinästhetische Wahrnehmung des Mittelalters“, also um einen epochenprägenden, gar andere Wahrnehmungsmodi ausschließenden Vorgang, muss relativiert werden. Auch im Mittelalter ist für viele Rezeptionsvorgänge ein statischer Rezipient denkbar230 wie auch noch heutzutage der ‚bewegte‘ Betrachter nötig ist, um bestimmte Kunstwerke oder kulturelle Vorgänge zu erschließen.231 Genauso ist auch die Kontrastierung vom kinästhetisch Wahrnehmenden mit dem modernen Zuschauer eines Films nur auf den ersten Blick dazu geeignet, den Unterschied zwischen mobiler und statischer Rezeption zu veranschaulichen. Der Vergleich hat das Manko, dass er die Funktion der Kamera als Wahrnehmungsvermittler 229 WENZEL/LECHTERMANN, 2001, S. 193f. 230 Der Zuschauer einer Prozession ist im Gegensatz zu den vorbeiziehenden Akteuren ein statischer; erst das Kriterium der Bewegung unterscheidet den Rezipienten vom Prozessionsteilnehmer. Ebenso ist der Betrachter eines einzelnen Gemäldes ein statischer, wenn es nicht, wie beim Kreuzweg, Element einer mehrteiligen räumlichen Anordnung ist, oder, wie generell bei der Wandmalerei, in einem engem Zusammenhang mit der Raumerfahrung des Rezipienten steht; zur Raumerfahrung in der profanen mittelalterlichen Wandmalerei vgl. WOLTER-VON DEM KNESEBECK, 2009. 231 Auch zu den modernen Wahrnehmungsmethoden gehört ‚bewegte Rezeption‘. Man denke nur an Museumbesuche, bei denen man sich an chronologisch geordneten Artefakten vorbeibewegt und so durch die eigene Körperbewegung den Verlauf der Zeit imaginiert, oder an einen nach Kontinenten geordneten Zoo, in dem die kinästhetische Wahrnehmung einem eine symbolische Reise um die Welt ermöglicht.

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nicht mit einbezieht. Denn die Kamera kann – nach der Medientheorie McLuhans ebenso wie nach den Setzungen vieler Filmtheoretiker –232 als ein die Sinne des Zuschauers erweiterndes mobiles Wahrnehmungsorgan gesehen werden. Dementsprechend ist die Bewegung der Kamera eine mediale Erzeugung von Bewegung im Betrachter; der moderne Filmzuschauer ist somit ebenso ein bewegter Rezipient wie der kinästhetisch Wahrnehmende des Kreuzwegs oder – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – wie der Zuhörer eines Romanvortrags.233 Bei allen dreien ist die Bewegung ein verbindendes Element zwischen Betrachter und Betrachtetem – die einzigen Unterschiede sind in den Arten der Bewegung und dem ihnen jeweils zugrunde liegenden Körperbegriff zu suchen. Beim Kreuzweg bewegt der Rezipient motorisch seinen wirklichen Körper; beim Film wird das Körperschema durch den Apparat bewegt und beim höfischen Roman gibt es diverse narrativ-performative Techniken, die einerseits (und hauptsächlich) das Körperschema in Bewegung versetzen, jedoch andererseits auch – bspw. über die im Folgekapitel dargelegte ‚Grausamkeit des Sprechens‘ – die reale Physis des Zuhörers adressieren. Die Anstöße der Bewegung unterscheiden sich also im Grad ihrer Technisierung (von der direkten physikalischen Einwirkung bis hin zur Kamera), die bewegten Körper im Grad ihrer Imagination (von der Physis bis hin zum Körperschema). Der funktionale Zusammenhang von Bewegung und Rezeption – der den Kerngedanken der kinästhetischen Wahrnehmung ausmacht – bleibt jedoch stets der gleiche. Es scheint also angemessen, in der kinästhetischen Wahrnehmung ein konstantes Prinzip zu sehen, das in historischen Wahrnehmungssituationen nur mit jeweils differierender Gewichtung auftaucht. Wenzel und Lechtermann sehen hingegen einen historischen Umbruch von 232 Als Beispiel kann an dieser Stelle vorab der russische Avantgarde-Filmer Dzinga Vertov genannt werden, der in einem Manifest schrieb: „Die Kamera bugsiert die Augen des Filmzuschauers“; VERTOV, 2003, S. 43. Vertov versteht die Kamera – ganz im Sinne der erst Jahrzehnte später formulierten These McLuhans – als Verlängerung und als (im wörtlichen Sinne) Motor, als bewegender Antrieb der visuellen Wahrnehmung des Zuschauers; für eine nähere Beschäftigung mit Vertovs Thesen siehe Kapitel 3.3.1. 233 Diese theoretischen Vorüberlegungen stehen in engem Zusammenhang mit den Ausführungen zum ‚Kameramann‘ Gawein in Kapitel 3.3.1 und in DÄUMER, 2010 (Hje kam von sinen augen).

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der mittelalterlichen zur modernen Wahrnehmung in der Durchsetzung der Zentralperspektive, „die mit dem Blickpunkt auch den Fußpunkt des Betrachters festlegt“.234 Die Setzung dieser Zäsur simplifiziert den historischen Verlauf. Es gilt zu bedenken, dass nach dem Schwinden der mittelalterlichen Perspektive respektive der Simultanbühne durchaus noch andere Schauräume entstanden, die vorerst nichts mit der Zentralperspektive zu tun hatten, z. B. eine Abwandlung der spätmittelalterlichen Simultanbühne, die englische Wagenbühne, bei der die Stationen des Stückes auf Wagen an den Zuschauern vorbeigezogen wurden; des Weiteren die Bühne des Elisabethanischen Zeitalters, die Terenz-Bühne oder die frühen Rekonstruktionsversuche der VitruvBühne.235 Es scheint in diesem Zeitraum keine Ablösung, sondern ein höchst komplexes Wechselspiel zwischen den Prinzipien der kinästhetischen Wahrnehmung und der ‚modernen‘ Zentralperspektive stattgefunden zu haben, das abhängig war von der historischen Entwicklung entsprechender (theatraler) Schauräume und generell der jeweiligen Medien. Wie schon Zumthor feststellt, wurden die mittelalterlichen Texte als „Programme des Verhaltens erlebt – und zwar eines Verhaltens, innerhalb dessen der Körperbewegung und dem Erleben der Körperbewegung höchste Bedeutung zukam“. 236 Wenzel und Lechtermann integrieren diese Eigenart der mittelalterlichen Texterfahrung in ihr Konzept: „Wird der Text [...], wie vorgesehen, inkorporiert und ausgesprochen, kommt er [...] im performativen Akt zur [...] doppelten Wirksamkeit: Im Körper des Vortragenden wird er zum Spiegel der ‚zuht‘, zum Vorbild höfischen Verhaltens, im Körper des Lesenden/Hörenden führt er zur Verschmelzung von Wahrnehmung und Partizipation. [...] [Es entsteht] die Inkarnation des Wortes, die den Text und seinen Leser gleichzeitig 237 bewegt.“

Was für die Kinästhesie allgemein behauptet wurde, trifft im Speziellen für den mittelalterlichen Textvortrag zu: Der Zuhörer wird, den Kon-

234 235 236 237

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WENZEL/LECHTERMANN, 2001, S. 194. Für die Bühnenformen vgl. BRAUNECK, 2001, S. 330f., 1017 und 1027-1034. ZUMTHOR, 1988, S. 706. WENZEL/LECHTERMANN, 2001, S. 198.

Spuren einer höfischen Wahrnehmungstheorie

ventionen einer Aufführung entsprechend, zum aktiven Teilhaber an der Fiktion, indem er das im Vortrag gesprochene Wort inkorporiert, die sensuellen Inhalte der Worte auf sich selbst projiziert, die latenten Bewegungsangebote in der imaginatio aktualisiert und so seiner memoria einschreibt. Dabei entwickelt er mittels (geistiger) Bewegung durch verschiedene autonome Bilder eine kontinuierliche Handlung (im Fortlauf der fiktiven und der Darbietungs-Zeit) und nimmt, so könnte man sagen, eine ‚teilhabende Montage‘238 vor. Die Rezeption von Erzähltem – und besonders die Rezeption einer mündlich vorgetragenen Erzählung – wird durch diese montage-artige Teilhabe zu einem dem Bewegen durch Bilder analogen Zustand. Dies stellt im Mittelalter schon der zweite Chrétien-Fortsetzer in einem metafiktionalen Einschub fest. Dort betritt Perceval das reich ausgestattetes Gemach der Herrin des Schachspiels: [Il] en la rice cambre entra

[Er] trat in das reiche Gemach,

Que jou ne voel mie descrire;

das ich jedoch keinesfalls beschreiben will,

Car ki conter vorroit à tire

denn wer erzählen will von

La grant biauté et la rikesce

der großen Schönheit und dem Reichtum

Et le délit et la nobleche

und die Helligkeit und die Würde

Dont la cambre estoit adoubée,

dieses Gemachs darstellen wollte,

Ains péust-on une liuée

könnte wohl eine Meile bequem

Aler à pié tout belement

zu Fuß zurücklegen,

Que desissiés, mon ensient,

ehe er damit fertig wäre, das Werk

L’uevre si com ele est escrite

zu beschreiben, wie es geschrieben steht;

Ne par ma bouce toute dite [...].

daher soll auch mein Mund es nicht sagen.239

(CONTIN., P, V. 30390-400)

Der Erzählvorgang wird mit einem Fußmarsch von einer Meile analog gesetzt. Doch während es der schriftlichen Vorlage leicht fällt ‚eine Meile zu erzählen‘, wählt der Rezitator demonstrativ die (Ab-)Kürzung. Schriftliches wie performatives Erzählen ist der Bewegung analog; das performative vielleicht sogar noch mehr, sodass es auch erschöpfender ist.

238 Siehe Kapitel 3.1.1. 239 Übersetzung: SANDKÜHLER III, S. 137.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Natürlich sind der generelle Zusammenhang von Bewegung und Erzählen sowie die Kontinuität und die Sukzession solcher (Erzähl-) Bewegungen Größen, die sich ebenso auf moderne Romane sowie generell auf die in Teilen körperlichen und bewegten Vorgänge des Lesens und Schreibens übertragen lassen.240 Was aber gerade die Rezeption mittelalterlicher Romane zu einem kinästhetischen Erlebnis macht, hängt einerseits vom stark episodischen Charakter der Struktur und der Handlungslogik, andererseits von der spezifischen Korporalität performativ umgesetzter Texte ab.241 Erst das Vorhandensein mehrerer ‚Einzelbilder‘ und deren Kontinuierung in einem korporalen und ‚bewegten‘ Vorgang (wie in der Aufführung) machen die Rezeption zu einer kinästhetischen. Im konkreten Umgang mit dem höfischen Roman stellt sich die Frage, welche Einzelbilder es sind, an denen sich Rezitator und Zuhörer geistig entlangbewegen. Als erstes sind die (mehr oder minder) autonomen Episoden der Romane zu nennen. Rezitator und Zuhörer gehen mit der Figur auf Aventüre242 und durchleben so die Einzelstationen der Narration, die sie in einem episoden- und vortragsübergreifenden243 Konstruktionsaufwand zu einer (ebenso mehr oder minder) kontinuierlichen Bewegung oder ‚Entwicklung‘244 des Helden linearisieren. Die

240 Studien zu diesem Zusammenhang gibt es bspw. zu Thomas Bernhard, insbesondere zu seinem in dieser Hinsicht programmatischen Text Gehen, sowie zu dem ebenfalls programmatischen Gespräch der drei Gehenden von Peter Weiss; vgl. für beide WEYMANN, 2007. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die so genannten Mikrogramme Robert Walsers, in denen der Vorgang des Spazierengehens, das auch in Wirklichkeit Walsers Textproduktion in den späten Jahren katalysierte, zum Sinnbild des Schreibens erhoben wird; vgl. Walser, 1985. 241 Siehe Kapitel 2.3. 242 „Das Unterwegssein der rîter und frouwen korrespondiert mit dem mentalen Unterwegssein des Hörers oder Lesers“; WENZEL/LECHTERMANN, 2001, S. 203. 243 Beim Vortrag der langen höfischen Epen muss eine Aufteilung in mehrere Vortragseinheiten bestanden haben. Methoden für eine Bestimmung dieser Einheiten liefern Linkes Untersuchungen zu Chrétiens und Hartmanns Artusromanen (vgl. LINKE, 1968); zur exemplarischen Bestimmung der Vortragseinheit ‚Zelterepisode‘ für Hartmanns Erec siehe Kapitel 3.3. 244 Ich kann mich aus Gründen der Argumentationsführung nicht mit dem Problemkomplex auseinandersetzen, ob es sich bei dem Durchlaufen des Doppelwegs im klassischen höfischen Roman um eine Entwicklung des

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Spuren einer höfischen Wahrnehmungstheorie

Bewegung des Helden durch den fiktiven Raum entspricht dabei der Bewegung des Zuhörers durch die Aufführungszeit. Jedoch nicht nur für den gesamten Roman bzw. im Ablauf einer Vortragsreihe, auch in der Konstruktion der einzelnen Episoden hat die Theorie Beschreibungspotenzial: „Räumliche Vorstellungsbilder sind transformierbar in die Zeitlichkeit von Erzählungen, die wieder in Bildsequenzen transformiert werden können. Die höfische Literatur, die sich in der Kultur der Sichtbarkeit behaupten muß, ist charakterisiert durch eine Poetik, in der der Leser oder Hörer zum Beobachter wird, [...] zu einem Augenzeugen zweiter Ordnung. Zu den eindrucksvollsten poetischen Mitteln volkssprachlicher Texte zählt die dargestellte Autopsie. In der Schilderung eines Kampfes, eines Turniers oder einer Begräbnisszene wird eine Beobachterfigur eingeführt, deren Augenwahrnehmung so vermittelt wird, daß der textexterne Leser durch das Okular des textinternen Beobachters die 245 dargestellte Szene wahrnimmt.“

So nimmt die bewegte Figur die fiktive Welt stellvertretend für den Augenzeugen zweiten Grades, den Zuhörer, wahr. Aus dieser Konstellation heraus müssen bestimmte Gemeinplätze der Narratologie umgedacht werden. Gérard Genettes Leitfragen an die Instanz des focalizers, „qui voit?“246 und „qui percoit?“247 (im Gegensatz zum Erzähler, der mit der Frage „qui parle?“ zu identifizieren ist),248 sind unter den gegebenen Prämissen unterschiedlich zu beantworten: In der Welt der Fikti-

245 246 247

248

Helden im Sinne des Bildungsromans handelt oder nicht. Deshalb bleibt der Begriff ‚Entwicklung‘ als unsicher markiert. WENZEL/LECHTERMANN, 2001, S. 200f. Vgl. GENETTE, 1972, S. 203. Vgl. GENETTE, 1983, S. 43. Genette stellt diese zweite Leitfrage in Nouveau discours du récit (1983), um im Gegensatz zu seinen Thesen in Discours du récit (1972) dem visuellen Sinn alle anderen Sinne beizufügen. So kann der focalizer in der späteren Publikation nicht nur perspektivisch sehen, sondern auch hören, riechen, schmecken, etc. Ich möchte die Ausweitung des Begriffs verlagern: In den deutschen Entsprechungen der Begriffe wird klar, dass es sich beim ‚Wahrnehmen‘ – im wörtliche Sinn des ‚Wahr-Nehmens‘ – um einen die Wahrheit festlegenden Vorgang handelt, eine Bedeutung die der Begriff ‚Sehen‘ nicht umfasst; siehe hierzu die Definition von ‚WAHRnehmung‘ in Kapitel 3.3.1. Vgl. GENETTE, 1972, S. 203.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

on sieht (voir) die Figur; entstehen kann diese Welt aber erst in der Imagination des Zuhörers, der die Sinneseindrücke der Figur über seinen Avatar wahrnimmt (percevoir). Die Fokalisierung ist so auf zwei Instanzen verteilt und lässt über das Auge der Figur ein ‚Bühnenbild‘ vor dem inneren Auge des Rezipienten entstehen. Die vorliegende Arbeit wird die Fragen stellen, inwieweit die behandelten Texte die Autopsie, den ‚Zeugencharakter‘ visueller (und generell sensueller) Wahrnehmung, in den Romanen dazu verwenden, um auf die in die Fiktion hinein verlängerte Wahrnehmung der Zuhörer einzuwirken. Dabei wird die performative Umsetzung des Texts in seiner Aufführung als eine abstrakt rekonstruierbare Größe angesehen, die in der historischen Realität über die Freisetzung von latenter, also textuell gespeicherter kinästhetischer Energie den Rezipienten durch inner- sowie außertextliche Vermittlungsinstanzen zu mentaler Bewegung auffordert. Des Weiteren sollen die Passagen der Artusromane genauer untersucht werden, die die kinästhetische Wahrnehmung auf Diskursebene thematisieren.

2.3

Korporalität: Die Grausam keit des Sprechens „Jenseits von Jedem / words don’t come easy. Mein Gott, ich brauch sie, / denn sie schneiden in mich rein und in mein Leben / und in den Schall auf dem wir schweben; und sei der Bruch auch noch so klein: / Der Schock schreibt mit.“ Jochen Distelmeyer, Evergreen249

Um den höfischen Roman als theatrale Partitur bzw. sein performatives Potenzial untersuchen zu können, gilt es zu bedenken, inwiefern ein Text jenseits seiner materiellen Körperlichkeit (Buchstabenkörper, Textbild, das Buch als Gegenstand) Zugang zu jener anderen, flüchtigen und unberechenbaren Körperlichkeit des Vortrags bieten kann, die das Kriterium der Korporalität im Aufführungsbegriff Fischer-Lichtes

249 Blumfeld, 1994, Track 10.

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Korporalität: die Grausamkeit des Sprechens

erfüllt. Korporalität ergibt sich aus „dem Faktor der Darstellung bzw. des Materials“.250 Theoretisch umfasst sie also alle materiellen Faktoren der Kommunikation zwischen Rezitator und Publikum oder die der konkreten Örtlichkeit, an der die Aufführung stattfindet. Diese sind allerdings nicht mehr zugänglich. Das Material, das zur Verfügung steht, ist lediglich der Text. Dieser jedoch – so meine These – gehört in seiner Verbalisierung auch zu den korporalen Bestandteilen der Aufführung. Es muss um die körperlichen Effekte bzw. Affekte gehen, welche die vom Forscher als aufgeführt imaginierten Verse beim Rezipienten bewirken können. Der durch die kinästhetische Wahrnehmung bedingte körperliche Prozess der Inkorporation durch (mentale) Bewegung hat sich schon im vorigen Kapitel als die Korporalität des höfischen Romanvortrags bedingender Faktor erwiesen. Jedoch ging es dabei um eine Korporalität, die sich primär auf das Körperschema des Rezipienten bezog, also eine imaginative körperliche Erfahrung meint. Nun muss es gelten, die auf den realen Körper bezogenen somatischen Effekte des sprachlichen Materials in den Fokus der Untersuchung zu nehmen. Hierfür möchte ich Sybille Krämers Konzept der ‚verkörperten Sprache‘ nutzen: „Verkörperte Sprache meint zuerst einmal: Es gibt keine Sprache jenseits des raum-zeitlich situierten Vollzugs ihrer stimmlichen, schriftlichen oder gestischen Artikulation. Sobald wir Sprache als ein radikal zeitliches Phänomen erfassen, kommen die unausdrücklichen, die medial und technisch gebundenen Bedingungen des Sprachgebrauches un251 ausweichlich ins Spiel.“

Für die zu erarbeitende Methode bedeutet dies: Wenn die Sprache in ihrer korporalen Bedeutung untersucht werden soll, ist es unerlässlich, die etablierte Denkgröße des medial fungierenden Rezitators beim analytischen Lektürevorgang mitzudenken und soweit wie möglich die Techniken seiner performativen Tätigkeit zu beschreiben. Sprachliche Performativität als Medialität zu beschreiben bedeutet also, der imaginierten Kommunikationsgemeinschaft von Rezitator und Publikum über die Korporalität der Sprache ‚zu Leibe zu rücken‘. Denn der medial 250 FISCHER-LICHTE, 2002, S. 299. 251 KRÄMER, 2002, S. 331.

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operierende Rezitator hinterließ Spuren in der Lautlosigkeit des Papiers; einerseits Spuren, die nicht intentional gelegt wurden, sondern sich aus den medialen Gegebenheiten des höfischen Romans ergaben, andererseits Spuren in der vom Dichter konstruierten und vom Rezitator zu nutzenden Leerstelle und letztendlich auch Spuren, die – eingedenk der Fluidität des mittelalterlichen Texts – nachträglich von einem Rezitator gesetzt werden konnten. Der höfische Roman muss deshalb im Folgenden nicht nur als dichterisches Konstrukt, sondern vor allem als Oberfläche dieser Einschreibungen verstanden werden. Doch bevor die Spurensuche beginnen kann, muss, angesichts der Tatsache, dass mit Editionen handschriftlich verfasster Werke gearbeitet wird, die Frage geklärt werden, wo genau die Differenzen zwischen der Rezeption eines geschriebenen oder gedruckten und eines performativ umgesetzten und somit ‚korporalen‘ Texts liegen. Der erste Unterschied ist die Involvierung anderer Sinne beim Vorgang der Rezeption. Beim stillen Lesen wird – lässt man die innerlichen Imaginationsvorgänge außer Acht – primär der visuelle Sinn angesprochen, sekundär der taktile Reiz im Umgang mit dem Gegenstand ‚Buch‘. Alle anderen Reizungen gelten als Ablenkungen. Beim Vortrag hat man es mit einer Kombination mehrerer Sinneseindrücke zu tun, vor allem des visuellen und des akustischen, aber auch flüchtiger, bspw. olfaktorischer Eindrücke, deren Einfluss auf den Rezipienten nicht mehr aus dem Text erschlossen werden können. Die akustische Rezeption kann man hingegen auch Jahrhunderte später noch simulieren, indem man den Text laut liest, vorlesen lässt, sich während des Lesens die Worte als gesprochen imaginiert oder selbst murmelt. Doch jede der Simulationen wird einen eigenen Charakter haben, eine andere Prägung durch die jeweilige reale oder imaginierte Stimme eines Vortragenden und die Spezifika des Aufführungsorts. Wenn Zumthor fordert, man solle wieder auf die in den Texten eingelagerte Stimme lauschen,252 welche der unzähligen Möglichkeiten der Intonation meint er dann? Oder wie Roland Barthes diese Frage formuliert: „Was singt mir, der ich höre, in meinem Körper das Lied?“253 Als denkökonomisches Konstrukt zur Annäherung an die ‚verkörperte Sprache‘ mag an dieser Stelle das weiterhelfen, was Barthes als 252 Vgl. ZUMTHOR, 1994, S. 11-33. 253 Titel von BARTHES, 1979.

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die ‚Rauheit‘ (le grain) bezeichnet, das Timbre einer Stimme, „wenn diese sich in zweifacher Stellung befindet, zweifaches hervorbringt: Sprache und Musik“.254 Es handelt sich hierbei weder um die individuelle Note einer Stimme255 noch um die Prosodie einer konkreten Sprechhandlung. Barthes erklärt die literarische Wirkung der ‚Rauheit‘ von der produktionsästhetischen Seite her, was angesichts der sonstigen Vehemenz, mit der er die Instanz des Autors zu entmachten gedenkt,256 befremdlich erscheint: „Wenn man sich eine Ästhetik der Textlust vorstellen könnte, müßte sie das laute Schreiben einschließen. Dieses vokale Schreiben (das keineswegs das Reden ist) wird nicht mehr geübt, aber es ist sicher das, was Artaud empfahl und Sollers fordert. [...] Das laute Schreiben [...] ist nicht expressiv; es beläßt den Ausdruck beim Phäno-Text, beim regulären Code der Kommunikation; [...] es wird nicht von den dramatischen Modulationen, den boshaften Intonationen, den gefälligen Akzenten getragen, sondern von der Rauheit der Stimme, das eine erotische Mischung aus Timbre und Sprache ist und daher seinerseits, ebenso wie die Diktion, Material einer Kunst sein kann.“257

Es handelt sich bei der ‚Rauheit‘ also um eine objektive, von der konkreten Verbalisierung unabhängige Größe, die sich anhand des an sich stummen Texts ablesen bzw. -hören lässt. Barthes gesteht mit der für ihn ungewöhnlichen Berufung der produktionsästhetischen Seite zu, dass dies nur geschehen kann, wenn ein Autor bewusst ein ‚lautes Schreiben‘ praktiziert, um seinem Text eine Qualität zu verleihen, die jenseits der zweidimensionalen Schwarz-Weiß-Rasterung des Papiers liegt. Für Barthes ist – im Gegensatz zu Krämer – die Rauheit der Stimme also ein an sich nicht expressiver, doch auf Expression bzw.

254 BARTHES, 1990, S. 301; Hervorhebungen im Original. 255 Barthes definiert den Begriff der Rauheit in zwei seiner Texte. Während sie in Die Rauheit der Stimme durchaus als individuelle und konkrete Größe behandelt wird, erfährt der Begriff in Die Lust am Text eine überindividuelle, abstrakte Prägung. Ich bevorzuge letztere, da nur sie verspricht, die methodischen Probleme der Rezeptionsästhetik zu ebnen. 256 Für dieses Vorhaben vgl. v. a. Barthes Text mit dem programmatischen Titel La mort de l’auteur von 1968. 257 BARTHES, 1974, S. 97; Hervorhebungen im Original.

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performative Verwirklichung hinzielender textueller Effekt: Sie ist Teil der Performanz, d. h. ein auf die performative Verwirklichung abzielendes Potenzial. Manch Autor der Moderne ist sich dieser Rauheit bewusst; Barthes nennt als Referenz Sollers, der seinen Standpunkt zum Verhältnis von ‚Text‘ und ‚Laut‘ in seinem Romanexperiment Lois mit den Sätzen „Contre l’écrit non parlé. Contre le parlé non écrit“258 Ausdruck verleiht. Ebenso lässt sich in diesem Zusammenhang auch an die Lautgedichte der Dadaisten oder Ernst Jandls denken. Es gibt jedoch auch weniger experimentelle Literaturgenres und Autoren, die sich mit dem Lautwert der Sprache auseinandersetzten: So hält etwa Ernst Jünger in seinem Kriegstagebuch Strahlungen am 7. Februar 1940 hinsichtlich seiner Lektüre einer Biographie des Schauspielers Ludwig Devrient von Georg Altmann fest: „Auf die Kunst des Sprechens beim Spiel eingehend, macht der Autor die treffende Bemerkung, daß es einen höheren Sinn der Sprache geben kann, indem das Wort sich über die eigene Bedeutung zum Träger des Affekts erhebt. Nur möchte ich dies den tieferen Sinn des Wortes nennen – die Sprache senkt sich auf ihre reine Lautbedeutung, auf das Alphabet der Leidenschaft hinab. Demgegenüber hat sie auch eine höhere Sphäre, in der das Wort gleichfalls undeutlich wird – es löst sich im reinen Äther auf. Es schmilzt an den extremen Graden des Sinnlichen und des Geistigen dahin. Wir erfassen mit ihm nur die mittlere Lage; es ist die Münze, die unter Menschen gilt.“259

An Jüngers Betrachtung wird deutlich, dass es sich beim Lautwert der Sprache nicht um ein experimentelles Phänomen handelt, nicht 258 Sollers, 1972, S. 109 (‚Gegen das nicht gesprochene Geschriebene, gegen das nicht geschriebene Gesprochene‘; siehe Motto des 1. Kapitels). 259 Jünger, 1988, S. 100. Die Passage in Altmanns Biographie, auf die Jünger anspielt, ist wohl Teil des Kapitels „Aus der Werkstatt“; vgl. Altmann, 1926, S. 174-239. Hier kommt der Biograph, nachdem er das Leben des Schauspielers zu Ende erzählt hat, zu Spekulationen über die ästhetische Bandbreite von Ludwig Devrients Schauspielstil, wobei er oftmals auch dessen Sprache und die Wirkmächtigkeit von Geräuschen thematisiert. Die Ausformung, in der Jünger den Zusammenhang von Stimme und Laut behandelt, ist hier jedoch nicht zu finden. Es handelt sich um Jüngers eigene Theoriebindung, die nur wenig mit der Altmann-Lektüre zu tun hat; siehe folgende Anmerkung.

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um eine Eigenheit des schauspielerischen und schon gar nicht des Devrient’schen Sprechens, sondern um eine ‚Naturgegebenheit‘ der Sprache, um einen konstant mitlaufenden tieferen Sinn, der den Menschen körperlich-sinnlich erregt, so wie der höhere Sinn das Geistige des Menschen anspricht. Beide Daseinsstufen der Sprache flankieren und begleiten ihre semantische Wirkebene. Mit diesen drei Größen zeigt Jünger die Grundlage zur idealen Rezeption seiner eigenen Prosaarbeiten auf.260 Auch auf anderen Gebieten der Kunst wird diese ‚tiefere Bedeutung‘ der Sprache, ihre korporale Wirkung, ins Zentrum des Interesses gerückt. Besonders hervorzuheben sind die Theoriebildungen zum Hörspiel: „In jeder Kunst sind es die elementarsten, die primitivsten Mittel, mit denen die tiefsten und schönsten Wirkungen erzielt werden. Die elementarsten Wirkungen des Hörens bestehen nicht darin, daß es uns den Sinn von gesprochenen Worten vermittelt oder Geräusche, die wir aus der Wirklichkeit kennen. Viel unmittelbarer, ohne alles Erfahrungswissen verständlich, wirken auf uns ‚Ausdruckscharaktere‘ des Klanges: Intensitäten, Tonhöhen, Intervalle, Rhythmen, Tempi. Es sind dies Klangeigenschaften, die mit der gegenständlichen Bedeutung des Wortes und des Geräusches zunächst wenig zu tun haben.“261

Laut Arnheim ist der Lautwert der Sprache das, was das Hörspiel im starken Maße zu nutzen weiß und das eigentliche Potenzial dieses Me260 Dies bestätigen Fundstellen in älteren Werken, vor allem im Abenteuerlichen Herz (1929; zweite Fassung 1938), in denen Jünger schon die Staffelung verschiedener Sprach(wirk)ebenen zwischen den Polen des Materiellen (Lautlichen) und Geistigen als den Idealzustand der Prosa bezeichnet hatte. Als Beispiel mag eine Passage aus dem „Dritten Nachtrag“ zur „Aprikose“ dienen, in der der Autor von einer Prosa spricht, „die größte Durchschlagskraft besitzt. Der Sprachgeist ruht nicht in den Worten und Bildern; er ist in die Atome eingebettet, die ein unbekannter Strom belebt und in magnetische Figuren zwingt. So allein vermag er die Einheit der Welt zu erfassen, jenseits von Tag und Nacht, von Traum und Wirklichkeit, von Breitengraden und Zeiträumen, von Freund zu Feind – in allen Zuständen des Geistes und der Materie“; Jünger, 1997, S. 174; vgl. auch „Zur Kristallographie“ (ebd., S. 11-13) und „Der stereoskopische Genuß“ (ebd., S. 29-33). 261 ARNHEIM, 1979, S. 21.

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diums ausmache. Kein Wunder also, dass sich diese Beobachtung mit der poetologischen Forderung seines Kollegen Knilli deckt, der die Wirkabsicht des Hörspiels wie folgt beschreibt: „Deshalb scheint es auch hörerpsychologisch wichtig, daß im Hörspiel der Vorstellungsraum zurückgedrängt wird und die Realität des Hörspiels, die konkreten Schallvorgänge, stärker ins Bewußtsein des Hörers gehoben werden.“262

Bezogen auf den vorgelesenen höfischen Roman ist dieses Ziel ein schwer zu verwirklichendes. Der Grund hierfür ist in den Grundlagen der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik zu finden: „Seit ihrer griechischen Stiftung hatte die Poesie die Funktion, ein Schallchaos auf anschreibbare und damit artikulierbare Töne zu reduzieren, während Hermeneutik seit ihrer romantischen Gründung diese Komplexitätsreduktion noch einmal geisteswissenschaftlich absicherte: durch Zuschreibung an die Adresse eines poetischen Subjekts namens Autor.“263

Dieser von Kittler aufgezeigten Tendenz gilt es im Folgenden entgegenzuwirken – nicht um Bestehendes zu revidieren, sondern um dem vorgetragenen höfischen Roman eher gerecht zu werden, als dies die hermeneutische ‚Komplexitätsreduktion‘ des 19. Jahrhunderts leisten könnte. Denn ein mittelalterlicher Dichter, der seine Verse aufgrund der medialen Gegebenheiten der Performativität stets hinsichtlich ihrer performativen Verwirklichung zu verfassen hatte, musste die ‚Rauheit der Stimme‘ (Barthes) bzw. den ‚tieferen Sinn der Worte‘ (Jünger) als kreative Größen seines Texts mitgestalten. Schließlich konnte ihm der „im Eingang der Genesis entwickelte[] und im Prolog zum JohannesEvangelium aufgegriffene Gedanke, die Welt sei durch die zugleich ursprünglichen und ewigen Schöpfungsworte Gottes hervorgebracht und damit Resultat einer Identität von Sprechen und Handlen“264

262 KNILLI, 1961, S. 103. 263 KITTLER, 1988, S. 181. 264 HAUBRICHS/KIENING, 2008, S. 17.

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als ein Grundkonzept der ‚realitätssetzenden‘ Sprechhandlung gelten. Das quasi-performative Logos-Konzept ließ sich dabei ebenfalls anhand der Heiligen Schrift als körperliche Wirkkraft der Sprache auffassen: „Mors et vita in manu linguæ: / qui diligunt eam comedent fructus ejus“.265 Die intentionale Formung der (für die Vormoderne) auf höchtster Ebene verbürgten körperlichen Wirkung von Sprache musste einem Dichter der Ära vor dem stillen Lesen als geradezu unverzichtbar gelten, denn ein großer Teil der möglichen ästhetischen Wirkungen entfaltete sich über die Stimme und somit auch über die korporale Wirkung des Lauts. Der mittelalterliche Dichter musste deshalb im Vergleich zum Erschaffer ‚stiller‘ Werke (und seien sie noch so experimentell) viel stärker ein Bewusstsein dafür haben, dass seine Verse eine doppelte Wirkung auf den Rezipienten haben würden: einerseits als semantische Aussage mit einer bestimmten Prosodie (‚Sprache‘), andererseits als eine rhythmische Lautverkettung (‚Musik‘), die auf den Körper des Rezipienten einwirkt und dort unabhängig von semantischer Dekodierung die unterschiedlichsten Reaktionen und ‚Stimmungen‘ auslösen kann.266 Die in diesem Kapitel über den Begriff der sprachlichen Korporalität geführte Argumentation gegen die Überrationalisierung wissenschaftlicher Literaturbetrachtungen schließt sich einem Diskurs an, den v. a. Hans Ulrich Gumbrecht in den Jahren 2006/07 über Beiträge im FAZ-Feuilleton vorantrieb und der 2011 in der Publikation von Stimmungen lesen mündete. Ausgehend von Martin Heideggers Betrachtung von ‚Stimmung‘ in Sein und Zeit als ‚Modalität des Geworfenseins‘ und Friedrich Diltheys Methode, Texte als individuelles Erleben zu erschließen, fordert Gumbrecht eine Überwindung der seit der linguistischen Wende im frühen 20. Jahrhundert einsetzenden Objektivierung der wissenschaftlichen Textbetrachtung. Dieser gehe mit den ‚Stimmungen‘ ein entscheidendes Moment der Wirkkraft von Texten verloren. Das Problem, dass

265 Prov 18,21; Einheitsübersetzung: „Tod und Leben stehen in der Macht der Zunge; wer sie liebevoll gebraucht, genießt ihre Frucht“; siehe auch die Wiederaufnahme dieses Spruchs am Ende des Kapitels; Anm. 315. 266 Hier handelt es sich um die von Krämer geforderte „Analogisierung des Sprechens mit einem musikalischen Geschehen“; KRÄMER, 2002, S. 338.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf „[d]er Umgang mit Literatur, der in der deutschen akademischen Tradition als wissenschaftlich gilt, [...] gegenüber solchen Dimensionen literarischer Erfahrung taub bleiben [muss], weil sie [die Stimmungen] 267 nicht restlos in Begriffe überführt werden können,“

lässt Gumbrecht erst zu einem Lob auf den Essay als Rückzugsort für nicht-objektivierbare Forschungsansätze ausholen. Im Laufe der Beiträge verhärtet sich über das Outen des vermeintlich objektiven Dekonstruktivismus als ‚Stimmung‘268 und der Abwehr des Vorwurfs, ‚Stimmungsforschung‘ sei eine konservative Haltung,269 Gumbrechts Position insofern, als dass er die metrischen und rhythmischen Artefakte von ‚Stimmungen‘ zu einer zeitüberbrückenden Größe erhebt, deren Freilegung einen neuen Zugang zur Literatur und eine „dritte Position in der Ontologie von Literatur“ zwischen Dekonstruktion und Kulturwissenschaft(en) böte. Dieser Zugang ist nicht mehr essayistisch, sondern literaturwissenschaftlich zu bewältigen: „[Es] wurden im Zuge des Übergangs von der Rezitation lyrischer Texte zu ihrer stillen Lektüre deren Formen zu bloßen Behältern von Stimmungen, und schließlich bildeten sich seit dem späten achtzehnten Jahrhundert Techniken heraus, die Rhythmen von Narrationen zu Partituren auszubilden, die Stimmung induzieren sollen. [...] Man kann also eine enorme Vielfalt literarischer Formen – unter je spezifischen historischen Voraussetzungen – auf Funktionen und Modalitäten der Stimmungserzeugung beziehen. Sollte es aber zutreffen, dass es ein vom historischen Wandel unabhängiges Bedürfnis des Menschen ist, seine Existenz durch Grundstrukturen der Dingwelt zu rahmen, dann würden die in der Literatur erschlossenen Stimmungen einen unvergleichlichen 270 Zugang zu Welten und Existenzformen der Vergangenheit eröffnen.“

267 GUMBRECHT in FAZ vom 17. Jan. 2006. 268 Vgl. GUMBRECHT in FAZ vom 14. Jan. 2007 und „Asketisches Selbstmitleid der Dekonstruktion“, in: GUMBRECHT, 2011, S. 168-174. 269 Vgl. GUMBRECHT in FAZ vom 1. Juli 2007. 270 GUMBRECHT in FAZ vom 10. Sept. 2006. Für die ‚Stimmungsinduktion‘ des Mittelalters am Beispiel Walthers von der Vogelweide vgl. Gumbrecht in FAZ vom 28. April 2006 und „Flüchtige Freude in den Liedern Walthers von der Vogelweide“, in: GUMBRECHT, 2011, S. 37-43.

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Gumbrechts Position macht deutlich, wie wichtig es ist, sich vom im 19. Jahrhundert postulierten Primat der Schriftlichkeit ab- und der Performativität als autonomen medialen Zustand zuzuwenden, um einen adäquaten ‚stimmungsvollen‘ Zugang zur Kultur des Mittelalters zu erlangen. Verfolgt man dieses Vorhaben, muss es als grob fahrlässig gelten, die Komplexität der Sprache auf ihre rational zugänglichen Elemente zu reduzieren. Diese Abwendung vom Rationalen wird auch bei Gumbrecht mittels des Paradigmenwechsels vollzogen, den man als sonic turn271 bezeichnen könnte: „Nur im Deutschen verweist die Wurzel des Worts [‚Stimmung‘] auf ‚Stimme‘ aber auch auf das Verb ‚stimmen‘ (primär im Sinn von ‚ein Instrument stimmen‘, doch davon ausgehend dann auf die Bedeutung von ‚richtig sein‘). [...] Ich bin nun vor allem an jener Bedeutungskomponente interessiert, die Stimmung mit Tönen und mit dem Hören von Tönen zusammenbringt. Bekanntlich hören wir nicht nur mit unserem inneren und äußeren Ohr; Hören ist eine komplexe, ganzkörperliche Verhaltensform, für die unsere Haut und unsere haptischen Wahrnehmungsfähigkeiten eine wichtige Rolle spielen. Jeder Ton, den wir wahrnehmen, ist natürlich eine physische Wirklichkeit (wenn auch eine unsichtbare physische Wirklichkeit), welche als solche auf unseren Körper trifft (‚It hits our body‘ kann man im Englischen sagen) und un272 seren Körper umgibt (‚It wraps our body‘).“

Genauso, wie Gumbrecht über die Hinwendung zur Stimmung der Literatur über ihr Gehört-Werden eine Abwendung von der überrationalisierten Literaturwissenschaft betreibt, meint auch Roland Barthes’ ‚Musik‘ weitaus mehr als eine rationale Ästhetik eines vernunftmäßig erfassbaren Rhythmus. Die musikalische Seite der Sprache taucht in der Metrik der Verse zwar auch als (im Augustinus’schen Sinne) scientia bene modulandi273 auf, als zahlenhaft zu erfassende Bewegung,274 die 271 Siehe 2. Kapitel. 272 GUMBRECHT, 2011, S. 11. 273 „Musica est scientia bene modulandi“; Augustinus, 1962, S. 285 (‚Musik ist die Kenntnis von der rechten Gestaltung‘; Übersetzung: CARL JOHANN PERL): Kernsatz der Definition von Musik in Augustinus’ Werk De Musica, in dem (vor allem an der Sprache als zugänglichste Erscheinung metrischer

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Reaktionen eines Publikums wurden (und werden) aber ebenfalls und evtl. noch stärker durch sprachliche Wirkweisen jenseits des Logos bedingt und resultieren – nach Gumbrecht – in Stimmungen. Es handelt sich also bei der ‚Stimmungs-Musik‘, der im Sinne der Aufführung korporalen Seite der Sprache,275 um ein Jenseits von Semantik und Grammatik, einen evtl. zwar rhythmisch gestalteten, aber dennoch (sprachlich) nie im vollen Umfang zu beschreibenden Auslöser schwer kontrollierbarer Affekte. Krämer beschreibt dies wie folgt: „Es ist die Medialität der Sprache, die alle Vorstellungen, das Sprechen sei ein intentionales, intersubjektiv kontrollierbares Zeichenhandeln, zu kurz greifen läßt. ‚Verkörperte Sprache‘ wird so zu einem Suchbegriff nach den medialen, den vorprädikativen Formgebungen unserer Sprachlichkeit“.276

Krämer erhebt das Vorprädikative der Sprache zum ausschlaggebenden Charakteristikum ihrer Medialität. Da diese mediale Prägung bei perGestaltung) der Rhythmus in sechs Büchern behandelt wird, denen sich nach ursprünglichem Plan sechs Bücher zum Melos hätten anschließen sollen. Augustinus’ Betrachtungsweise von Musik ist streng rational, geht – wie im obigen Zitat anklingt – von einer generellen Modulatio aus, einem „Maß der Tonhöhe, für Klang und Rhythmus, die in einem Vernunftverhältnis zueinander gestaltet stehen“; PERL, 1962, S. 285. Augustinus’ Musikbegriff behandelt nur das zahlenmäßig Erschließbare und die Zahlen sind ihm dafür Beweis, dass es eine rein geistige, wahre Welt gibt. Für das Irrationale, Rauschhafte der Musik (respektive der Sprache) gibt es in dieser Theorie keinen Raum. Noch im 20. Jahrhundert scheint Augustinus’ Text v. a. deshalb zu faszinieren, weil dort – so die Interpretation Perls – die Tendenz als „Entartung“ [sic!] enttarnt werde, Musik „als reine Energie, als Förderung vitaler Affekte, als Reizmotor der Extatik, der Erotik, der kollektiven Verdemütigung unter eine irdische Gewalt“ (ebd., S. X) zu begreifen. Doch gerade diese ‚Entartung‘ ist es, welche die performative Analyse als Mehrwert von verbalisierter Sprache gegenüber ihrem stillen Dasein auf Papier miteinbeziehen muss. 274 „Weil Musik eben auch die Kenntnis von der richtigen Bewegung ist. Eine richtige Bewegung hat entschieden etwas Zahlenhaftes, indem sie sich der Maße der Zeit und der Zeiträume bedient (denn nur dann ergötzt die Bewegung, und nur auf Grund der Übereinstimmung dieser Maße sprechen wir von Gestaltung)“; Augustinus, 1962, S. 10; Übersetzung: P ERL. 275 „In der Tat existiert eine besondere Affinität zwischen dem Rezitieren von Texten und der Dimension ‚Stimmung‘“; GUMBRECHT, 2011, S. 13. 276 KRÄMER, 2002, S. 332.

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formativ verwirklichten Texten besonders elementar ist, liegt die Vermutung nahe, dass bei mittelalterlichen Texten ‚der Schock mitgeschrieben wurde‘277 und die Spuren einer Formung der affektiven Wirkweise von Sprache auffindbar sein müssten. Es ist anzunehmen, dass im 12. und 13. Jahrhundert bezüglich der in einer Aufführung zu realisierenden höfischen Romane eine große Sensibilität für die neuen medialen Bedingungen einer Performativität auf Textbasis bestand: für die erste Generation der Dichter von Artusromanen (Chrétien de Troyes, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Wirnt von Grafenberg) aufgrund der Fundierung des neuen medialen Zustands textbasierender Performativität; für die nachfolgende Generation (Heinrich von dem Türlin, der Stricker, der Pleier, etc.) aufgrund einer schon etablierten Norm, die es bezüglich der gesteigerten Publikumserwartung in Absetzbewegungen und um neue performative Reize zu erweitern galt. Zu suchen ist nach der Widerspiegelung eines Wissens von der Unwiederbringlichkeit (dem Transitorischen) des performativen Akts und der vorprädikativen Seite der Sprache, ihrer ‚Musik‘ (Barthes) oder ihres ‚tieferen Sinns‘ (Jünger), eventuell in Form von expliziten Diskursen, wahrscheinlicher jedoch in der Verwendung entsprechender narrativer Techniken. Es muss somit das Ziel sein, Passagen zu extrahieren, in denen der Text als Partitur eines namenlosen mittelalterlichen Rezitators aufgefasst wird, als ein Rohstoff performativer Kreativität, und die dabei performativ zu entäußernde Sprache als ein Mittel korporaler Präsenz. Um dies untersuchen zu können, ist es in Ermangelung manifester historischer Quellen zum Rezitator nötig, „[s]ich eine Ästhetik auszudenken [...], die restlos (völlig, radikal, in jeder Hinsicht) auf der Lust des Konsumenten“278 beruht. Die Auswirkungen der ‚verkörperten Sprache‘ auf den Zuhörer können unterschiedlicher Natur sein: Beruhigung, Betörung, Enervierung, Spannung, Schreck, Schmerz; sie können, um Barthes’ Formulierung aufzugreifen,279 ‚verführen‘ und ‚verletzen‘. Im Gegensatz zu den vorprädikativen Lauten ist das Sprechen auf semantischer Ebene – wie dies in der Sprachphilosophie schon mehrmals beschrieben wurde, u. a. 277 Siehe Motto zu diesem Kapitel. Zur Verwendung des Schock/ChockBegriffs im Speziellen (nach Walter Benjamin) siehe auch die Beschreibung der ‚traumatischen‘ Wirkung des Cliffhangers in Kapitel 4.3. 278 BARTHES, 1974, S. 87. 279 Ebd., S. 58.

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von John R. Searle,280 Pierre Bourdieu281 und Judith Butler282 – auf einen ‚symbolischen‘, selbst sprachlich konstruierten Körper gerichtet.283 Die semantische Sprache verändert – um ein mittelalterliches Beispiel der identitätsstiftenden Wirkung ‚wahrheitssetzender‘ Sprechakte anzuführen – durch eine Zu- oder Absprache von êre284 den sozialen, durch den Semantisierungsakt der zuht285 geschaffenen Körper des Empfängers. Dieser prädikativen Wirkmacht der Sprache ist jedoch eine zweite, ebenso wie dem sprachliche Körper die reale Physis zur Seite zu stellen, um über die – wie Krämer schreibt – „Doppelkörperlichkeit von Personen“286 den gesamten Wirkungsbereich der Sprache untersuchen zu können. Denn auf vorprädikativer Ebene wirken Laute

280 John R. Searle schreibt von der ‚positiven Macht‘ der performativen Sprechakte, mit der man beispielsweise einen Ehrentitel verleihen kann und so den ‚symbolischen Körper‘ des Ernannten aufwertet; vgl. SEARLE, 1997, S. 107. 281 Vgl. BOURDIEU, 2005, v. a. S. 86. 282 Vgl. BUTLER, 1998, v. a. S. 9. 283 Der ‚symbolische Körper‘ ist als ein Parallelkonstrukt zum ‚Körperschema‘ des letzten Kapitels zu verstehen (siehe 2.2). Beides sind Projektionen der Selbst-Wahrnehmung, dienen jedoch unterschiedlichen Zwecken: Während das ‚Körperschema‘ eine imaginäre Physis und imaginär-körperliche Teilhabe ermöglicht, dient der ‚symbolische Körper‘ als Träger symbolischer Werte, wie ‚Stand‘, ‚êre‘, ‚tugent‘, etc. Bezüglich mediävistischer Thematiken ist das Konzept den Zwei Körpern des Königs von Ernst Hartwig Kantorowicz verpflichtet (vgl. KANTOROWICZ, 1990), der die mittelalterliche Vorstellung eines natürlichen, also sterblichen Körpers und eines übernatürlichen, also unsterblichen Körpers des Königs beschrieb. Der unvergängliche Teil entspricht dem ‚symbolischen‘. 284 In seiner passivischen Bedeutung meint der Begriff „verehrtheit, ansehen, ruhm“ (LEXER, 1992, S. 44) und somit einen sozialen Zustand, der dem Individuum nur von Anderen zugesprochen werden kann. 285 Der Begriff bezeichnet einerseits ganz allgemein ein „ziehen, zerren; [...] schaffen, bilden“ und im Speziellen „erziehung, züchtigung, strafe“; ebd., S. 339. In diesem Spannungsfeld aus einerseits auf den Körper einwirkenden Kraft- und Machtausübungen und andererseits deren Effekt, der Formung des (idealen) höfischen Körpers, liegt der Akt der Semantisierung begründet, ein Akt, den Erving Goffman in seiner Studie zur heutigen Selbstdarstellung im Alltag recht analog als Eigen- und Fremdzuweisung von ‚face‘ (vgl. GOFFMAN, 1969), Judith Butler als sprachliche Bildung und Bedingung, die uns (symbol-)körperlich konstituiert, beschreibt; vgl. BUTLER, 1998, S. 9. 286 KRÄMER, 2007, S. 36f.

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auf den realen Körper, die Nerven des Rezipienten ein; durch ihre „Körperkraft“ fungiert die Sprache als „Ding“.287 ‚Körperkraft‘ und Semantik üben konstant288 und gleichzeitig auf den Hörer Einfluss aus und sind dabei nur selten deckungsgleich. Dies gilt für die verbale Mikro- wie Makrostruktur. Beim Wort ist es der absolute Ausnahmefall der Onomatopöie, bei welcher der Zusammenhang von Lautbild und Semantik nicht arbiträr ist. Im Regelfall kann die lautliche Seite der Rede den Inhalt untermalen (bspw. durch entsprechende Vokalfärbung), wird aber an anderen Stellen die Redeintention unterlaufen. So kann ein Vortrag ohne Weiteres von der Ruhe in der Natur handeln und den Zuhörer trotzdem aufgrund seiner lautlichen Unregelmäßigkeit enervieren. Körperliche Reaktionen auf das Sprechen sind dabei nicht das ‚Andere‘ der Sprache – Semantik und vorprädikatives Sprechen sind vielmehr zwei Seiten der gleichen Medaille, die beide dem jeweils anderen als Medium dienen: Der Laut transportiert die Semantik, genauso wie die Semantik Träger der Lautlichkeit ist.289 287 Petra Gehrings Ziel bei der Beschreibung Verletzender Worte ist es „den im ungeschmälerten Wortsinn ‚physischen‘ Charakter dessen herauszuarbeiten, was Butler eine körperliche Sprechhandlung nennt. [...] [Ich] möchte vorschlagen, tatsächlich von einer ‚Körperkraft von Sprache‘ zu sprechen. [...] Im Moment der sprachlichen Verletzung wirkt nicht die Sprache verletzend, sondern in einem solchen Moment fungiert die Sprache als Ding“; GEHRING, 2007, S. 213. 288 Gehring behandelt, ähnlich wie auch schon Jean-Jaques Lecercle (vgl. LECERCLE, 1990), die ‚Körpersprache‘ als ein Extremphänomen der Kommunikation, das in Situationen zutage tritt „in denen jemand Sprache so einsetzt und/oder versteht, dass das Gesagte – welches Wort auch immer, welcher Satz auch immer – seinen erkennbaren Sinn nur noch darin hat, den anderen zu treffen“; GEHRING, 2007, S. 214. Im Gegensatz zu Gehring und in Anschluss an Krämers Beschreibung einer konstanten physischsemiotischen Doppelbödigkeit von Sprechakten geht es mir an dieser Stelle darum, die Konstanz der physischen Wirkung von Sprache zu betonen. Es ist sekundär, ob ein Vater seinem Kind eine Gute-Nacht-Geschichte vorliest, eine Frau die letzten Worte der Trennung schmettert oder ein Rezitator die Verse eines höfischen Romans vorträgt: In allen Fällen ist jenseits der Semantik eine ‚Körpersprache‘ am Werk. 289 Letzteren medialen Vorgang beschreibt Walter Benjamin in seinem sprachtheoretischen Essay „Über das mimetische Vermögen“ (1933). Das Mimetische der Sprache – in Benjamins Terminologie ein Äquivalent zu dem, was im Fließtext nach Krämer als das Vorprädikative bezeichnet wird – bedarf des Semiotischen, um wirken zu können: „Alles Mimetische der

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Es zeigte sich schon an Ernst Jüngers Ausgangspunkt zur Beschreibung der sprachlichen Korporalität, dass gerade auf dem Gebiet des Schauspiels Theoriebildungen für die schwer fassbare Korporalität der Sprache essenziell sind. So ist es nicht verwunderlich, dass die – neben Friedrich Nietzsches290 und Walter Benjamins291 – eingängigste Theoriebildung zu dieser Thematik aus der Zeit der Theateravantgarde stammt: Die Korporalität des gesprochenen Wortes diente dem vom literarischen Surrealismus geprägten Theatertheoretiker Antonin Artaud als eine moderne Variante des Katharsisgedankens. Nicht mehr der Verstand oder die klar zu benennende Emotion sind die Kanäle, durch welche die Sprache des Theatralen den Rezipienten läutert. Die ‚neue‘ Katharsis geschieht durch einen körperlichen Angriff, dessen Folgen nicht die Vermittlung sprachlich zu fassender Moral und nicht die Abreaktion kategorisierbarer Affekte ist, sondern eine nur schwer kontrollierbare physiologische Sensation. Barthes verweist, wenn er von den Effekten der „mit Haut bedeckte[n] Sprache“292 schreibt, auf Artaud, da er dessen Beschreibung einer ‚neuen‘ Körper-Katharsis als praktizierte

Sprache kann vielmehr, der Flamme gleich, nur an einer Art von Träger in Erscheinung treten. Dieser Träger ist das Semiotische“; BENJAMIN, 1977 (Über das mimetische Vermögen), S. 94. Diese Darstellung ist eine Verkehrung dessen, was man als ‚normales‘ Verhältnis von Mittel (der Laut) und Zweck (die Aussage) von Sprache begreift, und stellt das UnSemantische als den primären Zweck menschlicher Sprache ins Zentrum der philosophischen Betrachtung. Inspiration zu dieser Verkehrung des ‚rationalen‘ Zusammenhangs von Sprache und Semantik stellen Benjamins Haschisch-Experimente dar, im Laufe derer er 1927 notiert: „Dichterische Evidenz ins Lautliche: ich stelle an einer Stelle die Behauptung [auf], eben hätte ich in der Antwort auf eine Frage das Wort lange Zeit nur durch (sozusagen) die Wahrnehmung einer langen Zeit in dem Lautbestand der beiden Worte gebraucht. Ich empfinde das als dichterische Evidenz“; BENJAMIN, 1972, S. 66. 290 „Ehe Nietzsche seine Kategorien des Apollinischen und des Dionysischen als kunsttheoretische und kunstgeschichtliche Begriffe einsetzte, hat er im Sprechen selbst eben diese Bipolarität entdeckt: Die Tonalität und implizite Musikalität der Lautsprache, die immer auch unabhängig von der kontrollierenden Instanz des Bewusstseins sich äußert, entfaltet ein dionysisches, mithin ein gemeinschaftsstiftendes oder -entzweiendes, den Anderen berührendes oder abstoßendes Potential“; KRÄMER, 2007, S. 41f. 291 Vgl. BENJAMIN, 1977 (Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen); dazu: KRÄMER, 2007, S. 41f. 292 BARTHES, 1974, S. 97.

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Sprachkritik begreift.293 Als solche bricht sie die Paradoxien der um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert im Medium der Schrift tobenden Sprachkritik auf,294 indem sie das Ideal der einzig unverfälschten Kommunikation auf den sprachlosen Körper überträgt.295 Artauds Ver293 Andere Ansätze der Theateravantgarde bleiben hier unberücksichtigt, auch wenn die Schriften der italienischen Futuristen, v. a. die Marinettis, für diesen Zusammenhang ebenso von Relevanz wären. Wenn eine genauere Betrachtung an dieser Stelle ausbleibt, so nicht aus dem Grund, weil diese Theorien marginalisiert werden sollen, sondern weil Artaud in vielen Punkten als exemplarischer Vertreter der aufführungsspezifischen Korporalität von Sprache gelten kann. 294 Um 1900 fanden gewisse intellektuelle ‚Krisen‘ statt, die sich auf die eine oder andere Art und Weise auf ein verändertes Verständnis von Sprache zurückführen lassen. Während Sigmund Freud der Sprache einen therapeutischen Wert zuspricht, eine Fähigkeit, in die verborgen liegenden Bewusstseinsschichten des zu Therapierenden vorzudringen (vgl. Freud, 1995), stellen andere generell die Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns durch Sprache in Frage. Friedrich Nietzsches schon in den 1870er Jahren entstandene, aber in voller Länge erst im Nachlass veröffentlichte Abhandlung Über Wahrheit und Lüge im Außermoralischen Sinn, Ernst Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache aus den Jahren 1901/02 und Hugo von Hofmannsthals Ein Brief (‚Chandos-Brief‘) von 1902 sind die bekanntesten Dokumente dieser Negation sprachlicher Erkenntnismöglichkeit; vgl. Nietzsche, 1988, Mauthner, 1967 und Hofmannsthal, 1979. All diese Texte unterliegen derselben Paradoxie: Man vermittelt über Sprache die Erkenntnis, dass Sprache zum Erkenntnisgewinn nicht fähig ist. Für Nietzsche war dieser Umstand der Grund, seine Abhandlung erst beinahe 20 Jahre nach ihrem Entstehen und nur in Auszügen zu publizieren; Mauthner und Hofmannsthal reagierten auf die Paradoxie, indem sie einen Ausweg im mystischen Konzept einer „Sprache [suchten], in welcher die stummen Dinge [...] sprechen“; Hofmannsthal, 1979, S. 40. 295 Fischer-Lichte macht neben Ausdruckstanz und Theateravantgarde als Ausweg aus der sprachkritischen Paradoxie die seit 1880 stattfindenden Völkerschauen geltend: „[D]ie Völkerausstellungen [führten] den menschlichen Körper als ein semiotisches System, welches Gefühlsregungen auszudrücken, zu vermitteln und auszulösen vermag, ungefähr zeitgleich mit Nietzsches Formulierung seiner fundamentalen Sprachkritik wieder in die europäische Kultur ein“; FISCHER-LICHTE, 1995, S. 169. Das Aufkommen dieser ‚Neuen Körperlichkeit‘ der Völkerschauen ist nur auf den ersten Blick als Entwicklungsschritt fort von der Sprachkrise zu werten. Es ist keinesfalls ein neutrales Wahrnehmen des Körpers, das in den Völkerschauen die Paradoxie zu überwinden half, sondern die von ihrem Wesen her xenophobe Projektion auf Körper, deren Ausstellung nicht auf Natürlichkeit, sondern Bestätigung rassistischer Vorurteile ausgerichtet war. Die Misere der mitteleuropäischen Sprachkritik findet bei den Völkerschauen

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such, „die Unterwerfung des Theaters unter den Text zu durchbrechen“,296 ist nichts anderes als eine Rehabilitierung des Vorprädikativen im performativen Akt: „Nun muß von der rein stofflichen Seite der Sprache gesprochen werden. Das heißt von allen Arten und Mitteln, über die sie zwecks Einwirkung auf die Sensibilität verfügt. [...] Sie [die Sprache des Theaters] weitet die Stimme. Sie gebraucht stimmliche Schwingungen und Eigenschaften. Sie läßt Rhythmen rasend auf der Stelle treten. Sie stampft Laute ein. Sie zielt darauf ab, die Sensibilität zu steigern, zu betäuben, zu bestricken, abzuschalten.“297

Die un-semantische Sprache des Theaters soll konkret körperlich auf das Publikum einwirken; durch ihre – im Vokabular Artauds’ – ‚Grausamkeit‘298 bezweckt sie, dass die „Metaphysik via Haut wieder in die Gemüter einzieh[t]“.299 Oder – eingedenk des sonic turns – in den Worten des Kulturtheoretikers Sean Cubitt „[S]ound events create a space with no respect for the sacrosanctity of the epidermis in Western philosophy“.300 Bei Artaud ist das Sprechen eines Texts nie bloße semantische Mitteilung, sondern begleitet von korporal wirkenden lautlichen Effekten, dem Vorprädikativen, das ein Zugang zu höheren Wahr-

296 297 298 299 300

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nicht – wie Fischer-Lichte dies impliziert – aus sich selbst heraus zu einer Lösung, sondern mittels der Exklusion des ‚Fremden‘ als Wunschbild nach einer Körperlichkeit, die die mitteleuropäische Kultur – nicht ohne den Gestus der höher stehenden, ‚intellektuelleren‘ Herrenrasse – als verloren resp. überwunden glaubt. Ich wage zu bezweifeln, dass die Besucher der Völkerschauen im Körper des ‚Fremden‘ etwas anderes als ihren eigenen verdrängten Wunsch nach ursprünglicher Körperlichkeit sahen. Dieser Blick auf das Fremde ist keinesfalls als die Genese einer ‚rettenden‘ korporalen Semantik, sonder vielmehr als Produkt eines kollektiven Verdrängungsmechanismus zu sehen, dessen extremste Auswüchse bis zur ‚Entkörperlichung‘ in den Geschlechterverhältnissen im Nationalsozialismus reicht; vgl. Theweleit, 1977/1978. Eine Semiotik, die sich am Fremden entwickelt, kann keine Lösung der eigenen Sprachlosigkeit sein. ARTAUD, 1969, S. 95. Ebd., S. 96f. Artauds Theaterkonzept firmiert unter dem prägnanten und häufig missinterpretierten Titel Theater der Grausamkeit. ARTAUD, 1969, S. 106. CUBITT, 1998, S. 95; vgl. auch ABDEL RAHMAN, 2011, S. 202.

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heiten sein kann, weil es den sakrosankten Status des Ich-Definiens ‚Haut‘ missachtet. Die Sprache ist somit – für Theateravantgarde wie Kulturwissenschaft – nie reines Signal, sondern stets auch Geräusch – wobei (was dem Philologen vielleicht paradox erscheint) das Signal in die Irre führt, das Geräusch hingegen befreit. Seiner Theorie entsprechend versuchte Artaud in seinen praktischen Theaterarbeiten mit einer in seiner Zeit zum Scheitern verurteilten Vehemenz301 die semantische Seite der Sprache durch das Geräusch zu tilgen. So heißt es zu seiner (sehr freien) Inszenierung der Tragödie Les Cenci von Percy Bysshe Shelley aus dem Jahr 1935: „Artaud setzte [...] Tonaufzeichnungen ein, die durch Lautsprecher, die in allen vier Ecken des Saals installiert waren, verstärkt auf den Zuschauer schallten. Insgesamt wurde bei dieser Inszenierung mit außergewöhnlichen Ton- und Klangeffekten gearbeitet. [...] Der Text war wegen der enormen Geräuschkulisse praktisch unverständlich. In der 302 Presse wurde das Stück beinahe ausnahmslos verrissen.“

Gegen den herrschenden Geschmack seiner Zeit verhinderte Artaud jeglichen Zugang zum Stück via Semantik. Nur die anwesenden Körper und die eingespielten und von den Akteuren geäußerten Geräusche begaben sich in ein lautstarkes Wechselspiel. So wird die Sprache in Artauds theoretischen und praktischen Arbeiten ein mehr oder minder gezieltes Geschoss aus Laut und Geräusch, das auf den Körper des Rezipienten abgefeuert wird. Nun muss es dem Theaterwissenschaftler als recht einseitig gelten, Artauds Theorie auf die Destruktion der sprachlichen Semantik zu reduzieren. Doch es ist genau diese Reduktionsform, in der Artaud indirekt Einfluss auf die mediävistische Medialitätsdebatte nahm. Denn so wie die Oralitätsforschung sich von Anfang an mit Derridas Thesen auseinandersetzte, wählt Derrida wiederum in Die Schrift und die Diffe301 Eine Dokumentation der zum Scheitern verurteilten Radikalität von Artauds theaterpraktischem Schaffen liefert der von Bernd Mattheus herausgegebene Band zum Alfred-Jarry-Theater; vgl. ARTAUD, 2000. Die Verwirklichungen von Artauds Theorien fanden erst ab den 1960ern ein Publikum, u. a. durch Arbeit von Jerzy Grotowski, Peter Brook oder der Living Theatre Group. 302 BRAUNECK, 2003, S. 97f.

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renz Artaud als seinen Bezugspunkt – und dies gerade hinsichtlich der dargelegten Entsemantisierung als definitorisches Merkmal einer szenischen Wahrnehmung. In „Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation“ schreibt Derrida: „Die theatralische Praxis der Grausamkeit ist es, die in ihrer Handlung und in ihrer Struktur einen nicht-theologischen Raum bewohnt oder vielmehr erzeugt. Die Szene ist theologisch, sofern sie durch Sprache, durch einen Willen zur Sprache, durch das Ziel eines ersten Logos beherrscht wird, der, dem theatralischen Ort nicht angehörend, ihn von ferne beherrscht. Die Szene ist solange theologisch, als sie, der ganzen Tradition gemäß, folgende Elemente enthält: einen Autor-Schöpfer, der abwesend und aus der Ferne, mit einem Text bewaffnet, die Zeit oder den Sinn der Repräsentation überwacht, versammelt und lenkt, und der er das Repräsentieren seiner selbst in dem, was den Inhalt seiner Gedanken, seiner Absichten und seiner Ideen zu nennen pflegt, überlässt. [...] Durch das Wort (oder vielmehr durch die Einheit von Wort und Begriff [...]), unter der theologischen Aszendenz von diesem ‚WORT (das) den Maßstab für unsere Ohnmacht‘303 und unsere Angst darstellt, wird die Szene selbst während der ganzen okzidentalen Tradition bedroht. [...] Eine Szene, die nur einen Diskurs illustriert, ist nämlich nicht mehr durchgängig Szene. Ihr Verhältnis zur Sprache ist ihre Krankheit, und 304 ‚wir wiederholen, daß unsere Zeit krank ist.‘ Die Szene zu rekonstruieren, endlich in Szene zu setzen und die Tyrannei des Textes umzu305 stürzen, stellt somit ein und dieselbe Geste dar.“

Die Ziele, die Derridas Artaud-Auslegung hinsichtlich des hiesigen Vorhabens abzulesen sind, sind die folgenden: Um die Aufführung (‚die Szene‘) in ihren eigenen Gesetzlichkeiten und in ihrem nicht repräsentativen, sondern präsenten und ausschließlich jetztzeitlichen Charakter untersuchen zu können, bedarf es der Loslösung vom ‚AutorSchöpfer‘ ebenso wie einer partiellen Loslösung vom Zusammenhang von Wort und Begriff. Diese Befreiung von ‚theologischen Autoritäten‘

303 ARTAUD, 1969, S. 165. 304 Ebd., S. 169. 305 DERRIDA, 1976, S. 355 und 357; Hervorhebung und Interpunktion des Originals; Verweise an die hier verwendete Artaud-Ausgabe angepasst.

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sollte es ermöglichen, die Wirkebene des Lauts, wo nicht wie Artaud und Derrida über, so doch neben die der Semantik zu stellen. Mit anderen Worten: Genauso wie die Wahl einer rezeptionsästhetischen Perspektive und das Verschieben der kreativen Leistung vom Dichter zur Kommunikationsgemeinschaft von Rezitator und Publikum vonnöten ist, muss es gelten die Sprache als korporales, den Logos unterwanderndes Phänomen zu begreifen um „zu berühren, was wir in Erregung setzen können“ und die Worte „aufzuzählen mitsamt ihren Flügeln“.306 Dies bedeutet – in einer vordergründigen, pragmatischen Auslegung –, dass es, wenn der ‚grausame‘ Sprechakt funktionieren soll, (in der wissenschaftlichen Betrachtung sowie der Textproduktion) eines Bewusstseins für die Körperlichkeit der Kommunizierenden bedarf. Dieses Bewusstsein wird durch die kommunikative Struktur der mittelalterlichen Verse gefördert: Die höfischen Dichter banden, wie bereits am Kommunikationsmodell aufgezeigt wurde,307 den Rezitator und seine Zuhörer als textuelle Leerstellen in das Versgefüge ein. Durch ihre Nennungen – und sei es nur durch eine kleine kommunikative Phrase wie Ih sage iu – werden die lautlich attackierenden wie attakkierten körperlichen Präsenzen der Aufführungssituation mit dem semantischen Geschehen in Kontakt gebracht, sodass eine Inkorporation der Sprache im Sinne der kinästhetischen Wahrnehmung bzw. eine Teilhabe an der sprachlichen Korporalität erleichtert wird. Die Einbettung einer prototypischen Aufführungssituation in den Text gewährleistet – und dies ist eine profane Umdeutung des Artaud’schen Wirkungsziels –, dass sich die realen Körper der Rezipienten und die Sprachkörper der Figuren auf performativer Ebene begegnen und die Fiktion ‚via Haut in die Gemüter einzieht‘. Dabei herrscht zwar der ‚Autor-Schöpfer‘ als Denkgröße genauso weiter, wie die Semantik der Sprache die primäre Intention der Aufführung bleibt; doch der Dichter ist fern der performativen Körperlichkeit (wie es sich für einen ‚Gott‘ gehört) und die Sprache ist niemals rein semantisch, d. h. frei von vorprädikativen bzw. affektiven Wirkweisen. Folglich wird in späteren Kapiteln die Notwendigkeit bestehen, die Aufnahme der performativen Aktanten in den Text in Relation zur Schilderung der jeweiligen Figu-

306 ARTAUD, 1969, S. 166. 307 Siehe Kapitel 2.1.1.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

ren- bzw. Sprachkörper zu untersuchen, um die ‚theologische Autorität‘ zumindest auf eine ‚halb-theologische‘ zu reduzieren. Mit diesem Vorgehen versuche ich, eine bestehende methodische Tradition zu variieren, denn der Einzug der performativen Körperlichkeit in den Text ist es, der das bedingt, was Wandhoff mit Bezug auf Ong und Zumthor308 als ‚Entgrenzung des Akustischen‘ hin zum ‚Taktilen‘ beschreibt: „Im Gegensatz zum schriftlichen Text wird das Sprechen und zumal die Aufführung von Texten als ein kommunikatives Ereignis erlebbar. Mit Blick auf die anderen Sinnesorgane läßt sich geradezu eine Entgrenzung des Akustischen beobachten und eine Öffnung der Ohrwahrnehmung insbesondere auf den Tastsinn hin. [...] Durch die Einbeziehung des Taktilen verbindet der Klang der Stimme die je anwesenden Körper im Raum.“309

Hier nun soll die kommunikative und gemeinschaftsstiftende Wirkung des taktilen Lautes noch erweitert werden. Der Wirkungsbereich der Akustik soll um eine weitere Grenze beraubet werden, indem die korporale Wirkung des Lauts nicht nur die Sinne der an der Aufführung Teilnehmenden, sondern auch die Sinneseindrücke der fiktiven Gestalten umfasst. Es wird zu zeigen sein, dass über den Einbezug fiktiver und realer Körperlichkeit die Sprache mittels ihrer ‚grausamen‘ Laute und inszenierten Sinnesregie eine (pseudo-)somatische, fiktionsübergreifende Gemeinschaft aus Held, Rezitator und Zuhörer erschafft. Dass sich der mittelalterliche Literaturbetrieb, also die Dichter wie auch die potenziellen Rezitatoren, der körperlichen Wirkweise von Sprache bewusst waren, lässt sich vorab an zwei Beispielen zeigen, die

308 Vgl. ONG, 1987, S. 78 und ZUMTHOR, 1990. Wandhoffs Bezug auf diese dem Medium der Oralität gewidmeten Schriften muss aus der Perspektive der vorliegenden Studie kritisch betrachtet werden, da dort nicht zwischen rein oralen und auf Textbasis arbeitenden performances unterschieden wird. Dies ist bezüglich der Korporalität von Sprache nicht weiter hinderlich, verwischt aber auf längere Sicht die entscheidende Differenz zwischen einer ad hoc-Präsentation rein oraler Erzählungen und den textuell konzipierten und inszenierten Vorträgen von höfischen Romanen. 309 WANDHOFF, 1996, S. 316.

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Korporalität: die Grausamkeit des Sprechens

nicht den höfischen Epen, aber dennoch der höfischen Kultursphäre entstammen. Erstes Beispiel „Der Körper der Stimme“ betitelt Mireille Schnyder das Kapitel zur Auseinandersetzung der antiken und spätantiken Grammatiker mit den Wirkweisen des gesprochenen Worts und dessen Übergang auf die Schrift.310 Dort heißt es: „[Ars grammatica] beginnt mit der Definition von ‚Stimme‘ (vox) als geschlagener, gestoßener Luft (aer ictus), die das Ohr des Hörenden berührt und so den Klang überträgt. Dabei wird noch nicht unterschieden zwischen Geräusch und Stimme; grundsätzlich ist jeder Ton ‚vox‘ und damit ‚aer ictus‘. [...] Beim Menschen wird das Schlagen der Luft durch die Zunge verursacht, wobei nicht irgendwelche Luft getroffen wird, sondern diejenige, die sich in der den Mund mit dem Herz verbinden311 den ‚Aterie‘ befindet.“

Was Schnyder v. a. anhand der Grammatiken des Aelius Donatus (4. Jahrhundert) und Priscian Caesariensis (6. Jahrhundert) aufzeigt, zeugt von dem Bewusstsein für die Zweiwertigkeit des Lauts als einerseits ‚vorprädikative (Körper-)Kraft‘ und andererseits ‚Träger der Semantik‘: Er ist immer sowohl vox (Geräusch) als auch vox articulata (Sprache) und sowohl eng mit dem Körper des Senders, gar direkt über die ‚Aterie‘ mit dessen Herzen, als auch des Empfänger verbunden, auf dessen Haut und Gehör die aer ictus trifft. Für beide Grammatiken kann von einer weiten Verbreitung im Mittelalter ausgegangen werden,312 zumal, wie Schnyder zeigt, die Thesen auch über Augustinus populär wurden. 313 Für das Hochmittelalter ist die Janusköpfigkeit der Sprache als vox und vox articulata somit als prominente Tradition zu werten. Die Theorie von der ‚Grausamkeit des Spre-

310 311 312 313

Vgl. SCHNYDER, 2003, S. 50-54. Ebd., S. 50. IRVINE, 1994, S. 58f. Vgl. SCHNYDER, 2003, S. 54-63.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

chens‘ lässt sich aber noch viel zeitnäher zum höfischen Roman nachweisen. Zweites Beispiel In der bereits erwähnten, zur Zeit des höfischen Romans entstandenen Rhetorik des Geoffrey von Vinsauf heißt es: Vis venit a lingua, quia mors et vita cohaerent In manibus linguae, dum forte juvetur utroque Vultus et gestus moderamine. (POETRIA, V. 2059-61)

Macht geht von der Zunge aus, denn Tod und Leben hängen ab von der Zungen Gewalt314, sofern ihr kräftig geholfen wird durch das jeweilige Steuerruder von Mimik und Gestik.

Die performativ mit Gestik und Mimik versehene Sprache wird als ein Mittel der Machtausübung behandelt. Sie kann nicht nur Gesinnungen und Stimmungen beeinflussen, sondern hat Leben und Sterben, also alle Aspekte der Körperlichkeit des Rezipienten in manibus. Geoffrey von Vinsauf lässt den Bezug auf den schon erläuterten Bibelspruch „Mors et vita in manu linguæ: / qui diligunt eam comedent fructus ejus“315 erkennen. Mit dieser Berufung stellt er seine Lehre in den Schutz der (im Mittelalter) monumentalsten aller Legitimationen. Bei Geoffrey sind die gesprochenen Worte dem zweiten Teil des Bibelspruchs entsprechend auch nie rein akustische Phänomene: Das Rezitieren sättigt den Rezipienten,316 Mimik und Gestik sind die Gewürze dieser kredenzten Speise.317 Der Vortrag und die in ihm geäußerten Laute werden über diese Nahrungsmetaphern als positive, lebenserhaltende Einwirkungen auf den Körper dargestellt. Die Sprache kann auch die Funktion der groben Gewalt haben, doch dies nur in der Form eines ungezügelten 314 ‚Gewalt‘ ist eine Ausdeutung der metonymischen Verwendung von lat. manus (‚Hand‘); wortgetreue Übersetzung ‚von der Zungen Hand‘. 315 Prov 18, 21; siehe Anm. 265. 316 Vgl. POETRIA, V. 2059-63; siehe Kapitel 2.1.2. 317 Vgl. ebd., V. 84-86 und V. 2063; siehe Kapitel 2.1.2.

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Korporalität: die Grausamkeit des Sprechens

Gefühlsausbruchs,318 welcher in der kunstvollen Vortragspraxis durch das persona-Spiel des Rezitators abgeschwächt werden soll. Doch ganz gleich, ob als Gewalt oder als ästhetische Sättigung: Aus Sicht der Poetria Nova wirkt der Vortrag stets körperlich und zeugt so davon, dass das Phänomen, welches Artaud als ‚Grausamkeit‘ bezeichnete, auch um 1200 ein Element rhetorischer Reflexion war. Vorläufig lässt sich somit feststellen, dass die Korporalität der Aufführung sich aus zwei Größen speist, deren die Dichter bei der Konstruktion der Verse eingedenk waren: einem spezifischen Rezeptionsmodus (der kinästhetischen Wahrnehmung), welcher die körperliche Teilhabe am Erzählten ermöglicht, und der materiellen Seite des Sprechens (ihre ‚Grausamkeit‘), die als lautlicher Angriff im Körper des Rezipienten nur schwer kontrollierbare Affekte auslöst. Das Wissen um diese Wirkweisen entstammt aus der Tradition antiker und spätantiker Grammatiken und war zur Zeit der Hochblüte des höfischen Romans wieder oder noch immer präsent.

318 Vgl. ebd., V. 2045-52; siehe Kapitel 2.1.2.

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Vom Öffnen der arke

3. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner transitorischen Einmaligkeit

Im folgenden Kapitel soll die Theorie des 2. Kapitels induktiv an einem Prolog und zwei Binnenpassagen hochmittelalterlicher Artusromane erprobt werden. Ziel dieses methodischen Schritts ist es, einerseits dem bis hier hin sehr abstrakt Gehaltenen eine erste textuelle Grundlage zu schaffen und andererseits, die bestehenden Thesen zu verfeinern, zu variieren und auszubauen. Die behandelten Passagen stellen Sonderfälle der höfischen Literatur dar, die im gesteigerten Maße die Anwendung der Theorie begünstigen.1 Die Untersuchung soll den Blick schärfen für 1

Den Status der behandelten Passagen als ‚Sonderfälle‘ gilt es zu betonen, um dem Einwand zu entkommen, den Florian Kragl hinsichtlich Christian Kienings Antrittsvorlesung in Zürich („Zwischen Körper und Schrift“) anbrachte. Kragl zeigt durch eine Kontrastierung von Kienings Beispielen aus dem Gregorius, dem St. Brandan und der Botenszene am Ende der Gawanhandlung des Parzival mit drei Filmen des 21. Jahrhunderts, dass metaperformative Reflektionen zum Verhältnis von Schrift und Körper kein Spezifikum mittelalterlicher Literatur sind: „Was die in den Texten dargestellte Performativität angeht, wie sie in allen Beispielen zu beobachten war, so gilt zuallererst, dass diese ein völlig selbstverständliches, historisch nur schwer verortbares Phänomen darstellt. Nicht das Vorkommen derartiger Passagen in mittelalterlicher Literatur ist der Sonderfall; auffällig und sonderbar ist vielmehr das Autonomie-Konzept, das hinter der Verwunderung über solche Beispiele steckt“; KRAGL, 2008, S. 31. Prinzipiell ist Kragl zuzustimmen: Natürlich stellen mediale und auch speziell performative Selbstreflexionen keinen historischen Sonderfall dar. Das ‚Besondere‘, das auch das bemängelte ‚Autonomie-Konzept‘ der ‚verwunderten‘ wissenschaftlichen Haltung und die Annahme von einer grundsätzlichen medialen Alterität der mittelalterlichen Literatur rechtfertigt, ist jedoch in den Spuren der ‚naiven‘, nicht-reflektierenden Medialität zu

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

die Eigenheiten von – im Gegensatz zur Materialität und deren ‚Reproduzierbarkeit‘ –2 transitorisch erfahrenen ‚Textverwirklichungen‘. Die Ergebnisse werden daran anschließend die Basis für allgemeine performanzorientierte Interpretationen sein.

3.1 Vom Öffnen der arke: der Wigalois-Prolog als inszenatorischer Nebentext In Konrads von Würzburg Der Welt Lohn wird der Dichter Wirnt von Grafenberg in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts retrospektiv mit den folgenden Worten beschrieben: als uns diu buoch bewîsten

Wie uns die Bücher lehrten

und ich von im geschriben vant,

und ich selbst von ihm geschrieben fand,

so was der herre genant

war der Name des Herren

her Wirent dâ von Grâvenberc.

Herr Wirnt dort aus Grafenberg.

er hete werltlîchiu werc

Er hatte all seine Jahre

gewirket alliu sîniu jâr.

weltliche Werke vollbracht.

sîn herze stille und offenbâr

Im Stillen und öffentlich war

nâch der minne tobte.

sein Herz verrückt nach der Minne.

Sus saz der hôchgelobte

So saß der Hochgepriesene

in einer kemenâten,

in einer Kemenate,

mit vröuden wol berâten,

war mit Freuden wohl bedacht

und het ein buoch in sîner hant,

und hatte ein Buch in seiner Hand,

dar an er âventiure vant

worin er Abenteuer geschrieben fand,

von der minne geschriben.

die von der Minne handelten.

dar obe het er dô vertriben

Damit hatte er da den Tag herumgebracht

den tac unz ûf die versperzît;

bis hin zur Vesperzeit.

sîn vreude was vil harte wît

Sehr groß war seine Freude

von süezer rede, die er las.

durch die angenehme Erzählung, die er las.

(WELT LOHN, V. 44-61)

2

148

suchen (in deren Rahmen die metaperformativen Passagen einen Sonderfall der Reflexion bilden). Vgl. BENJAMIN, 2006 [Kunstwerk-Aufsatz].

Vom Öffnen der arke

Die Nachwelt scheint sich an den seit rund einem halben Jahrhundert verstorbenen Wirnt von Grafenberg vor allem als – im modernen Sinne des Wortes – ‚fleißigen Leser‘ erinnert zu haben. Schon in den einleitenden Versen beruft sich der Sprecher auf Bücher, die ihm von Wirnt berichteten, und Wirnt selbst wird sodann in der archetypischen Situation des ‚stillen Lesers‘ präsentiert: alleine in einer Kemenate, mit dem Buch in der Hand, gedanklich von dessen Inhalt eingenommen. Zwar ist auch von seinem realen Frauendienst die Rede und in der Begriffsopposition stille und offenbâr eröffnen sich die beiden Modi seiner Heldenhaftigkeit: einerseits stille in der Minneliteratur und offenbâr im Kampf des Minneritters. Aber in der den eigentlichen plot der Verserzählung einleitenden Situation wird sein nach Minne hungerndes Herz nicht durch Taten, sondern durch die Lektüre gesättigt. Die Passage ist ein bildliches Lob der Skripturalität und somit eine mediale Umkehrung der laudatio temporis pronuntiationis des Iwein-Prologs.3 Für diese Stilisierung zum ‚Buchmenschen‘ gab Wirnt selbst mit seinem Prolog zum Wigalois die Grundlage, eröffnete er den Roman doch mit der folgenden außergewöhnlichen Apostrophe, die hier (vorerst) in der Übersetzung von Sabine und Ulrich Seelbach wiedergegeben wird: Wer hât mich guoter ûf getân?

Welch vortrefflicher Mensch hat mich aufgeschlagen?

sî ez iemen der mich kan

Wenn es jemand ist, der mich

beidiu lesen und verstên,

lesen und verstehen kann,

der sol genâde an mir begên,

dann möge er mich – auch wenn es etwas

ob iht wandels an mir sî,

an mir zu tadeln gibt – freundlich behandeln

daz er mich doch lâze vrî

und mich mit übler Nachrede

valscher rede: daz êret in.

verschonen: dies wird ihn ehren.

(WIGALOIS, V. 1-7; Übersetzung: Seelbach/Seelbach)

Das Buch selbst wendet sich an seinen idealen Rezipienten, an denjenigen, der es (mhd.) lesen und (mhd.) verstên kann. Dieser Anfang spricht auf den ersten Blick dafür, in Wirnt einen vehementen Vertreter der Schriftkunst zu sehen, der schon zu Beginn das materielle Buch inszeniert und sich nicht der immateriellen Aufführungssituation verpflichtet fühlt. Dementsprechend wurde die Textstelle im Zuge der literacy 3

Siehe Kapitel 2.1.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

debate (teils in Verbindung mit der einleitenden Stilisierung Wirnts durch Konrad)4 zum entscheidenden Indiz für eine Schrift- und Buchkultur des frühen 13. Jahrhunderts erklärt. So schreibt Manfred Günter Scholz: „Wer die Ansicht vertritt, mittelalterliche Epik sei allem Anschein nach zum Vortrag bestimmt und mit wenigen Ausnahmen stets auch vorgetragen worden, muß vor diesen Versen Farbe bekennen. Er muß sich in das Publikum hineinversetzen, sich in einen Hörer verwandeln und den ersten Satz dieses Werkes wie ein Hörer aufnehmen. Wer hât mich guoter ûf getân? Der Apologet des Vortrags muß stutzig werden. Kann man einen Dichter, einen Vorleser ûf tuon?“5

Auch wenn es von vornherein nicht angebracht ist, in Punkto Medialität mit Ausschlusskriterien umzugehen, da mit dem Vorhandensein eines medialen Zustands kein Ausschlusskriterium für einen anderen gegeben ist,6 soll Scholz’ Überlegung hier dennoch aufgenommen und ‚Farbe bekannt‘ werden. Nein, ein Vorleser kann nicht ûf getân werden – der Rezitator selbst kann dies mit dem Buch aber durchaus tun. Die Interpretation der Verse, die Scholz wie einen endgültigen Beweis präsentiert, ist einer einfachen, jedoch häufig – so auch in der Seelbach’schen Übersetzung –7 perpetuierten semantischen Verkürzung einer mittelhochdeutschen Vokabel geschuldet. Denn wer sagt, dass (mhd.) lesen an dieser Stelle nur den Vorgang der stillen Lektüre bezeichnen sollte? Obwohl Scholz selbst die Ambiguität dieser Vokabel feststellt,8 schlägt er die Doppeldeutigkeit an dieser Stelle zwecks eines Indizienbeweises der skripturalen Dominanz in den Wind. Doch wie die einschlägige lexikalische Untersuchung des Verbs durch Dennis Howard Green

4 5 6 7

8

150

Vgl. SCHOLZ, 1980, S. 128f. und S. 201; vgl. GREEN, 1994, S. 143. SCHOLZ, 1980, S. 126. Siehe 1. Kapitel. Im Kommentarteil wird verzeichnet, dass die Stelle der eindeutigen Anspielung auf den mündlichen Vortrag in den Versen 125ff. widerspreche, dass dieser Umstand jedoch durch die Zweiteilung des Prologs gerechtfertigt sei. Dass die auf den Leser abzielende Apostrophe des Buches (V. 119) nur in wenigen Handschriften zu finden sei, lasse diesen medialen Bruch wahrscheinlich erscheinen; vgl. SEELBACH, 2005, S. 287. Vgl. SCHOLZ, 1980, S. 35-56.

Vom Öffnen der arke

zeigt,9 bedeutet (mhd.) lesen in recht wenigen Zusammenhängen (nhd.) ‚lesen‘ und weitaus häufiger (nhd.) ‚laut lesen‘ bzw. (nhd.) ‚vortragen‘.10 Die Ambiguität des Verbs lässt es zwischen den medialen Zuständen der Skripturalität und der Performativität oszillieren. Es bedarf weiterer Indikatoren als des reinen Lexems, um lesen auf eine der beiden Medialitäten festschreiben zu können. 11 Dementsprechend muss man der Seelbach’schen Übersetzung vorerst (d. h. bis zum Auffinden entsprechender Indikatoren) eine zweite zur Seite stellen: Wer hât mich guoter ûf getân?

Welch guter Mensch hat mich aufgeschlagen?

sî ez iemen der mich kan

Wenn es jemand ist, der mich

beidiu lesen und verstên,

vortragen und verstehen kann,

der sol genâde an mir begên,

der möge mich freundlich behandeln, indem er,

ob iht wandels an mir sî,

obwohl er Tadelnswertes an mir finden mag,

daz er mich doch lâze vrî

mich dennoch nicht mit

valscher rede: daz êret in.

verfälschender Rede bedenkt: das ehrt ihn.

(WIGALOIS, V. 1-7)

Mit der semantischen Verschiebung des Verbs wird der adressierte (mhd.) leser zum Vorleser, zum Rezitator.12 Auch die valsche rede, die 9

Vgl. GREEN, 1994, S. 135-142. M. E. schließt sich Green bezüglich des Wigalois-Prologs der Scholz’schen Lesart an; vgl. ebd., S. 128 und S. 145. 10 So auch Walter Johannes Schröder, der die situationsbedingte Ambivalenz von lesen in einem Tristan-Vers als Kern eines medial motivierten Wortspiels deutet; vgl. SCHRÖDER, 1975. 11 Green betont anhand der Eröffnung des Wigalois ebenfalls die Notwendigkeit, neben dem sprechenden Buch andere Indikatoren zu finden, die auf eine primäre Rezeption im medialen Zustand der Skripturalität hindeuten: „In a case like this we can accept that the employment of this device [the book speaking to someone] indicates that the work was meant for readers. There are, however, cases where the device indicates no more than that the work existed in book form and could equally well be read out to a listening audience. The device itself is no sufficient pointer, only the context in which it is used, its conjunction with other indicators”; GREEN, 1994, S. 128. 12 Diese Lesart versucht Scholz durch eine groteske Überzeichnung der Vortragssituation zu entkräften: „Der Vortragende schlüpft in die Rolle des Buches und hält sich, um dem Publikum das Spiel anschaulich zu machen, das Buch vors Gesicht, spricht gleichsam durch es hindurch, aus ihm heraus. Kein Einsichtiger vermag diese Maskerade länger mitzuvollziehen. Die Handschrift fragt, wer sie aufgeschlagen habe. Bei unserer letzten

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

nur interpretativ als ‚üble Nachrede‘ verstanden werden kann, ändert so ihren Sinn. Während (mhd.) valsch, vals mit der Bedeutung (nhd.) ‚treulos, unredlich, unwahrhaft, unecht, irrig, trügerisch‘ über das (afrz.) faus erst im 12. Jahrhundert im Westmitteldeutschen auftaucht und (wahrscheinlich durch die Dichtungen Heinrichs von Veldeke) nach Osten Verbreitung findet, gibt es ein älteres Verb,13 auf welches das Adjektiv (mhd.) valsch bei Wirnt viel eher aufzubauen scheint. Das Verb (mhd.) velschen war schon vor dem Adjektiv vorhanden und begünstigte dessen Ausbreitung. Das Verb schließt ohne Umwege über das Französische direkt an (lat.) fallere an und taucht ab dem 9. Jahrhundert als (ahd.) (gi)falscǀn im Sinne von ‚für falsch erklären, widerlegen‘ auf. Diese Entwicklung des Verbs führt zu (mhd.) velschen im Sinne von nhd. ‚verfälschen‘ bzw. zu der Bedeutung des Adjektivs (mdh.) valsch als (nhd.) ‚unecht, nachgemacht, unrichtig‘.14 Zurückgeführt auf den älteren etymologischen Strang meint (mhd.) valsche rede also einen Vortrag, der den schriftlichen Text verfälscht, welcher im Falle des Wigalois aufgrund des wandels, also seiner makelhaften Anlage zur ‚Wandelbarkeit‘, das vom sprechenden Buch bedauerte Potential dazu liefert. Mit diesem Wortsinn ist der Adressat der Verse der Rezitator und das Argument von Scholz und Green, die beide die valsche rede als eine „Reaktion, die man gemeinhin in der mittelalterlichen Literatur dem Publikum zuschreibt“15 abtun, ist so

Hypothese wäre die Antwort: der Vorleser. Falls er sie lesen und verstehen könne, solle er... – aber versteht sich das bei einem Rezitator nicht von selbst?“; SCHOLZ, 1980, S. 126f. Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist es nicht nötig, die ersten 19 Verse des Prologs als Teil des vorgetragenen Texts zu begreifen, um sie dennoch als Bestandteil der Funktionsweisen performativer Fiktionsvermittlung zu sehen. Auch die ‚Selbstverständlichkeit‘, dass ein Rezitator das Buch lesen und verstên könne, ist nur dann gegeben, wenn man bei lesen den semantischen Gehalt des Vortrags unterschlägt, dessen performative Beherrschung nicht selbstverständlich ist, und das verstên als bloßes inhaltliches, nicht jedoch als ein tiefer gehendes Verstehen der inneren Zusammenhänge auffasst, dessen es zur Ausführung dieses performativen Handwerks bedarf. 13 Vgl. PFEIFER, 1999, S. 320f. und LEXER, 1992, S. 262f. 14 LEXER, 1992, S. 262f. 15 SCHOLZ, 1980, S. 127 und GREEN, 1994, S. 145.

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Vom Öffnen der arke

nicht mehr haltbar.16 Auch das (mhd.) gnade begên erscheint in Folge einer auf die Performativität bedachten Übertragung in einem anderen Licht: Es geht dem Buch nicht darum, den Leser, der den Text fertig gelesen hat, darum zu bitten, nicht übel über ihn zu reden, sondern einen Rezitator darum zu bitten, trotz eventueller Fehler, die beim Akt des Vortragens oder bei der inszenatorischen Vorbereitung desselben erkennbar werden, am Text festzuhalten. So wird die Passage auch dem eigentlichen Sinn eines Prologs gerecht – dem der Einleitung: In der Seelbach’schen Übersetzung wird ein Leser darum gebeten, im Nachhinein nicht schlecht über das Gelesene zu reden. Die hier vorgeschlagene Lesart aber beschäftigt sich mit der vom Rezitator im Kommenden zu vollbringenden Transferleistung vom medialen Zustand der Skripturalität in den der Performativität. Es handelt sich, mit anderen Worten, um die inszenatorische Präambel des Romans, die den Rezitator unterrichtet und – sollte die Passage vorgetragen worden sein – die Aufmerksamkeit des Publikums für die mediale Verwirklichung des Texts schärft. Deshalb wird mittels des Sprechens des Buches durch einen Rezitator (wie Sandra Linden dies aufweist) ein Störelement erzeugt, das als programmatisches attention seeking dient: „Im Moment des Vortrags reflektiert niemand über gestaffelte IchInstanzen, sondern akzeptiert das Als-ob ganz selbstverständlich, um die erwartete spannende Geschichte zu genießen. Doch sämtliche kommunikativen Standards der Literaturrezeption werden mit einem Vorle16 Es gibt in der mittelhochdeutschen Literatur durchaus Verse und stilistische Techniken, die Scholz’ Postulierung eines modernen Lesers sinnvoll erscheinen lassen. Gottfrieds Tristan gehört zu den Romanen, bei denen eine zumindest teilweise Orientierung an der skripturalen Medialität festzustellen ist (bspw. aufgrund der Verwendung einer nur skriptural zugänglichen Akrostichon-Technik). Eindeutig wird die Ansprache eines lesers im Sinne eines modernen Lesers dann auch bei einem Dichter, der in Gottfrieds Tradition steht: Bei der Beschreibung des Blickwechsels der Liebenden heißt es in der um die Wende vom 13. auf das 14. Jh. in Böhmen/Mähren entstandenen deutschsprachigen Fortsetzung zu Gottfrieds Tristan (vgl. GROTHUER, 1991, S. 9) Heinrichs von Freiberg: „leser dises buoches venim“ (Heinrich von Freiberg, 1877, V. 2644) und die auf diesen Einschub folgenden Verse lassen sich nicht als inszenatorische Anweisungen lesen. Diese eindeutige Hinwendung zu einem Leser ist jedoch beinahe ein Jahrhundert nach dem Wigalois verfasst worden und ist ein Indiz für die Verortung des höfischen Romans in einer neuen Medienepoche.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf ser, der ein Buch in den Händen hält, gleichzeitig aber so spricht, als sei er selbst eines, erschüttert. [...] Vielmehr scheint der Autor den Verfremdungseffekt, den der mündliche personale Erzähler bei seinem Publikum mit dem Satz Wer hât mich guoter ûf getân? erzielt, durchaus zu beabsichtigen.“17

Wenn man das (mhd.) lesen also als ‚Vorlesen‘ betrachtet und somit den Rezitator in die Wirkweise der Passage mit einbezieht, erkennt man, dass das Publikum gezielt auf sein ansonsten unbewusst eingesetztes Rollendenken aufmerksam gemacht wird und deshalb den Rezitator stärker als sonst als eigenmächtig agierenden Darsteller vor sich sieht.18 Doch – so muss vorerst noch eingewandt werden – bis hierhin gibt es noch keinen eindeutigen Indikator, der das oszillierende (mhd.) lesen entweder für die stille Lektüre der Skripturalität oder aber den Vortrag der Performativität festlegen könnte. Dieser ergibt sich jedoch aus den anschließenden Versen: ich weiz wol daz ich niene bin

Ich weiß sicher, dass ich weder

geliutert und gerihtet

geläutert und gerichtet,19

noch so wol getihtet

noch so gut gedichtet bin,

michn velsche lîhte ein valscher man

dass mich ein unredlicher Mann nicht mit Leichtigkeit verfälschen könnte,

wan sich niemen vor in kan

weil sich niemand vor ihnen behüten kann,

behüeten wol, swie rehte er tuot.

wie gut er auch handelt.

17 LINDEN, 2007, S. 99. 18 Der von Linden verwendete Begriff der ‚Verfremdung‘ passt in diesem Zusammenhang bestens, beschreibt er doch genau das Phänomen, das auch Brecht mit seinem ‚V-Effekt‘ bewirken wollte und das auch im Laufe der vorliegenden Studie noch als performative Technik des höfischen Erzählens betont werden wird; siehe Kapitel 4.2. 19 Alternativ: ‚weder gesäubert und zurecht gerückt‘. Der mittelhochdeutsche Vers legt einen komplizierten Fall von Polysemie an den Tag: Einerseits wird mit ‚geläutert‘ und ‚gerichtet‘ die eschatologische Semantik der Begriffe bedacht, andererseits lassen sie sich auch als rein dichterisch-handwerkliche Begriffe mit ‚gesäubert‘ und ‚zurecht gerückt‘ übersetzen: „Gemeint ist: clarificare und dirigere, von (allen) Fehlern bereinigt und (fertig) eingerichtet. Handelt es sich um die volkssprachige Entsprechung zu Fachtermini (aus der Leder-, Pergament-, Erzgewinnung oder Buch-Einrichtung/Layout)?“; SEELBACH, 2005, S. 287.

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Vom Öffnen der arke dehein rede ist sô guot

Keine Erzählung20 ist so gut,

sine velschen si, daz weiz ich wol.

dass sie nicht verfälscht werden kann, das weiß ich wohl.

swaz ich valsches von in dol,

Was ich an Verfälschung von ihnen ertragen muss,

owê, wem sol ich daz klagen?

oh weh, bei wem soll ich das einklagen?21

ich wilz et harte ringe tragen,

Ich will es leicht verschmerzen,

mac ich der besten lop bejagen.

kann ich [so] das Lob der Besten erjagen.

(WIGALOIS, V. 8-19)

Diese Verse wurden so gedeutet, dass das Buch Angst davor habe, dass „ein valscher man [...] leicht einen Fehler hineingebessert“22 habe; Fasbender liest sie als Emendatio-Topos, „mit dem Autoren seit der Antike ihre Tradenten dazu auffordern, offenkundige Fehler in ihren Manuskripten zu bessern“.23 Mit dieser Interpretation des valschen mannes als zukünftigen Skriptor gibt Fasbender die gängige Lesart der Forschung wieder, die den Wigalois beinahe ausschließlich unter dem medialen Apriori der Skripturalität betrachtet. Doch löst man sich von der anachronistischen Fixierung auf Pergament und Tinte, wird der Blick dafür frei, dass mit diesen Versen die bisher nur alternativ angebotene Lesart, die den Rezitator bzw. die von ihm zu erbringende mediale Übersetzungsleistung zum Hauptthema des Prologs erklärte, verbindlicher wird. Aus der Sicht des Buchs im medialen System der Performativität liegt es örtlich wie zeitlich weitaus näher, im valschen man einen Rezitator zu sehen, der über der Vorlage steht, nun mit dem Vortrag beginnt und dem durch den Prolog unterstellt wird, dass er potentiell vorhabe, vom Text abzuweichen. Was das Buch nach dieser Lesart beklagt, ist, dass es in der Aufführung der Willkür des Rezitators ausgeliefert und 20 Hier kann (mhd.) rede nicht direkt mit (nhd.) ‚Vortrag‘ übertragen werden, da der mediale Übersetzungsvorgang, den Wirnt hier behandelt, eine Differenzierung von der ‚Erzählung‘ – als Latenzform des Vortrags – und dem aktiven ‚Vortragen‘ bedarf, die das Lexem (mhd.) rede nicht selbstständig leisten kann. 21 (Mhd.) klagen ließe sich auch als bloßes (nhd.) ‚beklagen‘ übersetzen. Da das sprechende Buch jedoch aktiv nach dem idealen Kommunikationspartner sucht, um eine unverfälschte Vermittlung seiner Werte zu garantieren, scheint die Übersetzung als quasi-juristische Forderung angebrachter. 22 FASBENDER, 2010, S. 20. 23 Ebd.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

ihm die Möglichkeit genommen ist, die Verfälschungen richtig zu stellen. Die besten, deren Lob das Buch aber trotz allem erreichen möchte, wären so die Rezipienten, die sich darauf verstehen, das ‚mediale Störgeräusch‘ der Performativität auszufiltern, es wie das Buch harte ringe tragen, um so den Wert des Texts an sich zu erkennen – nicht als Schrifttext, sondern als ideelles bzw. (prä-)inszenatorisches24 Konstrukt: als Partitur. Akzeptiert man die Konstruktion des sprechenden Buches als Kunstgriff Wirnts, der seine Aussage hinter einer inszenierten Sprechinstanz versteckt, so handelt es sich um ein poetologisch-mediales Statement eines Dichters, der seinen Text nur unter Vorbehalt in die Hände eines Rezitators gibt, da er sich vor dessen Eigenmächtigkeiten fürchtet.25 Das sprechende Buch ist dabei weder bescheiden noch bittet es an irgendeiner Stelle um Verbesserung. Die Formulierung, weder „geliutert und gerichtet / noch so wol getihtet“ zu sein, bildet lediglich in Bezug auf den valschen man die argumentative Grundlage, um zu zeigen, dass niemand (also auch kein anderes schriftlich verfasstes Werk) sich schützen könnte, swie rehte er tuot. Nach den Bedingungen der 24 Über den Begriff der ‚Inszenierung‘ werden die Vermittlungsstufen beim höfischen Roman mit dem theatralen Weg eines Plots über das Drama, den Regisseur und die Darsteller hin zum Publikum gleichgesetzt. 1.) Der mittelalterliche Dichter liefert die Partitur; diese entspricht dem modernen Dramentext. Dessen Nebentexte sind aus Sicht des Dramenautors inszenatorisch, insofern sie die kommenden Aufführungen zu lenken beabsichtigen, präinszenatorisch aus der Sicht derer, die die Inszenierung ohne direkten Einfluss des Dichters erschaffen. 2.) Der Rezitator überarbeitet die Verse des mittelalterlichen Romans in inszenatorischer Absicht; er entspricht in dieser Funktion dem Regisseur des modernen Theatersystems. 3.) Des Weiteren bringt der Rezitator den Roman zur Aufführung, indem er ihn performativ durch und am eigenen Körper verwirklicht und bspw. die Figuren in Rollen spricht; in dieser Funktion entspricht er dem Schauspieler. 25 Linden stellt Ähnliches fest, auch wenn sie den Tatbestand aus produktionsseitiger, skripturaler Perspektive und als Tradition schildert, die auf Platons Phaidros (siehe Kapitel 3.2) zurückgeht: „Das Unbehagen darüber, die vom Buch ausgehende Kommunikation nach der Veröffentlichung nicht mehr beobachten und steuern zu können, bringen die Autoren in der warnenden Anrede an das Buch zum Ausdruck. Der Autor prophezeit dem Codex Gefahr durch schlechte und unverständige Leser und scheint wie der besorgte Vater, der den ausziehenden Sohn am liebsten bei sich behalten möchte“; LINDEN, 2007, S. 87f.

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Vom Öffnen der arke

Performativität interpretiert handelt es sich bei den ersten 19 Versen also nicht um eine Erweiterung der für Prologe „traditionelle[n] Bescheidenheitsformel“ zu einer „stilistischen Selbstkritik“,26 also weder um eine captatio benevolentiae noch um einen Emendatio-Topos, sondern um eine Kritik am (medial) ‚Anderen‘: Das Buch und der Dichter haben ihr Bestes gegeben – der Rezitator ist dennoch in der Lage, alles zu verderben. Wirnt führt diese Aussage fort, wobei er (nach einem allgemein moralischen, nach dem Vorbild des Iwein-Prologs konstruierten Abschnitt des Prologs)27 die Sprechinstanz des Buches unvermittelt aufgibt.28 Über die Maske der Autorfigur beschreibt der (von der Aufführungssituation ferne) Dichter seine Zwangslage wie folgt: leider, nû geswîchent mir

Doch nun, leider, lassen mich beide im Stich

beidiu zunge und ouch der sin,

Zunge und auch Verstand,

daz ich der rede niht meister bin

sodass ich der Erzählung nicht mehr Herr bin,

die ich ze sprechen willen hân,

die zu erzählen ich die Absicht habe.

wan daz ichz dar ûf hân getân

Aber darum habe ich es so eingerichtet,

daz ich mînen willen hie

dass ich meine Absicht hier

gerne erzeicte, wesse ich wie,

bereitwillig aufzeigte (wenn ich wüsste wie),

daz ez die wîsen dûhte guot.

sodass die Weisen sie als gut erachteten.

(WIGALOIS, V. 36-43)

In der Aufführungssituation ist es dem Dichter unmöglich, über seinen Verstand (sin) oder ein direktes Sprechen (zunge) auf die Ereignisse 26 HAUG, 1992, S. 275. 27 Vgl. WIGALOIS, V. 20-32. „Ein gegenüber dem Iwein Hartmanns von Aue (1-20) deutlich reduziertes ethisches Programm“; SEELBACH, 2005, S. 287. Die Seelbach’sche Formulierung drückt zurückhaltend aus, dass das Moralprogramm bei Wirnt schlichtweg lustlos ‚heruntergespult‘ wird, sodass es offensichtlich erscheint, dass es dem Dichter in seinem Prolog um etwas anderes als die Hartmann’sche Moralvermittlung über eine idealisierte Artusgestalt geht. Ähnliches lässt sich auch zu dem von Haug aufgezeigten Zusammenhang des Buchprologs mit Gottfrieds Tristan-Prolog sagen (vgl. HAUG, 1992, S. 275): Wirnt verwendet zwar dessen Wortmaterial, ist aber an der theoretischen Programmatik nicht interessiert, weil er anders gewichtet als seine Vorgänger. Weder Moralvermittlung noch dichterische Programmatik sind die Intention des Prologs, sondern ein Statement zum medialen Übergang des skripturalen Buches zum performativen Vortrag. 28 Grundlegend zu diesem Sprecherwechsel: CURSCHMANN, 1984, S. 225f.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

einzuwirken. Deshalb ist er nicht Herr seiner eigenen Erzählung. Wirnt erläutert den Grund, warum er die Medialität seines Romans explizit verhandelt: Sein Wunschpublikum, die wîsen, sollen durch diese Darlegungen die mediale Misere erkennen, um so das schon genannte ‚Störgeräusch‘ weitestgehend aus ihrer Rezeption bannen zu können. Jedoch – so betont Wirnt in dieser Passage des Prologs gleich dreimal – 29 dort, wo es ihm um die explizite Darlegung der medialen Verhältnisse geht, fehlen ihm die passenden Worte – zumal er ja auf die unverfälschte Weitergabe durch einen Rezitator nur hoffen kann. Die Frage liegt nahe, warum ein Dichter, der sich so vor einer Verfälschung seiner Verse in der Aufführungssituation fürchtet, überhaupt seinen Roman in die Mühlen des höfischen Literaturbetriebs gibt. Wirnt antwortet auch hierauf: Man sol mir des genâde sagen

Man soll mir dafür danken,

daz ich her in mînen tagen

dass ich mich bisher zu Lebzeiten,

mich dar ûf geflizzen hân,

darum bemüht habe,

sît ich mich guotes êrst versan,

seit ich mich das erste Mal des Guten besann,

wie ich mit mîner zungen daz

wie ich es mit meiner Sprache verdiente,

verdiente daz die wîsen baz

dass die Weisen mich doch

mich mit ir gruoze hêten doch;

mehr mit ihrem Gruß bedächten.

des bin ich erlâzen noch;

Bis heute habe ich den noch nicht erhalten.

daz machet mîn grôz unheil

Das liegt an meiner großen Glücklosigkeit

und mîn bœser sin ein teil.

und ein wenig an meinem schwachen Verstand.

waz frumt den rîchen argen man,

Wie frommt es dem reichen besorgten Mann,

der al der werlt guotes erban,

der aller Welt den Besitz missgönnte,

ob er tûsent marke

wenn er befiehlt, tausend Mark

heizet in sîner arke

in seiner Geldkiste

vil vaste besliezen?

fest zu verschließen?

wer mac des geniezen,

Wer hat etwas davon,

ern wellez teilen unde geben?

wenn er es nicht teilen und ausgeben will?

an dem honige ist mir vergeben,

Mit diesem Honig bin ich vergiftet,

wand ich durch bœsen gemach

weil ich aufgrund gemeiner Bequemlichkeit

mînen schaden übersach.

meinen Verlust nicht sah.

(WIGALOIS, V. 54-73)

29 Vgl. WIGALOIS, V. 33-35, 41f., 46f.

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Vom Öffnen der arke

Wirnt stellt sich als gescheiterter Dichter dar, als jemand, der sich seit seiner moralischen Reife um die Gunst des idealen Publikums bemühte und bis zum Zeitpunkt des Abfassens der Verse (oder aber: bis zum Zeitpunkt ihrer jeweiligen performativen Realisierung) noch nicht diese Gunst erhalten habe. Als Gründe hierfür nennt er einerseits sein unheil, andererseits seinen boesen sin. In der Forschung wurde diese Stilisierung häufig (ebenfalls) als Bescheidenheitsgestus betrachtet und einhergehend mit dieser rhetorischen Kategorisierung30 wurden die folgenden Verse aufgrund der Geldtruhe (arke) als Appell an die milte eines Mäzens verstanden.31 Diesem schematisierten und schematisierenden Blick auf die Verse widerspricht jedoch deren Position. Gerade eben hat der Dichter seine Probleme dargelegt, mit Worten das Wohlwollen des Publikums zu erlangen – und nun spricht er im wörtlichen Sinne über die Schatztruhe seines Mäzens? Die Verse scheinen doch eher in einem symbolischen Sinnzusammenhang zu stehen, sodass das arke-Bild als Erläuterung des zuvor Dargelegten zu betrachten ist. (Mhd.) arke kommt von (lat.) ‚arca‘, einem Begriff, dessen Bedeutungsumfang Ivan Illich in seiner Untersuchung der monastischen Memorial- und Buchkultur wie folgt zusammenfasst:

30 Walter Haug, der in seiner Monographie zur mittelalterlichen Literaturtheorie den Wigalois-Prolog als ein Geflecht variant gebrauchter rhetorischer Formeln und intertextuellen Versatzstücken versteht, kommt zu der Aussage: „Es ergibt sich also: dem Wigalois fehlt ein klar durchdachtes literaturhistorisches Konzept. Wirnt hat einzelne Elemente aus den Prologen Gottfrieds, Hartmanns und Wolframs herausgelöst, sie auf Versatzstücke reduziert und mehr oder weniger geschickt zusammengebaut. Was an grundsätzlichen theoretischen Elementen übrigbleibt, ist die traditionelle Verbindung von prodesse und delectare. Dabei wird beides in die Perspektive einer Bescheidenheitsgeste gestellt“; HAUG, 1992, S. 277. Haug entdeckt – so erscheint es mir – im Wigalois-Prolog genau den rigiden Schematismus, den er an ihn anlegte. Doch die captatio benevolentiae übermittelt mediendiskursiv eine alles andere als ‚benevolente‘ Aussage und ist dementsprechend auch jenseits des Schemas zu deuten. Rhetorische Ordnungskategorien und intertextuelle Zusammenhänge stellen keinen Gewinn dar, wenn über ihre Analyse der Eigenwert des Texts aus den Augen gerät. 31 Vgl. SEELBACH, 2005, S. 287. Eine Ausnahme bildet ein Aufsatz Cora Dietls, in dem das „teilen und geben“ (V. 70) als Verteilung von „geistigem Eigentum“ umschrieben wird, jedoch ohne dass die Autorin dies über die Bildlichkeit des Prologs begründet; vgl. DIETL, 2002, S. 74f.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf „Arca – etwas, in dem alles aufbewahrt werden kann: ein Kasten, eine Kiste, eine Truhe; auch ein Sarg oder die Arche Noah. Die arca des Klosters wurde in der Sakristei verwahrt und enthielt die Schätze: Kelche, Gewänder für die Liturgie; Reliquien, vor allem die verschiedenen Schädel und Gebeine von Heiligen in wertvollen Schreinen; und darüber hinaus die Bücher. Erst im 11. Jahrhundert beginnt man, Bücher in speziellen, getrennten Archen, den Archiven, zu verwahren, und erst Ende des Jahrhunderts werden Bibliotheken üblich.“32

Zusätzlich zu Illichs Beispielen ist an die in der Vulgata als arca bezeichnete Bundeslade zu denken,33 die ein archetypisches Bild der christlichen Schriftverwahrung liefert. Die arca findet sich aufgrund dieses Bedeutungsfelds auch häufig in der mittelalterlichen Darstellung von Mnemotechniken. Unter der Kapitelüberschrift „Die Schatztruhe im Herzen des Lesers“34 behandelt Illich bspw. die folgende Fundstelle bei Hugo von St. Viktor, der in De Tribus Maximis Circumstaniis Gestorum (ca. 1130) seinen Schülern in einem Prolog folgende Worte zum Memorieren geschichtlicher Daten mit auf den Weg gibt: Fili, sapientia thesaurus est et cor tuum archa. Quando sapientiam discis, thesaurizas tibi thesauros bonos, thesauros immortales [...], nec speciem claritatis suae amittunt. In thesauris sapientiae variae sunt opum species et in archa cordis tui conditoria multa[, a]libi aurum et alibi argentum, alibi lapides.35 Mein Kind, die Weisheit ist ein Schatz, und dein Herz ist eine Schatztruhe. Wenn du die Weisheit lernst, sammelst du wertvolle Schätze. Sie sind unsterbliche Schätze, die ihren Glanz nie verlieren. Es gibt viele

32 ILLICH, 1991, S. 151f. 33 Vgl. 2. Mose 25, 10 und 16; Vulgata: „arcam de lignis setthim conpingite cuius longitudo habeat duos semis cubitos latitudo cubitum et dimidium altitudo cubitum similiter ac semissem. [...] ponesque in arcam testificationem quam dabo tibi“; Einheitsübersetzung: „Macht eine Lade aus Akazienholz, zweieinhalb Ellen lang, anderthalb Ellen breit und anderthalb Ellen hoch. [...] In die Lade sollst du die Bundesurkunde legen, die ich dir gebe“. 34 ILLICH, 1991, S. 38. 35 Hugo, 1943, S. 488, Z. 5-9.

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Vom Öffnen der arke Arten der Weisheit und in der Truhe deines Herzens gibt es viele Verstecke; solche für Gold, für Silber und für Edelsteine.

Das Herz ist die Truhe (lat. arca bzw. mhd. arke) eines Schatzes (thesaurus), den Hugo allgemein als Weisheit (sapientia) bezeichnet und mit bildlichem Silber und Edelsteinen füllt. Die Verwendung des Begriffs thesaurus hat dabei hinsichtlich der Mnemotechniken zu Hugos Zeiten schon ein lange Tradition. Eine interessante Verwendung lässt sich bei Alcuinus finden, dem Vertrauten Karls des Großen. Dieser unterrichtet den Kaiser in einem fiktiven Dialog zur Bedeutung der memoria: Quid aliud, quam quod Marcus Tullius dicit, quod thesaurus est omnium rerum memoria, quae nisi custos cogitatis inventisque rebus et verbis adhibeatur, intelligimus omnia, etiamsi praeclara fuerint, in oratore peritura.36 Was kann ich dir sagen außer dem, was Cicero schon gesagt hat: Das Gedächtnis ist eine Schatzkammer aller Dinge. Wenn diese nicht verwendet wird in allem, was wir gedacht oder gefunden haben, seien diese nun Wörter oder Sachen, haben sie keinen Nutzen, und wenn sie noch so bedeutend wären.37

Hugos Gold, Silber und Edelsteine werden (konkret) als Wörter (verbis) und (unkonkret) als Sachen (rebus) bezeichnet. Der Thesaurus wird also in der im 12. Jahrhundert bereits alten Tradition – im Sinne der modernen Wörterbücher und somit des ursprünglich griechischen ‚thesauros‘38 – ganz spezifisch als ein Aufbewahrungsort von Worten verstanden, eine Konzipierung, die über Aleida Assmann auch Einzug

36 ALCUINUS, 1965, 328 [De memoria] b [Sp. 941]. 37 Übersetzung in ILLICH, 1991, S. 49f. 38 Das griechische ‚thesauros‘ bedeutet ‚Schatzkammer‘, wurde latinisiert und bekam in seiner Fortführung die Bedeutung einer „systematisch geordneten Sammlung von Worten eines bestimmten [Fach]bereichs“; vgl. DUDEN 5, 1997, S. 810.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

in die kulturwissenschaftliche Theorie vom kulturellen Gedächtnis gefunden hat.39 Die historischen Memorialtheorien machen deutlich, dass in der monastischen Ausbildung – die wahrscheinlich auch der Dichter Wirnt genoss –40 die (lat.) arca bzw. (mhd.) arke ein Bild für die memoria des Menschen ist, in die er Wissensbestände wie Schätze einschließt, um sie später nach bestimmten Techniken abrufen zu können. Der Aufruf, die fest verschlossene arke nun (entgegen aller Bedenken) zu öffnen, könnte also ein Bild für Wirnts eigenes literarisches Schaffen sein: Der Dichter ist es, der sich als an Worten reicher Mann davon überzeugen muss, dass sein Schatz nichts wert ist, wenn er ihn nicht für die Allgemeinheit öffnet. Nur mittels dieser Deutung macht auch die Feststellung Sinn, Wirnt sei aufgrund seiner Bequemlichkeit zu lang ‚an diesem Honig vergiftet‘ gewesen. Es ist nur die Frage, wie man in diesem Bild den Honig versteht: Generell werden seit der Antike Metaphern der Imkerei häufig für geistige Erfahrungen genutzt.41 Biblisch ist die Konnotation von Honig und Schrift in den Buchverspeisungs-Bildern der Ezechiel- Vision42 und der Johannes-Offenbarung43 zu finden. Auch im Mittelalter wünscht sich Bernhard von Clairvaux

39 In Erinnerungsräume (zuerst 1999) widmet Aleida Assmann ein Hauptkapitel den ‚Gedächtniskisten‘, welches mit einer Untersuchung des ArcheKonzepts Hugos beginnt; vgl. ASSMANN, 2006, S. 114-129, zu Hugo von St. Viktor S. 115-119. 40 Die religiöse Einstellung Wirnts wurde schon recht früh als ein Hauptmerkmal seiner Umstrukturierung des arthurischen Helden- und Herrschertypus bemerkt (vgl. u. a. SANDROCK, 1931) und ist v. a. in Christoph Cormeaus Studie in seiner konstitutiven Bedeutung für den von Wirnt begonnenen neuen Artusromantypus erfasst worden (vgl. CORMEAU, 1977, S. 44-48, S. 120-123). Achim Jägers Untersuchung zu der erstaunlichen Tatsache, dass ausgerechnet der christlichste aller Artusromane eine späte Rezeption beim städtischen Judentum erfuhr (vgl. JÄGER, 2000), ist bezüglich der Wirnt‫ތ‬schen Frömmigkeit ebenso erhellend wie Cora Dietls Untersuchung des Wandels der Wundererscheinungen und -dinge hin zum Christlichen; vgl. DIETL, 2003. Die Dominanz religiöser Motivation im Handeln des Helden und die Tendenz, aktive Heldentaten in fromme Hingabe umzuwandeln, reicht zwar nicht zum Beweis einer monastischen Bildung des Dichters aus, macht diese jedoch wahrscheinlich. 41 Vgl. GINDELE, 1977f. 42 Vgl. Hes 3,3. 43 Vgl. Apc 9,9f.

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Vom Öffnen der arke

noch, „daß der Leser an der Schrift saugt, wie an einer Honigwabe“.44 Die metaphorische Verbindung von ‚Schrift‘ und der signifikantesten Eigenschaft des Honigs, seiner ‚Süße‘, ist auch in weiteren monastischen Texten häufig zu finden. Illich stellt fest: „Geschmack und Geruch wurden [...] als Ergebnis des Empfindens während des gefühlvollen Nachdenkens oder während des meditativen Lesens ausgedrückt“.45 Dadurch ist es möglich, dass die ‚Süße‘ als angenehme Erfahrung der Zunge verstanden und deshalb von christlichen Autoren bis zum späten Mittelalter auch für den Geschmack des Wortes verwendet wurde.46 Wirnt gibt also mittels einer traditionellen metaphorischen Verschränkung von ‚Honig/Süße‘ und ‚Schrift‘ zu, dass er sich aus Angst vor Verfälschung und zu seinen eigenen Ungunsten bisher der Süße der nur in Schriftform vorliegenden Worte hingab. Nun jedoch hat er sich dazu entschlossen, seine Schatztruhe zu öffnen – oder mit anderen Worten: seinen Text zur Aufführung frei zu geben.47 In diesem Sinn sind auch die folgenden Verse zu verstehen: Si wellent daz daz iht witze sîn,

Man behauptet, dass das nichts Kluges sei,

swer rôtez golt under diu swîn

wenn einer rotes Gold und Edelsteine

werfe und edel [ge]steine:

unter die Schweine werfe:

des vreuwent si sich doch kleine: die erfreuen sich doch kaum daran, si wâren ie vür daz golt

[denn] sie waren schon immer statt des Golds

der vil trüeben lachen holt;

den stark verdreckten Pfützen hold;

dâ bewellent si sich inne.

sie suhlen sich darin.

swer guote rede minne

Jeder, der eine gute Erzählung liebt,

und si gerne hœre sagen,

und sie gerne vorgetragen hört,

der sol mit zühten gedagen

der soll mit Anstand schweigen

und merken si rehte: daz ist im guot.

und sie sich richtig einprägen: Das ist gut für ihn.

(WIGALOIS, V. 75-85)

44 45 46 47

ILLICH, 1991, S. 58. Ebd., S. 160, Anm. 145. Vgl. ebd., Anm. 143 und allgemein zur ‚Süße‘ ARMKNECHT, 1936. Wirnt handelt so nach einem Grundsatz, den er in Chrétiens Erec et EnideProlog (evtl. auch bei Hartmann) finden konnte: „que cil ne fet mie savoir / qui s’escïence n’abandone“ (EREC ET ENIDE, V. 16f.; ‚dass derjenige nicht weise handelt, der sein Wissen nicht mitteilt‘); siehe Kapitel 3.2.

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Schon bei Hugo von St. Viktor wurden – evtl. in Ausdeutung der Ausstattung der Bundeslade (arca) –48 Wissensbestände mit Gold, Silber und Edelsteinen verbildlicht, eine Metaphorisierung, die auch Wirnt anwendet. Es besteht laut ihm die Gefahr, dass in der Aufführung – und dies unter Verwendung einer Formulierung des Matthäus-Evangeliums –49 die Worte wie Gold und Edelsteine vor die Schweine bzw. Perlen vor die Säue geschleudert würden – eine Gefahr, die ihm den Vorgang der Entäußerung seines Texts fraglich vorkommen lässt. Darum bittet er sein Publikum, mit Anstand zu schweigen und nicht zu den Schweinen zu zählen, sondern die Worte zu würdigen. Über die Verbildlichung des schlechten Zuhörers verschiebt Wirnt auch die Verantwortung für das Gelingen der Aufführung. Sich selbst stellt er hinsichtlich des Vortrags als machtlos dar; doch auch dem Rezitator spricht er nur einen geringen Geltungsbereich zu: Sô spricht vil lîhte ein tumber man eine rede, der si gemerken kan daz si dem ze staten kumt und im an sînen siten vrumt. swâ von dem guoten guot geschiht, daz dunket die bœsen gar enwiht, wand in vil wênic ze herzen gât guotiu rede und guot getât. si bietent lîhte d’ôren dar: ir muot stêt aber anders war: an valsch und an bôsheit. swaz den von mir wirt geseit, daz ruofte ich gerner in einen walt: dâ vünde ich doch die tagalt daz mir mîn ôre würde erschalt. Hie vinde ich anders lônes niht wan swaz er hœret oder siht. (WIGALOIS, V. 90-106)

So trägt vielleicht ein ungebildeter Mann einen Vortrag vor, sodass er demjenigen, der ihn sich einprägt, [trotzdem] zugute kommt und ihm für seine Lebensart nützt. Wo immer von dem Guten Gutes verbreitet wird, interessiert dies die Bösen keinen Pfifferling, weil ihnen ein guter Vortrag und eine gute Tat kein bisschen zu Herzen gehen. Unbeschwert halten sie die Ohren hin, ihr Gemüt jedoch ist ganz woanders: bei Falschheit und Bosheit. Alles, was denen von mir gesagt wird, riefe ich lieber in einen Wald hinein: Da hätte ich zumindest den Zeitvertreib, dass mir mein eigenes Ohr beschallt würde. Hier erhalte ich keinen anderen Lohn als das, was er hört und sieht.

48 Vgl. 2. Mose 25-39. 49 Vgl. Mt 7,6. Vulgata: „nolite dare sanctum canibus neque mittatis margaritas vestras ante porcos ne forte conculcent eas pedibus suis et conversi disrumpant vos“; Einheitsübersetzung: „Gebt das Heilige nicht den Hunden und werft eure Perlen nicht den Schweinen vor, denn sie könnten sie mit ihren Füßen zertreten und sich umwenden und euch zerreißen“.

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Wirnt marginalisiert den Einfluss, den der Rezitator auf das endgültige, d. h. performative Gelingen des Texts haben kann. Sei er ein tumber man (90) oder ein guoter (94), letztendlich liege es an der Bereitschaft und moralischen Integrität des Publikums, ob die Aussage verstanden werde oder nicht. Der schlechte Zuhörer präge sich nichts ein, unabhängig davon, ob der Text, und genauso unabhängig davon, ob der Vortrag gut oder schlecht gemacht sei. Hier thematisiert der Dichter den eigentlichen Kernpunkt seiner medialen Misere: Nur in dem, was der Rezipient letztendlich wahrnimmt, liegt sein Lohn – ein Lohn, den ihm alle Teilnehmer der Aufführung (und der Zuhörer noch mehr als der Rezitator) verweigern können. Allein schon diese Einschätzung Wirnts zeigt, dass die rezeptionsästhetische bzw. performative Sichtweise auf den höfischen Roman keine Rückprojektion moderner literatur- bzw. theaterwissenschaftlicher Theorien auf das Mittelalter ist, sondern dass es sich dabei um eine Perspektive handelt, die der medialen Realität der höfischen Romane – auch im Sinne der sie schaffenden Dichter – gerecht wird. Alle Bedenken, die diesem Ansatz als systematischer wissenschaftlicher Methode anhaften, decken sich mit der Perspektive des in der Performativität verankerten Textproduzenten. Trotz seiner Zweifel entscheidet sich Wirnt letztendlich dazu, seinen Text in die Aufführung und die (performative wie rezeptive) Willkür zu entlassen. Er öffnet seine arke: Mîn kunst diu was verborgen ie;

Bisher war meine Kunstfertigkeit verborgen.

die wold ich nu offen hie,

Nun möchte ich sie hier öffnen / öffentlich machen,

ob ich mit mînem munde

wenn ich [so] mit meinem Munde

möhte swære stunde

den Menschen manche schwere Stunde

den liuten senfte machen,

erleichtern kann,

und von solhen sachen

und das mit solchen Dingen,

daz guot ze hœren wære.

die gut zu hören sind.

(WIGALOIS, V. 124-130)

Einhergehend mit diesem Entschluss findet im Prolog (nach dem Wechsel vom Buch zum Dichter) ein zweiter Sprecherwechsel statt, der sich schon in der Fügung mit mînem munde ankündigt: der Wechsel von der Autorfigur hin zum Rezitator, der nun den Vortrag mit (fingiert) eigenen Worten einleitet:

165

Stimme im Raum und Bühne im Kopf nu wil ich iu ein mære

Nun möchte ich euch eine Geschichte

sagen, als ez mir ist geseit.

erzählen, wie sie mir vorgesagt wird.50

zeiner ganzen wârheit

Ich kann nicht erwarten,

trûwe ich ez niht bringen;

es zu einer vollen Wahrheit zu bringen.

wan eines wil ich dingen:

Doch auf eines will ich hoffen:

daz ir durch iuwer hövischeit

dass ihr um eures höfischen Anstands willen

dem tihtær des genâde seit

dem Dichter Dank sagt,

der ditze hât getihtet,

der dies gedichtet,

mit rîmen wol gerihtet,

in Reimen fein gerichtet hat,

wan ditz ist sîn êrstez werc.

denn dies ist sein erstes Werk.

er heizet Wirnt von Grâvenberc.

Er heißt Wirnt von Grafenberg.

(WIGALOIS, V. 131-141)

Mit dem Anheben des Rezitators ist der Paratext, den der Dichter der performativen Kommunikationsgemeinschaft mitsandte, endgültig zu Ende. Der Rezitator gibt sein Rollensprechen auf und leitet so in den eigentlichen Beginn der Erzählung über, der nicht auf dem Papier, sondern im Rahmen der Aufführung stattfindet. Deswegen findet die Ansprache des Dichters auch nun – wie aus den Prologen anderer Romane bekannt –51 in der grammatikalisch dritten Person statt. Die Worte, die Wirnt dem Rezitator in den Mund legt, haben den Charakter einer Selbstbezichtigung und implizit den des Eides: Der Rezitator verspricht, nur die ‚diktierte‘ (von tihtِre) Erzählung weiterzugeben (als ez mir ist geseit), denn andernfalls könne er es nicht ‚zu einer vollen Wahrheit bringen‘, d. h. die ‚Wahrheit‘ des Textsinns nicht adäquat vermitteln. An den abwesenden Dichter sei für den Fall einer gelungenen Aufführung der Dank zu richten. Der Prolog beinhaltet folglich zwei Zäsuren: den Wechsel der Sprechinstanz vom Buch zur Autorfigur (V. 19/20) und von der Autorfigur zum Rezitator (V. 130/131). Es ist ein gradueller Einstieg in die Aufführung, der schon von Anfang an durch das attention seeking des Buchprologs als mediale Selbstreflexion in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird.52 50 Eingedenk der medialen Konstellation des tihtære als Diktierendem vermeide ich an dieser Stelle die übliche Übersetzung dieser Phrase mit ‚wie mir erzählt worden ist‘. 51 Siehe Kapitel 2.1. 52 Vgl. LINDEN, 2007, S. 99f.

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Der Dreierschritt des Prologs vom Buch über die Autorfigur zum Rezitator wurde auch von nachfolgenden mittelalterlichen Dichtern als solcher erkannt.53 Davon zeugt der am Wigalois-Prolog orientierte Anfang der Verserzählung Der Borte des Dietrich von der Glezze aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.54 Die Erzählung beginnt mit der folgenden Apostrophe: Ich bin der Borte genant,

Man nennt mich ‚Der Borte‘.

hubschen luten sol ich sin bekant,

Höfischen Leuten soll ich bekannt,

den argen sol ich vremde sin,

den Nichtswürdigen fremd sein.

si sullen immer liden pin

Die sollen aufgrund ihrer Makel

durch ir missewende

immerfort Schmerzen leiden

unz an ir bitter ende.

bis zu ihrem bitteren Ende.

man sol mich hubschen luten lesen, Höfischen Leuten soll man mich vorlesen, di sullen mit mir vrolich wesen

die sollen sich an mir erfreuen

durch ir tugent manicfalt,

um ihrer guten Eigenschaften willen,

wan niman siner tugent engalt.

weil noch niemand für Tugend bestraft wurde.

(BORTE, V. 1-10)

Auch in diesen Versen spricht (1.) das Buch mit jemandem – und im Gegensatz zum Wigalois-Prolog steht hier völlig außer Frage, dass es sich bei dem Angesprochenen um den Rezitator handelt. Denn die Ausführung zu den hubschen und argen Rezipienten wird durch die Fügung ‚mich [...] lesen‘ auf den Vortrag bezogen. Auch die Anweisung, sich 53 Das sprechende Buch ist neben der hier behandelten Borte-Rahmung auch in Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens anzutreffen; vgl. FASBENDER, 2010, S. 49. Dort jedoch ist sein Auftauchen ein Binnenphänomen des Texts und die oben behandelte Dreiteilung ist dort nicht zu finden. 54 Der intertextuelle Zusammenhang wird neben den Prologen auch an der Entsprechung von Jorams Zaubergürtel im Wigalois und dem titelgebenden Gürtel des Borte offensichtlich; dazu und zum Verhältnis der Prologe vgl. (unter performativen Gesichtspunkten) REICHLIN, 2008, S. 194-196 und (allgemein) KIRCHHOFF, 2013, S. 435-438. Die Datierung des Borte ist v. a. aufgrund der Namensnennungen im Prolog möglich. Da der Herausgeber Otto Richard Meyer davon ausging, dass der Prolog (V. 1-10) und der Epilog (V. 827-888) von einem anderen Dichter als der Hauptteil der Erzählung stammen (vgl. MEYER, 1915, 31-62), kommt er zu zwei Datierungen. Hans-Friedrich Rosenfeld fasst dies im Verfasserlexikon auf eine Datierung „zwischen 1270 und 1290“ zusammen (vgl. ROSENFELD, 1980, Sp. 138), wobei der Prolog zu den jüngeren Textpassagen zählen muss.

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ein hubsches Publikum zu suchen, kann nur an den Rezitator gerichtet sein. Umso mehr mag es verwundern, dass nicht der Rezitator als nächster Sprecher seine Stimme erhebt.55 So heißt es zum Ritter Conrad, der nun als Figur eingeführt wird: man mochte in dicke schowen

Oft konnte man ihn zu Hofe

zu hove mit den besten;

mit den Besten Umgang pflegen sehen.

dem gesinde und den gesten

Dem Ingesinde wie den Fremden

tet er dicke libes vil.

tat er häufig viel Gutes.

dar umbe ich von ihm schriben wil.

Deshalb will ich von ihm schreiben.

(BORTE, V. 16-20)

Durch die Verwendung des Verbs schriben wird klar, dass nun (2.) der Dichter seinen Grund dafür darlegt, warum er sich dem Ritter Conrad zuwendet. Erst bei der nun folgenden Einführung der weiblichen Hauptfigur öffnet sich der Text zur Aufführungssituation hin: (3.) Der Rezitator imaginiert eine Wahrnehmung von Conrads Ehefrau auf der Ebene der Fiktion; die Beschreibung der Figur endet mit einem schwelgerischen „wir suln der fuzze swigen“.56 Die erotisierte Wahrnehmung der Figur wird mit dem integrativen wir als ein gemeinschaftlicher Akt der performativen Kommunikationsgemeinschaft dargestellt.57 Späte-

55 Bei den Versen 11-15 wäre dies noch möglich. Zu diesen schreibt Susanne Reichlin: „Das sich selbst erzeugende ich wird beim Beginn der narratio (v. 11) zu einem Erzähler, der – wie gezeigt wurde – seine zu Beginn klar markierte extradiegetische Position langsam aufgibt und immer stärker von Erzählten affiziert wird“; REICHLIN, 2008, S. 195. Was Reichlin hier beschreibt ist meinem Vorschlag eines Dreierschritts ähnlich. Reichlin belegt die ‚Affizierung‘ des Rezitators durch die Fiktion auch bezüglich der eigentlichen Verserzählung als performativen Gestus; bezüglich des Prologs jedoch übersieht sie die recht eindeutige mediale Markierung des schriben in V. 20. 56 BORTE, V. 79 (‚Von den Füßen lasst uns schweigen‘; meine Hervorhebung). Entscheidend ist v. a. die Verwendung des integrativen uns, das einen Kontrast zum ich-bezogenen Vorgang des Schreibens aus V. 20 bildet: Hier beschreibt kein Einzelner mehr – eine Gemeinschaft erlebt gemeinsam die Beschreibung. 57 Die besondere Pikanterie dieses gemeinschaftlichen Akts offenbart sich erst am Ende der Geschichte, an dem Conrads Frau inkognito und als Mann verkleidet ihren Ehegatten dazu bewegt, in ein homoerotisches Liebesspiel einzustimmen.

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Vom Öffnen der arke

stens mit Einsatz des eigentlichen Plots58 ist die Kommunikationsebene endgültig die der Aufführung. Der Prolog des Borte zeichnet also nicht nur Wirnts Erfindung des sprechenden Buchs nach, sondern ebenso den Übergang vom Buch über die Autorfigur zum Rezitator. Verstärkt wird der bewusste Einsatz des medialen Dreischritts dadurch, dass er im Epilog inklusive der Instanz des ‚Sprechenden Buchs‘ wiederholt wird.59 Noch im 13. Jahrhundert wurde der Wigalois-Prolog also als eine dreiteilige Staffelung Text tradierender, produzierender und vermittelnder Instanzen verstanden und im Falle von Der Borte gleich zweifach, als graduelles ‚Ein- und Ausfaden‘ der Performativität, kopiert. Rekapitulation Michael Curschmann bewertet die Zäsur zwischen den Versen 19 und 20 des Wigalois-Prologs wie folgt: „Ich möchte das, was mit Vers 20 beginnt, einen öffentlichen Prolog nennen. Er ist am ehesten wirksam als Wortgeste eines Vortragenden im Kreis seines versammelten Publikums. Im Vergleich dazu klingen die vorausgehenden 19 Verse entschieden privat: das Buch spricht zu Einem, der es öffnet“.60

Das Attribut ‚privat‘ passt bestens, um dem Ton der ersten Verse zu beschreiben; doch wie die angeführten Indikatoren im restlichen Prolog und die Rezeption der Wirnt’schen Verse in Der Borte zeigen, handelt es sich beim Adressaten deshalb nicht um einen ‚privaten Leser‘. Die Verengung der Kommunikation auf nur zwei Gesprächspartner (Buch und leser) ist aus den medialen Gegebenheiten der Performativität heraus zu begründen: Die Verse wenden sich an den Vorleser und teilen 58 Mit Einsatz der Handlung gebärdet sich der Rezitator an einer Stelle (V. 125-128) mittels eines inszenierten ‚wahrheitssetzenden‘ Sprechakts als Beherrscher der fiktiven Zeit, indem er auf sein Wort hin vierzehn Tage vergehen lässt. Bei dieser performativen Technik handelt es sich um eine besondere Variante des Verfremdungseffekts, das Hervorheben der Eigenmächtigkeit des Erzählens; siehe Kapitel 4.2.2. 59 Vgl. BORTE, V. 827-888. 60 CURSCHMANN, 1984, S. 226f.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

ihm seine Verantwortung mit, bevor er den Vortrag beginnt. Erst ab Vers 20 finden sich Aussagen, die sich auf das lauschende Publikum beziehen und so Teil des eigentlichen Vortrags sind. Curschmanns Schluss aus den einleitenden Versen, dass hier „literarische Metaphern [vorlägen], in denen die aufsteigende Laienkultur [...] über ihre eigene wachsende Literarizität reflektier[e]“,61 muss aus den genannten Gründen revidiert werden: Das ‚Private‘ der Verse bettet sie – nimmt man die Denkgröße des Rezitators als autonome mediale Instanz ernst – eben nicht in die Literarizität, sondern als inszenatorische Präambel in die Gegebenheiten der Performativität ein. Die einleitend angeführte Sequenz, in der Konrad von Würzburg Wirnt als ‚Buchmenschen‘ darstellt, muss deshalb anders gelesen werden, als dass Wirnt für Leser schrieb und als primäre Medialität die Skripturalität ansteuerte.62 Als Mensch, der sich selbst als Literat verstand, war Wirnt sich der Problematik eines performativ vermittelten Texts überaus bewusst. Deshalb schrieb er seinen Wigalois trotzdem nicht unbedingt für Leser oder einen lesenden Mäzenen. Der Prolog lässt zwar vermuten, dass Wirnt die Ansteuerung der privaten Lektüre wohl probierte, doch der ‚Honig‘ des Zurückhaltens der Schrift vor der performativen ‚Publizierung‘ wurde ihm zum ‚Gift‘.63 Nun, mit Niederschrift des Prologs, beschließt er, die arke seines schriftlich niedergelegten Werks zu öffnen. Da er jedoch im Vorgang des Vortragens Verfälschung fürchtet, versucht er zwecks einer Verteidigung des geschriebenen Worts auf Rezitator und Zuhörer einzuwirken. Wirnt zeichnet sich durch dieses Verfahren – ganz im Gegensatz zu seiner Bewertung in der bestehenden Forschung – als viel ‚performanzbewusster‘ als seine Zeitgenossen aus, denn er sorgt dafür, dass alle Beteiligten der performativen Textrealisierung sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Er versucht so als Abwesender die Bedingungen für zukünftige Aufführungen (prä-)inszenatorisch zu regeln.

61 Ebd., S. 228. 62 Vgl. SCHOLZ, 1980, S. 128-130. 63 Vgl. WIGALOIS, V. 71-74.

170

Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation

3.2 Pol yvokalität: die I nszeni erung der performati ven Kom munikation VLADIMIR: Say something! ESTRAGON: I’m trying. VLADIMIR: Say anything at all! ESTRAGON: What do we do now? VLADIMIR: Wait for Godot. ESTRAGON: Ah! Samuel Beckett, Waiting For Godot64

Die am Wigalois aufgezeigte Tendenz, mittels eines Prologs die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der performativen Umsetzung eines Texts zu bedenken, bildet zwar in ihrer Explizität, nicht jedoch in ihrer Tendenz einen Einzelfall. Chrétien de Troyes, der ‚Erfinder‘ des Artusromans, wird in den viel zitierten Versen des Prologs zu Erec et Enide seinen Rezipienten wie folgt vorgestellt: Por ce dist Crestïens de Troies

Darum sagt Chrétien von Troyes,

que reisons est que totevoies

es sei vernünftig, dass jeder immerfort

doit chascuns panser et antandre

darauf sinne und sich befleißige,

a bien dire et a bien aprandre;

gut zu reden und gut zuzuhören,

et tret d’un conte d’aventure

und er bringt eine Erzählung von Abenteuern

une molt bele conjointure

in einen wohlgeordneten Zusammenhang,

par qu’an puet prover et savoir

damit man daraus erweisen und erkennen kann,

que cil ne fet mie savoir

dass derjenige nicht weise handelt,

qui s’escïence n’abandone

der sein Wissen nicht mitteilt

tant con Dex la grasce l’an done:

solange Gott einem die Gnade dazu gibt:

d’Erec, le fil Lac, est li contes,

Von Erec, dem Sohn Lacs, handelt die

que devant rois et devant contes

Erzählung, welche vor Königen und vor Grafen

depecier et corronpre suelent

auseinandergerissen und verdorben wird

cil qui de conter vivre vuelent.

von denen, die vom Geschichtenerzählen leben wollen.

64 Beckett, 1987, S. 73, Z. 3-9.

171

Stimme im Raum und Bühne im Kopf Des or comancerai l’estoire

Sogleich will ich die Geschichte beginnen,

qui toz jorz mes iert an mimoire

die alle Tage in der Erinnerung der Leute

tant con durra crestïantez;

bleiben soll, solange die Christenheit besteht;

de ce s’est Crestïens vantez.

dessen hat sich Chrétien gerühmt.

(EREC ET ENIDE, V. 9-26)

Im Vergleich zu den Dichternennungen in anderen Prologen65 findet die Kontrastierung des Ichs hier auf eine ungewöhnliche Art und Weise statt. In ihrer performativen Verwirklichung wickelt sie sich wie folgt ab: Am Anfang (V. 9-12) trägt der Rezitator seinem Publikum einen Lehrsatz des (nicht anwesenden) Dichters Chrétien vor. Man solle daran denken, gut vorzutragen – damit ist der Rezitator und die Qualität seiner Vortragstechnik gemeint – und das Vorgetragene auch richtig zu verstehen – eine indirekte Ermahnung des Publikums, beim Folgenden sowohl zuzuhören als auch im Sinne des ‚Guten‘ mitzudenken. Nachdem Rezitator und Zuhörerschaft ihre ‚Verhaltensregeln‘ zum Erschaffen des Ereignisses ‚Aufführung‘ mitgeteilt wurden, erläutert der Rezitator, was der dichterische Beitrag zum Gelingen des anstehenden literarischen Vortrags ist (V. 13-18): Chrétien brachte eine bisher nur oral vermittelte Erzählung (conte d’aventure) in eine feste und sinntragende Form (conjointure), die es ihm nun ermöglicht, sein Wissen via Aufführung gebührend weiterzugeben. Es ist bemerkenswert, dass in der Begründung für die Erschaffung einer sinntragenden Struktur (V. 16-18) ein ähnlicher Zweifel zur Sprache kommt wie in Wirnts Prolog, der das Bild der verschlossenen und nun nur zögerlich geöffneten Truhe wählt:66 Auch bei Chrétien klingt an, dass der Dichter erst zu der Erkenntnis kommen musste, sein Wissen nicht zurückhalten zu dürfen bzw. seinen Text der Aufführung und damit der möglichen Verfälschung durch die performative Gemeinschaft preiszugeben. Des Weiteren lässt der Rezitator verlauten, dass Chrétien sich mit dieser neuen Formgebung von einem bestehenden Modus der Vermittlung abgrenzen möchte (V. 19-22): Die für Geld arbeitenden Spielleute (cil qui de conter vivre vuelent) sind ihm als Vermittler der ErecGeschichte nicht recht. Diese Ablehnung geschieht nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern auch weil Chrétien die Möglichkeiten der 65 Siehe Kapitel 2.1. 66 Siehe Kapitel 3.1.

172

Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation

memoria anders verortet als zum Beispiel Heinrich von Veldeke. In Kapitel 2.1 hatte sich gezeigt, dass in dessen Epilog zum Eneas ein gemeinschaftliches uns, d. h. die Kommunikationsgemeinschaft von Rezitator und Publikum, für die Fortschreibung der Eneas-Sage von Vergil bis in die mittelalterliche Gegenwart zuständig war, die memoria also als ein Verdienst der oralen Erzähltradition dargestellt wurde. Bei Chrétien hingegen (V. 21-26) ist es seine formgerechte Verschriftlichung, die sich im Gedächtnis der Christenheit erhalten wird – ihm gilt als Garant der Erinnerung einzig die schriftliche Partitur. Warning bemerkt zu dieser Stelle: „Hinter dem Gegensatz von ‚conte d’aventure‘ und ‚bele conjointure‘ steht also die grundsätzliche pragmatische Differenz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Daß auch der geschriebene höfische Roman Gegenstand des mündlichen Vortrags werden konnte – nicht mußte –, ändert nichts an der fundamentalen Differenz.“67

Aufgrund der medialen Gewichtung der vorliegenden Studie kann Warning nur zum Teil Recht gegeben werden. Es stimmt, dass Chrétien das Spannungsfeld zwischen Schriftlichkeit und Oralität eröffnet, doch genauso positioniert er dabei die Einbindung seines Werks in die höfische Kultur als ein Drittes, weswegen die „fundamentale Differenz“ keine binäre ist: Nach Chrétien soll der Roman weder im Duktus der oralen Erzähltradition ‚auseinander gerissen und verdorben‘ werden, noch soll er allein schriftlich konsumiert werden, was sich an dem postulierten Ideal des ‚a bien dire et a bien aprandre‘ (‚gut zu reden und gut zuzuhören‘) zeigt. Chrétien formuliert seine Ansprüche an die für seinen Roman entscheidende dritte Medialität: die Performativität. Er lässt den Rezitator in seinem Namen verkünden, dass die conjointure des Texts Grundlage der performativen Verwirklichung sein muss, damit der Eingang der Erec-Erzählung in das zeitüberbrückende kulturelle Gedächtnis gelingt. Der Prolog wird so dazu genutzt, die auch schon am Wigalois nachgewiesene Spannung zwischen den Ansprüchen des Dichters und der jeweiligen Verwirklichung durch einen Rezitator von Anfang an ins Bewusstsein des Publikums zu rufen.

67 WARNING, 1983, S. 194.

173

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Hartmanns Übertragung des Chrétien’schen Prologs ist nicht erhalten. Doch auch der erste Artus-Dichter deutscher Sprache nimmt eine Selbstpositionierung in den medialen Bedingungen des höfischen Romans vor. Im textuellen Umfeld der so genannten Zelterepisode im Erec, dem herausragenden „Gedicht im Gedicht“,68 das mit großem Aufwand und mehr als 500 Versen die Beschreibung eines Enite geschenkten Pferdes und dessen Ausstattung vornimmt, melden sich mehr Stimmen als gewöhnlich zu Wort. Die Passage eröffnet so eine mediale Debatte, die als Reaktion auf die bei Chrétien konstatierte mediale Neupositionierung des Artusromans gesehen werden kann. Bei der Zelterepisode handelt es sich um eine Erzähleinheit, die sich kaum um die Fortführung der Handlung bemüht, sondern sich in einer ‚ästhetizistisch‘ anmutenden Selbstreferenzialität ihrer eigenen prunkvollen narrativen (und wie zu zeigen ist: performativen) Techniken erfreut. Als solche nimmt sie eine symbolische Rolle in der Gesamtstruktur des Erec ein, befindet sie sich doch an einer Stelle, an der Erec und Enite in ihrer höfischen Integrität beinahe wieder völlig hergestellt sind69 und nun vor der krönenden Schluss-Aventüre – zusammen mit dem Zuhörer – von den bisherigen Strapazen ausruhen dürfen. Hartmanns Positionierung der ausgiebigen Ekphrasis70 vor der Joie de la curt-Episode ist – quasi als retardierendes Moment – der Dramaturgie der gesamten Lesereihe verpflichtet, während Chrétien, der eine (weitaus kürzere) ekphrasische Ausstattung erst am Ende des Romans anlässlich der Beschreibung von Erecs Krönungsmantel vornimmt,71 dies 68 WORSTBROCK, 1985, S. 20. 69 „Nach überstandener Aventiurefahrt und wiedergewonnener Liebesgemeinschaft begann für Erec und Enite mit dem Aufenthalt auf dem Schloß König Guivreiz’ die Rückkehr ins höfische Dasein. [...] Der geheilte und so zur ritterlichen Bewährung wieder vollbefähigte Erec und die beschenkte schœne vrouwe Enite sind, als sie von Penefrec Abschied nehmen, ein wiederhergestelltes höfisches Paar, sind als Paar am Ziel ihres Weges. Hartmann hat diese Schlüsselstelle des Romans [...] durch die epideiktische Dilatatio seiner Vorlage [gemeint ist die Zelterbeschreibung] erst das ihr mögliche Gewicht gegeben“; WORSTBROCK, 1985, S. 22. 70 Wandhoffs Untersuchung der Szene folgend soll Ekphrasis nach James A. W. Heffernan als „verbal representation of visual representation“ (HEFFERNAN, 1993, S. 3) definiert werden; vgl. WANDHOFF, 2003, S. 1. 71 Bei Chrétien erstreckt sich die der Zelterepisode entsprechende Passage über nur 234 Verse, was nach den von Linke erarbeiteten Durchschnittslängen von Einzelvorträgen (vgl. LINKE, 1968) viel zu wenig ist, um

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Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation

eher inhaltlich, also zur Darstellung des endgültigen Status seines Helden nutzt. Hartmann formt durch Neu-Positionierung und Amplifikation von Chrétiens handlungsgebundener Prachtbeschreibung diese zu einem dramaturgisch motivierten und metafiktional wirkenden72 autonomen Binnenkunstwerk. Als Grenzen der Vortragseinheit ‚Zelterepisode‘ bieten sich die Verse 7046 und 7784 an.73 Der Einsatz des Vortrags lässt sich aus der von Hansjürgen Linke etablierten methodischen Suche nach so genannten ‚Erzähleinsätzen‘ begründen, die er definiert als „Abschnittsgrenzen, die [...] nach einer Erzählpause und unmittelbar zu Beginn der Fortsetzung des Vortrags, etwa einem vergeßlichen Publikum oder auch einem eventuell neu hinzutretenden Zuhörer alle Informationen geben, denen sie zum Verständnis der erneut anhebenden Erzählung bedürfen. Deshalb nennt er vor allem die handelnden Personen oder die handelnde Person, indem er sie mit Namen oder durch eindeutige Umschreibung unmißverständlich bezeichnet, gibt ihre LebensumGrundlage einer eigenständigen Vortragseinheit gewesen zu sein; vgl. EREC ET ENIDE V. 5085-5318. Dass Hartmanns Ekphrasis der Zelterepisode zum Teil Chrétiens Bildkonzept von Erecs Krönungsmantel zu Grunde liegt (vgl. EREC ET ENIDE V. 6359-6879, v. a. 6651-6747), wurde in der Forschung mehrfach betont: „Hartmanns Exkurs zu Enites Pferd entspricht thematisch der Schilderung von Erecs Krönungsmantel durch Chrétien“; HAAGE, 1993, S. 557; vgl. BEZZOLA, 1961, S. 243; TAX, 1963, S. 38; HAUPT, 1989, S. 203; WANDHOFF, 2003, S. 49-54. 72 Walter Haug zeigt an der Zelterepisode, „daß der Dichter die Ebene der epischen Handlung verläßt und im Folgenden mit der Sattelbeschreibung in eine andere Realitätsebene überwechselt“; HAUG, 1977, S. 170. 73 Die obige Zäsursetzung widerspricht früheren Strukturierungen dieser Episode. Der Grund dafür ist, dass bisherige Analysen meist auf Betrachtungen der Episode als Schrifttext beruhen. Worstbrock bspw. begründet seine Segmentierung (V. 7264-7766) wie folgt: „Hartmanns Beschreibung, über deren genauen Umfang die Auffassungen schwanken, sehe ich als Abschnitt durch die zu Anfang und Ende gleichen inhaltlich weisenden Reimwörter Êniten : rîten (7264/65 und 7766/67) markiert“; WORSTBROCK, 1985, S.20. Für eine Analyse, die unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten die performative Realität dieser Episode in ihren Fokus nimmt, ist diese Begründung nicht realistisch: Wie soll ein Zuhörer sich daran erinnern, dass der Rezitator vor mehr als 500 Versen, also vor rund einer halben Stunde (siehe Anm. 81) schon einmal das gleiche Reimpaar benutzt hat? Nur der blätternde Leser kann Worstbrocks Strukturierung erkennen.

175

Stimme im Raum und Bühne im Kopf stände oder die besondere Situation an, aus der heraus sich die neu einsetzende Handlung entwickelt, und faßt wenn nötig das vorausliegende Geschehen kurz wiederholend zusammen.“74

Solch ein Wechsel von einem Erzählausgang zu einem Erzähleinsatz lässt sich anhand der Verse 7031-66 feststellen: Nachdem Giuvreiz und Erec einander erkannt haben und sich ihr Streit in Freundschaft gewandelt hat, reiten sie zum Jagdschloss Penefrec. An dieser Stelle weist eine erneute Nennung der Namen und der Situation der Helden auf die Möglichkeit eines Erzähleinsatzes hin, da mit dieser auffälligen Informationsdoppelung neu einsteigende Zuhörer über das Personal des nun beginnenden Vortrags informiert werden.75 Ebenso wird, um dem Zuhörer den Einstieg in die neue Erzähletappe zu erleichtern, in den Versen 7054-56 ein gemütliches Beisammensitzen der Figuren am wärmenden Feuer für ein in die Fiktion eingebettetes rekapitulierendes Nacherzählen der Geschehnisse genutzt: dô si dâ bî gesâzen

Als sie davor [vor dem Feuer] saßen

und ein teil vergâzen

und ihre Sorge und Mühsal

kumberlîcher arbeit

fast vergessen hatten

und Êrec hâte geseit

und Erec erzählt hatte,

waz kumbers er hete erliten,

was er an Kummer erlitten hatte,

sît daz er was von im geriten,

seit er von ihm [Guivreiz] fortgeritten war,

dô si beide zeiner stunt

nachdem sie beide gleichzeitig

von ein ander wurden wunt

einander verwundet hatten

(daz selbe enhân ich niht verdaget, (das habe ich nicht verschwiegen;

74 LINKE, 1968, S. 26. Mittels dieser Erzähleinsätze bestimmt Linke anhand Hartmanns Werken die „Optimalgröße einer idealen Erzähleinheit“ (ebd., S. 79), die vom Dichter im Wissen um die durchschnittliche Leistungsfähigkeit eines Rezitators und die Aufmerksamkeitsspanne seines Publikums eingehalten wurde. Laut Linke hatten die Teillesungen eines Romans relativ regelmäßige Längen von ungefähr 45 Minuten. Die extreme Bemühung um eine Nachkonstruktion dieser gleichförmigen Taktung führt bei Linke oft zur Etablierung von Vortragsgrenzen, die aus performativer Sicht nicht nachvollziehbar sind und eher der statistischen Untermauerung seiner Hypothese dienen. Zur Setzung von Vortragsumbrüchen zwecks eines performativen Verfremdungseffekts siehe Kapitel 4.3. 75 Vgl. EREC, V. 7033 und V. 7037.

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Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation ich enhabe ius gesaget

ich habe es euch erzählt

sô vil als ichs weste)

so gut ich es wusste),

dise lieben geste

da beklagten sie [die Anwesenden]

begunden si vil verre klagen.

diese lieben Gäste sehr.

(EREC, V. 7046-58)

Mit dieser fiktiven Situation beginnt der neue Vortrag und der Rezitator weist explizit auf seine bisherige Leistung hin (V. 7055-57). Die fiktive und die Aufführungssituation werden beim Einstieg in den neuen Vortragsabschnitt zur Deckung gebracht: Hier wie dort wird erzählt.76 Als Ende der Vortragseinheit bietet sich der Vers 7787 an, da nach der erfolgten Verabschiedung der Helden vom gastlichen Hof die Namen der Figuren77 samt ihrem Reiseziel78 erneut (respektive: erneuernd) genannt werden und Guivreiz’ anschließende Erzählung79 der nun beginnenden Joie de la curt-Aventüre als Exposition dient. Außerdem weist die doppelte Informationsvergabe, dass die Figuren nun aufbrechen, auf eine Zäsur hin.80 Die so separierte Episode umfasst rund 740 Verse und hat damit eine Vortragsdauer von etwa 45 Minuten, was der von Linke ermittelten ‚Optimalgröße‘ einer Vortragseinheit bei Hartmann entspricht.81 76 Dieser Überschneidung von fiktiver Situation und performativer Realität, wie sie sich im Erzähleinsatz und in der Funktion der gesamten Episode (Entspannung für Protagonist und Zuhörer) zeigt, wird sich das 4. Kapitel dieser Arbeit unter dem Leitbegriff der ‚Verschaltung‘ noch genauer widmen. 77 Vgl. EREC, V. 7789f. 78 Vgl. ebd., V. 7798-7803. 79 Vgl. ebd., V. 7894-8046. 80 Vgl. ebd., V. 7767 und V. 7788. 81 Vgl. LINKE, 1968, S. 25f. und S. 160 (Tabelle 37). Linke setzt eine Lesegeschwindigkeit von ca. sechs Minuten pro 100 Verse voraus. Wolfgang Mohr wiederum schildert einen Selbstversuch zur Ermittlung der Vortragszeit wie folgt: „[I]ch [habe] einmal in Kiel den Versuch gemacht [...], den Studenten den ganzen Parzival vorzulesen, um, soweit das möglich ist, auszuprobieren, wie sich ein solches Werk gibt, wenn man es vor Zuhörern zu [sic] ‚Aufführung‘ bringt. Es zeigte sich, daß ein Abend wöchentlich während des Wintersemesters nicht dafür ausreichte. Die durchschnittliche ‚Aufführungsdauer‘ eines der sechzehn Lachmannschen Bücher beträgt eine bis anderthalb Stunden, das neunte Buch verlangt etwa zweieinhalb Stunden; MOHR, 1968, S. 523. Mohr kommt also eher auf eine Lesezeit von sieben Minuten pro 100 Verse. Die vorliegende Arbeit tendiert eher zu

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Besonders auffällig an dieser Vortragseinheit ist, dass viel häufiger als im restlichen Roman und mit einer größeren Variation der Mittel die direkte Kommunikation zwischen Rezitator und Zuhörerschaft bedient wird.82 Rund 98 Verse sind Teil der performativen Kommunikation, während bei Chrétien in der entsprechenden Handlungspassage nur drei Publikumsansprachen83 in 234 Versen zu finden sind. Dafür bedient Chrétiens Beschreibung von Erecs Krönung am Artushof mit rund 55 von 521 Versen84 häufiger die direkte Kommunikation zwischen Rezitator und Publikum. 85 Hartmann war somit allem Anschein nach darauf bedacht, die Zelterepisode nach dem Vorbild von Chrétiens Krönungsdescriptio so performativ, d. h. auf die Kommunikation zwischen Rezitator und Publikum hin, zu gestalten, dass sie sowohl die anderen Episoden seines Romans als auch seine Vorlage in dieser Hinsicht übertrifft. Dabei vermittelt Hartmann stets, vor allem über selbstironische Bemerkungen zum Umfang der Zelterepisode,86 den Eindruck, es mit

82

83 84 85

86

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Linkes Schätzung. Der Grund für diesen Vorzug ist der Gedanke, dass es sich selbst bei dem erfahrensten Mediävisten nicht um einen ‚Muttersprachler‘ des Mittelhochdeutschen handelt, was die Geschwindigkeit von Mohrs Darbietung gehemmt haben muss. Linkes Lesezeit beschreibt aber wiederum auch nur den hypothetischen ‚Idealzustand‘ einer ungestörten Lesung. Wenn man auf die wirkliche Vortragsdauer schließen wollte (und für die mittelalterlichen Höfe nicht vom gesittet-passiven Publikum der bürgerlich geprägten Theater ausgeht), müsste man auch Zwischenrufe, Nachfragen oder Störungen mit einbeziehen, die die Vortragsdauer erheblich verlängern würden. „Die Inszenierung einer mündlichen Erzählsituation findet bei Hartmann ihren Höhepunkt in dem großen Pferde-Exkurs am Ende der zweiten Guivreiz-âventiure“; BUMKE, 2006, S. 127; vgl. WORSTBROCK, 1985, S. 25. Vgl. EREC ET ENIDE, V. 5288, 5282 und 5304. Vgl. EREC ET ENIDE, V. 6392, 6420-29, 6510, 6581-84, 6596, 6616f., 664050, 6658-61, 6674-81, 6742, 6809, 6814, 6830-32, 6861-64, 6876-79. Prozentual sind bei Hartmann 13,23% der gesamten Passage Teil der Kommunikation zwischen Rezitator und Publikum, während diese in der entsprechenden Handlungspassage bei Chrétien nur 1,28%, in der Beschreibung von Erecs Krönung 10,55% ausmacht. Diese Zahlen machen die Verwandtschaft von Zelterepisode und Krönungsszene auch bezüglich ihres performativen Potenzials deutlich. Auch Worstbrock stellt diese Ironie fest: „Hartmann reflektiert sie [die Dilatatio] und zeigt dies, indem er [...] seinen Zuhörer mit freundlicher

Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation

einem literarisch-performativen Spiel zu tun zu haben. Obwohl jeder Rezipient ob des Detailreichtums der descriptio erstaunt sein muss und seine Geduld durch ihren Umfang einem Test unterzogen wird, gebärdet sich der Rezitator, als sei er an einer kurzen Abhandlung des Themas interessiert: (1) dâ von enwirt iu niht mê gezalt, daz ich die rede iht lenge. (2) wan daz ez niht rehte enkæme

Davon erzähle ich euch nicht mehr, damit ich den Vortrag nicht in die Länge ziehe. Wenn es nicht übertrieben

und ein teil missezæme

und teils auch unpassend wäre,

von einem pherde alsô vil

so viel von einem Pferd zu sprechen

ze sprechen (des ichz lâzen wil),

(sodass ich es unterlassen will),

sô möhte ich wunder von im sagen:

so könnte ich wer weiß was von ihm erzählen.

sus wil ich lobes mê gedagen.

So will ich vom weiteren Lob schweigen.

(3) ob iuchs niht verdriuzet

Wenn es euch nicht verdrießt,

sô wil ich iu ir ein teil sagen

will ich euch einen Teil davon erzählen,

und doch michels mê verdagen.

aber dennoch viel mehr verschweigen.

(4) daz wære ze sagenne ze lanc.

Das zu erzählen wäre zu lang.

(5) nûst zît daz si rîten.

Nun wird es Zeit, dass sie losreiten.

(EREC, V. 7429f., 7450-55, 7591-93, 7573, 7767)

Der aus der ironischen Distanzhaltung entstehende Spielcharakter der Episode bietet die Grundlage für einen experimentellen Umgang mit den medialen Bedingungen des Vortrags, lässt diese gewissermaßen zu einem tragenden Subtext der Passage werden. So findet man, noch bevor es überhaupt zu der Beschreibung des Zelters kommt, also in der Passage, welche die Übernachtung auf einer Wiese, den Ritt zum Jagdschloss Penefrec, dessen Architektur und Erecs Heilung beschreibt, schon fünf (nicht zusammenhängende) Phrasen allgemeiner Kommunikation: (1) rechte als ich iu sagen sol

so wie ich es euch schildern will

(2) dâ von uns ie wart gesaget

wovon uns jemals erzählt wurde

(3) als ich iu ze sagen weiz

wie ich euch zu erzählen weiß

Ironie Eile und Bestreben zur Kürze zu beteuern beginnt“; WORSTBROCK, 1985, S. 25.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf (4) als ir ê hortet sagen

wie ihr vorher gehört habt

(5) dâ von ich ê gesaget hân

von dem ich schon früher erzählt habe

(EREC, V. 7123, 7131, 7139, 7179, 7226)

Diese Phrasen dienen der Erinnerung an schon vorher vom Rezitator Vorgetragenes (1, 4 und 5), einem unspezifizierten intertextuellen Vergleich (2) und der allgemeinen Versicherung narrativer Kompetenz (3); vor allem aber dienen alle Verse einer konstanten Intakthaltung der unmittelbaren face-to-face-Kommunikation. Das gleiche Ziel verfolgen auch die Fragen an das Publikum: (1) wer solde im aber daz enblanden swenne er möhte mit den vrouwen

Wer aber sollte ihn [Erec] dafür tadeln, wenn er mit den Damen

abe dem hûse schouwen

von der Burg herabschauen könnte,

loufen die hunde?

um dem Laufen der Hunde zuzusehen?

(2) wer sol nû sîn arzât sîn, der heile sîne wunden?

Wer soll nun sein [Erecs] Arzt sein, der seine Wunden heilt?

(EREC V. 7163-66, 7207f.)

Diese Verse als rhetorische, d. h. durch sich selbst oder aber durch die folgenden Verse beantwortete Fragen abzutun, würde bedeuten, sie als rein textuelle Phänomene zu betrachten. Eine Frage aber, die ein Rezitator an sein Publikum stellt, kann – und sei es nur für einen kurzen Moment des Innehaltens im Vortrag – durchaus eine die Zuhörerschaft animierende oder irritierende Funktion haben. So wird bspw. bei der ersten Frage das Publikum zu einer moralischen Wertung der Handlung aufgerufen. Ebenso wie ein Rezitator Fragen an das Publikum richten kann,87 bietet der Text die Möglichkeit, imaginierte, vorweggenommene 87 Die Verwendung der Frage als inszenatorisches Mittel hat eine Vielzahl von Funktionen, deren man sich erst bewusst wird, wenn man sie nicht als rhetorisch-textuell, sondern als Teil der performativen Spannungserzeugung begreift. Wenn bspw. im Partonopier des Konrad von Würzburg der Protagonist in einer menschenleeren Stadt ein Schlafgemach bezieht, er plötzlich – allein in der Finsternis – sich nähernde Schritte hört, die ihn in einen Zustand panischer Angst versetzen; wenn in dieser Situation der Rezitator mit der Frage endet „waz solt er anders hân gedâht, / wan daz der tiuvel wære komen / und in dâ wolte hân genomen?“ (PARTONOPIER, V. 1240-42; ‚Was hätte er anderes denken sollen, / als dass der Teufel gekommen wäre, / um ihn von dort wegzuholen?‘), so überträgt sich mittels

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Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation

Fragen des Publikums mit in die Aufführung einzubinden. Im Text kann dies entweder indirekt als Rückfrage („vraget ir waz dar umbe sî?“)88 oder als dialogisches Rollenspiel konzipiert sein. Ein Rezitator kann dieses textuelle Konzept verwirklichen, indem er die Frage stellvertretend für sein Publikum formuliert und entsprechend auf sie reagiert. Eine andere Möglichkeit wäre, dass der Rezitator im Publikum einen eingeweihten Mitspieler hatte, der auf ein Zeichen hin die entsprechende Frage stellte: ‚nû sage waz wære ir bettewât?‘

‚Nun erzähle, was war ihr Bettzeug?‘

entriuwen, als ez der walt hât,

Wahrlich, was der Wald bietet:

schœnez loup und reinez gras,

schönes Laub und frisches Gras,

sôz in dem walde beste was.

das Beste, was der Wald zu bieten hatte.

waz touc daz lange vrâgen,

Was bringt dieses langwierige Fragen,

wan daz si doch lâgen?

wenn sie doch schliefen?

(EREC, V. 7106-11)

Geht man davon aus, dass ein (fingierter oder instruierter) Zuhörer den Rezitator etwas fragt,89 so erweckt der inszenierte Dialog den Eindruck, als ob das Publikum mit seinen Forderungen unmittelbar auf den Umfang und die Genauigkeit der Beschreibung einwirken könne; der Sprecher gibt vor, diesem Drang nach übertriebener Genauigkeit mit einer

der Frage die Unsicherheit des Protagonisten auf den Zuhörer. Es handelt sich um eine performative Technik, die eine illusionistische emotionale Teilhabe am Geschehen bewirkt. Ein Leser hat schnell erfahren, dass es sich bei dem nächtlichen Besucher nicht um den Teufel, sondern um die byzantinische Kaisertochter Meliur handelt, doch „[d]ies weiß der Hörer bis zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig wie Partonopier“ (GEROK-REITER, 2007 [Die Angst des Helden], S. 142; vgl. SCHULZ, 2000, S. 53), weswegen der Zuhörer in einer fiktionsübergreifenden Verbindung die Angst der Figur am eigenen Leib erfahren kann. 88 EREC, V. 7145 (‚Fragt ihr, wie es darum bestellt sei?‘). 89 Anhand der im Folgenden behandelten Wechselrede – die nicht, wie so oft behauptet, zwingend ein Gespräch zwischen dem Dichter (oder Erzähler) und seinem Publikum sein muss – wird sich zeigen, dass diese Frage auch eine Apostrophe des Rezitators an den Dichter sein könnte. In diesem Falle würde nicht die Einflussnahme des Publikums auf die descriptio thematisiert, sondern die kreative Beteiligung des Rezitators an der Beschreibung.

181

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Gegenfrage entgegensteuern zu müssen.90 Ein solcher Einbezug des Zuhörers in die Beschreibung der fiktiven Welt ist in der Zelterepisode mehr als nur ein beiläufiges rhetorisches Mittel: Er wird zum wichtigsten performativen Merkmal der Passage ausgebaut. So spricht der Rezitator bei der – im epischen Präteritum gehaltenen – Beschreibung der unterhaltsamen und vielseitigen Jagdmöglichkeiten, denen die Figuren auf Burg Penefrec nachkommen, seinen Zuhörer unvermittelt wie folgt an: nû jage selbe swaz dû wilt.

Nun jage selber, was du willst.

hie sint hunde unde wilt

Hier sind Hunde und Wild

und swaz ze jagenne ist nütze,

und alles, was man zum Jagen braucht,

netze und guot geschütze,

Netze und gute Schusswaffen

und swes vürbaz gert dîn muot. und alles Weitere, was dein Herz begehrt. hie was diu kurzwîle guot.

Hier war die Zeit gut zu vertreiben.

(EREC, V. 7182-86)

Dem Zuhörer wird die Jagd nicht nur beschrieben, sein Körperschema soll vor seinem inneren Auge zum aktiven Teilnehmer derselben werden. Der Begriff kurzwîle, der in dieser Passage den Zeitvertreib des Jagens meint, ist dabei auch programmatisch zu verstehen: kurzwîle wird in den meisten Prologen und poetologischen Passagen (als – mit Einschränkungen –91 Entsprechung zu lat. delectare) zu einem der Hauptziele des Erzählens erklärt. Über diesen programmatischen Begriff, den ‚Zeitsprung‘ aus der epischen Vergangenheit in die Gegenwart der Aufführung und die konkrete Aufforderung zum Mitjagen wird das Jagdvergnügen auf Burg Penefrec der Imagination dieses Vergnügens in der Aufführung gleichgesetzt. Der Vorgang der Rezeption wird so mit einem die Teilhabe am Geschilderten implizierenden Bewe-

90 An dieser Stelle unterdrückt der mhd. Text auch in Wirklichkeit eine längere Beschreibung: Chrétien betreibt bei der Beschreibung von Erec und Enites erster gemeinsamer Bettstatt mehr Aufwand als Hartmann (vgl. EREC ET ENIDE, V. 5080-5103). Das Frage-Antwort-Spiel um diese marginale Kürzung der Originalverse ist den selbstironischen Zügen der Passage zuzurechnen, wenn man bedenkt, dass der Text in Folge zu der detailreichsten, manieriertesten und umfangreichsten descriptio des Romans anheben wird. 91 Siehe Anm. 95.

182

Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation

gungsvollzug verglichen: Es handelt sich um eine Verbildlichung der kinästhetischen Wahrnehmung. Diese Auslegung der Jagdsymbolik in der Zelterepisode erklärt auch, warum Hartmann die Thematik neu hinzufügt.92 Der Text betont ganz deutlich das Artifizielle des Jagdschlosses: Penefrec liegt in der Mitte eines fischreichen Sees, umgeben und durchzogen von einer mehr als 18 Kilometer langen Mauer,93 die das Gefilde in drei Sektoren für Schwarzwild, Kleinwild und Rotwild entsprechend der jeweiligen Jagddisziplinen unterteilt. Das Vergnügen (kurzwîle) der Jagdgesellschaft basiert also auf einer strengen Struktur. In Hinblick darauf lässt sich abermals eine Analogie von fiktivem Jagdvergnügen und realem ästhetischen Genuss herstellen: Die strukturabhängige kurzwîle Penefrecs entspricht dem Vergnügen, welches der Zuhörer anhand der streng nach dem Doppelwegschema (bzw. der conjointure)94 strukturierten Vortragssreihe erfährt.95 Laut Hartmann ist die sinntragende Struktur bei der Jagd wie im Roman(vortrag) Bedingung für das Gelingen – eine Aussage, welche die Szene in einen engen programmatischen Bezug zu Chrétiens Prolog setzt.96 In der Beschreibung des Zelters werden die performativen Mittel des einleitenden Teils weitergeführt und gesteigert. Dies geschieht mittels drei performativer Strategien. Erstens werden von Beginn an die Zuhörer mithilfe von inszenierten Fragen als kreativer Faktor des Beschreibungsvorgangs miteinbezogen:

92 „[D]ie lange Beschreibung mit dem Akzent auf den Jagdeinrichtungen ist Hartmanns Zutat. [...] Dieser lange Exkurs über Penefrec ist umso bemerkenswerter, als er keinerlei Beziehung zur Handlung hat. Jagdmotive begegnen zwar im Erec [Chrétiens] an mehreren Stellen, aber bei Erecs und Enites Aufenthalt dort ist von Jagd keine Rede. Welche Funktion der Exkurs in Hartmanns Dichtung hat und woher die Anregungen dazu kamen, ist weiterhin unklar“; BUMKE; 2006, S. 56f. 93 Vgl. KNOLL, 1966, S. 80. 94 Vgl. EREC ET ENIDE, V. 14; siehe Kapitel 2.1. 95 An dieser Entsprechung wird auch deutlich, dass kurzwîle eben nur teilweise der Programmatik von lat. delectare entspricht, da die Abhängigkeit von der strengen Form den Begriff eher in Richtung des lat. prodesse verweist. 96 Die Verbindung der Penefrec-Passage mit dem Anfang des Romans lässt sich auch über die Jagdsymbolik begründen, beginnen doch Chrétien und Hartmann die Handlung mit der Jagd des Artushofs auf den weißen Hirsch.

183

Stimme im Raum und Bühne im Kopf (1) ouwê vrouwen Ênîten!

O weh, Herrin Enite!

waz sol doch si nû rîten,

Worauf soll sie nun reiten,

diu schœne guote wol geborn?

die Schöne, Brave, hoch Geborene?

(2) vrâget iemen mære

Fragt jemand danach, ob es [das Pferd]

ob ez schœner wære

schöner gewesen wäre, als das,

dan daz si unz her geriten hât? welches sie bis hierher geritten hatte? (3) vrâget ir waz daz sî?

Fragt ihr, was das sei?

(4) hânt si danne urloup genomen

Haben sie Abschied genommen

von dem ingesinde?

von den Bewohnern?

(EREC V. 7264-66, 7286-89, 7643, 7769f.)

Zweitens halten allgemeine kommunikative Phrasen die performative Bindung von Rezitator und Zuhörer intakt: (1) als ich iu wil sagen (2) sît ich nû gesaget hân

wie ich euch schildern will Da ich euch nun gesagt habe,

wie daz phert wære getân,

wie das Pferd beschaffen war,

wiez anders wære gestalt

soll euch auch erzählt werden,

daz sol iu werden gezalt.

wie es des Weiteren aussah.

(3) sît ichz loben muoz

da ich es notwendigerweise loben muss

(4) ich sage iu

Ich sage [erzähle] euch

(5) unde sage iu rehte wie

und sage euch recht, auf welche Weise

(6) daz ich iu sagen wil

Das will ich euch erzählen

(EREC, V. 7277, 7336-39, 7360, 7394, 7440, 7665)

Drittens bringt der Sprecher immer wieder sich selbst in die Beschreibung mit ein, um mit seiner körperlichen Präsenz als Wahrheitsgarant der Fiktion einzustehen: (1) daz ist wâr

das ist wahr

(2) zewâre sage ich iu daz

wahrheitsgemäß erzähle ich euch das

(3) ir sult mir des wol gunnen

Ihr sollt mir wohl zugestehen,

daz ich iu sage die wârheit. (4) harte guot was daz panel,

dass ich euch die Wahrheit erzähle. Das Sattelkissen war sehr gut,

niht eines kalbes vel,

nicht aus Kalbsfell, [wie die,] von

der ich doch manegez hân gesehen.

denen ich schon viele gesehen habe.

(EREC, V. 7326, 7447, 7667f., 7694-96)

184

Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation

Die Grenze zwischen der Aufführung und der in ihr vermittelten Fiktion wird über diese drei Spielarten performativer Kommunikation stets fließend gehalten und die Instanz des Rezitators als treibende Kraft der Beschreibung in Szene gesetzt. Nachdem der Glanz der weißen Seite des Pferdes beschrieben wurde und die Beschreibung sich nun der schwarzen Seite des Tieres zuwendet, lautet der Text: alzan genzlîchen wîz

So gänzlich weiß

sô disiu schilthalben was

diese Schildseite war, von der

von der ich iu nû dâ las,

ich euch daraus eben vorgelesen habe,

alse swarz was disiu hie

so schwarz war diese hier,

dâ diu wîze abe gie.

wo ihm das Weiße fehlte.

(EREC, V. 7303-07)

Da die Aktualität der Schilderung durch eine präsentische Zeitangabe (nû) und die konkrete Situierung in einem (gleichzeitig realen wie fiktionalen)97 Raum durch die entsprechende Deixis festgelegt wird, kann lesen nur den performativen Vorgang bezeichnen;98 schließlich befindet sich der Dichter mit dem Zuhörer weder im selben Raum noch in der selben Zeit und der von Hartmann geleistete Übersetzungsvorgang, der das lesen auf die Lektüre des Chrétien’schen Originals beziehen könnte, kann dem Rezipienten nicht als gegenwärtig gelten. Auch sind an dieser 97 dâ meint die Textvorlage des Rezitators, also ein Element des realen Raums. Man kann sich den Vers mit einer entsprechenden Geste auf das Buch vorstellen. Das hie im folgenden Vers meint die Kehrseite des Pferdes. Grammatikalisch wird also ein deiktischer Kontrast hergestellt, der den realen und den fiktiven Raum transzendiert. Näheres zu dieser Technik der ‚Raumverschaltung‘ im 4. Kapitel. 98 Green bemerkt zu dieser Stelle, dass Hartmann „no longer refers to his source, but is adressing his audience (iu), drawing their attention to what he recently has told them (nû dâ) [...]. Lesen in this passage refers to the relationship of the author/reciter to his audience, so that we may agree with Cramer’s translation“; GREEN, 1994, S. 189. Auch wenn Thomas Cramer in seiner Übersetzung des Erec ansonsten performative Phrasen nicht als solche übersetzt und sie im Neuhochdeutschen auf die narrative Stimme des Dichters reduziert, betont er an dieser Stelle den performativen Gehalt des Einschubs. Er überträgt den Vers mit „von der ich euch eben vorgelesen habe“ und stellt so die Kommunikation zwischen einem Rezitator und seinem Publikum dar, auch wenn er die spezifische Deixis der Verse übersieht.

185

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Stelle (noch) keine Indizien für ein Rollensprechen zu finden, die auf ein ‚erzählerisches‘ Reden als Autorfigur hinweisen würden. Der Rezitator wird folglich als selbstständig Handelnder in Szene gesetzt, der für die Führung des imaginativen Blicks des Zuhörers bzw. die ‚virtuelle Bewegung entlang der fiktiven Dinge‘ (Palagyi)99 verantwortlich ist. Doch in der Zelterepisode betrifft die Darstellung fiktionsvermittelnder Autorität nicht nur den Rezitator. Die Verse 7493-7525 beschreiben einen Dialog, in dem bisherige Interpretationen meist ein Gespräch zwischen dem Hartmann’schen Erzähler und seinem Publikum sahen: „Ein Grundzug der gesamten Beschreibung ist das beständige Agieren des Autors mit dem Publikum, und den immer wieder eingeschalteten Anreden, Appellen, Fragen, fiktiven Wechselreden verdankt das lange Stück seine nie absinkende ‚Munterkeit‘ [...]. Es ist eine besondere Rolle des Publikums in dieser Beschreibung, daß es in das Spiel mit der Fiktion einbezogen wird, konkret so: Als es an die Schilderung des Sattelkunstwerks geht [...] läßt er [Hartmann] jemanden aus dem Publikum sich melden, der es mit der Beschreibung des Sattels versuchen möchte. Der Versuch wird in lebhafter Wechselrede gemacht [...].“100

Worstbrock erkennt das performative Potenzial der Zelterepisode, genauso wie er die besondere Rolle, die dem Publikum im Vorgang der descriptio zugedacht ist, konstatiert. Allerdings setzt er den Rezitator mit der Autorfigur, vielmehr sogar noch mit dem Dichter gleich. Worstbrocks Idee von einem eingeweihten Zuhörer, der zuvor die Verse auswendig gelernt hat und in der Aufführung mit dem Rezitator in einen fingierten Dialog tritt, ist wegen ihres verspielten Charakters durchaus reizvoll. Bei einem textgebundenen Vortrag ist es jedoch wahrscheinlicher, dass ein Rezitator für mehrere Rollen (Romanfiguren/Autorfigur) und sich selbst spricht. Bei solch einem Rollenspiel wäre es gar nicht so eindeutig – wie es beispielsweise Bumke darstellt –,101 dass es sich bei den Einwürfen um

99 Siehe Kapitel 2.2.1. 100 WORSTBROCK, 1985, S. 25f. 101 „Bei der Beschreibung des Zaumzeugs gesteht der Erzähler, daß die Grenzen seiner Fähigkeit erreicht seien [...]. Diese Bekenntnis seiner Unfähig-

186

Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation

die eines Zuhörers handelt. Imaginiert man die Aufführungssituation unter der Prämisse des inszenierten ‚Selbstgesprächs‘ in zwei Rollen, ergibt sich eine ganz andere Wechselrede: die zwischen dem im Text als Rolle der Autorfigur angelegten Dichter Hartmann (H) und dem aus dieser Rolle heraustretenden und (aus der Sicht des Zuhörers) eigenständig agierenden Rezitator (R):102 (H:) daz ich iu rehte seite

‚Wollte ich euch genau

von diseme gereite,

von diesem Zaumzeug erzählen,

wie daz erziuget wære,

wie es hergestellt worden war,

daz würde ze swære

das würde einem so einfältigen Knecht

einem alsô tumben knehte:

zu schwer fallen.

und ob ichz aber rehte

Aber selbst wenn ich es euch

iu nû gesagen kunde,

richtig schildern könnte,

sô wærez mit einem munde

so wäre das allzu lang, um es

iu ze sagenne al ze lanc. [...] (R:) nû swîc, lieber Hartman: ob ich ez errâte? (H:) ich tuon: nû sprechet drâte.

euch mit einem Mund zu erzählen.‘ [...] ‚Nun schweig, lieber Hartmann, ob ich es ratend treffe.‘ ‚Das tu ich. Nun sprechet schnell.‘

(EREC, V. 7476-95)

Die Anfangsverse der Wechselrede werden von Rezipienten erst noch als die Äußerungen des Rezitators verstanden worden sein; erst die Aufforderung an Hartmann, nun zu schweigen, deutet im Moment des

keit benutzt ein naseweiser Zuhörer dazu, den Erzähler zum Schweigen zu bringen“; BUMKE, 2006, S. 127. 102 Eine ähnliche Rollenverteilung ließe sich auch an dem inszenierten Dialog in Chrétiens Chevalier de la Charrette nachweisen (vgl. LANCELOT, V. 6828-45), wobei die Übereinstimmungen nicht deutlich genug sind, um eine Vorlage Hartmanns zu vermuten. Es ist eher davon auszugehen, dass Hartmann den fingierten Dialog im Erec als eigenwilliges ‚Markenzeichen‘ seiner Erzählhaltung einsetzt, als Zeichen seiner (und des Rezitators) Offenheit dem Publikum gegenüber. So findet sich die Technik und die ihr verwandte Verwendung von Fragen an das Publikum im Verlauf des Romans mit steigender Häufigkeit (vgl. u. a. EREC, V. 6901f., 7106-11, 894653, 9169-71). Im Iwein findet sich eine Fortführung der Technik (vgl. IWEIN, V. 7015-43; s. o.) und eine Abwandlung in Form des Dialogs zwischen der Autorfigur und vrou Minne (vgl. ebd., V. 2971-3028).

187

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Abstreifens der persona ‚Hartmann‘ die Verse zu einem Rollensprechen als Autorfigur um. Was die Lesart bekräftigt, anstelle eines Zuhörers den Rezitator als Hartmanns Gesprächspartner anzunehmen, ist eine Variante dieses Dialogeinstiegs aus dem Iwein. Dort wird die Beschreibung eines Kampfes zwischen den eigentlich besten Freunden Iwein und Gawein unterbrochen, nachdem der Erzähler behauptet hat, dort wären sowohl Feindschaft wie auch Freundschaft am Werk. Der Beginn des Dialogs lautet wie folgt:103 (R:) Ez dunket die andern unde mich

‚Mir und den anderen erscheint es

vil lîhte unmügelich

ziemlich unmöglich,

daz iemer minne unde haz

dass jemals Minne und Hass

alsô besitzen ein vaz

solcherart ein Gefäß besetzen,

daz minne bî hazze

dass die Minne bei dem Hass

belîbe in einem vazze. [...]

in dem Gefäß bliebe. [...]

Ich wæne, vriunt Hartman,

Ich glaube, Freund Hartmann,

dû missedenkest dar an.

dass du dich hierin irrst.

war umbe sprichestû daz

Warum erzählst du,

daz beide minne unde haz

dass Minne und Hass

ensament bûwen ein vaz? [...]

zusammen in einem Gefäß hausen?‘ [...]

(H:) Nû wil ich iu bescheiden daz,

‚Nun will ich euch erklären,

wie herzeminne und bitter haz

wie Herzensminne und erbitterter Hass

ein vil engez vaz besaz.

dazu kamen, in einem engen Gefäß zu wohnen.‘

(IWEIN, V. 7015-43)

Ein nicht näher bezeichnetes Ich wendet sich im Namen der andern an den Dichter Hartmann: ein geradezu idealer Einstieg für den Rezitator, um als Vertreter der performativen Gemeinschaft dem – in Derridas 103 Die Interpunktion der Hartmann’schen Verse durch Benecke/Lachmann/ Wolff sah vor, dass sich erst mit Ich wæne, vriunt Hartmann ein neuer Sprecher in die Beschreibung der Passage einschaltet. Wenn man aber der Argumentation der Verse folgt, erkennt man, dass die Unterbrechung der Beschreibung durch diese Sprecherinstanz schon mit Ez dunket die anderen unde mich einsetzen muss, da in den Versen 7015-25 behauptet wird, Freundschaft und Feindschaft könnten nicht zusammen existieren, worauf auch die Frage an vriunt Hartman abzielt. Nur mit der oben präsentierten Rollenzuschreibung lässt sich der Text ohne argumentative Brüche lesen.

188

Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation

Denkweise – ‚theologischen‘,104 d. h. dem aus der Ferne lenkenden Dichter entgegenzutreten. Bleibt beim Erec noch ein Rest Unsicherheit bestehen, ob der Sprecher ein Vertreter des Publikums oder der Rezitator ist, so kann man an diesem parallel konstruierten Dialog besser erkennen, wie der Rezitator sich mit dem Publikum zusammentut (die andern unde mich), um in einer Dichterapostrophe (vriunt Hartman) und anschließender Rollenrede als Autorfigur eine inhaltliche Streitfrage zu diskutieren. Mit dieser Rollenzuschreibung erscheint die Wechselrede der Zelterepisode geradezu wie ein Streit der Medien: Hartmann behauptet, dass, wenn er das Sattelzeug ausgiebig schilderte, dies einem alsô tumben kneht (gemeint ist der Rezitator) zu schwer fallen würde. Doch selbst wenn der Vorleser nicht so tumb wäre, so würde die Schilderung schon daran scheitern, dass ein Mund nicht ausreiche, um alle nötigen Verse zu artikulieren. Die letzten Zweifel an der Identifikation des tumben knehts mit dem Rezitator lassen sich schließlich über eine frühere Stelle im Erec ausräumen: vil gerne ich si [Ênîte] wolde

Sehr gerne würde ich sie [Enite]

loben als ich solde:

loben, wie es meine Pflicht wäre:

nû enbin ich niht so wîser man,

Doch bin ich kein so kluger Mann,

mir engebreste dar an.

dass ich daran nicht scheitern würde.

solh sin ist mir unkunt.

Solche Kunst ist mir unbekannt.

ouch hât sich manec wîser munt

Auch hat manch kluger Mund

in wîbes lobe gevlizzen,

sich schon im Frauenlob versucht,

daz ich niht enmöhte wizzen

sodass ich nicht wissen könnte,

welhen lop ich ir vunde,

welches Lob ich für sie finden sollte,

ez ensî vor dirre stunde

das vor dieser Stunde nicht schon besser

baz gesprochen wîben.

über Frauen gesprochen worden wäre.

si muoz von mir belîben

Sie muss von mir, nach dem ihr

ungelobet nâch ir rehte,

zustehenden Maß, ungelobt bleiben,

wan des gebrist mir tumben knehte.

weil ich einfältiger Knecht es nicht vermag.

(EREC, V. 1590-1603)

104 Siehe Kapitel 2.3.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Bisherige Interpretationen der Passage speisten sich vor allem aus dem Verb (mhd.) vinden (V. 1597). Thomas Cramer bspw. übersetzt es als ‚erfinden‘ bzw. ‚dichten‘.105 Er sieht in der Passage somit eine Aussage der Autorfigur ‚Hartmann‘. Die Bestandsaufname älterer Lobgesänge (vor dirre stunde) wurde ebenso immer auf den Zeitpunkt des Abfassens des Texts durch Hartmann bezogen. Was diese Lesart jedoch ausklammert, ist der starke Performativitätsbezug der Passage: Das Ich redet von Lobpreisungen, die andere Münder (manec munt) vor ihm sprachen (gesprochen). Führt man sich also den ‚Sitz im Leben‘ dieser Passage vor Augen, so muss alternativ mit einbezogen werden, dass es sich um eine Aussage handeln könnte, die mit dirre stunde den jeweils aktuellen Aufführungszeitpunkt meint. Mit diesem Bezug auf eine stets neu zu aktualisierende Jetzt-Zeit wäre vinden auch nicht nur in einer Nebenbedeutung (als Ausdruck dichterischer Tätigkeit) bedeutungstragend, sondern auch in der neutralen Übersetzung mit (nhd.) ‚finden‘. Die Phrase würde dann in der Aufführungssituation ein (fingiertes) Suchen nach Worten durch den jeweiligen Rezitator meinen. Während sich der Rezitator in diesen Versen selbst im Bescheidenheitsgestus das Attribut des tumben knecht zuspricht (bzw. zusprechen muss), lässt er es sich in der Dialogpassage mit Hartmann keineswegs gefallen und heißt den Dichter zu schweigen. Er wolle nun mit Rat und Tat die Schilderung des Zaumzeugs selbst angehen. Was der Text mit dieser fingierten ‚Rebellion‘ des Rezitators erschafft, ist ein medialer Sturm im Wasserglas: Natürlich kann ein Rezitator mit dem Text stets verfahren, wie er will, und in seinem eigenen Namen kommentieren; hier jedoch muss er es unter der Leitung der Hartmann’schen Verse tun, was dem Dichter die Möglichkeit gibt, über die Füllung der ansonsten als Leerstelle konzipierten Sprechinstanz ‚Rezitator‘ dessen mediale Bedeutung in der tatsächlichen Aufführungssituation zu kommentieren: (H:)

nû sprechet drâte.

‚Nun sprecht schnell.‘

(R:)

ich muoz gedenken ê dar nâch.

‚Ich muss erst nachdenken.‘

(H:)

nû vil drâte: mir ist gâch.

‚Nun macht schneller; ich habe es eilig.‘

(R:)

dunke ich dich danne ein wîser man?

‚Hältst du mich dann für einen klugen Mann?‘

(H:)

jâ ir. durch got, nû saget an.

‚Jaja, um Gottes Willen, nun erzählt schon.‘

105 Vgl. Übersetzung in EREC, 1972, S. 75.

190

Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation (R:)

ich wil diz mære sagen.

‚Ich will diese Geschichte erzählen.‘

(H:)

daz ander lâze ich iuch verdagen.

‚Bei allem anderen werde ich Euch schweigen lassen.‘

(EREC, V. 7495-7501)

Indem er den Rezitator hetzt und ihn als Unterlegenen darstellt, der sich seine Anerkennung vom Dichter erfragen muss, indem er dem Rezitator gar direkt droht, ihn für den Rest der Vortragsreihe zum Schweigen zu verdammen, stilisiert Hartmann über die Maske der Autorfigur seine Position als Textproduzent zur überlegenen und Macht ausübenden Instanz der Fiktionsvermittlung. Er ist derjenige, der den Text vorgibt, und er ist es, der die Umsetzung des Texts in der Aufführung als ‚Diktierender‘, gar ‚Diktator‘ (tihtære)106 zu leiten habe. Der Rezitator versucht sich gegen diese Bevormundung aufzulehnen: (R:) dû redest sam ez sî dîn spot.

‚Du redest, als würdest du spotten.‘

(H:)

wê, nein ez, durch got.

‚Oh weh, um Gottes Willen, nein!‘

(R:)

jâ stât dir spotlîch der munt.

‚Doch hast du den Mund spöttisch verzogen.‘

(H:)

ich lache gerne zaller stunt. [...]

‚Ich lache immer gern.‘

(R:)

enhân ich danne niht wâr?

‚Habe ich denn keine Wahrheit gesprochen?‘

(H:)

niht als grôz als umbe ein hâr.

‚Noch nicht mal eine klitzekleine.‘

(R:)

hân ich danne gar gelogen?

‚Habe ich dann etwa gelogen?‘

(H:)

niht, iuch hât sus betrogen

‚Nein, Euch hat solcher Art Euer

iuwer kintlîcher wân.

Kinderglaube betrogen.

ir sult michz iu sagen lân.

Ihr sollt es Euch von mir sagen lassen.‘

(EREC, V. 7512-25)

Der Verweis auf die Mimik des abwesenden Dichters (stât dir spotlîch der munt) vermittelt ein Gefühl dafür, in welchem Maße die Verkörperung Hartmanns eine schauspielerische ist, die alle Register der theatralen Semantik zieht. Ebenso wird deutlich, wie geschickt der Text implizite Anweisungen für die Umsetzung der Rolle zu geben versteht.107 Das entscheidende Argument dieser inszenierten, mimisch unterstützten Bloßstellung des Rezitators ist, dass er, selbst wenn er es wollte, keine 106 Siehe Kapitel 2.1. 107 Die Technik wird deshalb auch später von Wolfram in einer vergleichbaren performativen Funktion zitiert; vgl. PARZIVAL, V. 144, 3f., siehe Kapitel 4.2.2.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Beschreibung vornehmen könnte, die einen Anspruch auf Wahrheit hätte. Dabei wird wie auch im Wigalois-Prolog die Unfähigkeit ‚es zu einer ganzen Wahrheit zu bringen‘ als Aporie des performers dargestellt.108 Die Wahrheit ergibt sich nur aus dem vom Dichter erschaffenen Text; alle Überschreitungen des dort Festgeschriebenen bedeuten Verfälschungen, die zwar nicht der Lüge gleichkommen, nichtsdestotrotz dem Wahn eines minderwertigen Geists zuzurechnen sind.109 Mit der Zuschreibung kintlich kehrt Hartmann ein Verhältnis zwischen Text und Vortrag, das man bei Platon findet, in sein Gegenteil um. Im Phaidros sagt Sokrates zum schriftlich festgehaltenen Wort (logos, ȜިȖȠȢ) respektive zur verschriftlichten Rede: ௳˱˞˪ˡఒற˭˞˫ˠˮ˞˳ౣ˧˲˨˦˪ˡˢ౰˱˞˦˩ఒ˪˭˞˪˱˞˴ˬ౿˭౓˯˨ఙˠˬ˯௩˩ˬగ˶˯˭˞ˮఐ ˱ˬ౰˯஼˭˞౯ˬ˲˰˦˪ఁ˯ˡ౜˞௹˱˶˯˭˞ˮ౜ˬ௟˯ˬ௴ˡఒ˪˭ˮˬ˰క˧ˢ˦˧˞ఖˬ௴˧஼˭గ˰˱˞˱˞˦ ˨ఓˠˢ˦˪ˬ௟˯ˡˢ౰ˠˢ˧˞ఖ˩కˎ˨ˤ˩˩ˢ˨ˬ˺˩ˢ˪ˬ˯ˡఒ˧˞ఖˬ௴˧஼˪ˡగ˧ౠ˨ˬ˦ˡˬˮˤ˥ˢఖ˯ ˱ˬ౿ ˭˞˱ˮఘ˯஬ˢఖ ˡˢ౰˱˞˦˟ˬˤ˥ˬ౿ʷ ˞௴˱ఘ˯ˠఐˮ ˬ௸˱ౚ ஬˩ఛ˪˞˰˥˞˦ ˬ௸˱ˢ˟ˬˤ˥ౢ˰˞˦ ˡ˲˪˞˱ఘ˯˞௵˱಍

(PHAIDROS, 275 d-e)

Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie sich nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise be-

108 „zeiner ganzen wârheit / trûwe ich ez niht bringen“; WIGALOIS, V. 133f.; ‚Ich kann nicht erhoffen, es zu einer vollen Wahrheit zu bringen‘; siehe Kapitel 3.1. 109 Zu dieser Deutung kommt auch Marie-Sophie Masse, wenn sie auch die herkömmliche Zuschreibung des Gesprächspartners ‚Zuhörer‘ vornimmt: „Jener kintlîche wân kann als eine Art von Naivität verstanden werden, die auf einen Mangel an Erfahrung zurückzuführen ist. [...] Diese Erfahrung wird [...] dem Publikum ausdrücklich abgesprochen [...]. Auf diese Weise überträgt er [der Dichter] die eben behauptete Unfähigkeit des Erzählers auf den Zuhörer und verkündet die Souveränität des Dichters“; MASSE, 2008, S. 17f. Doch, so muss gefragt werden, warum sollte der Zuhörer auch Übung in der descriptio haben? Es muss jemand angesprochen sein, der am Beschreibungsvorgang aktiv, also mit Worten beteiligt ist und der durch den Dialog als reine Exekutivgewalt des Dichters bloßgestellt wird: Dies kann nur der Rezitator sein. Grundlage des Auseinanderdriftens von Masses meiner Meinung ist (abermals) die Reduzierung von im Munde eines Rezitators sinntragenden Sprechakten auf dichterische Rhetorikformeln.

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Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation schimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch sich zu helfen.110

Bei Platon ist die verschriftlichte Rede ‚unreif‘ und fehlbar, weil sie ihrer ‚Herkunft‘, des mündlichen Vortrags bedarf. Losgelöst von der Rede wird der Wahrheitsgehalt der Verschriftlichung vielerlei Missverständnissen anheim fallen. Dass im Erec dieses Verhältnis umgekehrt wird, weist auf ein Bewusstsein dafür hin, dass der Vortrag eines Artusromans eine komplett neue Medialität bedeutet, die in ihren Bedingungen unabhängig von der älteren Schriftskepsis wie der oralen Erzähltradition ist. So ist beim Artusroman zuerst der Text vorhanden und nur dieser darf der Logik von legitimierenden Quellen folgend den Anspruch auf Wahrheit erheben. Die Umsetzung in einer Aufführung ist nach Hartmanns Argumentation zwar losgelöst von spezifisch textueller Medialität (denn schließlich agiert der Rezitator nur zum Schein autonom), verliert jedoch bei einer zu starken Ablösung von der schriftlich fixierten Wahrheit jeglichen Anspruch auf Legitimität. Es stellt sich die Frage, warum Hartmann ausgerechnet an dieser Stelle des Romans solch eine Zurechtweisung des Rezitators einbaute. Als Begründungen mögen die ‚kosmologische‘ und die literaturhistorische Bedeutung der Zelterepisode dienen. Barbara Haupt arbeitet den allumfassenden Anspruch des auf die oben behandelte Passage folgenden Bildprogramms auf dem Sattelzeug des Zelters heraus: „Hartmann nämlich schafft hier [in der descriptio der Satteldecke] einen Zusammenhang zwischen dem literarischen Wissen, das nach dem tradierten Kanon der Schulen dem Trivium, den Geisteswissenschaften also, zuzuordnen ist, und dem Quadrivium, bzw. den Naturwissenschaften, indem er die literarischen Entwürfe einordnet in einen Gesamtordo der geschaffenen Welt“.111

Hartmann liefert mit der Beschreibung der Satteldecke, mit den Darstellungen antiker literarischer Stoffe und ihrer Positionierung im mittelalterlichen Gesamtbild der Existenz, ein „textiles Welt-Bild“.112 Diese 110 Übersetzung: DIETRICH KURZ/FRIEDRICH SCHLEIERMACHER. 111 HAUPT, 1989, S. 209. 112 WANDHOFF, 2003, S. 50.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

„kosmologisch fundierte Ekphrasis“113 bedarf eines besonderen Schutzes vor nicht legitimierten Eingriffen, um mit ihren diffizilen Sinnzusammenhängen nicht missverstanden zu werden. Hartmanns szenisch ausgetragene Ermahnung des Rezitators, sich nicht von seiner textuellen Grundlage zu lösen, könnte somit als eine Vorsichtsmaßnahme zu verstehen sein, welche die unverfälschte Übermittlung des Sinngehalts der folgenden descriptio sichern soll. Des Weiteren beinhaltet die Satteldecke ein literarisches Bildprogramm, das laut Haupt einen ganz eigenen Stellenwert einnimmt: „Das eigentlich Bemerkenswerte an Hartmanns Schilderung ist allerdings, daß er nicht mehr vorrangig das Bildungswissen der Litterati vermitteln will, sondern daß Hartmann eine offenbar wohlüberlegte Auswahl trifft aus der noch jungen, volkssprachig-literarischen Tradition [...]. Die Beschreibung der Abbildungen auf dem Sattelzeug der Enite stellt insofern eine frühe, im deutschen Bereich wohl die erste Literaturgeschichte dar, die volkssprachig gewordenes Bildungsgut – und darin sehe ich die kulturhistorische Bedeutung – für eine kollektive Erinnerung bewahren will.“114

Wenn die Zelterepisode sich als eine erste Festschreibung eines volkssprachigen Literaturkanons versteht, so scheint es passend, dass Hartmann diese Kanonisierung verbindet mit einer Klärung der medialen Verhältnisse, die diese junge literarische Tradition bedingen. Dabei achtet Hartmann nicht auf die Stoffgrenze zwischen Artus- und Antikeromanen, genauso wie es auch später Wirnt von Grafenberg nicht tun wird, der in seinem Artusroman beschreibt, wie eine Jungfrau aus dem Eneas vorliest,115 oder Rudolf von Ems, der Heinrich von Veldeke in seinem Alexander als den in Erinnerung ruft, „der rehter rîme alrêst began“.116 Zu der Wigalois-Stelle hatte schon Cormeau sich die Frage gestellt, ob sich Wirnt der Gattungsschwelle überhaupt bewusst gewesen sei.117 In Zusammenhang mit der Traditionssetzung bei Hartmann und dem Verweis bei Rudolf lässt sich dies zumindest bezüg113 114 115 116 117

194

Ebd., S. 51. HAUPT, 1989, S. 217. Vgl. WIGALOIS, V. 2713-22. Rudolf von Ems, 1928/29, V. 3114f. CORMEAU, 1977, S. 188; dazu auch DIETL, 2002, S. 78f.

Polyvokalität: die Inszenierung der performativen Kommunikation

lich der Reim- und Vortragstechnik beantworten: Die Gattungsgrenzen erscheinen sebst in ihrem basalen Bezug auf Stoffe hinsichtlich der sozialen Praxis des Romanvortrags als reines Forschungskonstrukt.118 Hartmann geht es darum, unabhängig von stofflichen Grenzen seinen Roman in eine Linie mit Heinrichs von Veldeke Eneas zu setzen und durch eine starke Betonung der performativen Kommunikation die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf die am Hof durch Heinrich etablierte Aufführungspraxis zu richten. Hartmanns Zugabe zu dieser Tradition ist, dass er mittels eines inszenierten Streitgesprächs mit dem tumben kneht Rezitator seine Position als die den Textsinn legitimierende Instanz behauptet und die ‚neue‘, auf einem Text aufbauende Performativität über die weitaus stärker vom jeweiligen Sänger/Rezitator abhängige orale Erzähltradition hebt.

3.3 Vom Blick auf Pferde und anderen Wundern „Mann, dein Pferd / ist nichts wert. Hier: das Bein / ist zu klein. Dort: das Ohr / steht nicht vor. Da: der Gaul / hat kein Maul. Schau: der Schwanz / fehlt ihm ganz. Und es trabt / nicht so recht, denn das Pferd / ist ein – Specht! Du viel dumm, / ich viel klug. / Hugh!“ Robert Gernhardt, Indianergedicht119

Hartmann präsentiert in der Zelterepisode ein Bildprogramm, das ansatzweise eine Kanonisierung der volkssprachigen Literatur vornimmt und, wie das vorige Kapitel zeigt, gleichzeitig die medialen bzw. kommunikativen Bedingungen dieser Literatur problematisiert. Zu der sukzessiven Beschreibung der auf dem Sattelzeug angebrachten Bilder 118 Auch durch das ‚Vorleben‘ der Gattung ist die Aufhebung dieser Grenze legitimiert; schließlich wird der chronikale Arthur u. a. schon bei Geoffrey von Monmouth als Abkömmling der Trojaner beschrieben; vgl. LANGOSCH, 1999, S. 5-11. 119 Gernhardt, 2000, S. 166.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

vermerkt Wandhoff im Vergleich zu Chrétiens Beschreibung von Erecs Krönungsmantel: „[Bei Chrétien werden] Einzelbilder [...] durch den Vollzug der zeremoniellen Krönungshandlung am Körper des Königs gleichsam in Bewegung gesetzt. [...] In dieser bewegten Abfolge von symbolischen Handlungen entsteht ein ‚lebendiges Bild‘, dessen Bewegtheit sich mit dem performativen Aspekt der messenden und zählenden Künste verbindet, die auf dem Mantel ja ebenfalls handelnd dargestellt sind. Hartmanns auf dem Pferdekörper entworfenes Welt-Bild ist dagegen völlig statisch. Die Zusammenschau der Einzelbilder folgt nicht dem Nachvollzug einer zeremoniellen Handlung, sondern ist Ergebnis einer vom Erzähler gegebenen Aufzählung von Bilderschichten, die die Körperoberfläche des regungslos dastehenden Wunderpferdes bedecken. [...] Auch gibt es keine szenische Einbindung der Ekphrasis, es wird kein räumlich konkreter Schauplatz benannt, in dem das komplexe Bild aufgebaut wird. Vielmehr ist das Pferd plötzlich da: Nicht in einem Palast oder Festsaal, sondern in einem ‚anderen‘ Raum, einem handlungsabgewandten, imaginären Schauraum des Wortkunstwerks wird es dem 120 Leser [sic] vor Augen gestellt.“

Auch wenn Wandhoff Recht hat, dass der bei Hartmann beschriebene Zelter nicht in eine fiktive Szene eingebunden und somit auch nicht Objekt eines Handlungsraums, sondern eines ‚imaginären Schauraums‘ ist, leitet es doch in die Irre, die descriptio der Zelterepisode als statisch und damit als nicht über die kinästhetische Wahrnehmung zugänglich darzustellen. Wandhoff revidiert selbst diese Sichtweise, wenn er – zwar nicht in Hinsicht auf die Zelterepisode, so doch bezüglich der literarischen Ekphrasis im Allgemeinen – an späterer Stelle schreibt: „[D]ie Kunstbeschreibungen des Mittelalters [...] [unterscheiden sich] von den flachen Ekphrasen des antiken Epos durch eine nicht selten architektonisch realisierte Räumlichkeit [...]. Das Betrachten dieser Bild- und Bauwerke ist als ein imaginativ zu vollziehendes Durchwandern dreidimensionaler Schauräume konzipiert, bei dem die Bewegungen des Geistes in Analogie zu den motorisch vertrauten Bewegungen 120 WANDHOFF, 2003, S. 168.

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Vom Blick auf Pferde und anderen Wundern des Körpers konzipiert werden. Nicht mehr die Bilder sind hier in Bewegung, [...] sondern der Leser [sic] ist nun selbst aufgefordert, vermittels einer leib- und bewegungsorientierten Perzeption in die ekphrasischen Bild-Räume einzutreten [...].“121

Wenn man das Konzept der kinästhetischen Wahrnehmung nicht davon abhängig macht, dass eine Bewegung auf der Ebene der Fiktion beschrieben werden muss, sondern, dem Grundsatz rezeptionsästhetischer Analyse folgend, diese Bewegung als mentale, imaginäre, ‚bewegte‘ Teilhabe des Zuhörers versteht, ist gerade die Zelterepisode von besonderer kinästhetischer Kraft. Denn dadurch, dass Hartmann die descriptio in einem vom fiktiven Geschehen losgelösten Schauraum stattfinden lässt, macht er auf Bewegungen aufmerksam, die nicht auf Ebene der histoire, sondern auf Ebene des (performativ verwirklichten) discours stattfinden. Die Bewegung, die zum Effekt der Teilhabe führen soll, ist das Schweifen des imaginären Blicks des Zuhörers über den Körper und Schmuck des Pferdes. Die Statik des Bildes ist dabei Mittel zum Zweck: Je unbewegter das Beschriebene, desto deutlicher kann sich die Bewegung des betrachtenden Blicks abzeichnen. Die Ekphrasis wird so zu einem Mittel der Darstellung und (metafiktionalen bzw. metaperformativen) Diskussion kinästhetischer Techniken in Schreib-, Präsentations- und Imaginationsvorgängen. Der bewegte Betrachter ist in der Zelterepisode kein figuraler Augenzeuge (im Sinne der Wandhoff’schen Autopsie),122 sondern Teil der aufführungsspezifischen Kommunikation von gesprochenem Text und imaginierter Wahrnehmung. Aus diesem Grund wird in der Passage in erhöhtem Maß mit kurzen kommunikativen Phrasen123 und einer längeren Passage der sensuelle Zugriff auf die fiktive Welt mittels quasigestischer Sprechhandlungen fingiert:

121 Ebd., S. 325. 122 Vgl. WANDHOFF, 1996; siehe Kapitel 2.2. 123 „die sach man ouch dar inne sweben“ (EREC, V. 7653; ‚Die [Drachen] sah man ebenfalls dort abgebildet‘); „Swaz man sîn vor dem satel sach, / daz was gesteppet dicke / ze guotem aneblicke“ (EREC V. 7705-07; ‚Was man davon unter dem Sattel hervorstehen sah, / war vielfach abgesteppt, / [damit es] schön anzuschauen war); meine Hervorhebungen.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf ir müestetz werc wol besehen

Ihr müsstet euch die Arbeit genau ansehen,

ê ir westet wes ir soldet jehen,

ehe ihr zu sagen wüsstet,

ob ez von golde wære durchslagen

ob es mit Gold besetzt

oder mit sîden undertragen.

oder mit Seide unterfüttert wäre.

daz es borten solden sîn,

Dass es Borten wären,

daz enwürde iu an den bilden schîn

würdet ihr an den Bildern nicht erkennen.

oder ir enbegriffetz mit der hant,

Außer ihr ergriffet sie mit der Hand,

ez wære iu immer unerkant.

würdet ihr es niemals wissen.

(EREC, V. 7682-89)

Folgt man der Bewegung der den imaginären Blick des Zuhörers bzw. den taktilen Sinn seines Körperschemas leitenden124 deiktischen Gesten über das Sattelzeug hinweg, liest sich die descriptio wie folgt: an disem gereite was ergraben In dieses Sattelzeug war daz lange liet von Troiâ.

das lange Lied von Troja geschnitzt.

zaller vorderst stuont dâ

Ganz vorne stand da,

wie des wart begunnen

wie es dazu kam,

daz si was gewunnen [...].

dass es erobert wurde. [...]

dâ engegen ergraben was

Auf der gegenüberliegenden Seite

wie der herre Ênêas,

war geschnitzt, wie der Herr Aeneas,

der vil listige man,

der kluge Mann,

über sê vuor von dan,

über das Meer fortfuhr

und wie er ze Kartâgô kam,

und wie er nach Karthago kam

und wie in in ir genâde nam

und wie ihn dort

diu rîche vrouwe Dîdô [...].

die mächtige Herrin Dido in ihre Huld nahm. [...]

an dem hindern satelbogen

Auf dem hinteren Sattelbogen

sô was einhalp ergraben

war deshalb auf der einen Seite

ir vil starkez missehaben [...].

ihr großes Leid geschnitzt worden. [...]

jenhalp stuont dar an

Auf der anderen Seite stand daran,

wie er vrouwen Lavîniam

wie er die Herrin Lavinia

zêlîchem wîbe nam.

ehelich zur Frau nahm.

(EREC, V. 7545-77)

124 Diese Erweiterung der Sinne ist in der Zelterepisode kein Einzelfall: Ebenso wird in der folgenden Beschreibung der Beschaffenheit der Maschen des Stoffs (vgl. EREC, V. 7721f.) der imaginär-taktile Sinn des Körperschemas angesprochen.

198

Vom Blick auf Pferde und anderen Wundern

Der imaginierende Blick der Zuhörer wird entlang des Sattels von Bild zu Bild geführt. Der Sattel wird – im Sinne Palagyis –125 ‚abgetastet‘. Dabei ist zu bemerken, dass die Koordinaten der Bewegung streng abgesteckt sind: Der Blick schweift von der hiesigen Seite des Sattels zur gegenüberliegenden (dâ engegen) und von vorne (zaller vorderst) nach hinten (an dem hindern satelbogen), wo er wieder die Seite wechselt (einhalp / jenhalp). ‚Vorne / hinten‘ und ‚auf der einen / auf der anderen Seite‘: Dies sind (vorerst) die Koordinaten, die den Schauraum des Betrachters ausmachen. Im kartesischen Denken126 wären es die x- und y-Achse der Beschreibung.127 Die Ekphrasis der literarischen Bilder erfolgt in der obigen Passage also mittels des bewegten Blicks 125 Siehe Kapitel 2.2.1. 126 Das kartesische Koordinatensystem dient lediglich der systematischen Veranschaulichung, ohne dass es als mittelalterliche Denkstruktur impliziert werden soll. Den Unterschied antiker und mittelalterlicher Denkfiguren zur räumlichen Dimensionalität behandelt Erwin Panofsky in seiner Abhandlung Die Perspektive als ‚symbolische Form‘. Zur Antike heißt es: „Denn, so verschiedenartig die Raumtheorien der Antike auch gewesen sind, keine von ihnen ist dazu gelangt, den Raum als bloße Relationen zwischen Höhe, Breite und Tiefe zu definieren, so daß (sub specie eines ‚Koordinatensystems‘) der Unterschied zwischen ‚vorn‘ und ‚hinten‘, ‚hier‘ und ‚dort‘, ‚Körper‘ und ‚Nichtkörper‘ sich in dem höheren und abstrakteren Begriff der dreidimensionalen Ausdehnung [...] aufgelöst hätte“; PANOFSKY, 1964, S. 110. Auch im Mittelalter wird diese Abstraktion nicht vollzogen; Panofsky attestiert der mittelalterlichen Kunst gar eine gezielte „Zersetzung der perspektivischen Idee[, sodass] der Raum [...] sich zu einem homogenen und, wenn man so sagen darf, homogenëisierenden, aber unmeßbaren, ja, dimensionslosen Fluidum“ (ebd., S. 111f.) umgebildet habe. 127 Die sukzessive Dimensionierung der descriptio wird auch deutlich, wenn man sie mit einer (möglichen) Vorlage Hartmanns für diese Szene vergleicht. Im Eneas des Heinrich von Veldeke wird das Pferd der Camilla, einer amazonenähnlichen Kämpferin im Heer des Turnus, beschrieben (vgl. ENEAS V. 5241-92). Im Gegensatz zu Hartmanns Zelterepisode kennt diese Darstellung, trotz motivischer Ähnlichkeiten, keine strenge Ordnung des Blicks. Besonders deutlich wird dies an der Textpassage zum Sattel (vgl. ebd., V. 5269-89): Die Beschreibung löst sich nicht vom Gegenstand. Sie zählt einen kostbaren Bestandteil nach dem anderen auf und macht so den Wert des Sattels rhetorisch-akkumulativ deutlich. Mittels dieser Technik wird das Ohr des Rezipienten angesprochen; doch sein imaginativer Blick gleitet ohne genaue räumlich-materielle Parameter über den Gegenstand hinweg und kann sich nicht an der Illusion erfahrbarer Plastizität ergötzen, wie sie Hartmann suggeriert.

199

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

über eine Fläche hinweg, die auf den Sattel projiziert wurde. Erst nach Abschluss der Schilderung der Aeneas-Sage (oder konkreter: des Eneas-Romans) wird diese Fläche durch weitere Koordinaten zum Raum erweitert: dâ mite der satel was bedaht,

Der Sattel war behangen

daz was ein phelle wol geslaht [...]. mit einer wohl beschaffenen Decke [...]. der phelle was ze rehte tief:

Die Decke hing tief hinab,

vil nâch er zuo der erde swief.

beinahe schleifte sie auf der Erde.

dâ stuonden an besunder

Einzeln waren daran

al der werlde wunder

alle Wunder der Welt dargestellt

und swaz der himel besliuzet.

und alles, was der Himmel umschließt.

(EREC, V. 7582-90)

Der von den Worten des Rezitators geleitete Blick schweift nun entlang der Satteldecke zu Boden (ze rehte tief / zuo der erde swief) und über die darauf dargestellten Wunder wieder hinauf zum das irdische Sein umschließenden Himmelsgewölbe (und swaz der himel besliuzet). Diese Bewegung des Blicks bildet die z-Achse der Beschreibung oder, im mittelalterlichen Denkhorizont formuliert: Die sechs Dimensionen, die Aristoteles in seiner Physik dem Allgemeinraum „mit einer im Grunde ganz unmathematischen Herübernahme des Qualitativen in das Gebiet des Quantitativen“128 zuschreibt (‚vorn/hinten‘, ‚rechts/links‘ und ‚oben/ unten‘), wurden in einem deskriptiven Zweierschritt (erst Sattel, dann Satteldecke) verwirklicht, sodass aus einer Abbildungsfläche ein Schauraum entsteht. Auf dem Sattel wird der Inhalt eines Romans dargestellt, auf der Decke die irdischen Wunder unter dem Himmelsgewölbe. Hartmanns Lenkung des imaginativen Blicks lässt die Beschreibung somit in die folgende Aussage münden: Mit der Einbettung der Romanfiktion in die reale Welt wird die narrative Fläche zur Räumlichkeit – oder: In der Aufführungssituation, die gemäß der medialen Landschaft des mittelalterlichen Hofes die Schnittstelle von Fiktion und Realität darstellt, wird der Roman Teil der (sozialen) Wirklichkeit; die Zweidimensionalität des Lesens wird, kanalisiert durch den Körper des Rezitators und die Körperschemata der Zuhörer, in der Aufführung dreidimensional. 128 PANOFSKY, 1964, S. 110; vgl. ARISTOTELES, 1995, Buch IV.

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Vom Blick auf Pferde und anderen Wundern

Einhergehend mit dieser Aussage wird auch textuell die Distanz zwischen der realen Situation der Aufführung und der literarischen descriptio des Zelters gemindert – plötzlich scheint das Dargestellte die ihm auferlegte Flächenhaftigkeit zu durchbrechen: dâ stuont diu menschlîch geschaft,

Da stand das menschliche Geschöpf

geworht von solher meisterschaft

mit solcher Meisterschaft gefertigt,

sam ez wolde sprechen

als wolle es sprechen

und bildes reht brechen.

und das Gesetz des Bildes brechen.

(EREC, V. 7606-09)

Hartmann inszeniert eine (vermeintliche) Überschreitung des ontologischen Status des Bilds (des bildes reht) im Schauraum der performativ verwirklichten descriptio. Die Allegorie des Zelters wird (kurzzeitig) für den Zuhörer erfahrbar, weil das Bild direkt zu ihm zu sprechen scheint – ohne den medialen Umweg über Dichter, Text und Rezitator; lediglich das Körperschema bleibt vermittelnd, ist jedoch in seiner medialen Funktion zu vernachlässigen, da es (nach Lacan) ohnehin Teil des Ichs ist129 und somit den Eindruck der Unmittelbarkeit nicht mindert. Der Verweis auf die Lebendigkeit der Bilder ist an dieser Stelle also weitaus mehr als nur ein für die Vermittlung der Trojasage typischer Topos.130 Vielmehr spiegelt die Erweiterung des flächigen Bildprogramms in die Räumlichkeit die medialen Wirkweisen des höfischen Romans und die Funktionsweisen des imaginären Blicks des Zuhörers. Denn so, wie die auf dem Sattel abgebildete Aeneas-Sage durch die auf der Satteldecke dargestellte Welt ihren zweidimensionalen Status erweitert, wird auch der schriftliche Text generell ‚dreidimensionale‘ Wirklichkeit durch seine Einbettung in die reale Welt – ein Vorgang, der durch die Präsentations-, Wahrnehmungs- und Imaginationsprozesse während der Aufführung möglich wird. Die in Kapitel 2.1.1 vorgenommene Beschreibung der Aufführung als dynamische Vermittlungs129 Siehe Kapitel 2.2.1. 130 „Dante ruft hier den alten Topos von der Lebendigkeit des Kunstwerks auf, der – wie bei Konrad Fleck oder Richard von Fournial – immer wieder gerade auf das Troja-Bildnis bezogen wurde. Noch konkreter aber fühlt man sich an die Lebewesen der Erde erinnert, seien es die Tiere oder die Menschen, die auf Hartmanns Satteldecke ebenfalls drauf und dran sind, zu sprechen und damit bildes reht zu brechen“; WANDHOFF, 2003, S. 224.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

größe zwischen Fiktion und Realität wird durch das bildliche Dimensionenspiel der Zelterdecke als mittelalterlich legitimiert. Die Technik, mit der Hartmann eine Annäherung der ontologischen Ebenen von Text und Aufführung kreiert, gleicht den mittelalterlichen mnemotechnischen Konstruktionen von Erinnerungsräumen, wie sie in der monastischen Ausbildung üblich waren. Diese hatten sich schon anhand des Leitbegriffs (lat.) ‚arca‘ bzw. (mdh.) ‚arke‘ beim WigaloisProlog als Grundlage der fiktionsvermittelnden Tätigkeit im Spannungsfeld der mittelalterlichen Medialität erwiesen. Illich exemplifiziert die Mnemotechniken an den didaktischen Schriften Hugos von St. Viktor: „Das Kind wurde dazu geschult, Gedächtnislabyrinthe zu erbauen und die Gewohnheit zu entwickeln, sich in ihnen zu bewegen und etwas wiederzufinden. Erinnerung betrachtete man nicht als Kartierung, sondern als psychomotorischen, moralisch motivierten Akt. [...] Fortgeschrittenen Schülern empfahl Hugo eine viel komplexere, dreidimensionale Arche [eine arca] – eine räumlich-zeitliche Matrix, die sich der Schüler nach dem Muster der Arche Noah im Geiste aufbauen sollte. Nur jemand, [...] der historiam sacram, die Heilsgeschichte (die die Geschichte der eigenen Erlösung ist), innerhalb dieses zweidimensionalen Rahmens untergebracht hat, kann Hugo beim Aufbau dieses anspruchsvollen, dreidimensionalen, vielfarbigen Mammutgedächtnisplans folgen.“131

Nach solch einem Muster mnemotechnischer Räume kreiert Hartmann in der Zelterepisode eine Verschränkung von Erzählwelt (Aeneas-Sage) und realer Welterfahrung, indem er die Erweiterung zweidimensionaler, imaginärer in dreidimensionale, quasi-reale Räume vollzieht, respektive die Labyrinthaufsicht zur komplexen Arche werden lässt. Das Mittel zur Erschaffung des Gedankengebäudes ist jedoch im Gegensatz zur monastischen Mnemotechnik profanisiert: Es bezieht sich statt auf heilsgeschichtliche Größen auf die Verbildlichung der Fiktion in der Imagination des Zuhörers. Im inszenatorisch geleiteten Imaginationsprozess erinnert sich der Zuhörer anhand des Sattels an die Erzählung der Aeneas-Sage, kombiniert sie unter Anleitung der descriptio (also über die Satteldecke hinweg) mit seinen Erinnerungsbildern zu irdischen 131 ILLICH, 1991, S. 40f.

202

Vom Blick auf Pferde und anderen Wundern

Wundern und wird so gedanklich auf sein gegenwärtiges Dasein in der Welt gelenkt. Hartmann erreicht über diese Abfolge eine Engführung von erinnerten Eindrücken (realer wie fiktiver) und der in der Aufführung das Bild des Zelters konstruierenden Instanz; mit anderen Worten: eine Engführung von memoria und imaginatio als Begünstigung kinästhetischer Wahrnehmung.132 Das Bild von Sattel und Satteldecke behauptet also, dass der gerade vorgetragene Text im performativen Vorgang ein Äquivalent zur realen, dreidimensionalen Räumlichkeit und ihrer Wahrnehmung wird, dass also Zeltersattel samt Decke gleich der Hugo’schen Erinnerungsarche vom Zuhörer in einem psychomotorischen Akt gegenwärtig und unter Einbezug aller Sinne erfahrbar sei. Hartmann erweitert diese (behauptete) Erfahrbarkeit noch dadurch, dass er die Fiktion als nicht nur imaginär, sondern auch realiter erfahrbar darstellt.133 So heißt es in der Beschreibung der auf der Satteldecke abgebildeten Meerestiere: der tæte mir der namen kunt,

Wenn jemand mir die Namen kundtun könnte,

ich wolde si gerne erkennen

würde ich sie gerne kennen

und kunnen genennen.

und zu benennen verstehen.

dar zuo suochet iu einen man

Deshalb sucht euch jemanden,

der iu si wol genennen kan:

der sie euch sicher zu bezeichnen vermag.

132 Siehe Kapitel 2.2. 133 Illich betont, dass die kinästhetische Erfahrung generell ein Charakteristikum des mittelalterlichen Lesens sei: „Hugos Meditation ist eine intensive Lesetätigkeit und kein passives, quietistisches Sich-Versenken in Gefühle. Und diese Tätigkeit wird in Analogie zu den Körperbewegungen dargestellt: als Schreiten von Zeile zu Zeile, oder als Flügelschlagen, während man die schon bekannte Seite mustert. Hugo erlebt das Lesen als motorische Aktivität des Körpers. In einer anderthalb Jahrtausende langen Tradition geben die sich bewegenden Lippen und die Zunge die klingenden Seiten als Echo wieder. Die Ohren des Lesers sind aufmerksam und mühen sich ab, das aufzufangen, was sein Mund äußert. So wird die Buchstabenfolge unmittelbar in Körperbewegungen umgesetzt, und sie strukturiert die Nervenimpulse“; ILLICH, 1991, S. 57. Im mittelalterlichen Lesevorgang wird der Selbstleser zu seinem eigenen Publikum: Der Mund intoniert, was das Ohr als ‚Publikum‘ des privaten Murmelns wahrnimmt. Die Situation der Aufführung eines Texts bedeutet somit eine Aufteilung des ‚schizophrenen‘ Lesens auf körperlich präsente Sender und Empfänger. Die kinästhetische Wahrnehmung ist folglich kein ausschließlich der Performativität eigener Rezeptionsmodus, die performative Umsetzung verstärkt jedoch die Körperlichkeit der Texterfahrung, die dieser ohnehin eigen ist.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf envindet ir des danne niht

Findet ihr niemanden dazu

(daz ouch vil lîhte geschiht),

(was sehr leicht möglich ist),

sô volget mînem râte

so folgt meinem Rat

und machet iuch ûf drâte,

und macht euch schleunigst auf,

vart selbe zuo dem mer:

fahrt selbst ans Meer:

dâ vindet ir inne des.

Darin findet ihr welche davon.

gât an daz stat stân

Geht, stellt euch an das Gestade

unde bitet si gân

und bittet sie heraus

ûz ziu an den sant:

zu euch an den Strand zu kommen:

dâ werdent si iu erkant.

Da werden sie euch bekannt werden.

enhilfet danne daz niht

Hilft das aber auch nichts

(daz aber lîhte geschiht),

(was abermals leicht möglich ist),

sô suochet selbe den grunt:

so sucht selbst den Meeresgrund ab:

dâ werdent si iu danne kunt

Da werdet ihr sie mit viel Mühsal

mit grôzem schaden, und kleinem Nutzen kennenlernen. mit lützelm vrumen. nû râte ich mînen vriunden sumen Allen meinen Freunden rate ich, daz si die niugerne lân

dass sie die Neugierde sein

und hie heime bestân.

lassen und zu Hause bleiben.

(EREC, V. 7615-37)

Der Sprecher gibt anfangs vor, der Rezipient könne die fiktiven Meereswunder am eigenen Leib erfahren, als hätten sich die Ontologien der Bilder-, der fiktiven und der realen Welt im performativen Akt so sehr einander angenähert, dass man die eine durch die andere beweisen könne.134 Hartmann spielt dafür auf die Genesis-Stelle an,135 in der Adam 134 Eine ähnliche Erzählbewegung findet sich in einer weiteren von Hartmanns Quellen zur Zelterepisode. Im Eneas wird das Grabmal des Pallas mit großem Aufwand beschrieben. Nach Ausschmückung aller Einzelheiten heißt es bezüglich eines im Grab brennenden ewigen Lichts: ez werte unze an den tach, daz Pallas dâ wart funden. daz geschach sint in den stunden, daz der keiser Friderîch der lobebâre vorste rîch ze Rôme gewîhet wart [...]. sint vant man den wîgant Pallantem in deme grabe, dâ wir haben gesaget abe. daz enis gelogen nieht.

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Es [das ewige Licht] hielt bis zu dem Tag, an dem Pallas dort gefunden wurde. Das geschah später zu der Zeit, da der Kaiser Friedrich, der lobenswerte, mächtige Fürst, zu Rom geweiht wurde [...]. Danach fand man den Kämpfer Pallas in diesem Grab, wovon wir erzählt haben. Das ist ungelogen.

Vom Blick auf Pferde und anderen Wundern

von Gott den Auftrag erhält, alle vor ihn geführten Tiere zu benennen. Adam wird dafür an einen ‚Schauplatz‘ (theatrum) gebracht, um an diesem einen Akt der nomenklatorischen Kulturstiftung zu vollziehen.136 Der Zuhörer soll am Anfang der Hartmann’schen Passage zu dannoch bran daz lieht, daz sîn vater dar in gab, [...] alldâ Pallas lach, daz wir wizzen vor wâr, mêr dan zwei tûsent jâr [...]. (ENEAS, V. 8374-98)

Damals brannte noch immer das Licht, das sein Vater hineingelegt hatte, [...] dorthin, wo Pallas gelegen hatte, das wissen wir fürwahr, mehr als zweitausend Jahre.

Die Auffindung des Pallasgrabs wird in der Chronistik der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in die Regierungszeit Kaiser Heinrichs I (919-936) oder Heinrichs II (1039-56) datiert; vgl. KAUFFMANN, 1889, S. 251f. Wenn Heinrich von Veldeke den Fund in Verbindung mit Barbarossas Krönung von 1155 bringt, so tut er dies v. a. deshalb, um die materielle Existenz des Grabs für die eigene Zeit zu belegen bzw. das Brennen des ewigen Lichts bis in die noch erinnerte Vergangenheit des Publikums hinein zu verlängern. In diesem Fall handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um das Thüringer Publikum der 1180er Jahre, das zur nahen Verwandtschaft Kaiser Friedrichs zählte und mit diesem Erinnerungsvorgang rund 30 Jahre überbrücken musste; vgl. DITTRICH, 1966, S. 573. Es ist aufgrund der eindeutigen Zuschreibung dieser Partie schlüssig, in ihr einen äußerst „wirkungsvollen Vortragszusatz“ (FRINGS/SCHIEB, 1964, S. CVI) zu sehen, der für einen performativen Effekt am Thüringer Hof nachträglich in den Text eingefügt wurde. Mit dieser Einfügung wird (wie auch in Hartmanns Zelterepisode) behauptet, dass die in der Aufführung stattfindenden Beschreibungen der fiktiven Welt realiter nachprüfbar seien. Im Unterschied zu Hartmann macht Heinrich dies in der Pallas-Partie an der artefaktischen Materialität des Grabes fest, in dem das Feuer des ewigen Lichts die Zeiten genauso wie die Fiktionsgrenzen überwindet. Wie sich zeigen wird, behauptet Hartmann seine Grenzüberschreitung aber aus einem anderen Grund: nicht um sie (arte-)faktisch zu untermauern und ein bestimmtes Publikum zu umschmeicheln, sondern, um dem Publikum schon beim Versuch einer Fiktionstransgression den Grund unter den Füßen wegzuziehen. 135 Vgl. Gen. 2,19f. „Hinter der scherzhaft-humorigen Aufforderung, man solle nur versuchen, alle Geheimnisse des Meeres zu ergründen (V. 7618ff.), steht wiederum eine Reflexion auf die Genesis, wie sie zuerst bei Alcimus Avitus, später u. a. auch in der frühmittelhochdeutschen Wiener Fassung interpretiert ist: Nach dem ursprünglichen Schöpfungsplan ist der Mensch eingesetzt als Herrscher über alle Kreatur, das Meer darf ihm nichts, was ihm lieb ist, versagen“; HAUPT, 1989, S. 213f. 136 Das Muster der Nomenklatur am Schauplatz (theatrum) findet sich auch bei den enzyklopädischen ‚Naturbüchern‘ des 17. und 18. Jahrhunderts; vgl. allgemein zum Begriff des ‚Schauplatzes‘ und zu den ‚Naturbüchern‘ FORRER, 2010; zum Zusammenhang mit der Genesis vgl. auch DÄUMER/ GEROK-REITER/KREUDER, 2010, S. 14.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

solch einem kultur- und über die Benennung der Dinge realitätsstiftenden Adamiten werden. Die Motivation zum Betreten des theatrum ist dabei jedoch nicht (wie bei Hugo) die Moral oder (wie in der Genesis) die Bannung der ‚wilden‘ Dinge in Sprache, sondern die Neugierde (niugerne). Diese Motivation ermöglicht es Hartmann, das AdamitenBild im Verlauf der Passage ad absurdum zu führen. Im letzten Kapitel zeigte sich, dass in der Zelterepisode anhand inszenierter Fragen dem Publikum ein Interesse an (übertriebener) mimetischer Genauigkeit unterstellt wurde, der die manieristische descriptio zwangsweise nachzukommen habe. Dieses fingierte Bedürfnis des Publikums wird nun dahingehend erweitert, dass es anstrebe, die zweidimensionale Fläche der Fiktion zu durchbrechen, um nicht nur mit dem Körperschema, sondern am physischen Leib ‚bewahrheiten‘ zu können. Hartmann unterstellt dem Hörer damit einen sündhaften Akt der curiositas, der die Eigenwertigkeit der Dichtkunst negiere, um sie einer quasi-empirischen Dingbenennung gleichzusetzen. Die adamitische Schau der Genesis wird dabei von Hartmann in ihrer Moral verkehrt: Die biblische Szene ist von der Schöpfung Evas gerahmt (Gen 2,18 und 2,21-24) und schließt direkt an die Tabuisierung des Baums der Erkenntnis (Gen 2,17) an. Damit ist Adams Schau und Benennung als kulturstiftende Handlung kontrastiv von der curiositas abgesetzt, die sich in Folge dann auf den Baum bezieht. Natürlich kennt das Alte Testament auch das negative Schauen, zumal in der hebräischen Wurzel ʲʬʩ (Jada), die Bezeichnung für ein Wissen durch Sehen (Ra’a), das ‚Bezeugen‘ (also ein Akt der Viasualität) und das ‚Zeugen‘ (als Folge einer sexuellen Praktik) in Eins fallen.137 Dies ist eine biblische Doppeldeutigkeit, die noch bis zu Luthers Formulierung des ‚Erkennens‘ Evas durch Adam und natürlich zu einer entsprechenden Ambiguität des Baums der ‚Erkenntnis‘ führt.138 Visuelle Wahrnehmung hat aufgrund dieses semantischen

137 U. a. in Gen 4,1; vgl. GESENIUS, 1895, S. 284f.; dazu: KROCHMALNIK, 2007, S. 23 und FRICKE, 2011, S. 272. 138 Auch in anderen Sprachen führt der tiefliegende Zusammenhang von visueller Wahrnehmung und Sexualität zu gemeinsamen Wortstämmen: „Zeugen und Bezeugen ist bereits im Mittel- und Althochdeutschen über die Wortbedeutung verbunden. Die enge Beziehung besteht auch in anderen Sprachen, etwa im Griechischen sowie im Lateinischen (testis/testi-

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Oszillierens im Alten Testament generell eine sexuelle Konnotation und das Eine wie das Andere wird mit Restriktionen belegt. So kann das Zurückblicken von Lots Gattin auf Sodom (Gen 19,1-21) als Sinnbild der sündhaften, sexuell konnotierten und bestraften curiositas gedeutet werden.139 Die adamitische Schau hingegen ist sündlos, nicht nur, weil sie vor dem Sündenfall geschieht, sondern auch, weil ihr der richtige Ort zugewiesen wird. Die Umwertung Hartmanns bezieht sich somit nicht so sehr auf den Akt des Schauens, sondern vielmehr handelt es sich um eine Umwertung des in der Genesis gegebenen Orts, an dem solch eine Schau (thea-Konstellation) per se erlaubt ist – dem theatrum. Der theatrale Raum zeichnet sich dadurch aus, dass er den Schauenden und das Geschaute raumsemantisch voneinander trennt und somit der visuellen Wahrnehmung (zumindest graduell) die sexuelle Konnotation nimmt. Was bei Hartmann also zu der humoristischen Bloßstellung des dem Zuhörer unterstellten, quasi-adamitischen curiositas-Bedürfnisses führt, ist eine illegitime Transgression der Raumgrenzen: Es verletzt die Trennung von Fiktion und Realität, die den die curiositas exkulpierenden ‚Schauplatz‘ ausgemacht hätte. Mit dieser Kombination aus curiositas und theatrum beschreibt die Episode einen Zusammenhang, wie man ihn schon v.a. im zehnten Buch von Augustinus’ Confessiones finden konnte. Dort beschreibt Augustinus die concupiscentia oculorum, die ‚Augenlust‘, als ein der Fleischeslust verwandtes Laster, dem im Gegensatz zur concupiscentia carnis jedoch das Fleisch nicht Zweck sondern Mittel zum Zweck sinnlich-geistiger Erfahrung ist.140 Die Augenlust ist auch bei Augustinus ein durch und durch theatrales Problem:141 Ex hoc morbo cupiditatis in spectaculis exhibentur quaeque miracula. Hinc ad perscrutanda naturae, quae praeter nos est, opera proceditur, quae scire nihil prodest et nihil aliud quam scire homines cupiunt. (CONFESSIONES X, 35,55)

culi), davon abhängig des Englische (testify/testicles), sowie das Französische und Italienische“; FRICKE, 2011, S. 283, Anm. 21. 139 Vgl. ebd. 140 Vgl. SCHLESIER, 2010, S. 33f. 141 Grundlegend zum Theater im augustinischen Denken: WEISMANN, 1972, S. 134-148.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf Es ist die krankhafte Neugier, für die man im Theater all die Sensationen zeigt. Sie ist es, die dazu verleitet, das Verborgene der Natur, die außer uns ist, zu erforschen, das zu wissen für nichts gut und der Mensch eben nur zu wissen begierig ist.142

Im Erec wird den Zuhörern genau dies gesagt: Ihre Neugierde würde sie an das Meer treiben um die Wunder zu sehen; doch dies geschähe „mit grôzem schaden, mit lützelm vrumen“. Das Missachten der theatralen Raumgrenze, das den Zuhörer im Gegensatz zu Adam schuldig machen könnte, geht ebenso auf augustinisches Denken zurück, gibt dieser doch zu, in Karthago von den spectacula theatrica hingerissen gewesen zu sein. Die durch die Theaterspiele ausgelöste Schaulust machte ihm erst im Alltag zu schaffen. 143 Die theatrale Raumtrennung (und die mit ihr einhergehende Trennung von Fiktion und Realität) wirkt also auch in den Confessiones exkulpierend. Für einen die Grenzen der Fiktion und somit die Konventionen des theatralen Raums verletzenden und damit unentschuldbaren Akt hat Hartmanns Wunderschau neben den Gestalten der Genesis und dem Denken Augustinus‫ ތ‬auch ein ‚historisches‘ Vorbild:144 In der Kaiser-

142 Übersetzung: JOSEPH BERNHART. 143 Vgl. CONFESSIONES, III, 2,2; dazu: SCHLESIER, 2010, S. 35, Anm. 12. 144 Hinsichtlich der curiositas-Thematik ist auch an die seit Mitte des 12. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Literatur einsetzende Gattung der Alexanderromane zu denken. Alexanders topischer Forschergeist, der ihn die höchsten Höhen und tiefsten Tiefen der Existenz erkunden lässt, wurden in der Theologie des 12. Jahrhunderts negativ gedeutet, bspw. durch Hugo von St. Viktor. Vor allem im Vorauer Alexander wird diese Abwertung offensichtlich. Alexanders Sünden sind dort jedoch eher Herrschsucht und Hochmut. Trotz der Nähe zur oben behandelten Sündhaftigkeit, die v. a. daher rührt, dass es im Erec auch um Naturwunder geht, findet man in den Romanen jedoch nicht die spezifische Kombination aus curiositas und theatrum, die Hartmanns Meerwunder-Schau ausmacht: Alexander will zwar auch die Existenz ‚schauen‘; es ist ihm jedoch nicht vergönnt, dies passiv an einem theatrum zu tun. Er durchstreift aktiv das Himmelsgewölbe und den Meeresgrund; keine Raumsemantik kann ihn schützen; keine Fiktions- oder theatrale Grenze wird verletzt. Der Modus der Erfahrung differiert somit zum oben Besprochenen. Zu den Alexanderromanen vgl. CIESLIK, 1990 und KRAGL, 2005. Vgl. generell zur curiositas in mittelalterlicher Literatur die Beiträge in BAISCH/KOCH, 2010.

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chronik (entstanden zwischen 1140 und 1150)145 wird beschrieben, dass Kaiser Nero es für ain scône spil146 hielt, Rom zu vernichten. Seine Hauptmotivation dafür, die Stadt an zwölf Enden anzuzünden und viele gewappnete Ritter in das Feuer zu treiben, sei die folgende gewesen: der kunic sprach, er wolte sehen mære, wie den chuonen Trojanæren wære, duo siu die Chriechen kolten mit fiure unt mit swerten. (KAISERCHRONIK, V. 4095-98) Der König sagte, er wolle die Erzählung sehen, wie es den heldenhaften Trojanern ergangen war, als sie von den Griechen vernichtet wurden mit Feuer und Schwert.

Nero will mære sehen; seine curiositas treibt ihn dazu, die Erzählung von Troja Wahrheit bzw. die historische Vergangenheit unmittelbare Gegenwart werden zu lassen. Mittels einer theatralen (Re-)Inszenierung will er die Zerstörung Trojas nachvollziehen. Das performative mære sehen ist Neros ‚leitmotivische‘ Sünde. Denn genauso, wie er über das Nachstellen der Zerstörung Trojas seine historische Herkunft reaktualisiert, lässt er in der darauf folgenden Episode147 seine Mutter töten und aufschneiden, erkundet so den Ort seiner Geburt und zwingt sodann Ärzte, ihn ein Kind (oder zumindest als Ersatz: eine Kröte)148 gebären zu lassen. Er reaktualisiert nicht nur seine historische, sondern auch seine biologische Herkunft und versucht, sie im Sinne einer ‚wirklichen‘ Teilhabe, d. h. am physischen Leib statt über das Körperschema, zu bezeugen. Neros Sünde basiert darauf, dass er aufgrund seiner curiositas die Grenzen zwischen den Geschlechtern, zwischen Vergangenheit und Gegenwart und damit auch die ontologische Scheidung von Realität und mære missachtet.

145 146 147 148

Vgl. NELLMANN, 2002, S. 263. KAISERCHRONIK, V. 4089 (‚ein schönes Spiel‘). Vgl. KAISERCHRONIK, V. 4105-54. Vgl. LEGENDA, S. 571.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Wie sehr diese Missachtung zu einem Topos des ‚theatral sündigen‘ Neros führt, kann man an der Ausgestaltung des Brandes von Rom in der späteren Legenda aurea des Jacobus de Voragine aus dem letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts sehen. In dieser sehr populären Legendensammlung heißt es: Deinde miratus qualis et quanta fuerit succensio Troie, Romam per septem dies et noctes succendi fecit. Quod ex altissima turri prospectans letatusque flamme pulchritudine turgido habitu Iliadem decantabat. (LEGENDA, S. 572, Z. 244f.)

Darnach verwunderte sich Nero in seinem Geist, wie groß und gewaltig der Brand von Troja müsse gewesen sein. Darum ließ er Rom anzünden und sieben Tage und Nächte brennen. Er selbst sah den Brand von einem hohen Turme und freute sich über die Schönheit der Flammen und sang mit geschwollener Stimme die Ilias.149

Nero wird als das Publikum eines von ihm selbst inszenierten SchauSpiels (mit Gesang) beschrieben: Vom ‚Schau-Platz‘ der sicheren Burgzinne aus übersieht er das tödliche Treiben und stellt durch seinen eigenen Gesang die Vermischung von Dichtung (Gesang vom untergehenden Troja), körperlicher Repräsentation derselben (theatrale Darstellung dieses Untergangs) und Realität (das faktuale Niederbrennen Roms) her. In Hinsicht auf die ‚sündige‘ Theatralität und angesichts des Fakts, dass sich beide ‚Vergehen‘ auf die Troja-Legende beziehen, kann Nero als Vorläufer der angedeuteten und unterbundenen curiositas-Sünde des Zuhörers der Zelterepisode gelten. Im Gegensatz zur unsühnbaren Verdammnis des römischen Kaisers wird bei Hartmann jedoch die quasiadamitische Benennung durch das humoristisch-absurde Münden in den Ratschlag, doch lieber zu Hause zu bleiben und übertriebene Neugierde zu unterlassen, exkulpiert. Das curiositas-Bestreben wird auf scherzhafte Weise als eher vergebliches denn sündiges Unterfangen enttarnt.150 149 Übersetzung: RICHARD BENZ. 150 Hartmanns Verfahrensweise in der Zelterepisode ist in der höfischen Literatur nicht einmalig. Wernher der Gartenære erhebt das Prinzip der Überführung von zweidimensionaler Fiktionsdarstellung in die Realität zur Grundmotivation seines Protagonisten im Helmbrecht. Hier erhält ein

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Die Annäherung von Fiktion und realer Welterfahrung wird so als ‚glückliches Scheitern‘ inszeniert, das sich mit Hartmanns im IweinProlog programmatisch geäußertem Wunsch deckt, es sich in der Gegenwart mit Erzählungen anstelle von Taten gut gehen zu lassen.151 In der Zelterepisode wird über die Leitung des imaginären Blicks und die körperliche Einbindung des Zuschauers im Vorgang der kinästhetischen Wahrnehmung in mehreren Schritten eine extreme Engführung von fiktiver und realer Welt kreiert, eine Engführung, die erst im letzten Schritt wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Hartmann betont, wie auch im fingierten Dialog mit dem Rezitator, dass nur der Text einen Anspruch auf Wahrheit erheben kann, und lässt deshalb die Überschneidung von fiktiver Welt und Realität in der imaginatio des Rezipienten scheitern. Letztendlich lässt er so die performative Vermittlung durch den Rezitator sowie die Imaginationsleistung des Rezipienten gegenüber dem Wahrheitsanspruch des Texts als nichtig erscheinen. Diese performativ aufwendig formulierte ‚Performanzfeindlichkeit‘ ist evtl. aus dem Bemühen zu erklären, eine Art der Literaturvermittlung zu fördern, die sich von den Traditionen der rein oralen Erzählweise lossagt und eine textorientierte Performativität als neues Medium etabliert. Das Gattungs- und dabei Aufführungsnormen etablierende Bestreben hinter Hartmanns Zelterepisode ist somit ein ähnliches, wie es sich

Bauernbursche über Umwege eine mit Bildern aus der Troja-Sage, dem Rolandslied und der Dietrich-Sage bestickte Haube, die im Prolog der Dichtung beschrieben wird; vgl. HELMBRECHT V. 9-106. Das Bestreben des Bauernburschen ist es, die auf der Haube abgebildeten Heldentaten in der Realität umzusetzen. Die Bilder werden durch die descriptio der Haube gewissermaßen auf (und in) seinen Kopf projiziert und bilden den Katalysator seiner folgenden Taten. Wernher inszeniert dabei noch deutlicher als Hartmann die Zwecklosigkeit des Unterfangens, Fiktion in reale Welterfahrung zu überführen, wobei bei ihm der Grund des Scheiterns ein anderer ist: Der Bauernbursche wird aufgrund seiner Herkunft statt zur leuchtenden (oder sei es auch nur Don-Quijote‫ތ‬schen) Rittergestalt zum marodierenden Raubritter. Obwohl die Fiktionsüberführung im Helmbrecht die histoire selbst bestimmt und nicht, wie bei Hartmann, direkten Bezug auf die Präsentationsweise des Romans nimmt, ist die Aussage der Zelterpassage und dieses Romans ähnlich: Eine Überführung der zweidimensionalen Fiktion in ‚Realität‘ (respektive reale Weltwahrnehmung) ist zum Scheitern verurteilt, ganz gleich, ob die Fiktion durch die Aufführung oder aber durch Taten einer Figur ‚realisiert‘ wird. 151 Vgl. IWEIN, V. 47-58; siehe Kapitel 2.1.

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an Chrétiens Problematisierung der medialen Situation im Erec et Enide-Prolog zeigte.152 Damit – und mit dem Bezug auf Heinrichs von Veldeke Eneas – liegt es nahe, in der Ausdifferenzierung der Performativität als neuen medialen Zustand einen gattungsetablierenden Zug des frühen französischen wie deutschen Artusromans zu sehen.

*** Um die Annahme kontrastiv stärken zu können, dass es sich bei der performativen Ausgestaltung der Zelterepisode um ein Phänomen handelt, das von einer Reaktion auf einen gerade eben ablaufenden ‚Medienwechsel‘ zeugt, empfiehlt es sich, den Beginn der Artusliteratur zu verlassen und sich zum Vergleich performativer und kinästhetischer Techniken einem so genannten ‚nachklassischen‘ Text zuzuwenden. Ich wähle dazu eine Szenenfolge der 1230, also rund ein halbes Jahrhundert nach dem Erec, zu datierenden Krone des Heinrich von dem Türlin.153 Dort reitet der Protagonist Gawein mit anderen Rittern zu einem Turnier; sie kommen in einen Wald mit dem viel versprechenden Namen Aventuros; der Protagonist achtet nicht auf seine Gefährten und wird von ihnen getrennt. Ohne sich dessen bewusst zu sein, verliert der Held mit einem Mal den Anschluss an das ihm gewohnte höfische Sozialgefüge und wird von seinem Pferd in ein fremdes Gebiet getragen.154 Alles spricht dafür, dass nun ein Drache, ein wildes Weib oder ein anderes Ungeheuer aus dem Dickicht bricht und Gawein in einen Kampf verwickelt. Doch für die nun folgende erste Wunderkette gilt (mit Einschränkungen) das Gleiche, was Wandhoff für den narrativen Status der Zelterepisode konstatiert: An der Stelle, an der sich Gawein aus seinem gewohnten sozialen Gefüge löst, findet ebenfalls eine Loslösung aus dem (dem Zuhörer gewohnten) Handlungsraum statt. Zwar gibt es noch immer einen Protagonisten, doch anstatt aktiv Aventüren 152 Siehe Kapitel 3.2. 153 Die behutsam normalisierte Textausgabe Gudrun Felders sowie die lang erwartete Prosaübersetzung Florian Kragls erschienen zu einem Zeitpunkt, als der geplante Termin der Drucklegung dieser Arbeit schon verstrichen war. Ich bitte deshalb zu entschuldigen, dass ich die beiden Monographien nur noch in aller Kürze vergleichend heranziehe; vgl. FELDER, 2012, und KRAGL, 2012. 154 Vgl. KRONE, V. 13925-57.

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zu bestehen, zieht dieser nun an irritierenden Momentaufnahmen vorbei, ohne in das im Vorüberreiten Wahrgenommene einzugreifen. Dort, wo dem Zuhörer (vor allem über den Namen des Walds) Aktion in einem Handlungsraum in Aussicht gestellt worden ist, befindet er sich plötzlich in einem Schauraum an die Sinne eines passiven Protagonisten gekoppelt. Nachdem Gawein sieht, wie 600 Ritter von einem Schwert und einer Lanze, die jeweils über einem unbemannten weißen Pferd schweben, niedergemetzelt werden, folgt er der Spur dieser Pferde und reitet an allen weiteren Bildern der ersten Wunderkette155 vorbei, ohne in sie einzugreifen. Mehrere Deutungen von Gaweins Verhalten sind möglich:156 Man kann in Gaweins Beharren auf der Verfolgung der Pferde einen intertextuellen Verweis sehen,157 denn nachdem er das Niederschlachten der 600 Ritter durch die über den Pferden schwebenden Waffen gesehen hat, heißt es:

155 Das Bildhafte des Raums wird noch deutlicher, wenn man die erste mit der zweiten Wunderkette vergleicht. In der ersten eröffnen sich Rätselbilder, in der zweiten soziale Provokationen, denen Gawein sich aufgrund des von Aanzim auferlegten Verbots immer wieder verweigern muss; vgl. WYSS, 1981, S. 280. Die zweite Wunderkette ist im Gegensatz zur ersten ein potenzieller Handlungsraum, jedoch mit Aktionsinterdiktion, was die sozialen Provokationen, die in einem normalen Handlungsraum zum sofortigen Kampf führen würden, für den Zuhörer (und zwangsweise auch für den Helden) auf einen bildhaften Status forciert. 156 Ein Erklärungsmuster der Passivität wird in den folgenden Betrachtungen keinen Niederschlag finden: Es gibt eine Tendenz der Krone-Forschung, die Gaweins aufgezwungene Passivität als eine Wendung Heinrichs gegen ritterliche oder arthurische Werte deutet; vgl. MEYER, 1994, S. 134f., WAGNER-HARKEN, 1995, S. 307 und STEIN, 1997, S. 159. Ich schließe mich Bleumers Ablehnungen dieser Positionen an, der deutlich zeigt, dass es sich bei Gaweins Verhalten in den Wunderketten um keine Verfehlungen an oder ironische Distanzierung zu ritterlichen Werten handelt; vgl. BLEUMER, 1997, S. 248f. 157 Dies ist der wohl häufigste Ansatz. Er findet sich mit verschiedenen Gewichtungen der intertextuellen Bezüge Heinrichs auf entweder Chrétiens Conte du Graal, Wolframs Parzival oder die Première Continuation, seltener die Deuxième Continuation des Chrétien’schen Fragments, u. a. bei GOLTHER, 1925, S. 228f.; CORMEAU, 1977, S. 165f.; JILLINGS, 1980, S. 108f.; BUSCHINGER, 1981, S. 12f.; WYSS, 1981, S. 272f.; ZACH, 1990, S. 162f.; SCHMID, 1994 und BLEUMER, 1997, S. 238f.; zusammenfassend: FELDER, 2006, S. 358-365.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf Als er den jamer ersah, Der also tougenlich geschah, Des nam jne hart wonder, Das ir nyeman dar vnder An dem strijde was genesen, Was die rede solte wesen. [...] Als sie nü alle warn erslagen, Er sah die rosz hin tragen Dis sper vnd das swert. Gawein das mit flijsze begert, Das er die auentùre beieit, Ob er ieman fùnde, der yme seit, Was es betùden sold.

Als er diesen Schrecken sah, der so geheimnisvoll geschah, wunderte er sich sehr darüber, dass keiner von ihnen [den Rittern] den Kampf überlebt hatte, und fragte sich, was die Erklärung sein könne. [...] Als sie nun alle erschlagen waren, sah er die Pferde diese Lanze und das Schwert hinforttragen. Gawein begehrte geflissentlich, die Aventüre zu erringen, und jemanden zu finden, der ihm sagte, was dies bedeuten solle.

(KRONE, V. 14076-91)

Gaweins Grund, die Pferde zu verfolgen und alle anderen Wunder an sich vorüberstreichen zu lassen, ist, dass er jemanden nach dem Grund für das Massaker fragen möchte. Nach der in einem Handlungsraum herrschenden Logik ist dies eine äußerst schwache Begründung dafür, sich unzählige andere Abenteuer entgehen zu lassen. Man würde eher erwarten, dass Gawein auf die Erklärung der einen Aventüre verzichtet, solange er andere unter Einsatz seines Lebens bestreiten darf. Nicht die forschende Frage, sondern die unwissende (doch klärende) Handlung ist die ideale Motivation ritterlicher Taten. Die Begründung für Gaweins Verhalten ist somit nicht handlungslogischer Art. Sein Ziel, jemandem eine Frage der Verwunderung zu stellen, spielt in der Gralsdichtung eine entscheidende, über den konkreten Handlungszusammenhang hinausdeutende Rolle: Im ersten Gralsroman, Chrétiens Conte du Graal, ist Percevals entscheidender Fehler, dass er angesichts des Gralsrituals seine Verwunderung nicht in einer Frage ausdrückt.158 Schon das erste Bild der Wunderkette, die einen toten 158 „Um den kranken Fischer-König zu erlösen, hätte Perceval fragen müssen: ‚Warum blutet die Lanze? Wen bedient man mit dem Gral?‘. Das ist bei Chrétien der Wortlaut der Erlösungsfrage. [...] Wolfram hat den Zusammenhang zwischen der Gralsprozession und der Erlösungsfrage gelockert. Im deutschen Parzival zielt die Frage nicht auf das, was sich vor seinen Augen abspielt (‚Wen bedient man mit dem Gral?‘), sondern auf die Leiden des Königs. Die von Parzival erwartete Frage lautet: herre, wie stêt iwer nôt? (484,27); im 16. Buch formuliert Parzival die Frage so: œheim,

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Ritter be- und „Parcifaln“ anklagende Frau,159 muss das Publikum an Percevals trauernde Cousine erinnert haben, die bei Chrétien dem Protagonisten nach dem ersten Gralsbesuch seine Schuld unterbreitet. Wenn also Gawein nach dem Betrachten des wundersamen Gemetzels seiner Neugierde nachgeht, kann man als metafiktionale Motivation für seine Passivität eine intertextuelle Reflexion auf Percevals Schuld vermuten.160 Zu dieser Motivation passt auch der Anfang der Wunderkette, an dem Gawein – parallel zu Percevals Versagen – versäumt, der Cousine/Sigune-Gestalt161 eine Mitleidsfrage zu stellen, genauso wie ihr Ende, an dem Gawein – im Gegensatz zu Perceval jedoch ohne wirkliche Schuld auf sich zu laden –162 seinerseits vor der Gralsgesellschaft versagt.163

159 160 161

162 163

waz wirret dier? (795,29)“; BUMKE, 1997, S. 108f. Bei Chrétien steht die Erlösungsfrage handlungslogisch in einem engen Zusammenhang mit dem vom Helden Wahrgenommenen; sie ist eine, wie sie oft genannt wurde, ‚Neugierfrage‘ (was ihren Status gegenüber der Wolfram’schen ‚Mitleidsfrage‘ nicht mindert). Die Krone kopiert in Gaweins Verhalten diesen engen Zusammenhang von wundersamem Geschehnis und erlösender Neugierde, teils gewiss auch, um die Mitleidsfrage des deutschen Parzival, wie so viele andere Aspekte der Wolfram’schen Bearbeitung der französischen Vorlage, zu negieren. An dieser Stelle zeigt sich das, was Elisabeth Schmid generell zu Heinrichs Umgang mit seinen Vorgängern feststellt: „Ein Schwanken zwischen aggressiver Herabsetzung und ehrgeiziger Aneignung kennzeichnet besonders die Auseinandersetzung des Crone-Dichters mit speziell wolframschen Erfindungen. Während sich seine Undankbarkeit gegenüber Chrestien darin äußert, daß er ihn ausschließlich dort vermerkt, wo er nichts von ihm hat, drückt sich [...] die Rivalität mit Wolfram eher in gezielten Gegenstößen aus“; SCHMID, 1994, S. 269. Die Interpretation von Parzivals Gralsvergehen als perzeptive Fehlleistung ist jedoch auch bei Wolfram möglich; vgl. DIETL, 2007; s. o. Vgl. KRONE, V. 13979-14021. Vgl. SCHMID, 1994, S. 277f. Vgl. CONTE, V. 3422-3690. Bei Wolfram heißt diese Dame Sigune, ein Name, der eventuell durch die Vertauschung der Silben von „cousine“ (CONTE, V. 3600) im Chrétien’schen Text entstand. Es ist bezeichnend, dass Heinrich in Ablehnung der Wolfram’schen Namensgebung die klagende Frau unbenannt lässt. Aufgrund dieses Vorzugs, den Heinrich dem Chrétien’schen Fragment gegenüber Wolframs Parzival einberaumt, empfiehlt es sich, die von Cormeau eingeführte Bezeichnung der Dame als „Sigune-Kopie“ (CORMEAU, 1977, S. 194) zu relativieren. Vgl. BLEUMER, 1997, S. 245f. Vgl. KRONE, V. 14739-839. Bleumer spricht bei der finalen Szene der ersten Wunderkette von einem „Gral-Analogon“ (BLEUMER, 1997, S. 243),

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Die Frage nach dem Grund für Gaweins Passivität ist nicht nur hier, sondern in allen Wunderketten ein Schlüssel für den Zugang zu den Passagen. In der zweiten Wunderkette wird Gawein vor Beginn der Wundererscheinungen ganz unmissverständlich der Auftrag erteilt, sich von dem Wahrgenommenen auf seinem Weg nicht beirren zu lassen. Die Passivität wird so als generelle ‚Spielregel‘ der Wunderketten festgelegt. Als der Held dann doch nach sich steigernden Forderungen klagender Jungfrauen und kampfeslustiger Ritter in das Geschehen entgegen dieser Regel eingreifen will, taucht eine Jungfrau auf, die ihn mittels eines Zaubers vom Kampf abhält. Als Begründung gibt diese Botin der Sælde, Gaweins persönlicher Schutzpatronin, das Folgende an: ‚Was wöllent ir tĤn? Lant stan,

‚Was habt ihr vor? Lasst es sein!

Her Gawein, ir v` bent schaden,

Herr Gawein, Ihr begeht einen Frevel,

Da mit zü hant wùrd geladen

mit dem sogleich König Artus,

Kùnig Artus, vwer öheim,

Euer Oheim, und Euer gesamtes

Vnd alle vwer vatter heim.

Vaterland belastet würden.

Wöllen ir den ritter besteen,

Wenn Ihr diesem Ritter entgegentretet,

Der kumber müsze von ùch ergeen, würde das gleiche Leid von Euch verursacht, Der von Parcifal geschah,

das von Parcifal angerichtet wurde,

Das er da niht ensprach!‘

weil er dort nicht gesprochen hat!‘

(KRONE, V. 16356-64)

Gaweins Eingreifen in die Wunderkette hätte gleich dem Schweigen Parcifals (respektive Percevals) vor dem Gral Artus und dessen Reich ins Unglück gestürzt. Der intertextuelle Bezug zum Gralsversagen des französischen Perceval wird an dieser Stelle konkretisiert. Die Frage ist nur, warum der Fehler Percevals, d. h. eine ausbleibende Reaktion auf das Wahrgenommene, dem genauen Gegenteil, d. h. einer anbefohlenen Passivität gegenüber sensuellen Reizen, entsprechen

das, ohne die Gralssphäre als solche zu beschreiben, einerseits an Gaweins ersten Besuch der Gralsburg in der Première Continuation (vgl. GOLTHER, 1925, S. 228f.), andererseits an Parzivals Unheil bringenden Aufenthalt auf Munsalvæsche gemahnt: „Die Szenerie erinnert an Parzivals ersten Gralsbesuch, nur lässt sie sich nicht eindeutig als ein solcher identifizieren“; BLEUMER, 1997, S. 245.

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soll.164 Eine mögliche Antwort ist,165 dass Heinrich Percevals Fehler als ein dezidiert perzeptives Vergehen, also als eine Fehlleistung der Wahrnehmung versteht. Heinrich hatte über eine humoristische Übersetzung von ‚Parce-val‘ als ‚Furchenpflüger‘166 indirekt zu einer eigenständigen Beschäftigung des Zuhörers mit der Wortbedeutung des französischen Namens aufgerufen. Hinsichtlich der Wahrnehmungsproble164 Wyss stellt sich aufgrund dieser beinahe konträren Bedingungen die Frage, „inwieweit Gawein sich von dem Fehler Parzivals warnen lassen soll“ (WYSS, 1981, S. 272), ebenso wie Schmid zu dieser Stelle anmerkt: „Gaweins Aktivität verhält sich somit zum Heil des König Artus wie Parzivals Passivität zur Heilung des Gralskönig. Von Gawein wird gerade verlangt, was in Parzivals Fall Unheil bewirkte: Abstinenz. Wie soll man diese Umkehrung lesen?“; SCHMID, 1994, S. 284. 165 Schmids Vorschlag, die Situation durch einen intertextuellen Bezug auf das bei Chrétien von Gauwain nur zögerlich bestrittene Turnier in Tintagel (vgl. CONTE, V. 5098ff.) zu beziehen (vgl. SCHMID, 1994, S. 284), ist von dem Vorhaben geleitet, alle Vagheiten der Wunderkette als intertextuelle Verweiselemente zu entpuppen. Schmid trifft dabei mehrmals, jedoch immer implizit die Feststellung, dass es sich bei den Wunderketten um eine Herausforderung der Wahrnehmung Gaweins handelt – implizit deshalb, weil sie den Wahrnehmungsmodus nie als selbstständiges Phänomen in den Fokus der Betrachtung nimmt, sondern auf den intertextuellen Konnex mit der Gralsfrage reduziert. 166 In einem Exkurs zu Wolfram verballhornt Heinrich den Namen der Figur seines Vorgängers wie folgt: Wan er ir [der muoter] vil guoter Jr pawes in dem walde phlak Vnd emzechlich dar ob lak, Daz si da het gereutet. Als sich sein nam deutet, Wan ‚parce‘ sprichet durch, ‚Val‘ ein tal oder ein furch. Also hat in vnser zvnge Sein nam diu deutvnge. (KRONE, V. 6385-93)

Denn er, [Mutters] Liebling, kümmerte sich im Wald um ihr Anwesen, und bemühte sich eifrig um das von ihr urbar gemachte Land. Dem entsprechend ist auch sein Name zu deuten: Denn ‚parce‘ heißt ‚hindurch‘, ‚val‘ [bedeutet] ein Tal oder eine Furche. So kommt sein Name in unserer Sprache zu seiner Bedeutung.

Nach Schmid „attackiert Heinrich hier Wolframs pathetische Deutung von Parzivals Namen. [...] Heinrich leitet Parzivals Wesen und Begabung ganz aus der bäuerlichen Scholle her“; SCHMID, 1994, S. 268f.; vgl. PARZIVAL, V. 140,16-19. Die Andeutungen auf eine inzestuöse Beziehung zwischen Herzeloyde und Parzival über die sexuellen Konnotationen der agrikulturellen Tätigkeiten scheint mir den beleidigenden Charakter der Verse noch zu stärken. Mit dieser offensichtlich falschen und pejorativ-humoristischen Namensdeutung könnte Heinrich die implizite Aufforderung verbinden, sich eine eigene, nicht auf Wolfram zurückgehende Übersetzung des von Chrétien erfundenen Namens herzuleiten.

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matik könnte man vermuten, dass Heinrich so andeutet, dass der Name des Chrétien’schen Helden im Conte du Graal vom französischen percevoir abstammen könnte: Perceval, ein Held der (krisenhaft scheiternden) Wahrnehmung.167 Wie Cora Dietl in einer Untersuchung des Frageversäumnisses und des zweiten Sigune-Gesprächs in Wolframs Werk darlegt, ist schon bei Wolfram der Grund für Parzivals Frageversäumnis ein perzeptiv-epistemologischer: „Parzivals ‚Fehler‘ […] besteht in der Wahl des falschen Erkenntniswegs, besser in der mangelnden Einsicht in die Grenzen der eigenen Erkenntnis. So gilt der Gesichtssinn zwar als zuverlässig ad noscendum und zum Erfassen dessen, quae fiunt, was aber jenseits der Reichweite des menschlichen Geistes liegt, kann der (äußere) Gesichtssinn nicht erfassen. […] Um das nicht mehr rational Erfassbare, nicht mehr aus Sinneseindrücken Abstrahierbare zu erfassen, bedarf es des Verzichts auf die Sicherheit des Gesichtssinns und des Sichverlassens auf den sich mitteilenden Gesprächspartner.“168

Das Thema der krisenhaften Wahrnehmung prägt also alle drei Varianten der Perceval/Parzival/Parcifal-Figur – die Chrétien’sche, die Wolfram’sche und die bei Heinrich. Um die Perzeption als die Qualität zu stärken, bezüglich der ‚sein‘ Gawein Parzival übersteigt, erschafft Heinrich – so meine Hypothese – mit den Wunderketten einen ‚Übungsraum der Wahrnehmung‘, in dem

167 Eine Erhärtung der hier formulierten Vermutung findet sich in der Passage KRONE, V 13995-14003, in der die Aufgabe des Helden, richtig wahrzunehmen, als Befehl des Gralsherren formuliert wird. Zur Übersetzung und Diskussion dieser Textpassage siehe Kapitel 3.4.2. 168 DIETL, 2007, S. 285. Hartmut Bleumer beschreibt eine ähnliche Herausforderung (und auch einen den Wunderketten vergleichbaren WahrnehmungsDiskurs) anhand von Partonopier und Meliur des Konrad von Würzburg; vgl. BLEUMER 2010. Bleumer nennt die Herausforderung des Protagonisten, die blendende Stadt Schiefdeire wahrzunehmen (mit Verweis auf EMING, 2006, S. 169f.) eine ‚kognitive‘; vgl. BLEUMER, 2010, S. 213. Der Grund, im obigen Text lieber mit dem Begriff der ‚perzeptiven‘ Herausforderung zu arbeiten, ist, dass ‚Kognition‘ zu stark auf ein ‚Erkennen‘ jenseits der bloßen Sinnlichkeit verweist. Dass Perzeption und Kognition gerade bei einem Wahrnehmungsdiskurs dazu bestimmt sind, auseinanderzutreten, wird die Gralsszene der Krone zeigen; siehe Kapitel 3.5.

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die perzeptiven Fähigkeiten der Figur genauso wie die Wahrnehmungsleistungen des Rezipienten auf den Prüfstand gestellt werden können.169 Diese (vorerst noch präsupponierte) Bedeutung der Passagen liefert neben der intertextuellen eine weitere, der Handlungslogik enthobene Erklärung für Gaweins Passivität: In den Wunderketten und der Gralssphäre wird eine wahrnehmungstechnische und somit mediale Fragestellung in den Vordergrund gerückt, die Gaweins Handlungsunfähigkeit benötigt, um zum Diskurs erhoben werden zu können. Dazu müssen die Wunderketten nicht mehr den narrativen Konventionen der epischen Erzählweise, sondern einer Bilderlogik gehorchen. 170 In diesem medialen Sinne gleicht die Vermittlung des Bildprogramms in der ersten Wunderkette dem in der Zelterepisode, wo dem Publikum auch auf einer heterodiegetischen Ebene Bilder präsentiert werden, die nicht in den Handlungsverlauf eingebettet sind. Der Text imitiert in der Krone wie im Erec ein anderes Medium, nämlich das Gemälde. Dementsprechend ist es selbstverständlich, dass Gawein als die die Bilderfolge wahrnehmende Instanz gar nicht agieren darf: In ein Gemälde kann man eben nicht eingreifen. Die Aufgabe des Helden ist es also nicht, handelnd auf das Geschehen einzuwirken, sondern dessen Wahrnehmung zu sichern. Seine erzwungene Passivität und das ‚Einfache‘ (Naive) und ‚Ungeschlachte‘ der Wahrnehmung171 machen Gawein zum ‚Idealzeugen‘ der wunderbaren Ereignisse, denn nur der nicht in seine Umwelt Verwickelte, die „Grenzfigur“,172 kann – dies natürlich 169 Siehe Kapitel 3.4. 170 Vgl. WYSS, 1981, S. 271f. 171 Michel de Montaigne stellt in einer Betrachtung in seinen Essais diese Verbindung zwischen dem ‚Ungeschlachten‘, ‚Naiven‘ und dem Ideal unverfälschter Zeugenschaft her und antizipiert so das im Folgenden (siehe Kapitel 3.3.1) als ‚Apparathaftigkeit‘ des Zeugen Bezeichnete: „Dieser Mann, den ich bei mir hatte, war ein einfacher, ungeschlachter Mensch, was eine günstige Voraussetzung ist, um wahrheitsgetreu Zeugnis abzulegen; denn die feinen Köpfe beobachten wohl wißbegieriger und merken mehr auf Dinge, aber machen sich ihren Vers dazu“; Montaigne [Essais I, XXXI], 1992, S. 230. 172 An literarischen Beispielen stellen Sibylle Schmidt und Ramon Voges ein „typische[s] Verständnis des Zeugen als einer Grenzfigur [fest]: Am Rande des politischen und ökonomischen Zentrums verortet, verkörpert er Unparteilichkeit und Unbestechlichkeit“; SCHMIDT/VOGES, 2011, S. 10. Aufzuzeigen, dass dies eine Idealsetzung ist, die eben nur in der Kunst, jedoch nie real auftritt, dass also der Zeuge stets auch sozial verankertes Indivi-

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nur theoretisch – ohne subjektive Färbung transmissiv bezeugen. Dadurch, dass Gawein nicht Teil der wundersamen Handlungen sein darf, wird die Grundlage für eine ideale Übertragungsmedialität geschaffen. Im Falle der Wunderketten erweist sich diese ‚Idealbezeugung‘ jedoch jenseits ihrer Gundlagensetzung als äußerst schwierige Aufgabe. Der Held hetzt vom einen Sinneseindruck zum nächsten und kann keinen von ihnen im gebührenden Maße verinnerlichen: Er hört die Kampfgeräusche der 600 Ritter (Akustik) und will die Schlacht sehen – deshalb muss er die klagende Jungfrau am Wegesrand stehen lassen und kann ihre Geschichte nicht erfahren. Dann ist er Betrachter der so teuer erkauften Kampfszenerie (Visualität), doch er kann sie nicht begreifen – weshalb er an allen weiteren Wundern vorbeireiten muss. In diesem ‚Vorüberhuschen‘ der Bilder ist deren Wahrnehmung jedoch nicht nur für den Helden, sondern ebenso für den Zuhörer gefährdet, denn dessen Körperschema ist über Fokalisierungstechniken und kinästhetische Teilhabe an die Sinne des passiven Protagonisten gekoppelt. Für diese Kopplung funktionalisiert Heinrich im Sinne der Kinästhetik u. a. die Strecken zwischen den Bildern, die dem Dichter immer mehrere Verse wert sind. 173 Ich versuche, die Technik in meiner Übertragung nachzuzeichnen:174 Ùber das gebirge reit er hin, Darzü yme denn stunt sin synn. Da kam er in ein ander lant, Dar jnne wart yme bekant Ein auentùre, die schöne was.

Über das Gebirge ritt er hin, denn so stand ihm grad’ sein Sinn. Da kam er in ein and’res Land, in dem er eine Aventüre fand, die schön anzuschauen war.

(KRONE, V. 14267-71)

duum ist und Zeugenschaft somit immer „eine doppelte Autorität: eine epistemische und eine soziale“ (ebd., S. 10) aufweisen muss, gehört zu den Hauptinteressen des bezüglich der aktuellen Zeugenschaftstheorie ausschlaggebenden Bandes Politik der Zeugenschaft; vgl. SCHMIDT/KRÄMER/ VOGES, 2011. 173 Die einzige Ausnahme ist der Bildwechsel zwischen dem gefesselten Riesen und der Frau auf dem Dreihorn; vgl. KRONE, V. 14148. 174 Ich möchte an dieser Stelle Prof. Dr. Dietmar Peschel danken, der mich mit einem Vortrag über die Tabus der mediävistischen Übersetzungstechniken dazu ermutigte, in diesem wie in den Versuchen in Kapitel 4.1.1 entgegen der wissenschaftlichen Konvention nicht die bloße Semantik und neben dem rationalen auch ein ‚anderes‘ Verstehen als Ziel der Übertragung zu behaupten.

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Durch die Rhythmik der Verse sowie durch die suggestive Wirkung der Laute wird die fiktive Landschaft zu einer vom Rezipienten quasikörperlich erfahrbaren: Der Zuhörer wandert durch die Höhen und Tiefen der Laute wie Gawein durch die der Landschaft.175 Dies wird besonders deutlich in der zweiten Wunderkette, die sich im Gegensatz zur ersten im begrenzten Raum eines Walds abspielt. Dort werden statt der Durchquerung weiter Landschaften die multisensuellen Beschreibungen von Naturphänomenen dazu genutzt, die Wahrnehmungen von Figur und Zuhörer kinästhetisch miteinander zu verknüpfen: Von stemmen vnd von esten

Von den Stämmen und Ästen

Übete sich ein groszer schall.

kam ein großer Lärm.

Nü begann der walt `vber al

Nun begann überall der Wald

Nidder vallen vil dick,

heftig in sich zusammenzufallen.

Dar zùschent kamen blick

Dazu zuckten die Blitze

Von einem starcken schure,

eines starken Unwetters,

Der was also sure,

das so heftig war,

Das er sneit vnd brant

dass es Holz und Steinwand176

Beyde holtz vnd steyn want,

zerschnitt und verbrannte, was auch

Was er des vor yme vant.

immer ihm davon in den Weg kam.

(KRONE, V. 16010-19)

Viele Reize gehen von wenigen Versen aus: Der Lärm der fallenden Steine und Äste regt den Hörsinn, das Zucken der Blitze den Sehsinn177 an; durch die chiastische Anordnung der Verben sneit/brant und der Materialien Holz/Stein werden der Tast- und indirekt auch der Geruchs-

175 Hier klingt eine lautmalerische Technik an, die in Kapitel 4.1.1 als ‚Grausamkeit der Sprache‘ eingehender untersucht wird. 176 (Mhd.) holz und (mhd.) stein stehen im metonymischen Sinne für (nhd.) ‚Wald‘ und (nhd.) ‚Felsen‘; so auch KRAGL, 2012, S. 238. Meine Übertragung löst die Metonyme nicht auf, da nur unter Beibehaltung der Materialbezeichnungen und der entsprechenden Art der Zerstörung die ‚taktile‘ Konstruktion der Verse erhalten bleibt. 177 Die Reizung des Sehsinns wird sogar noch deutlicher, wenn man die Doppelsemantik von (mhd.) blic (im Text blick) als einerseits Blitz und Glanz, andererseits aber auch Blick der Augen mit in Betracht zieht; vgl. LEXER, 1992, S. 23. Zur Bedeutung dieser Ambiguität siehe auch Kapitel 3.4.3.

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sinn angesprochen.178 In den darauf folgenden Versen wird die ‚mitleidende‘ Teilhabe des Zuhörers noch durch die antithetisch konstruierte Beschreibung von Feuerregen und Schneefall gesteigert.179 Ob nun durch das lautmalerische Durchqueren von Landschaften oder die suggestive Naturerfahrung im Wald: Die Strecken zwischen den Bildern werden stets zu einer Teilhabe der Zuhörer (mittels ihrer Körperschemata) an der (fiktiven) Körperlichkeit des Protagonisten genutzt. 180 Als Gawein betrachtet, wie über Pferden schwebende Gralswaffen 600 Ritter erschlagen, heißt es: Wer sie fürte ader wie sie lebten

Wer sie führte oder wodurch sie lebendig

Ader wer mit jnen slüge

waren oder wer mit ihnen schlug

Ader sie zü strijde trüge,

oder sie zum Kampf trug

Daz enkunde Gawein nit ersehen,

konnte Gawein nicht erkennen.

Wenn manig tyost vnd schehen

Gleichwohl sah er sie manch Tjost und

Sah er sie vber den ring nemen,

Anritt über den Kampfring machen

Vnd beyde wonden vnd lemen

und verwunden wie verkrüppeln

Sahe er sie one twale,

sah er sie ohne Unterlass,

Das ir zĤ iglichem male

sodass von ihnen [den Rittern] jedesmal

Wol drijszig vielent vf den sant

rund dreißig tot in den Sand fielen,

Dot nach der tyost zü hant

direkt nach der Tjost

Vnd ie nach dem puneiz.

und jeweils nach dem Stoß.

So sah man des blütes sweisz

So sah man des Blutes Nässe

An dem spere rynnen zü tal [...].

an der Lanze hinablaufen.

(KRONE, V. 14053-66)

178 Die Konstruktion bricht mit der Konvention, taktile Eigenschaften mit der Nennung der verarbeiteten Materialien abzuhandeln (vgl. WANDHOFF, 1996, S. 175). Stattdessen verbindet sie die Materialien (holtz/steyn) chiastisch mit der Art ihrer Behandlung (sneit/brant). So wird das Taktile über ‚Bewegungsangebote‘ für den Zuhörer zum kinästhetisch Nachvollzug bereitgestellt. 179 Vgl. KRONE, V. 16020-52. 180 Meyer stellt fest: „Der traumhafte Zustand dieser Aventiure wird – besonders in der Wunderkette – durch die stete Betonung des Weges erreicht“; MEYER, 1994, S. 124. In der vorliegenden Arbeit kann dieser Einschätzung nicht zugestimmt werden. Der Weg stellt ein sicherndes Element in der Beziehung zwischen Gawein und dem Zuhörer dar. Das (Alb-)Traumhafte ist vielmehr in dem im Zuhörer erweckten ‚Erahnen-doch-nicht-Ergründen-Können‘ der Bilder verankert, das in der diffusen Darstellung des Grals den Höhepunkt erreicht; siehe Kapitel 3.5.

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Mehrmals – und nicht nur auf den Sehsinn bezogen – findet man in den Wunderketten diese Abfolge: Nach einer mehrmaligen Wiederholung von einem auf die Figur bezogenen ‚sah er‘ (bzw. ‚hörte er‘) mündet die Konstruktion in ein ‚sah man‘ (bzw. ‚hörte man‘), das die allgemeine Wahrnehmung des Publikums meint.181 Betrachtet man dieses Phänomen aus der narratologischen Perspektive Gérard Genettes,182 so erkennt man in dieser Abfolge eine Variante der Fokalisierung,183 die jedoch durch das Einmünden des figuralen in den rezipierenden Blick zu mehr als nur einem Mittel personaler Erzähltechnik wird: Die Distanzhaltung, welche die Rezeption einer fokalisierten Narration prägt (also bspw. das Bewusstsein, die Welt durch die Augen einer Figur zu sehen und deshalb der Wahrnehmung im Sinne der erzählerischen Unzuverlässigkeit zu misstrauen),184 wird in den Wunderketten nicht auf181 Für die Zuspitzung der figuralen auf die Wahrnehmung des Zuhörers hinsichtlich der Akustik vgl. KRONE, V. 13958, 13964 und 14071. 182 Vgl. GENETTE, 1972. 183 Fokalisierung bezeichnet im Normalfall „eine Konstituente der Erzählsituation und bezieht sich auf die Funktion des focalizer, einer narrativen Vermittlungsinstanz, die G. Genette mit den Leitfragen ‚qui voit?‘ [...] bzw. ‚qui perçoit?‘ [...] erfaßt, im Unterschied zum Erzähler, nach dem er mit ‚qui parle?‘ fragt. [...] Bestimmend für eine erkennbare F[okalisation] sind die Existenz eines Perspektivzentrums in der Erzählung, die Partialität der von diesem erfaßten Sachverhalte sowie deren Begrenzung durch einen mit dem jeweiligen Standpunkt gegebenen Horizont“; WOLF, 2001, S. 186f. 184 Vgl. BOOTH, 1961. „Booth [...] bezeichnet einen Erzähler als zuverlässig, wenn er für die Normen des Gesamtwerks (d. h. die Normen des impliziten Autors) eintritt oder in Übereinstimmung mit diesen handelt, und als unzuverlässig, wenn ein Widerspruch zwischen den Normen des impliziten Autors und denen des Erzählers auftritt“; ZERWECK, 2001, S. 654f. Nach Booths Definition sorgt (in der modernen Literatur) ein Ich-Erzähler oder aber ein personaler focalizer per se für erzählerische Unzuverlässigkeit. Rezeptionsästhetisch sorgen Ich-Erzählungen und stark fokalisierte Darstellungen also generell für eine Distanzhaltung, welche aus der Diskrepanz zwischen der Figurenkonzeption und der Haltung des Lesers entsteht; vgl. NÜNNING, 1997. Diese Distanzhaltung ist historisch jedoch keine Selbstverständlichkeit: In Zeiten und unter den medialen Umständen des höfischen Romans wird diese Distanz bspw. durch das körperliche Eintreten eines Rezitators für seine Figur überbrückt. Erst in explizit formulierten Distanzhaltungen, bspw. wenn der Rezitator seiner Verwunderung über seine Quelle, das fiktive Geschehen oder das Verhalten der Figur Ausdruck verleiht, wird diese Kluft über ‚Verfremdungseffekte‘ gezielt aufgebaut; siehe Kapitel 4.2.

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gebaut. Gaweins Blick wird zum imaginären Blick des Zuhörers; die Kopplung schreibt sich bis in die Grammatik der Verse ein. Des Weiteren sorgt die Häufung deiktischer Verweise dafür, dass der Rezipient die Bilder – aus Gaweins Perspektive heraus – verräumlicht imaginieren kann.185 Diese Verbindung von Zuhörer und Held geht einher mit der bereits erwähnten Steigerung der körperlich wahrnehmbaren Reize. Die Beschreibung der Funktion Gaweins als Betrachter von ‚Gemälden‘ meint also nicht eine Reduzierung auf die optische Wahrnehmung von Unbeweglichem: In der ersten Wunderkette werden alle Sinne des Protagonisten von bewegten und bewegenden Bildern angesprochen. So hat beinahe jedes Ding seine Farbe, die meisten Handlungen ihren Klang, manches sogar einen gesmac.186 Die Wunder185 Vgl. RÜTHER, 2002, S. 27. 186 Mhd. gesmac bezeichnet zwei nhd. von einander getrennte Sinne, den Geschmacks- und den Geruchssinn; vgl. LEXER, 1992, S. 66. Heutzutage gilt die Erfahrung von ‚Süße‘ über die Zunge als positiv, für den Geruchssinn ist sie ambivalent: So kann eine Blume ‚süß‘ riechen, aber die Bezeichnung von Verwesungsgeruch ist ebenfalls ‚süßlich‘. Heinrich verwendet süeze in Kombination mit gesmac. Auf den ersten Blick erscheint es so, als ob er dies ganz ‚mittelalterlich‘ täte, also süeze als positive Sinneserfahrung für eine Geruchs- wie Geschmackserfahrung verwende. Von der brennenden Minneheide heißt es: Da von kom so süszer was, Davon ging ein so süßer Duft aus, dass, Hett er getruncken vnd gasz, wenn er [Gawein] gegessen und getrunken hätte, Welt ir, aller der welt wirtschafft sagen wir: alles was die Welt zu bieten hat, Er hette da von so grosze krafft er davon nicht so sehr an Stärke Nit gewonnen, als er gwan, gewonnen hätte, wie er gewann, Da jne ginc der geruch an als ihn der Geruch der Heide erreichte Von der heyde vnd der süsze gesmag. und deren lieblicher gesmac. (KRONE, V. 14343-49)

Bei genauerem Hinsehen nehmen die Verse jedoch eine Unterscheidung von (nhd.) ‚Geruch‘ und (nhd.) ‚Geschmack‘ vor. Heinrich kombiniert Gaweins Wahrnehmung des Dufts (was) der Rosenheide mit einer (auf den Geschmack bezogenen) Nahrungsassoziation, trennt also die Sinneseindrücke, um sie dann erst in einem zweiten metaphorischen Schritt wieder im ‚gesmag‘ zusammenzuführen. Die Doppelbedeutung von Süße passt dabei inhaltlich zum trügerischen Charakter dieses Bildes – schließlich gibt sich die Idylle im Folgenden für Gawein wie für den Rezipienten als falsches Paradies zu erkennen, in dem eine Dame und ein dunkelhäutiger Ritter verwesen und verbrennen; vgl. KRONE, V. 14375-400. Der ‚süßliche‘ gesmac bleibt einem im Halse stecken. Leider entgeht Armknecht diese aufschlussreiche Stelle in seiner Abhandlung zur Geschichte des Wortes ‚süß‘ bis zum Ausgang des Mittelalters; vgl. ARMKNECHT, 1936.

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ketten stellen in dieser Hinsicht einen Sonderfall der mittelalterlichen Epen dar. Wandhoff stellt für die höfischen Romane im Allgemeinen fest: „[D]ie epische Beschreibung [akkumuliert] besonders ihre optisch wahrnehmbaren Aspekte. [...] Für die Dokumentation der taktilen Eigenschaften von Kleidungsstücken bleibt es in der Regel bei der Nennung der Stoffe. [...] Auch Gerüche begegnen nur selten und werden am ehesten dann einigermaßen ausführlich besprochen, wenn es sich um besonders üble Ausdünstungen handelt [...] oder wenn von Wundern die Rede ist, die bisweilen als ‚Geruchswunder‘ auftreten. [...] Selbst der Bereich der Akustik wird – sieht man von dem Sonderfall der Rede ab, die in ausführlichen Mono- und Dialogen zwar dokumentiert, in der Regel jedoch nach Inhalten und nicht ihren Klängen beschrieben wird –, lediglich ganz am Rande behandelt.“187

Wandhoff führt diverse Ausnahmepassagen an, die jeweils einen anderen als den visuellen Sinn beschreiben. Bei den Wunderketten liegt die Ausnahme von der Ausnahme vor: Beinahe die Gesamtheit der körperlichen Empfindungen des Protagonisten wird vermittelt. Die Kehrseite dieser sensuellen Übersteuerung ist, dass Gaweins Perspektive für den Rezipienten zum einzigen Garanten der fiktionalen Welt wird: Nur das, was er wahrnimmt, kann Grundlage für das Entstehen der fiktionalen Welt in der imaginatio des Zuhörers sein.188 Durch ihre passiv Wahrheit setzende Funktion erhält die Figur in dieser Passage einen Status, der über der Ebene des fiktionalen Geschehens liegt. Nach der der Wunderkette zugrunde liegenden medialen Logik befindet sich Gawein nicht mehr auf der ontologischen Ebene der Fiktion, sondern ist den Bildinhalten der Wunderketten als deren Betrachter übergeordnet. Dies trifft auf Gaweins Verhältnis zu den ‚Gemälden‘ genauso zu wie auf das Verhältnis des lauschenden Publikums zu dem ihm präsentierten Geschehen. Gaweins Vorüberziehen am fiktiven Geschehen kann somit – eingedenk der in Kapitel 2.2 dargelegten Mechanis187 WANDHOFF, 1996, S. 174-176. 188 Zu einer ähnlichen Einschätzung der Gawein-Figur kommt auch Keller, obwohl er rein in den Bahnen der Skripturalität denkt: Er interpretiert Gaweins Fähigkeit zu lesen als poetologische Aussage, die den Ritter zum Garanten der Erzählung mache; vgl. KELLER, 1997, S. 114.

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men der kinästhetischen Wahrnehmung – als einerseits Vorbild für, andererseits Kopie der Rezeptionsleistung des Publikums gesehen werden: So wie das rezipierende Körperschema an den separaten Bildern der Wunderkette vorbeizieht und mittels mentaler Bewegung das Rezipierte in den Körper des Zuhörers einschreibt, so reitet der Ritter in voyeuristischer Passivität an den Schaubildern der Wunderkette vorbei und teilt sie über seinen wahrnehmenden Körper dem Imaginierenden mit. Gawein ist ein Zeuge erster Ordnung, der sowohl transmissiv die Fiktion vermittelt, als auch die Bezeugung zweiter Ordnung durch den Zuhörer im Text spiegelt.189 In Weiterführung des Konnex ‚Figur/Zuhörer‘ bedeutet dies, dass so, wie der Held beim Betrachten der rätselhaften ‚Gemälde‘ nicht zu einer Lösung kommt, der Zuhörer im Dunkeln tappt (bzw. tappen soll): Man ist in Unwissenheit vereint.190 Der eigentlich zu vermittelnde Held 189 Für eine vergleichbare Spiegelung der rezeptiven Zeugenschaftsfunktion anhand von Caravaggios Gemälde vom ungläubigen Thomas vgl. SCHMIDT/VOGES, 2011, S. 7-10. 190 An keinem Teil der Krone wurde so intensiv geforscht wie an den Wunderketten und der eng damit verknüpften Gralssphäre. Es wurden mehrere allegorische Gleichungen an den Themenkomplex angelegt, bspw. „Der Gral, mit anderen Worten, ist der Tod“ (WYSS, 1981, S. 289), die für sich allein – also in den Grenzen der jeweils subjektiven Interpretation – immer wieder den Reiz der Rätsellösung beanspruchen durften. Jeder Interpret kann an den Wunderketten ein glücklicher Sisyphos sein. Betrachtet man die Textauslegungen im Gesamten, steht man jedoch vor einer Vielzahl von Widersprüchen und weiterhin ungeklärten Fragen. Für die in der vorliegenden Studie angestrebte rezeptionsästhetische Sichtweise ergibt eine direkte allegorische Auflösung der Ketten keinen Sinn. Ein mittelalterlicher Zuhörer wird sich in den Wunderketten ständig mit einer Anhäufung bunter Ereignisse, einem „surreale[n] Panoptikum“ (HAUG, 1980 [Paradigmatische Poesie], S. 213), konfrontiert gesehen und in der sprachlich nicht zu erfassenden Mehrdeutigkeit der Bilder „die besondere ästhetische Erfahrung der Wunderketten“ (BLEUMER, 1997, S. 238) entdeckt haben. Gerade in der ersten Wunderkette wird, mehr noch als bei der endgültigen Erlösung der Gralsgesellschaft, das ‚Unauflösliche‘ der Dichtung (vgl. ADORNO, 1970, S. 194f.) als ihr eigentlicher Wert deutlich. Das rational und sprachlich nicht zu Erfassende, das dem Rezipienten immer wieder das Gefühl gibt, ein Rätsel lösen zu müssen, ist Heinrichs Programm; vgl. HAUG, 1980 (Paradigmatische Poesie), S. 213f. Es geht ihm darum, den Zuhörer zu reizen, seine sensomotorischen Sinne – im Vorgang der kinästhetischen Wahrnehmung – genauso wie seinen Intellekt. Dieses Vorhaben bedarf des Rätsels, nicht aber seiner Lösung: Der Reiz des Intellekts ist

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nimmt die Position eines Mittlers ein, indem seine Wahrnehmung einer unbegreiflichen fiktionalen Welt mit dem mentalen Blick des verwunderten und nicht begreifenden Zuhörers verschaltet wird. Er wird zu einem Medium im Sinne Marshall McLuhans,191 d. h. zu einer Verlängerung der Sinne des Rezipienten oder – um diese Funktion mit einem spezifischen modernen Medium zu vergleichen – zur Filmkamera, jedoch nicht einer gewöhnlichen, sondern einer, die alle Sinne des Zuhörers ‚bugsiert‘,192 das Geschehen multisensuell wahrnimmt und die Eindrücke weitervermittelt. Der nachklassische Held Gawein exemplifiziert in der ersten Wunderkette so die in Kapitel 2.2 dargelegte Analogie der kinästhetischen Wahrnehmung zum modernen Film.193 „Die mediävistische Frage, wie sich die volkssprachlichen Texte des Mittelalters in die Choreographie einer Kultur einfügen, die auf die Kommunikation in raumzeitlicher Kopräsenz ausgerichtet ist, erweist sich so in enger Nachbarschaft zur filmästhetischen Untersuchung der kinästhetischen Mobilisierung des Kinozuschauers.“194

Diese ‚Nachbarschaft‘ ist nur deshalb möglich, weil der die Wunderkette durchreitende Ritter einen generellen, historisch unspezifischen Wahrnehmungsmodus repräsentiert, von dem auch die Kamera nur eine mögliche Ausprägung ist. Diesen diachronen Status der Kamera untersucht u. a. auch Gilles Deleuze: „Was zählt, ist vielmehr die bewegliche Kamera als allgemeines Äquivalent aller Fortbewegungsmittel, die sie zeigt oder deren sie sich bedient [...]. Mit anderen Worten, es ist das Eigentümliche des kinematographischen Bewegungs-Bilds, aus Transportmitteln oder Bewegungs-

191 192

193 194

Selbstzweck. In der vorliegenden Studie soll deshalb eine Interpretation der Bilder so weit wie möglich vermieden werden, um das Unauflösliche nicht in rationale Schranken zu verweisen. Vgl. MCLUHAN, 1964; siehe Kapitel 2.2.1. „Die Kamera bugsiert die Augen des Filmzuschauers [...] in der vorteilhaftesten Ordnung und organisiert die Details zu einer gesetzmäßigen Montageetüde“; VERTOV, 2003, S. 43. Vgl. WENZEL/LECHTERMANN, 2001, S. 193f.; siehe Kapitel 2.2. GRONAU u. a., 2004, S. 17.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf trägern die Bewegung, ihre gemeinsame Substanz, oder aus Bewegungen das Bewußtsein, ihre Essenz, herauszulösen.“195

Die Loslösung der bewegten Wahrnehmung aus dem Gefüge der Fiktion, also die Umformung Gaweins vom Handelnden zum Betrachtenden, macht den Ritter zum apparativen Übermittler der Fiktion und seine Bewegung zum Medium der Fiktionsvermittlung, in der Kamera und Reiter sich ‚substanziell‘ nicht unterscheiden.

3.3.1 Kinematisches Bedürfnis und WAHRnehmung „cinématographe, Neubildung der Brüder Lumière (1895) zu griech. k߼nƝma, Gen. k߼nƝmatos (‫צ‬ȓȞȘȝĮ, ‫צ‬ȚȞȒȝĮIJȠ‫‚ )ב‬Bewegung, Aufregung‘ und gráphein (Ȗ‫ק‬ȐijİȚȞ) ‚schreiben‘.“ Wolfgang Pfeifer, Etymologie des Begriffs ‚Kino‘196

An dieser Stelle möchte ich kurz einhalten, um zu überlegen, welche Vorteile das Bild der ‚figuralen Kamera‘ gegenüber der üblichen Beschreibung von Fokalisierungstechniken mit sich bringt. Dieser Exkurs ist auch deshalb nötig, weil es sich in letzter Zeit als Mode erwiesen hat, filmische Beschreibungsmetaphern für narrative Phänomene mittelalterlicher Literatur zu verwenden, ohne dass mit diesen Vergleichen Ernst gemacht wird, d. h. die verbindenden theoretischen Elemente genannt werden. Zumindest für die Wunderketten soll dies hier versucht werden. Zuerst muss natürlich festgehalten werden, dass als Beschreibung der Fokalisierung über Gawein der Begriff ‚Kamera‘ insofern schlecht gewählt ist, als sie kein multisensuelles Medium, sondern (in ihrer Reinform) ein rein visuelles ist. Gawein jedoch nimmt eine multisensuelle Vermittlerfunktion wahr. Dieser Nachteil wird jedoch durch mehrere Vorteile aufgewogen:

195 DELEUZE, 1989, S. 41. 196 PFEIFER, 1999, S. 655.

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Kinematisches Bedürfnis und W AHRnehmung

Der erste Vorteil ist die schon genannte Apparativität. Gemeint ist v. a. der Apparat-Begriff Walter Benjamins, der in seinen Betrachtungen zum Film die Aufgabe der Kamera wie folgt beschreibt: „Das Publikum fühlt sich [beim Film] in den Darsteller nur ein, indem es sich in den Apparat einfühlt.“197 Was die Beschreibung Gaweins als ‚Kameramann‘ im Gegensatz zur herkömmlichen Figur also betont, ist, dass via Apparat ohne mediale Störgeräusche ‚gefühlt‘ wird und nicht, wie bei der Figur, ‚innere‘ Vorgänge identifikatorisch nachempfunden werden. Die ideale Kamera ist die, welche in ihrer medialen Funktion gänzlich unsichtbar bleibt. Diesem Ideal wird sie gerecht, weil sie als apparative Verlängerung der Sinne des Rezipienten im Gegensatz zur fokalisierten Beschreibung nicht der verzerrenden Fiktion eines figuralen Innenlebens unterliegt. Dies trifft auf Gawein (v. a. im Gegensatz zu modernen psychologisierten Figuren) zu, denn seine Wahrnehmung wird kaum psychologisch motiviert: Er ist als objektiver ‚Idealzeuge‘ eine camera obscura, ein ‚dunkler Kasten‘, der, da kein Innenleben die Wahrnehmung ‚subjektiviert‘, mit größtmöglicher Mimesis die fiktiven Eindrükke vermittelt. Zweitens ermöglicht die Beschreibungsmetapher der Kamera eine direktere Kopplung der wahrnehmenden Figur an den Rezipienten. Fokalisierungstechniken denken stets den Erzähler als Agens der Beschreibung mit – er ist es, der die figurale Wahrnehmung vermittelt. Bei der Krone gibt es zwar zweifellos eine Erzählerfigur, die das fiktive Geschehen kommentiert und sich selbst inszeniert, doch diese Erzählinstanz hat keinen direkten Einfluss auf den Konnex ‚Zuhörer/Figur‘. Der Grund hierfür ist in den bereits dargelegten kommunikativen Gegebenheiten des medialen Zustands ‚Performativität‘ zu suchen: Wenn ein ‚Ih‘ sich ohne spezifischen Marker äußert, muss davon ausgegangen werden, dass ein Rezitator spricht, der extern von Text und Figur existiert und im Gegensatz zum textuellen Erzähler keinen Einfluss nehmen kann. Als dritter Vorteil der ‚figuralen Kamera‘ gegenüber dem üblichen ‚focalizer‘ ist v. a. für den Spezialfall der Wunderketten zu betonen, dass die Kamera (produktionsästhetisch) die Möglichkeit einer gekonnten Regieführung impliziert, das heißt das konzeptuelle Aneinanderreihen von Einzelbildern, die erst in ihrer linearen Abfolge einen Sinn 197 BENJAMIN, 2006, S. 38.

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erhalten. Die linearisierende Montage zum Zweck einer ‚neuen‘ Wahrnehmung wird von vielen Filmtheoretikern in das Zentrum ihrer Betrachtungen gerückt. Stellvertretend soll Dziga Vertov genannt sein, der in seinen Kinoki-Manifesten (1922/23) die Überwindung der limitierten menschlichen Wahrnehmung durch den „Kinoglaz“ (‚Kinoauge‘) in Form einer Zeit und Raum zersetzenden Kamerawahrnehmung und Montagetechnik fordert. Der Kinoglaz spricht: „Ich bin Kinoglaz. Ich bin ein mechanisches Auge. [...] Ich bin in ununterbrochener Bewegung, [...] befreit von zeitlichen und räumlichen Eingrenzungen stelle ich beliebige Punkte des Universums gegenüber, unabhängig davon, wo ich sie aufgenommen habe. Dies ist mein Weg zur Schaffung einer neuen Wahrnehmung der Welt. So dechiffriere ich 198 aufs neue die euch bekannte Welt.“

Die Etablierung des neuen rezipierenden Blicks ist zweistufig: Einerseits geschieht sie durch den an die Welt gebundenen Apparat (Kamera), andererseits durch die Loslösung und Neuanordnung des Materials auf der Ebene der Montage. Diese Zweistufigkeit findet ihre Entsprechung in den Wahrnehmungen der Figur bei gleichzeitiger ‚Entfiktionalisierung‘ bzw. Medialisierung der Perzeption durch einen Wechsel aus dem gewohnten Handlungs- in einen regieartig konstruierten Schauraum. Eine ähnliche Entsprechung findet sich in Siegfried Kracauers Filmtheorie. Erweitert wird dort die Betonung der Regie als Schaffung einer neuen Wahrnehmung noch um eine Motivation, die ebenfalls eine Analogie mit Heinrichs Wunderketten-Konstruktion ergibt. Für Kracauer ermöglicht es die Kamerawahrnehmung, den Blick auf die reine Materialität der Dinge freizugeben: „Indem der Film die physikalische Realität wiedergibt und durchforscht, legt er eine Welt frei, die niemals zuvor zu sehen war. [...] Zunächst muß daran erinnert werden, daß die physikalische Natur beständig durch Ideologien verhüllt worden ist. [...] Kaum befreien wir uns aus den ‚alten Glaubensinhalten‘, so werden wir dazu veranlaßt, die Qualitäten der Dinge zu eliminieren. [...] Und sicherlich sind sie um so ungreifbarer, als wir gewöhnlich nicht umhin können, sie aus der Per198 VERTOV, 2003, S. 43-46.

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Kinematisches Bedürfnis und W AHRnehmung spektive konventioneller Meinungen und Zwecke zu betrachten, die über ihr in sich geschlossenes Sein hinausweisen. Daher würde es uns, wäre nicht die Filmkamera erfunden worden, eine enorme Anstrengung kosten, die Schranken zu überschreiten, die uns von unserer alltäglichen 199 Umgebung trennen.“

Der Sinn der Kamerawahrnehmung ist es, den Blick des Zuschauers durch die apparative Wahrnehmung der Kamera aller Abstrakta zu entledigen, um so zur wahren Materialität des Seins vorzudringen.200 Die Entsprechung, die Gawein der Kracauer’schen Kamera verwandt erscheinen lässt, ist seine durch Handlungsinterdiktionen erzwungene ‚Idealzeugenschaft‘. Da Gawein in den Wunderketten nicht dem Kodex ritterlichen Verhaltens entsprechen muss, ist seine Wahrnehmung dieser Ideologie entkleidet und wendet sich dem ‚Wesentlichen‘ zu. Als Zeuge der Wunder „hat er sich zu verhalten, als ob er eine ‚leere Tafel‘, ein uninteressierter Seismograph und ein akribisches Aufzeichnungsinstrument sei“.201 Bezüglich des ‚Wesens‘, das Gawein als Apparat wahrzunehmen hat, zeigt sich aber auch ein großer Unterschied zu Kracauers Kamerawahrnehmung, der sich in der Differenz eines aufgeklärten und eines mythischen Denkens fassen lässt: Während der moderne Kamerablick die Welt in ihrer Materialität freilegen soll, wird die ‚figurale Kamera‘ der Konventionen entkleidet, um zu dunklen Allegorien vorzustoßen, die bildlich (und dezidiert immateriell, für Gawein ‚unantastbar‘) auf das Wesen des Grals, des ‚Heiligen in der Welt‘ verweisen. In beiden Fällen ist es jedoch die Anordnung der ‚entkleideten‘ Wahrnehmungselemente, die durch regieartige Eingriffe und deren Einwirkung auf die Sinne der Rezipienten auf ein anderes Sein verweisen. 199 KRACAUER, 2003, S. 238f. 200 Dieser Gedankenschritt ist bei Vertov nicht zu finden, nicht zuletzt deshalb, weil sein Manifest äußert ideologisch ist. In der Umsetzung seiner Manifeste, dem poetischen Dokumentarfilm ɑɟɥɨɜɟɤ ɫ ɤɢɧɨɚɩɩɚɪɚɬɨɦ (Der Mann mit der Kamera) von 1929, nutzt Vertov den ‚Kinoglaz‘ v. a. dazu, um aus Bildern mehrerer russischer Großstädte und der proletarischen Instandhaltung derselben ideologiekonform das Entstehen des sozialistischen Ideals durch ‚Vermassung‘ zu beschreiben. 201 So beschreibt Sybille Krämer den Anspruch an einen Idealzeugen, um im Folgenden eine Reihe von aus diesem Anspruch erwachsener Aporien aufzuzeigen, die auch auf Gaweins Position als ‚Zeuge des Zuhörers‘ zutreffen; vgl. KRÄMER, 2008, S. 239.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Die Montage lässt sich nicht nur produktionsästhetisch als heuristisches Instrument anwenden, sondern bildet auch für die Beschreibung der Rezeption einen Vorteil der filmischen Metaphorik: George DidiHuberman formuliert bezüglich historischer Rekonstruktionsarbeit eine Methode, die es bewirken kann, dass artefakte ‚Einzelbilder‘202 im bewegten ‚Nachleben‘ zu einer „Erkenntnis durch Montage“203 zusammengefügt werden: „Was man nicht sehen kann, muss man also zu einer Montage machen, um die Differenzen, die einige lückenhafte visuelle Monaden voneinander trennen, so gut es eben geht zu denken zu geben. Auf diese Weise läßt sich trotz allem erkennbar machen, was niemals vollständig erfaßbar ist und in seiner Gesamtheit unzugänglich bleibt. [...] Damit fällt die Montage ohne Zweifel in den Bereich des Denkens. [...] Montage ist die Kunst, diese Denkform herzustellen. [...] Sobald die Bilder durch ihre Montage verständlich werden, erweisen sie sich als kostbare Objekte historischen Wissens.“204

Didi-Hubermans Montage-Begriff scheint mir mehr als nur das historische Denken zu beschreiben. So stellt sich – gerade hinsichtlich der Mechanismen der kinästhetischen Wahrnehmung – die Frage, ob man den Vorgang, der Einzelbilder durch imaginäres Auffüllen der Zwischenräume ‚zum Laufen‘ bringt, nicht allgemein als rezeptives Phänomen begreifen muss. Denn der Vorgang, mit dem man über die Montage von Artefakten nach historischem Wissen oder über die Montage von erzählten Bildern nach fiktionalem Illusionismus strebt, ist funktional der gleiche: In beiden Fällen ist es ein imaginatives Füllen der Zwischenräume, welches den ‚Film‘ montiert. Deshalb ist der Begriff ‚Montage‘ auch dazu geeignet, zu erklären, wie der Zuhörer in den Wunderketten – gekoppelt an die ‚figurale Kamera‘ – die disparaten Informationen zu einer kohärenten ‚Bewegung‘ zusammensetzt. In 202 In Bilder trotz allem (orig.: Images malgré tout, 2003) geht es um vier Bilder des so genannten ‚Sonderkomandos‘ des Konzentrationslagers Auschwitz, die Didi-Huberman mittels analysierender Imagination zu einer ‚Schau‘ (thea) ihrer Entstehung montiert, um der postulierten ‚Unbeschreiblichkeit‘ von Auschwitz entgegenzuwirken. 203 DIDI-HUBERMAN, 2007, S. 174. 204 Ebd. S. 196f. und 225; Hervorhebungen im Original.

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Kinematisches Bedürfnis und W AHRnehmung

dieser Bewegtheit analogisiert er sich zum ‚Kameramann‘ Gawein, bringt dessen fiktiv-körperliche Bewegung in Entsprechung zu seiner geistigen. Deshalb möchte ich diesen Rezeptionsmodus als ‚teilhabende Montage‘ bezeichnen. Aufgrund der ‚teilhabenden‘, ‚compassionalen‘ Parallelbewegung von Figur und Zuhörer (bzw. Körperschema) ist die in der ersten Wunderkette stattfindende mediale Reflexion nicht – wie man bei einem Sprung von der diegetischen auf eine Metaebene hätte erwarten können – ein verfremdendes, sondern vielmehr ein den Zuhörer integrierendes Mittel: Gaweins Blick verlängert den des Zuhörers, seine Körperbewegung parallelisiert dessen imaginative Leistung und es bildet sich so ein imaginär-korporaler ‚Kanal‘ zur fiktiven Welt. Dieser fördert im Rezipienten die ‚teilhabende Montage‘ der durch den figuralen Blick vermittelten Einzelbilder und wirkt durch mehrere Äquivalenzen zwischen den Wahrnehmungs- und Imaginationsmodi identifikationsstiftend. Es sind also weitaus mehr als bloße anachronistische Vergleiche oder Übertragungen der eigenen, durch den Film geprägten Leseerfahrung, wenn Peter Stein in seiner Untersuchung der ersten Wunderkette feststellt, dass dort „unverständlich-bizarre Szenen voll gespenstischen Zaubers am staunenden Helden wie ein Film“205 vorüberziehen,206 oder Wagner-Harken die Ketten als „Filmstreifen“, der über seine Einzelbilder „nicht erschlossen werden kann“, beschreibt.207 Die quasi-filmische Vermittlung der auf einen anderen Seinszustand verweisenden Bilder über eine Kamera-Figur zeugt vielmehr von einem generellen Modus literarischer, performativer bzw. filmischer Fiktionsvermittlung, der schon immer existent war und durch das Medium ‚Film‘ seine (bisher) dominanteste Ausprägung erfuhr. Dabei nähert sich das über Montage von Einzelwahrnehmungen (Vertov) einer dem Abstrakten entkleideten Wahrnehmung zustrebenden (Kracauer) Darstellungsmuster in seiner 205 STEIN, 1997, S. 157. 206 Schon allein, dass Stein hier seine eigene Leseerfahrung ohne Umschweife auf die Wahrnehmung des Helden projiziert, zeugt vom Gelingen der ‚kinematischen Medialität‘ Gaweins, da ja auch bei der Kamera die perspektivische Wahrnehmung der fiktiven Welt mit der realen Rezeption des Zuschauers zusammenfallen, ohne dass die eine von der anderen zu lösen wäre. 207 WAGNER-HARKEN, 1995, S. 178 und 331.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

‚Bewegtheit‘ von jeher einem mimetischen Ideal an, wie es Paul Virilio feststellt: „Der Verlust kinästhetischer und taktiler Eindrücke, von Geruchseindrücken, wie sie die direkte Fortbewegung noch lieferte, läßt sich nicht durch eine vermittelte, eine Medien-Perzeption, durch das Vorbeiziehen der Bilder an der Windschutzscheibe des Autos, auf der Kinoleinwand oder gar dem kleinen Fernsehbildschirm ersetzen. Dieser illusorische Ersatz ist gleichwohl zu einer ‚Spitzenindustrie‘, der Elektronik, ge208 worden.“

Auch wenn sich die wirkliche Bewegungserfahrung nie vollständig medial vermitteln lässt, so stellt sie dennoch ein Ideal der Medienentwicklung dar. Das mimetische Nachzeichnen wirklicher Bewegung auf fiktionaler wie auf rezeptiver Ebene ist es somit auch, das zu dem Darstellungsmuster der Wunderketten ebenso führt wie zur ‚Spitzenindustrie‘ moderner Medien. In der Darstellung des Ritters Gawein als ‚Kameramann‘ und der Beschreibung der Rezeptionsleistung als ‚teilhabende Montage‘ verbirgt sich somit keine Rückprojizierung moderner Medialität ins Mittelalter, sondern das Wirken einer fiktionsvermittelnden Methode, die sich als roter Faden durch die menschliche Kultur zieht. Diese Methode antwortet auf ein konstantes Bedürfnis des Rezipienten nach vorüberziehenden, in ihrer Bewegtheit sinnigen Bildern, auf ein ‚kinematisches Bedürfnis‘. So gesehen handelt es sich bei der Fiktionsvermittlung in den Wunderketten um eine literarische Form einer sich später in der Technik des Films neu-manifestierenden Präsentationsweise fiktionalen Geschehens. Für die Aufstellung dieses Zusammenhangs ist es nötig, die Bedürfnisse von Rezipienten als kulturkonstituierende Kräfte zu betrachten. Ähnlich tut dies Hartmut Winkler, der im Rahmen seiner Medientheorie der Computer eine ‚Wunschstruktur‘ als Motor der Medienentwicklung darstellt: „Die grundlegende Annahme ist, daß die Dynamik der Medienentwicklung in bestimmten Wunschkulturen ihre Ursache hat und daß die Mediengeschichte beschreibbare Sets impliziter Utopien verfolgt. Dabei 208 VIRILIO, 1975, S. 39.

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Kinematisches Bedürfnis und W AHRnehmung wird zunächst offenbleiben müssen, ob dies die Wünsche der an den Prozessen konkret Beteiligten sind, ob sie deren Bewußtsein erreichen können, oder ob sie überhaupt einen menschlichen Träger verlangen; der Begriff des ‚Wunsches‘ meint insofern eher die Systemspannung 209 selbst als ihre subjektive Vergegenwärtigung.“

Der Grund an dieser Stelle nicht den von Winkler vorgeprägten Begriff der ‚Wunschstruktur‘ zu wählen, sondern mit dem ‚Bedürfnis‘ zu arbeiten, liegt an der rezeptionsästhetischen Ausrichtung des im Folgenden Dargelegten. ‚Bedürfnis‘ impliziert den Rezipienten als das Ziel aller kulturellen Prozesse und entscheidet so die von Winkler zur Disposition gestellte Frage, ob es eines konkreten Trägers der Medienentwicklung bedarf. Nicht der Erfinder der Kamera treibt die Mediengeschichte voran, sondern eine nicht auf Einzelne zurückzuführende ‚Systemspannung‘, welche schon seit Jahrhunderten nach einer Darstellung von Bewegungsabläufen verlangt. Der Begriff ‚Bedürfnis‘ wird dem Unbewussten und Kollektiven dieses Verlangens gerechter als ‚Wunsch‘, da dieser Individualisierung und ein Bewusstsein für das Verlangen impliziert. Die Verwendung von ‚Bedürfnis‘ ist dabei der Karl Marx’ entsprechend und setzt die Bedürfniserfüllung willentlich in einen Zusammenhang mit dem Warenbegriff. Gleich zu Anfang des Kapitals definiert Marx ‚Ware‘ unter Berufung auf Nicholas Barbon wie folgt: „Die Ware ist zunächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaft menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt. Die Natur dieser Bedürfnisse, ob sie z.B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache.“210 209 WINKLER, 1997, S. 17. 210 MARX, 1969, S. 17. Alternativ zu dieser marxistischen Begründung eines konstanten Bedürfnisses wäre es möglich, das Verlangen nach einer kinematischen Bewegungsvermittlung über Bruno Latours Geschichte der Objekte bzw. die auf dieser aufbauende ‚Akteur-Netzwerk-Theorie‘ zu begründen (vgl. u. a. LATOUR, 2001), die Kamera somit als agierende nichtmenschliche Entität zu begreifen. Mir scheint es jedoch, hauptsächlich aufgrund des rezeptionsästhetischen und damit auf menschliche Akteure ausgerichteten Fokus der vorliegenden Studie, angeraten, allen animistischen Implikationen aus dem Weg zu gehen und deshalb beim materiellen Denken Marx’ zu bleiben.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Der höfische Roman wie der Film erfüllen als Medien ihrer Zeit ein Bedürfnis (der Phantasie) nach bewegten Bildern und entsprechend somit dem Charakter der kapitalistischen Ware.211 In abgeschwächter (und zumindest oberflächlich ent-politisierter) Form bilden solche Bedürfnisstrukturen eine Grundvoraussetzung der Historischen Kulturwissenschaft. So schreibt Jörg Rogge in den Konturierungen des Mainzer Forschungsschwerpunkts: „Für die hier vorgestellten Umrisse einer historischen Kulturwissenschaft, die nach den Lebenswelten der Menschen in Epochen übergreifender Perspektive fragt und die es sich zum Ziel setzt, übergreifende Handlungsmuster und Artefakte von Kulturen zu erkunden, [...] kann auf synchrone und diachrone Vergleiche nicht verzichtet werden. [...] So einem Ansatz zum Epochen und Kulturen übergreifenden Vergleich liegt die Annahme zugrunde, dass es allgemeine menschliche [...] Bedürfnisse ebenso gibt wie Grundformen des symbolischen und sozialen Handelns.“212

Nimmt man also konform der kulturwissenschaftlichen Methodik die Existenz solch eines kinematischen Bedürfnisses an, so lässt sich hinsichtlich der quasi-kinematischen Kamera-Technik der Ware ‚Wunderkette‘ ein konträrer Gegensatz zu der Vermittlungstechnik der Zelterepisode feststellen. Dort fand die Darstellung des Bildprogramms rein auf der Ebene der Aufführung statt, indem der Rezitator den imaginären Blick seines Publikums mittels der dichterischen Verse über den Sattel hinweg leitete. Der Blick war somit trotz aller Bewegung entkorporalisiert, ein mentaler Vorgang, der die Grenzen zwischen Fiktion und Aufführung auf einer heterodiegetischen bzw. performativen Ebene verschaltete. Aufgrund des rein mentalen Status dieses Vorgangs lässt ihn Hartmann auch an den Grenzen zur realen Weltwahrnehmung scheitern. Die Verschaltung in der Wunderkette bedient sich hingegen des Körpers der Figur, ist damit um einiges ‚materieller‘ respektive ‚kor-

211 Zur Auffassung des ‚Bedürfnisses‘ als anthropologische Konstante hinter der ‚Ware‘ des höfischen Romans vgl. DÄUMER, 2010 (Sinnesregie an den Bruchstellen). 212 ROGGE, 2010, S. 372f.

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Kinematisches Bedürfnis und W AHRnehmung

poraler‘ in ihrer Wirkweise: Gawein ist es, der sich durch den fiktiven Raum bewegt und mittels dieses medial-motorischen Vorgangs dem Zuhörer die Bilder der Wunderkette übermittelt: Er tett der auentùre war,

Er nahm [machte]213 die Aventüre wahr,

Da was er recht vf dem var.

er war dort auf dem rechten Weg.

Er sahe sie vor yme nahen,

Er sah sie [die Aventüre] nah vor sich,

Nach ir begund er gahen;

[und] eilte ihr entgegen.

Er hatt sie in der augen pflege. Er hatte sie in seiner Augen Obhut. (KRONE, V. 14327-31)

Gawein ist ein aktiver Vermittler, er bezeugt die Aventüre durch seine Bewegung auf sie zu. Der Rezipient ist dabei an den figuralen Körper gebunden und die fiktiven Sinne des Ritters wirken – als fiktionsübergreifende Autopsie – assertiv: Es handelt sich bei Gaweins Zeugenschaft also um eine ‚Wahr-Nehmung‘ im zweifach wörtlichen Sinn: das (Auf-)‚Nehmen‘ eines sensuellen Reizes, um diesen als Teil der ‚Wahrheit‘ zu bestätigen. Der Vorgang der ‚Bewahrheitung‘ spielt sich dabei auf zwei Ebenen ab: So wie der Ritter durch die kinematische Vermittlung (also durch die fokalisierte Darstellung seiner Bewegungen) das Gesehene bewahrheitet, bewahrheitet der Zuhörer durch den Nachvollzug der Bewegung die Bilder im eigenen Körper, durch ein ‚Gegenzeichnen‘ (Derrida nennt es bezüglich der modernen Autorenschaft die countersignature)214 des durch die Figur Bezeugten. Dieser gedoppelte 213 Der Notwendigkeit dieser synonymen Angabe, welche neben der häufigeren Übersetzung von war tuon als ‚wahrnehmen‘ (vgl. LEXER. 1992, S. 308) auch durch die Grundbedeutung von tuon als ‚machen‘ (vgl. ebd., S. 234) einen Teil des Sinngehalts des mhd. Vers ausmacht, ergibt sich aus der folgenden Beschreibung von Gaweins Wahrnehmung als ‚fiktionsbewahrheitende‘ Instanz. 214 „The origin of the work ultimately resides with the addressee, who doesn’t yet exist, but that is where the signature starts. […] But that signature is already produced by the future perfect of the countersignature, which will have come to sign the signature. When I sign for the first time that means that I am writing something that I know will have been signed only if the addressees come to countersign it. Thus the temporality of the signature is always this future perfect that naturally politicizes the work, gives it over to someone else, that is to say, to society, to an institution, to the possibility of the signature“; DERRIDA, 1994, S. 19. Die countersignature meint also den Vorgang der Rezeption, der das Werk als solches erst zur Erscheinung

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Vorgang soll im Folgenden als ‚WAHRnehmung‘ typographisch gekennzeichnet werden. Mittels dieser Hervorhebung soll der Begriff in seiner etymologischen sowie theoretisch präfigurierten Form zum Einsatz kommen. Er bezeichnet den Zusammenhang mit dem Verb ‚(ver)wahren‘215 im Sinne des anhand von Thomasin dargelegten ‚Vier Kammern-Modells‘,216 laut dem die memoria des Zuhörers die von der imaginatio aufgenommenen Sinneseindrücke ‚verwahrt‘. Gleichfalls wird an den Zusammenhang mit dem Adjektiv ‚wahr‘ erinnert: Das, was (von der Figur/Kamera) WAHRgenommen wird, kann dem Zuhörer (durch den körperlichen Nachvollzug und die Verwahrung in seiner memoria) als wahr gelten. Ich werde diese Schreibweise des Begriffs immer dann verwenden, wenn die Aufnahme sensueller Reize durch den Helden in spezieller Hinsicht auch eine metafiktionale ‚Bewahrheitung‘ des fiktionalen Geschehens mit und für den Zuhörer einschließt, eine Bewahrheitung, die nach Benjamin am historischen wie am fiktionalen Bild stets gefährdet ist: „Der historische Index der Bilder sagt [...] nicht nur, daß sie einer bestimmten Zeit [respektive einer bestimmten Ontologie] angehören, er sagt vor allem daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. [...] Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt.“217

Das Dasein des Helden als gefährdete WAHRnehmungsinstanz kann u. a. dazu dienen, den Wandel im Heldenkonzept der Artusromane der zweiten Dichtergeneration neu zu beschreiben. Jenseits der Feststellungen, dass die Ritter der so genannten ‚nachklassischen‘ Romane keine Fehler begehen und somit auch keine Krise im Sinne der Doppelwegstruktur durchmachen, kann die Neuerung des Heldenbildes auch als rezeptionsästhetischer Wandel aufgefasst werden: respektive Gültigkeit bringt und es solcherart in seinem Zeugnischarakter ‚ratifiziert‘. In der obigen Verwendung übertrage ich, unter Loslösung vom Autor, den Vorgang auf das Verhältnis von Figur und Zuhörer; vgl. dazu auch: WETZEL, 2007, S. 216. 215 Vgl. PFEIFER, 1999, S. 1532. 216 Siehe Kapitel 2.2. 217 BENJAMIN, 1982 (Passagen-Werk), S. 577f.

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Kinematisches Bedürfnis und W AHRnehmung „Wenn die neuen poetischen Möglichkeiten des späteren Artusromans sich daraus ergeben, daß die Aventiurewelt gegenüber einem in seiner Perfektion erstarrten Helden in Bewegung gerät, [...] so muß sich damit auch das Verhältnis zwischen Dichtung und Publikum verändern: es wandeln sich zwangsläufig der Rezeptionsmodus und die Funktion des Romans.“218

Durch das Wegfallen einer sinnstiftenden Symbolstruktur im ‚nachklassischen‘ Roman eröffnen sich laut Haug zwei Möglichkeiten: „Auf der einen Seite steht ein dezidiert lehrhaftes Element; der Held demonstriert pragmatisch ideale Verhaltensnormen [...]. Auf der anderen Seite findet die Poesie zu sich selbst; sie wird sich ihrer autonomen Möglichkeiten bewußt.“219

Auf die Wunderketten trifft nur der zweite Teil der Aussage zu. Denn von der „dürren Didaxe“220 eines ideale Verhaltensnormen vermittelnden Helden kann man bei einem passiv an Aventüren vorbeireitenden Helden wohl kaum sprechen und auch die von der älteren Forschung erarbeiteten Argumente für eine implizite Moralvermittlung durch die Wunderketten können nicht überzeugen.221 Haugs Aussage, die Dich218 219 220 221

HAUG, 1980 (Paradigmatische Poesie), S. 228. Ebd., S. 228f. Ebd., S. 229. Mentzel-Reuters versucht, den moralischen Aspekt der Krone anhand der Verse 22605-13 nachzuweisen, in denen die Aventüre als Wahrheitsvermittlung durch Lüge bzw. Fiktion dargestellt wird; vgl. MENTZELREUTERS, 1989, S. 108-112. Er übersieht dabei allerdings – wie auch Knapp feststellt (vgl. KNAPP, 1997, S. 126f.) –, dass es sich bei dem von ihm als Belegstelle angeführten Zitat um eine intentionale Figurenrede Gaweins handelt, die weit eher der Handlungslogik denn der Poetologie zuzurechnen ist. Zwar formuliert Heinrich im Prolog seinen Anspruch, den Roman neben ze chvnde (KRONE, V. 228; ‚zur Kenntnis‘) und ze churtzweil (V. 229; ‚zur Unterhaltung‘) auch ze bezzervnge (V. 219; ‚zur [moralischen] Besserung‘) zu erzählen, doch angesichts der sonstigen Verweigerung, klare didaktische Aussagen zu treffen, stimmt die vorliegende Studie der von Knapp vertretenen These zu, dass Heinrich dieses Ziel im Prolog nur deshalb angibt, um dann im Roman selbst jegliche Didaxe zu ironisieren; vgl. KNAPP, 1997, S. 129; zur Ablehnung einer didaktischen Funktion der Krone vgl. auch BLEUMER, 1997, S. 248f. Die einzige einleuchtende ‚Moralisierung‘ der Krone präsentiert Justin Vollmann, der mittels einer

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tung finde mittels der durch diesen Heldentypus geförderten Rezeptionsart zu sich selbst, deckt sich mit der Hypothese der literarischen Befriedigung des kinematischen Bedürfnisses, die erst mit dieser Heldenvariante richtig gelingen kann. Dabei ist erst einmal interessant, was Gawein per se nicht vermag: Generell entspricht Gawein dem „fixe[n], über seine früheren Bewährungstaten bereits definierte[n] Heldentypus“222 und kann aufgrund dieser Unfehlbarkeit nicht zur Veranschaulichung einer moralischen Entwicklung genutzt werden. Die Präfiguration Gaweins schließt eine Verfehlung wie eine Lernfähigkeit des Helden aus und somit ein moralisches imitatio-Verhalten des Rezipienten, also ein ‚Entlangwandeln‘ des Zuhörers an Einzelbildern der Verfehlung und Läuterung und deren Linearisierung zu einer ‚Moral‘. Gaweins Funktion ist eine andere: die WAHRnehmung der fiktiven Welt – und eine Kamera kennt keine Moral. Die Art des Nachvollzugs ist nicht identifikatorisch-moralisierend,223 sondern ‚kinematisch‘, d. h. eine sinnliche Bindung an den bewegten und bewegenden Apparat. Diese neue Art des Nachvollzugs ist es, welche die Qualität des Helden ausmacht: Er dient dazu, die imaginären Sinne des Zuhörers an die des Helden zu binden, und wirkt so als Katalysator sprachlich-körperlicher ‚Grausamkeit‘ (im Artaud’schen Sinne), die das apparativ Bewegte des Nachvollzugs zum ästhetischen Mehrwert der Aufführung erhebt. Wo der so genannte ‚klassische‘ Held Träger der Moral war, ermöglicht der ‚nachklassische‘ eine Teilhabe an seinen Taten, die weitaus weniger die ratio, als direkt die imaginatio anspricht. Die ideologiefreie ‚Idealbezeugung‘ durch den neuen Helden und die ent-rationalisierte Rezeption durch den Zuhörer führen zur paradoxen Illusion einer ‚Unmittelbarkeit über den Apparat‘ – oder anders: zur Befriedigung des kinematischen Bedürfnisses.

rezeptionsästhetischen und performativen Methodik das Lesen oder Hören des gesamten Werks als eine den Tugendproben gleichende Herausforderung an den Rezipienten darstellt; vgl. VOLLMANN, 2008. 222 BLEUMER, 1997, S. 78. 223 Vgl. BLEUMER, 1997, S. 79; Knapp kommt zu einer ganz ähnlichen Einschätzung, wenn er betont, dass die „geradezu mystische Überhöhung der Haupthelden [...] eine direkte imitatio weit eher behindert als fördert“; KNAPP, 1997, S. 129.

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Erklärende Engel

3.4 Die Sinnesregie der Wunderketten 3.4.1 Erklärende Engel und der visionäre WAHRnehmungsmodus „Wenn mir zumut ist, zu warten vor der Puppenbühne, nein, so völlig hinzuschauen, daß, um mein Schauen am Ende aufzuwiegen, dort als Spieler ein Engel hinmuß, der die Bälge hochreißt. Engel und Puppe: dann ist endlich Schauspiel.“ Rainer Maria Rilke, Vierte Duineser Elegie224

Die Bilderfolgen der Wunderketten wurden schon mehrfach in intertextuelle Beziehungen gesetzt, meist zu anderen deutsch- oder französischsprachigen Artusromanen. Ich möchte eine andere Verbindung herstellen, die zwar immer wieder in Analysen anklang,225 jedoch meist nicht weiter vertieft wurde:226 der intertextuelle Konnex der Wunderketten zur Visionsliteratur.227 Der Grund für die meist nur oberflächliche Behandlung dieses Zusammenhangs ist, dass bezüglich des Motivvorrats228 zwar Gemeinsamkeiten, jedoch keine konkreten Abhängigkeiten nachgewiesen werden konnten. Dieser Befund ist allerdings lediglich eine Frage des Fokus: Die Überschneidungen liegen nämlich viel weniger im Dargestellten selbst als in der performativen Präsentationsweise der Wunder in Visionen und Ketten. Die teils exzessiv körperlichen Grausamkeiten der in der Krone beschriebenen Bilder gemahnen an die Jenseitsdarstellungen der Visisonsliteratur.229 Der passive und zwischen 224 Rilke, 1997, S. 23. 225 Vgl. EBENBAUER, 1977, S. 41; JILLINGS, 1980, S. 107; MENTZEL-REUTERS, 1989, S. 258; MEYER, 1994, S. 133. 226 Die Ausnahme bilden die Ausführungen von Neil Thomas, der die Wunderketten als einen Reflex auf einen zeitgenössischen theologischen Diskurs zum Fegefeuer sieht; vgl. THOMAS, 2002, S. 61f. 227 Für einen Überblick über die Entwicklung dieses Genres bis hin zu seinen Ausformungen im 12. Jahrhundert vgl. LE GOFF, 1990, S. 120-155. 228 Vgl. DINZELBACHER, 1989, S. 26. 229 Für eine Auflistung der ähnlichen Bildinhalte von Johannes-Offenbarung und Wunderketten vgl. FELDER, 2006, S. 363f.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

plastischem und abstraktem Raum oszillierende Wahrnehmungsmodus230 des Helden, sein passives, ‚einfaches‘ und ‚ungeschlachtes‘ Bezeugen einer ‚jenseitigen‘ Welt und generell die spezifische Konstellation der (Fiktions-)Vermittlung jedoch stellen eine engere Verbindung her und können schon beinahe als Zitierung begriffen werden. Peter Dinzelbacher beschreibt diese Analogie der Darstellungsmodi der fiktiven bzw. jenseitigen Welt in der Visionsliteratur und im höfischen Roman wie folgt: „Sowohl der Visionär als auch der ritterliche Held befinden sich in einer jenseitigen bzw. irdischen (wenn auch oft verzauberten) Landschaft, in der sie sich etappenweise von einer Station zur nächsten bewegen, wobei einzelne Szenenbilder beschrieben werden, ohne daß der Vollzug des Weges als ein gleichmäßig kontinuierliches Fortschreiten erschie231 ne.

Was Dinzelbacher als generelle Analogie darstellt, trifft umso mehr zu, wenn man die Visionsliteratur nicht auf den gesamten höfischen Roman, sondern speziell auf die Passagen der drei Wunderketten bezieht. Die Landschaft, die Gawein durchquert, ist aufgrund ihres SchauraumStatus der arthurischen Realität ebenso enthoben wie der Jenseitsraum des Charismatikers. Für die Textpassagen der Wunderketten und die plastischen Jenseitsschauungen232 ist dieser Raumwechsel gar causa sine qua non.233 Anhand der Wunderketten tritt auch die Bewegung von 230 Eine Beschreibung, die Peter Dinzelbacher für die Raumerfahrung in der Visionsliteratur prägte; vgl. DINZELBACHER, 1981, S. 121-131. 231 DINZELBACHER, 1989, S. 26. 232 „In Hinblick auf den Inhalt ergeben sich zwei Gruppen, deren erste primär visionäre Beschreibungen der anderen Welt ausmachen, in denen die jenseitige Landschaft mit ihren Sündern und Heiligen, Strafen und Belohnungen im Vordergrund stehen, während die zweite vor allem um mystische Begegnungen mit dem Herrn, namentlich in Gestalt und Person des Gottessohnes kreist, ohne daß der Raum, in dem sich die Schauungen abspielen, so betont hervorträte; ebd., S. 21. 233 „Von Visionen ist dann zu sprechen, wenn ein Mensch im Zustand der Ekstase oder des Schlafes den Eindruck empfängt, seine Seele werde durch das Walten übermenschlicher Kräfte in einen anderen Raum versetzt, der bildhaft beschreibbar ist und wo ihm eine Offenbarung zuteil wird. Im Unterschied dazu gibt es bei der Audition und der Erscheinung keinen Raumwechsel“; ebd., S. 19.

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Erklärende Engel

Etappe zu Etappe (bzw. von Bild zu Bild) als gemeinsames Charakteristikum noch deutlicher zutage, als dies bei anderen Texten der Fall ist. Das letzte und entscheidende Argument für die Analogie ist der (für den höfischen Roman völlig untypische) Zwang zur Passivität, das Dasein als ‚Kameramann‘, das den Ritter Gawein genauso wie den Visionär betrifft, der zwar WAHRnehmen soll, als ‚Idealzeuge‘ jedoch nie in das jenseitige Geschehen eingreifen darf.234 Aufgrund der Anzahl und der weiten Verbreitung überlieferter Schriften ist davon auszugehen, dass es sich bei der Visionsliteratur und vor allem bei den plastischen Jenseitsschauungen im 12. und 13. Jahrhundert um eine äußerst beliebte Gattung handelte, die eine Reaktion auf die theologische ‚Geburt des Fegefeuers‘ im 12. Jahrhundert darstellt.235 Die Dominanz der höfischen Romane ist in der Untersuchung der höfischen Kultur als eine verfälschende Gewichtung der Forschung anzusehen; wahrscheinlich sind die Texte der Visionsliteratur zu Hofe mindestens genauso bekannt gewesen wie die höfischen Romane. 236 Des Weiteren stehen die Gattungen literaturgeschichtlich in einem engen Verhältnis zueinander: So ist der Eneas Heinrichs von Veldeke u. a. wegen seiner Minnethematik als ‚Urtext‘ der Gattung ‚höfischer 234 Als einzige Ausnahme verzeichnet Dinzelbacher eine Vision aus dem 15. Jahrhundert, in der die Visionärin Margery Kempe in das Heilsgeschehen eingreift; vgl. ebd., 1989, S. 30 und 204-211. Es handelt sich hierbei jedoch um eine sehr späte Variante der Jenseitsschauungen. Bei der späteren Visionsliteratur ist dies nicht als unüblich zu werten: Man denke an die Aktionen Dantes in der Commedia. Als Ausnahme in der früheren Phase könnte man auch an den Protagonisten der Visio Tnugdali denken, der jedoch nicht aus freiem Willen in die Vision eingreift, sondern aufgrund seiner Sündhaftigkeit an den Qualen teilnehmen muss; vgl. VISIO TNUGDALI, 1882, S. 3-110 (lateinisches Gedicht) und S. 121-186 (Albers Tnugdalus), dort v. a. V. 737-849 (Tnugdalus’ Buße für den Betrug um eine Kuh). 235 Vgl. LE GOFF, 1990. 236 „Da ist einmal das Faktum der weiten Verbreitung der Visionsliteratur. Ein heute nur Spezialisten bekannter Text etwa, eine erschütternde Jenseitsversion, die der Ritter Tundal in Irland 1149 erlebt hatte, ist uns in der für mittelalterliche Werke sehr hohen Zahl von über 200 Handschriften erhalten“; DINZELBACHER, 1989, S. 8. „Mißt man die Bedeutung, die eine bestimmte Literaturgattung in einer Epoche besessen hat, an ihrer Rezeption, dann wird man aufgrund der handschriftlichen Überlieferung leicht feststellen, daß die Visionstexte im Mittelalter tatsächlich wesentlich mehr Interesse gefunden haben als etwa die [...] heute unvergleichlich bekanntere höfische Epik“; ebd., S. 16.

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Roman‘ anzusehen und Hartmanns Verweis in der Zelterepisode etabliert ihn als ‚Urpartitur‘ der entsprechenden Vortragstechnik237 – in Eneas Unterweltfahrt zeichnen sich jedoch ebenso Spuren der Visionsliteratur ab, sodass die bereits aufgewiesene Diffusion (und Fraglichkeit) der Stoff- bzw. Gattungsgrenze zwischen Antiken- und Artusroman hinsichtlich der Vortragspraxis auch für die Visionsliteratur zutrifft. Spuren der Visionsliteratur lassen sich deshalb auch u. a. in Chrétiens Chevalier de la Charrette238 oder dem Wigalois Wirnts von Grafenberg239 finden.240 Die Entwicklung der (lediglich stofflich konstituierten) Gattungen war allem Anschein nach von Beginn der Hochphase höfischer Literatur an eng miteinander verwoben und fand im selben, die Gattungsgrenzen einebnenden medialen System statt. Ausgehend von den überlieferten Handschriften war die ca. 1150 von einem Bruder Marcus verfasste lateinische Visio Tnugdali241 der am weitesten verbreitete Text dieser Gattung, zumal er schon im 12. Jahrhundert mindestens zwei Übertragungen in die Volkssprache erhielt.242 237 Siehe Kapitel 3.2. 238 Vgl. HAUG, 1978. 239 Vgl. BRINKER, 1995. 240 Da die Visionsliteratur zu den sehr verbreiteten Erzählformen des 12. und 13. Jahrhunderts zählt, ist das Zitieren der visionären Spielart der WAHRnehmung auch nicht auf die Gattung des Artusromans beschränkt. Als Beispiel für ein Anklingen der Visionsliteratur in der Aventürehaften Dietrichsepik kann die Situation dienen, in der Dietrich und seine Gefährten vom Zwerg Laurin zur Zwergenhöhle gebracht werden. Vor dem Berg finden die Helden ein irdisches Paradies. Die Reaktion des Helden Wolfhart auf die Entdeckung sind die folgenden Worte: ‚uns hât got her gesant, ‚Gott hat uns hierher gesandt, daz wir dâ heime mugen jehen damit wir zu Hause erzählen können, daz uns âventiure sî geschehen. dass uns Aventüre widerfahren ist. ich spriche daz für wâr wol, Ich erkläre das wohl für wahr, der plân ist aller sælden vol.‘ dass diese Aue voll der Seligkeiten ist.‘ (LAURIN, V. 930-34; Korrektur in V. 934)

Konfrontiert mit dem zum Bildvorrat des Jenseitsreichs zählenden Paradiesgarten betont Wolfhart in aller Deutlichkeit die Aufgabe, mittels seiner WAHRnehmung die sensuellen Eindrücke später dâ heime im wahrsten Sinne des Verses 933 ‚wahr zu sprechen‘. 241 VISIO TNUGDALI, 1882, S. 3-110; vgl. zur Datierung PALMER, 1985, S. 1231. 242 Gemeint sind Albers Tundalus von ca. 1190 (VISIO TNUGDALI, 1882, S. 121-186) und die Niederrheinischen Fragmente (ebd., S. 113-118). Erst im 15. Jahrhundert folgen Prosaübersetzungen des lateinischen Texts von

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Erklärende Engel

Im Folgenden soll die Paulusapokalypse, „die Einzelvision über eine andere Welt par exellence“,243 als exemplarischer Vertreter der Gattung dienen. Dieser Text aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert gilt als Archetypus der plastischen Jenseitsdarstellungen des Mittelalters.244 Er wurde weder von der frühen Theologie geschätzt245 noch von der mittelalterlichen Kirche anerkannt; 246 dennoch fand er vor allem in der lateinischen Übersetzung des griechischen Urtexts eine weite ‚literarische‘ Verbreitung.247 Aus dem 13. Jahrhundert – eventuell schon aus der Schaffensperiode Heinrichs – ist sogar ein mittelhochdeutsches Fragment erhalten.248 Die apokryphe Schrift basiert auf einer Stelle aus dem paulinischen zweiten Korintherbrief: (1) Si gloriari oportet (non expedit quidem), veniam autem ad visiones et revelationes Domini. (2) Scio hominem in Christo ante annos quatuordecim (sive in corpore, nescio, sive extra corpus, nescio, Deus scit) raptum hujusmodi usque ad tertium cælum [...], (4) quoniam raptus est in Paradisum, et audivit arcana verba quæ non licet homini (II Cor. 12, 1-5) loqui. (5) Pro hujusmodi gloriabor [...].

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Bruder Marcus; vgl. WAGNER, 1882, S. XL; zu Alber: FREYTAG, 1978, Sp. 108; zum Niederrheinischen Tundalus: PALMER, 1987, Sp. 1000f.; zu deutschsprachigen Prosaübersetzungen: P ALMER, 1995. DINZELBACHER, 1989, S. 22. „Von all diesen apokalyptischen Texten hatte die Paulus-Apokalypse den größten Einfluß auf die mittelalterliche Jenseitsliteratur im Allgemeinen und die Literatur zum Fegefeuer im besonderen; LE GOFF, 1990, S. 52. Der andere große Bezugspunkt der plastischen Jenseitsschauungen ist die Offenbarung des Johannes. Diese ist im Vergleich zur Paulusapokalypse jedoch weiter von den Visionstexten des 12. und 13. Jahrhunderts entfernt. So ist bspw. die Figurenkonstellation von Charismatiker und erklärendem Engel in der Offenbarung nicht voll ausgeprägt, sodass die meisten mittelalterlichen Texte sie nach dem Muster der Paulusapokalypse verwenden; siehe Anm. 266. „Bemerkenswert ist, daß die Paulus-Apokalypse im Mittelalter sehr beliebt war, obwohl Augustinus sie strengstens verurteilt hatte. Der Grund dieser Verurteilung liegt, abgesehen von Augustinus’ Abneigung gegen apokalyptische Vorstellungen, sicher darin, daß der Text dem zweiten Korintherbrief widerspricht, auf den er sich andererseits jedoch stützt“; LE GOFF, 1990, S. 53. Vgl. DINZELBACHER, 1989, S. 22. Vgl. DUENSING/DE SANTOS OTERO, 1989, S. 644. Vgl. PAULUS, S. 36f. und 209-212.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf (1) Ich muss mich ja rühmen; zwar nützt es nichts, trotzdem will ich jetzt von Erscheinungen und Offenbarungen sprechen, die mir der Herr geschenkt hat. (2) Ich kenne jemand, einen Diener Christi, der vor vierzehn Jahren bis in den dritten Himmel entrückt wurde; ich weiß allerdings nicht, ob es mit dem Leib oder ohne den Leib geschah, nur Gott weiß es. [...] (4) Und ich weiß, dass dieser Mensch in das Paradies entrückt wurde. Er hörte geheime Worte, die ein Mensch nicht aussprechen darf. (5) Für denselben will ich mich rühmen.249

Der Vulgata-Text ist bestimmt von Unsagbarkeitstopoi und Interdiktionen250 und schweigt so auch in letzter Konsequenz über das in der Entraffung Erfahrene. Die Paulusapokalypse ignoriert die arcana verba des Korintherbriefs zwar nicht, überwindet aber die Schwierigkeit, dass der Bibeltext sich demütig in Schweigen hüllt, indem zwischen solchen Dingen, über die Paulus nicht berichten durfte, und anderen, für deren Wiedergabe er die Erlaubnis bekam, unterschieden wird.251 Diese Differenzierung wird von dem den Charismatiker durch das Jenseitsreich begleitenden Engel getroffen: Et respondit angelus et dixit mihi: Quecumque nunc ostendo tibi et quecumque audieris, ne indices ea omini in terris. Et duxit me et ostendit mihi et audiui illuc uerba que non liceat omini loqui. Et iterum dixit: Adhuc enim sequere me et monstrabo tibi que hennarrare palam et (PAULUS, 21,1-7)252 referre debeas. 249 Übertragungsgrundlage: Einheitsübersetzung. Für die Abweichungen siehe folgende Anmerkung. 250 Sowohl die Einheits- wie die Lutherübersetzung mindern das im Latein recht eindeutige Verbot vom Jenseits zu sprechen, indem sie die (lat.) arcana verba als ‚unsagbar‘ oder ‚unaussprechlich‘ bezeichnen und (lat.) non licet mit ‚nicht können‘ statt ‚nicht dürfen‘ übertragen. Dabei ist ein Teil der ‚De-Tabuisierung‘ bezüglich des griechischen Texts zu erklären: Dieser spricht von ਙȡȡȘIJĮ ૧੾ȝĮIJĮ, was soviel wie ‚unerklärliche Erklärungen‘ meint und deshalb den Wandel der lateinischen arcana (also ‚geheimen‘) verba in ‚unaussprechliche‘ als eine Revidierung der Vulgata rechtfertigt. Dass aus dem (lat.) non licet (‚nicht dürfen‘) ein ‚NichtKönnen‘ wird, ist allerdings nicht über das Griechische zu erklären. Dort steht Ƞ੝ț ਥȟઁȞ, was ebenfalls ein Verbot meint. 251 Vgl. DUENSING/DE SANTOS OTERO, 1989, S. 645. 252 Falls nicht anders angegeben, richtet sich die vorliegende Studie nach der von Theodore Silverstein und Anthony Hilhorst edierten Pariser Hand-

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Erklärende Engel Und der Engel antwortete und sagte zu mir: Was ich dir nun hier zeige und was du gehört haben wirst, das sollst du niemandem auf Erden mitteilen. Und der führte mich und zeigte mir, und ich hörte dort Worte, die ein Mensch nicht sagen darf. Und wiederum sagte er: Folge mir weiter, und ich werde dir zeigen, was du öffentlich erzählen und berichten darfst.253

Die arcana verba des Bibeltexts werden schon kurz nach Beginn der Schauung, beim Übergang vom dritten in den zweiten Himmel, 254 ‚abgehakt‘. Das Tabu bleibt so als unantastbar Heiliges erhalten, wird jedoch auf einen kleinen Ausschnitt des Jenseits beschränkt, sodass um es herum Freiräume für ausufernde Beschreibungen von Paradies und Hölle entstehen. Augustinus wertet in seinem 98. Tractatus in Joannis Evangelium diesen Tatbestand wie folgt: Quod itaque ait Dominus, Adhuc multa habeo vobis dicere, sed non potetis portare modo [...] ille quidem, [...] potuit hoc ita dicere quia illa ipsa quae docuerat, si vellet eis sic aperire, ut in illo concipiuntur ab Angelis; hoc infirmitas humana in qua adhuc erant, ferre non posset. [...] Quanquam et inter ipsos spirituales sunt utique aliis alii capaciores atque meliores; ita ut quidam illorum ad ea pervenerit quae non licet homini loqui. Qua occasione vani quidam Apocalypsim Pauli, quam sana non recipit Ecclesia, nescio quibus fabulis plenam, stultissima præsumptione finxerunt; dicentes hanc esse unde dixerat raptum se fuisse in tertium caelum, et illic audisse ineffabilia verba quae non licet homini loqui (II Cor. XII, 2,4). Utcumque illorum tolerabilis esset audacia, si se audisse dixisset quae adhunc non licet homini loqui: cum vero dixerit, quae non licet homini loqui; isti qui sunt qui hæc audeant impudenter et infeliciter loqui? (JOHANNESKOMM. XCVIII, 8)

schrift (vgl. Apocalypse of Paul. A New Critical Edition of Three Long Latin Versions [1997]), die als die vollständigste und zugleich älteste lateinische Übersetzung des griechischen Urtexts gilt; vgl. DUENSING/DE SANTOS OTERO, 1989, S. 644. Der erste Teil der Pariser Handschrift (PAULUS, S. 1-44) wird aufgrund der verwendeten Karolingischen Minuskel in das 9. Jahrhundert datiert; eine anschließende Erweiterung (PAULUS, S. 45-51) in das 10. Jahrhundert; vgl. SILVERSTEIN, 1997, S. 23f. 253 Übersetzung: DUENSING/DE SANTOS OTERO, 1989, S. 657. 254 Vgl. PAULUS 19-21.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf Wenn also der Herr sagt: ‚Ich habe euch noch vieles zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen‘ [...] konnte [er] [...] dies so sagen, weil, wollte er ihnen seine Lehre so erschließen, wie sie in ihm von den Engeln begriffen wird, die menschliche Schwäche, in der sie doch waren, dies nicht ertragen könnte. [...] Indes sind ja auch unter den geistigen Menschen die einen fähiger und besser als die anderen, so daß einer von ihnen bis zu dem gelangt ist, ‚was einem Menschen zu sagen nicht gestattet ist‘. Unter diesem Vorwande haben einige lügnerische Menschen die mit gewissen Fabeln angefüllte Apokalypse des Paulus, welche die auf ihre Reinheit bedachte Kirche nicht annimmt, in törichter Anmaßung erdichtet, indem sie sagten, diese sei es, wovon der gesagt habe, er sei in den dritten Himmel entrückt worden und habe dort unaussprechliche Worte reden gehört, ‚die einem Menschen zu reden nicht gestattet ist‘. Ihre Verwegenheit wäre noch einigermaßen erträglich, wenn er gesagt hätte, er habe gehört: die einem Menschen zu sagen noch nicht gestattet ist; da er aber gesagt hat: ‚Was einem Menschen zu sagen nicht gestattet ist‘, wer sind sie, die das in schamloser und unheilsamer Weise zu sagen sich unterfangen?255

Die Erschaffung der Freiräume, die plastische Darstellung des Jenseits und generell die bildliche Erweiterung der Stelle, an der im Bibeltext ein explizites Verbot der Darstellung ausgesprochen wird, führt Augustinus im frühen 5. Jahrhundert zu einer vehementen Ablehnung der Paulusapokalypse. Der Mensch kann Gottes Lehre nicht verstehen; allein die Engel vermögen dies. Deshalb stellt auch das Unterfangen der Paulusapokalypse, das Jenseitsreich – also die räumliche Entfaltung dieser Lehre – plastisch darzustellen, für den Kirchenvater einen schamlosen (impudens) und unglückseligen/unheilvollen (infelix) Eingriff in die göttliche Schrift dar. Literaturgeschichtlich ist Augustinus’ Ablehnung jedoch beizufügen, dass die Vermessenheit (audacia) der Autoren die kreative Kraft war, die aus einer Heiligkeit der Schrift profane Literatur erschuf und so die Gattung der Visionsliteratur aus der Wiege hob. Im 12. Jahrhundert scheinen die Bedenken gegen die literarische Vermessenheit, trotz einer starken Rezeption der augustinischen Schriften, geringer, wenn nicht gar überwunden, denn die Visio Tnugdali 255 Übersetzung: SPECHT, 1914, S. 210f.; Hervorhebungen im Original.

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Erklärende Engel

führt bedenkenlos und frei fabulierend die von der Paulusapokalypse begonnene Auslotung des Jenseits fort. Das paulinische wie augustinische Tabu wird zu einer wahrnehm- und deutbaren Plastizität des Jenseitsreichs umgeformt.256 Paulus bereist in der apokryphen Schrift das Jenseits nicht allein: Ein Engel steht ihm als Deuter und gleichzeitig als Bürge für das Gelingen der WAHRnehmung zur Seite. Die Hauptaufgabe dieses so genannten angelus interpres257 ist – selbstredend – die Erläuterung des Jenseits. Eine zweite Funktion des Engels zeigt sich, wenn er sich mehrfach, v. a. an den Schwellen des Jenseitsreichs (beim ersten Eintritt ins Paradies, beim Wechsel in die Hölle und später bei der Rückkehr ins Paradies) von Paulus versichern lässt, dass dieser alles richtig wahrgenommen habe: (1) (2) (3)

Respondit angelus et dixit mihi: Cognouisti [h]aec omnia? Et dixi: Ita, domine. Respondit angelus et dixit mihi: Intelliges quo incedas? Et dixi: Ita, domine. Et post [h]aec dixit mihi angelus: Vidisti [h]aec omnia? Et dixi: Ita, domine. (PAULUS 19,1f., 31,6f., 45,1f.)

(1) (2) (3)

Der Engel antwortete und sagte zu mir: Hast du dies alles wahrgenommen? Und ich sagte: Ja, Herr. Und der Engel antwortete und sagte zu mir: Begreifst du, [wohin] du von hier fortgehst? Und ich sagte: Ja, Herr. Und danach sagte zu mir der Engel: Hast du alles gesehen? Und ich sagte: Ja, Herr.258

256 Neben den lateinischen Handschriften ist der wichtigste Textzeuge der Paulusapokalypse ein koptischer Text; vgl. DUENSING/DE SANTOS OTERO, 1989, S. 644f. Dort wird Paulus nach Abschluss der in Latein beschriebenen Jenseitsreise sogar ein zweites Mal in den dritten Himmel entrückt und berichtet trotz eines abermaligen Verbots von Erscheinungen dieser arkanen Himmelssphäre; vgl. ebd., S. 673. Das Bestreben nach einer plastischen Darstellung des Jenseitsreichs bricht in dieser Textvariante ganz bewusst das Verbot des biblischen Texts, ohne dafür eine entschuldigende Erklärung abzugeben: Das Tabu ist dahin und das Heiligste sichtbar. 257 Vgl. DINZELBACHER, 1981, v. a. S. 146-169. 258 Übertragungsgrundlage: DUENSING/DE SANTOS OTERO, 1989, S. 656, 661 und 668.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Das ritualisierte Frage-Antwort-Spiel verdeutlicht, wie wichtig es dem Engel ist, dass der WAHRnehmung des Charismatikers nichts entgeht und er seiner Aufgabe der Zeugenschaft gewachsen ist. Denn dessen sensuelle Aufnahmefähigkeit und Erinnerungsvermögen sind die einzigen Garanten dafür, dass das Jenseitige nach der Vision seinen Mitmenschen mitgeteilt werden kann. Die in Formeln wie der obigen ständige Wiederkehr des Verbs videre – die schon Le Goff beobachtet hat –259 macht deutlich, dass es in der Paulusapokalypse um einen Vorgang der (v. a. visuellen) WAHRnehmung geht, um die Bezeugung eines ‚Spektakels‘, das ohne den jeweiligen focalizer nicht mitteilbar wäre. Paulus ist wie Gawein ein ‚Kameramann‘, dessen Blick (nach McLuhan) medial den des Rezipienten verlängert, wobei diese Verlängerung ebenso möglichst frei von ‚psychischen‘ Störgeräuschen sein sollte. Dass der Engel sich die WAHRnehmung des Entrückten mehrmals bestätigen lässt, zeigt, dass es sich bei diesem Vorgang nicht um ein selbstverständliches Phänomen, sondern um ein problematisches Unterfangen handelt, das ebenso scheitern könnte.260 Aufgrund der eigenwilligen Erweiterung der verschwiegenen arcana verba zu einem plastischen Jenseits gerät in der Paulusapokalypse die Zeugenschaft selbst auf den Prüfstand. Der angelus interpres wird durch diese Absicherung der Jenseitswahrnehmung einer Funktion gerecht, die ihm – wie Krämer zeigt – als Bote des Göttlichen von jeher innewohnt: „[D]ie konstitutionelle Unsichtbarkeit, Undarstellbarkeit und Unnahbarkeit Gottes wird also ergänzt durch ein Angebot der Sichtbarkeit, Darstellbarkeit und Nachbarschaft des Heiligen zum Menschen, die in den Engeln zur allegorischen Gestaltung finden. Engel sind nicht ein259 „[I]ch behalte hier das lateinische Wort vidit bei, das ständig wiederholt wird und jene Art der Apokalypse kennzeichnet, in der man berichtet, was man gesehen hat und was normalerweise nicht sichtbar ist“; LE GOFF, 1990, S. 53. 260 In Dantes Commedia zeigt sich die WAHRnehmungsleistung des Visionärs auch in der Wahl der Heiligen Lucia aus Syranus als Vermittlerin des Auftrags der Unterweltreise. Lucia galt als Heilerin der Augenleiden (vgl. GMELIN, 1954, S. 57); ihr Erscheinen stimmt so noch vor Einsatz der eigentlichen Vision (vgl. KOMÖDIE, INFERNO, II, 97-108) und später an der Schwelle zum Purgatorium (vgl. KOMÖDIE, PURGATORIO, IX, V. 52-63) das Thema der perzeptiven Herausforderung visionärer Zeugenschaft an.

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Erklärende Engel fach da, sondern sie sind tätig: ‚angelus enim officii nomen est, non natura‘ bemerkt Augustinus. ‚Engel‘ ist also der Name eines Amtes, einer Funktion. [...] Wo immer Boten thematisch werden, stoßen wir auf die Unterscheidung zwischen vertikaler, sakraler sowie horizontaler, säkularer Botschaftsübermittlung. [...] Zu den vertikalen Vermittlern zählen [neben den Engeln] auch die Dichter und Rhapsoden, die als ‚Dolmetscher der Götter‘ oder, im Falle der Rhapsoden, als ‚Dolmetscher der Dichter‘ ihre Kunde übermitteln.“261

Das Visualisieren und Vermitteln des jenseitig Unsichtbaren und damit die Garantie der bezeugenden WAHRnehmung ist von jeher Wesen und ‚Amt‘ des Engels, so wie beim höfischen Roman das Visualisieren der Fiktion die Aufgabe des Dichters und die Vermittlung des Texts die des Rezitators ist. Funktional entsprechen sich der Engel und das mediale Gespann ‚Dichter/Rezitator‘. Den Unterschied macht die Heiligkeit des vom Engel vermittelten aus; dies natürlich nur insofern, als dass man das Heilige gläubig vom Fiktionalen scheiden will. Die Aufgabe des Rezitators erscheint somit als mittelalterliche Variante der von Krämer für die Rhapsoden formulierten Funktion. Was Krämer nicht feststellt, ist, dass die Analogie der vertikalen Vermittler hinsichtlich der medialen Stufung der Vermittlung eine hierarchische ist. Der Engel sichert die WAHRnehmung des Visionärs, der später den Menschen seine Gesichte mitteilt; es handelt sich also um die Sicherung durch ein Medium des Göttlichen (Engel) für ein Medium des Menschen (Visionär). Der Dichter entspricht dieser zweifachen Staffelung des Medialen, wenn er für den Vortrag dichtet: Er macht textuell die Fiktion sichtbar, damit sie der Rezitator als zweite mediale Instanz vor einem Publikum heraufbeschwören kann. Als Dichter für einen Leser fällt die Dopplung der Medialität nur dann weg, wenn dem Text kein mediales Eigenleben zugesprochen wird. Im Mittelalter ist jedoch genau das der Fall, wie sich bereits am sprechenden Buch im Wigalois-Prolog gezeigt hat.262 Die Vermittlung durch den Rezitator zielt hingegen direkt auf den Zuhörer ab; er visualisiert für einen ‚End-

261 KRÄMER, 2008, S. 122 und S. 112. 262 Siehe Kapitel 3.1.

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abnehmer‘ – im definitorischen Sinne der Aufführung handelt der Rezitator also im Gegensatz zu Engel und Dichter unmittelbar. Durch den angelus interpres wird die Paulusapokalypse Augustinus’ Diktum, dass nur die Engel Gottes Lehre verstünden, gerecht: Nur die erklärenden Worte des Himmelsboten machen dem Charismatiker das Gesehene verständlich. Diese Erklärungen werden im Pariser Manuskript der Apokryphe mehr als fünfzig Mal gegeben mittels der Formel:263 „Et respexi [...] et uidi [...]. – Et interrogaui angelum et dixi: [...]? – Et respondens angelus dixit mihi: [...].“264 Paulus sieht die Bilder und hört die Worte; doch die verstandesmäßigen Erkenntnisse (visio intellectualis)265 kommen nicht von ihm selbst, sondern stets aus dem Mund des Engels. Ohne sie bliebe das Jenseits arkan, auf die (nach Augustinus) ineffabilis verba beschränkt – es bliebe tabu. Der angelus interpres wird über das Vorbild der Paulusapokalypse (die wiederum auf ältere Apokalypsen zurückgreift) 266 zum topischen Bestandteil der plastischen Jenseitsfahrten. Er taucht in den von Dinzelbacher erfassten Texten der Visionsliteratur – unter Verwendung einer ähnlichen Frage-Antwort-Formel –267 in der Visionsbeschreibung 263 Die Frage-Antwort-Formel findet sich in allen anderen Handschriften genauso häufig und ist selbst in dem kurzen mittelhochdeutschen Fragment zweimal belegt; vgl. PAULUS, 210,40-43 und 211,58-63. 264 Hier: PAULUS 12,1-9; „Und ich blickte [...] und ich sah [...]. – Und ich fragte den Engel und sagte: [...]. – Und der Engel sagte antwortend zu mir:“; Übersetzung: DUENSING/DE SANTOS OTERO, 1989, S. 651. 265 Vgl. DINZELBACHER, 1989, S. 19. 266 Als Ursprung für das Bildmaterial der plastischen Jenseitsschauen kann die Johannes-Offenbarung gesehen werden. Man findet in dieser eine vergleichbare Tabuisierung (vgl. Apc 9,4f.) – jedoch lediglich in Anklängen eine vergleichbare Engels-Figur. Im biblischen Text erklärt zwar an einigen Stellen eine körperlose Stimme Johannes die Bedeutung des Gesehenen und Engel zeigen ihm Dinge; die Vermittlungsfunktion wird also auch hier stark betont. Jedoch mindern die Vermittlungsgestalten die Distanz vom Visionär zu seiner Vision nur in geringem Maße. In der Form des mitreisenden Gefährten entwickelt sich der angelus interpres erst in der jüdisch-christlichen Apokalyptik (und evtl. mit Bezug auf Vergils Sibylle) zum Bestandteil der Schauungen; vgl. VORGRIMLER, 1994, S. 66-88; siehe Anm. 244. 267 „Tunc sanctus angelus [...] dixit: ‚Respice mundum.‘ Tunc uir sanctus respexit et uidit [...] quattuor ignes [...]. Dixitque rursum sanctus angelus: ‚Qui sunt hi ignes?‘ Vir domini se nescire respondit. Cui angelus dixit [...]“; „Dann sprach der heilige Engel: ‚Blicke auf die Welt zurück.‘ Da

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Erklärende Engel

in der Vita S. Fursei aus dem 7. Jahrhundert auf. Auch in den Visionsbeschreibungen des von Le Goff zum „Begründer“ der mittelalterlichen Visionen ernannten Angelsachsen Beda aus dem Jahre 735 begleitet und erklärt der Engel.268 Er geht in den frühen Texten der Gattung durch diverse Gestalten,269 erscheint im 12. Jahrhundert in der Visio Tnugdali in Form eines persönlichen Schutzengels, erhält Einzug in den höfischen Roman durch den Roman d’Eneas bzw. den Eneas, in dem nach Vergil’schem Vorbild die Sibylle von Cumae den Protagonisten leitet,270 und bleibt bis zu Dantes Commedia erhalten, in der Vergil

blickte der heilige Mann zurück und sah [...] vier Feuer [...]. Und wiederum sprach der heilige Engel: ‚Was sind diese Feuer?‘ Der Mann Gottes antwortete, er wisse es nicht. Ihm sagte der Engel: [...]“; Text und Übersetzung in DINZELBACHER, 1989, S. 46f. 268 Vgl. LE GOFF, 1990, S. 139f. 269 In der Visio Bratoni aus dem 8. Jahrhundert, der ersten eigenständig überlieferten Vision, sind es bspw. zwei weißgekleidete Knaben, die den Charismatiker führen (vgl. DINZELBACHER, 1989, S. 50-53); in einer im Chronicon Virdunense seu Flavianiacense des Abts von Flavigny und St. Vannes (1065-1140) berichteten Jenseitsfahrt ist es der Erzengel Michael; vgl. ebd., S. 64-67. 270 In Eneas’ Unterweltfahrt sind alle typischen Elemente der Figurenkonstellation vorhanden. Der Frage-Antwort-Wechsel findet sich in V. 2972-78, 3032-35, 3076-79, 3156-58 und 3370-81. Mehrmals wird auf die WAHRnehmung des Helden hingewiesen, v. a. über das mhd. Verb ‚merken‘, das in diesem Zusammenhang die Einprägung der sinnlichen Eindrücke meint, die es der Oberwelt zu bezeugen gilt (vgl. ENEAS, V. 2991, 3042, 3049-51, 3307, 3657). Am Ende des Aufenthalts in der Unterwelt, also vor Eintritt in die Elysischen Gefilde, findet sich sogar eine Passage, die man als ganz gezielte Anspielung auf die arcana verba des Korintherbriefs verstehen kann. Dort behauptet Eneas’ angelus interpres Sibylle hinsichtlich der Höllenqualen: daz screib allez Mînôs, der sich des underwant, daz herz mit lôze bevant mit listechlîchen dingen al besunderlingen die wîze von der helle, die nieman mohte erzellen; daz sim iemer an der erden alle kunt mohten werden. (ENEAS, V. 3542-52)

Das alles hat Minos aufgeschrieben, der sich vorgenommen hatte, mit weissagendem Los und klugen Dingen jeweils einzeln die Qualen der Hölle, die niemand erzählen kann, herauszufinden sodass sie auf Erden immer allen bekannt sein sollten.

Das Minos zugeschriebene Ziel entspricht dem Unterfangen der Visionsliteratur überhaupt, die arcana verba des Korintherbriefs, quae non licet homini loqui (hier: die nieman mohte erzellen), in der Imagination der

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selbst als profanisierter Engel271 den Charismatiker durch das Jenseitsreich führt. Im Kapitel 2.2 wurde anhand des Welschen Gast das Modell der vier Kräfte imaginatio, memoria, ratio und intellectus als ein mittelalterliches Beschreibungsmuster der Rezeption von Fiktion fruchtbar gemacht. Der eigentliche Wahrnehmungsvorgang findet nach diesem Modell im Wechselspiel der ‚Schwestern‘ imaginatio und memoria statt, während die ratio als moralischer Zensor des Vorgangs agiert. Die ratio richtet sich dabei nach den Regeln, die sie mittels intellectus durch Gott erfahren hat. Wendet man dieses mittelalterliche Modell auf den Wahrnehmungsvorgang in der Paulusapokalypse an, so repräsentiert der Engel den intellectus, die Verbindung zur himmlischen Sphäre, eine Rolle, in der auch Augustinus ihn beschreibt: Der Mensch erfährt die Lehre Gottes, „ut in illo concipiuntur ab Anglis“, ‚wie sie von ihm in den Engeln begriffen wird‘.272 Als Symbol des intellectus ist es also der Engel, welcher der menschlichen ratio ein Begreifen des sensuell Wahrgenommenen garantiert. Die imaginatio des Paulus nimmt die Sinneseindrücke auf, sein intellectus (der angelus interpres) erklärt das Gesehene in Hinblick auf die himmlischen Gesetzmäßigkeiten, sodass seine ratio es nach profan-moralischen Mustern begreift und über Einschreibung in seine memoria den Mitmenschen nach dem Durchleben der Vision kommunizierbar macht. Es handelt sich bei der WAHRnehmung in der apokryphen Schrift also um einen alle sinnesverwaltenden Kräfte integrierenden Vorgang. Menschen durch plastische Höllenqualen zu ersetzen. Zur Unsagbarkeit der Höllenqualen vgl. auch ENEAS, V. 3588. 271 Dantes Konstruktion der Engelsgestalt deckt sich – trotz einer bedeutsamen Variation – mit der obigen Beobachtung. Die Bedeutung Vergils (in Dantes Schreibweise: ‚Virgils‘) für das Mittelalter wurde in der Danteforschung wie folgt dargestellt: „Virgil konnte neben Aristoteles zur allegorischen Gestalt der menschlichen Vernunft erhoben werden [...]. Wenn man Virgil allegorisch deutet, so würde sein Schweigen [im ersten Gesang] das lange Verstummen der Ratio bedeuten“; GMELIN, 1954, S. 36f. Dante ersetzte also den Engel als Sinnbild des intellectus (s. o.) bzw. der göttlichen Inspiration durch eine Symbolgestalt der menschlichen ratio. Es handelt sich um einen Vorgang der Profanisierung und somit Rationalisierung der Visionsliteratur, welche Dante in seiner Commedia nicht nur am angelus interpres, sondern (oft politisierend) an beinahe allen Elementen der älteren Visionsliteratur vornahm. 272 JOHANNESKOMM. XCVIII,8.

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Erklärende Engel

Den Zusammenhang der Wahrnehmung des Visionärs mit Gaweins Situation in den Wunderketten erläutert Gudrun Felder bezüglich der Johannes-Offenbarung wie folgt: „Johannes ist zu Beginn dadurch in das Geschehen eingebunden, daß er mehrmals eine Stimme hört und den Auftrag bekommt, alles aufzuschreiben (Apc 1,10f.). Diesem Auftrag kommt er gewissenhaft nach, vgl. Apc 9,4f., wo er gebremst wird, weil er etwas nicht protokollieren darf; Gawein merkt sich die Erscheinungen, um sie später erzählen zu können (V. 14229). Beide sind also lediglich in Gesichts- und Hörsinn angesprochen sowie in ihrer Zeugenfunktion.“273

Felder stellt mit der Zeugenfunktion den entscheidenden Zusammenhang zwischen dem WAHRnehmungsmodus des Visionärs und dem des Ritters dar. Jedoch leitet sie in die Irre, wenn sie – unter Berufung auf Keller –274 Gaweins Bestreben anhand der kurzen Passage „Was jnen beyden [zwei hinfort reitenden Rittern] solte geschehen / Das er fùr ware möhte gejehen“275 als Ausdruck seines Willens liest, später dem Artushof davon erzählen zu wollen. Der Vers bezieht sich auf die Fernwahrnehmung von Rittern, die Gawein tatsächlich nie richtig zu Gesicht bekommt.276 Er steht jedoch in engem Bezug zu der deutlichsten Formulierung des Ziels des Ritters, sich die flüchtigen Bilder (genau wie der Charismatiker der Visionsliteratur) zur Weitergabe einzuprägen: „Yedoch er des nit vergasz / Vnd marckte es in sinem mĤt“.277 Die Offenheit dieser Formulierungen impliziert, dass es sich bei denjenigen, für die Gawein sich das Geschehen merkt und denen er es jehen möchte, nicht um Figuren der Artuswelt handeln muss. 278 Vielmehr wird 273 FELDER, 2006, S. 363. 274 Vgl. KELLER, 1997, S. 80. 275 KRONE, V. 14228f. (‚Was diesen beiden geschehen würde, / das hätte er wahrlich [als Wahrheit] berichten wollen‘). 276 Lediglich das Ergebnis der Begegnung der Ritter kommt Gawein im folgenden ‚Stillleben mit blutiger Rüstung‘ (vgl. KRONE, V. 14237-66) zu Gesicht und das auch nur, wenn man einen Zusammenhang der Bilder anzunehmen gewillt ist, den der Text nicht herstellt. 277 KRONE, V. 14408f. (‚Jedoch vergaß er dies nicht / und prägte es sich ein‘). 278 Eine ähnliche Motivation findet sich bei Gaweins erstem Gralsbesuch, als er seinen Gastgeber verlässt und die Burg erkundet, „das er es gesagen kùnde“; KRONE, V. 14644; ‚damit er es mitteilen könnte‘. Auch in diesen

255

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Gawein durch eine „angedeutete Erzählfiktion“279 für die Zuhörer zum Gewährsmann, der das fiktive Geschehen durch seine WAHRnehmung bewahrheitet. Die Zeugenschaft ist somit nicht nur auf der Ebene der histoire angesiedelt, sondern meint einen fiktionsübergreifenden und -vermittelnden Vorgang. Felders Verweise auf die Johannes-Offenbarung beziehen sich auf Stellen, in denen eine körperlose Stimme der Funktion des erklärenden Engels ähnelt.280 Worauf Felder nicht hinweist, ist, dass in den Wunderketten solch eine Stimme genauso wenig wie ein angelus interpres zu finden ist. Im Vergleich der Wahrnehmungsvorgänge und Figurenkonstellationen von Visionsliteratur und Wunderketten und der von Krämer festgestellten Analogie von Engel, Dichter und Rezitator muss also die Frage gestellt werden: Wo ist der Engel der Wunderketten? In der ersten Wunderkette ist es Gaweins Bestreben, eine Erklärung für das Gesehene zu finden; er verfolgt die Gralspferde, beseelt von der Suche nach einer rationalen Erklärung des Wunders der 600 erschlagenen Ritter. Er will das Geschehende ‚bezeugen‘. Doch Gawein findet bis zum Schluss der drei Wunderketten keine Lösung. Er wird in seiner Konfrontation mit den hermetischen Bildern allein gelassen. Die Wunder häufen sich, doch ihre Erläuterungen durch einen ‚Zeugenschaftshelfer‘ bleiben aus.281 Die einzigen Helfergestalten in diesen Passagen (die Jungfrau Gerner von Kartis282 in der ersten, der im Dienst der Sælde stehende Aanzin283 und seine Schwester284 in der zweiten und die Göttin Manbur285 in der dritten Wunderkette) erklären Gawein nichts zu

279 280 281

282 283 284 285

256

Versen wird der Drang ‚mitzuteilen‘ nicht auf den Artushof beschränkt. Die Beschreibung bleibt unspezifisch und lässt so Gaweins Status als Augenzeuge der Zuhörer anklingen. KELLER, 1997, S. 80f. Siehe Anm. 266. Aufklärung erhalten Ritter und Zuhörer erst vom Gralsherrn, jedoch auch nicht über die Bedeutung, sondern nur bezüglich des Telos der Bilderfolgen. Im Folgenden wird diese ‚Erklärung‘ noch zur Sprache kommen; siehe Kapitel 3.5. Vgl. KRONE, V. 14410-567. Vgl. KRONE, V. 15933-95. Vgl. KRONE, V. 16352-499. Vgl. KRONE, V. 28262-607. Der Name der Göttin ist nicht gesichert. In den Versen 28604f. heißt es „dise botschafft [...] / Die manbur enbot“, doch wie die Herausgeber Ebenbauer und Kragl in einer Fußnote betonen, ist es nicht sicher, dass es sich hier um einen Eigennamen handelt. Als alternati-

Erklärende Engel

den Bildinhalten, sondern sorgen nur dafür, dass der Ritter sich an den passiven Wahrnehmungsmodus der Ketten hält und somit die Basis – jedoch lediglich diese – idealer Zeugenschaft bietet. Wenn Heinrich mit den Wunderketten also den in der Visionsliteratur etablierten Wahrnehmungsmodus zitiert, so tut er dies unter gezielter Auslassung des angelus interpres. Er verweigert dem Zuhörer die den intellectus und die ratio bedienenden Konventionen, das Ansteuern der laut dem Welschen Gast „besten krefte, die er [der Mensch] hât, / und die im solden geben rât / ze hüfscheit und ze guoten dingen“.286 Der Dichter reduziert die Darstellung der Konfrontation Gaweins mit den Wunderketten so auf ein ‚unzensiertes‘ Wechselspiel von imaginatio und memoria. Dieses Umgehen von ratio und intellectus ist für die performative Fiktionsvermittlung äußerst wichtig, denn zur Konstruktion der Kopfbühne sind – wie in Kapitel 2.2 dargelegt wurde – v. a. die ‚Schwestern‘ imaginatio und memoria zuständig.287 Bei einer illusionistischen Wirkabsicht, also beim Versuch einer direkten Einwirkung auf die imaginatio, stellten die leitenden und zensierenden Instanzen intellectus und ratio Störelemente dar. Die Wunderketten beschränken ihre Idealrezeption so auf den ‚Affektbereich‘. Für den Zuhörer bedeutet die affektive Bindung an den kameraartigen Gawein, dass er entweder ohne ‚theologische‘288 Leitung auf seine eigene, ungeleitete ratio vertrauen muss oder aber den Hermetismus der Wunderketten als ästhetischen Wert anerkennt und sich nach dem Vorbild Gaweins ohne intellektuelle und rationale Absicherung, also rauschhaft dem Wechselspiel von imaginatio und memoria hingibt. Gerade für diese ‚illusionswillige‘ Rezeption hat die „spektakuläre Sensationalisierung“289 der Beschreibungen einen anderen Stellenwert

286 287 288 289

ve Lesarten führen sie ‚man bur (bor?)‘, ‚man vor‘, ‚man dar‘ und ‚man bi ir‘ an; vgl. KRONE, Anm. zu V. 28605. Die bisherige Forschung hat, der Lesart Scholls folgend, in den Versen stets die Nennung eines Eigennamens gesehen, weswegen auch die vorliegende Studie dies, jedoch unter Vorbehalt, übernimmt. WELSCHER GAST, V. 8837-39; ‚die besten Kräfte, die er hat, / und die ihm Rat geben sollten / bezüglich des höfischen Wesens und guter Dinge‘. Vgl. WELSCHER GAST, V. 8789-8816; siehe Kapitel 2.2. Vgl. DERRIDA, 1976, S. 355; siehe Kapitel 2.3. Fuchs-Jolie beschreibt unter Rekurs auf Haugs Thesen zum so genannten ‚nachklassischen Roman‘ (vgl. HAUG, 1992, S. 259-287) die „spektakuläre Sensationalisierung“ als „Wucherung der Phantasmen in den Texten des

257

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

als in herkömmlichen narrativen Passagen: Die Sensationen sind nicht Bedeutungsträger, sondern korporaler Bestandteil der performativen Fiktionsvermittlung. Durch die Entmachtung von ratio und intellectus auf der Textebene strömen die Sinneseindrücke unzensiert bzw. affektiv auf das Körperschema ein. Wenn der Rezipient sich nicht dafür entscheidet, durch seine ratio die reine Sinnlichkeit des Vermittlungsvorgangs zu stören, werden Gaweins fiktive Nerven mit seinen imaginativen Sinnen verschaltet: Des Ritters Haut wird gewissermaßen zum Trommelfell des Rezipienten. Dieser Vermittlung sensueller Informationen im Modus konstruierter Unmittelbarkeit – oder anders: mittels einer gesteigerten Korporalität der Aufführungssituation – muss größte Aufmerksamkeit zukommen: Aufmerksamkeit von Seiten des den Text als Partitur erschaffenden Dichters sowie von Seiten des die Partitur untersuchenden Wissenschaftlers.

13. Jahrhunderts“. Er betont v. a. hinsichtlich der Träume im Prosalancelot, dass mittels der gesteigerten, ja wuchernden Sinnlichkeit der Beschreibungen „der Roman die Grenzen und Potenzen der eigenen Erzählstrategien diskutiert und dabei mit verschiedenen Möglichkeiten narrativer Sinnkonstitution jenseits der herrschenden Paradigmen linearen Pseudo-Chronikalismus experimentiert“; FUCHS-JOLIE, 2003, S. 316. Bezüglich der Krone und v. a. der Wunderketten sehe ich dies ähnlich, denke aber, dass es wichtig ist, gerade bei einer ‚Sensationalisierung‘ deren mediale Ausrichtung mitzubedenken. Fuchs-Jolie ist es v. a. daran gelegen, die von Haug dargestellte Abkehr der späteren Romane von einer formgebenden conjointure in ihrer narrativ-programmatischen Eigenwertigkeit zu betonen, doch, so will mir zumindest hinsichtlich der Krone scheinen: Diese Eigenwertigkeit läuft nicht so sehr in den Bahnen einer neuen Romanästhetik oder einer neuen Art des Schreibens, als vielmehr in denen einer neuen Rezeptionshaltung, die aber, zumindest beim Versroman, nicht als narrativer, sondern performativer Wandel zu beschreiben ist.

258

Verlorene Aventüren und Sinneskonkurrenz

3.4.2 Verlorene Aventüren und Sinneskonkurrenz Um der korporalen Wirkweise der Wunderketten näher zu kommen, sollen Beispiele für die nicht nur visuellen Eindrücke,290 sondern das gesamte Spektrum der fünf Sinne abdeckenden Sinnesregie beschrieben werden.291 Die erste Wunderkette beginnt mit einem Zustand der sensuellen Taubheit: Als sie nü in den walt kamen

Als sie [die Artusritter] nun in den Wald kamen

Vnd den weg fúr sich namen,

und auf dem Weg daher ritten,

Gawein begunde trahten

begann Gawein zu sinnieren

Vnd vmb die tyost achten,

und an die Tjost zu denken,

Da er die erste wolt geben.

[weil] er da die erste reiten wollte.

Nü ging ein weg by yme eineben, Nun verlief ein Weg neben ihm her, Der jne von sinen gesellen trug;

der ihn von seinen Gesellen wegführte.

Daruff er sin rosz slug

Darauf lenkte er sein Ross

Das er sich des nye verstunt,

ohne dies zu merken,

Also die lùte alle tünt,

so wie es alle Leute tun,

So sie in gedencken sint;

wenn sie in Gedanken versunken sind;

Da von sint sie schier blint.

davon sind sie schier blind.

(KRONE, V. 13935-46)

Gawein gerät am Anfang der ersten Wunderkette in den Zustand des Tagtraums; sein Geist verweilt nicht bei den Phänomenen seiner unmittelbaren Gegenwart. Dieser Zustand ähnelt den Eingangskriterien, welche für die Vision bzw. die Traumvision gelten: die Ekstase, also die Trennung der Seele vom Leib292 oder eine ähnliche Trennung durch den Schlaf, der die Traumvision einleitet.293 Gawein führt diese Trennung fort aus seiner sozialen ‚Realität‘, die Gemeinschaft der Artusritter, hinein in ein ihm fremdes Gebiet. Sodann vernimmt „er [Gawein] einen hertten strijt“,294 eine akustische Sensation, die in die Leere seines ‚erblindenden‘ Halbschlafs einbricht und ihn in einer ‚Jenseitswelt‘ erwa290 Vgl. WANDHOFF, 1996, S. 169-176. 291 Für weitere Ausführungen zur Sinnesregie dieser Passage vgl. DÄUMER, 2010 (Hje kam von sinen augen). 292 Vgl. DINZELBACHER, 1981, S. 29ff. 293 Vgl. ebd., S. 39ff. 294 KRONE, V. 13958; ‚hörte er einen harten Kampf‘.

259

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

chen lässt.295 Gawein folgt dem Geräusch. Dabei reitet ihm eine Jungfrau mit einem toten Ritter im Arm entgegen, die lautstark Parzivals Versagen vor dem Gral beklagt: ‚Süszer got, lasz mich sehen

‚Lieber Gott, lass mich befreit von

Einen lieben tag an Parcifaln!

Parcifal einen lieben Tag erleben!

Da er das spere vnd den grol

Als er die Lanze und den Gral

Hersahe zü Gornomant,

zu Gornomant sah,

Das er min leit nit erwant

dass er mein Leiden und die Qualen

Vnd maniger frauwen swere,

vieler Damen nicht abwandte,

Da der arm vischere

als der arme Fischer es [das Gralsgeschehen]

Es jne by der naht sehen hiesz,

ihn [Parcifal] nächtens sehen hieß,

Das er jne vngefraget liesz.‘

dass er ihn da ungefragt zurückließ.‘

(KRONE, V. 13995-14003)296

295 Das Aufschrecken Gaweins aus seinem Halbschlaf wird in der vorliegenden Studie nicht im Sinne Meyers verstanden, der einen ‚Traum vom Gral‘ beginnen lässt, der erst nach den Erlebnissen auf der Gralsburg im Ausgang der ersten Kette endet; vgl. MEYER, 1994, S. 120f.; ähnlich auch bei KAMINSKI, 2005, S. 57-78. Natürlich überschreitet Gawein an dieser Stelle eine Grenze; doch warum sollte es die zwischen Wachen und Schlafen sein? Auch das Schlafverbot vor dem Gral, das Meyer als Beleg seiner Interpretation anbringt, weist eher auf die im Folgenden diskutierte sensuell-perzeptive Debatte hin, als dass es zwingend zu einer Überführung der Ketten ins Land der Träume führen muss. Ähnliche Einwände führen auch Bleumer (vgl. BLEUMER, 1997, S. 246) und Keller (vgl. KELLER, 1997, S. 38) an. 296 Die Stelle birgt gleich drei Übersetzungsprobleme: (1) Die Konstruktion „an Parcifaln“ ist unklar. Kragl übersetzt „Lieber Gott, mach, dass ich noch einmal sehe, dass Parzival einen guten Tag hat!“ und versieht die Übertragung mit der Anmerkung: „Auch möglich ist: ‚... dass ich noch einmal einen guten Tag – ohne Parzival – erlebe‘; je nachdem, ob man mittelhochdeutsch an oder âne ansetzt. Einmal wird Parzival Gutes gewünscht, einmal wird er verflucht“; KRAGL, 2012, S. 205. Ich interpretiere die Formulierung als ‚âne Parcifaln‘, sehe darin aber nicht unbedingt einen Fluch, sondern Ausdruck einer Hoffnung der Cousine, ohne die Last von Parcifals Vergehen sein zu können, die sie ja ganz offensichtlich mitzutragen hat (V. 1399: min leit). Der Name Pacifaln stünde dann als Allegorie seines Vergehens. (2) Schmid bezieht das ‚Es‘ in V. 14002 auf die Versammlung der Frauen. Sie überträgt den Vers deshalb mit „als der arme Fischer sie [die Frauen] ihm in jener Nacht vor Augen führte“; SCHMID, 1994, S. 278. Es gibt aber keinen Grund, in ‚Es‘ eine Pronominalisierung der Frauen oder ihrer swere zu sehen (dann müsste ‚Sie‘ am Versanfang stehen).

260

Verlorene Aventüren und Sinneskonkurrenz

Die Dame – eine Kopie der Chrétien’schen Cousine Percevals bzw. von Wolframs Sigune –297 beklagt dessen Gralsvergehen als eine perzeptive Fehlleistung. Ihm wurde vom Fischerkönig der Gral in einer Prozession vorgeführt. Der Vers „Es jne by der naht sehen hiesz“ ist in seinen grammatikalischen Bezügen unklar und kann deshalb zweierlei bedeuten: Entweder das hiesz bezieht sich auf ein Ingesinde, dem der Gralsherr anordnete, Parcifal den Gral zur Nachtstunde vorzuführen; oder aber der Vers impliziert, dass Parcifal vom Fischerkönig ‚geheißen‘ wurde, den Gral „by der naht [ze] sehen“, eine Aufgabe, die er nicht erfüllte und deshalb die entscheidende Frage versäumte. Der Name des Orts, an dem Parcifal den Gral sah, überrascht: ‚Gornomant‘ meint zwar zweifellos einen Ort und nicht Gurnemanz, den Erzieher Parzivals in Wolframs Roman,298 dennoch ist es auffällig, dass Heinrich für die perzeptive Arena des gescheiterten Gralssuchers ausgerechnet eine Anspielung auf die Figur einbaut, die Parzival die ritterliche Moral- und Verhaltenslehre beibrachte. Schließlich war es diese Lehre, die ihm vor dem Gral ‚die Sinne vernebelte‘ – man denke hier an Kracauers Ideologiekritik –299 und seine Zeugenschaft scheitern ließ. Die Worte der klagenden Dame setzen also gleich zu Anfang der Wunderkette die sensuelle WAHRnehmung des/der Protagonisten in den Status eines potenziell erlösenden, doch ebenso gefährdeten Vorgangs, an dessen Instabilität höfische Konventionen beteiligt sind. 300 Damit verleiht sie der WAHRnehmungsgefährdung Ausdruck, wie sie Benja-

297 298 299 300

Vielmehr scheint ‚Es‘ unspezifisch die Gralsprozession zu meinen. So sieht es evtl. auch Kragl, der neutral „all dies“ schreibt; KRAGL, 2012, S. 206. (3) Die Pronominalisierung in den Versen 14002f. stellt generell ein Problem dar. Schmid wählt den Weg, jne auf eine gesichtslose Dienerschaft zu beziehen; vgl. SCHMID, 1994, S. 278. Dieser Dienerschaft würde der Fischerkönig befehlen, Parcifal den Gral vorzuführen. Bei dieser Lesart besteht jedoch das Problem, dass jne im Folgevers 14004 im Akkusativ Singular verwendet wird. Deshalb erscheint es sinnvoller, das jne in 14002 (wie auch KRAGL, 2012, S. 206) als Pronominalisierung Parcifals zu lesen. Siehe Kapitel 3.3. Vgl. FELDER, 2006, S. 369. Siehe Kapitel 3.3.1. Vgl. DIETL, 2007, S. 285, die den Grund für Parzivals Frageversäumnis in Wolframs Werk als ähnliche Misere wie die Gaweins in den Wunderketten darstellt; siehe Kapitel 3.3. Thomas bezeichnet die Ketten als „initiatory forms of descensus as a preparition for his [Gawein’s] final challenge“; THOMAS, 2002, S. 65.

261

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

min für das „gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit“, also als genrelles Problem der Rezeption formuliert.301 In diesem Sinne steht die erste Kette auch an einer symbolischen Position im komplexen Gefüge der Krone, eröffnet sie doch den zweiten Teil des Romans und befindet sich deshalb – wie Keller zeigt –302 an der Stelle, in der im Chrétien’schen Modell des Doppelwegs die Krise des Helden stattfinden müsste. Bei der ersten Wunderkette handelt es sich jedoch nicht um eine Krise, die (wie in den nach der Doppelwegstruktur gebauten Texten) aus den figuralen Anlagen der Protagonisten resultiert. Gaweins Status als Idealritter bleibt unangetastet, 303 die Krise scheint vielmehr – so die Hypothese – auf den Vorgang der Fiktionsvermittlung bzw. auf die Ebene der Aufführung verschoben.304 Mit ihrer Funktion, kommende Aufgaben anzukündigen, wird die Passage der Rolle eines „Vorspiels“305 gerecht. Gawein kann jedoch nicht bei der Chrétien’schen Cousine verweilen, um Näheres über das dem Vorspiel folgende ‚Drama‘ zu erfahren, sondern reitet weiter auf den Schlachtenlärm zu. Der Grund für dieses nach der Logik eines Handlungsraums sehr fragliche Verhalten ist der folgende: 301 BENJAMIN, 1982 (Passagen-Werk), S. 578; siehe Kapitel 3.3.1. 302 Vgl. KELLER, 1997, S. 30. Diese Position steht in starkem Kontrast zu Haugs Wertungen der Wunderketten und ihrer Bilder als „surreales Panoptikum“, „Phantasmagorie“ (vgl. HAUG, 1980 [Paradigmatische Poesie], S. 213f.) oder „Ausgeburten einer perversen Einbildungskraft“ (ebd., S. 146). Haug vermutet in den Passagen zwar einen versteckten Sinn (vgl. HAUG, 1984, S. 146), jedoch einen Sinn ohne konkrete Bedeutung für den Rest des Epos; vgl. HAUG, 1980 (Paradigmatische Poesie), S. 213f. Genauso wie Haugs Position muss in diesem Zusammenhang die Deutung Knapps abgelehnt werden, dass es unwahrscheinlich sei, dass den Wunderketten „ein kompositorischer Stellenwert oder gar tieferer Sinn im Werkganzen zukommt“; KNAPP, 1994, S. 553. Der Grund für diese teils vehementen Ablehnungen einer Bedeutung der Ketten beruht darin, dass Haug und Knapp ihr Urteil aufgrund der hermetischen Bildinhalte fällen; ein Zugang zur Bedeutung der Ketten kann jedoch nicht nur über deren Inhalt, sondern muss in deren Erzähl- bzw. Präsentationsmodus gesucht werden. 303 Vgl. BLEUMER, 1997, u. a. S. 255. 304 Siehe 3.5. Einen ähnlichen Akt der Verschiebung beschreibt Justin Vollmann; vgl. VOLLMANN, 2010. Er sieht die Neuverortung der Krise als eine, die vom Protagonisten auf den Artushof wechselt. In Anbetracht der häufigen ‚Verschaltung‘ von Publikum und Artushof (siehe Kapitel 4.2) handelt es sich um ein analoges Phänomen. 305 Vgl. KELLER, 1997; dort Übersicht im (unpaginierten) Anhang.

262

Verlorene Aventüren und Sinneskonkurrenz Nü hat Gawein ir hertzeleit

Nun hatte Gawein ihr Herzensleid

Vernomen vnd nit gesehen.

zwar gehört, doch nicht gesehen.

Er begann ir sere nach sehen,

Angestrengt begann er ihr hinterher zu blicken,

Wenn es jne rürende began,

weil es ihn bewegte,

Das er sie hett fùr gelan

dass er sie, ohne ihre Geschichte zu erfragen,

Vngefraget diser mere. [...]

hinter sich gelassen hatte. [...]

NĤ horte er aber vor yme da

Nun hörte er abermals vor sich

Die ritter strijden also E

die Ritter wie zuvor

– Vnd ein stymme rüffen we –

verbissen gegeneinander kämpfen

Gein einander bitterlichen.

und eine Stimme ‚Weh‘ rufen.

NĤ began er fast strijchen

Er begann nun, als er

Dar, als er da die stymme vernam, die Stimme vernahm, dorthin zu eilen, Wenn es yme zü sehen zam.

weil es ihm zu sehen angemessen war.

(KRONE, V. 14010-30)

Beim Verhältnis dieser ersten beiden Stationen (‚klagende Dame‘ und ‚Untergang der 600 Ritter‘) handelt es sich um eine Konkurrenz der vom Protagonisten wahrzunehmenden Bilder:306 Gawein muss entscheiden, ob er das an ihren Klagelauten erkannte, doch nicht ergründete Leid der Dame erfahren möchte oder lieber der akustischen Ankündigung einer Schlacht folgt, die ihm zü sehen zam. Die von der Cousine angekündigten perzeptiven Forderungen an den Ritter setzen also direkt

306 Die Konkurrenz der Bilder stellen auch Schmid (vgl. SCHMID, 1994, S. 277-285) und Bleumer (vgl. BLEUMER, 1997, S. 239f.) fest, wobei keiner auf die Bedeutung dieser Konkurrenz für den Rezipienten eingeht. „Allen Wunderketten ist gemeinsam, daß der Held auf seinem Wege eine Folge von Szenen vorfindet, ohne direkten Kontakt mit ihnen herzustellen. Darüber hinaus eignet der Struktur der ersten beiden Wunderketten ein konkurrierendes Moment, das die letzte nicht kennt: Gawein wird jeweils ein Ziel vorgegeben, was ihn auf seinem Weg vorantreibt, wozu aber die einzelnen Wunder als abweichende Handlungsanreize in Widerstreit treten“; ebd. Die Abgrenzung, die Bleumer bezüglich der dritten Wunderkette vornimmt, ist, was die Handlungsmotivation des Helden angeht, gerechtfertigt, da Gawein dort nicht mehr auf das Handlungsangebot der Bilder reagiert. Er hat zu diesem Zeitpunkt den Modus der Wunderketten erlernt, weswegen auch die Bilder, die in der ersten und zweiten Wunderkette noch aventiuren heißen und somit schon in ihrer Bezeichnung eine Handlungsmöglichkeit des Helden suggerierten, durchgängig nur noch als wunder bezeichnet werden; vgl. RÜTHER, 2002, S. 25.

263

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

in Form einer Konkurrenz von visueller und akustischer (und wiederum ins Visuelle zu wandelnder) WAHRnehmung ein. Aufgrund von Gaweins Zeugenfunktion sind von dieser Entscheidung für die eine Sensation statt der anderen nicht nur der Ritter und die Dame betroffen: Es setzt mit dieser Konkurrenzsituation des ersten und zweiten Bilds auch beim Rezipienten eine Verunsicherung ein. Da die Existenz der fiktiven Welt in der imaginatio des Zuhörers ausschließlich von Gaweins kameraartiger Wahrnehmung abhängt, steckt er gemeinsam mit dem Ritter in einer Zwickmühle. Soll Gawein die Dame nach dem Grund ihres Leidens fragen oder lieber dem Schlachtenlärm folgen? Welches Wunder soll der Held für den Rezipienten WAHRnehmen? Welche ‚Bezeugung‘ ist die richtige? Die Entscheidung des Ritters kennt keine befriedigende Lösung, da dem Zuhörer in jedem Fall eine potenzielle Geschichte verloren geht und die Kohärenzherstellung über die ‚teilnehmende Montage‘ nicht gelingen kann. Im Folgenden wird diese Unsicherheit der Fiktionsvermittlung mittels des „refrainartig zwischen die Bilder geschobenen Agens der Furcht, die aventiure [ze] verliesen“307 zum Leitmotiv der Ketten. Diese Zwickmühle der Bezeugung ist für einen höfischen Roman äußerst untypisch, da es normalerweise keine verlorenen Abenteuer gibt. Selbst wenn sich in anderen Romanen der Held zwischen zwei zu bestehenden Aventüren entscheiden muss, wartet – den Mechanismen der Bachtin’schen Abenteuerzeit entsprechend –308 das eine Abenteuer noch immer auf ihn, nachdem er das andere bestanden hat. Als Beispiele können die Episodenverschachtelungen in Hartmanns Iwein und im Daniel von dem Blühenden Tal des Stricker gelten. In Hartmanns Roman verpflichtet sich der Held, für Lunete einen Gerichtskampf auszutragen, doch auf dem Weg zu diesem wird er aufgehalten und muss erst eine Burg gegen den Riesen Harpin verteidigen. Auch wenn das Bestehen der Harpin-Aventüre eigentlich zu viel Zeit in Anspruch nimmt, gelingt es dem Helden trotzdem, pünktlich zum Gerichtskampf zu erscheinen.309 Der Grund hierfür ist, dass 307 FELDER, 2006, S. 367. Gemeint sind hier die Verse 14145, 14196f., 14230ff., 14327ff., und 14417-30. 308 Zur Bachtin’schen Abenteuerzeit und generell den Raum-Zeit-Verhältnissen im höfischen Roman vgl. STÖRMER-CAYSA, 2007, für den Daniel: S. 79-89. 309 Vgl. IWEIN, V. 3924-5625.

264

Verlorene Aventüren und Sinneskonkurrenz „in der fiktionalen Welt zwar Zeit vergeht und auch Indikatoren dafür vorgeführt werden, die Auswirkungen dieser Zeit jedoch nicht allgültig und nicht allmächtig sind. [...] [I]n der fiktionalen Welt [fallen] die in der Aventiure vergehende Innenzeit (die Zeit, die der Held braucht, um die Aventiure zu bestehen) und einstweilen stillgelegte Außenzeit auseinander.“310

Im Roman des Stricker wird die Zersetzung eines physikalischobjektiven Zeitverlaufs noch um eine Stufe gesteigert: Dort reitet der Protagonist heimlich dem Artusheer voraus, um einen als unbesiegbar geltenden Riesen zu töten.311 Gerade als er den Riesen sieht, bringt ihn eine klagende Jungfrau auf die Fährte der Aventüre vom Trüben Berge,312 die er ebenso wie die vom Lichten Brunnen besteht. 313 Nachdem sein Gefährte, der Graf vom Lichten Brunnen, entführt wurde, wartet er gar noch einige Tage die Rückkehr des Entführers ab, bevor er schließlich, kurz vor Eintreffen des Artusheers, den Riesen – wie vom Zuhörer erwartet – besiegt.314 Gesteigert wird das Groteske dieser Verschachtelung noch dadurch, dass Daniel erst in den eingefügten Aventüren das Schwert erhält, mit dem es möglich ist, den ansonsten unbezwingbaren Riesen zu besiegen. Beide Beispiele zeigen, dass sich der Zuhörer im höfischen Roman normalerweise in der Sicherheit wiegen kann, dass ihm keine Geschichte verloren geht. In der Wunderkette jedoch entscheidet sich Gawein für die Verfolgung des Schlachtenlärms und lässt die klagende Dame ungefragt hinter sich: Die potenzielle Aventüre bleibt trotz oder gerade wegen der intertextuellen Präfiguration der Cousine für den Zuhörer unerfüllt. Gawein begeht an der Dame auf diese Weise eine ähnliche Verfehlung wie einst Perceval, der den Fischerkönig nicht nach dem Grund seines Leidens fragte. Im Fall des (vermeintlichen) ‚Idealzeugen‘ Gawein (und der Logik der Unverbindlichkeit des Schauraums entsprechend)315 bleibt diese Verfehlung für den Ritter ohne Konsequenzen – nicht jedoch für den Rezipienten, dem eine mögliche Aventüre 310 311 312 313 314 315

STÖRMER-CAYSA, 2007, S. 81f. Vgl. DANIEL, V. 970-1375. Vgl. ebd., V. 1375-2200. Vgl. ebd., V. 2200-2360. Vgl. ebd., V. 2361-2844. Siehe Kapitel 3.3.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

‚unbezeugt‘ bleibt. Die auf Fiktionsebene konsequenzlose Verfehlung zeigt ihre Wirkungen erst auf der Ebene der Fiktionsvermittlung. Die Bindung des Rezipienten an den ‚WAHRnehmungs-Apparat‘ und seine Möglichkeiten zur ‚teilhabenden Monatge‘ werden so bereits in den ersten Bildern der Kette als problematisch dargestellt.

3.4.3 WAHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick Die „den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments“ 316 tragende WAHRnehmung ist nicht nur im Vermittlungsmodus der Passage, sondern ebenso in den Bildern der Wunderketten zu finden. Erste Wunderkette A Eine auf einem Dreihorn reitende alte Frau hat eine Art Feuer unter (oder zwischen) ihren Augen und kann nur mit Schmerzen in die Welt blicken.317

Das Visuelle wird in diesem Bild als körperliche Herausforderung inszeniert: Der Blick auf die Welt kann nur unter Schmerzen erfolgen. In der Forschung318 wurde die Figur der Greisin schon mehrmals in Bezug zur Hure Babylon aus der Johannes-Offenbarung319 gesetzt, „qae sedet super aquas multas“.320 Es wird u. a. prophezeit, dass die ebenfalls auf einer mehrköpfigen Bestie reitende Hure irgendwann verbrannt werden wird.321 Die Kombination von Feuer und Wasser im biblischen Text kann als eine Vorform des ‚Elementenkonflikts‘ gesehen werden, den Heinrich – wie im Folgenden gezeigt wird – im Verlauf der Wunderketten mit dem Thema der gefährdeten WAHRnehmung verbindet. Es handelt sich bei dem Bild der Alten um eine intertextuell auf die

316 317 318 319 320 321

266

BENJAMIN, 1982, 578; siehe Kapitel 3.3.1. Vgl. KRONE, V. 14149-97. Vgl. MENTZEL-REUTERS, 1989, S. 258; vgl. GOTTZMANN, 1988, S. 301. Vgl. Apc 17,1-18. Apc 17,1; Einheitsübersetzung: „die an vielen Gewässern sitzt“. Vgl. Apc 17,16.

W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick

Apokalyptik und Visionsliteratur verweisende Einführung in die ‚elementare‘ Seite der gefährdenden Konkurrenz der Sinne. Ich werde später noch einmal auf dieses Bild zurückkommen. B Gawein reitet an dem Stillleben einer blutüberströmten Rüstung, eines blessierten Jagdhundes und eines aufgespießten Ritterkopfs vorbei und hört drei Frauenstimmen klagen – doch die Klagenden bleiben für ihn unsichtbar.322

Die sukzessive Beschreibung des Stilllebens – eine Bezeichnung, die auf Ulrich Wyss’ Analyse dieser Szene zurückgeht –323 thematisiert über die Statik des Betrachteten und den Nachvollzug von Gaweins ‚tastendem Blick‘ (Palagyi)324 in ähnlicher Weise wie die Zelterepisode325 den Zusammenhang von figuraler Visualität und der imaginativen des Zuhörers. Doch wo sich die visuellen Reize der fiktiven Welt als darstellbar erweisen, negiert der akustische Reiz (das Klagen der unsichtbaren Frauen) jegliche Sicherheit der WAHRnehmung. Denn obwohl die Beschreibung der Rüstung möglichst exakt Gaweins Blick wiedergibt – die filmtechnische Beschreibungsmetapher des langsamen Schwenks erscheint angebracht –, macht die Verwunderung des Helden ob des unsichtbaren Klagens dem Rezipienten ebenso klar, dass die ‚Kamera‘ die eigentliche Essenz des Bilds trotz aller visueller Detailtreue nicht erfassen kann. Gaweins Angst vor scheiternder oder gestörter (Welt-)Wahrnehmung entfaltet sich an der ‚Stimme ohne Körper‘, einem (kultur-)motivischen ‚Mythos‘, dessen Bedrohlichkeit sich in vielen Epochen nachweisen lässt. 326 Binnenmotivisch nimmt diese Situation ebenfalls die Konkurrenz von visuellem und akustischem Sinn nach dem Vorbild des ‚Vorspiels‘ wieder auf:327 Zwar sieht Gawein die blutige Rüstung und das aufgespießte Haupt, aber gleichzeitig hört er die klagenden Frauenstimmen, deren Ursprung er nicht ausmachen kann. Auch in dieser Passage werden die Sinne in Kontrast gesetzt, sie 322 323 324 325 326

Vgl. KRONE, V. 14237-68. Vgl. WYSS, 1981, S. 273. Siehe Kapitel 2.2.1. Siehe Kapitel 3.3. Dokumente dieser Angst stellen so unterschiedliche Erzählungen wie der Echo-Mythos oder Hitchcocks Psycho dar; vgl. ABDEL RAHMAN, 2011. 327 Siehe Kapitel 3.4.2.

267

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

sind jedoch im Gegensatz zum ‚Vorspiel‘ nicht Grundlage eines Konflikts zweier Bilder (die klagende Dame wird im ersten Bild gesehen – der Kampfeslärm des zweiten gehört) , sondern sorgen in der Binnenstruktur des Bilds dafür, dass weder der Held seinen Sinnen noch der Zuhörer dem ‚Zeugnis‘ vollends trauen kann. Die von ihrer Basis her ideale Zeugenschaft (Gaweins garantierte Passivität) droht an einer sensuellen Divergenz (als Eigendynamik der Fiktion) zu scheitern. C Ein Palast aus Kristall wird von einem „geburen [...] swartz als ein ram“328 zerstört.329

Die Bedeutung des Kristalls, im Sinne der ursprünglich griechischen Wortherkunft als ‚Bergkristall‘ verstanden,330 erschließt sich über seine ‚offensichtliche‘ Eigenschaft: seine Durchsichtigkeit. Das Bild ist so als Symbol für einen Vorgang zu sehen, in dem etwas Klares und Durchsichtiges durch dessen Gegenteil, das Unreine und Schwarze, zerstört wird. Diese Auslegung des Kristall-Motivs geht konform mit seiner Verwendung im Prolog der Krone.331 Auch an anderer Stelle ist eine programmatische Verwendung des (Berg-)Kristalls belegt, die seine Klarheit als signifikante Eigenschaft hervorhebt: Gottfried von Straßburg betont die „kristallînen wortelîn“332 als stilistische Eigenart Hartmanns; er meint die ungetrübte Klarheit eines literarischen Stils, der

328 KRONE, V. 14287f. (‚ungeschlachter Kerl, [...] der schwarz war wie von Rüstungsschmutz‘). Eine alternative Lesart des Verses 14287 ergibt sich über eine Nebenform zu rabe: ‚ungeschlachter Kerl, [...] der schwarz war wie ein Rabe‘; vgl. FELDER, 2006, S. 380. 329 Vgl. KRONE, V. 14260-320. 330 Vgl. PFEIFER, 1999, S. 735. 331 Die Krone bezeichnet den Bergkristall im Prolog noch als „swachiu cristalle“ (KRONE, V. 51) und verbildlicht damit minderwertige literarische Texte oder Passagen. Zählt sich der Text erst selbst noch in einem (vermeintlichen) Bescheidenheitsgestus zu diesen ‚kristallenen Texten‘, so wertet er den Kristall später über prunkvolle Beschreibungen wie den oben zitierten Palast, wieder auf. Dies, sowie Fundstellen bei Zeitgenossen, die den Wert des Kristalls äußerst hoch schätzen, verleiten zu der Annahme, „dass Heinrichs Behauptung indirekt die gegensätzliche Aussage enthält“; FELDER, 2006, S. 26; zur Edelsteinmetaphorik der Krone vgl. GOUEL, 1993, S. 133f. und MENTZEL-REUTERS, 1989, S. 87-89. 332 TRISTAN, V. 4627.

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W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick

einem dunklen Stil, wahrscheinlich dem Wolframs,333 entgegensteht. Beide Nennungen indizieren, dass dem Kristall (wie auch dem Kristallpalast) in der Kultur des Hochmittelalters eine Signifikanz zugesprochen wurde, deren Erörterung einen kleinen Exkurs rechtfertigt: Exkurs: der Bildwert des Kristalls Die Verbindung von Kristall und dem Ideal der Klarheit als diskursive Bildlichkeit des höfischen Romans könnte ebenfalls auf die JohannesOffenbarung zurückgehen. Dort heißt es zum Thron Gottes: Et in conspectu sedis tamquam mare vitreum simile crystallo; et in medio sedis, et in circuitu sedis, quattuor animalia plena oculis ante et retro. (Apc 4,6) Und vor dem Thron war etwas wie ein gläsernes Meer, gleich Kristall. Und in der Mitte, rings um den Thron, waren vier Lebewesen voller Augen, vorn und hinten.334

Das Gott umgebende Meer ist wie Kristall und weist durch die Kombination mit den alles sehenden Engeln auf das Ideal einer allmächtigen Wahrnehmung hin.335 Dabei ist die Örtlichkeit der Schau bezüglich des Kristalls unklar: Wer schaut wie mit, über oder durch den Kristall? Einzig das Vorhandensein der ‚Lebewesen voller Augen‘ rückt ihn in den Wahrnehmungsbezug, ohne dass die thea-Konstellation sich erschließen ließe. Die These, dass Heinrich sich mit dem Kristallpalast auf diese Bibelstelle bezieht, lässt sich dadurch stützen, dass im Rahmen des Artusromans, nämlich im Prosalancelot, mit einer vergleichbaren Bedeutung ebenfalls darauf verwiesen wird. Dort klärt sich die in der Bibel obskure thea-Konstellation durch die Erkenntniskraft des Traums. 333 Vgl. TRISTAN, V. 4636f; dazu HUBER, 2001, S. 62f. 334 Einheitsübersetzung. 335 Eine vergleichbare Bildlichkeit kennt die Ezechiel-Vision: Dort (Hes 1,812) sind es vier Engel, die Gottes Thronwagen umstehen und deren Angesichter alles erfassen. Diese Engel wurden bereits in den Interpretationszusammenhang idealer visionärer Wahrnhemung gebracht; vgl. WEIDNER, 2010. Ich werde im Folgenden noch darauf zurückkommen.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Artus werden von seinen Beratern drei Träume gedeutet, in denen ihm Haare, Finger und Zehen ausfallen. Laut seinen Traumdeutern könne einzig der ‚Wasserlöwe‘ seinen so angekündigten Untergang verhindern.336 Was genau dieser Wasserlöwe sei, wissen die Berater jedoch nicht zu entschlüsseln. Wie Artus später von einem heilig[en] man erfährt, war die Ausdeutung seiner Berater irreführend: Der Löwe symbolisiere (konform zum Physiologus) Gott; dass dieser durch Wasser wahrgenommen wurde, liege an der Weltverfangenheit der Berater, die ihnen die ungetrübte Wahrnehmung Gottes verwehre.337 Die Raumsemantik der Offenbarung wird so erweitert, dass die Menschen nun unterhalb des kristallenen Meeres verortet werden, an dem Gottes Thron steht. Der Prosalancelot funktionalisiert das Kristallmeer so „im Sinne von Metaphern wie ‚Meer der Sünde‘ und ‚Sündenflut‘“.338 Die Aufgabe des Kristalls in der thea Gottes ist es, als visueller Filter eine graduelle Teilhabe an der göttlichen claritas (Klarheit, Helligkeit, Herrlichkeit) zu ermöglichen bzw. nach dem Grad der Weltverbundenheit des Betrachters zu verwehren. Implizites Ideal ist somit im Prosalancelot die Durchsichtigkeit des (Berg-)Kristalls, das Diaphane, das unter bestimmten Voraussetzungen (wie der Heiligkeit) eine absolute Wahrnehmung ermöglicht. Diese Deutung des biblischen Bildes kann gerade bezüglich der medialen Funktion des Kristalls auf eine lange Tradition zurückblicken, wurde er doch schon von Aristoteles neben Luft und Wasser als die günstigste Stofflichkeit von Wahrnehmungsmedien angenommen.339 Im Diaphanen des Kristalls steckt somit das Versprechen einer uneingeschränkten Wahrnehmung, die eintritt, wenn der Kristall sich über seine Durchsichtigkeit zum Verschwinden bringt. Damit stellt der Kristall das mediale Ideal schlechthin dar: sich im Ermöglichen des Wahrnehmungsvollzugs selbst der Wahrnehmung zu entziehen. Am nächsten an der heilsgeschichtlichen Einlösung des medialen Ideals ist dabei in der Offenbarung das Himmlische Jerusalem. Ein Engel zeigt dem Visionär das Folgende:

336 Vgl. PROSALANCELOT 604,1-608,27; vgl. zu diesen Träumen SPECKENBACH, 1985, S. 330 und 337-339. 337 Vgl. PROSALANCELOT 668,27-672,19. 338 SPECKENBACH, 1985, S. 338. 339 Vgl. dazu: KRÄMER, 2008, S. 30.

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W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick Et sustulit me in spiritu in montem magnum et altum, et ostendit mihi civitatem sanctam Jerusalem, descendentem de cælo a Deo, habentem claritatem Dei, lumen ejus simile lapidi pretioso tamquam lapidi jaspidis, sicut crystallum. (Apc 21,10f.) Da entrückte er [der Engel] mich in der Verzückung auf einen großen, hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, wie sie von Gott her aus dem Himmel herabkam, erfüllt von der Herrlichkeit Gottes. Sie glänzte wie ein kostbarer Edelstein, wie ein kristallklarer Jaspis.340

Das Himmlische Jerusalem leuchtet, die Herrlichkeit/Klarheit Gottes widerspiegelnd, wie Kristall.341 Hier findet die Zusammenführung vom medialen Ideal und einer Stadt respektive einem Gebäude statt, welches nicht nur im Motiv des Kristallpalasts der Wunderketten auf das Himmlische Jerusalem anspielt: Es findet sich in der Krone im Drehschloss aus Glas, das der Magier Gansguoter erbaut hat, 342 ebenso wie im Edelsteinpalast der Sælde wieder.343 Bei beiden Stellen ist die Lesart des ‚Kristalls‘ (bzw. des ‚Glases‘) als das diaphane Ideal und somit auch als Zeichen einer wahrnehmbaren moralischen Makellosigkeit gerechtfertigt. So deutet Gansguoters durchsichtiger Palast im Voraus auf die freundliche Gesinnung des ‚ganz guten‘ Merlins344 hin. Ebenso kann die Sphäre der Sælde, taghell durch Edelsteine erleuchtet, für eine uneingeschränkte Wahrnehmung dieses allegorischen Wesens bzw. – in 340 Einheitsübersetzung. 341 Ein ähnliches Bild ist auch in Apc 22,1 zu finden: „Et ostendit mihi fluvium aquæ vitæ, splendidum tamquam crystallum, procedentem de sede Dei et Agni“ (Apc 22,1); Einheitsübersetzung: „Und er zeigte mir einen Strom, das Wasser des Lebens, klar wie Kristall; er geht vom Thron Gottes und des Lammes aus“. 342 Vgl. KRONE, V. 12941-66. 343 Vgl. KRONE, V. 12664-757. 344 Dietl schreibt in einer Untersuchung der (beinahe) fehlenden MerlinGestalt in der mittelhochdeutschen Literatur: „In Heinrichs von dem Türlin Crône [...] tritt mit Gansguter ein Zauberer auf, der als Helferfigur fungiert und damit der Merlin-Rolle [...] [nahe] kommt. Er ist schon namentlich als ganz (und nicht nur mütterlicherseits, wie Merlin) guter Zauberer markiert“; DIETL, 2010, S. 113. Die von Robert de Boron geprägte Vorgeschichte Merlins als vom Teufel gezeugter Grenzgänger zwischen Gutem und Bösem macht es nötig, dem intertextuell gebildeten Zuhörer neben der Anspielung auf Merlin auch ein Zeichen der ethischen Gewichtung Gansguoters mit auf den Weg zu geben.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Ausdeutung der Allegorie als ‚weltliches Glück‘ – die unverfälschte Wahrnehmung als Ideal des weltlichen Lebens gesehen werden. Dieses Ideal darf, wie die Johannes-Offenbarung es betont, seine Erfüllung im Jenseits oder am Ende der Zeiten erhoffen; oder, nach einer weiteren für den biblischen Wahrnehmungsdiskurs entscheidenden Stelle in den paulinischen Briefen, die metaphorisch vom Kristall zum Spiegel umschwenkt: „videmus nunc per speculum in enigmate tunc autem facie ad faciem nunc cognosco ex parte tunc autem cognoscam sicut et cognitus sum“ (I Cor 13,12).345 Die Artusromane halten sich an diese Verortung ins ‚Jenseitige‘, auch wenn sie dieses den Protagonisten (und auch den Zuhörern) näher rücken, als es das Himmlische Jerusalem sein könnte. So ist – neben noch vielen anderen möglichen Funden –346 eine Verbindung zur Bild-

345 Einheitsübersetzung: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin“. Ich gehe davon aus, dass der Spiegel als halbtransparent imaginiert werden soll, so, dass das eigene Spiegelbild den Betrachter davon abhält, das Dahinterliegende in seiner Klarheit zu erblicken. Auf diese Weise ist der Spiegel in seiner Filter-Funktion dem Kristallmeer, das nur einen verzerrten Blick auf den himmlischen Thronsaal gewährt, eng verwandt. 346 Es ist auch an die Beschreibung des kristallenen Palasts der ‚Pucele as Blances Mains‘ aus dem Bel Inconnu zu denken (vgl. ZENCK, 1990, S. 198) oder an die Erwähnung des „herre Maheloas / von dem glesînen werde“ (EREC, V. 1919f.; ‚Herr Maheloas, / von der gläsernen Insel [von der gläsernen Burg]‘) in der Gästeliste Hartmanns. Des Weiteren findet Ginovers Entführung – die auch einen Handlungsteil der Krone ausmacht – oft in ein ‚gläsernes Land‘ statt; im Falle von Chrétiens Chevalier de la Charrette in das Land Gorre, welches ein „equivalent of voirre“ darstellt, „an Old French word that means ‚glass‘“; DUGGAN, 1997, S. 232. Ginovers Entführung in ein ‚gläsernes Land‘ kann (im Gegensatz zur Symbolik des Kristallbetts in der Minnegrotte, bei dem der Kristall als Teil der allegorischen Minne-Idealisierung zu sehen ist; vgl. TRISTAN, V. 16720-24) als Symbol für die Gefahr einer Offenbarung der heimlichen Liebe zu Lancelot gedeutet werden. Das Land bezeichnet so im Sinne der ‚uneingeschränkten Wahrnehmung‘ die ausgelagerte Sichtbarkeit der verbotenen und im höfischen Machtbereich (vorerst) unsichtbaren Liebe. Die Verbindung von Artushof und ‚gläsernen‘ Orten zieht sich bis in die historische Realität: Im 12. Jahrhundert wurde Glastonbury (oder im Walisischen Yns Wydrin: ‚Insel aus Glas‘) mit der arthurischen Legende assoziiert, nachdem Mönche der Abtei von Glastonbury behaupteten, dort Arthurs und

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W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick

lichkeit des Kristallpalasts im Wigalois vorhanden. Die Burg von Korntin, ein dezidiert ander- und unterweltlich markiertes Ziel des Helden,347 wird wie folgt beschrieben: diu mûre glaste alsam ein glas

Die Mauer glänzte als sei sie aus

lûter unde reine [...].

klarem und reinem Glas. [...]

ein palas harte rîche

Ein sehr prachtvoller Palas

lac enmitten drinne

lag in ihrer Mitte,

gemûrt mit grôzem sinne

mit großem Verstand gemauert

von lûtern kristallen,

aus klaren Kristallen

– daz muose im wol gevallen, –

– was ihm [Wigalois] gefallen musste –,

mit vlîze gewelbet âne dach;

sorgsam gewölbt ohne Dach.

durch die mûre man wol sach

Ungehindert sah man durch die Mauer

allez daz dar inne was,

alles, was sich im Innern befand,

wan si was lûter als ein glas.

denn sie war durchsichtig wie Glas.

(WIGALOIS, V. 4594-4606)

Am Ende eines jeden Tags müssen die Seelen des verstorbenen Königs Rial und seiner Ritter in das kristallene Gebäude ziehen, das aufgrund des feurigen Atems des in einen Leoparden verwandelten Herrschers in Flammen aufgeht.348 Der Kristallpalast gehört in dieser Szene zum Bildinventar des Purgatoriums, jedoch nicht zu dessen Schreckensbildern, wie die positive Reaktion des Protagonisten (V. 4602) zeigt. Dieses Zitat aus dem Motivschatz der Visionsliteratur könnte als Negativ von Rials Sünde gelesen werden. Die Durchsichtigkeit des Gebäudes würde so als Kontrast dazu stehen, dass es Rial an seinem Hof nicht gelang, den Idealzustand absoluter Wahrnehmbarkeit herzustellen, sodass er deswegen Opfer einer Intrige werden konnte. Somit wäre die Diaphanität des Kristalls und die dadurch versinnbildlichte Wahrnehmung im Wigalois die Verbildlichung eines Politikums. Als solches könnte der Kristallpalast Teil eines höfischen Diskurses des 13. Jahrhunderts sein, auf den Jan-Dirk Müller in seinen Höfischen Kompromissen hinweist: Müller deutet als einen der so genannten „Er-

Guineveres Grab gefunden zu haben; vgl. DUGGAN, 1997, S. 231f.; zur Anderweltigkeit von Gorre grundlegend: HAUG, 1978. 347 Zu den descensus-Markern dieser Passage vgl. BRINKER, 1995. 348 Vgl. WIGALOIS, V. 4857-60.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

zählkerne“349 in Heinrichs Epoche die Vermittlung und Kontrastierung von ‚Außen‘ und ‚Innen‘,350 wobei er als Indizien die ständige Wiederkehr von „Phantasmen totaler Sichtbarkeit“351 analysiert. Müller führt es nicht an – doch das Bild des Kristallpalasts scheint zu eben diesen Phantasmen zu zählen: Der Kristallpalast symbolisiert durch seine Diaphanität den idealen Hof als profanisiertes Himmlisches Jerusalem, d. h. als Ort der totalen Sichtbarkeit, an dem es nichts Heimliches oder Verborgenes gibt, sondern die Offenheit aller Vorgänge auch dem Außenstehenden eine Idealität des Hofes verdeutlicht, die dem heutigen Ruf nach ‚Transparenz‘ in Politik und Wirtschaft nicht ganz unähnlich ist. Die Aufstellung des Ideals im Bild des Kristallpalastes wirkt also einer elementaren Angst der realen mittelalterlichen Höfe (und vielleicht einer Angst aller auf sozialer Präsentationsmacht fußenden Gesellschaften) entgegen: „In einer Welt, in der Wahrheit Evidenz bedeutet, d. h. an unbestreitbare Wahrnehmbarkeit gebunden ist, ist es schwer erträglich, daß es eine Sphäre geben soll, die sich völlig der Wahrnehmung entzieht.“352

*** Wie dieser Exkurs zeigt, lässt sich das Bild des zerstörten Kristallpalasts der Wunderkette wie folgt auslegen: Über das Aufrufen eines auf der Bildlichkeit der Johannes-Offenbarung fußenden Diskurses zur Sichtbarkeit als transzendentem Ideal und dessen Wandel zu einem Ideal des höfischen Lebens im Roman wird die WAHRnehmung (von Figur und Publikum) als idealiter ‚kristallene‘, d. h. diaphane Medialität postuliert, die normalerweise das Obskure, den ‚blinden Fleck‘ nicht kennt. Mit der Verbildlichung (‚Bild-Werdung‘) des Ideals wird die es konstituierende Unsichtbarkeit des Mediums jedoch aufgehoben und Teil der (Selbst-)Reflexion. Deshalb kann der absolute Wahrnehmung und somit ideale Vermittlung garantierende Kristallpalast durch den Auftritt des schwarzen geburen – dem Inbegriff des ‚Obskuren‘ – als gefährdet ausgewiesen werden.

349 350 351 352

274

Vgl. MÜLLER, 2006, S. 1-45. Vgl. ebd., S. 317-61. Vgl. ebd., S. 318-23. Ebd., S. 323.

W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick D An einer Rosenheide trifft Gawein auf einen an ein Bett geketteten Ritter mit durchschossenen Augen. Der Ritter fächert einer toten Frau Luft zu und bemerkt aufgrund seiner Blindheit nicht, dass der von ihm ausgelöste Wind feurig ist und die Rosenheide zerstört.353

Das auf die gefährdete Wahrnehmung verweisende Element des Bildes, die geblendeten Augen des Ritters, steht im Kontext einer Minneallegorie.354 Der ‚Liebesblinde‘ wurde in der Krone-Forschung schon mehrmals als Spiegelbild Gaweins begriffen, jedoch stets aufgrund inhaltlicher Verweiselemente. Wyss schreibt, Gawein hätte in dem geblendeten Jüngling „durchaus sein Spiegelbild erkennen können“ als eine „Gestalt des ewig jugendlichen Ritterhelden, die hier mit den Emblemen des Todes umgeben wurde“ und „nicht weiß, was [sie] tut“.355 Innerhalb des Wyss’schen Deutungssystems („Der Gral, mit anderen Worten, ist der Tod“)356 ist dies schlüssig. Analog dazu gelingt aber ebenfalls die Interpretation bezüglich der problematisierten Fiktionsvermittlung: So wie der Jüngling durch seine Blendung und die Unwissenheit über diese zur Gefahr für das wird, was das Höfische ausmacht – nämlich die Minne –, so bedeutet ein Gawein, der sich von den Wunderketten blenden lässt und nicht mit ihnen umzugehen weiß, eine Gefährdung dessen, was die Existenz der fiktiven Welt ausmacht: ihre Vermittlung (respektive Bezeugung) im Vortrag. Die fiktive zerstörte Wahrnehmung steht in analogem Bezug zur gefährdeten WAHRnehmung des Helden, die dem Rezipienten die fiktive Welt bezeugen muss. Die bildliche Darstellung gefährdeter Zeugenschaft wird begleitet von Formulierungen visueller Verlusterfahrungen an den Bildübergängen, die angesichts der Bildinhalte als programmatisch zu betrachten sind: (1) Hje kam von sinen augen Das wunderlich taugen [...].

Hier schwand ihm das wunderbare Geheimnis aus den Augen [...].

353 Vgl. KRONE, V. 14336-409. 354 Ein Versuch der Ausdeutung dieser Minneallegorie findet hier nicht statt, um die Argumentation auf die Wahrnehmungsproblematik zu konzentrieren. Aus diesem Grund wurden auch bestimmte Elemente des Bilds, wie bspw. der gekrönte Zwerg, in der obigen Wiedergabe unterschlagen. 355 WYSS, 1981, S. 276. 356 Ebd., S. 289.

275

Stimme im Raum und Bühne im Kopf (2) Vil manigfelticlichen clagte er das

Gar häufig beklagte er das,

Das er nit solte sehen,

dass er nicht anschauen konnte,

Was [...] solte geschehen

wie es weitergehen sollte.

(3) yme vor den augen verswant

Vor seinen Augen verschwand

Die rijliche auentùre:

die herrliche Aventüre:

Des wart yme freuden tùre.

davon wurde ihm alle Freude teuer.

(KRONE, V. 14230f., 14226-28, 14428-30)

Diese Verse drücken allesamt das Versagen Gaweins hinsichtlich seiner Aufgabe aus, sich die Wunder der Ketten im Stil des Visionärs einzuprägen und dem Artushof oder dem Zuhörer zu bezeugen.357 Bezüglich der Rezeptionsebene bedeutet dies, dass, vom erklärenden Engel und ‚allen guten Sinnen‘ verlassen, die Fiktionsvermittlung auf Messers Schneide steht. An den beschriebenen Bildern fällt auf, dass das Motiv, über das die gefährdete WAHRnehmung Gaweins geradezu zum Leitthema avanciert, das Feuer ist. Dies trifft nicht nur auf die bisher behandelte erste, sondern auf alle drei Wunderketten zu. Das Motiv des Feuers wurde für die Wunderketten v. a. von Johannes Keller untersucht. Keller stellt eine direkte Verbindung zwischen der Mehrdeutigkeit des Feuers und dem mehrdeutigen Status des Grals her und kommt so zu Aussagen, die zwar werkimmanente Bezüge verdeutlichen, den Komplex ‚Feuer und Gral‘ jedoch nicht in einen über den Text hinausweisenden Rahmen stellt.358 Ich möchte einen von Keller unabhängigen Weg der Auslegung einschlagen, indem ich das Feuer in eine kulturgeschichtliche Tradition der Wahrnehmungstheorie und -lehre stelle: Das in der Antike entwickelte und im Mittelalter noch immer gültige Konzept von Perzeption, das den Sinnen, entsprechend der Korrespondenz zwischen Kosmos und Mensch,359 jeweils ein Element zuordnet und die aisthesis aus diesem heraus erklärt, macht das Feuer zum Element des Sehens. Bei den Vorsokratikern wird die Augenwahrnehmung als ein nach außen wirkender Vorgang beschrieben, als eine Art unsichtbares Feuer aus den Augen, das die Dinge ‚berührt‘.360 Insbe-

357 358 359 360

276

Vgl. KRONE, V. 14229f. und 14408f.; siehe Kapitel 3.3.1. Vgl. KELLER, 1997, S. 335-364. SCHLEUSENER-EICHHOLZ, 1985, S. 129. Vgl. MALTEN, 1961, S. 33-70.

W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick

sondere Empedokles führt die Wirkweise der Sinne unter dem Begriff der ʌĮȜȐȝĮȚ (palamai: ‚Handflächen‘, ‚Greifer‘) zusammen, was auf die feurige Berührung des Gesehenen im Sinne einer Emission hinweist.361 Ähnlich beschreibt auch Platon die Funktionsweise des Sehsinns. Im Timaios stellt der Philosoph den menschlichen Körper als aus den vier Elementen zusammengestelltes362 und auf die Außenwelt durch entsprechende Analogieverhältnisse363 reagierendes Gebilde dar. Seine Darstellung des Schöpfungsakts liest sich bezüglich des Sehsinns wie folgt: ˱ಌ˪ ˡఒ ௨ˮˠ˙˪˶˪ ˭ˮಌ˱ˬ˪ ˩ఒ˪ ˳˶˰˳ఙˮ˞ ˰˲˪ˢ˱ˢ˧˱˛˪˞˪˱ˬ ௪˩˩˞˱˞ ˱ˬ˦౔ˡˢ ஼˪ˡ˛˰˞˪˱ˢ˯˞௘˱గ˞ˑˬ౿˭˲ˮఘ˯௭˰ˬ˪˱ఘ˩ఒ˪˧఑ˢ˦˪ˬ௴˧ீ˰˴ˢ˱ఘˡఒ˭˞ˮఓ˴ˢ˦˪ ˳ಌ˯்˩ˢˮˬ˪ˬ௘˧ˢ౰ˬ˪஽˧఑˰˱ˤ˯௉˩ఓˮ˞˯˰ಌ˩˞஼˩ˤ˴˞˪క˰˞˪˱ˬˠ˜ˠ˪ˢ˰˥˞˦ˑఘ ˠఐˮ ஼˪˱ఘ˯ ௉˩ಌ˪ ஬ˡˢ˨˳ఘ˪ ௪˪ ˱ˬఛ˱ˬ˲ ˭౿ˮ ˢ௘˨˦˧ˮ˦˪ఒ˯ ஼˭ˬ˜ˤ˰˞˪ ˡ˦ఐ ˱ಌ˪ ௨˩˩˙˱˶˪ ౾ˢ౰˪ ˨ˢ౰ˬ˪ ˧˞ఖ ˭˲˧˪ఘ˪ ௫˨ˬ˪ ˩˚˪ ˩˙˨˦˰˱˞ ˡఒ ˱ఘ ˩˚˰ˬ˪ ˰˲˩˭˦˨˛˰˞˪˱ˢ˯˱ಌ˪௨˩˩˙˱˶˪అ˰˱ˢ˱ఘ˩ఒ˪ர˨˨ˬ௭˰ˬ˪˭˞˴ఛ˱ˢˮˬ˪˰˱˚ˠˢ˦˪ ˭౓˪˱ఘ˱ˬ˦ˬ౿˱ˬ˪ˡఒ˩ఙ˪ˬ˪˞௴˱ఘ˧˞˥˞ˮఘ˪ˡ˦ˤ˥ˢ౰˪௳˱˞˪ˬ௺˪˩ˢ˥ˤ˩ˢˮ˦˪ఘ˪ఴ ˳ಌ˯˭ˢˮఖ˱ఘ˱ౢ˯௬˵ˢ˯౾ˢ౿˩˞˱ఙ˱ˢ஼˧˭౰˭˱ˬ˪௭˩ˬ˦ˬ˪˭ˮఘ˯௭˩ˬ˦ˬ˪>@ (TIMAIOS 16, 45b-c)

Unter den Sinneswerkzeugen bildeten sie [die Götter] zuerst die lichtbringenden Augen, die sie aus folgendem Grunde anbrachten. Soviel von dem Feuer zwar nicht die Eigenschaft besaß zu brennen, wohl aber mildes Licht zu gewähren, das ließen sie zum eigentümlichen Körper dieses Tages werden. Sie bewirkten nämlich, daß das in uns befindliche, diesem verwandte lautere Feuer durch die Augen glatt und dicht hervorströmte, indem sie das ganze Auge, vorzüglich aber dessen Mitte, so verdichteten, daß es dem übrigen gröberen Feuer durchaus den Durchgang wehrt und nur derartiges in reiner Form hindurchfiltert. 361 Empedokles benutzt die Handflächenmetapher, um die unzureichende Erkenntnisfähigkeit über visuelle Wahrnehmung zu verdeutlichen: „ȜȑȖİȚ į੼ ʌİࣁ੿ ȝ੻Ȟ IJȠ૨ ȝ੽ ਥȞ IJĮ૙ࢫ Įੁıș੾ıİıȚ IJ੽Ȟ ࣀࣁ઀ıȚȞ ȞਕȜȘșȠ૨ࢫ ਫ਼ʌ੺ࣁȤİȚȞ Ƞ੢IJȦࢫǜ ıIJİ੿ȞȦʌȠ੿ ȝ੻Ȟ Ȗ੹ࣁ ʌĮȜ੺ȝĮȚ ࣀĮIJ੹ Ȗȣ૙Į ࣀ੼ȤȣȞIJĮȚ“; EMPEDOKLES 2009, 7,5-8; ‚Darüber, dass das Urteil über die Wahrheit nicht in den Wahrnehmungen liege, äußert er [Empedokles] sich folgendermaßen: Denn enge [Handflächen-]Kunstgriffe sind über die Glieder gebreitet‘, Übersetzung: MILLJ LAURA GEMELLI MARCIANO. 362 Vgl. TIMAIOS, 15. 363 Vgl. TIMAIOS, 7.

277

Stimme im Raum und Bühne im Kopf Umgibt nun des Tages Licht den Strom des Sehens, dann fällt Ähnliches auf Ähnliches [...].364

Der Mensch sieht laut Platon also dadurch, dass er dem Tageslicht verwandtes ‚lauteres‘ Feuer in sich trägt, das aus seinen Augen strömt, sich mit dem gleichartigen Feuer des wahrgenommenen Gegenstands vereint und sensuelle Eindrücke entstehen lässt. So werden Dinge durch den Sehstrahl im Sinne einer feurigen Berührung – ähnlich wie durch Empedokles’ ʌĮȜȐȝĮȚ – ‚erfasst‘. Am taktilen Sehvorgang ist jedoch nicht nur das Element des Feuers beteiligt. Anlässlich der Beschreibung der Entstehung von Farbeindrücken vermerkt Platon einen Vorgang, bei dem das Auge durch fremdes, nicht ‚lauteres‘ Feuer gereizt wird: ˱ఔ˪ ˡఒ ௨˫˲˱˚ˮ˞˪ ˳ˬˮఐ˪ ˧˞ఖ ˠ˚˪ˬ˲˯ ˭˲ˮఘ˯ ஽˱˚ˮˬ˲ ˭ˮˬ˰˭˜˭˱ˬ˲˰˞˪ ˧˞ఖ ˡ˦˞˧ˮ˜˪ˬ˲˰˞˪ ˱ఔ˪ ௬˵˦˪ ˩˚˴ˮ˦ ˱ಌ˪ ௨˩˩˙˱˶˪ ˞௴˱˙˯ ˱ˢ ˱ಌ˪ ௨˳˥˞˨˩ಌ˪ ˱ఐ˯ ˡ˦ˢ˫˹ˡˬ˲˯ ˟గ˞ ˡ˦˶˥ˬ౿˰˞˪ ˧˞ఖ ˱క˧ˬ˲˰˞˪ ˭౿ˮ ˩ఒ˪ ஭˥ˮ˹ˬ˪ ˧˞ఖ ௹ˡ˶ˮ ௫ ˡ఑˧ˮ˲ˬ˪ ˧˞˨ˬ౿˩ˢ˪ ஼˧ˢ౰˥ˢ˪ ஼˧˴˚ˬ˲˰˞˪ ˞௴˱ఔ˪ ˡఒ ˬ௺˰˞˪ ˭౿ˮ ஼˫ ஼˪˞˪˱˜˞˯ ஬˭˞˪˱ಌ˰˞˪ ˧˞ఖ ˱ˬ౿ ˩ఒ˪ ஼˧˭ˤˡಌ˪˱ˬ˯ ˭˲ˮఘ˯ ˬ௟ˬ˪ ஬˭౜ ஬˰˱ˮ˞˭ౢ˯ ˱ˬ౿ ˡ౜ ˢ௘˰˦˹˪˱ˬ˯ ˧˞ఖ ˭ˢˮఖ ˱ఘ ˪ˬ˱ˢˮఘ˪ ˧˞˱˞˰˼ˢ˪˪˲˩˚˪ˬ˲ ˭˞˪˱ˬˡ˞˭ಌ˪ ஼˪ ˱ౣ ˧˲˧˛˰ˢ˦˱˞ఛ˱ౠˠ˦ˠ˪ˬ˩˚˪˶˪˴ˮ˶˩˙˱˶˪>@

(TIMAIOS, 67e-68a)

[D]ie raschere und von einer anderen Art von Feuer stammende Bewegung aber, die auf den Sehstrahl stößt, ihn bis zu den Augen hin trennt und dann gewaltsam die Durchgänge der Augen selbst durchstößt und auflöst und eine Zusammenballung von Wasser und Feuer, die wir Tränen nennen, dort entquellen läßt, selbst aber ein von der entgegengesetzten Seite entgegenkommendes Feuer ist, und während das eine Feuer wie von einem Blitzstrahl herausspringt, das andere aber eindringt und in der Feuchtigkeit ausgelöscht wird [...],365

... lasse Farbeindrücke entstehen. Platon stellt sich die Funktionsweise des Auges also wie folgt vor: Durch die Pupille dringt ein lauteres Feuer nach Außen; die Pupille wiederum ist von Wasser umgeben, welches das Auge vor den Einwirkungen des ‚schärferen‘, von außen 364 Übersetzung: HIERONYMUS MÜLLER/PETER SCHLEIERMACHER. 365 Übersetzung: HIERONYMUS MÜLLER/PETER SCHLEIERMACHER.

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W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick

eindringenden Feuers schützt (und dabei durch die Tränen Farbwahrnehmungen generiert). Der Sehsinn funktioniert somit durch Analogieund Ausschlussverhältnisse der Elemente Feuer und Wasser. Diese so genannte Emissionstheorie hielt schon früh Einzug ins mittelalterliche Denken. In einem Kapitel zu ‚Auge und Licht‘366 stellt Schleusener-Eichholz einen umfangreichen Fundus an Textstellen zu diesem Phänomen zusammen, der reichhaltig belegt, dass die Emissionstheorie auch im 12. und 13. Jahrhundert das dominante Konzept der visuellen Wahrnehmung war.367 Dieses Konzept der Augenwahrnehmung ist als Grundlage für die Deutung der Wunderketten-Bildlichkeit von großem Nutzen. Beim eingangs erwähnten Bild der Alten auf dem Dreihorn (A) heißt es: Daruf sasz ein altes wijp, Der was uszwendig der lip Von cleidern so gezieret Vnd so rijlich gezimieret, Da von es zü lang were zu sagen. [...]

[Auf dem Dreihorn] saß ein altes Weib, der war außen der Leib mit Kleidern so geschmückt und herrlich verziert, [dass] davon zu erzählen zu lange dauern würde. [...]

366 Vgl. SCHLEUSENER-EICHHOLZ, 1985, S. 129-187. 367 Auch Illich widmet sich der Emissionstheorie, vor allem bezüglich der Auswirkung des ‚feurigen Auges‘ auf den Lesevorgang. In seinem Kommentar zu Hugos von St. Viktor Didascalicon schreibt er: „Für Hugo strahlt die Seite, aber nicht nur die Seite, auch das Auge strahlt. Noch heute sagt man in der Umgangssprache, daß die Augen ‚leuchten‘. Wenn man das sagt, weiß man jedoch, daß man metaphorisch spricht. Das war für Hugo nicht so. Er faßte geistige Vorgänge analog zur Wahrnehmung seines Körpers. Nach der spirituellen Optik der Frühscholastik benötigte man das lumen oculorum, das Licht, das vom Auge ausgeht, um die leuchtenden Gegenstände der Welt sinnlich wahrnehmbar zu machen. Das leuchtende Auge war Voraussetzung für das Sehen“; ILLICH, 1991, S. 26. Die Vorstellung, dass erst ein lumen oculorum die visuelle Wahrnehmung ermöglichte, findet sich in einzelnen Wortbedeutungen des Mittelhochdeutschen (bspw. die im Folgenden behandelte Ambivalenz von mhd. blic als ‚Blitz‘ wie ‚Blick der Augen‘) genauso wieder wie in wissenschaftlichen Darstellungen, literarischen Beschreibungen (v. a. in der Minnemetaphorik) oder auch dem Aberglauben vom bösen Blick; vgl. SCHLEUSENER-EICHHOLZ, 1985, S. 129-187, S. 238-266 und S. 853-863.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf Vnder den augen was sie geel

Unter den Augen war sie gelb

Vnd gar tötlich getan,

und gar tödlich beschaffen,

Anders denn das sie vnder iren augen bran, Ein schijn als ein fùwre.

von nichts anderem, als dass aus ihren Augen368 ein Lichtschein wie ein Feuer brannte.

Sust was ir vil tùwre

Deshalb war ihr jeder

Alle löbliche anblick.

herrliche Anblick verwehrt.369

(KRONE, V. 14162-78)

Das Feuer, das Element der Visualität, bereitet Schmerzen, weil es überbordend nicht nur in, sondern auch unter bzw. zwischen den Augen brennt und der Alten so die Weltwahrnehmung unmöglich macht.370 Über das Zitat der ‚an vielen Wassern sitzenden‘ babylonischen Hure kommt widerum die platonische Konzeption der visuellen Wahrnehmung ins Spiel, nach der das Wasser den feurigen Sehstrahl zügelt. Im 368 Scholl konjiziert den Versanfang mit ‚Wan daz‘, was genauso wie ein bloßes ‚Anders denn‘ als nhd. ‚außer dass‘ übersetzt werden müsste. Diese Fügung würde oben jedoch keinen Sinn ergeben, da der Blick der Alten ja aufgrund und nicht trotz des Feuers gelb und tödlich beschaffen ist. Felder wiederum konjiziert (ein Druckfehler?) ‚nour daz‘; mit dieser Fügung würde das Feuer im Gegensatz zum tödlichen ‚Gelb-Sein‘ stehen, was mir auch nicht zuzutreffen scheint, da das eine ja des anderen Ursache ist. Das „vnder iren augen“ als ‚aus ihren Augen‘ zu übersetzen scheint mir aufgrund der gängigen mhd. Phrase des ‚under die ougen sehen‘ gerechtfertigt, die ja auch einen Blick in die Augen meint (oder evtl. die ‚züchtige‘ Entsprechung desselben, wenn man davon ausgeht, dass ein direkter Blick in die Augen als unhöfisch galt). Ich danke Uta Störmer-Caysa für diesen Hinweis. 369 Die letzten beiden Verse überträgt Kragl: „Im Übrigen mangelte es ihr an lobenswerten Aussehen“; KRAGL, 2012, S. 208. Mit dem Bezug des Bilds zum Sehstrahl der Emissionstheorie muss der anblick aktiv von der Alten ausgehen, auch wenn die Stelle es einem äußerst schwer macht, endgültig zu bestimmen, wen und wo genau es brennt – wahrscheinlich aber hauptsächlich dem Übersetzer unter den Nägeln. 370 Ein ähnliches Bild verwendet später Dante bei seiner Beschreibung des Charon: „Quinci fuor quete le lanose gote / al nocchier de la livida palude, / che ’ntorno a li occhi avea di fiamme rote.“ („Nun schwiegen stille die behaarten Wangen / des Fährmanns auf dem dunkeltrüben Teich, / der Flammenräder um die Augen hatte“; Übersetzung: WARTBURG; KOMÖDIE, INFERNO, III,97-99). Es handelt sich evtl. um ein Indiz für den gemeinsamen Bildvorrat, auf den Heinrich wie Dante in ihren jeweiligen Auseinandersetzungen mit der mittelalterlichen Visionsliteratur zurückgreifen.

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W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick

Gegensatz zur babylonischen Hure fehlt der Alten der Krone jedoch das Wasser. So wird der Blick selbst zum pathologischen Zustand. Eine Verbindung der feurig blickenden Alten mit der Bildlichkeit der Ezechiel-Vision371 lässt den Zusammenhang noch deutlicher werden. Dort (Hes 1,1-28) sieht der Visionär vier Engelsgestalten zwischen denen ein Feuer brennt und die auf ihren Köpfen eine Kristallplatte tragen. Beide Elemente deuten auf eine Wahrnehmungsthematik hin. Der Zusammenhang mit dem feurigen Blick wird dann vollends in der göttlichen Drohung in Hes 15,7 klar: „et ponam faciem meam in eos de igne egredientur et ignis consumet eos et scietis quia ego Dominus cum posuero faciem meam in eos“.372 Von der Greisin der Krone geht jedoch nicht in der Absicht des Strafens der feurige Blick aus. Nur unter Schmerzen erleuchtet ihr Sehstrahl die Welt und verhindert, dass überhaupt eine Wahrnehmung stattfinden kann – und dennoch muss der Vorgang ohne Unterlass geschehen. So erklärt sich auch, weshalb die Alte „einen moren [...] / der waz grùwlich und grosz, / Er was auch nackent vnd blosz“373 mit einer Geißel vor sich hertreibt: Der dunkelhäutige Mensch symbolisiert, ähnlich wie der den Kristallpalast zerstörende raben- oder rüstungsschmutzschwarze gebure,374 mit seiner Schwärze den Antagonismus zur feurigen Wahrnehmung. In diesem Bild wird er mit Gewalt von ihr geknechtet und von ihrem Blick verbrannt. Die Grausamkeit richtet sich gegen die Betrachtende selbst wie gegen das Dunkel, das der feurige Blick der Alten gewaltsam erhellt – ohne zu sehen. Das Erstaunliche ist, dass Gaweins Mitgefühl bei dieser Allegorie des feurigen Blicks nicht der Betrachtenden (der Alten) gehört, sondern er schmerzlich mit der von der visuell durchdrungenen Dunkelheit (dem Schwarzhäutigen) leidet: „Nu tet es Gawein so hartt we, / Das der more

371 Auch bezüglich der Technik, das Zentrum der Darstellung im Unklaren zu lassen, hat die Grals-Darstellung der Krone eine große Nähe zur EzechielVision, in der der Thronwagen, das Zentrum von Ezechiels Gesicht, nie ganz in den Fokus kommt. Siehe dazu Kapitel 3.5. 372 Einheitsübersetzung: „Wenn ich meinen Blick auf sie richte, / dann wird sie, auch wenn sie dem Feuer entkommen, das Feuer verzehren. Ihr werdet erkennen, dass ich der Herr bin, / wenn ich meinen Blick auf sie richte.“ 373 KRONE, V. 14181-83 (‚einen Mohren [...] / der war Grauen erregend und groß, / er war dazu nackt und entblößt‘). 374 KRONE, V. 14286f.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

so iemerlichen schre“.375 Gawein zeigt compassio für den obskuren ‚Märtyrer‘376 der Bezeugung. Das körperliche Mitfühlen Gaweins kann, ebenso wie die ‚Inskription‘ der Geißelschläge in den Körper des Dunkelhäutigen, als ein Bild für die Teilhabe des Zuhörers an der Fiktion gelesen werden. Die Allegorie stellt nach dieser Lesart die Wahrnehmung der fiktiven Welt als einen rundum schmerzlichen Vorgang dar, schmerzlich für den Wahrnehmenden (die Alte), wie für den direkt körperlich (der Dunkelhäutige) oder indirekt perzeptiv-körperlich (Gawein) Empfangenden – und damit für denjenigen, der über sein Körperschema all diese Funktionen in sich vereinigt: den Zuhörer. Das Feuer hat noch in weiteren Bildern der Wunderketten die Funktion des körperlich Bedrängenden:377 1) Die von den Gralswaffen besiegten 600 Ritter gehen, nachdem Gawein ihnen den Rücken gekehrt hat, in Flammen auf378 und treiben ihn in ein Land hinein, „das was alles verbrant“.379 Die Hitze nimmt Gawein beinahe die Besinnung – und wird dem Zuhörer über die eindrückliche Beschreibung zur körperschematischen Teilhabe bereitgestellt.380 2) Nachdem Gawein das verbrannte Land durchquert hat, erblickt er einen an einen Felsen gefesselten Mann, dem Vögel das Fleisch vom Leibe picken: ein Bild, das der Bestrafung des Prometheus gleicht,381 der den Menschen gegen Zeus’ Willen das Feuer brachte. 3) Bezieht man, wie vorgeschlagen, den Kristallpalast auf die Wahrnehmung, passen auch die anderen Bilder: Der Palast geht, nachdem 375 KRONE, V. 14188f. (‚Gawein tat es nun so fürchterlich weh, / dass der Mohr so jammervoll schrie‘). 376 Im Sinne von gr. ȝȐ‫ק‬IJȣ‫ק‬, ‚Zeuge‘ als ‚Blutzeuge‘; vgl. PFEIFER, 1999, S. 843; zum Märtyrer- und Zeugen-Begriff vgl. WEIGEL, 2007, v. a. S. 2225. 377 Für eine zusammenfassende Auflistung von Stellen mit Feuer-Symbolik in der gesamten Krone vgl. FELDER, 2006, S. 371. 378 Vgl. KRONE, V. 14098-108. 379 KRONE, V. 14116 (‚das völlig verbrannt war‘). 380 Vgl. KRONE, V. 14110-24. 381 Vgl. ARENDT, 1923, S. 33; HOMBERGER, 1969, S. 152; FELDER, 2006, S. 364 und S. 373. Einen Zusammenhang dieses Bilds mit Fegefeuerstrafen stellt Felder über Hes 39,17-20 und die Johannes-Offenbarung (Apc 19,21) her. Keller verweist auf Zusammenhänge mit der Petrus-Apokalypse; vgl. KELLER, 1997, S. 67.

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W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick

der ‚obskure‘ gebure einmal an seine Mauern geschlagen hat, in Flammen auf und die ihn bewohnenden Jungfrauen werden von ihm wie lebloses Material aufeinandergehäuft und verbrannt: Das vom Obskuren entfachte Feuer der profanen Visualität zerstört die Klarheit absoluter Wahrnehmung. 4) Auch im letzten Bild der ersten Kette lässt sich, wie bereits dargelegt, eine symbolische Handlung finden, in der eine kognitive Fehlleistung mit Feuer in Verbindung gebracht wird: Der geblendete Ritter meint, seiner Minnedame Luft zuzufächern, doch was er nicht sehen kann, ist, dass „der wint was fùwrin, / Der von der wale wote“.382 Analog zum von der Alten gequälten Schwarzen taucht hier ein toter Ritter „swarz als ein mor“383 auf: Die an sich blinde (d. h. nicht erkenntnisfähige) feurige Wahrnehmung führt zum Tod der Dunkelheit. Das letzte Bild kann auch als ein Verweis auf die im deutschsprachigen Gebiet des 12. und 13. Jahrhunderts sehr verbreitete Figuren- und Hell-Dunkel-Konstellation des tageliets verstanden werden, die schon vor der Krone Einfluss auf den Artusroman genommen hatte.384 In den Tageliedern fürchten heimlich Liebende die Enttarnung ihrer nächtlichen Taten durch das frühe Morgenlicht. Oft will der Liebende dabei trotz aller Gefahr nicht von der Seite der Geliebten weichen. Bezogen auf die Rosenheide führt dies zu folgender Deutung: Der von Liebe Geblendete, der dennoch wahrzunehmen erzwingt, gefährdet das Objekt seiner Begierde. Er zerstört durch sein blindes perzeptives Wüten die Dunkelheit (den schwarzen Ritter) und reißt damit ans Tageslicht, was im Geheimen bleiben müsste.385 382 KRONE, V. 14373f. (‚der Luftzug war feurig, / der von dem Fächer ausging‘). 383 KRONE, V. 14397 (‚schwarz wie ein Mohr‘); vgl. KRONE, V. 14181, 14204 und 14288. 384 Zu denken wäre hier bspw. an Erecs verligen in Karnant und dessen ‚Entdeckung‘ im frühen Morgenlicht; vgl. EREC, V. 2852-3092; zur Lichtregie dieser Szene vgl. SCHANZE, 2013. Des Weiteren stellt Wolfram gewissermaßen eine Personalunion dieser Gattungen dar, weswegen auch davon ausgegangen werden kann, dass tageliet und Artusroman für den gleichen Pulikumskreis geschrieben wurden. 385 Die tageliet-Konstellation lässt sich auch in einem korrespondierenden Bild der dritten Wunderkette finden, das im Folgenden noch behandelt wird.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

5) Die erste Wunderkette endet mit Gaweins erstem Gralsbesuch. Bei diesem wird das Feuer kombiniert mit der vorerst finalen Wahrnehmung der Gralsinsignien, eine Szene, die Heinrich intertextuell gestaltet: In den Gralsromanen französischer Prägung dienen die so genannten Kapellenabenteuer als Ouvertüren zum eigentlichen Gralsbesuch. In den ersten beiden Chrétien-Fortsetzungen greift eine riesige schwarze Hand nach den Gralsrittern Gauwain und Perceval, die beide vor ihr fliehen.386 Die Lösung des Geheimnisses hinter der riesigen Hand findet sich in der dritten (Manessier-)Fortsetzung: Es ist die Hand des Teufels.387 In Gaweins ‚Kapellenabenteuer‘388 im Rahmen der ersten Wunderkette beginnen die geheimnisvollen Erscheinungen in der Burgkapelle damit, dass sich „verwandelte [...] des tages schin / Jn ein [...] dick vinstere gar“. 389 Gawein, seines Sehsinns beraubt, beginnt zu beten und siehe: „Schier entbrant sich ein fùwre / Vnd zunte die kertzen `vber al“.390 Wo Gaweins Blick im Dunkel endet, bewirkt Gott ein Wunder, woraufhin Gawein die folgenden Erscheinungen WAHRnimmt: ein goldener Sarg mit einem Schwert darin und aus der Wand ragende Hände mit blutenden Waffen. Diese Erscheinungen enden damit, dass eine Erschütterung („Ein slag dorch die cappell flüg“) 391 die 386 Als erster entkommt Gauwain dieser Hand in der Première Continuation; Original: CONTIN., P, V. 19915-94, Übersetzung: SANDKÜHLER II, S. 161f. Diese Szene findet ihre Besprechung in einem anderen Zusammenhang in Kapitel 3.5 der vorliegenden Studie. Perceval erlebt sein Kapellenabenteuer in der Deuxième Continuation; Original: CONTIN., P, V. 34434-489; Übersetzung: SANDKÜHLER IV, S. 55f. Zur möglichen keltischen Herkunft des Motivs aus dem Fionn-Sagenkreis vgl. DÄUMER, 2011 (Keie), S. 100, Anm. 115. 387 Vgl. CONTIN., P, V. 39701-40038; Übersetzung: SANDKÜHLER IV, S. 138143. 388 In der Krone gibt es zwei Kapellenabenteuer: Eines widerfährt, wie oben dargelegt Gawein, das zweite Kapellenabenteuer muss Keie erfolglos durchleben; vgl. KRONE, V. 29010-96; siehe Kapitel 3.5. 389 KRONE, V. 14655f. (‚des Tages Licht gänzlich / in eine tiefe Finsternis wandelte‘). Dieser Wandel von Licht zu unnatürlicher Dunkelheit findet sich in ähnlicher Weise in der zweiten Wunderkette in Form einer Sonnenfinsternis. 390 KRONE, V. 14663f. (‚plötzlich entflammte sich ein Feuer / und zündete überall die Kerzen an‘). 391 KRONE, V. 14693 (‚eine Erschütterung ging durch die Kapelle‘; in wörtlicher Übertragung: ‚ein Schlag durch die Kapelle flog‘). Eine noch ein-

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W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick

Kerzen zu Boden wirft, ein „grosze[r] schall“392 die Flammen löscht und Gawein der Ohnmacht überlässt. In diesem Kampf um Gaweins ‚Besinnung‘ ist das Feuer (Zeichen der Visualität) dem Guten, die akustische Sensation dem teuflischen Wirken zugeordnet. Diese Konstellation ist analog zur Sinneskonkurrenz zwischen der gesehenen Cousine und dem gehörten Kampflärm und im ‚Stillleben mit blutiger Rüstung‘, bei dem das Visuelle fassbar, das Akustische jedoch unfassbar blieb und so die Zeugenschaft gefährdete: Die Wertung und somit Divergenz der Sinne nimmt im Laufe der Kette immer eindeutigere Konturen an. Zweite Wunderkette In der zweiten Wunderkette ist das Feuer Teil der Naturerscheinungen, die Gawein und, über die Ballung sensueller Informationen,393 auch dem Zuhörer zusetzen. Diese Ballung kulminiert in sensueller Übersteuerung, die wiederum einen Zusammenbruch, d. h. eine vollständige Entsinnlichung des Protagonisten zur Folge hat.394 Die auf die Ohnmacht folgende Schilderung von einer Windstille und Sonnenfinsternis395 ist eine Spiegelung des Betäubungszustands Gaweins in der Natur. Der Zusammenhang zwischen Naturerscheinungen und dem Zeugenschaftsstatus Gaweins wird hier offensichtlich. Es ist beinahe so, als würde die Sonne nur scheinen, damit Gawein sie WAHRnehmen kann, sodass seine Ohnmacht ihr Verfinstern bedeutet – beinahe genau-

392 393

394 395

dringlichere Variante als die Heidelberger Handschrift P liefert bei diesem Vers die Handschrift D (Linz): „ein slac durch die chappel slĤg“. Diese Formulierung ist zu den sprachlichen Elementen zu zählen, welche – in diesem Fall über die starke Rhythmisierung des Verses durch den Stabreim ‚slac:slĤc‘ – eine ‚Grausamkeit‘ (siehe Kapitel 2.3) erzeugt, die das dem Ritter in der fiktionalen Welt Widerfahrene dem Zuhörer in der Aufführung lautlich nachvollziehbar macht. KRONE, V. 14696 (‚ein großer Lärm‘). Neben den im Folgenden besprochenen Textstellen finden sich in der zweiten Wunderkette akustische (vgl. KRONE, V. 16006-11, 16020-24, 16056f., 16129-36, 16147-154, 16174-76, 16232-34, 16254-56, 16395-98), v. a. in den Beschreibungen der Naturerscheinungen taktile (vgl. KRONE, V. 16017f., 16047-51, 16158-60, 16432-40) und thermische (vgl. KRONE, V. 16029-44, 16382f.) Informationen. Vgl. KRONE, V. 16147-54. Vgl. KRONE, V. 16158-63.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

so, wie in der ersten Wunderkette die Kerzen der Kapelle erlöschen, weil der Zeuge ohnmächtig darniederliegt. Vor der Ohnmacht ist das, was dem Helden besonders zusetzt und ihn schließlich in die ‚Entsinnlichung‘ treibt, fest verankert in der emissionstheoretischen Symbolik: Ein Regen fällt, der „brant so vngehùre, / Als ob er von starckem fùwre / Mit flijsze were erwellet“.396 Dieser Regen verbindet synästhetisch die Elemente Feuer und Wasser. Diese Kombination ist bei vielen Naturbeschreibungen der zweiten Wunderkette zu finden.397 Das Objekt, auf das der feurige Regen, das platonische Sinnbild für den Blick, aufprallt, ist Gawein. Da der Regen über die emissionstheoretische Symbolik mit der Visualität gleichgesetzt wird, bietet es sich an, bei der Textstelle „Dar zùschent kamen blick / Von einem starcken schure“398 eine gewollt eingesetzte Ambiguität von mhd. blic als einerseits nhd. ‚Blitz‘ und andererseits nhd. ‚Blick der Augen‘ zu vermuten.399 Blick wie Blitz schlagen ein in Gaweins Welt. Darin zeigt sich ein Unterschied zwischen den beiden Ketten: Blickte der Ritter in der ersten Wunderkette noch auf Bilder von Wahrnehmenden, so ist er in der zweiten als Wahrgenommener den Blicken ausgesetzt. Anders – und auch eingedenk der bereits angesprochenen 396 KRONE, V. 16026f. (‚so ungeheuerlich brannte, / als ob er aus starkem Feuer / inbrünstig aufwallte‘). 397 Schon vor der zitierten Textstelle heißt es, das Unwetter sei so stark, dass es „sneit vnd brant / Beyde holtz vnd steyn want“ (KRONE, V. 16017f.; ‚sowohl Holz als auch Steinwand / schnitt und brannte‘). Als aufs Neue der Regen fällt „begund sin wasser / Brennen vil sere“ (KRONE, V. 16222f.; ‚fing sein Wasser / auf schmerzliche Weise zu brennen an‘). Auch der später beschriebene Wetterzauber der Schwester Aanzims wird synästhetisch beschrieben als „Ein schra [= schûre?] vnd ein kalter sne, / Der beyde frorte vnd brant“ (KRONE, V. 16382f.; ‚ein Unwetter und ein kalter Schnee, / der sowohl fror als auch brannte‘). 398 KRONE, V. 16014f. (‚Dazwischen zuckten Blitze [fielen Blicke] / von einem starken Unwetter‘). 399 Vgl. LEXER, 1992, S. 23; siehe Anm. 647. Bestätigung findet die gezielte Verwendung der Ambiguität von blic auch durch ihren umgekehrten Einsatz bei Gaweins Besuch am Hof des Ywalin. Dort werden die Blicke des Ingesindes auf Gawein mit den Versen beschrieben: „Swie vngefüeg ez regenet / Vnt donert mit blichen“ (KRONE, V. 6239f. ‚Wie unfreundlich/unhöflich es mit Blitzen/Blicken regnet und donnert‘). An dieser Stelle meinen die bliche wirkliche Blicke, die metaphorisch auf Gaweins Haut regenen und donern. Die Aggression des Blickes/Blitzes ist dieselbe wie in der Wunderkette, auch wenn das Verweisverhältnis umgekehrt ist.

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W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick

sexuellen Konnotation der visuellen Wahrnehmung in der Genesis –400 formuliert: Der ehemalige Voyeur wurde zum Opfer des Voyeurismus, malträtiert von Blicken/Blitzen, die nicht seiner Welt entstammen. Die Anspielungen auf den Gawein treffenden feurigen Blick setzen sich in der weiteren Naturbeschreibung fort. Nach dem feurigen Regenschauer folgt Ein gefelle von steinen,

ein Hagel von Steinen,

Von groszen vnd cleynen,

großen und kleinen,

Die glüten so usz der aht,

die so außergewöhnlich glühten,

Das sie hart bedacht

dass sie die Flamme stark umhüllte,

Die flamme, das sie weren

sodass sie

Dorchsiehtig vnd baren

durchsichtig waren und sie verbreiteten

Einen so groszen liehten schin

einen so gleißend hellen Schein

Als ein masze ysenin,

wie eine Eisenmasse,

Die usz der esze wùrt gezogen.

die aus der Esse gezogen wird.

Man was auch des vnbedrogen:

Und darin täuschte man sich nicht:

Sie enbrannten, als das fùwre tĤt.

Sie setzen in Brand, wie es das Feuer tut.

(KRONE, V. 16030-40)

Gleich auf zwei Ebenen wird das Feuer mit Wahrnehmungsvorgängen verbunden: Einerseits auf der Ebene der descriptio, indem das Feuer die Steine (entgegen jeder physikalischen Logik) durchsichtig macht, was den Steinschlag mit der Kristall-Symbolik verbindet; andererseits auf der Ebene des Rezeptionsvorgangs, indem das sprachliche Bild des aus der Esse gezogenen Metalls („Als ein masze ysenin“) durch ein nicht weiter expliziertes ‚man‘ zur imaginativen Teilhabe für das Publikum bereitgestellt wird. Auch in den folgenden Versen lässt sich eine ähnliche Ausweitung des Feuers auf den Rezeptionsvorgang beobachten: „Von starcker brunst ein lieht / Began sich dar nach eugen“. 401 Der Wahrnehmungsvorgang wird so unspezifisch formuliert, dass er nicht so sehr die Augen Gaweins, als vielmehr die Augen des Körperschemas bzw. die imaginatio des Rezipienten als Orte der Fiktionsgenese anspricht. 400 Siehe Kapitel 3.3; vgl. FRICKE, 2011, S. 272. 401 KRONE, V. 16054f. (‚Ein Licht von einer großen Feuersbrunst / ließ sich danach beäugen [mit den Augen wahrnehmen]‘).

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Zusammenfassend lässt sich zum Feuermotiv in der zweiten Wunderkette feststellen, dass die Naturerscheinungen, die zusammen mit sozialen Herausforderungen auf den Ritter einprasseln, durch semantische Ambivalenzen und fiktionsübergreifende Metaphern als visuelle Attacken auf den Körper des Ritters inszeniert werden. Das Feuermotiv lässt sich auf die Publikumsebene ausweiten, sodass sich die blicAttacken als Bild für die Teilhabe der Zuschauer entpuppt, deren imaginäre Augen auf den fiktiven Körper Gaweins blicken. Mittels dieser Konstellation wird die Imagination des Zuhörers gewissermaßen ‚kurzgeschlossen‘, denn einerseits kann er durch die gesteigerte Sensualität des Texts an den Leiden Gaweins passiv rezipierend teilhaben; andererseits wird sein aktiv rezipierender Blick als Grund dieses Leidens verbildlicht. In der Staffelung eines auf zweiter Ebene bezeugten Zeugen erster Ebene zeichnet sich das ‚theatrale‘ Verhältnis von Fiktion und Vortrag ab; diese gestaffelte, transgressive Bezeugung wird jedoch durch die Zurückwerfung des ‚theatralen‘ Blicks auf sich selbst desavouiert. Dritte Wunderkette Auch in der dritten Wunderkette taucht das Feuermotiv auf, doch dort hat es seine Bedrohlichkeit verloren. Schon vor Beginn der eigentlichen Bilderschau wird Gawein plötzlich von einer Feuerwand eingekreist, die sich mit ihm im Mittelpunkt bewegt. Doch das Feuer stellt keine Gefahr für den Ritter dar: Es hatt auch Gawein niht verbrant

Auch hat es Gawein nicht mal

Vmb jht, nach berürt,

ein wenig verbrannt, noch ihn berührt,

Wann daz es jne hatt gefürt

sondern es hat ihn in ein Land geführt,

Jn ein lant, das vil schon was,

das sehr schön war

Dar jnne er vil wol genasz.

[und] in dem es ihm wohl erging.

(KRONE, V. 28400-04)

Das anfangs noch bedrohlich wirkende Feuer entpuppt sich als Gaweins Zugang zum Land der ihm freundlich gesinnten Göttin Manbur, die ihm entscheidende Ratschläge für die finale Erlösung der Gralsgesellschaft gibt. Gewissermaßen fungiert das Feuer an dieser Stelle (zumindest

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W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick

teilweise) als der ansonsten schmerzlich vermisste angelus interpres.402 Nach diesem Besuch beginnt die dritte Wunderkette. Erst reitet Gawein sechs Tage lang durch ein von Feuer verwüstetes Land, dessen Beschreibung sehr an die Darstellung des Gebiets erinnert, in dem der Held in der ersten Wunderkette die Prometheus-Gestalt und die Alte mit den brennenden Augen traf.403 Ebenso wie diese Landschaft einen Bezug zur ersten Wunderkette herstellt, geschieht dies auch beim ersten wunder, dem Gawein in einem Wald, dem Raum der zweiten Wunderkette, begegnet:404 Ein Mann, der am ganzen Körper brennt, treibt mit einer Geißel eine Schar nackter Frauen vor sich her. Die Ähnlichkeiten zum Bild der unter/zwischen den Augen brennenden Alten, die mit einer Geißel den nackten Dunkelhäutigen vor sich hertreibt, sind offensichtlich. Zu Beginn hört Gawein, wie einstmals den Dunkelhäutigen, auch die Schar der Frauen klagen, doch dann wandelt sich die Szene: Der brennende Mann tritt auf Gawein zu, küsst seine Beine und Füße und lacht geheimnisvoll. Die Frauen bedecken schamvoll ihre Blöße und grüßen ihn. Danach kehren sie wieder in die alte Formation des Geißelzugs zurück. Auch dieses Mal wird beschrieben, „das sin [Gaweins] hertz weinte / Der gotsüszer wijbe not, / Vnd da von fùwres flammen rot / Dirre man so hart bran.“405 Trotz dieses Mitleids bleibt jedoch eines klar: Gawein zieht nie in Betracht, in die Szene einzugreifen, obwohl er weder, wie in der ersten Wunderkette, Gralspferde verfolgt, noch, wie in der zweiten, den expliziten Auftrag bekommen hat, auf Provokationen nicht zu reagieren. Gawein scheint den richtigen Umgang mit den Bildern und damit auch mit dem Element des Feuers gelernt zu haben; oder in Bezug auf den ‚feurigen Blick‘ formuliert:

402 Hier stellt die Wunderkette (mit Sicherheit zufällig) eine erstaunliche Verbindung her, findet sich doch eine der frühsten Ausformungen des angelus interpres in einer Schrift aus dem iranischen Kulturbereich, die wahrscheinlich in die Zeit Zarathustras zurückzudatieren ist (100 vdZ.). In dieser findet eine Führung durch das Jenseitsreich an der Hand von allegorischen Gestalten namens ‚Gehorsam‘ und ‚Feuer‘ statt; vgl. HASENFRATZ, 2006, S. 32. 403 Vgl. KRONE, V. 14115-21 und 28621-24. 404 Vgl. KRONE, V. 28632-65. 405 KRONE, V. 28669-72; ‚dass sein Herz weinte wegen der Leiden der gottseligen Frauen und weil dieser Mann, rot von den Flammen, so lichterloh brannte‘.

289

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Gawein hat gelernt, ‚richtig‘ zu sehen406 und das ‚Martyrium des Bezeugens‘ als solches zu akzeptieren. Auch seine Reaktionen auf weitere Feuererscheinungen beweisen dies. Als im folgenden Bild eine Greisin, die ein Liebespaar verfolgt, eine magische Flüssigkeit an einen Baum wirft, geht der Wald und mit ihm das Liebespaar in Flammen auf. 407 Der Zusammenhang dieser magischen Molotov-Cocktail-Attacke mit der visuellen Wahrnehmung lässt sich abermals über die Figurenkonstellation des (den höfischen Roman nahestehenden und wahrscheinlich vor dem gleichen Publikum vorgetragenen)408 tageliets herstellen. Der allegorische ‚Schlüssel‘ ist also ein ähnlicher, wie schon in der ersten Wunderkette bei der abbrennenden Rosenheide: eine weitere intratextuelle Verbindung zwischen erster und dritter Kette. Ebenso erinnert der Vorgang des Werfens eines Zaubertranks an Gaweins Helferin aus der zweiten Wunderkette. Bezieht man das Liebespaar der dritten Kette auf die Konstellation der Liebenden in der lyrischen Gattung, so steht die Verfolgung durch die Greisin und damit abermals das Feuer für die gesellschaftliche Sichtbarmachung und Vernichtung der verbotenen Liebe. Gaweins Reaktion auf die Zerstörung der Minne ist im Gegensatz zum Parallelbild der ersten Kette emotional und wird mit dem Kommentar versehen: „Die grosz hertzenleit / Gawein vil tùre cleit“. 409 Er reagiert jedoch nur innerlich auf die verbrennenden Liebenden und „Als er wol marckte das, / Hie mit reit er fùrbasz, / So er beste kund.“410 Der Ritter fühlt sich in das Bild ein, doch der emotionale Zugang dient ihm lediglich dazu, das Gesehene als ‚Zeichen ohne Bedeutung‘ (und damit einhergehenden Handlungszwang) in sein Gedächtnis einzuschreiben. Auch beim letzten Auftauchen des Feuers handelt es sich um ein Zitat aus der ersten Wunderkette, das auf den WAHRnehmungsdiskurs 406 Diese Argumentation läuft parallel zu einer Feststellung Meyers. Mit einem Ansatz, der die Wyss’sche Gleichung „Der Gral, mit anderen Worten, ist der Tod“ (WYSS, 1981, S. 289) weiterdenkt, kommt Meyer zu dem Ergebnis, dass Gawein in der dritten Wunderkette „gelernt [habe], mit dem Tod umzugehen“; MEYER, 1994, S. 162. 407 Vgl. KRONE, V. 28673-701. 408 Siehe Anm. 384. 409 KRONE, V. 28697f. (‚Das große Herzensleid / stand Gawein geradezu vortrefflich‘). 410 KRONE, V. 28699-701 (‚Als er sich das gut eingeprägt hatte, / ritt er weiter, / so wie er sich am besten darauf verstand‘).

290

W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick

verweist. Kurz bevor Gawein ein irdisches Paradies betritt, in dem er einen Monat lang bleibt, erblickt er das Folgende: Er sah ein fùwrin swert,

Er sah ein flammendes Schwert,

Breit uszer maszen.

überdurchschnittlich breit.

Es hĤte der straszen

Es bewachte die Straße

Gein einer vesten cluse,

zu einer befestigten Klause,

Die vor einem huse

die vor einer Burg stand,

Stund, das vil clug was,

die sehr schlau [erbaut] war:

Vnd was sin muwre als ein glasz

Ihre Mauer war wie aus Glas,

Dorchsiehtig vnd lieht:

durchsichtig und klar.

Sich mohte dar jnn verhelen niht,

Nichts konnte sich darin verstecken,

Man hett es uszwendig gesehen.

ohne dass man es von außen gesehen hätte.

(KRONE, V. 28973-82)

Es ist eine Entsprechung zum Kristallpalast der ersten Wunderkette, welcher hier noch klarer auf das höfische Ideal der absoluten Sichtbarkeit bezogen wird.411 Der intratextuelle Verweis wird durch die nun folgende Einschaltung des Rezitators noch deutlicher: „Jch enweiz, wann es were geschehen, / Es were mit al lere.“412 Natürlich weiß er, wie es geschah: Der gebure hatte in der ersten Wunderkette alle Bewohner des Hauses verbrannt und deshalb sind sie nicht da. Doch die demonstrative Behauptung, dies nicht mehr zu wissen, regt das Publikum dazu an, sich an diese vergangene Szene zu erinnern und sich zu fragen, was es wohl bedeuten mag, dass ein ‚Phantasma totaler Sichtbarkeit‘ (Müller) nun leersteht und auf Neubezug wartet. In den folgenden Versen nutzt der Rezitator die im Zuhörer angeregte Besinnung auf Memorialvorgänge zu einer Kontrastierung seiner ‚eigenen‘ (allerdings vom Dichter erschaffenen) Sichtweise zur Fiktion: Gaweinen duhte die mere

Gawein kam diese Begebenheit

Fremde sin vnd seltzame.

befremdlich und seltsam vor.

411 Auch der intertextuelle Bezug zu der entsprechenden Stelle aus dem Wigalois (vgl. WIGALOIS, V. 4594-4606) ist hier aufgrund beinah identischer Formulierungen noch deutlicher als in der ersten Wunderkette. 412 KRONE, V. 28983f. (‚Ich weiß nicht, wie es geschehen war, / [doch] es [das Haus bzw. die Burg] war völlig leer‘).

291

Stimme im Raum und Bühne im Kopf Als ich mich wol verwane,

Ich für meinen Teil hoffe,

Daz was kein vnbild,

dass dies nicht etwas Unbegreifliches ist,

Wann die geschiht was gnüg wild.

denn die Geschichte ist schon seltsam genug.

(KRONE, V. 28985-89)413

Vergegenwärtigt man sich, dass performative Einwürfe dieser Art in den Wunderketten (ganz im Gegensatz zu anderen Passagen der Krone) sehr selten sind, da sich in ihnen die Fiktionsvermittlung stärker auf die suggestiv-sensuelle Kraft der Sprache verlässt, wird die Bedeutung des Einwurfs klar: Während der Wunderketten wurde der über Gaweins WAHRnehmung erzeugte Konnex von Zuhörer und Held zur starken Bindung, die zwar manches Mal auf Seiten der Fiktion als gefährdet dargestellt, jedoch so gut wie nie durch direkte Publikumsanreden unterbrochen wurde.414 Nun aber, in den letzten Versen der dritten Wunderkette, spricht der Rezitator und stellt durch Einbringung einer (fingiert) autonomen Perspektive die Fokalisierung durch den ‚Kameramann‘ Gawein genauso in Frage, wie er von der ‚Wildheit‘ des Texts Abstand nimmt. Indem der Rezitator sich demonstrativ von Gaweins Wahrnehmung wie von Heinrichs Textvorlage distanziert, treibt er einen Keil zwischen den sonst mit allen textuellen Mitteln intensivier413 Kragl verweist darauf, dass ‚geschiht‘ von Heinrich an mehreren Stellen im Sinne von ‚Gestalt‘ verwendet wird und übersetzt: „denn die Gestalt [der Burg] war wild genug“; KRAGL, 2012, S. 436 und Anm. 306 auf S. 427. Kragls Bezug der geschiht auf die Burg scheint mir jedoch einen wichtigen metatextuellen Sprung einzuebnen. 414 Eine Ausnahme im generellen ‚Schweigen‘ des Rezitators ist der Vers: „Ob ich dem mære glouben sol“ (KRONE, V. 14297; ‚wenn ich der Geschichte glauben soll‘), der interessanterweise bei der Beschreibung des analogen Bilds vom brennenden Kristallpalasts der ersten Wunderkette auftaucht und so beide Einwürfe verbindet. Die obige Passage der dritten Wunderkette kann so als Erweiterung des in der ersten anklingenden Zweifels an der Glaubwürdigkeit der Textvorlage gesehen werden, steigert sich aber um die Zerstörung des Figur/Zuhörer-Konnex. Zwei weitere Einwürfe dieser Art sind im Rahmen des ersten Gralsbesuchs am Ende der ersten Kette zu finden (vgl. KRONE, V. 14598 und 14610; vgl. auch V. 14297). Felder liest die Verse wie folgt: „Heinrich scheint sich kritisch mit seiner Vorlage auseinanderzusetzen“; FELDER, 2006, S. 394. Diese Wertung ist abermals ausschließlich der produktionsästhetischen Sichtweise verpflichtet. In der Aufführungssituation bedeuten diese Verse nicht eine Auseinandersetzung des Dichters mit seiner Vorlage, sondern eine kritische Distanzierung des Rezitators von Heinrichs Text.

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W AHRnehmungsgefährdung im feurigen Blick

ten Konnex von Held und Zuhörer. Diese unerwartete Zerstörung des Illusionismus stellt den Auftakt zu einer rigorosen Zersetzung des in den Wunderketten Etablierten in der Sphäre des Grals dar, die letztendlich die Antwort auf die Frage liefert, was es bedeutet, dass Gawein nun ‚richtig‘ sehen kann. Rekapitulation Die Funktionsweisen der Fiktionsvermittlung in der Aufführung der Wunderketten lassen sich wie folgt zusammenfassen: Es wird, vor allem über den Motivbestand der Bilder, die dem Publikum bekannte Vermittlungskonstellation der Visionsliteratur (Jenseitsbild – Engel – Charismatiker – Gläubige) zitiert, jedoch unter der gezielten Ausschaltung des angelus interpres. Deshalb fehlt die auf Seiten der Fiktion den intellectus symbolisierende und im Rezeptionsvorgang die ratio unterstützende ‚Vermittlungshilfe‘. Der Zuhörer ist in Anbetracht der Bilder der Wunderkette einzig auf die unwissende Figur angewiesen. Diese Abhängigkeit wird in den Wunderketten stärker als in anderen Textpassagen zur Geltung gebracht, indem die Taktzahl der sensuellen Informationen erhöht wird, die über die (imaginierten) Medien von Gaweins Körper und dem Körperschema auch auf den Zuhörer einprasseln. Der Ritter wird so zur stark beanspruchten, multisensuellen ‚Kamera‘, die Wunderketten zu einer perzeptiven Herausforderung an den Zeugen und seine transmissive Aufgabe, die Fiktion für den Zuhörer zu bewahrheiten. Dadurch, dass der Konnex Gawein/Zuhörer als singulärer ‚Übermittlungskanal‘ inszeniert wird, ist er entsprechend angreifbar; die über den Kanal vermittelten Vorgänge werden problematisch. Dies wird daran deutlich, dass sich der Held für die Bezeugung eines Bilds der Ketten entscheiden muss, während viele andere ihm und dem Zuhörer verloren gehen: eine neuartige ‚Verlusterfahrung‘, die dem Zuhörer aus anderen höfischen Romanen gänzlich unbekannt ist. So wie die Vermittlung als gefährdet erscheint, wird auch ihre perzeptive Basis, die Sensualität, in den Bildinhalten als gefährdet ausgewiesen. Dafür wird das Feuer als Symbol für den Sehstrahl des Auges in Szene gesetzt. Gaweins Umgang mit dem ‚feurigen Blick‘, den er in verschiedenen Formen erst als Allegorie sieht und dann auf seinen Körper einprasseln

293

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

fühlt, macht in den Ketten eine Entwicklung durch, die den betrachtenden Ritter der ersten zum betrachteten der zweiten Wunderkette werden lässt. Dabei erfährt der rezipierende Blick/blic des Zuhörers einen Kurzschluss am Körper des Ritters. Die dritte Kette verbildlicht schließlich eine Abhärtung des Ritters bzw. seine Akzeptanz des auf ihn einstrahlenden Blicks, wo er zuvor, bspw. bei der ‚Alten auf dem Dreihorn‘ der ersten Kette, noch Mitleid mit dem Bestrahlten hatte. Mit Gaweins Abhärtung scheint der ‚fiktionsvermittelnde Aufruhr‘, den die beiden ersten Ketten erzeugten, vorübergehend zur Ruhe zu kommen – jedoch ohne dass sich eine Lösung des zuvor Problematisierten abzeichnet. In diese trügerische Ruhe bricht der Rezitator ein, der zuvor kaum als selbstständig sprechende, performative Instanz eingesetzt wurde: Kurz vor Gaweins Eintritt in die Gralssphäre meldet er sich mit einer Aussage zu Wort, die die mediale Funktion der WAHRnehmung nun im direkten face-to-face der Aufführungsebene in Frage stellt und damit auf das vorverweist, was die Gralspassage als mediale Problematik en gros ausweisen wird.

3.5 Geregelte Unsicht barkeit und die Kappung der Kamera „Ganz unten blendet Damast; quer zacken und runden und winden gewirkte Blätter und Blüten. Darauf durchsichtig hingeplattet und dann schlank ragend ein Kristallkelch, halb voll blassem Gold. Davor träumend hingestreckt eine Hand [...]. Schon wo es nach zartem Gelenk im Formencrescendo Arm werden will, verschwimmt es im Ganzen. Ein süßes Rätsel.“ Thomas Mann, Vision415

Die perzeptiven Aufgaben des Helden in den Wunderketten führen auf ein Ziel zu: die Bezeugung des Grals, an der Gaweins Vorgänger Parcifal (wie es das erste Bild ouvertürenhaft anführte) bereits scheiter-

415 Mann, 1963, S. 6.

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Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera

te. Den Zusammenhang zwischen den Wunderketten und der Gralssphäre erklärt der Gralsherr in seinem Schlussmonolog: Vnd wisze das fùr war, Was du auentùre hast gesehen, Das sie von dem grale sint geschehen. (KRONE, V. 29549-51)

Und wisse wahrlich dies: Was du an Aventüren gesehen hast, wurde alles vom Gral bewirkt.

Die Wahl des Verbs sehen macht deutlich, dass der Gralsherr nicht Gaweins sonstige Abenteuer, sondern die passiv aufgenommenen Wunder der Ketten meint. Er betont so nochmals ihren Sinn als den der visuellen Perzeption. Bevor Gawein, der nach der dritten Wunderkette wieder auf die ehemaligen Weggefährten Calocreant und Lantzelet stößt, im Gralsschloss eintrifft, wird erst Kays Versagen in der Gralskapelle geschildert:416 An Gaweins ‚dunklem Schatten‘417 zeigt sich ex negativo, dass der Protagonist den richtigen, d. h. passiven Umgang mit den Bildern der Wunderkette erlernt hat. Der arthurische Truchsess begeht den Fehler, dass er, als er in einer Kapelle „ein bild vnd ein geschiht, / Das nach einem menschen was gestalt“,418 findet, nicht damit zufrieden ist, dieses Abbild als solches zu akzeptieren, zumal er das geschihte419 nicht liest, das ihn wahrscheinlich eines Besseren belehrt hätte. Er zieht den Speer heraus, der dem Standbild durch die Knie gestochen ist, „[v]nd sĤchte dar jnne das blĤt.“420 Dies tut er, weil er im Innern des Abbilds die bluthafte Realität erwartet.421 Wegen dieser Freveltat muss Kay als 416 Vgl. KRONE, V. 29010-59. 417 Vgl. DÄUMER, 2011 (Keie), S. 75f. mit weiterer Literatur zum Doppelgängerverhältnis von Gawein und Keie; siehe Kapitel 4.1.2.1. 418 KRONE, V. 29025f. (‚ein Standbild mit einer Geschichte, / das der Gestalt eines Menschen nachgebildet war‘). 419 Neben der femininen Form „geschiht stf.“ verzeichnet Lexer auch das Neutrum „geschihte stn“ mit der Bedeutung von „was geschieht, begebenheit, geschichte“ (LEXER, 1992, S. 65), die es ermöglicht, die Begriffsverwendung bei Heinrich als Verweis auf eine narrative Inschrift des Standbilds zu verstehen. Deshalb kann ich mich auch hier nicht Kragls Pauschalübersetzung von ‚geschiht‘ als ‚Gestalt‘ anschließen; vgl. KRAGL, 2012, S. 435 und Anm. 306 auf S. 427. 420 KRONE, V. 29032 (‚und suchte darin das Blut‘). 421 Zu einer eingehenden Interpretation dieser Szene im Kontext eines die Keie-Gestalt umrankenden Diskurses zur Verwischung der Grenzen zwi-

295

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Gefangener in der Kapelle verweilen. Die Strafe erfolgt für einen Verstoß gegen das Idolatrie-Verbot,422 dafür dass er des bildes reht423 verletzt hat,424 und setzt so das in Handlung um, was Hartmann narrativ an den Bildern des Zelters vollzog. 425 Doch genauso, wie Hartmann in der Zelterepisode die Angleichung des Bildes an die Realität am Ende wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen lässt, muss auch Kay feststellen, dass das Abbild stets nur ein solches bleibt und der Versuch, in ihm die Realität zu finden, zum Scheitern verurteilt ist. Nachdem der Zuhörer diesen ‚epistemologischen Nachhall‘ der Wunderketten vernommen hat (der gleichzeitig die Ouvertüre zur Gralsepisode bildet), wendet sich der Sprecher wieder den drei Rittern zu, die nun am Gralsschloss angekommen sind, wo ihnen eine groß angelegte Prozession vorgeführt wird: Man deckt den Tisch,426 Kämme-

422

423

424

425 426

296

schen Fiktion und (Vortrags-)Realität vgl. DÄUMER, 2011 (Keie), S. 94102. 2 Mose 20,4: „non facies tibi sculptile neque omnem similitudinem“: Angesichts der lateinischen Formulierung des zweiten Gebots könnte es sich bei dem bild (sculptile, Statue) und dem geschiht (similtudo, Gleichnis), die Kay findet, um direkte Entsprechungen handeln; siehe Anm. 419. Die Formulierung stammt aus der bereits behandelten Zelterepisode (EREC, V. 7609) und beschreibt dort den Effekt, dass die Abbildungen der Decke beinahe lebendig wirken würden und so ‚das Gesetz des Bildes‘ brechen; siehe Kapitel 3.3. Im Diskurs um den ontologischen Status von Abbildern scheinen die Zelterepisode und die Gralspassage der Krone miteinander verwandt. Diese Art des Bilder-Frevels scheint die Keie-Figur auch im weiteren Verlauf des Artusromans noch zu umranken. Eine signifikante Konstellation lässt sich im ausgehenden 15. Jahrhundert in Ulrich Fuetrers Buch der Abenteuer finden, genauer: am Anfang des Persibein, dem fünften der Binnenromane. Dort ist Kay der einzige, der bei einer Prozession den Tugendstein Florant nicht erkennen kann. Doch dies hält ihn nicht von der obligatorischen Schmährede ab. Mit dieser verortet er sich intertextuell – und mittels einem für eine Figur erstaunlichen Wissen über die höfische Literatur – im literarischen Bild/Abbild-Diskurs: Er verweist auf eine Szene aus dem Pfaffen Amis des Stricker, in der der Protagonist einem Hofstaat dem Tugendlosen unsichtbare Bilder verkauft – also eigentlich gar nichts; vgl. RAUMANN, 2013, 63f. Über diesen Verweis auf die ‚Des Kaisers neue Kleider‘-Taktik präsentiert sich Kay als Fachmann der Bild/Abbild-Thematik, der seine eigene Unzulänglichkeit über eine Funktionalisierung des Diskurses umzudeuten weiß. Siehe Kapitel 3.3. Vgl. KRONE, V. 29255-73.

Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera

rer bringen Handtücher, Becken und Kerzen,427 Fiedler spielen auf und die Sitzordnung an der Tafel wird festgelegt.428 Bis hierhin spricht alles für die herkömmlichen Handlungsabfolgen bei dem Vorbereiten eines Festmahls. Einzig der Jüngling, der ein Schwert vor den Gralsherrn legt,429 mag ein wenig ‚unpassend‘ erscheinen. Gawein fällt diese Abweichung vom normalen Ablauf einer Tischzeremonie auf, sodass er „dise mere, / Vnd was die geschiht were, / Began mit al bedencken.“ 430 Seine Gefährten werden auf das ungewöhnliche Signal jedoch nicht aufmerksam und schlafen ein, nachdem die Mundschenken ihnen zu trinken gegeben haben.431 Gaweins Gefährten müssen deshalb einschlafen, weil sie die Prozession für ein herkömmliches Festmahl hielten und aus diesem Grund nicht dem Rat der Göttin Manbur folgten, weder zu essen noch zu trinken. Vor der Folie von Calocreants und Lantzelets ‚Entsinnlichung‘ erscheint das Folgende als eine perzeptive Aufgabe des wachenden Helden. Der Rezitator setzt die Beschreibung erst mit dem protokollgerechten Auftreten der truchsæze fort, als hätte er selbst noch nicht den besonderen Status des Mahls verstanden. Doch dann unterbricht er sich selbst („Hie wil ich niht mer sagen“)432 und beginnt mit der Schilderung der eigentlichen Gralsprozession. Die einzelnen Elemente der Prozession lassen sich ohne Probleme aufzählen: zwei Jungfrauen mit Kerzen, zwei junge Herren mit der Lanze und weitere zwei Jungfrauen mit einer in siglad433 eingehüllten toblire.434 Die darauf eintretende Jungfrau übertrifft die vorigen noch an Schönheit und trägt auf ihrem Haupt eine Krone.435 Sie bringt 427 428 429 430 431 432 433 434

435

Vgl. KRONE, V. 29274-85. Vgl. KRONE, V. 29286-302. Vgl. KRONE, V. 29303-15. KRONE, V. 29313-15 (‚damit begann, / über dieses Geschehen / und dessen Hintergrund angestrengt nachzudenken‘). Vgl. KRONE, V. 29316-39. KRONE, V. 29347; (‚An dieser Stelle will ich nicht mehr erzählen‘). Laut Lexer ein „kostbarer, golddurchwirkter seidenstoff“; LEXER, 1992, S. 335. Der mhd. Begriff ‚toblier‘ ist in mittelhochdeutschen Texten nur an dieser Stelle der Krone verzeichnet. Es wird auf das afrz. ‚doublier‘ zurückgeführt, das Heinrich in seiner französischen Quelle lesen konnte, und meint dort, wie wohl auch hier, nhd. ‚Teller‘ oder ‚Schüssel‘; vgl. LEXER, 1992, S. 227. Wie Keller feststellt, „sind goldene Kronen in Heinrichs Crône immer auch poetologisches Signal“ (KELLER, 1997, S. 397), was nicht zuletzt an der für

297

Stimme im Raum und Bühne im Kopf Jn einem tùren plialt

eine in wertvollen Blialt436 gehüllte

Ein cleinat, das was gestalt

Kostbarkeit, die geformt war

Als ein rost von golde rot.

wie ein Rost aus rotem Gold.

Daruff ein ander cleinot

Darauf war eine andere Kostbarkeit

Was gestalt vnd gemaht,

geformt und gestellt worden,

Deswar, das niht swaht:

die an Wert wahrlich in nichts nachstand.

Gestein was es vnd goldes rich.

Sie war reich an Gold und Edelsteinen.

Einer clepffzen was es glich,

Sie war dem Anschein nach ein

Die vf einem altar stet.

Reliquienbehälter, der auf einem Altar steht.

(KRONE, V. 29378-86)

Diese Beschreibung des Zentrums der Prozession ist voller Uneindeutigkeiten. Die Unterlage sowie der Gegenstand selbst werden vage als cleinat bzw. cleinot bezeichnet, was nichts über ihre Gestalt, nur etwas über ihren Wert aussagt. Außerdem kann man sich nicht sicher sein, ob die Kostbarkeit ein Edelstein ist oder aber nur reich mit ihnen besetzt. 437 Bei der Beschreibung des rost wird betont, dass es nur ein Vergleich ist („was gestalt / Als“). Die letzten beiden Verse, die das Bild (oberflächlich) auf die Begriffe clepffze und altar einschränken, beschreiben den Gral lediglich über den Anschein („was es glich“), stellen also ebenfalls keine Gewissheit her. Die wirkliche Gestalt des cleinots wird also nicht erfasst. Auch die weiteren Handlungen der Gralsgesellschaft werfen kein Licht auf den im Dunkeln bleibenden Gegenstand. Aus dem Speer fallen drei Blutstropfen in die goldene Schüssel (oder nimmt der Speer sie aus ihr auf?)438 und diese wird dem Gralsherrn gereicht. Eine kla-

höfische Romane ungewöhnlichen Titelgebung durch den Dichter liegt. Die Krone dient an dieser Stelle dazu, die Aufmerksamkeit des Zuhörers durch die Ankündigung von etwas Besonderem zu schärfen, das die Poetik, jedoch auch die Medialität des Artusromans betrifft. 436 Lexer beschreibt bliâlt bzw. plîalt – ähnlich wie siglad – als eine aus dem Provenzalischen bzw. Altfranzösischen stammende Bezeichnung für einen „kostbare[n], golddurchwirkte[n] seidenstoff“; LEXER, 1992, S. 23. 437 Kragl übersetzt „Es war ein Edelstein und reich an Gold“; KRAGL, 2012, S. 442. Ich denke, dass die Verbalphrase ‚was [...] es rich‘ sich auf gestein wie auf goldes bezieht. Doch da nur das Gold im Genitiv steht, ist Kragl zuzustimmen, dass der Gral hier evtl. doch der Edelstein ist. 438 Kragl fügt diesen Gedanken der Stelle bei (vgl. KRAGL, 2012, S. 443, Anm. 319), die aufgrund eines fehlenden Verbs das Zeremoniell noch weiter in die Unschärfe schwinden lässt.

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Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera

gende Jungfrau, in der Gawein eine von Manburs Hofdamen erkennt, öffnet die clepffze und der Gralsherr bricht den dritten Teil der darin befindlichen Brotkrume ab. Gerade als dieses (pseudo-)eucharistische Zeremoniell – Eucharistie hier gemeint als das Paradigma der Verschaltung: Der Empfänger der Kommunion wird über einen Speisungsakt mit dem letzten Abendmahl verschlatet – seinen Höhepunkt erreicht, stellt Gawein die befreiende Frage nach der Bedeutung des Treibens und bricht damit den Vorgang ab. Wyss sieht in dem Gegenstand auf dem rost den Gral.439 Diese Zuschreibung mag jedoch nicht ganz überzeugen, da der Gralsherr später den Gral mit einem unspezifischen Verweis440 generell als „gottes wonder“441 bezeichnet. Da dem Rezipienten aber kein konkreter Gegenstand, kein spezifisches Signifikat beschrieben wurde, hat es den Anschein, als wenn die Bezeichnung des Gralsherren nicht nur den kelchartigen Gegenstand, auch nicht die toblire, sondern den gesamten Vorgang, dessen Anklänge an die (verschaltende) Eucharistie und Verweise auf die göttliche Trinität442 meint, wie es Bleumer verdeutlicht: „Die Verbindung von Brot und Blut sowie die Bezeichnung des Vorgangs als gotes tougen (29418) entspricht dem ‚eucharistischen Geheimnis‘ der Wandlung in der Eucharistiefeier, und deren Verhältnis liefert auch den Deutungshintergrund für den gesamten Vorgang in der 443 Crône.“

Zum selben Zusammenhang schreibt Keller: 439 Vgl. WYSS, 1981, S. 285. In späteren Texten revidiert Wyss diese Zuschreibung wieder, indem er sich auf die alle Klarheiten verschleiernden Worte des Gralsherren bezieht: „‚Was du siehst ist der Gral, und du wirst nicht mehr darüber erfahren als das, was du selber gesehen hast.‘ Was ist also der Gral? Die kefse? Oder die tobliere? Oder beides zusammen, und zusammen mit der blutenden Lanze?“; WYSS, 1993, S. 283. 440 „Es ist der grale, den du siehest“; KRONE, V. 29469; ‚Es ist der Gral, den du siehst‘. 441 KRONE, V. 29463; ‚Wunder Gottes‘. 442 „In Verbindung mit Anklängen an die Eucharistie kann die Dreizahl [bspw. der Blutstropfen aus dem Speer] als Hinweis auf die Trinität gedeutet werden. Die Deutlichkeit dieser Anspielung steigert sich dadurch, daß der ‚altherre‘ von dem ‚brosem‘ nur ‚Daz dritte Teil‘ (v. 29431) abbricht“; KELLER, 1997, S. 392. 443 BLEUMER, 1997, S. 232.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf „Es wird aber nicht klar, ob die ‚kefse‘, der ‚rôst‘, das ‚tobliere‘ oder Schwert und Speer mit dem Gral zu identifizieren sind. Diese Unschärfe legt nahe, den Gral in allen Elementen der Prozession zu sehen.“444

‚Gral‘ wird zum diffusen Sammelbegriff für das gesamte Zeremoniell aus Schwert, Speer und Schüssel, Behälter und Untergestell, Blut und Brot und deren mit (vermeintlich)445 christlicher Symbolik aufgeladener Präsentationsweise. Damit wird die Erwartung des Zuhörers willentlich enttäuscht: Die dritte Wunderkette hatte einen auf ein Monstrum gebundenen Greis präsentiert, der in seinen Händen ein Gefäß hält, aus dem ein Duft entsteigt, der Gawein erfrischt.446 Angesichts dieses Bildes durfte der Zuhörer aufgrund seiner intertextuellen Kenntnisse von bspw. Chrétiens relativ konkreter Gralsdarstellung auch einen konkreten, gegenständlichen und somit leicht darstellbaren Gral der Krone erwarten. Doch der Signifikant ‚gral‘ bleibt ohne eindeutig zugewiesenes Bild, was im Zuhörer umso stärker die Frage aufwirft, welche materielle Form der Gral hat.447 Doch jegliche Antwort bleibt aus. Das ei444 KELLER, 1997, S. 397. Eine ähnliche Einschätzung auch bei MENTZELREUTERS, 1989, S. 280f. 445 Entgegen Bleumers Betonung der eucharistischen Symbolik im Gralsritus der Krone ist die Gralssphäre in Heinrichs Roman (ganz im Gegensatz zu Wolframs Gral, der eine direkte Verbindung der Menschen zu Gott darstellt) nicht eindeutig als christlich gekennzeichnet. Deshalb möchte ich der Interpretation Bleumers ein Denkexperiment zur Seite stellen: Es war im 13. Jahrhundert eine der gängigen antisemitischen Verleumdungen, dass Juden beim Gottesdienst des Pessach-Fests Blut verwendeten würden; im Sinne der anti-jüdischen Hetze soll dies das Blut von christlichen Kindern gewesen sein; vgl. TREPP, 1992, S. 49. Die zeremonielle Verwendung von Blut könnte also ebenso einen Konnex zum (von einem Christen imaginierten) Judentum bedeuten. Dies würde auch zu der Erlösung der Gralsgesellschaft in den Tod am Ende der Krone passen: Die wie eine Zwangshandlung durchgeführten pseudo-jüdischen Riten werden vom christlichen Helden beendet und so dem dominierenden Glauben einverleibt. Stellt das Finale der Krone also die Überwindung eines jüdischen Grals dar? Die christliche Tradition des Gegenstandes (v. a. die durch Robert de Boron geprägte) mag dies als unwahrscheinlich erscheinen lassen; doch wäre dies schließlich nicht die einzige Tradition, gegen die Heinrich willentlich und mit Vehemenz verstoßen würde. 446 Vgl. KRONE, V. 28702-32. 447 Wyss spricht von einer „Blässe des Gralsgeschehens“ (WYSS, 1981, S. 288), was wohl dasselbe Phänomen meint, ihm jedoch seine Intentionalität abspricht.

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Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera

gentliche Zentrum des Geschehens gerät, um zur Beschreibungsmetapher der Kamera zurückzukommen, niemals wirklich in den Fokus. Diese Unschärfe steht im Kontrast zu den Bestätigungen, dass Gawein alles fehlerlos wahrnimmt. „Gaweinen bedrog niht sin synn“: 448 Es kann also kein Defekt der Kamera sein, der das Verschwimmen des Grals erzeugt.449 Eine Erklärung für diese von Heinrich konstruierte Unschärfe findet sich in den abschließenden Worten des Gralsherrn und deren intertextueller Verbindung zu den französischen Vorlagen des Romans. ‚Dis gottes wonder, Gawein,

‚Dieses Wunder Gottes, Gawein,

Mag niht werden gemein,

darf nicht bekannt werden.

Ez müsz wesen taugen. [...]

Es muss Geheimnis bleiben. [...]

Von dem grale wùrt dir nit me gesagt, Wann als du hast gesehen [...].‘

Von dem Gral wird dir nicht mehr erklärt, als das, was du gesehen hast [...].‘

Vnd seyte yme, daz er wesse war,

Und er versicherte ihm,

Das ymmer mere so offenbar

dass der Gral nie mehr so offenkundig

Der grale wùrd gesehen,

gesehen werden würde,

Sitt das were geschehen,

von nun an, da es geschehen war,

Das er es hette herfarn,

damit er es hätte erkunden können.

Vnd nyeman getörste erbarn

Aus Gottesfurcht dürfe sich niemand trauen,

Von dem grale von gottes vorchten;

den Gral kundzutun.

448 KRONE, V. 29396; ‚Gawein wurde von seinem Verstand [seinem Sinn] nicht im Stich gelassen‘. Die korrekte Übersetzung von sin ist an dieser Stelle ‚Verstand‘, doch es ist für die Aussage nötig, die sensuelle Komponente des Begriffs mitzuführen, da im Mhd. der ‚Verstand‘ (auch) etwas Sensuelles (und nicht wie im Nhd. etwas rein Intellektuelles) meint. 449 Eine ähnliche Konstellation weist die biblische Ezechiel-Vision auf, deren Bildlichkeit schon in der ersten Wunderkette anklingt; siehe Kapitel 3.4.3. Dort (Hes 1,1-28) sind lediglich die flankierenden Elemente der Vision klar zu erkennen, während der Thronwagen und die Gestalt Gottes nur in vagen Gleichnissen beschrieben werden. Zur Konstruktionsweise dieser Unschärfe schreibt WEIDNER, 2010, S. 14: „Es ist symptomatisch, dass der Ausdruck der markabah, des Thronwagens, der traditionell den Gegenstand dieser Vision beschreibt, in dieser selbst gar nicht vorkommt. Die Vision hat im grammatischen Sinne kein Subjekt, ihre Substanz besteht ganz aus dem Sehen des Gesehenen, sie ist gewissermaßen mittelbar, weil sie sich nicht aus dem Gesehenen oder dem Sehenden, sondern aus dem Sehen selbst zu entwickeln scheint.“

301

Stimme im Raum und Bühne im Kopf Dorch die er gar verworchte

Damit würde er das göttliche Geheimnis

Das götlich taugen.

ganz und gar verwirken.

Wann was man mit den augen

Denn was man mit den Augen

Dar an ersehen kunde,

davon erfassen konnte,

Das were von gottes gunde;

das wäre von Gottes Gunst.

Aber sin bezeichenung,

Aber seine Bedeutung

Die nye getorst kein zung

werde in Zukunft keine Zunge

Vor gotte fùrbasz gesagen.

vor Gott sich weiter zu sagen getrauen.

(KRONE, V. 29463-602)

Aus Gottesfurcht muss das wahre Wesen des Grals verschwiegen bleiben: Eine Maxime, die an die einleitenden Verse des französischen Pseudo-Prologs450 zu Chrétiens Conte du Graal und dessen Fortsetzungen, an die so genannte Elucidation erinnert. Diese zwischen 1190 und 1220 entstandene451 Passage kannte Heinrich aller Wahrscheinlichkeit nach als Beginn des französischen Grals-Großepos:452 450 Um einen Pseudo-Prolog handelt es sich, weil die Passage erst nach Chrétiens Conte du Graal entstand, diesem jedoch im Nachhinein vorangestellt und in Verbindung mit dem Haupttext rezipiert wurde, obwohl die Verbindungen zwischen dem Gralsroman und der kryptischen Elucidation sehr lose sind. 451 SANDKÜHLER, 1977, S. 226f. 452 Zach stellt „sinngemäße Zusammenhänge“ zwischen der Krone und der Elucidation fest, welche „zwar eine Fülle von Assoziationen und Vermutungen“ (ZACH, 1990, S. 380) auslösen, jedoch nicht auf eine eindeutige Verwandtschaft der Texte schließen lassen. Die Handschriften, in denen die Elucidation auftaucht, können bei dieser Unsicherheit auch nicht weiterhelfen: Heinrich kannte zwar mit Sicherheit die Première Continuation des Chrétien’schen Fragments, die in zwölf Handschriften überliefert ist; von diesen setzen jedoch nur drei den Text in Zusammenhang mit der Elucidation; vgl. ROACH, 1949, S. XVI-XXXIII. Interessant an dieser Überlieferungslage ist, dass die einzige Übertragung der französischen Fortsetzungen ins Mittelhochdeutsche, der so genannte Rappoltsteiner Parzival von Claus Wisse und Philipp Colin, angefertigt zwischen 1331 und 1336 (vgl. ebd., S. XXXIII), zu den Zusammenstellungen zählt, welche die Elucidation nahtlos an die anderen Gralsepen anschließt. Dies könnte von einer traditionellen Rezeption der französischen Texte zeugen, die evtl. auch schon zu Heinrichs Zeiten stattfand. Dennoch behält Zach angesichts der hermetischen Überfrachtung des Pseudo-Prologs recht, dass die meisten inhaltlichen Zusammenhänge zwischen Heinrichs Krone und der Elucidation nur assoziativ hergestellt werden können. Was Zach jedoch übersieht und ich im Folgenden zu zeigen gedenke, ist, dass Heinrich sich

302

Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera Pour le noble comencement

Zu edlem Beginn

Comence un romans hautement

hebt an das hohe Lied

Del plus plaisant conte qui soit:

der schönsten Geschichte, die es gibt:

C’est del graal dont nus ne doit

die Erzählung vom Gral, deren Geheimnis

Le secret dire ne chonter;

niemand sagen noch singen darf;

Car tel chose portoit monter

denn solche Dinge könnte die Geschichte

Li contes, ains qu’il fust tos dis,

zeigen, bevor sie noch ganz zu Ende wäre,

Que teus hom en seroit maris

daß mancher darüber zuschanden käme,

Qui ne l’aroit mie fourfait.

ob er gleich nichts verschuldet hätte.

Por ce fait ke sages ki lait Et s’en passe outre simplement;

Deshalb handelt jeder weise, der das Geheimnis läßt, und still und einfach daran vorüber geht;

Car, se maistre BLIHIS ne ment,

denn, wenn Meister Blihis nicht lügt,

Nus ne doit dire le secré.

darf keiner das Geheimnis verraten.453

(ELUCIDATION, V. 1-13)

Die Passage spricht eine (profane) Variante des Idolatrie-Verbots aus: Der Gral muss geheim und d. h. in der imaginatio des Rezipienten unbildlich bleiben (afrz. ‚monter‘ als ‚zeigen‘), da er sonst eine (nicht näher bestimmte) Gefahr, evtl. eine den Folgen der Götzenverehrung vergleichbare, darstellen würde. Das Aufstellen dieser Regel lässt den Titel des Prologs als Ironie erscheinen, handelt es sich doch statt um eine ‚Erhellung‘ (élucidation als ‚Erhellung‘, ‚Aufklärung‘, ‚Klärung‘)‚ um einen Aufruf zum ‚Verdunkeln‘ der Erzählung; eine ‚anti-aufklärerische‘ Programmatik, die die kryptische Bildlichkeit des Prologs auch mit aller Konsequenz einzulösen versteht. Zugeschrieben wird der Aufruf zur Verdunkelung des Grals einem Meister Blihis. Diese und verwandte Namensnennungen waren in der Mediävistik der 1920er und 1930er Jahre Fokus eines internationalen Forschungsdiskurses.454 Nur die finale Phase der Debatte sei hier umrissen: Aufgrund einer bis dato wenig beachteten Passage einer einzelnen Handschrift der Première Continuation, in der Bleheris (=Blihis) als Erzähler am Hof des Grafen Poitiers bezeichnet wird, sowie über anin seiner Konzeption des Grals programmatisch nach der Elucidation ausgerichtet haben könnte. 453 Übersetzung: SANDKÜHLER II, S. 13. 454 Eine umfangreiche Darstellung der ‚Bleherishypothese‘ findet sich in VAN DAM, 1930, S. 29-34.

303

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

dere regionale Anspielungen im Text setzte sich die Verortung eines Bleheris/Blihis an den Hof zu Poitiers als gängigste Meinung gegen frühere Vermutungen eines walisischen ‚Meisters Blihis‘ durch.455 In Folge dieser Verortung wurde Bleheris/Blihis in Zusammenhang gebracht mit dem von Thomas d’Angleterre in seinen anglonormannischen Tristanfragmenten (vor 1157 oder zwischen 1172 und 1176)456 genannten Gewährsmann Breri, von dem es heißt: Entre ceus qui solent cunter

Diejenigen, die zu erzählen und von der

E del cunte Tristran parler,

Geschichte Tristans zu sprechen pflegen,

Il en cuntent diversement:

erzählen dies auf verschiedene Weise;

Oȧ en ai de plusur gent.

gehört habe ich es von mehreren Leuten.

Asez sai que chescun en dit

Zur Genüge kenne ich, was sie alle davon sagen,

E ço qu’il unt mis en escrit,

und das, was sie schriftlich abgefasst haben.

Mès sulun ço que j’ai oȧ,

Aber nach dem, was ich gehört habe,

Nel dient pas sulun Breri

erzählen sie es nicht Breri entsprechend,

Ky solt les gestes e les cuntes

der die Taten und die Erzählungen

De tuz les reis, de tuz les cuntes

von allen Königen, von allen Grafen wußte,

Ki orent esté en Bretaingne.

die in der Bretagne lebten.457

(THOMAS, V. 2113-23)

Thomas bezeichnet Breri als Erzähler des Tristanstoffs und bringt dabei durch eine Kontrastierung von dit (Oralität) und mis en escrit (Skripturalität) den medialen Umbruch seiner Zeit zur Sprache. Dadurch, dass er Breris Variante des Tristanstoffs als den gehörten wie den verschriftlichten Formen überlegen darstellt, scheint er auf eine Autorität zu verweisen, die noch grundlegender als die am medialen Umbruch entstandenen Erzählungen ist. Es liegt somit nahe zu vermuten, dass die von Thomas als verbindlich betrachtete Erzählung eine ältere und mündlich vermittelte ist, die als den Schrifterzeugnissen überlegen dargestellt wird. Die dritte Fundstelle zu diesem anscheinend äußerst bedeutenden Erzähler des 12. Jahrhunderts ist in einem Werk des in Wales gebore455 Am populärsten war die allzu konkrete Verortung, die Jessie L. Weston in ihren Werken The Quest of the Holy Grail (1913) und From Ritual to Romance (1920) vornimmt; vgl. WESTON, 1957, S. 189-209. 456 Vgl. ROSSI, 2002, S. 416. 457 Übersetzung: GESA BONATH.

304

Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera

nen, aber auch auf dem europäischen Kontinent weit gereisten Chronisten Giraldus Cambrensis zu finden.458 In einer Abhandlung über walisische Geschichte und Ethnographie, der Descriptio Kambriæ (verfasst nach 1188) zitiert Giraldus (wahrsch. aus der Erinnerung an Reiseerfahrungen im Rahmen seines Studiums) ein Rätsel, das „famosus ille fabulator Bledhericus, qui tempora nostra paulo prævit“459 erzählt habe. Schon in der Forschung der 1920er Jahre stand die Identität dieses Bledhericus mit dem Erzähler am Hofe des Grafen Poitiers mehr oder minder fest.460 Aufgrund dieser Nennung darf eine Wirkungszeit des Blederi/Breri/Bleheris/Blihis in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts angenommen werden. Eine Begegnung mit seinen Erzählungen könnte während eines von Giraldus’ Aufenthalten auf dem europäischen Kontinent (1165-1174 und 1177-1179) stattgefunden haben. Ein wenig früher, also in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts, lässt sich die Schaffenszeit des Artuserzählers datieren, wenn man eine Fundstelle in Geoffreys of Monmouth Historia Regum Britanniae (ca. 1137) hinzuzieht, in welcher der chronikale ‚Vorreiter‘ der Artusromane einen König namens Bledgabred anführt. Nikolai Tolstov stellt diese Nennung in Zusammenhang mit der ominösen Gestalt Bleheris:461 „Geoffrey of Monmouth was clearly familiar with his contemporary’s reputation. One Bledgabred features among a list of prehistoric kings of Britain in his Historia, to whom the author added the parenthesis Hic 458 Die Möglichkeit, Giraldus biographische Daten und v. a. seine Reisen so genau wiederzugeben, liegt an dem glücklichen Umstand, dass unter dem Titel De rebus a se gestis eine Autobiographie des Schriftstellers erhalten geblieben ist; vgl. RICHTER, 2002, S. 195. Dort ist auch die Irlandreise im Jahr 1188 erfasst nach der Giraldus die Descriptio Kambriæ verfasste. 459 GIRALDUS CAMBRENSIS, 1964, S. 202; Kap. XVII (‚jener bekannte Erzähler Bledheri, der ein wenig vor unserer Zeit verstorben ist‘). 460 Weston nutzt die Fundstelle v. a. dazu, Bleheris zum Waliser, sogar zum angeblich urkundlich belegten Nachbarn des Giraldus zu erklären. Bei einem auch auf dem Kontinent weit gereisten Mann wie Giraldus, der Bledheri (oder seinen Erzählungen) an vielen Orten hätte begegnen können, erscheint diese Schlussfolgerung jedoch nicht haltbar; vgl. WESTON, 1957, S. 189-209 sowie VAN DAM, 1930, S. 30. 461 Um die umständliche Aneinanderreihung der verschiedenen Schreibarten zu vermeiden, fungiert die Schreibweise der Première Continuation von hier ab als Sammelbezeichnung; wenn auf spezifische Texte Bezug genommen wird, bleibt die dort verwendete Schreibweise.

305

Stimme im Raum und Bühne im Kopf omnes cantores quos retro etas habuerat et in modulis et in omnibus musicis instrumentis superbat ita ut deus ioculatorum diceretur. Faral noted the unique characterization of this figure among the otherwise featureless list of dynasts, and it is difficult not to believe that Geoffrey had an identifiable person in mind.“462

Die Varianzen in der Namensschreibung lassen die Identitätszuweisung methodisch problematisch erscheinen; die Ähnlichkeiten in den Tätigkeitsbeschreibungen scheinen mir dieses Problem jedoch aufzuwiegen. Geht man aus diesem Grund von einer Identität aus, so ist es wohl am besten, aufgrund der beiden chronikalen Fundstellen Bleheris’ Schaffenszeit von den 30ern bis in die 70er Jahre des 12. Jahrhunderts anzusetzen. Seine Würdigung würde dann jedoch noch viel länger anhalten, erst recht, wenn man den Ritter Bliobéris des Cycle post-vulgate du Graal (ca. 1230-40) mit in die Reihe der figuralen Denkmäler zählt.463 Die Forschung des frühen 20. Jahrhunderts nahm es angesichts der weitgestreuten Präsenz dieser Gestalt in den Werken anderer Dichter wunder, dass von diesem offenbar sehr bekannten Erzähler weder eine schriftlich überlieferte Gralserzählung noch der eifrig gesuchte Tristanroman zu finden waren – zumal man ihm mit neo-romantisch verklärtem Blick gerne als Dichter französischer Romane eine ebenso wichtige Stellung wie Chrétien de Troyes eingeräumt hätte.464 Inspiziert man die 462 TOLSTOV, 2008, S. 19. 463 Vgl. KULLMANN, 2013, S. 244. 464 Die Extreme solch einer der Skripturalität wie der ‚Dichterverkultung‘ verpflichteten Denkweise stellen die Publikationen Bruggers und Schürrs dar, denen van Dam in seiner Zusammenstellung der Forschungsmeinungen mit mehreren recht rhetorischen Fragen begegnet. Diese zielen (wenn auch unter den Vorzeichen einer Geringschätzung der oralen Erzählwerke und eines gewissen Nationalismus) in eine ähnliche wie die oben dargelegte Denkrichtung: „[Die Frage ist,] was dieser Bleheris am Hofe von Poitiers eigentlich tat. Ist es notwendig, ihn als den wirklichen Dichter eines Gauwain und eines Urtristan in französischer Sprache zu betrachten? [...] Nichts wissen wir von Bleheris, als daß er ein Fabulator war, von dem nur ein anspruchsloses Rätsel bekannt war, und daß ein Tristandichter und ein Percevaldichter auf ihn hinweisen. Ist es dann gar nicht möglich, ihn als bescheidenen Erzähler [...] zu betrachten, ihn in seinem Milieu zu lassen und die Ausbildung der so charakteristischen Form des höfischen Versromans einem wirklich französischen Dichter zu überlassen?“; VAN DAM, 1930, S. 33.

306

Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera

Namensnennungen jedoch hinsichtlich ihrer medialen Implikationen, so kann das Fehlen schriftlicher Dokumente keinesfalls verwundern: Giraldus schreibt von einem fabulator, nicht von einem poeta; Geoffrey beschreibt seine Fähigkeit als cantor (Sänger), Instrumentalist und stilisiert ihn als deus ioculatorum (‚König der Spaßmacher‘), sozusagen als King of Entertainment; Thomas’ Äußerung legt schließlich nahe, dass die Bleheris-Variante des Tristanstoffs den neuen schriftlichen Ausformungen zugrunde zu liegen habe. Hinter Bleheris verbirgt sich also allem Anschein nach ein Erzähler im Sinne des ‚echten‘ körperlichen Erzählvorgangs. Dementsprechend ist sein Schaffen entweder in der medialen Sphäre einer rein oralen Erzählkultur zu verorten – oder es handelt sich um einen ‚Star-Rezitator‘, der mit nicht von ihm verfassten Texten arbeitete. In beiden Fällen ist Bleheris als ein Künstler im Bereich des Transitorischen und nicht im Monumentalen der Schrift zu sehen. Dies bedeutet, dass es sich bei der in der Elucidation überlieferten Richtlinie, den Gral unter allen Umständen geheim zu halten, um eine Maxime handelt, die auf dem performativen Umgang mit der Gralssage fußt und der Erfahrung Ausdruck verleiht, dass im Vortrag (oral tradierter Erzählungen oder in der Aufführung eines Gral-Textes) ein gehütetes Geheimnis größere Wirkung hat als ein enthülltes. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Regel nicht auch auf einen skriptural rezipierten Roman zuträfe – doch von Bleheris wurde sie hinsichtlich des Vortrags aufgestellt und musste von den ‚Schrift-stellenden‘ Dichtern medial ‚übersetzt‘ werden. Die Bleherisregel stünde damit in einer (europäischen) Tradition, die schon zur Mitte des 12. Jahrhunderts (wahrscheinlich am englischen Hof des Henry II)465 im Prolog zu den Lais der Marie de France, wenn auch in Form einer programmatischen Ablehnung auftaucht: Ki Deus ad duné escïence

Wem Gott Wissen gegeben hat

E de parler bone eloquence

und eine vorzügliche Gewandtheit im Reden,

Ne s’en deit taisir ne celer,

darf das eine nicht verschweigen

Ainz se deit voluntiers mustrer. und das andere nicht verbergen. [...]

465 Sowohl die Datierung wie die Verortung und Zusammengehörigkeit von Maries Texten ist stark umstritten. Für einen Überblick über den Forschungsstand vgl. VAN IERSEL, 2013, S. 312f.

307

Stimme im Raum und Bühne im Kopf [...] Costume fu as ancïens,

Bei den Alten war es Brauch

Ceo testimoine Precïens,

– das bezeugt Priscian –, dass sie sich

Es livres ke jadis feseient,

in den Büchern, die sie einst verfassten,

Assez oscurement diseient

recht dunkel ausdrückten,

Pur ceus ki a venir esteient

damit diejenigen, die nach ihnen kommen,

E ki aprendre les deveient,

und sie [die Bücher] studieren sollten,

K’i peüssent gloser la lettre

deren Text auszudeuten und vermöge ihres

E de lur sen le surplus mettre.

Verstandes das Surplus hinzufügen können.466

(LAIS, V. 1-16)

Unter Berufung auf den spätantiken lateinischen Grammatiker Priscian erweckt Marie das Bild der langen Tradition eines Erzählens, das die Klarheit meidet, um den Rezipienten Freiräume für das ko-kreative Erschaffen von Bedeutung zu bieten.467 Marie, bemüht um eine rhetorisch begründete468 Klarheit und Knappheit der Sprache, wendet sich ungefähr zu der Zeit gegen diese Tradition, in der Bleheris eine auf den Gral bezogene konzeptuelle Unklarheit des Erzählens proklamiert. Man gewinnt den Eindruck, dass in der französischsprachigen Literatur eine – der ‚Wolfram vs. Gottfried‘-469 oder der ‚trobar leu vs. trobar clus‘Debatte470 vergleichbare – Kontroverse um die Klarheit bzw. verklä466 Übersetzungsgrundlage: DIETMAR RIEGER. 467 Für weitere Belege einer mittelalterlichen „sorte de délice esthétiques résultant du mystère et de l’obscurité“ vgl. GUIETTE, 1960, hier: S. 46f. und speziell hinsichtlich des Fragmentstatus des Titurel vgl. CLASSEN, 1990, S. 53f. 468 Dietmar Rieger schreibt von Maries „wohl an sich selbst gestellte Forderung, so zu sprechen (parler!), daß die Erzählung beim Publikum gut ankommt [...], d. h. die passende Ausdrucksweise zu wählen [...], womit selbstverständlich die elocutio der mittelalterlichen Rhetorik/Poetik anvisiert ist, genauer vielleicht die wirkungsbezogene virtus des aptum, die von dem Bemühen gelenkt wird, die utilitas causae mit der Disposition des Rezipienten und mit der Textsituation in Einklang zu bringen“; vgl. RIEGER, 1980, S. 13. 469 Dazu u. a. HUBER, 2001, S. 62ff.; siehe Kapitel 3.4.3. 470 Caroline D. Eckhardt schildert die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in der okzitanischen Literatur stattfindende Diskussion zwischen Vertretern eines leicht lesbaren Stils (trobar leu), der sich gegen den Hermetismus der trobar clus-Dichter abzugrenzen gedachte. Interessant ist in diesem Kontext eine Äußerung Giraults de Bornelh, die sehr an die Verse Maries de France erinnert: „Be.l saupra plus cobert far; / Mas non a chans pretz enter, / Can tuch no.n son parsoner“; in Eckhardts Übersetzung:

308

Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera

rende Wirkung von Sprache stattfand, in der die Elucidation und der Prolog der Lais die opponierenden Positionen widerspiegeln. Die Befürworter des narrativen Tabus und des dunklen Stils beziehen sich auf den performativ orientierten Bleheris, die ‚Aufklärer‘ auf die Regeln der antiken Rhetorik. Hinsichtlich der ‚Dunkelheit‘ um den Gral hat Bleheris in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters eine berühmte Entsprechung: Kyot, von dem Wolfram behauptet, sein sang und sprache nach heidnscher Schrift471 seien die Vorlage für die Gralspassagen wie für den Abschluss des Parzival gewesen,472 wurde aufgrund des Fehlens schriftlicher Quellen in der neueren Forschung mehr oder minder einstimmig als Quellenfiktion angesehen. Kyot wird von Wolfram als laschantiure bezeichnet, was als ‚Zauberer‘ oder ‚Sänger‘ gelesen werden kann.473 Klaus Ridder stellt hinsichtlich dieser ominösen Vermittlungsinstanz des Gralsmythos fest: „Im Text findet sich weder ein Hinweis darauf, daß Kyot seine Gralsgeschichte schriftlich niederlegt, noch daß dem Autor/Erzähler des Parzival eine schriftliche Quelle vorgelegen habe. Vielmehr wird eine persönliche Begegnung der beiden suggeriert, der Übergang von der authentischen Vorlage zum vorliegenden Werk also schemenhaft als ein mündlicher angedeutet.“474

Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei dem Beinamen laschantiure um einen (wie häufig bei Wolfram: gekauderwelschten) französischen Terminus für ‚Sänger‘ handelt und der Text von einem persönlichen Kontakt redet – warum sollte dieser Erzähler dann ‚suggeriert‘ und

471 472

473 474

„I know well how to make it [the song] more ‚covered‘ / but a song does not have full value [...] / when all do not share in it“; ECKHARDT, 2009, S. 41. Vgl. PARZIVAL, V. 416,23 und V. 416,27. Im Parzival gibt es drei Exkurse zu Kyot (vgl. PARZIVAL, V. 416,20-30, V. 453,5-455,22, V. 827,1-18) und drei kurze Verweise (vgl. P ARZIVAL, V. 431,2, V. 766,10, 805,10). Vgl. PARZIVAL, V. 416,21; dazu: NELLMANN, 1988, S. 54-67. RIDDER, 1998, S. 185f.; vgl. auch LOFMARK, 1977, der in Kyot zwar keinen realen Menschen dieses Namens in Wolframs Umkreis sieht, ihn jedoch für eine „Karikatur“ auf einen gelehrten Beistand Wolframs hält; vgl. ebd. 67.

309

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Kyot ein „poetologisches Selbstbild“475 Wolframs oder eine „Personifikation [seines] Erzählprinzips“476 sein? Angesichts einer medialen Sphäre, in der ein Rezitator mittelalterlicher Romane zum kreativen Bestandteil der Textgenese zählt, sind solche (modernen) narratologischen Abstraktionen eher irreleitend. Passender wäre es, mit Lofmark von einem „überaus gelehrten und wissenschaftlich gediegenen Sänger“477 auszugehen und in Kyot (wie in Bleheris) entweder einen mündlichen Erzähler (Oralität) oder aber eben einen Rezitator (Performativität) zu sehen. Der Vorteil wäre dann auch, dass die Passage nicht mehr, wie Ridder schreibt, „in Widerspruch zu der Aussage in der ‚Selbstverteidigung‘: disiu âventiure / vert âne der buoche stiure“478 stünde. Eventuell könnte man ‚Kyot‘ sogar als Pseudonym für die gleiche Person betrachten, denn schließlich setzt Wolfram Kyot hinsichtlich der Grals-Narrativik für eben das ein, was die französische Bleherisregel besagt: mich batez helen Kyôt,

Kyot bat mich, es zu verschweigen.

wand im diu âventiure gebôt

Denn ihm befahl die Aventüre,

daz es immer man gedæhte,

dass man nichts davon andeuten solle,

ê ez d’âventiure bræhte

bevor nicht die Aventüre mit Worten

mit worten an der mære gruoz

die Geschichte so weit brächte,

daz man dervon doch sprechen muoz.

dass man doch davon sprechen muss.

(PARZIVAL, V. 453, 5-10)

Die Funktionsregel des narrativen Tabus: ‚Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen – drumherum lässt sich freilich umso mehr erzählen.‘ Bei Wolfram gilt dies v. a der narrativen Programmatik entsprechend, dass erst an einem späteren Punkt Teile des Geheimnisses zu lüften seien, eine Programmatik, die die obigen Verse in einen direkten Bezug zum Bogengleichnis setzt.479 In der KyotPassage wird der Zeitpunkt des Lüftens davon abhängig gemacht, wann 475 476 477 478 479

310

RIDDER, 1998, S. 188. DRAESNER, 1993, S. 405. LOFMARK, 1977, S. 42. RIDDER, 1998, S. 181f. Zur Behandlung des Bogengleichnisses als Verbildlichung einer performativen Programmatik siehe Kapitel 4.1.1.2.

Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera

mit worten der richtige Zeitpunkt erreicht sei, von der mære (als Femininum ‚mündliche Äußerung‘480 und so in Abgrenzung zur schriftlichen âventiure) des Grals zu sprechen: Die Argumentation gründet wie bei der Bleherisregel und ebenfalls beim Bogengleichnis auf dem Spannungs-‚Bogen‘ einer performativen Umsetzung des Texts. Dass Bleheris in Kyot einen Doppelgänger zugesprochen bekommt, der dabei hilft, als imaginierte Vermittlungsinstanz die Grenze zwischen Fiktion und Aufführungsrealität niedrig zu halten, 481 hat Ähnlichkeiten mit einem transgressiven Phänomen der Elucidation. Dort wird durch eine Dopplung des Blihis/Bleheris die Grenze zwischen Fiktion und Aufführungsrealität permeabel. Neben dem realen performer Blihis wird von einem fiktiven Geschichtenerzähler mit dem Namen Blihos Blihéris berichtet.482 So wie Blihos im 12. Jahrhundert vom Gral erzählte, heißt es vom Ritter Blihos Blihéris: Li premiers chavaliers conquis

Der erste besiegte Ritter trug

Ot nom Blihos Bliheris,

den Namen Blihos Blihéris.

Sel conquist mesire Gauwains

Den besiegte Herr Gauwain

Par grant proëce dont ert plains.

durch die große Tapferkeit, die ihn beseelte.

Au roi Artu l’envoia rendre;

Er sandte ihn gefangen zu König Artus.

Cil monta, ains n’i vot atendre,

Der säumte nicht und ritt dahin,

Tresqu’a la cort si fu rendus,

bis er zu Hofe kam;

Mais onques n’i fu coneüs

jedoch kannte ihn weder

Del roi, ne nus nel conissoit;

der König noch ein anderer.

Mais si tres bons contes savoit

Doch wusste er so schöne Geschichten,

Que nus ne se peüst lasser

daß keiner müde werden konnte,

De ses paroles escouter.

seinen Worten zu lauschen.

Cil de la cort li demandoient

Die Leute bei Hofe fragten ihn

Des pucieles ki cevauçoient

nach den Jungfrauen, die durch

480 Vgl. LEXER, 1992, S. 134. 481 Ein ähnlicher Effekt wird hinsichtlich des Knappen, der Wirnt die Geschichte von Wigalois berichtet haben soll, in Kapitel 4.2.3 als ‚zweistufige Medialität‘ erläutert. 482 Auch wenn darauf hingewiesen wurde, dass „Meister Blihis [...] nicht verwechselt werden [darf] mit dem Ritter Blihos Blihéris“ (SANDKÜHLER, 1977, S. 210), ist es aufgrund der augenscheinlichen Ähnlichkeit der Namen doch im Sinne des Texts, in dem Geschichtenerzähler und dem Ritter zwei Gestalten zu sehen, die zwar durch die Grenze Realität/Fiktion voneinander getrennt, in ihrer Funktion am jeweiligen Hof jedoch identisch sind.

311

Stimme im Raum und Bühne im Kopf Par le foriest; c’ains mais n’avoit

die Wälder ritten, denn vordem war das nie

Esté, si avoient grant droit

geschehen, und sie hatten gar sehr recht

De l’enquerre et del demander.

zu fragen und sich zu erkundigen.

Et cil lor savoit tant conter,

Dieser wusste ihnen so viel zu erzählen,

Et moult volentiers l’escoutoient,

dass sie ihm gar gerne lauschten(,)

Et par maintes nuis en velloient

und manche Nächte hindurch wachten

Les pucieles, li chevalier

die Jungfrauen und Ritter,

Por lui oïr et encierkier.

um ihn zu hören und zu befragen.483

(ELUCIDATION, V. 161-182)

Die Spiegelung des performers in der fiktionalen Welt ist nicht unüblich: Bei einer Aufzählung der Helden am Artushof schreibt Chrétien in Erec et Enide von einem Blioberis, der neben einem „Tristanz qui onque ne rist“484 seinen Platz an der Tafelrunde einnimmt. Hier darf der im 12. Jahrhundert für einen bestimmten Zweig des Tristanstoffs stehende performer neben dem Protagonisten seiner Erzählungen Platz nehmen. Interessanterweise nennt Hartmann an der entsprechenden Stelle seines Erec einen Bliobleherin – er lässt ihn jedoch in einem Vers neben dem Begründer der Gralssippe Titurel stehen, sodass eine ähnliche Anspielung, dieses Mal jedoch auf eine Gralserzählung, intendiert sein könnte.485 Diese Substitution ist ein starkes Indiz für die Identität des Tristanerzählers Breri und des Gralserzählers Bleheris-Blihis.486 Wiederum in Berufung auf die Bleheris’sche Ausformung des Tristanstoffs sind die Auftritte des Ritters Pleherin in Eilharts von Oberge Tristrant und Isalde zu verstehen.487 Letztendlich kommt auch Bleheris ‚Seelenverwandter‘ Kyot sowohl als Erzähler wie als Figur im Parzival vor. Zwar ist der Zusammenhang zwischen laschantiure Kyot und Parzivals Onkel, Herzog Kyot von Katalanien, keine spiegelbildliche, doch Wolfram scheint darauf bedacht, das Spiel mit diesen transgressiven Doppelgängern als programmatisch auszustellen, indem er

483 Übersetzungsgrundlage: SANDKÜHLER II, S. 15. 484 Vgl. EREC ET ENIDE, V. 1687f. (‚Tristan, der niemals lachte‘); vgl. VAN DAM, 1930. 485 Vgl. EREC, V. 1651. 486 Dieses Missing Link zwischen dem Tristan- und dem Gralserzähler Breri/ Bleheris wurde in der Forschung der 1920er und 30er übersehen. 487 Vgl. TRISTRANT, V. 6831, 6836, 6855, 6877 und 6892.

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Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera

Erzähler und Figur in zwei Versen aufeinandertreffen lässt.488 Die Ähnlichkeit dieser Erzähler/Figur-Verbindung bei Bleheris und Kyot scheint mir ein überzeugendes Indiz für die Verwandtschaft der beiden ‚Gralsverheimlicher‘. Das Auftauchen des realen Erzählers Bleheris als Figur hatte schon früh zu Spekulationen hinsichtlich bestimmter narrativ-performativer Techniken geführt. Weston berichtet von Anregungen eines Kollegen: „Professor Singer makes the interesting suggestion that these references are originally due to Bleheris himself, who not only told the stories in the third person [...] but also introduced himself as eye-witness of, and actor, in a subordinate rôle, in the incidents he recorded. Thus in the Tristan he is a knight of Mark’s, in the Elucidation and the Gawein stories a knight of Arthur’s court.”489

Singers Hypothese ist, wenn auch nicht beweisbar, so doch ein schönes Exempel dafür, wie man sich die Macht eines performers vor Augen führen kann, die Macht, in einer Aufführung auf dem Wege inszenierter Autopsie die Auflösung der Grenze zwischen Fiktion und Realität zu bewirken. In Bleheris Fall führt seine Macht dazu, dass spätere Dichter die Grenze ebenso öffnen, um den realen performer in der Fiktion weiterleben zu lassen. Zu metaperformativen Vermutungen wie diesen verleitet v. a. der zitierte Auftritt des Ritters Blihos Blihéris der Elucidation. Er wird dort als großer Erzähler im Sinne des Wortkünstlers und performers vorgestellt. Blihos Blihéris erzählt dem Artushof von den Ereignissen im Gralsland Logrien und sogar vom Aufbruch des Artushofs selbst, der zukünftig auszöge, um den Gral zu finden. Und was der Ritter erzählt, wird Wirklichkeit: Angeregt von seinen Worten beginnt die arthurische Gralssuche. Blihos Blihéris’ Erzählung erweist sich als self-fulfilling prophecy: Er ist (auf der Ebene der Fiktion) ein allwissender Erzähler – 488 „Condwîr âmûrs begunde klagn / ir vetern tohter, hôrt ich sagn, / [...] op der Provenzâl die wârheit las. / der herzoge Kyot / wesse wênc umb sîner tohter tôt“ (PARZIVAL, V. 805,3-12; ‚Condwîr âmûrs klagte sehr / um die Tochter ihres Vaterbruders, wie ich hörte / [...] und der Provenzale [der Erzähler Kyot] die Wahrheit vorgetragen hat. / Der Herzog Kyot [die Figur] wusste nichts von dem Tod seiner Tochter‘. 489 WESTON, 1957 [orig.: 1920], Kap. XIV.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

performer und Prophet zugleich. Er weiß die unbekannte Sphäre des Grals mit Worten zu beschreiben, die Handlungen des Artushofs vorherzusagen und damit auszulösen. Die erzählerische Allmacht des (fiktiven) Blihos steht im diametralen Gegensatz zur Maxime des (realen) Blihis, dass der Gral ein Geheimnis bleiben müsse. In Kombination dieser beiden Positionen ergibt sich die Leitlinie: In der Fiktion ist vom Gral zu erzählen – in der Realität umso mehr von ihm zu schweigen. Die ontologische Grenze ‚Fiktion/Aufführung‘ wird so mittels einer transgressiven Spiegelung des realen performers an den Artushof epistemologisch verhärtet. Die Première Continuation nimmt später Bezug auf die Bleherisregel. Als Gauwain (unwissentlich) zu seinem zweiten Gralsbesuch aufbricht, kündigt sich das Heilige durch eine abenteuerliche Ouvertüre an, das bereits erwähnte490 Kapellenabenteuer: Icele nuis fu moult oscure,

Diese Nacht war überaus dunkel,

Et mesire Gauwains erra

und Herr Gauwain ritt dahin,

Si com li chevaus le mena,

so wie das Pferd ihn führte,

Tant qu’il trova une capele

bis er an einer breiten Kreuzstraße

En ·I· grant quarefour, moult bele; En la capièle vit clarté;

eine schöne Kapelle fand. Er erblickte eine Helligkeit in der Kapelle

Si entre dedens por l’osté,

und trat des Gewitters wegen ein,

Car forment ventoit et plovoit,

denn es windete und regnete heftig,

D’eures à autres espartoit.

und ab und zu züngelten Blitze.

Par ·I· trau, desous ·I· autel,

Durch die Öffnung unter dem Altar

Vit une noire main entrer

sah er, wie eine schwarze Hand hereinkam,

Qui toute la clarté estaint,

die das ganze Licht auslöschte,

Puis ot une vois ki se plaint,

dann ertönte eine Stimme, die sich beklagte,

Et li chevaus mout esfréa;

und das Pferd erschreckte heftig.

De la capièle s’en ala

Da ritt der Neffe des König Artus auf

Li niés Artu o son diestrier.

seinem Schlachtross wieder aus der Kapelle.491

(CONTIN., P, V. 19916-31)

490 Siehe Kapitel 3.4. 491 Übersetzungsgrundlage: SANDKÜHLER II, S. 161.

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Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera

Diese kurze Erzählung wirkt äußerst befremdlich, v. a. aufgrund ihrer narrativen Lücken: In Vers 19924 betritt Gauwain die Kapelle und im darauf folgenden kauert er schon unter dem Altar, ohne dass der Rezipient erfährt, wie und warum er an diesen Ort kommt. Ebenso unklar ist, wo sich Gauwains Pferd befindet. Schließlich handelt es sich um eine kleine Waldkapelle, sodass es wunderlich erscheint, dass sich das Tier, wie man an Vers 19931 erkennt, mit ihm in dem kleinen Raum befindet. Diese abrupte Erzählweise ähnelt der filmischen Schnitttechnik des (diskontinuierlichen)492 jump cut: Man springt von Bild zu Bild, ohne die Zwischenräume erzählerisch zu füllen; die Kohärenz der Handlung muss der Rezipient selbst herstellen. Diese Verse liefern allerdings für die Möglichkeit des Lückenfüllens in der imaginatio des Rezipienten zu wenige Informationen und tragen so dazu bei, dass eine kohärente Verbildlichung gar nicht erstrebenswert erscheint.493 Eine solche inhaltliche Vagheit ist, wenn es auf den Gral zu sprechen kommt, in der Première Continuation genauso wie in der ‚unscharfen‘ Gralsdarstellung der Krone Programm. Noch weitere Übereinstimmungen dieser Szene mit Heinrichs Roman fallen ins Auge: Sie gleicht dem Kapellenabenteuer aus Gaweins Gralsbesuch im Anschluss an die erste Wunderkette.494 Auch dort erlebt der Held nächtens eine wundersame Situation in einer von Kerzen er-

492 Der jump cut ist schon seit dem frühen 20. Jahrhundert Teil des „Continuity-Sytems“ (vgl. BELLER, 1993, S. 18) Hollywoods und durch die Gewöhnung der Rezipienten beinahe schon zu einer Form des ‚unsichbaren Schnitts‘ geworden. In seiner ursprünglichen Form meint der Begriff jedoch – wie beim obigen literarischen Beispiel – eine verfremdende Technik; vgl. KHOULOKI, 2009, S. 22 und S. 37f. 493 Die Eigenheiten des Erzählstils könnten mit der Herkunft der Episode aus dem Fionn-Mythenkreis zusammenhängen (vgl. DÄUMER, 2011 [Keie], S. 100, Anm. 115), zeugen die keltischen Erzählungen doch ebenfalls von einem großen Willen zu sprung- und lückenhaften, die Imagination des Zuhörers fordernden Darstellungen. 494 Weitere Parallelen der ‚Gralsouvertüre‘ der Première Continuation zur Krone sind die Beschreibung des Gewitters, die an die Naturgewalten der zweiten Wunderkette erinnert, und die Position des Kapellenabenteuers: Im französischen Text kündigt Gauwains Betreten einer Kapelle den zweiten Gralsbesuch an; in der Krone ist es der schon beschriebene Kapellenbesuch Kays, der dem finalen Gralsbesuch vorgeschaltet wird.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

leuchteten „schön cappell“495 innerhalb der Gralsburg.496 Die inhaltlichen Parallelen sind offensichtlich: plötzliche Dunkelheit, das Wirken unsichtbarer Kräfte, das markerschütternde Klagen und die Gralsinsignien Lanze und Schwert. Die Krone malt das Geschehen jedoch weitaus deutlicher und v. a. (im Sinne der kinästhetischen Wahrnehmung) körperlicher aus. Der Grund für diesen Unterschied ist nicht in einer etwaigen Ermangelung narrativer Fähigkeiten des Fortsetzers zu suchen, die Heinrich an dieser Stelle ausgleicht. Der französische Dichter erläutert direkt im Anschluss an die zitierten Verse, warum er die Szene so kryptisch gestaltet: Si comença à chevaucier, Mais la mervelle qu’il trova Dont maintes fois s’espoenta Ne doit nus hom conter ne dire; Cil ki le dist en a grant ire; Car c’est li singnes del Graal; S’en puet avoir et paine et mal Cil qui s’entremet del conter Fors ensi com il doit aler. Sein Ritt ging wiederum weiter, das Wunder aber, das er erlebt und worüber er viele Male noch in staunenden Schrecken geriet, darf kein Mensch erzählen noch berichten. Wer es dennoch erzählt, wird großen Verlust davon haben; denn es ist das Zeichen des Grals, und wer sich unterfängt, es zu berichten,

495 KRONE, V. 14651 (‚schöne Kapelle‘). Heinrich nimmt die gleiche Attribuierung wie der französische Text vor („chapele, / moult bele“; CONTIN., P, V. 19919f.). Dies muss angesichts der häufigen und unspezifischen Bezeichnung schön bzw. bele nicht viel bedeuten. Was jedoch für eine sinnfällige Parallele spricht, ist, dass die Schönheit der Kapelle in beiden Texten im Kontrast zum in ihr vorgehenden Geschehen steht und so einer momentanen Irreführung des Rezipienten dient. 496 Vgl. KRONE, V. 14642-720. Diese Szene wurde schon im Zusammenhang der Sinnesregie Heinrichs in Kapitel 3.4.3 besprochen. Sie findet statt, nachdem die Gralsgesellschaft Gawein willkommen geheißen hat; Heinrich verlegt die ursprünglich auch räumlich vorgelagerte Ouvertüre zum Gralsgeschehen in die Burg, sodass er dem gesamten Gralsbesuch der Wunderketten den Charakter der Ouvertüre zum eigentlichen Gralsbesuch am Ende des Romans verleiht und den dann auch räumlich vorgelagerten Kapellenbesuch Keys in seinem Ouvertürencharakter betont.

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Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera kann Pein und Unheil davon bekommen, es sei denn, daß er es so erzählt, wie es geschehen muss.497

Auch hier wird, wie in den Worten des Gralsherrn der Krone, die Bleherisregel herangezogen, um ein gewollt vages Erzählen zu legitimieren. Im Falle der Première Continuation deutet dies (erstens) auf die nun folgende Gralsdarstellung,498 die ebenso vage bleibt wie die Heinrichs, (zweitens) auf die dramaturgisch notwendigen Lücken im ‚Whodunnit‘499 um die Ermordung eines Gralsritters500 sowie (drittens) auf die Erzählung der Taten von Gauwains Sohn hin, die nur in narrati497 Übersetzung in SANDKÜHLER II, S. 161. Die Konstruktion der französischen Verse erschwert eine Übertragung mit Umbrüchen, weswegen ich hier Sandkühlers Prosa en bloc stehen lasse. 498 Vgl. CONTIN., P, V. 20114-148. „Man darf nicht übersehen, daß der Gral hier [beim zweiten Besuch] kein ‚Wunschgefäß‘ ist, sondern nur die Speisen in mehreren Gängen bringt und den Wein einschenkt“; SANDKÜHLER, 1977, S. 222. Dabei erhält der Gral nie eine Gestalt; einzig seine Auswirkungen und ‚Taten‘ werden beschrieben. Im Endeffekt ist diese Darstellung noch vager, was auch daher rührt, dass keine wirkliche Prozession stattfindet. Auch Gauwains Erkundigungen beim Gralsherren liefern keine Informationen, denn „er fragt nach Lanze, Schwert und Bahre, aber nicht nach dem Gral; davon erzählt der König dann unaufgefordert – und nur von der Geschichte, wie Robert de Boron, aber nicht vom Sinn“ ebd., S. 222f. Wie Sandkühler feststellt, ist die Wiedergabe der Robert’schen Geschichte des Grals (vgl. CONTIN., E, V. 17553-778) eine Passage, die erst in späteren Handschriften auftaucht und aller Wahrscheinlichkeit nach später eingefügt wurde; vgl. SANDKÜHLER, 1977, S. 223. Dies erklärt auch, warum sie der programmatischen Vagheit der Gralsdarstellung teilweise widerspricht. Ohne sie lässt sich mit absoluter Bestimmtheit sagen, dass in der Première Continuation nichts Konkretes über den Gral vermittelt wird. 499 „[A] story or play about a murder in which the person who does it is only revealed at the end“; CROWTHER, 1998, S. 1298. Nach dieser Definition handelt es sich um den Auftakt zum ersten mittelalterlichen Krimi der Literaturgeschichte, denn in der Première Continuation kann nur vermutet werden, dass der Truchsess Keu hinter der Tat steckt. Erst nach vielen Ermittlungen des ‚Kommissars‘ Gauwein findet sich in der dritten, von Manessier verfassten Fortsetzung der Beweis dafür, dass Keu wirklich der Mörder des Ritters war; vgl. CONTIN., P, V. 37423-39463. Die dritte Fortsetzung legt generell die Tendenz an den Tag, entgegen der Programmatik des dunklen und ‚lückenhaften Erzählens‘ der ersten beiden Fortsetzungen alle entstandenen Fragen zu einer Antwort zu führen, so bspw. auch bezüglich der Kapellenabenteuer; vgl. DÄUMER, 2011 (Keie), S. 99f. 500 Vgl. CONTIN., P, V. 19655-914.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

ven ‚Fetzen‘ präsentiert werden, meist sogar in der Negativverkehrung, dass ein Rezitator nur aufzählt, was er alles nicht erzählen werde.501 Der Rezipient kann auch in diesen Passagen das fiktive Geschehen aufgrund der Vagheit der Beschreibung nur erahnen und muss die Fiktionsvermittlung als verfremdend erfahren. Die Programmatik des vagen Erzählens führt schließlich in der Deuxième Continuation zu einer Passage, die – aufgrund ihres Inhalts und ihrer Formulierungen – Heinrich am ehesten als Vorlage zu seinem Gralsherrn-Monolog gedient haben dürfte. Dort erläutert eine Gralsbotin, die so genannte Herrin des Maultiers, Perceval den Grund für ihr Verschweigen des Grals: ‚Sire, ce ne puet estre

‚O Herr, das kann nicht sein,

Que je plus vos en doie dire;

daß ich euch weiteres darüber sagen darf.

Se vos ·c· fois estiés me sire,

Wenn ihr hundertmal mein Herr wäret,

N’en oseroie plus conter

würde ich doch nicht wagen, mehr zu erzählen

Ne de mon labor plus parler;

und mit meinem Munde auszusagen.

Car ce est chose trop secrée,

Denn dies ist ein zu großes Geheimnis

Si ne doit estre recontée

und darf

Par dame ne par damosele,

von keiner Edelfrau, von keinem Fräulein,

Par mescine ne par pucele,

Mädchen oder Jungfrau erzählt werden,

Ne par nul home qui soit nés,

auch von keinem sterblichen Mann,

Se prouvoires n’est ordenés

wenn er nicht geweihter Priester ist,

U hom ki maine sainte vie,

oder ein Mann, der ein heiliges Leben führt

Qui d’autrui cose n’ait envie,

und nach nichts anderem begehrt

Qui autrui faire ne vosist

und keinem anderen tun will,

Tel cose c’on à lui fesist;

was man ihm angetan hat.

Cil poroit del Gréal parler

Ein solcher könnte vom Gral sprechen

Et la mervelle raconter,

und das Wunder erzählen,

Que nus hom nel poroit oïr

jedoch könnte kein Mensch es anhören,

Que il ne l’estuece frémir,

ohne zu zittern

Trambler et remuer color

und zu beben und vor Furcht

Et empalir de la paour.‘

die Farbe zu wechseln.‘502

(CONTIN., P, V. 28108-28)

501 Vgl. CONTIN., P, V. 20366-618. 502 Übersetzung: SANDKÜHLER III, S. 103.

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Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera

Die Gralsbotin legt die Unerzählbarkeit des Grals ebenso wie die annähernde Unmöglichkeit der Rezeption solch einer Erzählung dar; der transgressive Charakter der Aussagen, der Figur und Rezitatoraussage verbindet und die Aussage für Figuren- wie Aufführungsebene validiert, ist offensichtlich. Heinrich übernimmt dieses Muster, tilgt die Einschränkung, dass ein heiliger Mann den Gral beschreiben könne, und verabsolutiert so das Verschweigen des Heiligen. Deshalb wird in den französischen Fortsetzungen wie in der Krone der Zuhörer in den jeweiligen Gralsszenen mit der Situation konfrontiert, dass – wie es die Texte explizit bestätigen –503 der Protagonist den Gral zwar mit seinen Augen sieht, doch jenseits dieser Wahrnehmung die Übermittlung des Bilds abbricht. Das Gebot des Gralsherren der Krone, dass „nye getorst kein zung / Vor gotte furbaz gesagen“, 504 beschränkt sich also nicht auf die fiktive Welt: Keine Zunge wird den Gral genauer beschreiben – auch nicht die des Vortragenden. Der Zuhörer gehört ebenso wenig wie Gaweins schlafende Gefährten zu den Erwählten, weswegen der Gral ihm in den Beschreibungen – ganz wie es Bleheris empfiehlt und der zweite Gralsbesuch der Première Continuation vorführt – nie klar vor Augen stehen darf. Lediglich das „l’estuece frémir, / Trambler et remuer color / Et empalir de la paour“ bleibt ihm angesichts der Wunderketten übrig, sodass Heinrichs Schöpfung beinahe wie eine Einlösung des im französischen Text angekündigten Rezeptionsverhaltens wirkt. Das Scheitern transmissiver Zeugenschaft ist also in allen drei Texten das gleiche: Dem Vortrag des Gralsgeschehens wird die Fähigkeit abgesprochen, das Bild des Grals in der eigenen Medialität zu erzeugen. Die mittels performativer Techniken ontologisch zu transzendierende Grenze ‚Fiktion/Aufführung‘ bleibt epistemologisch intransparent.505 503 „Gaweinen bedrog niht sin synn“; KRONE, V. 29396 (‚Gawein betrogen seine Sinn nicht‘). „Saciés que moult s’esmervella / Mesire Gauwains, esgarda / Le Graal ki si le servoit“; CONTIN., P, V. 20147-49; („Wahrlich, ihr sollt wissen, da staunte Herr Gauwain über alles Maß und schaute nach dem Gral, der sie in dieser Weise bediente“; Übersetzung: SANDKÜHLER II, S. 165). 504 KRONE, V. 29601f.; s. v. 505 An dieser Stelle ist die medientheoretische Skepsis der Skripturalitätsverfechter zu bedenken: Dass uns diese Kritik als Text vorliegt, mag zu der Anschauung führen, dass auch die Unzulänglichkeit des Texts betont wird. Jedoch: „Für einen Augenleser mag dieses Zeugnis der Vergangenheit an-

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Der Unterschied zwischen der Performativitätskritik in der Krone und der in den französischen Texten ist ein gradueller, der durch die Verknüpfung der Gralssphäre mit den (in den französischen Romanen nicht vorhandenen) Wunderketten vollzogen wird: Die Wunderketten etablieren durch die Verwendung einer Kamera-Figur eine stärkere Bindung von Figur und Zuhörer als üblich. Obwohl diese Bindung in den Bildinhalten der Ketten bereits als gefährdet ausgewiesen wird, stößig wirken; er kann die Erfahrung nicht teilen, die durch den Nachhall des mündlichen Lesens in allen Sinnen entstand“; ILLICH, 1991, S. 58. Was Illich so treffend allgemein zur Sinnlichkeit der mittelalterlichen Texte bemerkt, gilt also umso mehr für die spezielle Situation, in der diese Sinnlichkeit willentlich verweigert wird. Es handelt sich bei der Hermetisierung des Grals um eine Kritik der WAHRnehmung als Basis performativer Fiktionsvermittlung. Dies wird schon in den französischen Texten sehr deutlich: Erstens verorten die doppelgängerischen Rezitatoren Blihis und Blihos Blihéris der Elucidation sowie die weiteren Anspielungen auf den famosum illem fabulatorem (GIRALDUS, 1964, S. 202) Bleheris entweder in den medialen Zustand der Oralität oder aber den der Performativität. Zweitens endet der Gralsbesuch der Première Continuation wie der der Krone mit der Situation, dass der Gralsherr Gauwain/Gawein von den Geheimnissen des Grals erzählt: eine Konstellation, die den Zuhörer an seine eigene Situation erinnern muss, in der er ebenfalls einer Erzählung lauscht. Die in Rolle gesprochenen Worte der Figur fallen so mit einer Rechtfertigung des Rezitators für die Vagheit der Erzählung in Eins. Auf diesen Wegen der Analogisierung von Fiktion und Aufführungssituation wird das Objekt der Kritik – der mediale Zustand der Performativität – in das fiktive Geschehen eingespeist. Dieser Zusammenhang deckt sich im französischen Text mit Gauwains entscheidendem Fehler beim zweiten Gralsbesuch, der als eine Unaufmerksamkeit während des Vortrags inszeniert wird: Moult se tint à aviloni Er hielt sich für erniedrigt und mit Schande De cou que il avoit dormi, bedeckt, weil er eingeschlafen war; Car perdu ot, par son dormir, denn durch den Schlaf hatte er Les grans mervelles à oïr. die großen Wunder zu hören versäumt. (CONTIN., P, V. 20315-18, Übersetzung: SANDKÜHLER II, S. 172)

Wenn man sich die Aufführungssituation vor Augen führt, ist es letztendlich sogar die Situation der Gralsprozession per se, die den medialen Zustand der Performativität als Ziel der Kritik deutlich macht. Denn so wie bspw. in der Krone an Gawein nach einem Mahl von ihm WAHRzunehmende Dinge vorübergetragen werden, werden am Rezipienten (evtl. ebenfalls nach dem Mahl) durch die Worte des Rezitators die Dinge der fiktiven Welt vorübergetragen, die mit dem inneren Auge der imaginatio WAHRzunehmen sind. Die Prozession bietet es an, über ‚Räume‘, den fiktiven Saal der Gralsburg und den realen, in dem der Textvortrag stattfindet, eine Verschaltung der Ebenen ‚Aufführung‘ und ‚Fiktion‘ zu bewirken – ein Phänomen, das im folgenden Kapitel gesondert untersucht wird.

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Geregelte Unsichtbarkeit und die Kappung der Kamera

findet das endgültige Kappen des Konnex’ erst in der Gralssphäre statt. „Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit“ trägt nicht nur „den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments“506 – es zergeht zwischen seinem Jetzt in der Fiktion und dem Jetzt der Aufführung. Das anhand der Feuer-Motivik aufgezeigte Erlernen eines ‚richtigen‘ Sehens ist für Gawein also ein Sehen ohne den Zuhörer, dessen ‚blice‘ (Blicke/Blitze) ihm schon zuvor zusetzten. Erst in der Trennung der Zeugenschaft erster Ordnung (figurale Wahrnehmung) von der zweiter Ordnung (Rezeption) kann die Wahrnehmung des Heiligen gelingen – jedoch nur für Gawein, dem der Gral exklusiv („Sitt das were geschehen, / Das er es hette herfarn“), d. h. auch ohne Beteiligung der performativen Gemeinschaft bzw. des Rezitators („nye getorst kein zung [...] fùrbasz gesagen) gezeigt wird. Gawein wird so zum ‚Kameramann‘, der nur noch für sich selbst aufzeichnet, ohne dass die countersignature (Derrida)507 durch den Rezipienten und damit die Bezeugung des Grals auf Ebene der Aufführung stattfinden kann. Der Schock des Nicht-Erkennen-Könnens auf Seiten des Rezipienten wird dabei durch die vorausgegangenen Perspektivierungstechniken und WAHRnehmungserprobungen der Wunderketten verstärkt. Somit trifft auf die Wunderketten- und Gralspassagen das zu, was Erwin Panofsky generell hinsichtlich der perspektivischen Darstellung formuliert, nämlich dass sie der Kunst „als etwas ganz Neues die Region des Visionären [erschließt], innerhalb derer das Wunder zu einem unmittelbaren Erlebnis des Beschauers wird, in dem die übernatürlichen Geschehnisse gleichsam in dessen eigenen, scheinbar natürlichen Sehraum einbrechen und ihn gerade dadurch ihrer Übernatürlichkeit recht eigentlich ‚inne‘ werden lassen; [...] die perspektivische Raumanschauung, [scheint] [...] das Göttliche zu einem bloßen Inhalt des menschlichen Bewußtseins zusammenzuziehen [...], dafür aber umgekehrt das menschliche Bewußtsein zu einem Gefäß des Göttlichen [zu] weite[n].“508

506 BENJAMIN, 1982, S. 578; siehe Kapitel 3.3.1. 507 Siehe Kapitel 3.3.1. 508 PANOFSKY, 1964, S. 126.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Übertragen auf die Krone bedeutet dies, dass das den Gral wahrnehmende Bewusstsein des Ritters eine scheinbare Aufwertung als durch Perspektivierung inspiriertes ‚Gefäß‘ erfährt.509 Mit dem inszenierten Scheitern des Zuhörer-Konnex, dem Kappen der Kamera, wird die Figur Gawein zum Subjekt erhoben, indem der Apparat-Blick ‚Perspektive‘ wird. Dabei äußert sich die Subjektivität v. a. im Scheitern daran, das Erfahrene in diskursiver – und d. h. hier: in performativ vermittelbarer – Form zu objektivieren. Rückwirkend wird so auch der Grund für das Aufrufen des visionären Wahrnehmungsmodus deutlicher: Mit der gezielten ‚Entsinnlichung‘ des Zuhörers wird am Ende der Krone das Bestreben der Visionsliteratur umgekehrt. So wie diese aus dem biblischen Verschweigen des Heiligen im zweiten Korintherbrief einen visionären Schauraum erschuf, verdunkelt sich in der Krone der Schauraum (die Wunderketten) im Gegenlicht des Heiligen (Gral). Das profane Wechselspiel von imaginatio und memoria, das in den Wunderketten durch figurale Perspektivierung direkt – also im Gegensatz zur Visionsliteratur ohne textuelle Unterstützung der ratio oder des intellectus – angesprochen wurde, erweist sich in dem Moment, in dem es mit dem Heiligen in Berührung kommt, als erkenntnisunfähig. Wie der Paulus des zweiten Korintherbriefs wird Gawein als Visionär bestätigt – und ebenso wie bei diesem erhält das Heilige (arcana verba/Gral) seine Aura erst durch die Verweigerung der Bezeugung. So macht der unsichtbare Gral eine elementare Aporie der transmissiven Zeugenschaft sichtbar510 und exemplifiziert damit zugleich eine Umwertung derselben, indem „die Subjektivität des Zeugnisses nicht als Defizit […] betrachtet, sondern seine singuläre [...] Bedeutung an[erkannt wird].“ 511 Gawein beweist so, dass „[d]er Augenzeuge […]

509 Andererseits lässt sich in Heinrich Weigerung, die sensuellen Eindrücke des Ritters an den Rezipienten weiterzuvermitteln, ebenso Panofskys Feststellung ablesen, dass im Mittelalter die Perspektivierung „mehr oder minder vollständig [...] abgelehnt [wurde], weil sie in eine Welt des Außeroder Übersubjektiven ein individualistisches und zufälliges Moment hineinzutragen schien“; ebd., S. 125. 510 Vgl. zu den Aporien der Zeugenschaft auch KRÄMER, 2008, S. 234-240. 511 SCHMIDT, 2011, S. 49. Dies schreibt Sibylle Schmidt über die für den Paradigmenwechsel in der Zeugenschaftstheorie entscheidende Studie von Renaud Dulong; vgl. DULONG, 1998.

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nicht auf einen ‚Aufzeichnungsapparat‘ reduziert werden“512 kann, wie es die Wunderketten erprobten. Heinrich spricht seiner Figur subjektive Erkenntnis zu, lässt aber in der Verweigerung der Gralsbezeugung den Übergang von der Erkenntnis zum Epistem scheitern.513 Oder anders: Ohne die apparative Figur scheitert die transmissive Zeugenschaft, somit die performative Medialität und Rezitator wie Zuhörer bleiben hinsichtlich des Heiligen... schier blint.514

512 SCHMIDT, 2011, S. 49. 513 Durch die Entkopplung des Apparats vom Rezipienten stellt sich im epistemischen Scheitern der Gralsdarstellung das schon von Platon im Theaitetos beschriebene Auseinanderdriften von Wissen (episteme) und wahrer Meinung (doxa) dar; letztere spricht Heinrich Gawein zu; vgl. PLATON, 1923, 201b; dazu SCHMIDT, 2011, S. 52f. Aus der Sicht des Dekonstruktivismus ‚erschafft‘ Heinrich so gewissermaßen erst das Zeugnis im Sinne seiner Eigenwertigkeit jenseits der bloßen Informationsvermittlung: „Das Zeugnis entsteht aus einem Geheimnis. [...] [W]enn das Zeugnis [...] zum Beweis, zur Information, zur Gewissheit oder zum Archiv geriete, würde es seine Funktion als Zeugnis verlieren“; DERRIDA, 2011, S. 28; vgl. dazu: SCHMIDT, 2011, S. 60. 514 KRONE, V. 13946; siehe Anfang des Kapitels 3.4.2.

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4. Von der Sprechhandlung zum Raum „Nun, wir beginnen, das Gedachte zu sprechen und in den Raum zu stellen. Dann können wir das Gesprochene betrachten, um es herumgehen, es schließlich bewegen. [...] Sprache existiert nicht nur im Raum, sie ist zutiefst dinglich, sie ist ein Noumenon.“ Christian Kracht, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten 1

Wie das letzte Kapitel gezeigt hat, kontrastieren Hartmann von Aue in der Zelterepisode und Heinrich von dem Türlin in den den zweiten Romanteil durchziehenden Wunderketten- und Gralspassagen die Ebenen der Fiktion und der Aufführung. Es handelt sich bei diesem Verfahren nicht um eine Störung der einen durch die andere Kommunikationsebene, sondern um eine vorübergehende Verschaltung und erneute Lösung. Um der Beschreibung dieses Vorgangs gerecht zu werden, ist es nötig, die literarische Kommunikation nicht nur anhand von abstrakten, sondern von konkreten Größen zu begreifen – eine Aufgabe, der das in 2.1.1 eingeführte Kommunikationsmodell nur bedingt gerecht wird. Die vom Dichter konzipierten und vom Rezitator realisierten per1

Kracht, 2008, S. 44. „[Immanuel Kants] transzendentale Analytik schließt [...] mit der Gegenüberstellung von ‚Phaenomenon‘ und ‚Noumenon‘. Kant hat den Bereich der (richtigen) Verstandestätigkeit auf die Welt der Erscheinungen (Phänomene) beschränkt, d. h. sie an die Dinge für uns gebunden. Die Dinge für sich (Noumena) bleiben unerkennbar. Ihre Welt bleibt ‚problematisch‘, d. h. möglich. Sie hat ihre Funktion in der Beschränkung der Sinnlichkeit und der Menschen selbst, da er Noumena nicht mit Kategorien erkennt“; KUNZMANN u. a., 1998, S. 139.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

formativen Vorgänge hantieren nicht mit unbegreifbaren, flüchtigen Gebilden. Vielmehr verschalten und trennen sie (bspw. über die WAHRnehmung der Figur, die performativen Techniken des Rezitators oder die ‚Grausamkeit‘ der Sprache) in der imaginatio des Zuhörers erfahrbare und erfahrene Räume. Aus der Perspektive des kinästhetischen Wahrnehmungsmusters wird der Vortrag höfischer Dichtung beschreibbar als eine Art ‚Kopfbühne‘ des Zuhörers, auf der das ‚narrative Drama‘ seinen Lauf nimmt, indem der Zuhörer geistig mit dem Protagonisten an den Stationen der Erzählung vorüberzieht. Dabei ist eine der entscheidenden Fragen die nach dem über das Körperschema vermittelten Zusammenhang zwischen der erzählten Körperlichkeit der Figur und der realen Körperlichkeit des Zuhörers, die jeweils Teil eines anderen Raums sind. Es ist zur Beschreibung dieses Zusammenhangs daher ratsam, das bisher verwendete Kommunikationsmodell als eine räumlich-ontologische Struktur zu begreifen.2 Als eine speziell die Größe der Handlung (Bewegung oder Sprachhandlung) integrierende Theorie bieten sich die raumtheoretischen Überlegungen Michel de Certeaus an.3 Dieser unterscheidet in Arts de Faire (L'Invention du Quotidien I; dt.: Kunst des Handelns) die Begriffe Ort (lieu) und Raum (espace) wie folgt: „Ein Ort ist die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. [...] Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegung erfüllt, die sich

2

3

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Was hier methodisch angestrebt wird, ist eine Kombination von performative und spatial turn. Die Zusammenführung dieser beiden wissenschaftlichen ‚Moden‘ geschieht aus der Überzeugung, dass es sich bei dem einen wie bei dem anderen turn um grundlegende Modi menschlicher Kulturentfaltung handelt, die auch noch aktuell sein werden, wenn die kulturwissenschaftliche Methodologie den Hang zu unnötigem Labeling hinter sich gelassen hat. Vgl. dazu auch DÄUMER u. a., 2010, S. 9-27.

Von der Sprechhandlung zum Raum in ihm entfaltet. [...] Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.“4

‚Ort‘ bezeichnet die statischen, physikalischen Gegebenheiten, die sich zu einem fixen Zeitpunkt ergeben; ‚Raum‘ das Produkt von Handlungen, seien es die Handlungen lebendiger Akteure oder bspw. die Variabilität, die der Ort bei seiner Durchquerung der Zeit erfährt. De Certeau bezieht diese Dichotomie auf den Unterschied zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort: „Im Verhältnis zum Ort wäre der Raum ein Wort, das ausgesprochen wird, das heißt, von der Ambiguität einer Realisierung ergriffen und in einen Ausdruck verwandelt wird, der sich auf viele verschiedene Konventionen bezieht; er wird als Akt einer Präsenz (oder einer Zeit) gesetzt und durch die Transformationen verändert, die sich aus den aufeinanderfolgenden Kontexten ergeben.“5

Das niedergeschriebene, doch nicht rezipierte Wort entspräche somit dem Ort. Bei der stillen Lektüre ist es die Visualität des Lesevorgangs, das Hin und Her entlang der Zeilen, das den Ort zum Raum werden lässt; für den höfischen Roman ist es seine Realisierung in Sprechhandlungen, wobei der so entstehende Raum ein zweiteiliger ist: Einerseits entsteht die Fiktion, der vom Helden durchmessene und damit erst eröffnete Raum; andererseits bildet sich der Raum der Aufführung, der abgrenzbare Kommunikationsbereich, in dem die Vermittlung des Textes stattfindet. Der Ort ‚Realität‘ meint zum Beispiel den unbelebten Saal einer Burg oder aber einen Konferenzssaal an der Western Michigan University zu einem jeweils bestimmten Zeitpunkt; die ‚Aufführung‘ ist der Raum, der durch die performativen Praktiken und Sprechhandlungen des Rezitators und die Handlungen eines Publikums an diesem Ort geschaffen wird, um in einer gemeinsamen Imaginationsleistung die ‚Fiktion‘ entstehen zu lassen. Die ‚Fiktion‘ nimmt dabei einen ambivalenten Status zwischen ‚Raum‘ und ‚Ort‘ ein. Einerseits entsteht sie durch Sprechhandlungen und ist somit per se Raum. Andererseits können auf der Ebene der 4 5

DE CERTEAU, 1988, S. 217f.; Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 218.

327

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

histoire Orte unabhängig von in ihnen vorgehenden Handlungen geschildert werden, Orte also, die erst durch die Handlungen von Figuren selbst wieder zu Räumen werden. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass in der höfischen Literatur die fiktive Welt fast immer durch Figuren erschlossen wird. Der Fall, dass ein Ort unabhängig von WAHRnehmungsleistungen geschildert wird, bildet einen Sonderfall.6 Mit dem Raum als Produkt einer Handlung, also als akteurbezogene Größe, wird das performative Schaffen des Rezitators begrifflich fassbar. Denn die Grenzen zwischen Aufführung und Fiktion sind, wie sich an den behandelten Textpassagen von Hartmann und Heinrich gezeigt hat, fließend bzw. – und dies ist der entscheidende Perspektivenwechsel, der den Rezitator in den Fokus bringt – können fließend gemacht werden. Während der Dichter in seinem Roman die Möglichkeit dazu anlegt, einen fiktionalen Raum entstehen zu lassen und als Koexistenz einen für ihn nicht minder imaginierten Raum der Aufführung bedient, so ist es der Rezitator, der die simultanen Räume ‚Aufführung‘ und ‚Fiktion‘ durch seinen Körper kanalisiert und emergieren lässt, durch (Sprech-)Handlungen fiktive und performative Elemente emulgiert oder scheidet und so eine Dynamisierung der textuellen Performanz erzielt, eine Wandlung des schriftlichen Orts zu einem Spiel der Räume.

6

328

Neben einer streng auf den Gegenstand und den imaginativen Blick des Zuhörers bezogenen descriptio wie in der Zelterepisode trifft dies fast nur bei der Beschreibung von allegorischen Orten zu, wie z. B. der Minnegrotte in Gottfrieds Tristan oder der ausufernden Beschreibung des Gralstempels im Jüngeren Titurel. Bei diesen hat man es mit Orten zu tun, die scheinbar unabhängig von den wahrnehmenden Handlungen existieren. Doch es handelt sich nur unter der Voraussetzung um Orte, dass man weder die Sprechhandlung des Rezitators noch den Vorgang der Allegorese, die der Zuhörer vorzunehmen hat, zu den raumkonstituierenden Handlungen zählt.

Die Raumverschaltung

4.1 Die Raum verschalt ung „Viele meiner Leser werden sich darüber gewundert haben, daß es mir geglückt ist, durch dieses Zimmer zu reisen und mich sogar im Herzen dieses Zimmers niederzulassen, und das alles zu einer Zeit, wo man im Begriff war, sich hermetisch abzuschließen.“ Ror Wolf, Die Grenzen der Vertraulichkeit7

Rainer Warning erläutert in dem Vorhaben, den ‚inszenierten Diskurs‘ mittelalterlicher Texte zu beschreiben, das Nebeneinander von textinternem und textexternem Sprechen wie folgt: „[E]ine interne Sprechsituation [tritt] in Opposition [...] zu einer externen Rezeptionssituation. Fiktionale Rede bestimmt sich also pragmatisch über die Simultaneität zweier Situationen, die über ein je eigenes deiktisches System verfügen. Eine solche Befangenheit in zwei gleichzeitigen Situationen führt die Subjekte der Sprech- und Rezeptionssituation in jene widersprüchlichen Handlungsanweisungen, welche die Kommunikationstheorie beschrieben hat als das pragmatische Paradoxon des ‚double-bind‘.“8

Nach der in der vorliegenden Studie eingeführten Terminologie und gemäß der angestrebten Übertragung der flüchtigen Kommunikationstheorie auf konkrete räumliche Größen heißt dies: Der Raum der Fiktion (interne Sprechsituation) tritt, nach Warning, in Opposition zum Raum der Aufführung (externe Sprechsituation). Diese beiden Räume existieren zeitgleich (‚Simultaneität‘) und berufen sich auf unabhängige deiktische Systeme. Den Rezipienten sieht Warning im paradoxen Zustand an beide Räume gleichzeitig gebunden (‚double-bind‘), als zerrissen zwischen sich widersprechenden deiktischen Systemen. Als eine mögliche Lösung dieser Paradoxie bietet Warning das Folgende an: „Man kann solche pragmatischen Paradoxe logisch lösen, indem man die eine Seite des Gegensatzes auf eine hierarchisch höhere Ebene ver-

7 8

Wolf, 2006, S. 84. WARNING, 1983, S. 193.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

legt und den Widerspruch damit sinnlos macht.“9 Doch, so möchte man aus Sicht der bisher erarbeiteten Raumkonstellationen fragen, ist dies nicht lediglich eine Notlösung? Sind die Räume der Fiktion und der Aufführung wirklich hierarchisiert und ihre jeweilige Deixis unabhängige Systeme, also – nach Luhmann – ‚autopoietisch‘?10 Oder ist nicht eine zweite Lösung des paradoxen ‚Zerrissen-Seins‘ zwischen konkurrierenden Räumen, die Warning alternativ anbietet, vorzuziehen: „Das Theater ist der Ort, an dem dieser ‚double-bind‘ exemplarisch vorgeführt und – spielerisch – gelöst wird“?11 Um sich der allgemeinen Beschreibung des theatral zu lösenden ‚double-bind‘ nähern zu können, soll mit einer der bekanntesten Nebeneinanderstellungen von Räumen aus Wolframs Parzival begonnen werden: dem Verweis auf den Wildenberger Kamin. 12 Im fünften Buch betreten die Gralsritter den Prachtsaal der Gralsburg Munsalvæsche: si giengen ûf ein palas. hundert krône dâ gehangen was, vil kerzen drûf gestôzen, ob den hûsgenôzen, kleine kerzen umbe an der want. [...] eins dinges man dâ niht vergaz: sine hete niht betûret, mit marmel was gemûret drî vierekke fiwerrame: dar ûffe was des fiwers name, holz hiez lign alôê. sô grôziu fiwer sît noch ê sach niemen hie ze Wildenberc.

Sie gingen zu einem Palas hinauf. Hundert Kronleuchter waren da aufgehängt worden, viele Kerzen waren darauf gesteckt, über den Bewohnern, kleine Kerzen standen ringsum an der Wand. [...] Eine Sache hatte man da nicht vergessen und [dabei] nicht am Geld gespart: Aus Marmor gemauert waren drei viereckige Feuerrahmen, darauf des Feuers Name stand: Das Holz hieß Lign Aloe. So große Feuer hat seither noch ehedem niemand hier zu Wildenberg gesehen.

(PARZIVAL, V. 229,23-230,13)

9 Ebd., S. 193. 10 Als autopoietisch wird ein System aufgrund eines zirkulär-selbstreferenziellen Organisationsprinzips bezeichnet, das seine operative Geschlossenheit ausmacht; vgl. REINFANDT, 2001. 11 WARNING, 1983, S. 193. 12 Für eine ausführliche Besprechung dieser Textpassage unter Einbezug des ‚wirklichen‘ Aufführungsorts (bzw. der Konstruktion dieser ‚Wirklichkeit‘) vgl. DÄUMER, 2010 (Wildenberg).

330

Die Raumverschaltung

Anhand der Körper der Gralsritter – Parzival betritt erst wenige Verse später die Szene – wird ein Raum erschlossen, der sein eigenes deiktisches System ausprägt: ‚Dort‘ waren Kronleuchter aufgehängt, ‚da‘ waren Kerzen dran befestigt, ‚dort‘ hat man große Kamine gebaut und ‚da‘ stand der Name des Feuers. Doch während die deiktischen Elemente der ersten Verse das Setting der kommenden fiktiven Handlung kreieren, bricht das deiktische Satzelement ‚hie‘ aus der Fügung der vorherigen Verse aus.13 Verweise auf Elemente der mittelalterlich-zeitgenössischen Realität sind in den höfischen Romanen keine Seltenheit. Auch das Ziel, mittels solcher Verweise die Illusion besser zu veranschaulichen, ist nicht unüblich. Heinrich von Veldeke benutzt bspw. im Eneas in der so genannten zweiten Stauferpartie14 die Erinnerungen seines realen, wahrscheinlich Thüringer Publikums an den Besuch des Mainzer Hoffests von 1184 dazu,15 mittels der Memorialbilder das finale Fest seines Romans zu verfeinern. In der Ähnlichkeit dieser deskriptiven Technik liegt jedoch gleichfalls eine entscheidende Differenz, die den besonderen Status des Wildenberg-Beispiels verdeutlicht: Heinrich ruft einen erinnerten Raum auf, leitet also mit seinen Versen (im Sinne der VierKammern-Lehre) einen gezielten Zugriff der imaginatio auf die in der memoria gespeicherten Sinneseindrücke ein. Es handelt sich um einen 13 Vgl. NEUMANN, 1971, S. 94 und GREEN, 1994, S. 75. 14 Vgl. DITTRICH, 1966, S. 573ff. Zur ersten Stauferpartie, der Auffindung des Pallas-Grabes und deren Funktionalisierung im performativen Kontext siehe Kapitel 3.3. 15 Der Rezitator hat im Eneas zu behaupten, er habe noch nie von so einem großen Fest gehört, „wan diu ze Meginze dâ was, / die wir selbe sâgen“ (ENEAS, V. 13226f.; ‚als das, welches in Mainz stattfand, / das wir selbst gesehen haben‘). Kartschoke hält es für möglich, dass Heinrich nur sich selbst als Augenzeugen des Mainzer Hoffests im pluralis maiestatis nennt, stellt aber selber fest: „In der Tat hatte Landgraf Ludwig III. von Thüringen mit – wie die Hennegauische Chronik berichtet – ‚tausend oder mehr Rittern‘ am Mainzer Hoffest von 1184 teilgenommen und war damit einer der mächtigsten Herren gewesen“; KARTSCHOKE, 1997, S. 823. Es ist also weitaus wahrscheinlicher, dass mit dem ‚Wir‘ das Publikum am Thüringer Hof gemeint ist, für deren Fürsten Ludwig III. Heinrich von Veldeke wahrscheinlich zwischen den Jahren 1184 und 1186 das Manuskript seines Romans fertigstellte; vgl. ebd., S. 857. Es handelt sich bei der Rückbesinnung auf das Hoffest anlässlich der ‚Uraufführung‘ des Eneas-Romans vor dem Thüringer Publikum also um eine maximal zwei Jahre überbrückende Memorialleistung.

331

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

internalisierten Imaginationsvorgang; der äußere Einfluss (die Sinneseindrücke vom Mainzer Hoffest) liegt schon eine gewisse Zeitspanne zurück und ist memorial ‚domestiziert‘. Im Gegensatz dazu stellt Wolfram in den oben zitierten Versen mittels deiktischer Verweise eine Unmittelbarkeit der Wechselwirkung von inneren und äußeren Sinneseindrücken her. Er spricht nicht die mit der memoria interagierende Funktion, sondern die – nach Thomasin –16 zweite, auf die Verarbeitung der momentan existenten Sinneseindrücke ausgerichtete Funktion der imaginatio an. Dem dortigen Raum von Munsalvæsche tritt also simultan der hiesige Raum von Wildenberg zur Seite – wobei das Dortige auf das Hiesige verweist: ‚Munsalvæsche‘ ist Wolframs17 kauderwelschige Version von frz. mont sauvage – dem wilden Berg.18 Die gängigste Verortung des ‚wilden Bergs‘ deutet auf den Odenwald: Die Burg Wildenberg bei Amorbach gilt bis heute als der Ort, an dem das fünfte Buch des Parzival zum ersten Mal vorgetragen wurde. Nehmen wir an dieser Stelle die Verortung nach Amorbach unkritisch hin,19 so sind die Wolfram’schen Verse ein artefaktischer Rückstand eines performativen Vorgangs, mit dem ein Rezitator den Odenwälder Kamin, an dem das Premierenpublikum des Parzival saß, mit den fiktiven Kaminen der Gralsburg verschaltete. Dies tat er unmittelbar, also ohne Einforderung einer Memorialleistung oder intellektueller Übersprünge und v. a. ohne eine Hierarchisierung der Räume. Dieser Vorgang der Raumverschaltung findet im Moment der Realisierung der Verse statt, ist somit eine transitorische Verbindung zwischen fiktivem ‚Dort‘ und performativem ‚Hier‘. Wenn man diese Lesart der Wildenberg-Verse auf die einleitend zitierten Beobachtungen Warnings bezieht, so ist als Widerspruch zu diesen das Folgende festzustellen: In der performativen Verwirklichung 16 Siehe Kapitel 2.2.2. 17 Bei Chrétien erhält die Gralsburg keinen Namen. 18 Zum Forschungsstreit zu dieser Lesart vgl. DÄUMER, 2010 (Wildenberg), S. 235. 19 Bei dieser Verortung – eine von vielen möglichen – spielen vor allem die Aktivitäten des nationalsozialistischen Wolfram-von-Eschenbach-Bunds eine besondere Rolle. Dieser war darauf bedacht, trotz mangelnder historischer Sicherheit ein Wolfram-Denkmal zu schaffen, weswegen die Verortung in den Odenwald als autoritäre Fakten-Setzung gelten muss, als Verschleierung mittelalterlicher Transitorik zugunsten der national(sozialistisch)en ‚Härte‘ des Monuments; vgl. DÄUMER, 2010 (Wildenberg).

332

Die Raumverschaltung

der Verse ist keine Hierarchisierung der Räume ‚Fiktion‘ und ‚Aufführung‘ festzustellen. Vielmehr verweisen die örtlichen (wie auch textuellen) Artefakte als Rückstände des Transitorischen gleichmäßig auf beide Größen, sodass der Akt ihrer Verschaltung noch Jahrhunderte später reaktualisiert werden kann. Demnach sind die unterschiedlichen deiktischen Verweisebenen in den zitierten Wolfram’schen Versen auch keine sich ausschließenden Systeme, sondern müssen vielmehr – der von Warning mit dem Begriff ‚Theater‘ eröffneten Denkgröße entsprechend – vom Rezitator aus betrachtet werden: Er ist es, der zur einen Seite deutet und damit die Gralsburg meint und zur anderen, um die realen Kamine zu bezeichnen, die die Zuhörer wärmen. Sein vom Publikum wahrgenommener Körper stellt die Schnittstelle der räumlichen Verschaltung dar, ähnlich wie der Körper eines Schauspielers die Schnittstelle von realem Darsteller und fiktiver Rolle ist.

4.1.1 Sprachliche ‚Grausamkeit‘ als Verschaltung Bei der Raumverschaltung der Wildenberg-Verse handelt es sich um einen Sonderfall, da dort die Deixis der Verse auf einen realen historischen Raum verweist. Im Regelfall müssen die raumverschaltenden Techniken auf einem höheren Abstraktionslevel betrachtet werden. Eine Möglichkeit für die Annäherung bietet die u. a. nach Artaud bzw. dessen Interpretation durch Derrida dargelegte Größe der ‚sprachlichen Grausamkeit‘, der korporalen Einwirkung von Lauten auf den Körper des Rezipienten.20 Als Beispiel für eine raumverschaltende Technik, die nicht den Raum der Aufführung bemüht, sondern direkt über die Laute der gesprochenen Sprache ein Raumempfinden evoziert, soll abermals eine Passage aus der Krone dienen, in der Gawein und seine Gefährten durch eine fiktive Landschaft reiten: Vber ein berg, der was hoh,

Auf einen Berg, der war hoch,

MĤste er mit al stijgen,

musste er ganz und gar hinaufsteigen,

Gein einem wast sigen,

um dann in eine Schlucht abzuzweigen,

20 Siehe Kapitel 2.3.

333

Stimme im Raum und Bühne im Kopf Der vinster was vnd kalt[,]

die finster war und kalt,

Den vmbzoh ein groszer walt,

umgeben von einem großen Wald,

Der was nach freise gestalt.

der gefährlich aussah, ungestalt.21

(KRONE, V. 26201-06)

An diesem Beispiel (und meinem Versuch einer lautmalerischen Umschreibung) soll deutlich werden, dass der Dichter darauf bedacht war, mittels des latenten Potenzials der geschriebenen Sprache die Erfahrung des fiktionalen Raums im Vortrag einem körperlichen Nachvollzug des Rezipienten bereitzustellen. So zeichnet in dieser Passage das Auf und Ab der Reimvokale den Reiseweg der Ritter nach. Das hohe, lange ‚i‘ von (mhd.) sîgen (‚Senke‘) gibt bspw. die Höhe an, auf der sich die Ritter befinden, um im Folgevers dann über ein kurzes ‚i‘ (vinster) und zwei tiefe ‚a‘ (was und kalt) eben gerade diese Senke lautlich hinabzureiten. Die raumkonstituierende Sprachhandlung wird mit der Bewegung der fiktiven Körper analogisiert und der Zuhörer kann so die Reise aufgrund der Verbalisierung des sprachlichen Materials am eigenen Körper ‚erleben‘. Ein ähnliches Beispiel findet sich im westjiddischen Artusroman Widuwilt: doch eilten si gor bald,

Doch eilten sie gar bald,

bis doss si kamen aus dem wald.

bis dass sie kamen aus dem Wald.

si riten iber manchen berg gor gross,

Sie ritten über viele Berge groß,

do sein tog herging kein schtroß,

zu dieser Zeit noch straßenlos,

un durch menchen tifen tol,

auch durch manches tiefe Tal,

do mon nit sach kein weg zumol.

keinen Weg sah man dort dazumal,

si riten for mencher schene schtot und schloß doss ir keiner ni kam fun seinem roß.

ritten vorbei an manch schöner Stadt und Schloss und keiner stieg von seinem Ross.

21 Die Übertragung richtet sich nicht nach der Wortsemantik, sondern nach dem Klang der Endreime. Hier, wie auch in den meisten Übertragungen des Daniel-Kapitels, geht es um eine Rekonstruktion der lautlichen Effekte (identische Versanlaute, Anaphern, Alliterationen, End- und Stabreime). Da es in den Übertragungen darum geht (entgegen der mediävistischen Konvention) ein anderes als das rational-semantische Verständnis des Textes anzusteuern, müssen eventuelle Unsauberkeiten in der semantischen Fügung in Kauf genommen werden; siehe Kapitel 3.3.

334

Sprachliche ‚Graumsamkeit’ als Verschaltung zuletzt kamen si auf ein weit felt,

Schließlich sahen sie auf einem weiten Feld

do sachen si aufgeschlogen aufgeschlagen manch ein schönes Zelt. menich schen gezelt. (WIDUWILT, W, Str. 124)

So sehr das Metrum auch holpert, kann man doch am Verlauf der Endreime und den mit ihnen korrespondierenden Vokalfarben sehen, dass mittels des Zusammenfallens von syntaktischen Grenzen und Paarreimen ein diatones Mäandern durch ‚a‘- und ‚o‘-Laute erzeugt wird. Die ‚Tonart‘22 der Langeweile dieses Reimbereichs wird erst mit der Ankunft am Ziel im hellen Paarreim auf ‚e‘ aufgebrochen, sodass das Ende der Reise im Moment der Ankunft klanglich abgebildet wird. Die Vorstellung des fiktiven Raums wird in Passagen wie diesen – von denen es in den höfischen Romanen noch viele zu finden und kompositorisch zu deuten gäbe – nicht durch den Verweis auf den gerade präsenten realen Ort (wie beim Wildenberg-Beispiel) oder den Abruf gespeicherter Bilder (wie das Aufrufen der Erinnerungen an das Mainzer Hoffest) erregt, sondern durch die Laute der Sprache und den dadurch initiierten Nachvollzug der Bewegung durch den fiktiven Raum. Die Rezeption geschieht nicht unter Einfluss der ratio, die der Ort der Dekodierung von Semantik ist, sondern wirkt direkt auf den Körper des Zuhörers und über dessen Sinne auf seine imaginatio ein. Im Gegensatz zur kinästhetischen Wahrnehmung funktioniert diese Teilhabe ohne den Zwischenschritt über das Körperschema, da Laute unmittelbar korporal wirken können, ohne dass das Geschilderte überhaupt verstanden werden muss. Dass der lautliche Angriff auf den Zuhörer an Stellen stattfindet, an denen es auch auf der Ebene der Fiktion um Körperlichkeiten geht, bspw. um die Beschwerlichkeiten des Reisens, ist bei der Verwendung dieser Technik kein Zufall. Als im Iwein Hartmanns von Aue der Protagonist die Qualen von Frauen sieht, die in einem Arbeitshaus schuften (körperliche Qualen, die zuvor auch schon in einer lautlich konstruierten Passage beschrieben wurden),23 wendet er sich an einen anwesenden 22 Der Begriff ‚Tonart‘ wird im Sinne Edgar Allan Poes verwendet, der in einer Analyse seines Gedichts The Raven ausgehend vom Klang des Wortes ‚Nevermore‘ ein rein auf der lautlichen Grausamkeit der Sprache beruhendes Konstruktionsmuster offenlegt; vgl. POE, 1999, v. a. S. 201-204. 23 Vgl. IWEIN, V. 6201-09.

335

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Torwächter. Dessen boshafte Reaktion auf den Ritter wird mit den folgenden Versen eingeleitet: der schalc dô schalclichen sprach,

Da sprach der Boshafte boshaft,

dô er engegen dem tor gienc,

als er zu dem Tore ging

der schalc in schalclichen enpfienc:

und der Boshafte ihn boshaft empfing.

er sprach ûz schalkes munde

Er sprach aus boshaftem Mund

so er schalclîchest kunde.

und tat es ihm boshaftest kund.

(IWEIN, V. 6238-42)

Die Häufung des Begriffs ‚schalc‘ in diversen Variationen rhythmisiert den Text und leitet den verbalen Angriff des Torwächters auf Iwein mittels eines verbalen ‚Angriffs‘ auf den Zuhörer ein. Die Boshaftigkeit der Figur ist analog zu ihrer Darstellung mittels einer ‚boshaften‘, ennervierenden und humoristisch-angriffslustigen Lautlichkeit, wobei das Mittel der Wahl hier nicht der Vokalklang, sondern die rhythmisierende Repetition ist. Noch deutlicher wird das kompositorische Bemühen um die Lautlichkeit im Eneas-Roman. Im Minnemonolog Lavinias geht es darum, die körperlichen Qualen zu schildern, welche die Minne der Figur bereitet. Hierzu lässt der Dichter den die Rolle der Lavinia sprechenden Rezitator die folgenden Verse sagen: „waz hilfet dich daz, Minne,

„Was hast du davon, Minn’,

daz ich sus smilze enbinne?

dass ich schmelze da herin?

dû heizest unreht Minne,

Du heißt Unrechte Minn’.

als ich dich noch bekenne:

so wie ich dich kenn’.

dû bist ein quelerinne.

Du bist eine Quälerin.

Vênûs hêre gotinne,

Venus, mächtige Göttin,

gesenfte mir die minne“,

besänftige mir die Minn’“,

sprach diu kuneginne,

sprach da die Königin,

„unze ich bekenne

„bis dass ich erkenn’

die rehten art der minne.

die wahre Natur der Minn’.

dû treges salbe, Minne,

Du besitzt eine Salbe, Minn’,

is daz ich der gewinne

und wenn ich die gewinn’

so genese ich, edeliu Minne.“

so gesunde ich, edle Minn’.“

(ENEAS V. 10256-68)

336

Sprachliche ‚Graumsamkeit’ als Verschaltung

Die Passage arbeitet mit einer Vielzahl ähnlicher oder identischer Reime und erzeugt über die Epiphernhäufung eine um das Wort und die Personifikation ‚Minne‘ rotierende Rhythmik. Kartschoke vermutet, dass diese Konstruktion in einer früheren Textgestalt noch strenger war, indem jeder zweite Vers auf ‚Minne‘ endete.24 Was für diese Vermutung spricht, ist, dass die „Arie“25 der Lavinia gleich in zwei Minnemonologen des Eneas Entsprechungen findet: Bei dem einen26 handelt es sich um eine annähernde Kopie der obigen Reimworte, bei der das von Kartschoke vermutete alternierende Muster ohne Störung vorliegt. Die zweite Entsprechung zur Lavinia-Arie lautet wie folgt: Enêas sprach aber mê

Eneas sprach noch mehr:

„Minne, ir tût mir al ze wê,

„Minne, ihr schmerzt mich allzu sehr,

wan daz ir sîn niht welt enberen.

wollt Ihr nicht bald davon absehen.

Minne, sal ez lange weren,

Minne, soll es lange so weitergehen,

sô mûz ez mir anz leben gân.

so habe ich mein Leben vertan.

Minne, waz hân ich û getan,

Minne, was habe ich Euch getan,

daz ir mich quelt sô sêre?

dass Ihr mich so sehr quält?

Minne, nemet ir mîn êre,

Minne, wenn Ihr mir die Ehre stehlt,

war zû sal mir dan der lîb?

was soll ich dann noch mit dem Leib?

Minne, jan bin ich doch niht ein wîb,

Minne, bin ich auch kein Weib,

holfez mich iht, ich bin ein man.

hilft mir das nichts: Ich bin ein Mann.

Minne, al daz ich mach und kan,

Minne, alles was ich verstehe und kann,

daz hilfet wider ûch niht ein hâr.

hilft mir nichts gegen Euch zur Wehr.

Minne, ûr burde is mir ze swâr,

Minne, Eure Last ist allzu schwer,

ichn mach si langer niht getragen.

ich kann sie länger nicht ertragen.

Minne, ichn getar von û niht klagen,

Minne, ich wage nicht, Euch anzuklagen,

swie unsanfte so ir mir tût.

wie sehr Ihr mir auch gebet Schmerz.

Minne, nû trôstet mir den mût

Minne, nun tröstet mir das Herz,

schiere, des is mir nôt,

schnell, ich bin in großer Not.

Minne, waz holfe ûch mîn tôt?“

Minne, was habt Ihr von meinem Tod?“

(ENEAS V. 11097-116)

24 Vgl. KARTSCHOKE, 1997, S. 808f. 25 Ebd., S. 811. 26 Vgl. ENEAS, V. 11149-64.

337

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Die Epipher der Lavinia-Arie weicht der Anapher und das vertraute ‚Du‘ dem distanzierteren ‚Ihr‘. Der Effekt ist, dass die männliche ‚Arie‘ der weiblichen kontrapunktisch gegenübersteht – inhaltlich sowie auf der Ebene der Klangentfaltung. Das weibliche Duzen der Minne geht einher mit der Naivität identischer Reime, so wie Eneas’ Distanz zur Minne sich im ‚Ihr‘ genauso wie im aggressiven Anlaut der Apostrophe abbildet. Produktionsästhetisch betrachtet dient der Konstruktionsaufwand dem Dichter dazu, der jeweiligen Art der Verzweiflung seiner Figuren Ausdruck zu verleihen; rezeptionsästhetisch ist es das Ziel der Passagen, über die Lautlichkeit (über die Artaud‫ތ‬sche ‚Grausamkeit‘ der Sprache) die körperliche Teilhabe des Zuhörers zu steigern und ihm Mitleid für die somatischen Wirkungen der Liebesmacht zu entlocken. Dabei ist das nachzuvollziehende körperliche Leiden genderspezifisch als monoton-naive (Lavinia) und aggressiv-anlautende Verzweiflung (Eneas) ‚vertont‘.27 Figurenpsychologie ist in dieser Passage primär kein textuelles, sondern ein musikalisches Phänomen, das keine intellektuelle, sondern eine ‚compassionale‘ Teilhabe anspricht. Der performative Akt der Verlautlichung stellt dabei den Brückenschlag zwischen figuraler und rezipierender Emotion dar (ex-motio: beide aus sich heraus, um einander im performativen Raum zu begegnen). Dabei wird die Brücke nicht intuitiv, sondern nach den Konstruktionsplänen (Regie) des Dichters geschlagen: „Nachdem das Theater sich dieser Sprache im Raum, dieser Sprache aus Klängen, aus Schreien [...] bewußt geworden, hat es sie zu organisieren“:28 Ein Ziel, dass Artaud ‚avant garde‘ nicht vollends zu erreichten vermochte – doch das in der Zeit transitorischer Literaturentfaltung ‚avant la lettre‘ schon erreicht worden war.

27 Bezieht man Eneas’ zweite Arie mit in diese Überlegung ein, so ist die Aggression als ein letztes Aufbäumen gegen das Minneleiden zu verstehen, bevor er sich in den Versen 11149-64 (zumindest klanglich) in dieselbe monoton-leidende ‚Tonlage‘ wie Lavinia begibt. 28 ARTAUD, 1969, S. 96; siehe Kapitel 2.3.

338

Der mundtote Rezitator

4.1.1.1 Der mundtote Rezitator im ersten Teil des Daniel Eine der auffälligsten Lautkompositionen der Artusromane sind die so genannten ‚Cluseschlachten‘ im Daniel des Stricker. Bevor es möglich ist, dieses ‚Lautgedicht‘ näher zu untersuchen, soll dessen kontrastive Sonderstellung im Roman verdeutlicht werden. Im Gegensatz zu den meisten Prologen arthurischer Romane weist der Daniel-Prolog kaum Spuren einer performativen Kommunikation auf. Die einzigen Verse auf literaturvermittelnder Ebene formulieren recht schmucklos die Verhaltensregel, „daz irz mit zühten hœret / und niht mit rede zerstœret“.29 Eine andere Konvention erfüllt der Prolog jedoch im Übermaß. Beim höfischen Roman ist es Usus, den Prolog mit einer moralischen Sentenz oder einem Exempel zu beginnen. Die Bedeutung eines solchen Eingangs beschreibt Henning Brinkmann wie folgt: „Einmal stellt die Sentenz eine allgemeine Lebenswahrheit an die Spitze, die den Hörern (Lesern) bekannt ist, und gründet so von Anfang an eine Gemeinsamkeit zwischen dem Verfasser und seinen Hörern (Lesern). Die eigentliche Dichtung tritt dann in diesen gemeinsamen 30 Raum.“

Der Daniel-Prolog umfasst gleich zwei solcher (vermeintlich) gemeinschaftskonstituierenden Exordialsentenzen. Die erste erfüllt die von Brinkmann konstituierte Funktion der allgemeinen Gesprächseröffnung: Swer gerne allez daz vernimt das guoten liuten wol gezimt, der wirt es selten âne muot, unz er der werc ein teil getuot. swer aber den worten ist gehaz, der ist ze den werken dicke laz.

Wer gerne von dem hört, was zu guten Menschen passt, der wird nur selten aufgeben, bis er nicht einen Teil davon in die Tat umgesetzt hat. Wer aber die Worte hasst, ist auch meist zur Tat zu faul.

(DANIEL, V. 1-6)

29 DANIEL, V. 19f. (‚dass ihr sie [die Erzählung] mit Anstand anhört / und nicht durch Dazwischenreden zerstört‘). 30 BRINKMANN, 1964, S. 6.

339

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Aufgrund des Widerspruchs gegen die laudatio temporis pronuntiationis des Iwein-Prologs31 und der Betonung des engen Zusammenhangs von (vorgetragenem) Wort und guter Tat (der Zuhörer) ist der von Brinkmann betonte involvierende Charakter der Sentenz besonders ausgeprägt. Die zweite Sentenz erweckt den Anschein, die gleiche Funktion zu erfüllen: Swer lop und êre wil bejagen,

Wer Anerkennung und Ehre erringen will,

der sol dar umbe niht verzagen,

der darf nicht daran verzweifeln,

irret in etswâ daz guot.

wenn ihn [weltliches] Gut zuweilen wirrt.

(DANIEL, V. 23-25)

Für sich alleine gestellt, müsste man diesem (nicht gerade innovativen) Moralspruch attestieren, funktional den gleichen Zweck wie die erste Sentenz zu erfüllen. Und dennoch stellt dieses Sprichwort eine entscheidende Abweichung von der Sentenzenverwendung in anderen Prologen dar: Der Vortrag dieser Lebensweisheit konstituiert mitnichten die Gemeinschaft von Verfasser, Rezitator und Zuhörer, sondern wird im Nachhinein durch den Vers „des giht der künic Artûs“32 als Figurenrede kenntlich gemacht. In der Forschung wurde diesem Phänomen zwar Aufmerksamkeit gewidmet, doch keine programmatische Absicht zugesprochen.33 Dies liegt daran, dass die Andersartigkeit nicht in der Aussage der Sentenz, sondern in ihrer Wirkabsicht im Rahmen der Aufführung zu suchen ist. Denn mit dem Aussprechen der Sentenz wird die moralische Konsensgemeinschaft im Raum der Aufführung nur zum Schein gestiftet, um dann mittels der nachträglichen Zuweisung der Verse an Artus eine Situation zu erschaffen, in welcher der Zuhörer unmerklich zum Beobachter einer nur auf Fiktionsebene vorhandenen Gemeinschaft wird. Die Ansichten des Zuhörers werden in die fiktive 31 Zum Iwein-Prolog siehe Kapitel 2.1; vgl. auch die Verkehrung dieser Stelle im Prolog zu Der Welt Lohn und deren Besprechung in Kapitel 3.1. 32 DANIEL, V. 33 (‚so spricht der König Artus‘). 33 Bspw. PINGEL, 1994, S. 21: „Zunächst sieht es so aus, als versuche der Erzähler erneut, Einvernehmen mit dem Publikum herzustellen. Zu dieser Annahme berechtigt auch die Tatsache, daß die hier vorgetragenen Ansichten in Inhalt und Formulierung an die erste Sentenz (V. 1-6) anknüpfen. Anschließend jedoch erfährt das Publikum, daß König Artus der Sprecher der zweiten Sentenz ist. Offensichtlich legt der Erzähler auf eine präzise und unmissverständliche Zuweisung dieser Äußerung keinen Wert.“

340

Der mundtote Rezitator

Welt hinein gespiegelt. Artus wird so (vorerst) als Verfechter des Commonsense inszeniert, zu dessen Taten sich der Zuhörer nicht positionieren muss, da sie ja ohnehin aus der gemeinschaftlichen Moral resultieren. Mit dieser Apriori-Setzung von Artus’ unhinterfragbarer Integrität scheint ‚Konsum statt Koproduktion‘ das vom Prolog angekündigte Programm zu sein: Nicht die emotionale oder moralisierende Positionierung zum oder ‚compassionale‘ Teilhabe am Geschehen, sondern das distanzierte Betrachten einer stellvertretenden Instanz wird dem Zuhörer abverlangt (respektive auferlegt). Deshalb ist die anfangs zitierte Aufforderung, nun still zu sein, um die Fiktion nicht zu zerstören, trotz aller Knappheit als signifikantes Statement zu werten: Einwürfe, Gegenfragen oder gar Teilnahme des Publikums sind bei einem Stellvertreter allgemeingültiger Moral weder nötig noch erwünscht. Passend dazu wird im ersten Handlungsteil, der so genannten ‚Danielkette‘,34 eine Kommunikation zwischen Rezitator und Publikum über lange Strecken nicht oder nur spärlich angeregt. Bis zur ersten Schlacht um Cluse, die den (Wieder-)Eintritt in die so genannte ‚Artuskette‘ bedeutet,35 das heißt in einer Passage von fast 3000 Versen, finden sich nur sieben Phrasen, in denen ein Rezitator sich zu Worte meldet und/oder die Zuhörerschaft angesprochen wird, was gerade mal 0,23% des Texts entspricht. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)

ich wæne ouch mac man dâ wunder schouwen ich mac iu lîhte sagen es endarf iuch niht wunder hân hie muget ir wunder hœren Nû mugen wir wol gelouben dâvon ich iu ê gesaget hân

Ich vermute... Dort kann man auch Wunder sehen... Mit Leichtigkeit kann ich euch sagen... Es braucht euch nicht zu verwundern... Hier könnt ihr Erstaunliches hören... Nun können wir wohl glauben... Davon habe ich euch schon erzählt...

(DANIEL, V. 256, 1432, 1480, 1594, 2496, 2517 und 3002)

34 Vgl. MOELLEKEN, 1974, S. 46f. Diskussionen dieses „binären Aufbauprinzips“ des Daniel finden sich u. a. bei SCHMIDT, 1979, S. 105-107 und zuletzt bei OTERO VILLENA, 2007, S. 73-151, v. a. S. 103-113. 35 Vgl. MOELLEKEN, 1974, S. 46f.

341

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Es handelt sich ausschließlich um erzählerische Gesten, die den Rezitator dazu zwingen, die Fiktion zu demonstrieren ohne zu präsentieren, d. h. im jetztzeitigen Raum der Aufführung agieren zu können. Auch die Ausprägung einer zweiseitigen Deixis, die für eine spatiale Performativität sprechen würde, ist nur rudimentär ausgebildet: Das dâ (2), welches den Raum der Fiktion, und das hie (5), welches (evtl.) den Raum der Aufführung meint, sind zu weit voneinander entfernt, als dass man von einer Kontrastierung der Zeigegesten ausgehen könnte. Außerdem kann das hie lediglich im Sinne eines Verweises auf den erreichten Punkt in der Handlung verstanden werden, sodass gar keine deiktische Kontrastierung entstünde. Es ist in der Partitur also weder ein Agieren in noch mit dem Raum vorgesehen. Des Weiteren bewerkstelligt der Dichter das Verstummen des Rezitators, indem er das narrative Geschehen mono- und dialogisiert.36 Fast jede handlungsrelevante Information wird als Figurenrede vermittelt und jede Entscheidung des Helden wird in einem deliberativen Monolog getroffen. Als Beispiel für solch einen Ablauf soll hier die Aventüre vom Trüben Berge dienen: Daniel sieht den für ihn (noch) unbesiegbaren Riesen vor dem Eingang in das Land Cluse sitzen. Es folgt eine 55 Verse umfassende monologische Wiedergabe seiner Gedanken, an deren Ende er beschließt den Gegner anzugreifen. Eine weinende Jungfrau hält den Helden von diesem Entschluss ab. Er erwägt (wieder in einem Monolog) die Konsequenzen für seine Ehre, sollte er der Frau die Hilfe verweigern. Dann sagt er ihr (in direkter Rede) seine Hilfe zu. Hierauf berichtet die Jungfrau dem Ritter von ihrer misslichen Lage, wozu sich Daniel wiederum monologisch Gedanken macht, um dann der Klagenden Trost zu spenden. Die Strategie, wie der die Jungfrau bedrängende Zwerg Juran zu überwinden sei, wird in einem Dialog ausgehandelt und vor dem Kampf mit dem Zwerg findet ein langes Gespräch zwischen den Kontrahenten statt. 37 Alles in allem bestehen rund 355 der 740 Verse umfassenden Aventüre aus wörtlicher Rede. Durch diese Vielzahl von Mono- und Dialo-

36 Zur Dialogtechnik des Stricker auch vgl. HONEMANN, 1996, der das im Folgenden Dargelegte mit dem lakonischen Aufsatztitel Daniel monologisiert, der Riese berichtet, drei Damen erzählen umschreibt. 37 Vgl. DANIEL, V. 1047-1786.

342

Der mundtote Rezitator

gen ist der Rezitator ständig dazu gezwungen, für die eine oder andere Figur zu sprechen. Er ‚verschwindet‘ gewissermaßen in der Rollenrede, weil der Text es ihm versagt, seinen Körper auszuagieren.38 Das jetztzeitige Agieren wird erdrückt vom Zwang zur rollenspielerischen Demonstration. Der Zuhörer wird so, wie im Prolog angekündigt, zu einem passiven Betrachter, der den Stellvertreter der Figur und nicht den Körper des Rezitators im Auge behält. Dieser illusionistische Stil der Rollendarstellung korrespondiert mit dem Ideal des Bürgerlichen Theaters, das Unterbinden der face-to-faceKommunikation durch die ‚vierte Wand‘. Doch wenn der erste Teil des Daniel dem Bürgerlichen Theater entspricht, dann sind die Cluseschlachten... Brecht.

4.1.1.2 Lautgemetzel: Kinästhetik und sprachliche Grausamkeit in den Cluseschlachten „schtzngrmm / schtzngrmm t-t-t- / t-t-t-“ Ernst Jandl, schtzngrmm39

Die Danielkette unterbindet ein präsentes Agieren des Rezitators; im Kontrast dazu lassen sich in der Beschreibung der ersten Schlacht um Cluse40 in weniger als 850 Versen mehr als zehn teilweise längere Publikumsapostrophen finden. Insgesamt sind fast 2% der Verse diesen performativen Einwürfen zuzurechnen, beinahe zehnmal so viel wie im ersten Teil des Romans. Wie erklärt sich diese quantitative Diskrepanz, wie der eklatante Unterschied in den Präsentationsweisen der verschiedenen Handlungsteile? Ein mit der Forschung zum Daniel konform

38 Dieses Verschwinden des Rezitators in der Rolle kann auch als ein Rückgriff des Stricker auf den ‚ursprünglichen‘ Einsatz des performers gesehen werden, denn beim Vergleich der Chrétien’schen Artusromane mit ihren mittelhochdeutschen Bearbeitungen fällt auf, dass der französische Dichter wesentlich häufiger Dialogpassagen einsetzt als seine Bearbeiter. 39 Jandl, 1976, S. 38. 40 Vgl. DANIEL, V. 3072-3916. Zur Ermittlung der Zäsur zwischen Danielund Artuskette vgl. MEYER, 1994, S. 35f.

343

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

gehender Ansatz wäre es, die performativen Unterschiede mittels der vom Stricker miteinander verwobenen Gattungen zu erklären. Denn obwohl der Protagonist ein untypischer Ritter ist, der sich eher vom Handlungsmuster der list als dem der arthurischen êre leiten lässt,41 gilt: „Das Grundmuster Artus-/Aventiureroman bleibt bestimmend bis zur Cluseschlacht, wo der Königskampf den Wechsel des Gattungsparadigmas zum Rolandslied / Chanson de Geste-Paradigma bedingt.“42 Doch dieser – in der Forschung allgemein anerkannte –43 Wechsel des Gattungsparadigmas kann nicht genügen, um die divergierenden Präsentationsweisen zu erklären. Zwar unterscheiden sich – wie Justin Vollmann es nachgewiesen hat – Heldenepik und Artusroman in der Art der performativen Einschübe,44 jedoch nicht in deren Quantität. Es greift also zu kurz, den Anstieg performativer Mittel über eine Verschränkung der Gattungen erklären zu wollen. 41 Diese Feststellung kann in der Forschung zum Daniel zumindest hinsichtlich der Soloaventüren des Protagonisten als gesichert gelten. Zuletzt findet sich die These bei PINGEL, 1994, S. 121-189 und S. 252-276, MEYER, 1994, S. 58-60 und OTERO VILLENA, 2007, S. 80-91. 42 MEYER, 1994, S. 57. 43 Der Zusammenhang der Stricker’schen Schlachtenbeschreibungen mit denen des Rolandslieds bzw. mit seiner eigenen Bearbeitung des Stoffs im Karl wurde erstmals 1890 von Gustav Rosenhagen festgestellt; vgl. ROSENHAGEN, 1890. Spätestens seit Helmut de Boors Untersuchung des Daniel (vgl. DE BOOR, 1957) zählt die gattungsbezügliche Doppelgesichtigkeit des Romans zu den allgemein anerkannten Fakten; lediglich die Wertung dieses Tatbestands hat sich im Verlauf der Forschung geändert. So wurde die Zwiespältigkeit anfangs als ein stilistisches Manko des Romans angesehen, das oft mit dem pejorativen Etikett des Epigonentums einherging. Christoph Cormeau leitete eine Wende in der Betrachtung der Binarität des Romans ein, indem er die Kombination der Gattungsprinzipien von Artusroman und Chanson de Geste als eigentliche Leistung des Strickers betonte; vgl. CORMEAU, 1977, S. 21. Bis heute gilt diese Technik der Gattungshybridisierung als sinntragendes Element; vgl. u. a. MERTENS, 1998, S. 214 oder OTERO VILLENA, 2007, S. 55-64. 44 Während die Erzählereinschübe in den Gattungen quantitativ kaum zu unterscheiden sind, decken sich Vollmanns Ergebnisse zur qualitativen Differenz größtenteils mit den Aussagen der vorliegenden Studie: „Die Tradiertheit der erzählten Geschichte ist hierbei [im Artusroman im Kontrast zur Heldenepik] zwar nach wie vor gewährleistet, die Teilhabe des Publikums an der vorgängigen Erzählsituation indessen, d. h. die allgemeine Bekanntheit der erzählten Geschichte, wird zunehmend in Frage gestellt“; VOLLMANN, 2011, S. 480.

344

Lautgemetzel

Matthias Meyer stellt – einer Beobachtung Rosenhagens folgend – fest, dass der Stricker die Schlacht kontinuierlich als spil bezeichnet.45 Meyer zählt dies zu den allegorischen Zügen der Stricker’schen Schlachtenbeschreibung. Man kann spil jedoch auch weniger rhetorisch als programmatischen Begriff verstehen, der die ästhetische Wende hin zum Performativen meint. Und wirklich sind die Hinwendungen zum Publikum in der ersten Cluseschlacht in ihrer kunstfertigen Leichtigkeit äußerst ‚verspielt‘. So heißt es bezüglich der Kampfeshandlungen um einen feindlichen Riesen, den Daniel zuvor blendete: Er begunde in alsô handeln daz man in in stucken mohte ûflesen. wie kunde er danne sîn genesen? dô der blinde vâlant sô mangen gesehenden überwant, waz welt ir daz er hæte getân ob er sîn ougen möhte hân?

Er ging mit ihm [einem Ritter] derart um, dass man ihn in einzelnen Stücken auflesen konnte. Wie hätte er da mit dem Leben davonkommen können? Nachdem der blinde Teufel so viele Sehende überwand, was glaubt ihr, was er angerichtet hätte, wenn er seine Augen noch gehabt hätte?

(DANIEL, V. 3212-18)

Während es sich bei der ersten Frage noch um eine rhetorische handelt, die einer Antwort nicht bedarf, so weitet die zweite Frage ihren kommunikativen Rahmen aus, indem sie die Zuhörer bzw. deren imaginatio zu einer Vorstellung der hypothetischen Zerstörungskraft des sehenden Riesen auffordert. An der Verbildlichung dieser Szene sind also nicht nur die Stricker’schen Verse, sondern ebenso die Vorstellungskraft jedes einzelnen Rezipienten beteiligt. Das ‚Spiel‘ stellt dabei die Aufforderung zum imaginativen Überbieten des in den Versen Beschriebenen dar, wobei das Apriori, dass diese imaginierte Zerstörung gerade nicht eintrifft, die causa sine qua non des Spiels, seine Virtualität ausmacht. In diesem Fall eines imaginierbaren, doch nicht eintretenden Geschehens innerhalb eines ohnehin imaginierten Geschehens, handelt es sich sogar um eine Virtualität zweiter Stufe. Die Finesse, mit der der Zuhörer als aktives Element in den Vorgang der Fiktionsentstehung eingebunden wird, macht auch vor Wortspielen nicht halt, bspw. wenn es darum geht, Daniels Stärke im Kampf zu beschreiben: 45 Vgl. MEYER, 1994, S. 37.

345

Stimme im Raum und Bühne im Kopf er begunde freislîche smiden.

Auf grauenvolle Art begann er zu schmieden.

er smidete als ich iu sage:

Er schmiedete so, wie ich es euch sage:

im quam dehein helm ze slage

Kein Helm kam unter seinen Hieb, aus dem

er machte drûz zwêne âne gluot,

er nicht ohne Glut zwei gemacht hätte,

und wâren beide niht sô guot,

wobei die beiden nicht so gut

sô ê was der eine.

wie vorher der eine gewesen war.

nû merket waz ich meine:

Nehmt wahr, was ich damit meine:

er sluoc in enmitten enzwei.

Er schlug ihn in der Mitte entzwei.

(DANIEL, V. 3626-33)

Das Schmieden wird metaphorisch auf die Kampfeshandlung übertragen. Die Schieflage der Metapher regt dabei die ratio des Zuhörers an, die in der Erkenntnis der Unangemessenheit des Bildes (‚Schmieden‘ bezeichnet einen erschaffenden, ‚Helme-Spalten‘ einen zerstörenden Vorgang) die Pointe erarbeitet.46 Der Zuhörer wird so durch den Stil zum Mitstreiter der Schlachtenbeschreibung; die körperliche Teilhabe wird so um ihr intellektuelles Pendant erweitert.47 Ähnlich funktionieren auch Vergleiche der Kampfeshandlung mit der Hasenjagd,48 der 46 Die Konstruktion dieser Stelle weist auf die Metaphorisierung der Kampfeshandlung als Schreibvorgang voraus; vgl. DANIEL, V. 3529-47. Man achte auch auf die Wiederaufnahme des Schmiede-Motivs zu Beginn der zweiten Schlacht; vgl. DANIEL, V. 5050f. 47 Angesichts der performativen Wirkung dieses sowie der folgenden Vergleiche ist es kaum nachzuvollziehen, dass Ingrid Hahn in einer kontrastiven Analyse dieser handwerklichen Metaphern mit den im Willehalm verwendeten zu der Einschätzung gelangt, es handle sich um eine Stilistik ohne sinntragende Bedeutung (vgl. HAHN, 1985, S. 194), denn: Performative ‚Showeffekte‘ tragen durchaus zur Sinnerzeugung bei, wenn man ‚Sinn‘ nicht auf das rational erschließbare Textuelle reduziert. Einen Versuch, das Affektive der Passagen mit den Mitteln der Rhetorik zu fassen, stellt Manfred Eikelmanns Analyse dar: „Für den Stil der Erzählerrede gilt [...], daß nicht die Verdeutlichung der Handlungs- und Sinnstruktur und deren Kommentierung das Sprechen bestimmen, sondern die steigernde Reihung von extremen Einzelaspekten. Pathos und Hyperbolik zielen dabei [...] auf die affektive Anteilnahme des Zuhörers an einer die durchschnittliche Erfahrung überschreitenden Wirklichkeit“; EIKELMANN, 1989, S. 113. 48 „rehte als ein jegere / ob eines hasen legere / ûf den busch drischet / und der hase hin wischet: / alsô sluoc er ûf den man, / daz diu sêle kûme entran“ (DANIEL, V. 3645-50; ‚So wie ein Jäger / über einem Hasenbau auf den Busch schlägt, / damit der Hase aufspringt, / so schlug er auf den Mann, / sodass die Seele unter Mühen entsprang‘).

346

Lautgemetzel

Tätigkeit des Zimmermanns49 oder gar der des Arztes,50 die ebenfalls über die vom Rezipienten zu erkennende Unangemessenheit des Bildes einen humoristischen Effekt erzeugen.51 Genauso wie der imaginatio und der ratio eine (ko-)kreative Wirkung zugesprochen wird, wird den Rezipienten mit Versen wie: „dâ mohte man strîten schouwen“52 und „dâ mohte man hœren unde sehen / michel brogen [borgen] unde gelten“53 der Status von Augenbzw. Ohrenzeugen zugesprochen: Der Zuhörer wird durch die Inklusion im unspezifischen man zum Fokuspunkt der Autopsie (Wandhoff). Gleichzeitig entsteht mit diesen Versen das deiktische ‚Dort‘ als das zu Bezeugende – weshalb es auch nicht verwunderlich ist, dass andere Publikumsapostrophen im gleichen Maße das ‚Hier‘, den Raum des ‚Zeugnis-Ablegens‘ bzw. die gegenwärtig ablaufenden oder erinnerten Erzählvorgänge, betonen: 49 „er zimberte wol âne snuor. / ezn was niht wæher zimberman: / swâ er traf, dâ sluoc er an / mit grimme sîne barten“ (DANIEL, V. 3690-93; ‚Er zimmerte ohne Senkschnur. / Es gab keinen kunstfertigeren Zimmermann: / Egal wo er auf etwas traf, da schlug er / zornig seine Axt drauf‘). 50 „der künic fuorte ein salben / an beiden sînen handen / gegen den vîanden, [...] / daz was ein swert daz er truoc“ (DANIEL, V. 5638-45; ‚Eine Salbe führte der König / mit beiden Händen / gegen seine Feinde: / Das war ein Schwert, welches er trug‘). Die gleiche metaphorische Verbindung findet sich auch in Vers 5244: „ir arzenîe was der tôt“ (‚Ihre Arznei war der Tod‘). Wie Otero Villena zeigt, benutzt der Stricker diesen pharmazeutischen Vergleich auch im Karl; vgl. KARL, V. 6513-17 und OTERO VILLENA, 2007, S. 63. 51 Meyer stellt fest, dass der Stricker in den Schlachtenbeschreibungen mittels einer „allegorischen Durchdringung [...] passagenweise einen dichten und eindrucksvollen Stil“ (MEYER, 1994, S. 37) erzeugt, wobei er diese Beobachtung nicht in ihrer performativen Wirkmächtigkeit betrachtet, sondern nach den Prämissen der Schriftkultur wertet. 52 DANIEL, V. 3422; meine Hervorhebungen (‚Da konnte man ein Kämpfen sehen‘). 53 DANIEL, V. 3518f.; meine Hervorhebungen (‚Da konnte man hören und sehen / großes Verschwenden und Bezahlen‘). Es könnte sein, dass es sich bei brogen um einen Schreibfehler oder eine r-Metathese handelt. Mit einer Konjektur zu borgen kommt man zu der in ihrer Bildlichkeit schlüssigeren Übertragung ‚Da konnte man hören und sehen / großes Borgen und Entgelten‘, im Sinne von ‚Austeilen und Einstecken‘. In dieser Form wären die Verse als eine intertextuelle Anspielung auf den Iwein/Gawein-Kampf zu erkennen, der mit mehreren Variationen der gleichen Bildlichkeit arbeitet; vgl. IWEIN, V. 7147-74.

347

Stimme im Raum und Bühne im Kopf (1) dâ wart der grœste zorn [...], Da entstand der größte Zorn [...], dâvon ir ie gehôret sagen. von dem ihr jemals gehört habt. (2) iu kunde nieman gesagen Niemand könnte euch beschreiben, wie daz fiur darûz spranc. wie das Feuer daraus [den Helmen] sprang. (3) swaz uns von strîte ist geseit, Alles, was uns vom Kampf erzählt wurde, daz was hie wider ein wint. das war ein Nichts gegen dies hier. (4) als ir ê hât vernomen ...wie ihr zuvor gehört habt... (5) daz sage ich iu wie daz quam. Das erzähle ich euch, wie es dazu kam. (6) Nû muget ir gerne hœren sagen Nun könnt ihr gerne sagen hören... (7) ich sage iu rehte wie er wac. Ich sage euch aufrichtig, wie er kämpfte. (DANIEL, V. 3088-90, 3096f., 3106f., 3110, 3290, 3303 und 3339)

Durch die Häufung der Publikumsansprachen und die Offenlegung der Erzähl- und Rezeptionsvorgänge wird (ganz im Gegenteil zum Stil des ersten Romanteils) die Dualität bzw. Koexistenz der Räume evoziert, welche der Rezitator deiktisch bezeichnet: hier der Raum der Aufführung, dort der Raum der Schlacht – und im Schnittpunkt ihr munterer Vermittler. Sind diese deiktischen Räume erst etabliert, lässt sich mit ihnen arbeiten. Dementsprechend häufen sich die performativen Mittel. Der Zuhörer wird bspw. – neben seinem über die ratio ablaufenden Einbezug in die Fiktionsvermittlung als ‚Augenzeuge‘ und Teilhaber an der stilistischen Realisation der Passage – auch über eine gezielte Reizung der kinästhetischen Wahrnehmung affektiv in das fiktive Geschehen integriert. Natürlich bietet sich dazu das extrem körperliche Geschehen einer Schlacht im Stil der Chanson de Geste im besonderen Maße an: Wie eine Kamera schwenkt der Text über die kämpfenden Heere, fokussiert einen Körper, verfolgt diesen auf seinem blutigen Weg und wechselt dann zum nächsten. Die auf diese Weise Verfolgten sind Daniel,54 Artus,55 Keii,56 die Dreiergruppe Gawein/Iwein/Parzival,57 aber auch der gegnerische Riese.58 An einigen Stellen wird Artus’ ganzes Heer zum Objekt kinästhetischer Wahrnehmung, wobei stets die Bewegung einer Schar auf ein Zentrum zusammengezogen wird. Ent54 55 56 57 58

348

Vgl. DANIEL, V. 3135-45, 3372-82, 3571-3698 und 3781-3833. Vgl. DANIEL, V. 3550-3609. Vgl. DANIEL, V. 3224-3322. Vgl. DANIEL, V. 3514-49. Vgl. DANIEL, V. 3146-3223, 3323-71 und 3382-3469.

Lautgemetzel

weder ist dieser ‚Pars-pro-toto-Körper‘ der angegriffene Gegner (was erklärt, warum der Riese recht häufig fokussiert wird) oder es sind Kämpfer aus Artus’ Heer: sie hâten alle ungemüete: [...]

Sie alle hatten Verdruss: [...]

dem hundert wunden wâren geslagen,

Dem unzählige Wunden geschlagen worden

wâren sie sô kleine

waren, waren diese so unwichtig,

daz er sîn gebeine

dass er seine Knochen

dannoch ganz hæte,

noch für ganz hielt

ern wolde ûz sîner dræte

und er deswegen nicht

darumbe niht getreten.

von seiner Heftigkeit ablassen wollte.

dâ wart nieman gebeten

Niemand wurde darum gebeten,

daz er sîn vehten wolde lân,

dass er sein Fechten lassen solle,

im enwürde allr êrst getân

wenn ihm nicht zuvor mit Schwertern

mit den swerten sô wê

so viele Schmerzen zugefügt worden waren,

daz er einen slac niht mê

dass er keinen Schlag mehr

mohte geslân her wider.

zurückversetzen konnte.

sô er von dem rosse viel dâ nider,

Wenn er vom Ross herabfiel,

dannoch werte er sich ze fuoz. [...]

wehrte er sich weiter zu Fuß. [...]

Der strît stuont sô lange

Die Schlacht dauerte so lange,

unz von hitze und von gedrange

bis von der Hitze und dem Gedränge

manegem sô wê wart

manch einem so zugesetzt wurde,

daz er vorhte daz er ein vart

dass er fürchtete,

mit dem tôde müeste tuon.

mit dem Tod abgehen zu müssen.

er wart swach alsam ein huon

Er wurde schwach wie ein Huhn

und vaht doch als ein wildez swîn.

und kämpfte doch wie ein wilder Eber.

(DANIEL, V. 3470-3513)

Das gesamte Kampfgetümmel wird anhand von mehreren namenlosen Rittern exemplarisch dargestellt. Das Personalpronomen er durchzieht dabei, obwohl es jeweils einen anderen Ritter meint, wie ein festes Agens den Text und exemplifiziert so den ‚Körper‘ von Artus’ Heer. Damit wird bewerkstelligt, dass in der Cluseschlacht – im Gegensatz zu den Soloaventüren des Protagonisten – die Gemeinschaft eine besondere Rolle spielt.59 Die Beobachtung, dass das Heer bei seiner Darstellung 59 Vgl. EIKELMANN, 1989; OTERO VILLENA, 2007, S. 58-60, 73-91 und 118129.

349

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

in einzelne Körper zerfällt, scheint dem auf den ersten Blick zu widersprechen. Jedoch wird die Gemeinschaftlichkeit durch die Möglichkeit kinästhetischer Teilhabe, die die Bereitstellung eines ‚Pars-pro-totoKörpers‘ fördert, eher verstärkt – sie wird von der Fiktion in die Aufführungssituation hinein erweitert. Der Zuhörer kann sich an einen exemplarisch Handelnden binden und an seinen Bewegungen, Schmerzen und heroischen Duldungen über sein Körperschema teilhaben. Dabei wird die compassio-Logik, die der kinästhetischen Wahrnehmung innewohnt, sehr deutlich: Erst der separierte Körper, wie der des Gekreuzigten oder eines ihm nachfolgenden Märtyrers, bietet es an, am Leiden zu partizipieren und so Teil der communio zu werden. Die Separierung und Ausstellung des leidenden Einzelnen ist somit nicht das Gegenteil, sondern die Basis einer ‚Gemeinschaft im Mitleid‘. Die Gemeinschaft des Glaubens und die des literarischen Konsums sind hinsichtlich dieses einheitsstiftenden Mechanismus analog. Schlachtendarstellungen gehören zu den Gattungsspezifika der Chansons de Geste. Als hauptsächlicher Bezug der Passagen ist von der Forschung das Rolandslied des Pfaffen Konrad herausgearbeitet worden, ebenso wie des Stricker eigene Bearbeitung des Stoffs im Karl. So stellt Eikelmann eine „deutliche Affinität zu einer Reihe von Textstellen, zu Sprechweisen und Darstellungselementen des Rolandsliedes“60 fest. Eines der Erzählverfahren, das der Stricker aus den Schlachtenbeschreibungen dieses Texts übernimmt und erweitert, ist, dass er alle den Zuhörer integrierenden Techniken mit einer ausgefeilten Sprach- bzw. Lautbewegung kombiniert. So lassen sich in der Beschreibung der ersten Schlacht auffällig viele Passagen finden, in denen die Eingangslaute der Verse alliterieren, sodass mittels der Monotonie bei jedem Neuanheben der Stimme ein Laut wie ein Schlag ertönt; teilweise wird dieses Muster noch durch Binnenalliterationen verstärkt: (1) ez wære dirre oder der der dâ geviel, er was verlorn. dâ wart der grœste zorn des tages zesamen getragen dâvon ir ie gehôrtet sagen.

Es sei dieser oder der, der da hinfiel, der war verlor’n. Da wurde der größte Zorn des Tages zusammengetragen, davon ihr jemals hörtet sagen.

60 EIKELMANN, 1989, S. 108. Für eine Auflistung der Textbelege vgl. ebd., S. 111.

350

Lautgemetzel (2) die gerne wæren dannen, die enmohten vor der enge: dâ was ein solh gedrenge daz nieman kunde entwîchen. (3) er schancte einer hande tranc dâ was der twalm zuo getân. er wart es niemer erlân der es enbeiz, er müeze slâfen. daz tranc was sîn wâfen, der twalm was der tôt, der slâf daz was diu grôze nôt diu in dâ ze ligenne twanc dâ er âne sînen danc des suontages muose bîten.

Die gerne von dannen wollten, die ächzten in der Enge. Da war ein solch Gedränge, dass keiner entweichen konnte. Er schenkte eine Art von Trank, da Gift hineingemischt war, aus. Er konnte weder ein noch aus: Der ihn trank, verfiel dem Schlafe. Der Trank war seine Waffe, das Toxikum der Tod, der Schlaf, das war die große Not, die ihn zum Niederliegen zwang, da er, er wusste keinen Dank, des Tags der Sühne warten musste.

(DANIEL, V. 3086-90, 3326-29, 3656-63)

Mit strengem Metrum, Endreimen, identischen Anlauten (jeder Vers beginnt mit dem ‚d‘-Laut, außer an den Stellen, an denen ‚d‘ und ‚e‘ alternieren), Alliterationen (dirre/der/der/da in 3086f., tages/[ge]tragen in 3089, enmochten/enge in 3327, tranc/ twalm/tot/twanc in 3660-63) und chiastischen Anlautvertauschungen ([ze]samen getragen / gehoret sagen in 3089f.) wird die lautliche Seite der Sprache zum Träger einer Bewegung. Der Zuhörer wird von ihr ‚attackiert‘ und zum Objekt der ‚Grausamkeit‘ (Artaud), die auf zwei Ebenen – im Raum der Fiktion in der Schlacht, im Raum der Aufführung in der Sprache – ausgeübt wird. Im Rolandslied wird die Technik der identischen Anlaute ebenfalls häufig zur Rhythmisierung der Verse genutzt.61 In den Schlachtenbeschreibungen wird an auffällig vielen Stellen der ‚d‘-Laut (seltener der ‚s‘-Laut) über eine Spanne von mindestens vier Versen62 verwendet.63

61 Die versischen Binnenphänomene könnten generell als ein Gattungsspezifikum der deutsch- und französischsprachigen Heldenepik gelten. Eine der ältesten möglichen Herkünfte und gleichzeitig die Tradition, die zu den artifiziellsten Ausprägungen führt, stellen die Alliterations- und Stabreimmuster der walisischen cynghanedd-Schemata dar; vgl. HOPWOOD, 2004. 62 Methodisch ist es an dieser Stelle nötig, nach subjektivem Empfinden eine Grenze zwischen Zufall und Konstruktion zu setzen. Ich nehme die Setzung derart vor, dass bei allen Anlautkonstruktionen, die weniger als vier Verse umfassen, nicht von einer gezielten Lautkonstruktion auszugehen ist.

351

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Selten kombiniert der Dichter die Versanlaute mit Binnenalliterationen64 und nur einmal arbeitet er mit gezielten Wortwiederholungen.65 Es kann somit festgestellt werden, dass im Rolandslied die wohl einfachste Form der lautlichen Komposition über den Versanlaut viel häufiger eingesetzt wird als im Daniel, dass der Stricker sie aber in kunstfertiger Art und Weise mit anderen lautlichen Elementen kombiniert, die beim Pfaffen Konrad nicht zu finden sind. Kompositorisch übertrifft der Stricker seine Vorlage also bei Weitem. Am Höhepunkt der (Laut-)Schlacht wird die Alliterationstechnik zusätzlich um Anaphern, Parallelismen und ausschweifende Amplifikatio-Konstruktionen erweitert: hei! wie man dâ lebte! wie ieclîcher strebte daz er dâ ruom erwürbe. ich wæne dâ menger stürbe der sich es vil lützel versach. waz dâ ze sagene geschach daz ê was vil unkunt! dâ wart manger ungesunt, dâ wart manger erslagen, dâ wart manger zeinem zagen, manger küene als ein swîn, dâ tet manger sînen zorn schîn. [...] dâ was hart wider hart, dâ was starc wider starc, dâ was karc wider karc. [...] die lenger herten kunden, die von der Tavelrunden, des küniges Artûs geverten, die sach man für sich herten, die buten vaste den tôt. dâ was allez nôt über nôt. [...]

Hei! Wie man da lebte! Wie ein jeder danach strebte, dort seinen Ruhm zu erwerben. Ich denke, da musste mancher sterben, der hatte dies nicht vorgesehen. Was Sagenswertes dort geschehen, das wurde noch nie erzählt – bis jetzt! Da wurde mancher verletzt, da wurde mancher erschlagen, da wurde mancher zu einem Zagen, mancher wie ein Schwein im Mut, da zeigte mancher seine Wut. [...] Da stand hart wider hart, da stand stark wider stark, da stand karg wider karg. [...] Die da schlugen manche Wunde, die da von der Tafelrunde, des Königs Artus’ Gefährten, die sah man sich verstärken, die boten überall den Tod. Da gab es Not und nochmals Not. [...]

63 Vgl. u. a. ROLAND, V. 4152-56, 4292-4300, 4409-17, 4438-43, 4637-41, 4735-62, 5126-33, 5188-94, 5319-25, 5356-66, 5399-5404, et passim. 64 Vgl. ROLAND, V. 4385-90 und 5291-95. 65 Gemeint ist die Wiederholung von hiute in ROLAND, V. 5264-77, wobei es sich dabei nicht um ein Stilmittel der Schlachtenbeschreibung, sondern um ein rhetorisches Mittel in der Rede des Bischofs Turpin handelt.

352

Lautgemetzel die des tages wâren gezalt, er wære junc oder alt, er wære swach oder starc, er wære milte oder karc, er wære gewâfent oder bloz, er wære wênic oder grôz, er wære kurz oder lanc, er wære swarz oder blanc, er wære tump oder wîs, er hæte laster oder prîs, er wære lugenære oder wârhaft, küene oder zaghaft, er wære snel oder laz, ez wart ir keinem erboten baz, er wære herre oder kneht, wan daz sie daz selbe reht allesament enpfiengen und des niht engiengen, sie müesten den tôt erkunnen.

Die bekamen Tagessold alsbald, er sei jung oder alt, er sei schwach oder stark, er sei großzügig oder karg, er sei gerüstet oder bloß, er sei gering oder groß, er sei kurz oder lang, er sei schwarz oder blank, er sei tumb oder weise, er hätte Makel oder Preise, er sei Lügner oder ehrlich, feig’ oder gefährlich, er sei munter oder marod’, er bekam das gleiche Angebot, er sei Herr oder Knecht, denn demselben Recht mussten sie alle unterstehen, und konnten dem nicht entgehen: Sie lernten den Tod kennen.

(DANIEL, V. 5175-5265)

In der Schlacht folgt Schlag auf Schlag, in der Aufführung Laut auf Laut. Die Onomatopöie wird so stark forciert, dass eine inhaltliche Interpretation der Verse zwar möglich ist, jedoch zu völlig anderen Ergebnissen führt, als eine Konzentration auf ihre affektive Wirkung. So interpretiert Eikelmann diese Passage wie folgt: „Gerade auch weil die am Ende monotone Aufzählung ausdrücklich auf das Wollen und Handeln Daniels, des König Artus und aller seiner Ritter bezogen ist (vgl. Dan. 5233-5243), vergegenwärtigt der Text mit besonderer Deutlichkeit, daß die Realität des Krieges Wertorientierungen und Ordnungskriterien, die sonst die Basis arthurisch-ritterlicher Verhaltensformen bilden, verdrängt: Unterschiede wie die zwischen milte und karc, gewâfent und blôz, laster und prîs, herre und knecht sind als reglementierende Größen nivelliert. [...] Offensichtlich gezielt forciert der Stricker den Gegensatz zum Darstellungsmodus des Artusromans

353

Stimme im Raum und Bühne im Kopf und führt in Reihung und Übersteigerung von Negativaspekten die Distanz des Geschehens zur arthurischen Wertewelt vor Augen.“66

Bei einer Beschränkung auf die Semantik ist dies eine passende Interpretation; beachtet man jedoch, dass die Passage performativ darauf hinarbeitet, den Zuhörer körperlich in eine kinästhetisch teilhabende Position zu bringen, erscheint die ‚Reihung von Negativaspekten‘ eher als ‚Sensations-Fluxus‘ und die Schlacht nicht in einem negativen Licht, sondern als Spektakel. Ob dieser Widerspruch zwischen prädikativer und vorprädikativer Wirkweise vom Stricker gezielt angelegt wurde und ob der rational-moralischen oder der antirational-affektiven Lesart des Texts größeres Gewicht zugemessen wird, ist einzig der subjektiven Gewichtung des jeweiligen Rezipienten/Interpreten überlassen, da jegliche explizite Kritik am Verhalten der Artusritter fehlt. 67 Losgelöst aus ihrem Textzusammenhang ließen sich auch die zwei folgenden metaphorischen Konstruktionen als implizite Kritik am Kriegsgeschehen lesen: (1) dâ wart beidiu antwurt und gruoz Da wurden Antwort wie Begrüßung mit den swerten gegeben.

mit den Schwertern gegeben.

daz gie mangem an daz leben.

Das ging vielen an das Leben.

(2) dâ enwas dehein schelten, swie lützel man dâ vertruoc.68

Da gab es kein Schelten, wie wenig man sich da auch nachsah.

diz was doch wunders genuoc,

Das war doch recht verwunderlich,

swaz einer des andern engalt,

dass egal, was einer dem anderen vergalt,

daz ern mit worten niht enschalt; er dafür nicht wörtlich gescholten wurde. er schalten aber mit dem swerte

Er schalt ihn dagegen mit dem Schwert,

unz daz er in gewerte

bis dass [d]er ihm einen Teil dessen,

ein teil sînes willen.

was er wollte, gewährte.

(DANIEL, V. 3504-06, 3520-27)

66 EIKELMANN, 1989, S. 113. 67 Vgl. ebd., S. 114. 68 Gegenüber der Textausgabe ist die Interpunktion der Verse 3520f. geändert. Letztlich sind beide Interpunktionen möglich, handelt es sich bei dem Vers doch um ein Zeugma, dessen Auflösung dem interpretierenden Vortrag des Rezitators obliegt.

354

Lautgemetzel

Beide Stellen betonen als Charakteristikum der Schlacht ihre ‚Wortlosigkeit‘. Moralisierend gedeutet heißt dies: Dort, wo der gemeinschaftsund friedensstiftende Artushof von seiner Disposition her zum Schweigen verurteilt ist, bleibt nur die kriegerische Auseinandersetzung, die ‚wortlose‘ Gewalt;69 diese ersetzt den politischen Dialog und kulminiert in einer jede Kommunikation negierenden Handlung: Daniel löst den ohrenbetäubenden Schrei des Wundertiers aus – eine sirenenartige Warnvorrichtung des Landes Cluse, die zweckentfremdet und in seiner Signalfunktion pervertiert wird. So setzt er das gegnerische Heer außer Kraft – die Humanität der Sprache bzw. die warnende Funktion des kulturell kodierten Signals verkehrt sich zur zerstörerischen Macht des Geräuschs. Oder, formuliert in Bezug auf die Vorlage des Stricker zur Schlachtenbeschreibung: Wo Roland in der finalen Schlacht das Signal, den Stoß in das Horn Olifant, verweigerte und dadurch heroisch unterlag, lässt der Stricker seinen Helden das Signal im Geräusch ersticken und so listenreich (doch unheroisch) gewinnen. Im so proklamierten Sieg des Anti-Kommunikativen ist die Cluseschlacht als bewusstes Gegenkonstrukt zum Dialogischen der ‚Danielkette‘ zu sehen. Was diese moralische Lesart jedoch nicht mit einbezieht, ist, dass die auf die Konstatierung der Wortlosigkeit folgenden Verse die ‚kommunikative‘ Bildlichkeit der Schlacht um ein entscheidendes Element erweitern: Der künic Artûs dranc hin

Der König Artus stieß vor

mit den besten rittern drin.

mit den drei besten Rittern.

daz was sîn neve her Gâwein

Das waren sein Neffe, Herr Gawein,

und der edel ritter Iwein,

der edle Ritter Iwein

darzuo der helt Parzivâl.

und Parzival, der Held.

sie entwurfen seltsæniu mâl:

Sie schufen wunderliche Male:

swer ir einez enpfie,

Wer auch immer eins davon erhielt,

dem ez niht anders vergie

dem konnte es anders nicht schwinden,

wan daz er den lîp verlôs [...].

als dass er das Leben verlor [...].

si wâren alle viere

Sie waren alle Vier

tiurlîche schrîbære.

ausgezeichnete Schreiber.

69 Vgl. EIKELMANN, 1989, S. 126.

355

Stimme im Raum und Bühne im Kopf ir griffel wâren swære,

Ihre Griffel waren schwer

sie schriben soliche buochstabe

und sie schrieben solche Buchstaben,

daz sie niemer nieman abe

die niemand jemals abwaschen

mohte gewaschen noch geschaben.

noch -schaben konnte.

(DANIEL, V. 3529-47)

Bei einer das Mediale fokussierenden Interpretation liest sich das Bild wie folgt: Artus und die drei besten Ritter seines Hofs, jeder von ihnen der Protagonist eines anderen höfischen Romans, schreiben ihre Schwerthiebe in die Körper der Gegner ein, so wie die Dichter der jeweiligen Romane ihre Worte erst auf das Pergament und dann in die Körper der Zuhörer einschreiben. Die Wortlosigkeit der Schlacht wird also kombiniert mit einem Vergleich, der die inkorporierende Wirkung des Schreibens als ein Ein-Schreiben verbildlicht, dem die vom Skriptor bearbeitete Tierhaut gleichbedeutend ist mit der Menschenhaut des Rezipienten. Wie sehr der Stricker das Bild auf die Inskriptionstechnik zudenkt wird deutlich, wenn man es mit ähnlichen Metaphern aus anderen höfischen Romanen vergleicht. In der Première Continuation heißt es: An l’escu monseignor Gauwain

Auf den Schild des Herrn Gauwain

A fait sa lance son chemin

nahm seine Lanze den Weg,

Ausint con seur viez parchemin,

wie eine Feder auf altes Pergament,

S’am passa outre maintenant.

und fuhr hindurch;

Mais le haubert trova tenant,

sie fand jedoch den Panzer fest und hart

Si ne pot pas outre passer [...].

und kam nicht weiter [...].70

(CONTIN., E, V. 2304-09)

Auch hier wird eine Kampfeshandlung mit dem Schreibvorgang verglichen. Was jedoch im Gegensatz zum Stricker’schen Vergleich fehlt, ist das ‚Eindringen‘ des Schreibvorgangs bzw. -geräts in den Körper; es fehlt die metaphorische Überblendung von Pergament und Menschenhaut. Dem Chrétien-Fortsetzer ging es also weniger um ein mediales Statement als um eine materielle Veranschaulichung der Durchschlagskraft der Lanze.

70 Übersetzung: SANDKÜHLER II, S. 30.

356

Lautgemetzel

Ähnliches findet man im Parzival. Dort wird die Zerstörungswut von griechischem Feuer in der Schlacht vor Pelrapeire mit dem Bild beschrieben, dass die hölzernen Belagerungsgeräte „kundez fiwer hin dan wol schaben“.71 Wolfram setzt metaphorisch den Vorgang des Abschabens der Schrift vom Pergament mittels eines Radiermessers dem Hinfortfegen des gegnerischen Kriegsgeräts gleich. Im Gegensatz zum Stricker wird dem kriegerischen Treiben jedoch nicht das Einschreiben, sondern das Auslöschen von Schrift (und des durch sie gesicherten kulturellen Gedächtnisses) gleichgesetzt.72 Der poetologische Gehalt des Verses zielt nicht auf die Immaterialität des Vermittlungsvorgangs, sondern auf die Materialität von Schrift: Die in Tinte geschriebenen Signifikanten für die Belagerungsgeräte sind auf dem Pergament auslöschbar wie die fiktiven Signifikate auf dem Schlachtfeld. Die Bildfelder der Metapher fallen zusammen in der schon beim Stricker beobachteten Betonung der ‚Wortlosigkeit‘; bei Wolfram jedoch in einer materiell-skripturalen. Mittels der gleichen konzeptuellen Materialität, jedoch schon mit der metaphorischen Verschränkung von Pergament und Menschenhaut findet sich eine Variante dieser Bildlichkeit bei der Beschreibung des Schwarz/Weiß-Kontrasts von Feirefiz’ Gesicht: „als ein geschriben permint, / swarz und blanc her unde dâ“.73 Auch hier ist die metaphorische Verbindung von Haut und Pergament programmatisch, beschreibt Wolfram doch so nicht nur seine Figur, sondern auch – in metafiktionaler Analogie – das ‚Material‘, das der Rezitator vor sich liegen hat: das Manuskript des Parzival, dessen Inhalt als ‚elsternfarben‘, d. h. als Mischung aus (moralisch) Gutem und Bösem erscheint. Doch ebenso wie bei Feirefiz die Mischung von Gut und Böse nur äußerlich ist, stellt sie auch beim Pergament nur die Oberfläche dar, die erst in der Rezeption ihren wirklichen Charakter entfaltet.

71 PARZIVAL, V. 206,4; KNECHT-Übersetzung: „[D]as [Belagerungsgerät] schabte dies Feuer wie ein Radiermesser einfach weg“. 72 Auf eine ähnliche Weise thematisiert Konrad von Heimesfurt in Urstende das Abschaben einzelner Wörter oder Zeilen. Auch für diese Fundstelle ist im Gegensatz zum Stricker festzustellen, dass sich die Einwirkung (wie bei Wolfram) auf die Schrift und ebenfalls auf deren Auslöschung und nicht auf ihre Inskription bezieht; vgl. WOLF, 2008, S. 292. 73 PARZIVAL, V. 747,26f. (‚wie ein beschriebens Pergament, / schwarz und weißes Hin und Her‘).

357

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Der Gedanke des verletzenden und somit inskribierenden Wortes und seiner Verwirklichung in der Rezeption findet sich schließlich auch im so genannten Bogengleichnis. Die Erzählung, in diesem Fall die schriftlich fixierte Partitur, wird dort mit der Bogensehne gleichgesetzt: swer den bogen gespannen siht,

Wer einen gespannten Bogen sieht,

der senewen er der slehte giht,

wird die Sehne als das Gerade bezeichnen,

man welle si zer biuge erdenen

es sei denn, man würde sie zur Beuge ziehen,

sô si den schuz muoz menen.

wenn sie den Schuss von sich schnellen muss.

swer aber dem sîn mære schiuzet,

Wer aber auf den da seine Erzählung schösse,

des in durch nôt verdriuzet:

das würde ihn nur sinnlos langweilen:

wan daz hât dâ ninder stat,

Denn das hat dort überhaupt kein Bleiben,

und vil gerûmeclîchen pfat

nur eine geräumige Straße

zeinem ôren in, zem andern für.

zum einen Ohr hinein, zum anderen hinaus.

(PARZIVAL, V. 241,17-25)

Wolfram erzeugt durch eine Doppelbelegung der Pronomen ein äußerst komplexes Gleichnis: Das ‚si‘ in 241,19 meint gleichzeitig die bildliche Sehne wie die verbildlichte Handlung; genauso meint das ‚daz‘ in 241,23 ebenso das Geschoss wie die (performativ umgesetzte) Erzählung. Wo das Symbol und das Symbolisierte pronominal zusammenfallen, scheinen mir hingegen die Medialitäten deutlich voneinander getrennt zu sein: Im Gegensatz zum abgeschabten Kriegsgerät/Schriftzeichen und im Gegensatz zu Feirefiz’ pergamentenem Gesicht wird im Bogengleichnis die schriftlich konzipierte und performativ verwirklichte Erzählung kontrastiert. Der tihtære (Dichter/Diktierende) Wolfram muss die histoire zum discours beugen, also ‚krumm schreiben‘ wie eine gespannte Bogensehne, sodass später die von der Partitur abgeschossene, d. h. vorgetragene Erzählung den Zuhörer ‚verletzen‘ kann.74 Wolfram stellt die Fähigkeit des Verletzt-Werdens als etwas Positives da, indem er vom schlechten Zuhörer schreibt, dem die Erzählung pfeilgleich zum einen Ohr hinein und zum anderen hinausfliegt, ohne dass sie auf Widerstand stoße bzw. ohne dass der Vorgang der Inskrip-

74 Über die Auffassung von schriftlich abgefasster Partitur und Vortrag als differente Medialitäten der Erzählung löst sich auch der „logische[] Knick“, den Bumke am Bogengleichnis feststellt; vgl. BUMKE, 1997, S. 133; vgl. dazu auch SCHIROK, 1986.

358

Lautgemetzel

tion stattfinden könnte. Wolfram bezeichnet diesen schlechten Zuhörer nicht direkt, sondern belässt es bei einem unspezifischen „swer […] dem sîn mære schiuzet“. So ermöglicht er es einem Rezitator, die Verse in der Aufführung auf einen Anwesenden im Publikum ‚abzuschießen‘ und so einen humoristischen Effekt zu erzielen: Die Verse sind in ihrer programmatischen Darstellung wie in ihrer performativen Anwendbarkeit Pfeile. Während Wolfram Semantik und Lautlichkeit im Begriff ‚mære‘ zusammenfallen lässt und so nur die positiven Aspekte der sprachlichen Verletzung diskursiviert, ist im Bild des Stricker ein verstärkt ambivalenter Umgang mit den beiden Seiten der Sprache zu entdecken. Dort, wo die Semantik der Sprache entmachtet wird (‚Wortlosigkeit‘), bleiben nur die Hiebe der Ritter bzw. Laute der Sprache (‚Grausamkeit‘), die nicht kommunizieren, sondern ohne Sinngehalt verletzen. Diese Verletzungen kulminieren in dem übermächtigen Schrei des Tiers, der den Gegnern – analog zu Wolframs Bildlichkeit – „durch das houbet schôz“.75 Das Stricker’sche Bild der tiurlîche[n] schrîbære stellt eine Abhängigkeit von lautlicher Grausamkeit und dem Schreibvorgang (und nicht der Sprechhandlung) her. Er betont so, dass die Schrift die Quelle der Lautangriffe sein muss: Erst da, wo die Hiebe/Laute auf der Schrift basieren, führen sie zum Ziel. Dies bedeutet, dass der Rezitator lediglich das Sprachorgan der Schrift sein sollte, das durch Verwirklichung des vom Dichter konzipierten, latenten lautlichen Potenzials das Publikum affektiv erregt. Um zu ‚siegen‘ muss der Rezitator sich der Schrift, dem Machtinstrument des Dichters, unterwerfen – deren Lautlichkeit jedoch kreativ (als Geschoss) verwirklichen. In dieser Aussage fallen die gattungsspezifisch wie performativ differierenden Teile des Daniel wieder zusammen: Das anti-performative Erzählverfahren des ersten Romanteils findet im performativen Erzählen der Cluseschlacht zu einer medialen Aussage, die den textorientiert, eher repräsentativ als präsent agierenden Rezitator als Ideal der Fiktionsvermittlung darstellt. Wie die Nadel des Plattenspielers hat er den schwarzen Zeilen, der textuellen ‚Rille‘ zu folgen, um sie Laut werden zu lassen. Die Raumverschaltung, die im Daniel angestrebt wird, ist eine, die den Rezitator als Schnittstelle von ‚Aufführung‘ und ‚Fiktion‘ 75 DANIEL, V. 5768 (‚durch den Kopf schoss‘).

359

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

dadurch entkräftet, dass ihn die lautliche Latenz der Partitur in dieser Funktion ersetzt. Sein Freiraum eröffnet sich jedoch in der Aktivierung dieser Latenz, d. h. in der spezifischen ‚Färbung‘ der vorprädikativen Wirkweisen.

4.1.2 Das Festmahl als Schnittstelle der Verschaltung „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Bertolt Brecht, Dreigroschenoper76

Der komponierte lautliche Angriff auf den Zuhörer kann zur Untermalung jeder Art von fiktionaler Situation angesteuert werden; die Schlachtenbeschreibung des letzten Kapitels eignet sich aufgrund der Körperlichkeit des Geschehens besonders gut zur Veranschaulichung. Prinzipiell ist das Verhältnis von fiktivem Raum und Aufführungsraum bei dieser Art der Verschaltung jedoch arbiträr. Das genaue Gegenteil stellt der zuvor behandelte Verweis auf den Wildenberger Kamin im Parzival dar: Die deiktische Sprechhandlung verschaltet dort einen spezifischen fiktionalen Raum (Munsalvæsche) mit einem spezifischen Aufführungsraum (Burg Wildenberg). Der performative Akt setzt die Räume in ein 1:1-Verhältnis. Nun hat die konkrete Deixis den Nachteil, dass der illusionistische Effekt der Raumverschaltung nur an einem konkreten Ort funktionieren kann; schon bei einer Aufführung des Parzival auf einer anderen als der Burg Wildenberg kann der Verweis auf den Kamin nicht mehr problemlos funktionieren. Darum ist es für ein performatives Gelingen der höfischen Romane wichtig, fiktionale Konstellationen zu schaffen, die generell auf eine Aufführungssituation verweisen; nicht auf eine spezielle, sondern auf den kleinsten gemeinsamen Nenner aller performativen Romanumsetzungen. Im Folgenden sollen solche Konstellationen als ‚unspezifische Schnittstellen‘ bezeichnet werden.77 76 Brecht, 1968, S. 69. 77 Ich werde als Beispiel für unspezifische Schnittstellen im Folgenden vor allem das Festmahl in den Blick nehmen. Jedoch kann man auch bei vielen anderen narrativen Settings, in denen das (Vor-)Lesen respektive dessen Situierung thematisiert wird, solche vermuten. Für weitere Beispiele verweise ich deshalb auf den 2001 von LUDGER LIEB und STEPHAN MÜLLER

360

Das Festmahl als Schnittstelle der Verschaltung

Es ist bekannt, dass der Romanvortrag Teil des höfischen Festprotokolls war und meist während oder nach dem streng reglementierten Festmahl stattfand.78 Ist es also erstaunlich, dass auch fast jeder Artusroman mit einem Fest beginnt? Eine Einfühlung in die fiktionale Welt und deren Figuren wird durch ein Parallelisieren von Aufführungs- und fiktivem Raum erleichtert: So wie am Artushof während eines Fests erzählt wird, setzt auch in der Realität der Vortrag des Romans im Rahmen eines Fests ein. Der ‚Erzähleinsatz mit Erzählung‘ erzeugt einen Berührungspunkt von Artus- und realer Gesellschaft. Diese ‚unspezifische Schnittstelle‘ hatte im 12. Jahrhundert schon Tradition, eine Tradition jedoch, deren Linie sich nicht aufgrund textueller Verwandtschaften, sondern mittels äquivalenter Riten in vergleichbaren medialen Systemen erklären lässt: Homer, dessen Odyssee im 12./13. Jahrhundert in den deutsch- und französischsprachigen Gebieten aller Wahrscheinlichkeit nach (als Text) nicht bekannt war, nutzt den ‚Erzähleinsatz mit Erzählung‘ an äußerst markanter Stelle. Nausikaa, Tochter Alkinoos, des Königs der Phaiaken, findet am Strand einen nackten Schiffbrüchigen. Im Palast lässt ihr Vater den Unbekannten aufs Beste bewirten.79 Während des Gastmahls trägt der Aoide80 Demodokos Lieder vor, u. a. vom Untergang Trojas durch die List des Odysseus.81 Nachdem der Schiffbrüchige sich durch seine Tränen als

78

79 80

81

herausgegebenen Band Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter. Das Hauptargument für die Situierung des Romanvortrags während des Mahls ist eine Analogisierung der Lesegewohnheiten des Hofes mit denen der monastischen Sphäre: „Diese Form [das reproduzierende Vorlesen oder memorierte Vortragen eines schriftlich fixierten Texts vor Hofe] hat ihre Entsprechung in der collatio ad mensam, der Tischlesung, wie sie in kirchlichen Gemeinschaften, aber wohl auch an den Fürstenhöfen üblich war“; MERTENS, 1996, S. 361; für eine weitere Positionierung des Vortrags nach dem Mahl vgl. BUMKE, 1990, S. 35f. Vgl. ODYSSEE, Ges. 6f. ‚Rhapsode‘ meint einen Sänger, der auf textueller Basis vortrug. Da Odysseus‫ ތ‬Taten zu dem Zeitpunkt seines Eintreffens bei Alkinoos noch nicht als verschriftlicht imaginiert werden können, muss es sich bei Demodokos um einen ‚Aoiden‘, also einen Sänger der Oralität handeln. Die Verschaltung des Aoiden mit dem Homers Text vortragenden Rhapsoden lässt sich also auch als eine Homogenisierung von Oralität und Performativität lesen. Vgl. ODYSSEE, Ges. 8.

361

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

ebendieser zu erkennen gegeben hat, setzt er die vom Aoiden begonnene Geschichte seiner Irrfahrt selbst fort.82 An dieser Stelle wird durch die Verschaltung des realen Raums, in dem ein realer Rhapsode Homers Epos singt, und des fiktiven Festsaals des Alkinoos, in dem erst der fiktive Aoide und dann der Held selbst erzählen, erreicht, dass im Ereignis des Festmahls Fiktion und Aufführung zusammenfallen. Der gütige König Alkinoos entspricht so dem jeweiligen realen Gastgeber, Demodokos und später Odysseus dem jeweiligen Rhapsoden der Homer’schen Hexameter. Dabei mindert sich der Abstand von Alkinoos‫ ތ‬Hof zum Geschehen um Troja: Erst trägt Demodokos im Gestus des ‚Bezeugens‘ vor, dann setzt der Bericht des wahren ‚Augenzeugen‘ Odysseus ein. Parallel dazu mindert sich der Abstand der realen Zuhörerschaft zur Fiktion: Erst trägt der Rezitator als neutraler Vermittler, dann rollenspielerisch aus der Perspektive des Odysseus vor. Die mediale Distanz wird so schrittweise verkürzt und nähert sich dem Ideal des durch ‚compassionale‘ Teilhabe bezeugenden Rezipienten an. Diese Konstellation gelangt von der griechischen in die römische Erzählkultur; von dort finden die Spuren des narrativ-performativen Rituals über Heinrichs von Veldeke Übertragung der französischen Bearbeitung der Vergil’schen Aeneis (Roman d’Eneas) Einzug in die deutschsprachige höfische Literatur des 12. Jahrhunderts. Bei Heinrichs Roman steht am Anfang statt des Fests der Krieg. Als Eneas jedoch, bereits in Italien, zur Verstärkung seines Heers zum König Euander reist, trifft er ihn und seinen Hof außerhalb der Tore seiner Stadt bei den Festivitäten zum Jahrestag einer Heldentat des Herkules an. Als die Trojaner zum Festmahl geladen werden, sorgt Eneas für das Unterhaltungsprogramm: Dô si gnûch ze mâzen

Als sie überreichlich

getrunken unde gâzen

getrunken und gegessen hatten,

alles des in lieb was,

von allem, was ihnen schmeckte,

dô sande Ênêas

da schickte Eneas

nâch sînem spileman.

nach seinem Spielleiter.

einer frouden her began,

Er begann eine Darbietung,

des her was berâten.

wie er es [am besten] verstand.

82 Vgl. ODYSSEE, ab Ges. 9.

362

Das Festmahl als Schnittstelle der Verschaltung her gebôt daz si tâten

Er befahl, dass sie

ir trôische spil

ihre zahlreichen und fremdartigen

seltsâne unde vil,

trojanischen Spiele vorführten,

des man dâ niht enphlach.

wovon man dort nichts kannte.

daz hôrde gerne und gesach

Das hörte und sah

der kunich Êvander

der König Euander

und manich man ander.

und manch anderer Mann gerne.

dô wart uber al geboten,

Da ging das allgemeine Gebot aus,

daz si opherden ir goten

dass ihren Göttern geopfert werden solle,

zêren und ze holden,

um sie zu ehren und geneigt zu machen,

daz si in des solden

dass sie ihnen [den Trojanern] dabei helfen

helfen unde gunnen,

und es ihnen vergelten sollten,

daz si zir wunnen

dass sie zu ihrem Vergnügen

sô seltsâner spile

so wundersame Spiele

vernomen heten alsô vile. [...]

in solcher Zahl vernommen hatten. [...]

dô si heten getân

Als sie ihre Spiele nach ihrem Brauch

ir spil nâch ir siten,

aufgeführt hatten,

zû der borch si dô riten

ritten sie, der König

der kunich unde Ênêas [...],

und Eneas, zur Stadt [...],

do genande Êvander mit namen

da nannte Euander seinen Gast

Ênêam sînen gast.

Eneas beim Namen.

(ENEAS, V. 6209-41)

Heinrich hält sich eng an seine französische Vorlage. 83 Worum es sich bei den trôischen spil handelt, ist jedoch im mittelhochdeutschen wie im altfranzösischen Text unklar; bei Vergil sind sie in dieser Form nicht vorhanden.84 Es ist nicht einmal sicher, ob an den Spielen ein Mensch oder mehrere beteiligt sind. In V. 6212-15 steht der spileman im Singular, in den darauf folgenden Versen ist von mehreren Beteiligten die Rede. In der obigen Übertragung wird der Wechsel vom Singular zum Plural so interpretiert, dass es sich bei dem spileman um den Koordinator einer Darbietung mit mehreren Akteuren handelt, weswegen auch die Übertragung mit dem vielfach verklärten (nhd.) ‚Spielmann‘85 gemieden wird. Dies deckt sich mit der entsprechenden Stelle im Roman 83 Vgl. RDE, V. 4779-4802. 84 Vgl. Vergil, 1958, XIII, V. 97-368. 85 Siehe Kapitel 2.1.

363

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

d’Eneas, an welcher der Protagonist nach einem chevalier (Ritter) ruft, der sich um die Koordination kümmern solle.86 In der Beschreibung der Rezeption durch König Euander und seine Männer lässt sich dem deutschen Text ablesen, dass es sich bei den spil nicht um bloße „Kunststücke“87 im Sinne akrobatischer Einlagen handelt, da es heißt, dass der König die Darbietung höre und sehe; auch das in Vers 6230 verwendete Verb (mhd.) vernemen deutet in diese Richtung. Außerdem fügt sich das spil nahtlos in die rituelle Verehrung des Herkules ein, mit dem Euanders Hof beim Eintreffen der Trojaner beschäftigt ist. Zu diesem Ehrenfest gehört die Götteranrufung, die die rituelle Klammer schließt. Dementsprechend kann man in den ‚Trojanischen Spielen‘ Heinrich’scher Prägung eine teils literarische, teils akrobatische, teils theatrale und teils rituelle, der Helden- und Götterverehrung verwandte Darbietungsform erkennen. Die Verbindung zu der von Homer konstruierten Szene stellt sich durch den Effekt ein, den die Darbietung auf den König Euander hat: Nachdem die Unterhaltung stattgefunden hat, reitet man zur Stadt des Königs und dort ‚nennt Euander seinen Gast Eneas beim Namen‘. Obwohl auch der französische Text die Situation des Heimritts beschreibt, ist diese merkwürdige Formulierung nur bei Heinrich zu finden.88 Sie steht grundlegendend im Kontrast zur Handlungslogik. Eneas hat sich zu diesem Zeitpunkt schon längst dem König vorgestellt und Euander hatte darauf ihre gemeinsame Vorgeschichte nacherzählt bzw. – für den Zuhörer – reaktualisiert.89 Warum also dieses vehement betonte ‚BeimNamen-Nennen‘, eine Zuschreibung von Identität, die eigentlich schon stattgefunden hat? Heinrich exemplifiziert mit diesem Kunstgriff eine identitätsstiftende Funktion der performativen Darbietung, die wie bei Odysseus dazu führt, dass Eneas’ Identität abermals (an-)erkannt wird und in der Wiedergabe des Geschehens durch den Protagonisten selbst mündet: der kunech Êvander dô bat

Der König Euander bat da

Ênêam den Troiân,

den Trojaner Eneas,

86 87 88 89

364

Vgl. RDE, V. 4780. So übersetzt KARTSCHOKE. Vgl. RDE, V. 4790-4802. Vgl. ENEAS, V. 6119-59.

Das Festmahl als Schnittstelle der Verschaltung dem her êre hete getân,

dem er Ehre hatte angedeihen lassen,

daz her im sagete mâre,

dass er ihm die Geschichte erzähle,

wie daz komen wâre,

wie es möglich gewesen war,

daz man Troie mohte gewinnen,

dass man Troja hatte einnehmen können,

sô vile sô sie dar inne

obwohl sie da drinnen so viele

heten gûter knehte.

gute Krieger gehabt hatten.

dô sageterz ime rehte

Da erzählte er es ihm genau,

unde wiez von êrist quam

wie es begonnen hatte

unde wiez allez ende nam

und wie es sein Ende nahm,

al die rehten wârheit.

alles der Wahrheit entsprechend.

(ENEAS, V. 6244-55)

Die Darstellung der trôischen spil verdeutlicht, dass die Identifikationsstiftung über mâre nur im entsprechend festlichen Rahmen, d. h. vor Zeugen funktionieren kann. Durch ein Aufschwellen der französischen Quelle wird die Rezeptionskonstellation extra zu diesen Zweck kreiert: „[I]n the Roman d’Eneas the investiture seems to be a more intimate affair [...]; Veldeke makes the ceremony into a splendid occasion, with people gathering in large numbers at the King’s bidding“:90 Die Identitätszuschreibung über performative Handlungen (wie das Geschichtenerzählen) bedarf des Publikums (respektive Zeugen), weswegen Heinrich aus dem intimen Raum seiner Vorlage einen öffentlichen Schauraum – ein theatrum macht. Im Unterschied zu Odysseus’ Ich-Erzählung wird Eneas’ Geschichte nur indirekt wiedergegeben, da das Geschehen dem Zuhörer an diesem Punkt des Romans schon erzählt worden ist. Es handelt sich somit um eine Analogie zur Raumverschaltung des homerischen Epos, bei der die ursprüngliche Funktionalisierung als ‚Erzähleinsatz mit Erzählung‘ (im Laufe der Vortragsentwicklung)91 zugunsten einer chronologischen Erzählweise aufgegeben wurde. Damit ändert sich der metamediale Stellenwert der Szene: Bei Homer wurde über das In-Eins-Fallen von fiktivem und realem Rhapsoden und den Übergang in ein Rollenspiel, das den Rezitator als Odysseus sprechen lässt, eine graduelle Minimierung der Mittelbarkeit bewirkt. Bei Heinrich führt die Konstellation zu 90 FISHER, 1992, S. 52. 91 Ich impliziere hier keinen textuellen Zusammenhang, sondern eine (inter-) kulturelle Entwicklung.

365

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

einer Zurschaustellung der identitätsstiftenden Wirkung anhand der Fiktion, die als ‚unspezifische Schnittstelle‘ die reale Aufführung spiegelt. Das Ideal der Unmittelbarkeit wird ersetzt durch die aufgrund von Selbstreflexion ‚minimal-mediale‘ Spiegelung. Ausgehend vom Eneas verbreitet sich der ‚Erzähleinsatz mit Erzählung‘ in der deutschsprachigen Literatur und das nicht nur im Artusroman. Die Verwendung des Motivs ist im 12. und 13. Jahrhundert gattungsübergreifend. Besonders auffällig ist sein initiatorischer Einsatz bei den Texten der so genannten Aventürehaften Dietrichsepik, weshalb die Erzähleinsätze dieser Kleingattung vor dem Einstieg in die Betrachtung der Artusromane in einem kurzen Exkurs dargestellt werden sollen. Im Eckenlied bspw. heißt es nach einführenden Versen zur fiktionalen Topographie: Es sasen held in ainem sal;

Es saßen Helden in einem Saal,

si rettont wunder ane zal

die erzählten zahllose Wunder[geschichten]

von userwelten rekken.

von auserwählten Kämpfern.

(ECKE, V. 2,1-3)

Einer dieser drei erzählenden Helden ist der riesenhafte Ecke, der aufgrund der Dietrich-mæren auszieht, um gegen diesen zu kämpfen und dabei letztendlich umkommt: Die Geschichten von Dietrich treiben Ecke in den Tod durch Dietrich. Auch der Laurin92 und der fragmentarische Goldemar des Albrecht von Kemenaten93 beginnen mit einer Situation des Erzählens, die dem Einsatz der Handlung vorangeht bzw. diese auslöst. Im Laurin heißt es ganz programmatisch beim Auszug der Helden: „Ûz riten die birsære / durch hovelîchiu mære“:94 Als Jäger (birsære) von mære, der initiatorisch erzählten und der, die es zukünftig von einem selbst zu erzählen geben wird, stürzen sich die Helden in die Gefahr. Im Sigenot ist diese Konstellation gar so kunstvoll eingesetzt, dass sie das Epos rahmt: Die

92 Vgl. LAURIN, V. 29-94. 93 Vgl. GOLDEMAR, Str. 4-9. 94 LAURIN, V. 89f. (‚Die beiden Jäger ritten / um der höfischen Erzählung willen aus‘).

366

Das Festmahl als Schnittstelle der Verschaltung

Erzählung beginnt und endet mit parallelen Szenen,95 in denen sich Dietrich und Hildebrant gegenseitig ihre Abenteuer erzählen; das gerade Erlebte wird dabei als neue Episode in den scheinbar unendlichen Erzählfluss integriert. Mittels dieser ‚Erzähleinsätze mit Erzählung‘ scheinen die Aventürehaften Dietrichsepen zu betonen, dass nicht nur realiter, sondern auch in der fiktiven Welt „in alten mæren wunders vil geseit“96 ist. Sie stellen so eine Verschaltung von fiktiver und realer Erzählsituation her, die der berühmte Anfang des Nibelungenlieds nicht leisten kann, da er sich lediglich auf die Aktualisierung oraler Erzähltraditionen in der (jeweils) konkreten Aufführungssituation bezieht. Das Erzählen wird in der Aventürehaften Dietrichsepik (und anderen Kleingattungen) als etwas Gefährliches dargestellt. Beim Eckenlied führen die Erzählungen von Dietrich zum Untergang des Protagonisten und auch die anderen Helden der Dietrichsepen gelangen früher oder später in Situationen, in denen sie bereuen, um der Erzählung willen aufgebrochen zu sein. Am deutlichsten wird dies beim Sigenot. Als Dietrich von einem Riesen besiegt und gefesselt wird, erinnert er sich an die Worte Hildebrands, der ihm, nachdem er die Erzählung von dem Riesen gehört hatte, von einer Reise abriet: Her Dieterich gar wol gedâht

Da bedachte sich Herr Dietrich:

„daz ich noch ze Berne wære:

„Wäre ich doch noch zu Verona,

Ich kæm nit har in diesen tan.

ich käme nicht in diesen Wald.

Ôwê, Hiltebrant, meister,

O Weh, Meister Hildebrand, dass ich

Daz ich dir nit gevolget han,

deinem Rat nicht gefolgt bin, wird

Daz mac mir wol ze schaden kumen.“

noch sehr zu meinem Nachteil sein.“

(SIGENOT, V. 90,9-91,1)

Der Drang, aufgrund von mære zu wirklichen Taten auszureiten, erweist sich als äußerst gefährlich und der Dichter des Sigenot wird es auch nicht müde, diese Aussage mehrmals zu wiederholen.97 Dietrich überlebt nun freilich solch eine Gefahr. Ähnlich verderblich wie im Eckenlied jedoch ist der Erzähleinsatz beim Helmbrecht des 95 Vgl. SIGENOT, Str. 3-12 und Str. 202-205. 96 NIBELUNGEN, Str. 1,1 (‚in alten Geschichten [wird] viel Wunderbares berichtet‘). 97 Ganz ähnliche Klagen stößt Dietrich auch in SIGENOT, V. 88,10-89,1 und 159,11-13 aus.

367

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Wernher dem Gartenære, in dem der Protagonist entgegen seines bäurischen Standes aufgrund der mæren von großen Heldentaten vergeblich versucht, die ihm durch seine Standezugehörigkeit gesetzten Grenzen zu überwinden.98 Sowohl beim Helmbrecht als auch beim Eckenlied steht am Anfang mære, ein Erzählen, dessen Einfluss die Protagonisten in ihren Untergang führt. Ecke und Helmbrecht sind in dieser Hinsicht Vorläufer des durch Ritterromane verwirrten Don Quijote des Miguel de Cervantes; ihre Drachen entpuppen sind jedoch nicht als Mühlen, sondern als die Gefahren einer Welt, in der die (falsche) Aktualisierung von mære den Konflikt, gar den Untergang mit sich bringt.99 Die den Artusroman umlagernden Kleingattungen arbeiten in den Passagen der ‚mære-Kritik‘ stets mit verschaltenden Techniken; die Kritik ist also nicht nur eine homodiegetische, sondern auch ein Hinweis auf eine Gefahr, der der reale Zuhörer als mære-Konsument ausgesetzt ist. Vor dieser Folie fällt auf, dass die Artusliteratur kaum Tendenzen zu einer kritischen Kontrastierung der Bedeutungen realer und fiktiver mæren aufweist. Das einzige Gegenbeispiel scheint die bereits behandelte100 Provokation Hartmanns zu sein, die fiktiven Meerwunder auf der Decke von Enites Zelter kennenzulernen, indem der Zuhörer sich an einen Strand stelle, um auf ihr Auftauchen zu warten. Hartmann betreibt aber auch das genaue Gegenteil dieser Kritik, wenn er im IweinProlog eine laudatio temporis pronuntiationis einbaut, die der aktuellen Zeit des Geschichtenerzählens der Artusepoche den Vorrang gibt.101 Es handelt sich also nicht um eine kohärente Moralisierung Hartmanns und so führt der initiatorische Effekt von mære im Iwein dann auch zum

98 Zu Helmbrecht und seiner Haube siehe auch Kapitel 3.3., Anm. 150. 99 Interessanterweise existiert zu dem Zusammenhang von mæren und deren (potenziellen) Aktualisierungen im 12. Jahrhundert auch die genau konträre Konstellation, wie Volker Mertens dies an Saxos Gesta Danorum zeigt: „[A]nders [...] [soll] es im 12. Jahrhundert dem Dänenkönig Knut Lavard ergangen sein [...], der den Sinn des ihm vorgetragenen speciosissimum carmen von dem allbekannten Verrat Kriemhilds an ihren Brüdern nicht auf seine Situation bezog. Tödlich, wenn auch nicht weiter erstaunlich für den vergebens Gewarnten, daß er die alten mæren nicht aktualisierte“; MERTENS, 1996, S. 358. 100 Siehe Kapitel 3.3. 101 Siehe Kapitel 2.1.

368

Das Festmahl als Schnittstelle der Verschaltung

Sieg und nicht zur Auslöschung des Helden.102 Im Gegensatz zu den Kleingattungen nutzt der Artusroman die ‚unspezifische Schnittstelle‘ des Erzählens in ritueller (festlicher) Rahmung zur Herstellung einer nicht (oder zumindest nicht explizit) moralisierenden Verschaltung. Doch dort, wo die Moral fehlt, könnte man frei nach Brecht vermuten, dass das Essen zuvorderst kommt. Erstes Beispiel Als Gauwain in der Première Continuation bei einem Festmahl an einem ihm unbekannten Hofe den Schild seines Gegners Bran de Lis an der Wand lehnen sieht, springt der Ritter vom Tisch auf und legt in Windeseile seine Rüstung an. Lors li dist li rois francement: Da sprach der König und redete ihn freimütig an: „Gauwains, ne me celés nient, „Gauwain, verhehlt mir nicht, Por c’avés guerpi le mangier? weshalb ihr vom Mahle aufgesprungen seid? Moult nos en faites mervellier; Ihr habt uns alle in Verwunderung gestürzt; Por coi estes amés ensi? warum seid ihr so bewaffnet? Dites-le-nous, je vos en pri, Sagt an, ich bitte euch, Se vous avés rien se bien non.“ ob ihr etwas Schlimmes erlebt habt. “ „Certes, fait-il, sire, je non, „Wahrlich, Herr König, nichts habe ich erlebt, Fors tant de tost mangier jedoch bitte ich euch, rasch das Essen zu beenden, vor proi, Se le volés faire por moi. [...] wenn Ihr es mir zu Dank tun wollt. [...] Si mangiés, mesire, por Dé.“ So esst um Gottes Willen rasch, meine Herren.“ Li rois jura son sairement Der König schwor seinen heiligen Eid Moult grant, saciés à essient, und verlangte, Que il dira ançois vreté er möge zuerst die Wahrheit sagen, Por coi avoit son cief armé. weshalb er sein Haupt gerüstet habe. Lors a dit mesire Gauwains: Hierauf entgegnete Herr Gauwain: „Sire, moult seroie vilains „Herr ich wäre ein schlechter Mensch, Se, por iceste oevre conter, wenn ich, um dieses Werk zu erzählen, Vos faisoie ore plus juner. euch jetzt fasten ließe. Si m’aȧt Dex, je vos dirai So wahr mir Gott helfe, ich werde euch La vérité, se jou le sai.“ die Wahrheit sagen, so ich sie weiß.“103 (CONTIN., P, V. 16855-84)

102 Siehe Kapitel 4.1.2.1. 103 Übersetzungsgrundlage: SANDKÜHLER II, S. 117.

369

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Mit diesen Worten beginnt Gauwain eine Erzählung, die sowohl den Hof des fiktiven Königs als auch die reale Zuhörerschaft vom Grund seines Zwists mit Bran de Lis unterrichtet. Gaweins Unwille zu erzählen, könnte – erlaubt man es sich zu psychologisieren – damit zusammenhängen, dass er sich nun dazu genötigt sieht, von seiner Vergewaltigung der Pucelle de Lis, Brans Schwester, und den Verfehlungen gegen ihre Familie zu erzählen. 104 Auffällig ist jedoch, dass diese psychologische Motivation nicht erwähnt wird, sondern sich vielmehr an einem mehrmals betonten Zusammenhang von Essen und Erzählung (de-)thematisiert. Einerseits ist dieser Zusammenhang einer der Exklusion: Entweder man isst oder man erzählt. Es erscheint Gauwain undenkbar, während des Essens seine Erzählung zu beginnen, obwohl Gefahr in Verzug ist. Auch scheint der Protokollbruch für ihn schwerwiegender als das Zugeständnis seiner Verfehlung. Andererseits liegt aber offenbar auch eine symbolische Äquivalenz von Essen und Erzählen vor, nach der es dem Hof nichts ausmacht zu fasten, wenn er stattdessen von Gauwains Erzählung ‚genährt‘ wird. Ebenso wird der Charakter der Beichte durch einen Schwur herbeigeführt, der das Erzählen wiederum an das Essen knüpft: Gauwain lässt Artus schwören, erst wieder zu essen, wenn er die ganze Wahrheit erfahren habe. Die Szene kann so als eine Variante des (im Folgenden noch eingehender behandelten) Motivs der ‚Essensverweigerung in Aventüreerwartung‘ betrachtet werden.105 Variant gegenüber dem motivischen Standard ist dabei vor allem Gauwains exponierte Situation: Er steht (während des Essens) von der Tafel auf und beginnt die Erzählung – ebenso wie sein ‚Darsteller‘, der Rezitator, sich erhebt und (wohl

104 Um die Art dieser Verfehlung(en) und auch die Frage, ob überhaupt eine Vergewaltigung passierte oder Gawein nur eine Geschichte erfindet, um die Ehre der Pucelle de Lis zu bewahren, haben sich viele Meinungen gebildet, nicht zuletzt aufgrund der Varianzen zwischen der so gennanten version viol und der version flirt der Episode. Zuletzt diskutierte Jessica Quinlan diesen Komplex vor der Folie des Metanarrativen; vgl. QUINLAN, 2013. Vgl. dort für weitere Forschungsliteratur. 105 Zum Motiv vgl. aktuell BYRNE, 2011; mit Anwendung auf diese Szene QUINLAN, 2013. Eine nähere Behandlung der verschaltenden Wirkung der Essensverweigerung findet in Kapitel 4.1.2.2 statt.

370

Das Festmahl als Schnittstelle der Verschaltung

eher nach dem Essen) die Ich-Erzählung des Idealritters rollenspielerisch vorträgt.106 Im Verhältnis von Nahrung und Erzählung und in der Situation des thetralen Erzählens an der Festtafel taucht also wieder die archetypische Verschaltung von Figur und Rezitator (bzw. Rhapsode) auf, die man schon bei Homer beobachten kann. Und hier wie dort gesellt sich zu der Verschaltung die Wechselwirkung von Erzählung und Identität: Odysseus, der sich im Erzählen zu erkennen gibt, und Gawein, der im Erzählen seine (topisch) identitätsstiftende Verfehlung eingesteht. Die Generierung von Identität findet in einem Rahmen statt, der (1.) über das fiktive wie reale Festmahl, (2.) die symbolische Verbindung von Nahrung und Narrativ und (3.) ein theatrales ‚Erzählen im Erzählen‘ Aufführung und Fiktion verschaltet und so die Identitätsstiftung durch Gauwains ‚Beichte‘ vor dem Artushof nicht nur auf der Ebene der histoire, sondern vor dem Publikum rollenspielerisch als Modus des Literaturvortrags an sich behauptet. Zweites und drittes Beispiel Aufgrund des Spiegel-Verhältnisses von Aufführung und Fiktion finden sich gerade bei Beschreibungen von Festmahlen häufig Phrasen, die den fiktiven Raum einführen, ihn jedoch nicht spezifizieren. Ziel dieser konstruierten Vagheit des fiktiven Raums ist, dass er nicht in Kontrast zur Aufführung zu stehen kommt. Man könnte diese Phrasen als Platzhalter bezeichnen, die es dem Zuhörer ermöglichen, das Festmahl, an dem er selbst gerade teilgenommen hat, in die fiktive Situation ‚hineinzuimaginieren‘; oder anders: als ‚imaginative Leerstellen‘ zu nutzen. der sich des flîzen wolde, daz her sagen solde, wie dâ gedienet wâre, ez worde ein langez mâre, wand als ich û hie sagen wil,

Wenn einer sich darum bemühen würde, dass er erzählen sollte, wie dort aufgetischt wurde, das würde eine lange Geschichte, denn, wie ich euch sagen will,

106 In dieser ‚Theatralisierung‘ des Raums, d. h. in der konzeptionellen Spieglung der thea-Konstellation des realen Vortrags, gleicht die Szenerie sehr der im Folgenden noch zu behandelnden ‚Beichte‘ Calogrenants/Kalogrenants in Chrétiens Yvain bzw. Hartmanns Iwein; siehe Kapitel 4.1.2.1.

371

Stimme im Raum und Bühne im Kopf man gab in allen ze vil ezzen unde trinken, des ieman konde erdenken.

gab man ihnen von allem im Überfluss, zu essen und zu trinken, was immer einer sich hätte ausdenken können.

(ENEAS, V. 13143-50)

Eine ähnliche Beschreibungstechnik lässt sich in der Krone finden: Waz het ich iv da von ze sagen,

Was könnte ich euch nicht davon erzählen,

Wie manik riht da wurd getragen,

wie viele Gerichte da aufgetragen wurden

Oder waz in wurd geschenchet?

oder was sie ihnen ausschenkten?

Swes ir da von gedenchet,

Was auch immer ihr euch vorstellen könnt,

Daz habt iv vür di warheit.

das dürft ihr für die Wahrheit halten.

(KRONE, V. 8405-09)

Der Rezitator leitet in beiden Fällen die Wahrnehmung seiner Zuhörer bewusst vom Bild des Festmahls, also vom fiktiven Raum, weg („wand als ich û hie sagen wil“; „waz het ich iv da von ze sagen?“) und lenkt sie auf die gegenwärtig ablaufenden Mechanismen der Illusionierung („des ieman konde erdenken“; „swes ir da von gedenchet“).107 Diese Mechanismen funktionieren aber gerade auf der Grundlage, dass man soeben ein Festmahl hinter sich gebracht hat und sich deshalb die Imagination aus der unmittelbaren Gegenwart ‚speisen‘ kann. Das fiktive und das reale Mahl bzw. die Räume, in denen diese stattfinden, können sich so – im Gegensatz zu den Erzähleinsätzen der Aventürehaften Dietrichsepik – ohne den Gestus moralischer Kontrastierung überlagern.

107 Losgelöst von ihrem Sitz im Leben, in welchem die Verse oben behandelt werden, exemplifizieren diese Stellen eine Funktionsweise der Verfremdungseffekte und werden deshalb im folgenden Kapitel nochmals Erwähnung finden. Hier zeigt sich schon vorab, dass die von der vorliegenden Studie vorgenommene Aufteilung in Verschaltungs- und Verfremdungseffekte nur ein grobes Hilfsmittel zur Kategorisierung von performativen Akten sein kann, da oft ein ambivalenter Charakter festzustellen ist. Im Falle dieser beiden Textpassagen bedeutet dies, dass die eigentliche Funktionsweise der Verse eine verfremdende ist, da der illusionierende Charakter des Vortrags bewusst zerstört wird; in der jeweiligen Festmahl-Szene wird jedoch der Illusionsbruch wiederum zum raumverschaltenden Mittel.

372

Das Festmahl als Schnittstelle der Verschaltung

Weitere Beispiele ‚Imaginative Leerstellen‘ sind in fast jedem Artusroman zu finden. Die zitierte Krone-Passage greift in ihrer Gestaltung vermutlich auf eine Vorlage zurück, der in diesem Zusammehang besondere Aufmerksamkeit gebührt. Denn auffällig häufig sind solche Leerstellen in den französischen Chrétien-Fortsetzungen, besonders in der Deuxième Continuation zu finden.108 Beinahe jede Schilderung eines Festmahls wird mit einer Verweigerung versehen, den genauen Ablauf zu schildern. So entsteht eine Vagheit in der fiktionalen Schilderung, welche es anbietet, die fiktive Welt mit den frischen Erfahrungen des satten realen Publikums zu überkreuzen. Die Verwendung dieser ‚imaginativen Leerstellen‘ entspricht der Programmatik konstruierter Vagheit, wie sie die Bleherisregel für die Gralsthematik empfiehlt und wie sie in den ersten beiden französischen Chrétien-Fortsetzungen und der Krone umgesetzt wurde. Die ‚Verschleierung‘ von Gral und Festmahl geschieht jedoch zu unterschiedlichen Zwecken: Der Gral wird durch die Vagheit dem Zuhörer entfremdet, während die imaginativen Leerstellen der Festmahlbeschreibungen ihm die Basis zu einer Projektion seiner Situation in die fiktive Welt ermöglichen. Die ‚imaginative Leerstelle‘ kann dabei so gefüllt werden, dass eine Verschaltung entsteht, die in ihrer Konkretheit an den Wildenberger Kamin des Parzival erinnert, bspw. wenn der Rezitator sich weigert, von den Weinen zu berichten, die den Figuren gereicht werden, doch stattdessen versichert, dass ihrer so reichlich gewesen wären, „wie wenn die Herrin die Gerichtsbarkeit von Auxerre und Vézelay verwaltet hätte.“109 Ähnlich verhält es sich auch bei der Nennung von drei Grafen, die ein fiktionsübergreifender Vergleich als besonders gefräßig darstellt und parodistisch auf reale Aufführungsteilnehmer verweisen 108 Vgl. SANDKÜHLER III, S. 35, 50, 55, 59, 70, 84, 104, 112, 125f., 133, 138, 143, 152 und SANDKÜHLER IV, S. 16, 21, 27f., 29, 49, 65. Die letztgenannte Passage ist eigentlich nicht mehr Teil der Deuxième Continuation, sondern gehört zu der Abrundung, die Manessier an der fragmentarischen Schlussszene von Percevals zweitem Gralsbesuch vornahm. Diese Stelle zeigt jedoch, dass das Konzept, beinahe jedes Festmahl mit performativen Verschaltungen zu versehen, auch vom Fortsetzer der Fortsetzung erkannt wurde. 109 SANDKÜHLER III, S. 84.

373

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

könnte.110 Die Verschaltungen über Festmähler rangieren also ebenfalls graduell vom konkreten Effekt für eine bestimmte Aufführung bis hin zum diffusen und damit inszenatorischen, d. h. in diversen Aufführungen zu realisierenden Einsatz von ‚unspezifischen Schnittstellen‘. Vice versa sind es nach der Logik der Verschaltung dann auch die wenigen Mahlzeiten, die jenseits der höfischen Sphäre eingenommen werden, die keine Leerstelle aufweisen. Beispiele hierfür sind Nahrungsaufnahmen einerseits an besonderen Orten (bei einem Jäger,111 im Schloss eines Riesen,112 in einem Zelt,113 in der ärmlichen Behausung eines Edelmanns114) oder andererseits zu besonderen Anlässen, bspw. wenn nach dem Besuch des Einsiedlers Perceval und seine Schwester beschließen, kein Fleisch zu essen.115 Im Verbund treten diese beiden Varianzen in der folgenden Passage auf: Tant fist, la nuit, Gauwain d’aïe

Er [ein Einsiedler] tat in dieser Nacht

Que plain boistiel trestout comblé Gauwain alles Erdenkliche zu Gefallen: D’orge a au gringalet doné

Gringalet bekam ein volles Maß Gerste,

Qu’il méismes ot gaengniet,

die der Einsiedler selbst geerntet hatte.

Et si lor ot apparelliet

Hierauf bereitete er für sich und seinen Gast

A souper çou qu’il puet avoir.

das Abendmahl mit allem, was er hatte.

Ne m’estuet par ramentevoir

Ich brauche nicht daran zu erinnern,

Des viandes de l’hermitage;

was für Speisen sie in der Klause bekamen.

Assés savés qui en boscage

Ihr wisst alle, wer im Walde

Voet Damledieu de cuer servir

aus frommen Herzen Gott dienen will,

Pour ses péciés à espanir,

um seine Sünden abzubüßen,

Qu’il n’a mie tout son voloir;

hat nicht alles nach seinem Belieben;

Mais pour dyable decevoir

doch um den Teufel zu täuschen

Suefrent li prodome le mal.

erdulden die Edelen dieses Übel.116

(CONTIN., P, V. 31540-53)

110 111 112 113 114 115 116

374

Vgl. ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 26. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 46, S. 95 und SANDKÜHLER IV, S. 36. Vgl. SANDKÜHLER III, S. 125. Vgl. ebd., S. 77. Übersetzungsgrundlage: SANDKÜHLER IV, S. 11.

Das Festmahl als Schnittstelle der Verschaltung

Der performative Impetus ist nicht auf eine Verschaltung des realen Festmahls mit dem fiktiven aus, sondern richtet sich auf deren Kontrastierung. Eingedenk der Vortragssituation wird der implizite Vorwurf der Stelle deutlich: Gesättigt sitzt man und lauscht den Versen, die einem die Enthaltsamkeit eines gottesfürchtigen Lebens schildern. In dieser Funktion deutet die Textstelle auf das Essens- und Schlafverbot vor dem Gral hin, das in den französischen Texten ex negativo bei Gauwains gescheitertem117 und bei Percevals erfolgreichem zweiten Gralsbesuch anklingt.118 Das Festmahl kann (1.) als Element der Raumverschaltung rein illusionistisch dazu dienen, bei Beginn des Romans bzw. des Vortrags einen Einstieg in das Geschehen zu geben. Es kann ebenso (2.) bei einer Gegenüberstellung von Aufführungsraum und Fiktion – im Sinne eines im Folgenden noch darzulegenden ‚Verfremdungseffekts‘119 – zu einer moralischen Aussage führen und letztendlich (3.) kann es den Roman bzw. Vortrag beenden, um so dem Zuhörer einen sanften Übergang von der Fiktion in die Realität zu bereiten. Darum zuletzt ein... Finales Beispiel mes ne vos voel pas feire acroire,

Aber ich möchte euch nicht glauben machen

man‫ذ‬onge sanbleroit trop voire,

(die Lüge wäre zu offensichtlich),

tables fussent mises a tire

dass die Tische in einer langen Reihe

en un palés; ja nel quier dire. [...]

in einem Saal aufgestellt wurden; das möchte ich nicht behaupten. [...]

Des mes divers don sont servi,

Von den vielartigen Speisen, die gereicht wurden,

ne por quant se ge nel vos di,

wüsste ich euch wohl Rechenschaft zu geben,

vos savroie bien reison randre;

obwohl ich euch nichts davon mitteile;

mes il m’estuet a el antendre.

aber ich muss meinen Sinn auf anderes richten.120

(EREC ET ENIDE, V. 6861-79)

Mit diesen Versen endet der älteste aller Artusromane, Chrétiens Erec et Enide. Der Aufbau der Tische beim abschließenden Festmahl der 117 118 119 120

Vgl. SANDKÜHLER II, S. 172. Vgl. SANDKÜHLER IV, S. 63. Siehe Kapitel 4.3. Übersetzungsgrundlage: ALBERT GIER.

375

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

fiktiven Handlung wird ‚realistisch‘ geschildert, da ein Übertreiben zu offensichtlich wäre und der Erzähler sich vor dem Vorwurf der Lüge zu schützen gedenkt. Unter ironischer Distanzierung von der Aufgabe des Geschichtenerzählens löst sich die Schilderung von der Fiktion und gibt den Blick frei auf die wirklichen Tische, an denen das Publikum sitzt. Von den Speisen will der Rezitator nicht erzählen und selbst ‚Rechenschaft zu geben‘ weigert er sich. Das bedeutet, dass der Rezitator an dieser Stelle die elementarste Aufgabe des performers aufgibt, mit seiner eigenen Person als Garant für die Fiktion einzustehen. Mit dem letzten Vers schließlich wendet der Vortragende endgültig ‚seinen Sinn auf etwas anderes‘: Er wendet sich als performer von der Fiktion ab und als herkömmlicher Teilnehmer einer realen Festivität dem (ehemaligen) Publikum zu, von dem ihn nun kein theatraler Kontrakt mehr trennt. Der Übergang von der Fiktion in die Aufführungssituation ist vollendet und man meint Applaus erschallen zu hören: „mes il m’estuet a el antendre“ –– „And Robin shall restore amends“.121

122

4.1.2.1 Die performative Doppelgesichtigkeit des Truchsessen

Ein Folgeeffekt der unspezifischen Schnittstelle ‚Festmahl‘ ist auf der arthurischen Figurenebene zu finden: Der hinterlistig-unehrenhafte Truchsess Keu wurde von Chrétien bei der Neuordnung der keltischen Erzählungen zum ‚Roman‘ in seiner Funktion als schlechtester aller Tafelrundenritter neu erfunden. Vor Chrétien hatte der arthurische

121 Shakespeare, 1995, S. 164. Der berühmte letzte Vers von Midsummer Night’s Dream, in dem Robin Goodfellow, alias Puck, ebenfalls unter (ironischer) Beteuerung seiner Ehrlichkeit, die Fiktion durch schrittweises Heraustreten des Darstellers aus seiner Rolle in die Realität eines (im Idealfall) applaudierenden Publikums überführt. 122 Dieses Unterkapitel beruft sich auf an anderem Ort veröffentlichte Ergebnisse; vgl. DÄUMER, 2011 (Keie). Nach dem Verfahren dieses Aufsatzes werden auch im vorliegenden Unterkapitel trotz der Varianten in den einzelnen Texten die altfranzösische (Keu), mittelkymrische (Cei) bzw. mittelhochdeutsche ‚Grundform‘ des Namens verwendet (Keie). Gleiches gilt für ‚Arthur‘ als Schreibweise für die keltischen und chronikalen Vorgänger vor dem ‚Artus‘-Roman.

376

Die performative Doppelgesichtigkeit des Truchsessen

Truchsess keine negativen Eigenschaften. In seiner chronikalen Prägung ist Keie ein ehrenhafter Ritter, der treu neben Arthur kämpft. Auch die noch ansatzweise in keltischen Sagen zu fassenden Spuren der mythischen Keiegestalt liefern das Bild eines tadellosen SuperHelden. Einzig Übernahmen der Charakterzüge anderer mythischer Figuren, wie bspw. Loki oder – aufgrund seiner Herkunft aus dem Keltischen besonders wahrscheinlich – Conán Maol,123 könnten Geburtshelfer des Chrétien’schen Anti-Helden Keie gewesen sein. Es ist in der bestehenden Forschung schon mehrmals vermutet worden, dass sich die Entstehung der Figur Keu im ersten aller Artusromane aus einer realen sozialen Veränderung in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts speist. Jürgen Haupt stellt fest, dass gerade „das Truchsessen-Amt wesentlich dazu beiträgt, die Keie Darstellung [bei Chrétien] ins Negative zu ziehen.“124 Als Grund vermutet Haupt eine realpolitische Entwicklung des Amtes, durch die eine „Gefahr des Mißbrauchs, der ungerechtfertigten Machtusurpation bestand.“125 Dass das Amt ‚Truchsess‘ der Grund für die Negativzeichnung Keus ist, erscheint recht plausibel, geht Keus literarischer ‚Imageverlust‘ doch einher mit dem Auftauchen mehrerer anderer negativ gezeichneter Truchsessen im Artusroman und den verwandten Erzählkreisen. 126 Eine interessante Feststellung ist, dass das negative Truchsess-Bild diese Textgruppe von der Heldenepik abgrenzt, in der – bspw. im Nibelungenlied – die Truchsessen wie der ‚alte‘ Keie der Chronik als heldenhaft dargestellt werden.127 Es scheint also zu den gattungs-definitori-

123 Zur Verbindung von Conán, einer Figur des schottisch-irischen FionnSagenkreises, zur neukonzipierten Keie-Gestalt des Artusromans vgl. ebenfalls DÄUMER, 2011 (Keie), S. 82-88. 124 HAUPT, 1971, S. 60. 125 Ebd., S. 70. 126 Haupt führt den Truchsessen König Markes in Eilharts Tristrant und Gottfrieds Tristan an sowie den ebenso bei Gottfried zu findenden namenlosen Truchsessen, der Tristan durch List seinen gewonnenen Drachenkampf streitig zu machen gedenkt. In der Artusliteratur finden sich neben Keie auch noch der Truchsess der Laudine in Hartmanns Iwein, Kingrun, der Truchsess des Königs Clamide aus Wolframs Parzival und (als Nachwirkung der Keie-Gestalt) der bösartige Truchsess aus Konrads von Würzburg Otte mit dem barte; vgl. ebd., S. 64-70. 127 Vgl. ebd., S. 65f.

377

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

schen Zügen des Artusromans zu gehören, den Truchsess negativ zu konzipieren. Der Sonderstatus der Figur scheint sich also sowohl aus dem realen Amt als auch den Merkmalen des literarischen Genres zu speisen. Somit liegt es nahe, den Grund für diese auffällige Figurenzeichnung dort zu suchen, wo sich Amt und Genre begegnen: beim Festmahl. „Auf zeitgenössischen Bildern ist dargestellt, wie der Truchseß mit dem Stab in der Hand die Sitzordnung regelte und die Bedienung bei Tisch überwachte, die von den Kämmerern und Schenken wahrgenommen wurde“.128 Der Truchsess regelt das reale Mahl, nach dem laut Protokoll der Romanvortrag stattfindet. Aufgrund dieses engen Beieinanders von Romanvortrag und Truchsess lässt sich die Sonderstellung des Amts nicht nur auf Basis einer hypothetischen Machverschiebung (Haupt), sondern stattdessen aufgrund seiner Funktion beim Vortrag höfischer Romane beschreiben. Mit diesem Perspektivenwechsel erklärt sich auch, warum Keu/Keie die größte ‚Witzgestalt‘ des arthurischen Personals darstellt: Die humoristische Funktion des Truchsessen könnte – so meine Hypothese – der Effekt einer über die imaginative Leerstelle ‚Fest‘ hergestellten Raumverschaltung sein. Bei einer Aufzählung aller ehrenhaften Unterhaltungen am Artushof in Hartmanns von Aue Iwein heißt es: dô man des pfingestages enbeiz, männeclîch im die vreude nam der in dô aller beste gezam. dise sprâchen wider diu wîp, dise banecten den lîp, dise tanzten, dise sungen, dise liefen, dise sprungen, dise hôrten seitspil, dise schuzzen zuo dem zil, dise redten von seneder arbeit, dise von grôzer manheit. Gâwein ahte umb wâfen: Keiî leite sich slâfen [...].

Als man das Pfingstmahl gegessen hatte, unternahm jeder Mann das Vergnügen, welches am besten zu ihm passte: Diese sprachen mit den Frauen, diese vertraten sich die Füße, diese tanzten, diese sangen, diese rannten, diese sprangen, diese lauschten dem Saitenspiel, diese schossen auf das Ziel, diese erzählten von Liebesleid, diese von großer Tapferkeit. Gawein kümmerte sich um die Waffen [und] Keie legte sich schlafen [...].

(IWEIN, V. 62-74)

128 BUMKE, 1990, S. 35. Für eine genauere Beschreibung des Amts vgl. HAUPT, 1971, S. 70-72.

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Die performative Doppelgesichtigkeit des Truchsessen

Die mit Anaphern und Parallelismen rhythmisierten Verse kulminieren in der Spiegelung der realen Situation des Zuhörers: Man feiert ein Fest, auf dem u. a. von seneder arbeit (evtl. Liebesroman) und grôzer manheit (evtl. Heldenepen) erzählt wird – am Artushof ebenso wie am jeweiligen Ort der Aufführung. Die Verschaltung der Räume bzw. die Transparenz der Fiktionalitätsgrenze ist beim Iwein von Vornherein gegeben. Die folgende Kontrastierung des Idealritters Gawein mit seinem sich schlafen legenden ‚Schatten‘129 Keie kann deshalb als humoristische Anspielung auf den soeben seine Pflicht beendet habenden realen Truchsessen verstanden werden. Mit dem Raum werden die ihn konstituierenden Elemente (die Figuren- und realen Körper) überblendet, wobei das Amt die verbindende ‚Hohlform‘ ist, in der der fiktive Keie und der reale Truchsess in Eins fallen. Der Effekt dieser Verschaltung kann als ‚karnevalesk‘130 beschrieben werden: Das Publikum kann in der aus den Regeln des Festprotokolls befreiten liminalen Sphäre131 der Aufführung die starre Reglemen129 Zur Entwicklung des Doppelgängerverhältnisses von Keie und Gawein u. a. aus den keltischen Arthur-Mythen vgl. auch DÄUMER, 2010 (Keie). Das im Iwein anklingende Doppelgänger-Verhältnis war so etabliert, dass es im Welschen Gast von Thomasin sprichwörtlich verwendet wird: „ich heiz Thomasîn von Zerclaere. / boeser liute spot ist mir unmaere. / hân ich Gâweins hulde wol, / von reht mîn Key spotten sol.“ (WELSCHER GAST. V. 75-78; ‚Ich heiße Thomasin von Zerklære. / Der Spott schlechter Menschen ist mir gleichgültig. / Gaweins Huld ist mir gewiss, / drum soll Key meiner rechtens spotten‘). Thomasin nutzt – ebenso wie Hartmann im obigen Beispiel – die Kontrastierung von Gawein und Keie dazu, eine Konstellation der realen Aufführungssituation zu beschreiben: der Antagonismus von guten und schlechten Zuhörern. 130 Zur Definition des Karnevalesken in seiner de- wie stabilisierenden ‚Dialektik‘ vgl. BACHTIN, 1985, hier S. 52f.: „Einen [großen] Einfluss auf das literarisch-künstlerische Denken hatte [...] der Brauch der Erhöhung und Erniedrigung. Er prägte eine bestimmte Art des Aufbaus literarischer Gestalten und ganzer Werke, in denen irgendwas oder irgendwer seines Nimbus entkleidet wurde, wobei jedoch dieser Vorgang wesentlich ambivalenter war und sich auf zwei Ebenen abspielte. Immer wenn die Ambivalenz erlosch, verflachte die ambivalente Erniedrigung zu einer rein negativen, abwertenden Anprangerung moralischer oder sozialpolitischer Art“. 131 Wie Fischer-Lichte zeigt (vgl. FISCHER-LICHTE, 2003), ist die Liminalität, wie sie Victor Turner für seine Ritualtheorie formulierte (vgl. TURNER, 1989), ein Definiens der theatralen Erfahrung. Bei der Aufführung eines höfischen Romans ist der Effekt, dass die performative Sprechhandlung Reales und Fiktives miteinander verbindet, das, was die Schwellenfunktion

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

tierung des soeben durchlebten Protokolls in Form der Symbolfigur Keie verlachen. Keu/Keies topischer Spott gegen den Artushof stellt so gewissermaßen eine Antwort auf seine performative Funktionalisierung dar, die das Äquivalent des Artushofs, das reale Publikum, zu seinen Spöttern macht. Hartmann baut das performative Potenzial der Figur Keie noch weiter aus: Im Rahmen des Festes konstruiert er einen groß angelegten ‚Erzähleinsatz mit Erzählung‘: do gesâzen ritter viere,

Da saßen vier Ritter,

Dodines und Gâwein,

Dodines und Gawein,

Segremors und Îwein,

Segremors und Iwein,

(ouch was gelegen dâ bî

(außerdem lag in der Nähe

der zuhtlôse Keiî)

der unerzogene Keie)

ûzerhalp bî der want:

abseits an der Wand.

daz sehste was Kâlogrenant.

Der sechste war Kalogrenant.

Der begunde in sagen ein mære,

Der begann ihnen eine Erzählung

von grôzer sîner swære

von seinem großen Kummer und seiner

und von deheiner sîner vrümekheit. mangelnden Tapferkeit vorzutragen. (IWEIN, V. 86-95)

So wie Keie zur Spiegelfigur des realen Truchsessen wird, wird Kalogrenant zu einer Spiegelfigur des Rezitators. Gleich dem realen performer erhebt nun die Figur ihre Stimme, um von ritterlichen Taten zu erzählen; und gleich dem realen performer bringt sich Kalogrenant dazu in eine exponierte Position gegenüber den als Publikum beschriebenen Tafelrundenrittern. Diese Widerspiegelung der realen performativen Raumkonstellation führt dazu, dass Kalogrenant das Eintreten der Königin sehen kann und sich im Gegensatz zu den anderen Figuren ehrerweisend erhebt. In diesem Moment wird Kalogrenants Vortrag durch die bösartige Kritik Keies gestört, der über den Ritter (handlungsloausmacht. Die performative Handlung eines Rezitators ist in diesem Sinn ein wechselseitiges Übergangsritual zwischen Fiktion und Realität und dient den Teilnehmern zur Herstellung eines ‚Zwischenraums‘ der ästhetischen Erfahrung. Dieser Raum liegt jenseits der etablierten Regeln und kann so zum „Probehandeln in virtuellen Welten“ (Untertitel von LECHTERMANN/MORSCH, 2004) ebenso dienen wie zum karnevalesken Verlachen der in der Realität zurückgelassenen Normen.

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Die performative Doppelgesichtigkeit des Truchsessen

gisch) aufgrund des Vorteils, den sein Erspähen Ginovers ihm einbringt, spottet – im metaperformativen Sinn aber aufgrund der notwendigen erzählerischen Exponierung. Erst durch das Eingreifen der Königin wird der Lästerer zum Schweigen gebracht und Kalogrenant setzt seine Erzählung als ‚Auftragsarbeit‘ für die Königin fort. Durch diese Situation werden (wie Franziska Wenzel dies beobachtet) „[d]ie drei zentralen Instanzen einer höfischen Performanzsituation, der Erzähler [Kalogrenant], der ideale Zuhörer [Ginover] und der ‚boshafte‘ Kritiker [Keie] [...] etabliert.“ 132 Lois-Fernand Flutre weist in seinem Namenskatalog der französischen mittelalterlichen Figuren darauf hin, dass ‚Calogrenant‘ als eine Zusammenziehung von ‚Keu le grognard‘ (‚Keu der Haudegen‘) verstanden werden kann,133 was eine französische Übertragung und Verschriftlichung eines alt-kymrischen mnemotechnischen Epithetons sein könnte.134 Keu steht im Yvain und im Iwein also auch onomastisch in einem engen Zusammenhang mit dem unglücklichen Geschichtenerzähler Calogrenant.135 Die Namensgebung könnte den von Franziska Wenzel dargelegten Konnex zwischen Erzählendem und Rezipienten widerspiegeln. Wenn dem so ist, würde die Grundkonstellation der Performativität durch das Aufrufen des altkymrischen Epithetons als ‚mythische‘, d. h. der Zeit enthobene Fügung klassifiziert. Keu/Keie gilt dann als ‚immerwährender‘ Kritiker und schlechter Rezipient, ganz im Stile der üblen Zuhörer, die viele Dichter in ihren Prologen als Negativbeispiele anführen. Die ex negativo-Didaxe würde im Fall von Keu/ Keie jedoch der ‚karnevalesken Dialektik‘ weichen: Durch sein störendes Eingreifen in die Erzählung bedroht Keu/Keie einerseits deren Ordnung (und in Übertragung bedroht der Kritiker den Romanvortrag); andererseits aber festigt Keie die Ordnung wieder dadurch, dass er als Spötter zum Schweigen gebracht und als humoristische Figur verlacht werden kann. Dabei ist das Verlachen (nicht nur im Yvain/Iwein, son-

132 WENZEL/LECHTERMANN, 2001, S. 109. 133 FLUTRE, 1962, S. 40. 134 „Was he [Calogrenant] an alter-ego of Keu? His name was, after all, a variant of the seneschal’s: ‚Keu le grognard‘ from the Celtic ‚Cai-loguernant‘“; LACY/BUBY, 1988, S. 46. 135 Czerwinski zählt diesen Umstand zu den das ‚Mythische‘ prägenden Hypostasen, welche die Keie-Figur umranken; vgl. CZERWINSKI, 1993, S. 410.

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dern generell) ein Akt, der den Artushof mit dem Publikum ‚verschaltet‘.136 Als Kalogrenant nach der Etablierung des metaperformativen Rollenspiels seinen Vortrag neu beginnen kann, tut er dies mit den folgenden Versen: so vernemet ez mit guotem site, unde mietet mich dâ mite: ich sag iu deste gerner vil, ob manz ze rehte merken wil. man verliuset michel sagen, man enwellez merken unde dagen. maneger biutet diu ôren dar: ern nemes ouch mit dem herzen war, sone wirt im niht wan der dôz, und ist der schade alze grôz: wan si verliesent beide ir arbeit, der dâ hœret und der dâ seit. ir muget mir deste gerner dagen: ichn wil iu deheine lüge sagen.

So vernehmt es wohl erzogen und belohnt mich mit dem Folgenden: Ich erzähle euch umso lieber, wenn man es sich richtig einprägt. Man verpasst vieles des Gesagten, wenn man nicht Acht gibt und schweigt. Manch einer hält die Ohren hin, doch nimmt er nicht auch mit dem Herzen wahr, hört er nichts als das Geräusch, und dadurch entsteht großer Schaden: Beider Mühen ist vergebens, dessen, der da zuhört, und dessen, der da vorträgt. Schweigen sollt ihr umso lieber, weil ich euch keine Lüge erzählen will.

(IWEIN, V. 245-258)

Der Vortragsprolog Kalogrenants widmet sich stärker als Hartmanns Romanprolog den Gegebenheiten der Aufführungssituation – der fiktiven wie der realen: Der Darstellung der skripturalen Programmatik des Romans werden an dieser Stelle die performativen Leitlinien nachgeliefert. Über die Spiegelung einer prototypischen Aufführungssituation in das Treiben des arthurischen Fests ist es möglich, die Regeln für die performative Vermittlung in Form von ‚Verhaltensregeln‘ festzulegen: Das Publikum soll still sein und sich das Erzählte (mhd.) merken; es soll sich nicht allzu sehr dem (mhd.) dôz, den Lauten bzw. der ‚Grausamkeit‘ der Sprache137 hingeben und damit sich selbst und den realen 136 So auch SEEBER, 2010, S. 13-15, der das Ineinanderfallen von Artushof und Publikum über die Rhetorica ad Herennium als Memorialtechnik beschreibt. 137 Siehe Kapitel 2.3. Man könnte auch davon ausgehen, dass mhd. doz (V. 253) lediglich die Umgebungsgeräusche des Vortrags meint, ähnlich wie bei Walthers von der Vogelweide Thüringer Hofschelte. Was mir jedoch dagegen zu sprechen scheint, ist, dass das Mittel der Wahl, dem doz

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Rezitator für die Mühen der Aufführung belohnen. Beim Lauschen auf diese guten Ratschläge weiß der Rezipient jedoch ganz genau, dass der ‚böse Zuhörer‘ Keie darauf lauert, engegen dieser Regeln jeden noch so kleinen Fehler des Erzählenden sofort mit Spott zu strafen. Jegliche normative Setzung wird so durch die dramaturgische Einbindung des ‚Nebentexts‘ von Vornherein als leicht zu untergraben ausgewiesen. Dass in dieser Szene des Iwein die Konzeption Keies als destabilisierend-stabilisierend und fiktiv-performativer Trickster grundlegend mit dem Festmahlprotokoll und den Regeln der Aufführungssituation zusammenhängt, zeigt sich auch an den Unterschieden, die bei einer Überführung der oben zitierten Szene in eine andere Kultur (mit anderen Essens- bzw. Vortragsriten) auftreten. Der mittelkymrische Owein zeugt (aller Wahrscheinlichkeit nach)138 von einer Rezeption des Chrétien’schen Yvain in Wales, eine Rezeption, in deren Verlauf die französische Romanform sich wieder mit Elementen des autochthonen walisischen Sagenguts kreuzt, aus dem sie ursprünglich entsprang. Die einleitende Festszene mit der Erzählung des Ritters (hier heißt er Cynon139 statt Calogrenant/Kalogrenant) ist im Owein im Vergleich zu Yvain/Iwein in gekürzter Form vorhanden.140 Des Weiteren findet in Verkehrung der in den kontinentalen Texten anzutreffenden Reihenfolge die Erzählung im Owein vor dem Essen statt: Arthur legt sich in zu entkommen, das ‚Lauschen mit dem Herzen‘ ist (V. 252). Es handelt sich also um einen innerlichen Vorgang, mittels dem der Rezipient Signal und Geräusch zu scheiden verstehen muss, und dies scheint mir eher auf eine Zwiespältigkeit der Sprache und nicht auf einen Umgang mit Umgebungsgeräuschen hinzudeuten. 138 Um den Zusammenhang der französischen und kymrischen Texte rankt sich unter dem Schlagwort der ‚Mabinogionfrage‘ ein umfangreiches Dickicht an Forschungsliteratur. Es sei für die relative Datierung stellvertretend auf die sehr einleuchtende Argumentation Helmut Birkhans verwiesen, der anhand von Vergleichen des Owein mit anderen kymrischen Überlieferungen zu dem Schluss kommt: „[W]ir [können] mit Sicherheit ausscheiden, daß die drei hier übertragenen Erzählungen [u. a. der Owein] genuin aus der autochthonen Tradition erwachsen seien [...]. Damit bleibt nur die Möglichkeit: Die drei Erzählungen sind im Vergleich zum Werk Chrestiens sekundär, sie setzen es voraus“; BIRKHAN, 1989, S. 37. 139 Auch dieser Name ist sinntragend, da bei der ‚Rücküberführung‘ der arthurischen Szenerie in die mittelkymrische Literatur mit ‚Cynon‘ ein Name gewählt wurde, der stark an Conán, den mythischen Vorgänger Keus/Keies erinnert; vgl. DÄUMER, 2011 (Keie), S. 105f. 140 Vgl. OWEIN, Z. 1-218.

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Erwartung des Mahls schlafen und trägt zuvor seinen Rittern auf, Geschichten zu erzählen, für die sie aus der Hand des Truchsessen Keie mit Fleisch und Met belohnt werden sollen. Aufgrund der Änderung des Protokolls differiert auch Ceis Funktion in den kymrischen Texten auf signifikante Weise. Der Küchenmeister nimmt sein Amt sehr ernst und will erst nach Beendigung der Erzählung die Nahrungsmittel freigeben. Aufgrund seiner Machtposition wird Cei zum ‚expliziten Rezipienten‘ des Erzählers Cynon: (1) A hyn a dywedaf ytti, Gei, vot yn debic genhyf bot yn degach yr haccraf onadunt hwy no’r vorwyn deckaf a weleist eiroet yn Ynys Prydein. (2) An bwyt a doeth yn, a diheu oed ytti, Gei, na weleis i eirmoet ac nas kigleu bwyt na llyn ny welwn yno y gyfryw [...]. (3) A’r ffon hayarn a dywedassei y gwr vot llwyth deuwr yndi, hyspys oed genhyf i, Gei. (4) A diheu oed genhyf i, Gei, na diaghei na dyn na llwdyn o’r a ordiwedei y gawat yn wyw [...]. Ac yna yd hinones. Ac yna nachaf yr adar y discynnu ar y pren ac yn dechreu canu. A hyspys yw genhyf i, Gei, na chynt na gwedy na chigleu gerd gystal a hanno eirmoet. (5) A ffan deuthum y’r llannerch, yd oed y gwr du yndi; a’m kyffes a dygaf ytti, Gei, may rywed na thodeis yn llyn tawd rac kywilyd gan a gefeis o vatwar gan y gwr du. (6) A’r march hwnnw y mae gennyf i etto yn yr ystauell racko, ac y rof a Duw, Gei, nas rodwn i euo ettwa yr y palffrei goreu yn Ynys Pryndein. A Duw a wyr, Gei, nat adeuawd dyn arnaw e hun chwedyl vethedigach no hwnn eiryoet. (OWEIN, Z. 60-62, 82-84, 124f., 171-182, 198-200, 210-214)

(1) Und das sage ich dir, Kei, daß mich die wenigst liebliche von ihnen lieblicher dünkte als die lieblichste Jungfrau, die Ihr je auf der Insel Britannien gesehen habt. (2) Unser Mahl wart uns vorgesetzt; und du magst dessen gewiß sein, Kei, daß ich keine Speise noch Getränk je gesehen oder davon gehört habe, deren Art ich dort nicht vorgefunden hätte [...]. (3) Und die eiserne Keule, von der man mir gesagt hatte, daß sie die Last für zwei Männer wäre, schien mir offensichtlich die Last für vier Krieger zu sein, Kei.

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Die performative Doppelgesichtigkeit des Truchsessen (4) Und nach dem Donner (kam) der Schauer; und ich hatte keine Zweifel, Kei, daß weder Mensch noch Tier den Schauer lebendig überstanden hätte [...]. Aber dann heiterte es sich auf; und daraufhin – siehe! – ließen sich die Vögel auf dem Baum nieder und begannen zu singen, und ich zweifle nicht, Kei, daß ich nie zuvor einen so lieblichen Gesang wie diesen gehört hatte – noch auch später. (5) Und wie ich wieder zu der Lichtung kam, war (wieder) der schwarze Mann auf ihr. Und ich gestehe dir, Kei, es ist ein Wunder, daß ich nicht zu einem See zerschmolz wegen des Spottes, den der Schwarze auf mich häufte. (6) Und dieses Roß besitze ich auch jetzt noch in jenem Stall, und, Kei – Gott ist mein Zeuge – es wäre mir nicht für den besten Zelter der Insel Britannien feil und, weiß Gott, Kei, niemals gestand ein Mann gegen sich selbst größere Schande ein als diese.141

Cei wird immer dann vom in der Rolle des Cynon agierenden Rezitator apostrophiert, wenn dieser die Existenz von etwas Wunderbarem bekräftigen will (1, 2, 3, 4, 6). Dies ist auch in den mittelhochdeutschen und altfranzösischen Romanen eine Standardfunktion der Einwürfe eines Rezitators; jedoch wird dort keine Figur, sondern der Zuhörer selbst angesprochen. Die Apostrophierungen des kymrischen Cei finden des Weiteren statt, wenn es um die Regeln der dargestellten Aufführungssituation bzw. um Essen (2), die dominante Charaktereigenschaft des lauschenden Truchsessen, den Spott (5), oder um seine Rolle als moralisch Urteilender geht (6). Die am Iwein aufgezeigte Stellvertreterfunktion des erzählenden Ritters Kalogrenant wird ebenso wie die Rolle Keies als Spiegelstelle des Zuhörers im Owein präzisiert. Der grundlegende – man möchte sagen: mythische – Charakter dieser Konstellation zeigt sich auch darin, dass sie auf die eigenen Riten des Vortrags (Erzählung vor, statt nach dem Essen) und den Stellenwert der Figur im eigenen Kulturkreis (Keie als positive Zentralgestalt der alten Sagen) umgeschrieben wurde. Es hat den Anschein, als wenn die vom Truchsessen ausgefüllte, narrativ-performative Funktionsstelle eine Variable darstellt, die je nach kultureller oder aber dichterischer Prägung metaperformativ genutzt wurde. So verwundert es nicht, dass der Einsatz der Keie-Figur im 141 Übersetzung in BIRKHAN, 1989, S. 68-75.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

theatralen Gefüge von Rezipient und performativem Ereignis sich auch bei den Chrétien rezipierenden Dichtern der mitthochdeutschen Literatur vielfach variabel zeigt. Eine Szene ist dabei für das Phänomen der Verschaltung von besonderem Interesse: Bei Parzivals erstem Auftritt am Artushof142 wird sein tumbes Verhalten von vielen Augen beobachtet. Im Gegensatz zu seiner Vorlage gestaltet Wolfram den Handlungsraum dieses Auftritts äußerst ‚theatral‘. Als der Artusritter Iwanet den Protagonisten zum Kampf gegen Ither aus dem Saal geleitet, heißt es zum Setting: Iwânet in an der hende zôch

Iwanet führte ihn bei der Hand

für eine louben niht zu hôch.

vor eine nicht allzu hohe Galerie.

dô saher für unde widr:

Da schaute er hin und her.

ouch was diu loube sô nidr,

Auch lag die Galerie niedrig genug,

daz er drûffe hôrte unde ersach

sodass er, was darauf geschah, hörte und sah.

dâ von ein trûren im geschach.

Davon kam er in Traurigkeit.

dâ wolt ouch diu künegîn

Die Königin selbst wollte

selbe an dem venster sîn

da auch am Fenster stehen

mit rittern und mit frouwen.

mit Rittern und Damen.

die begundenn alle schouwen.

Sie begannen ihn alle anzuschauen.

(PARZIVAL, V. 151,1-10)

Zu dieser Situation der wechselseitigen Wahrnehmung der Hofgesellschaft auf der Galerie und dem theatral exponierten Helden gehören zwei ‚Signalfiguren‘: Cunnewâre, die Hofdame der Königin, die nur für den besten aller Ritter lacht, und der stumme Ritter Antanor, der nur für den besten aller Ritter spricht. In Chrétiens Roman entsprechen diese Figuren einer namenlosen Dame und dem Hofnarren, der Keie seine spätere Verletzung durch Parzival prophezeit.143 Dass Wolfram den Narren durch den stummen Ritter Antanor ersetzt, ist ein Indiz für eine Umakzentuierung der Szene. Der höfische Spaßmacher wird durch eine Figur substituiert, die nicht zum allgemeinen Personal einer Hofgesellschaft gehört,144 sondern für eine spezielle symbolische Handlung steht: 142 Vgl. PARZIVAL, V. 147,11-153,20. 143 Vgl. CONTE, V. 1001-66. 144 Antanor hat im Parzival die Züge des ‚Närrischen‘ nicht völlig abgelegt, auch wenn Wolfram mit dem Begriff ‚tôr‘ (PARZIVAL, V. 152,24) eine andere Gewichtung vornimmt, die, wie Mireille Schnyder zeigt, weniger über

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Die performative Doppelgesichtigkeit des Truchsessen

das Brechen des Schweigens. Diese symbolische Handlung steht neben dem signifikanten Verhalten Cunnewâres: dem Lachen. Der Text verdeutlicht die Analogie der beiden Handlungen: „sîn rede unde ir lachen / was gezilt mit einen sachen“.145 Als mögliche Erklärung für die Umakzentuierung bietet sich die Verschaltung über den affektiven Charakter von Lachen und dem Erheben der Stimme an. Es handelt sich bei beidem um emotionale Äußerungen, die der Reaktion eines realen Publikums auf das Bild des in Narrenkleidern gewandeten und ‚tumben‘ Helden in der Aufführungssituation entspricht. Die Verschaltung über affektive Reaktionen deckt sich mit der theatralen Positionierung der ‚Signalfiguren‘ als Betrachter auf der Galerie: Sie werden als Spiegelfiguren der Zuhörerschaft inszeniert. Parzivals Wirkungen auf Cunnewâre und Antanor sind (im Sinne der medialen Kommentierung), dass die Humorlosen lachen und die Stummen sprechen lernen: zwei auf das Publikum bezogene Varianten der messianischen Heilungstaten. Beides sind Versprechungen an die Zuhörerschaft, denen durch die Figur ‚Parzival‘ und damit durch den Roman Parzival moralische Besserung (prodesse) und Belustigung (delectare) durch ein ‚richtiges Hören‘ (Rezipient) und ‚richtiges Sprechen‘ (Rezitator) in Aussicht gestellt werden. In diese über Verschaltung bewirkten performativen Verheißungen bricht Keie ein wie der Peitschenknall höfischer Zucht: Er schlägt Cunnewâre und Antanor, straft Lachen wie affektive Lautäußerung. Die Reaktion des Truchsessen verbildlicht seinen ‚wesentlichen‘ (mythischen) Antagonismus zur performativen Liminalität: Keie straft durch Schläge das Lachen der Cunnewâre als Zügellosigkeit sowie das Sprechen des Antanor als Vermessenheit und weist so die Affektivität in ihre Schranken – paradoxerweise indem er selbst affektiv, beinahe cholerisch reagiert. Damit begeht er eine Verfehlung, entweder dadurch, dass er den prophetischen Gehalt von Cunnewâres und Antanors Affekten nicht erkennt, oder aber, dass es ihn ärgert, dass ausgerechnet Antanor, als über seine Wahrnehmung durch den Hof aussagt: „Das selbstvergesse Schweigen in der Gesellschaft wird von dieser in seiner Unverständlichkeit als Zeichen einer Verstandesschwäche gedeutet und so, als Sprachdefiziens verstanden, zum Attribut des Toren. So wird auch Antanor am Artushof zum Toren gemacht“; SCHNYDER, 2003, S. 115. 145 PARZIVAL, V. 152,25f. (‚Sein Reden und ihr Lachen / waren an dieselbe Bedingung geknüpft‘).

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der solche Affekte Hervorrufende der Auserwählte sein soll. Die durch Keie verkörperte rigide Regelhaftigkeit des höfischen Lebens versucht (entweder aufgrund mangelnder Einsicht oder aber gezielt) alles Affektive, d. h. die freiheitliche Sphäre der Aufführung zu beschränken, wofür der Zensor an späterer Stelle146 durch die Hand des Protagonisten, dem Messias des prodesse et delectare, bestraft wird. Rekapitulation Die zwischen realem und fiktivem Fest oszillierende Doppelgesichtigkeit des arthurischen Truchsessen zeigt sich darin, dass er gezielt in Vorgänge verstrickt wird, die der Aufführungssituation ähneln. Bei der realen Vortragssituation war auch ein realer Truchsess vor Ort, dessen Aufgabe darin bestand die Einhaltung des höfischen Protokolls zu sichern. Von diesem Protokoll weiß man, dass es in der Epoche des höfischen Romans eine enorme Verschärfung erfuhr.147 Während des Essens war der Truchsess die Exekutivgewalt und Symbolgestalt dieser zunehmend rigiden Ordnung höfischen Lebens. Keies Funktion beim Romanvortrag war es, als Stellvertreter148 ein Verlachen dieser Ordnung zu ermöglichen und den Druck der neuen strengeren Etikette nach

146 Vgl. PARZIVAL, V. 293,19-297,29. Keies Bestrafung versieht Wolfram mit einem Kommentar zum Truchsessen (vgl. PARZIVAL, V. 297,5-29), der seine Rolle am Artushof, aber viel eher noch seine (imaginierte) Funktion als realer Wahrer der höfischen Ordnung betont und so die Affektzügelung rückwirkend zwar nicht rechtfertigt, doch relativierend als Notwendigkeit der Aufführung legitimiert. 147 Den besten Indikator für diesen Wandel stellt das Aufkommen der lateinischen Tischzuchten in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und die überaus schnelle Aufnahme dieser Benimmbücher in die deutsche Sprache im frühen 13. Jahrhundert dar; vgl. VOIGT, 1995, S. 297-301. Die stärkste kulturelle Relevanz hatten wohl die älteste lateinische Tischzucht Thesmophagia, die teilweise sogar schon in das dritte Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts datiert wurde, und die stark verbreitete Tischzucht im Welschen Gast (1215/16). 148 Wie Schonert feststellt, ist Keies „Äußeres weder in der Crône noch in den Romanen Chrétiens, Hartmanns, Wolframs, des Strickers usw. beschrieben.“ Selbst die spärlichen Beschreibungen von Äußerlichkeiten anderer Ritter wie bspw. ihre Rüstungen „werden im Fall Keies unterboten“; SCHONERT, 2009, S. 49. Dieser Befund passt zur These einer Platzhalterfunktion der Figur für einen realen Truchsessen.

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der ‚karnevalesken Dialektik‘ gleichzeitig zu kompensieren und zu stabilisieren. Bezüglich der raumverschaltenden Technik lässt sich festhalten, dass durch die Kombination der unspezifischen Schnittstelle ‚Festmahl‘ mit einer unspezifischen Platzhalterfigur nicht nur Räume, sondern auch die sie konstituierenden Akteure, Figuren wie Zuhörer, zueinander in Analogieverhältnisse treten. Die Figur ‚Keie‘ entspricht dem realen Truchsessen so, wie der Artushof oder signifikante Figuren desselben (Cunnewâre, Antanor) mit dem Publikum des Romans korrespondieren oder erzählende Figuren (Kalogrenant) mit dem sie darstellenden Rezitator. Somit erweist sich die Verschaltung auch als eine von fiktiven Körpern und körperlich präsenten Symbolträgern.

4.1.2.2 Knurrende Mägen vor dem Aufzug des Vorhangs Nicht nur Essensgebräuche und Figuren, auch Motive des arthurischen Erzählens können mit dem performativen ‚Sitz im Leben‘ des mittelalterlichen Romans begründet werden – bspw. die ‚Essensverweigerung in Aventüreerwartung‘:149 In seiner (wahrscheinlich) ursprünglichen Gestalt ist das Motiv in Chrétiens Conte du Graal zu finden. Dort weigert sich Artus anlässlich eines Pfingstfests, ein Festmahl zu beginnen, bevor nicht Neuigkeiten am Hof eingetroffen sind.150 Auch in der Première Continuation ist das Motiv in dieser Ausprägung zu finden.151 In den Romanen Hartmanns von Aue und in Wolframs von Eschenbach Bearbeitung des Conte du Graal ist das Motiv nicht vorhanden. Wolfram tilgte die ‚Essensverweigerung‘, die er bei Chrétien vorfand,152 wahrscheinlich, weil das Potenzial als auf die Aufführung verweisende Schnittstelle nicht erkannt wurde, und dies wahrscheinlich deshalb, weil Chrétiens ‚Urform‘ der Essensverweigerung nicht allzu stark auf eine Raumverschaltung hin konzipiert ist.

149 Zur Beschreibung des Motivs anhand der Krone vgl. ZACH, 1990, S. 68 und aktuell: Byrne 2011. 150 Vgl. CONTE, V. 2785-2826. 151 Vgl. CONTIN., T, V. 8493-8527. 152 Vgl. PARZIVAL, V. 216,5-217,30.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Erst in den so genannten ‚nachklassischen‘ deutschsprachigen Artusromanen wird die grundlegende Form der Essensverweigerung hinsichtlich Motivation und Ausformung der Sitte variiert. Am schlüssigsten ist anzunehmen, dass die Dichter der zweiten Generation die entsprechende Stelle bei Chrétien neu entdeckten und das Motiv in ihren Bearbeitungen für die Aufführung funktionalisierten – dies wahrscheinlich aufgrund eines Wandels in den herrschenden Tisch- und Aufführungssitten. In den jüngeren Romanen heißt es zur ‚Essensverweigerung in Aventüreerwartung‘: „dâ was sîn [Artus’] hof getiuret mit“.153 So steht es in Wirnts von Grafenberg Wigalois und ganz ähnlich in Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet154 hinsichtlich des Brauchs, der das Ingesinde des Artushofs vor Beginn der jeweils nächsten Handlungssequenz hungern lässt. Im Daniel ist es die Regel, dass die Ritter beim Essen einzig von ihren Verfehlungen erzählen dürfen.155 Im Jüngeren Titurel werden die möglichen Ausmaße des Essensverbots dem Publikum vor Augen geführt und als unrealistisch ausgewiesen.156 In Heinrichs von dem Türlin Krone wird an einer Stelle der Zusammenhang von Essen und Aventüre so verkehrt, dass die Ritter vor lauter Geschichtenerzählen das Essen vergessen und „vngaz sazen / Nuor von disen dingen“. 157 An einer anderen Stelle entspricht bei Heinrich die Darstellung mehr oder weniger der Chrétien’schen Konvention. NĤ an dem pfingstdag morgen

Nun, am Morgen des Pfingsttags,

Das gesinde began sorgen

begann das Gesinde sich zu sorgen

Vnd reden nach auentùre,

und fragte nach Aventüren

Vnd die geste vil tùre

und die hochgeschätzten Gäste baten darum,

Baten, das sie mĤst geschehen.

dass sie [die Aventüre] geschehen möge.

(KRONE, V. 12627-31)

153 WIGALOIS, V. 248 (‚damit [mit dieser Sitte] zeichnete sich sein [Artus’] Hof aus‘). 154 Vgl. LANZELET, V. 5708-21. Hier besteht die Pflicht, vor dem Essen Aventüre zu erzählen, damit die Ritter angeregt würden, „daz si sich êren vlizzen“ (LANZELET, V. 5717; ‚damit sie sich um Ehre bemühen‘). 155 Vgl. DANIEL, V. 109-135. 156 Vgl. JT, Str. 2315-17. 157 KRONE, V. 931f. (‚ungesättigt außer von diesen Erzählungen saßen‘).

390

Knurrende Mägen vor dem Aufzug des Vorhangs

Am Artushof findet ein Fest statt und man verlangt nach Aventüre – so wie in der Realität ein Fest stattfindet, auf dem nach dem Essen diese Verse vorgetragen werden. Aufgrund der Wechselseitigkeit dieser Verschaltung ist anzunehmen, dass auch die Verse aventùre erst einmal erzählte Geschichten meinen. Der Artushof ist in Sorge, da man den geladenen Gästen keine Erzählungen bieten kann, doch dann fordern diese auch noch das sie mĤst geschehen. Man wartet also in der fiktiven Welt auf den Eintritt einer wundersamen Begebenheit – so wie das reale Publikum auf den Beginn des kommenden Geschehens wartet. Eine Gemeinsamkeit in der Erwartung: Nicht umsonst spielt die Szene (und viele vergleichbare) dem arthurischen Topos entsprechend an Pfingsten. Diese Analogie in der Erwartungshaltung wird dann auch entsprechend inszeniert: Dis was reht vor eszen,

Das war kurz vor dem Essen

Vnd was der kúnig gesessen

und so wurde der König

Mit sinen gesten `vber al

mit all seinen Gästen in einen Saal

Gein der gaudin vf einem sal,

gegenüber einem Wald gesetzt,

Das sie ir augenweid

sodass die weite Heide

Hetten vf der breiten heid,

ihre Augenweide war,

Alles nach auentùre wan.

alles in Erwartung der Aventüre.

Nement war, wa die magt wol getan,

Schaut dahin, wo eine schöne Jungfrau,

Sgoydamur, dorther reit!

Sgoidamur, dahergeritten kam!

(KRONE, V. 12633-40)

Artus und seine Gäste werden wie ein Publikum in einen Saal gesetzt und schauen in Erwartung des Abenteuers in die Welt hinaus. Ihr Blick ruht auf dem Wald, dem Gegenstück zum kulturellen Leben am Hof.158 158 In dieser oppositionellen Stellung nutzt auch Wirnt von Grafenberg den Wald in seiner einführenden Beschreibung des Artushofs, die mit der Sitte des ‚Essensverbots in Aventüreerwartung‘ und der daraufhin einsetzenden Handlung endet (vgl. WIGALOIS, V. 176-257): Als ichz vernomen hân, sô lac daz hûs an einer plân. ein grôz fôreis dar an stiez. der künic daz vil selten liez ern rite baneken drin. ez was der rîter gewin und ir aller bestez spil

So wie ich es vernommen habe, lag das Haus an einer Aue. Ein großer Wald grenzte daran. Nie unterließ es der König darin zum Vergnügen zu reiten. Das war den Rittern von Vorteil und ihr allerliebstes Spiel,

391

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Das ‚Andere‘ des Hofes entspricht in dieser Raumkonstellation der Bühne eines Theaters oder der Leinwand eines Kinos. Die auf Wald, Bühne und Leinwand gerichtete Aufmerksamkeit ist Ausdruck der Erwartung eines Geschehens, das virtuell für eine begrenzte Zeit die Regeln des Alltags ausstellt oder bricht. In dem Moment, in dem die neue Aventüre über die Artusgesellschaft und das reale Publikum hereinbricht (eingedenk des Pfingsttages: wie der Heilige Geist über die ebenfalls beim Mahl sitzenden Jünger)159, macht der Text keinen Unterschied mehr zwischen der visuellen Wahrnehmung der versammelten Ritter und der akustischen des Zuhörers: Im Ausruf „Nement war“ fallen fiktive und reale Wahrnehmung bzw. der durch sie konstituierte fiktive und der Aufführungsraum ineinander. Der Ausruf des Rezitators ist der textuelle Rückstand einer performativen Handlung (neben der Sprechhandlung sind entsprechende Gesten mitzudenken), welche Realität und Fiktion einstmals in einem Vortrag miteinander verband und bei jeder Reaktualisierung des Texts aufs Neue verbindet, um das Publikum (ob vor Wald, Rezitator, Papier, Bühne oder Leinwand) in fiktionsübergreifender Erwartung und deren abrupten Erfüllung zu bannen. Diese Grundform der Raumverschaltung durch die Essensverweigerung ist in beinahe gleicher Form im Meleranz des Pleier zu finden.160 daz si âventiure vil dass sie darin so viele Abenteuer dâ zallen zîten vunden. zu jeder Zeit finden konnten. (WIGALOIS, V. 176-184)

Der Wald ist der Ort der Abenteuer und Trainingsparcours der Ritterlichkeit; ihm wird als Areal der Probehandlungen bei Wirnt eine ähnliche Virtualität wie von Heinrich zugesprochen. 159 Apg 2,1-4. Vulgata: „(1) et cum conplerentur dies pentecostes erant omnes pariter in eodem loco (2) et factus est repente de caelo sonus tamquam advenientis spiritus vehementis et replevit totam domum ubi erant sedentes (3) et apparuerunt illis dispertitae linguae tamquam ignis seditque supra singulos eorum (4) et repleti sunt omnes Spiritu Sancto et coeperunt loqui aliis linguis prout Spiritus Sanctus dabat eloqui illis“; Einheitsübersetzung: „(1) Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. (2) Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. (3) Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. (4) Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.“ 160 Hier sind ebenfalls die an den Artushof geladenen Gäste Beobachter des Brauchs: Man setzt sich in Erwartung der Aventüre ins Freie und die Situa-

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Knurrende Mägen vor dem Aufzug des Vorhangs

Den schon erwähnten Darstellungen in den anderen ‚nachklassischen‘ Romanen ist gemein, 161 dass die ‚Essensverweigerung in Aventüreerwartung‘ den Punkt bezeichnet, an dem eine neue Handlung, meist in Form eines von Aventüre berichtenden Boten (also eines vor dem Artushof performenden Erzählers), über die fiktive wie reale Festgesellschaft hereinbricht. Die raumverschaltende Analogisierung von Publikum und Artushof führt hinsichtlich ihres performativen ‚Sitzes im Leben‘ jedoch auch zur Betonung eines entscheidenden Unterschieds zwischen fiktiver und realer Hofgesellschaft: In der Fiktion hat man es mit hungernden Artusrittern zu tun, die sich erst durch neue Verdienste des Mahls würdig erweisen müssen – wie kontrastiv und (im Sinne der laudatio temporis acti) wertend wirkt diese hungrige Gesellschaft aber angesichts eines gesättigten Publikums? Der Zuhörer durchlebt in der Verschaltung der Räume also ebenfalls eine Differenzerfahrung, die durch eine Kontrastierung der fiktiven und der Aufführungssituation moralisierend wirkt: Zur Zeit König Artus’ durfte man nur essen, wenn Taten bevorstanden – heute, also in der Gegenwart des Zuhörers, lauscht man mit vollen Mägen einer Geschichte, die maximal für sich in Anspruch nehmen darf, zu zukünftigen ehrenhaften Handlungen anstiften zu wollen. Diese Differenzerfahrung ist in vielen Formen anzutreffen. Hartmann macht, wie bereits in Kapitel 2.1 dargelegt, den Kontrast von vergangener Tat und gegenwärtigem ästhetischem Konsum zum programmatischen Bestandteil seines Iwein-Prologs, bricht den Akt der laudatio temporis acti jedoch zum Lob der Vortragssituation um. Andere Umspielungen der moralischen Differenz sind, da sie nicht metafiktional sprechen, ‚subtiler‘: Nachdem Eneas in Heinrichs von Veldeke Roman aus Troja fliehen musste und sieben Jahre über die tion der hungrig wartenden Gesellschaft wird beim Eintreffen eines Boten zur ‚Blickverschaltung‘ mit der Zuhörerschaft des Romans genutzt (vgl. MELERANZ, V. 3165-99). 161 Eine Abweichung stellt die erwähnte Darstellung des ‚Essensverbots‘ im Jüngeren Titurel dar. Die Strophen 2315-17 zeugen zwar ebenfalls von der Bedeutung des ‚Essensverbots‘ als Schnittstelle, jedoch mittels einer metafiktionalen bzw. metaperformativen Reflexion: Ein Motiv, das besonders gut dazu geeignet ist, den fiktiven und den Aufführungsraum zu verschalten, wird in Strophen abgelehnt, die durch direkte Ansprache des Publikums wiederum selbst besonders performativ wirken; der raumverschaltende wird durch einen verfremdenden Effekt ersetzt (siehe Kapitel 4.2).

393

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Meere geirrt war, kommt er an den Hof der Dido. Dieser muss er vom Untergang Trojas berichten. In Vergils Aeneis ist die Handlung nach dem Homer’schen ordo artificialis konzipiert, d. h., dass Vergil seine Erzählung erst während Aeneas’ Seefahrt beginnen lässt (I. Buch) und die Schilderungen vor Dido (II. und III. Buch) dem Rezipienten als nachträgliche Exposition der Handlung dienen. Heinrich erzählt – wie auch seine Quelle, der französische Roman d’Eneas – zwar von Anfang an (ordo naturalis), beginnt also mit der Zerstörung Trojas, doch viele Einzelheiten der Vorgeschichte erfährt der Zuhörer wie bei Vergils Text auch erst zugleich mit der Königin von Karthago.162 Die Vortragssituation vor Dido setzt – wie könnte es anders sein – nach dem Essen ein: Dô daz ezzen was getân,

Als das Essen beendet war,

dô was dâ manich Troiân

da waren alle Trojaner

wol gemût unde frô.

gut gelaunt und glücklich.

nu was die frouwe Dîdô

Nun hatten sich Frau Dido

und der hêre Ênêas

und Herr Eneas

aldâ in lieb was

wo es ihnen gefiel

ensament gesezen an ein stat.

an einem Ort zusammengesetzt.

minnechlîche sie in bat,

Liebreich bat sie ihn,

daz her sich bedehte

dass er sich bedächte

unde ir sagete rehte,

und ihr wahrheitsgetreu erzähle,

wie Troie wart gewunnen.

wie Troja errungen ward.

(ENEAS, V. 899-909)

Der Vortrag im Vortrag beginnt mit einer Situation, die der Realität der Aufführung entspricht: Wohlgenährt wie die Trojaner wartet auch das reale Publikum auf den Fortgang der Geschichte. Asymmetrisch wird die Raumverschaltung dadurch, dass Eneas seine Geschichte nicht vor dem versammelten Hof erzählt; das Aufsuchen eines gemeinsamen Sitzplatzes impliziert, dass Eneas nur zu Dido spricht. Dieser Schritt ist jedoch notwendig, um die einsetzende Minnehandlung zu unterstreichen. Das Publikum lauscht deshalb statt mit den Ohren der Hofgesellschaft mit denen Didos, welche, selbst eine Vertriebene, sich während der Erzählung von der Vertreibung des Eneas mit dessen Schicksal

162 Vgl. KARTSCHOKE, 1997, S. 866-870.

394

Knurrende Mägen vor dem Aufzug des Vorhangs

verbunden sieht und unrettbar der Minne verfällt. Nach Beendigung des Vortrags wird Dido wie folgt beschrieben: alsô was sie bedaht:

So war ihr zumute:

mûste si alle die naht

Hätte sie die ganze Nacht

bî ime sîn gesezzen,

bei ihm sitzen dürfen,

si hete wol vergezzen

hätte sie wohl alles vergessen,

alles des in der werlde was.

was die Welt zu bieten hat.

(ENEAS, V. 1245-49)

Die Wirkung der Minne und des Vortrags bedingen einander und werden gewissermaßen eins. Dido sitzt vor Eneas, verzaubert von seinem Wesen und seinen Worten, so wie das Publikum idealiter verzaubert vom Wesen des Rezitators und den Worten des Dichters sein sollte. Indem der erzählende Protagonist und der Rezitator zu zwei sich entsprechenden Größen auf verschiedenen Ebenen des Kommunikationsbzw. Raummodells des Romans stilisiert werden, spiegelt sich im Verhältnis der Figur Dido zur Erzählung des Eneas ein rezeptiver Anspruch – der nebenbei auch Minne- und Rezeptionssdiskurs in Analogie setzt. Das fiktionsüberbrückende Verhältnis von Figur und Rezitator zeigt sich besonders deutlich an Versen, die ihre Berechtigung nicht aus dem Erzählgestus der Ich-Erzählung, sondern aus dem der Aufführungssituation erhalten. So sagt Eneas über das Trojanische Pferd: ez was wît unde hô

Es war breit und hoch

und was gemachet alsô,

und war folgendermaßen gefertigt

sô uns dar abe gesaget is,

(wie uns davon berichtet wird,

daz wir des soln sîn gewis,

sodass wir uns dessen sicher sein können):

mit funfzich solren sunder.

mit fünfzig einzelnen Stockwerken.

(ENEAS, V. 967-971)

Der Held kann die innere Konstruktion des Pferdes selbst nie gesehen haben163 und irrte die letzten sieben Jahre ziellos umher: Wer soll ihm 163 Es wird betont, dass Eneas „[i]n der borch an einem ende, / entgegen dem sundern winde“ (ENEAS, V. 33f.; ‚an einem Rande der Stadt [Troja], / das südlich gelegen war‘) wohnt und nur aufgrund einer göttlichen Warnung

395

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

da glaubhaft von der Konstruktionsweise des von den Griechen entworfenen Pferdes berichtet haben? Aus der Handlungslogik bzw. einer IchFokalisierung heraus sind diese Verse nicht zu begründen. Erst wenn man sich vor Augen hält, dass ein Rezitator in der Rolle des Eneas spricht, gewinnen die Verse an Sinn: Sie gehören zu den standardisierten Formulierungen, mit denen der Wahrheitsgehalt von Informationen durch Quellen belegt wird. Das, was „uns dar abe gesaget is“, meint also keine Berichte innerhalb der fiktiven Welt, sondern die dem realen Publikum bekannte Sage vom Trojanischen Krieg.164 Hier zeigt sich, dass die Wahrnehmung des den Eneas sprechenden Rezitators eine zweiteilige ist: Einerseits spricht er in Rolle, andererseits aber auch als körperlich präsenter performer, als ‚er selbst‘ in seiner Funktion als ausführende Kraft der dichterischen Verse. Er „trägt ständig zwei Situationen Rechnung“.165 An dieser Doppelgesichtigkeit des performers wird die moralische Differenz von Realität und Fiktion (respektive Wahrheit und Trug) genauso zum Thema, wie in der von ihm als Eneas erzählten Geschichte vom trojanischen Untergang: Als trügerisches Pferd schmuggeln die Verse die performative Kommunikation in die Fiktion hinein. Der metafiktionale Diskurs um diesen Zusammenhang erreicht seinen Höhepunkt, wenn der Vortrag im Vortrag von einem weiteren Vortrag

früh genug die Flucht ergreifen kann. Zum Zeitpunkt der Flucht ist die Stadt schon gefallen und Eneas sieht sie nur aus der Ferne brennen; vgl. ENEAS, V. 49-63. Eneas kann das Pferd also nur am Vorabend gesehen haben, als die Griechen es ihnen listenreich schenkten und die Trojaner gerade nichts von den fünfzig einzelnen Stockwerken in seinem Inneren wissen konnten. Deshalb erfolgen die Schilderungen der fatalen Überlegungen bei Annahme des Pferdes in „Wir“-Form. 164 Diese Überblendung von Eneas- und Rezitatorrede ist kein Einzelfall. Auch in der Ansprache des Protagonisten vor Beginn des Zweikampfes mit Turnus (vgl. ENEAS, V. 11659-758) lassen sich Verse finden, mit denen gleichzeitig Eneas zu Figuren und der Rezitator zu den Zuhörern spricht. Wenn Eneas bezüglich Erzählungen von seinen trojanischen Ahnen sagt, „daz gnûge wizzen vor wâr“ (ENEAS, V. 11689; ‚Davon wissen genügend [alle], dass es wahr ist‘), so ist damit genauso die Zustimmung seiner fiktiven Gefolgsleute gemeint, wie auch auf die Bekanntheit der Trojanischen Sage beim realen Publikum angespielt wird. Ob ‚primär‘ Figur oder der performer spricht, bleibt der ‚Entscheidungsleistung‘ (vgl. EGIDI, 2002, S. 351-353; siehe Kapitel 2.1.1) des einzelnen Zuhörers überlassen. 165 BRECHT, 1993, S. 376; siehe Folgekapitel.

396

Knurrende Mägen vor dem Aufzug des Vorhangs

handelt: Der Rezitator trägt vor, wie Eneas berichtet, dass Sinon vor Priamus trat und erzählte, was es mit dem riesigen hölzernen Pferd auf sich habe:166 ein wahres Matroschka-Spiel der Masken (personae). So wie die Verwirrung der fiktionsvermittelnden Ebenen zunimmt, erweitert sich auch das Trugspiel auf der Handlungsebene und exponiert die Rollenverschachtelung und eine weitere. Denn Sinon ist niemand anderes als Odysseus, der die Trojaner durch sein Rollenspiel zur Einholung des Pferdes bewegt. Diese Verquickung von inhaltlichem und performativem Trug ist kein Effekt, den die Trojasage ohnehin hergab: Das Täuschungsspiel des Odysseus an dieser Stelle ist eine Neuerfindung Heinrichs, die er weder im französischen Roman d’Eneas noch bei Vergil oder Ovid vorfinden konnte.167 Geht man aus den bereits dargelegten Gründen168 davon aus, dass Heinrich die Etablierung des höfischen Romanvortrags im deutschsprachigen Gebiet vornahm, lässt sich hinter dem Matroschka-Spiel eine performative Programmatik vermuten: Es handelt sich um den Versuch, eine Handlung über List und Trug so wiederzugeben, dass sich in der Aufführung das Trugspiel in einer vierfachen Exponierung der Rolle bzw. einer mehrfachen Verschachtelung von Fiktions- und Realitätsebenen widerspiegelt. Der Raumverschaltung wird so über den Ausgang der Erzählung eine entsprechende moralische Wertung zuteil. So sagt Eneas über die Wirkung von Sinons/Odysseus’ Vortrag: Wir wâren alwâre

Wir waren einfältig

und wânden, daz ez wâre

und waren der Meinung, dass

allez wâr daz her sprach,

alles wahr wäre, was er sprach.

dâ uns leit und ungemach

Da[von] überkam uns Leid, Qual

166 Vgl. ENEAS, V. 989-1156. 167 Vgl. KARTSCHOKE, 1997, S. 768. Einzig der Servius-Kommentar aus dem 4. Jahrhundert beinhaltet eine Passage, die Heinrichs fiktionsübergreifendes Ränkespiel angeregt haben könnte. In dem Kommentar wird Euphorion, ein Autor des 3. Jahrhunderts, zitiert, der Sinon, obwohl Vergil dies nicht schrieb, als den listigen Odysseus identifiziert habe (vgl. ebd., S. 768). Das Spiel von Lug und Trug ist auch in der Argumentation des Servius-Kommentars ein Fiktion und Realität umspannendes: Es wird implizit behauptet, dass eine Figur (Sinon) die Fähigkeit besitze, einen Autor (Vergil) zu täuschen, um eine andere Figur (Odysseus) aus einer Funktionsstelle der Sage zu verdrängen. 168 Siehe Kapitel 3.2.

397

Stimme im Raum und Bühne im Kopf und michel schande abe quam.

und große Schmach.

Sîn rede dûhte uns lussam.

Anmutig dünkte uns seine Erzählung.

wir markten sie ze gûte

Wir prägten sie uns gut ein

und wart uns des ze mûte,

und so kam es uns in den Sinn,

dô wir uns besprâchen,

als wir miteinander beratschlagten,

daz wir unser mûren brâchen

unsere Mauern auf fünfzig Klaftern

funfzich klâfteren nider.

Länge niederzubrechen.

dane sprach dô nieman niht wider.

Niemand erhob Einwand dagegen.

(ENEAS, V. 1145-56)

Was den Fall Trojas bewirkt, ist eine Erzählung bzw. der irrige Glaube an den Wahrheitsgehalt derselben. Dies wird umso deutlicher, wenn das marken in Vers 1151 nicht als Teil einer leeren Phrase unter den Tisch des Übersetzers fällt, sondern als Ausdruck für den Erinnerungs- bzw. Inskriptionsprozess verstanden wird. Es war die Geschichte des Sinon/ Odysseus, welche die Trojaner aufgrund des ‚merkens‘ die todbringende Entscheidung treffen ließ, die Stadtmauer niederzureißen. Die Passage versinnbildlicht dementsprechend einen falschen Umgang mit der Inskription und dem Reaktualisieren einer Erzählung, der darin begründet liegt, dass eine Lüge (Fiktion) für Wahrheit (Realität) gehalten wurde. Ermöglichen konnte dies das Rollenspiel, das in seiner gesteigerten Komplexität auch den Rezitator als ‚äußerste‘, für das Publikum greifbare Maske zwielichtig erscheinen lassen muss. Der rezeptive Anspruch, den die Szene anhand der verliebt lauschenden Dido formuliert, erweist sich so als worst case scenario, das den Maskengläubigen wie die Verliebte ins Verderben führen wird.

398

Der Verfremdungseffekt

4.2 Der Verfr emdungseffekt „Die schlechten Dichter verwischen die Spuren der Verwandlung; die guten führen sie vor.“ Elias Canetti, Über die Dichter169

1974 trat Walter Haug seine Professur in Tübingen mit einer Vorlesung „[ü]ber die Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur nach einer Lektüre der ästhetischen Schriften Bertolt Brechts“170 an. Haug beginnt seinen Vortrag damit, dass er drei ‚Versuchungen‘ darstellt, denen er in seinem anachronistischen Versuch zu begegnen gedenke. Die erste Versuchung entstehe aus der Tatsache, dass Brechts ästhetische Theorie und die ihr entsprechende theatrale Praxis historische Phänomene reaktualisieren würden.171 Dies geschehe einerseits durch direkte Anknüpfung an Traditionen, andererseits dadurch, dass der von Brecht ausformulierte theatralische Typus an sich eine „kontinuierliche, wenn auch über lange Strecken hin abseitige oder untergründige Tradition“172 darstelle. Das Nachschreiten dieser Traditionslinie wie das kontrastive Vergleichen von Einzelphänomenen entlang dieses Weges sind die ersten beiden Versuchungen, denen Haug zu widerstehen gedenkt. Dies ist angesichts der entweder schieren Unmöglichkeit (erste Versuchung) oder aber unbefriedigenden Singularität der zu erwartenden Ergebnisse (zweite Versuchung) durchaus verständlich. Der dritten Versuchung Haugs möchte ich jedoch nachgeben. Haug lehnt als Methode für einen Vergleich der Brecht’schen Theaterästhetik mit Kunstschöpfungen des Mittelalters ab, „nach generellen dramaturgischen Grundformen [zu] fragen, nach Kategorien des Publikumsbezugs, des Umgangs mit der Realitätssphäre der Bühne, der Funktionalität der theatralischen Ausdrucksformen usw. Dies im Blick auf eine allgemeine Dramaturgie, letztlich als Ausschnitt aus einer universalen Poetik, die freilich in dem Maße formalistisch ge-

169 Canetti, 2004, S. 9. 170 Vgl. HAUG, 1989, S. 126-140. 171 Eine ähnliche Position wird in der Brecht-Forschung u. a. von ESSLIN, 1962, vertreten. 172 HAUG, 1989, S. 127.

399

Stimme im Raum und Bühne im Kopf fährdet ist, in dem sie von den historisch-konkreten Bedingungen abstrahiert.“173

Der Aspekt dieser „allgemeinen Dramaturgie“, der im Folgenden fruchtbar gemacht werden soll, ist der so genannte Verfremdungseffekt,174 die grundlegende Technik hinter dem von Brecht theoretisch und praktisch fundierten Epischen Theater.175 Der haltlosen Abstrahierung des dramaturgischen Begriffs ‚Verfremdung‘ soll mit einer thematischen und historischen Konkretisierung des Phänomens anhand der Vortragspraxis höfischer Romane begegnet werden. Nun ist zu Brechts Theatertheorie, seinen dramatischen und praktischen Umsetzungen,176 der Tradition und Fortführung von Begriff und entsprechender theatraler Praxis177 schon viel gearbeitet worden und es ist nicht im Sinne der Konkretisierung, dieses Forschungsfeld in Gänze aufzuarbeiten. Der Verfremdungseffekt, der anhand des höfischen Romanvortrags aufgezeigt werden kann, bezieht sich auf die basalen Elemente der Theorie. Deshalb soll die Definition auch anhand eines der frühesten von Brecht geschaffenen Denkbilder vorgenommen werden: am Beispiel der Straßenszene (1938).178 Brecht imaginiert als ‚Grundmodell‘ des Epischen Theaters einen Augenzeugen, der an einer Straßenecke einer Menschenversammlung den Ablauf eines kurz zuvor ereigneten Verkehrsunfalls demonstriert. Als Eigenschaften von dessen

173 Ebd. 174 Eine Übersicht über die Forschung und die Bedeutungsweite des Verfremdungseffekts liefert das Brecht-Handbuch; vgl. KNOPF, 1996, S. 388-394. 175 Allgemein zum Epischen Theater als strukturgebendes Element der modernen Dramatik vgl. KESTING, 1989. 176 Eine Auflistung einiger Verfremdungseffekte in Brechts Texten und Reflexionen zu ihren Umsetzungen findet sich in KNOPF, 1986, S. 112-119. 177 Besonders bekannt sind die Wiederaufnahmen und Neuinterpretationen der Brecht’schen Theorie durch bspw. Heiner Müller, Erwin Piscator oder Peter Brook. Zu neueren, zeitgenössischen Inszenierungen, die variantenreich mit Elementen des Epischen Theaters spielen, vgl. RADDATZ, 2007. 178 Dieser Text bietet sich für das hier verfolgte Vorhaben stärker an als die prägende Definition in der im selben Jahr fertiggestellten überarbeiteten Fassung der Anmerkungen zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagony, da die Straßenszene weniger auf Theaterpraxis als auf die Veranschaulichung grundlegender Züge des Epischen bzw. des Verfremdungseffekts bedacht ist.

400

Der Verfremdungseffekt

‚epischer‘, d. h. narrativ-distanzierter Bezeugung des Geschehens betont Brecht das Folgende: „Er [der Demonstrant] hat niemanden ‚in seinen Bann zu ziehen‘. Er soll niemanden aus dem Alltag in eine ‚höhere Sphäre‘ locken. [...] Völlig entscheidend ist es, daß ein Hauptmerkmal des gewöhnlichen Theaters in unserer Straßenszene ausfällt: die Bereitung der Illusion. [...] Folgt die Theaterszene hierin der Straßenszene, dann verbirgt das Theater nicht mehr, daß es Theater ist, so wie die Demonstration an der Straßenecke nicht verbirgt, daß sie Demonstration (und nicht vorgibt, daß sie Ereignis) ist.“179

Mit der Übertragung dieser anti-illusionären Darstellungstechnik vom Alltag auf die Bühne entstehen bestimmte Ansprüche an Schauspieler, die Brecht – und hier leuchtet das auf, was Haug als „abseitige oder untergründige Tradition“ des Epischen Theaters bezeichnet – im Sinne einer Doppelexistenz des Darstellenden darlegt: „Ein wesentliches Element der Straßenszene besteht in der natürlichen Haltung, die der Straßendemonstrant in doppelter Hinsicht einnimmt; er trägt ständig zwei Situationen Rechnung. Er benimmt sich natürlich als Demonstrant und er läßt den Demonstrierten sich natürlich benehmen. Er vergißt nie und gestattet nie zu vergessen, daß er nicht der Demonstrierte, sondern der Demonstrant ist. Das heißt: was das Publikum sieht, ist nicht eine Fusion zwischen Demonstrant und Demonstriertem, nicht ein selbständiges, widerspruchloses Drittes mit aufgelösten Konturen 180 von 1 (Demonstrant) und 2 (Demonstriertem) [...].“

Das Auseinanderfallen von Demonstrant und Demonstriertem erzeugt im Zuschauer die kritische Distanzhaltung, die Brecht als moralischen Zweck seines Epischen Theaters versteht. Die Technik, in der sich die Dissoziation von Darsteller und Rolle immer wieder offenbart und mit welcher der Bruch mit der identifikatorischen Einfühlung vollends vollzogen wird, ist der Verfremdungseffekt – in all seinen möglichen Varianten: schauspielerische Distanz zur Rolle, direkte Ansprache des 179 Brecht, 1993, S. 372; Hervorhebungen im Original. 180 Ebd., S. 376f.; Hervorhebungen im Original.

401

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Publikums, der unvermittelte Übergang von der Darstellung zum Kommentar, revueartige Bildaddition, Dehnung und Raffung von Handlungsabläufen, Widerspruch zwischen Wort und Geste, Einsatz von Prologen, Epilogen und/oder Szenentiteln, Parodie- und Zitattechniken, Mischung verschiedener Medien, Songs (bei denen die Darsteller aus der Rolle treten), Offenlegung der Theatermaschinerie, nicht-naturalistisches Bühnenbild und/oder Masken, die Stimmung unterminierende oder karikierende Bühnenmusik, etc.181 Die möglichen praktischen Ausprägungen des Verfremdungseffekts sind wohl beinahe unbegrenzt. Zusätzlich dazu – so betont Brecht schon gleich zu Anfang seiner Theoriebildung – ist der Verfremdungseffekt nicht auf das Theatrale bzw. Performative zu beschränken, sondern ebenso auf literarische oder bildnerische Techniken übertragbar. Was bezüglich der performativen Techniken beim höfischen Romanvortrag von Bedeutung sein wird, ist v. a. die von Brecht beschriebene Doppelexistenz des Darstellers bzw. die daraus resultierende gebrochene Vermittlung eines Geschehens – also das Gegenstück zur bereits verhandelten Verschaltung. Brecht geht von einer sehr plastischen, performativen Straßenszene aus. Um seinen Verfremdungseffekt für eine Untersuchung textueller Partituren zu nutzen, muss man die Technik allgemeiner fassen: Die gebrochene Vermittlung ließe sich analog zum (jedoch unabhängig vom) Schauspiel als das ostentative Auseinanderdriften von Erzähler und Erzählung beschreiben. Der Straßendemonstrant beschreibt ein Geschehen (Narration), ist sich dabei jedoch stets der eigenen Körperlichkeit und der möglichen Fehlbarkeit seines Erzählvorgangs bewusst, was ihn und sein Publikum vom ‚Aufgehen‘ in der Narration abhält. Der Straßendemonstrant kann sich einerseits der Möglichkeit einer Fehlleistung beim Wahrnehmen oder Erinnern des vergangenen Ereignisses oder andererseits seiner Funktion als beschreibender Zeuge (über-)bewusst sein, was sich in seinen schauspielerischen Handlungen ebenso wie in seinen Sprechakten abzeichnet. Er wird, wenn er sich seiner Doppelexistenz bewusst wird, des Öfteren distanzierende, apologetische, relativierende oder aber beteuernde Formulierungen gebrauchen, wie:

181 Vgl. FEDDERSEN, 2006, S. 254 und HAUG, 1989, S. 128.

402

Der Verfremdungseffekt

1. ‚Leider kann ich das jetzt nicht richtig darstellen.‘ 2. ‚Das erzähle ich jetzt nicht‘ oder: ‚Ich kürze das ab; in Wirklichkeit dauerte es viel länger.‘ 3. ‚Zumindest habe ich es so gesehen‘ oder ‚Wenn Sie das hätten sehen können.‘ 4. ‚So ist es gewesen, so wahr ich hier stehe.‘ 5. ‚Denken Sie daran, dass ich das nur nachspiele.‘ 6. ‚Mir könnte so etwas ja nicht passieren.‘ Mit Einwürfen wie diesen stellt der Demonstrant mittels seiner Sprache auf einer dem Illusionismus entgegenwirkenden Ebene für die lauschende Menschenmenge die kritische Distanzhaltung her, die Brecht mittels performativer Verfremdung auf der Bühne beim Theaterpublikum bezweckt. Am Punkt der narrativen Dissoziation von Erzähler und Erzählung geben sich der moderne Straßendemonstrant und der mittelalterliche Rezitator die Hand. Denn alle verfremdenden Sprechakte, die für den Straßendemonstranten denkbar wären, sind auch in den für Rezitatoren festgeschriebenen Versen der höfischen Romane in den folgenden Ausprägungen zu finden: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Zugeständnis ungenügender erzählerischer Fähigkeit Betonte narrative Eigenmächtigkeit Hervorhebung von WAHRnehmungsleistungen (Perspektive) Hervorhebung der (eigenen) korporalen Person (Körper als Zeuge) Offenlegung fiktionsvermittelnder Mechanismen Persönliche Distanzierung zum Geschehen

Diese im Folgenden zu erläuternden Kategorien verfremdender Sprechakte bewirken, dass die fiktionsvermittelnden Vorgänge im Aufführungsraum in den vor dem inneren Auge des Zuhörers aufgebauten Raum der Fiktion einfallen. Der Rezitator stellt sich durch die verfremdenden Verse mit seiner jeweils individuellen Körperlichkeit vor die Bilder der Fiktion und zerstört deren illusionistische Wirkung. Es handelt sich also per definitionem um die gegenteilige Haltung zur bereits dargelegten Verschaltung. Theoretisch steht die Kontrast- der Analogieerfahrung entgegen; in der Praxis jedoch – so vorerst die Hypothese –

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

sind ‚Verfremdung‘ und ‚Verschaltung‘ meist zwei Seiten einer Medaille. Die daraus resultierende mangelnde Trennschärfe entspräche der Stellung des ‚Verfremdungseffekts‘ im Epischen Theater, denn ohne eine grundierende Illusionierung ist auch dort die Verfremdung nicht denkbar.182 Die analytische Leitfrage der folgenden, ‚revueartig‘ angeführten Beispiele ist, ob mit der Verfremdung im höfischen Roman die von Brecht bezweckte kritische Distanzhaltung oder aber andere Effekte erzeugt werden.

4.2.1 Zugeständnis ungenügender erzählerischer Fähigkeit Die Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts sind – so mag es erscheinen – Meister des understatement. Ständig betonen sie mittels Bescheidenheitstopoi die eigene Ohnmacht hinsichtlich einer adäquaten Darstellung der fiktiven Welt – vermeintlich zum rhetorischen Zwecke der captatio benevolentiae.183 Eine rein auf dem Text basierende und rhetorisch argumentierende Analyse dieser Haltung schließt jedoch eine entscheidende mediale Tatsache aus: Außer in den Sonderfällen, dass (1.) ein Dichter seine Verse selbst vortrug (was nur bei einem winzigen Bruchteil der Romanvorträge der Fall gewesen sein kann) oder aber (2.) der Rezitator in einem Rollenspiel für die Autorfigur spricht (was nur im Falle textueller Markierung angenommen werden kann), legte der Dichter die Ohnmachtsbekundigungen in den Mund eines Rezitators. Dieser kann sich im Regelfall nicht hinter der narrativen Maske der Autorfigur oder im rhetorischen Kunstgriff der captatio benevolentiae

182 Wie sich in Kapitel 4.2.2 zeigen wird, ist die Verfremdung in Form der ‚Doppelexistenz des Darstellenden‘ selbst eine Form des Illusionismus. 183 „Die Sympathie des Hörers (benevolentia) kann auf vierfache Weise gewonnen werden, gemäß den Momenten, die bei einer Gerichtsrede zusammenwirken [...]: Er [der Redner] kann in bescheidener Weise seine Verdienste um Staat, Verwandte und Freunde hervorheben; auf die Schwierigkeiten eingehen, die ihm entgegenstehen; seine Unterlegenheit und Schwäche gegenüber der Aufgabe und den Gegnern darlegen; sich mit bescheidener, beschwörender Bitte um Beistand an die Hörer wenden“; BRINKMANN, 1964, S. 5.

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Zugeständnis ungenügender erzählerischer Fähigkeit

verstecken, denn meist sind die Verse auf den performer als vorgeblich authentische und damit nur bedingt topische Äußerungen zugeschnitten. Nur in seltenen Fällen wird die Illusion dieser Authentizität aufgegeben und auf einer Metaebene reflektiert. Als Beispiel für letzteres mag ein Einschub zu Beginn der finalen Krönungsszene aus Chrétiens Erec et Enide dienen: Or ne porroit lengue ne boche

Jetzt könnte kein Mensch mit Zunge und Mund,

de nul home, tant seüst d’art,

wie trefflich er auch die Kunst verstünde,

deviser le tierz ne le quart

nur den dritten, vierten oder fünften Teil

ne le quint de l’atornemant

der Vorbereitungen wiedergeben,

qui fu a son coronemant.

die für seine Krönung getroffen worden waren.

Donc voel ge grant folie anprandre,

Darum begehe ich eine große Torheit,

qui au descrivre voel antandre;

weil ich eine Beschreibung versuchen will.

mes des que feire le m’estuet,

Aber da ich es tun muss,

et c’est chose qu’an feire puet,

und das ist auch durchaus möglich,

ne leirai pas que ge n’an die

will ich es nicht unterlassen, nach meinem

selonc mon san une partie.

Vermögen einen Teil davon zu berichten.184

(EREC ET ENIDE, V. 6640-50)

Es sind nicht Feder und Pergament, es sind Zunge (lengue) und Mund (bouche), die nicht dazu fähig sind, die fiktive Pracht adäquat zu vermitteln;185 und es ist in den Versen 6640-45 auch nicht das sprechende Ich, das seine Ohnmacht eingesteht, sondern der Sprecher verweist auf einen Mann (home), der nur einen Teil des Ganzen wiedergeben könne. Das Ich in den folgenden Versen will die Beschreibung trotzdem wagen, obwohl es weiß, dass es die Fähigkeiten von Zunge und Mund des unbenannten Mannes übersteigt. Bei der Krönungsszene handelt es sich um eine Passage voller Verfremdungseffekte. Diese zitierten Verse können angesichts der Häufung der Technik als programmatische Ouvertüre für das Folgende verstan184 Übersetzungsgrundlage: ALBERT GIER. 185 Auch an dieser Stelle (und ebenso beim folgenden Hartmann-Zitat) gilt es, den ‚rhetorischen Reflex‘ zu vermeiden, in der Kombination von Zunge (afrz. lengue) und Mund (afrz. bouche bzw. mhd. munt) automatisch eine Metynomie für die Dichtung zu sehen. Pauschalisierungen wie diese verhindern, dass man den Wortlaut der Verse in seinen medialen Implikationen ernst nimmt.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

den werden: Chrétien inszeniert den Kontrast zwischen seiner Konstruktion im Medium der Schrift und dem angestrebten Ziel einer Realisierung im medialen Zustand der Performativität. Er weiß genau, dass er in der Schrift viel beschreiben kann, wägt allerdings ab, dass eine (adäquat) ausufernde descriptio in einem Vortrag nicht umsetzbar wäre. Der Dichter kapituliert also nicht vor der Unbeschreibbarkeit der Fiktion – er kapituliert vor der Unvermittelbarkeit seiner Beschreibung. Chrétien ist demnach auch nicht bescheiden im Sinne der captatio benevolentiae, sondern moniert, dass er seine schriftstellerische Fähigkeit den medialen Bedingungen der Performativität und dem Unvermögen des home, also des Rezitators unterwerfen muss. Bei einer vergleichbaren Kollision schriftlichen Anspruchs und performativer Umsetzung geht Hartmann subtiler vor, wenn es darum geht, die medialen Unzulänglichkeiten des Rezitators vorzuführen. Beim Lob der Schönheit Enites heißt es: vil gerne ich si wolde

Gerne würde ich sie [Enite] rühmen,

loben als ich solde:

wie es meine Pflicht ist.

nû enbin ich niht sô wîser man,

Nun bin ich jedoch kein so kluger Mann,

mir engebreste dar an.

dass es mir daran nicht ermangelte.

solh sin ist mir unkunt.

Diese Kunst ist mir unbekannt.

ouch hât sich manec wîser munt

Auch hat sich schon mancher kluger Mund

in wîbes lobe gevlizzen,

am Frauenlob sehr verdient gemacht,

daz ich niht enmöhte wizzen

sodass ich nicht wissen kann,

welhen lop ich ir vunde,

welches Lob ich für sie finden könnte,

ez ensî vor dirre stunde

das nicht vor diesem Moment

baz gesprochen wîben.

schon besser gesprochen worden ist.

si muoz von mir belîben

Sie muss von mir, gemessen an dem,

ungelobet nâch ir rehte,

was ihr zusteht, ungelobt bleiben,

wan des gebrist mir tumben knehte.

denn ich tumber Diener vermag es nicht.

doch bescheide ichz sô ich beste kan.

Dennoch teile ich es euch mit, so gut ich kann

und als ichz vernomen han.

und wie ich es vernommen habe.

(EREC, V. 1590-1605)

Die Verse zwingen den Rezitator dazu, in einer vorgeblich authentischen Rede seinem Publikum zu gestehen, dass ihm angesichts der unzähligen Schönheitsbeschreibungen, die er kenne, nichts Neues mehr

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Zugeständnis ungenügender erzählerischer Fähigkeit

einfalle. Denn ihm fehle der sin, also der Kunstverstand, um mit den anderen mithalten zu können. Die herkömmliche Interpretation der Verse als captatio benevolentiae des Dichters übersieht, dass der Sprecher der Verse ausschließlich im Medium der Performativität argumentiert: Wie man an der Verwendung von munt und gesprochen sehen kann, sind es Verbalisierungen und nicht geschriebene Texte, die den Sprecher in die Zwangslage bringen, seinen Unverstand zugeben zu müssen.186 Die Verse „doch bescheide ichz sô ich beste kan / und als ichz vernomen han“ beziehen sich dementsprechend auch nicht auf ein vernemen Hartmanns aus seiner Quelle, sondern sie meinen entweder ein vernemen des Rezitators aus der ihm vorliegenden schriftlichen Partitur oder aber ein vernemen all der besseren Darstellungen von Frauenschönheit, die der Rezitator als Zuhörer erlebte. Hartmann benutzt dabei mit tumber kneht die gleiche Umschreibung für den Rezitator, die er auch später in der Zelterepisode zum Einsatz bringen wird, 187 um – hier wie dort – des performers Fehlbarkeit offenzulegen. Eine ähnliche Haltung ist den folgenden Versen aus der Krone abzulesen: Die waren gecleidt so wol,

Die [Gäste eines Fests] waren so gut gekleidet,

Daz ich enmag nach ensal

dass ich euch das darzustellen

Vch da von geprüfen niht:

weder kann noch soll:

Min sage were dar an ein wiht,

Mein Gerede wäre für das,

Als es die Auentùre giht.

was die Aventüre vorgibt, zu unbedeutend.

(KRONE, V. 28415-19)

Die Textvorlage des Rezitators (die Aventüre) wird als zu ausgefeilt fingiert, als dass der Rezitator sie mit seiner sage wiedergeben könnte.

186 Dieser Bezug auf gesprochene Worte steht im Gegensatz zu skriptural markierten Kapitulationen, wie man sie bspw. im Wigalois finden kann: mit lobe ich niht verenden mac ir schœne und ir gewizzen, wan hêt sich ie gevlizzen Ôvîdîus mit lobe dar, ern möhte si niht volloben gar. (WIGALOIS, V. 988-92)

Mit Lobpreisungen kann ich ihrer Schönheit und ihrem Verstand nicht gerecht werden, denn selbst wenn sich Ovid dieses Lobes beflissen hätte, hätte er sie nicht zu genüge loben können.

Hier findet sich keine Anspielung auf das gesprochene Wort, sondern ein Verweis auf Ovid, der als ‚Schriftsteller‘ der Autorfigur (und nicht dem Rezitator) als Maß für die Unmöglichkeit adäquater Beschreibung dient. 187 Vgl. EREC, V. 7480; siehe Kapitel 3.2.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Im Gegensatz zur Gegenüberstellung von Dichter und performer bei Chrétien, muss in Versen dieser Machart die Autorfigur nicht rollenspielerisch dargestellt werden. Heinrich und Hartmann erschaffen Verse, die vom Rezitator als er solde (also pflichtgemäß) und als tumber kneht ‚in seinem eigenen Namen‘ ausgesprochen werden müssen. Sie weisen die Möglichkeit einer fehlerhaften Fiktionsvermittlung implizit als ein mediales Problem der Performativität aus und schreiben Fehlleistungen dem Rezitator zu. An einer Passage aus dem Parzival-Prolog soll deutlich werden, dass man diese Probleme medial auch anders verorten kann: nu lât mîn eines wesen drî,

Stellt euch vor, ich alleine wäre drei,

der ieslîcher sunder phlege

und ein jeder brächte, ohne üben zu müssen,

daz mîner künste widerwege:

soviel Kunstfertigkeit wie ich auf die Waage:

dar zuo gehôrte wilder funt,

Es bedürfte zusätzlich der wilden Einfallsgabe,

op si iu gerne tæten kunt

wenn sie euch das kundtun wollten,

daz ich iu eine künden wil.

was ich euch allein künden will.

si heten arbeite vil.

Sie hätten viel Mühe auf sich zu nehmen.

(PARZIVAL, V. 4,2-9)

Kein anderer Text kann einem so viel Mühe machen, Äußerungen eines Ichs entweder einem Rezitator oder einer Autorfigur zuzusprechen, wie der Parzival. Wolfram arbeitet viel stärker als alle seine Zeitgenossen und Nachfolger mit einem ausgearbeiteten, ‚Wolfram‘ genannten Sprecher;188 so wird häufig ein ‚authentisches‘, das heißt rollenfreies Reden des Rezitators zugunsten eines elaborierten Rollenspiels zurückgedrängt. Dennoch sind die meisten Verse (auch) als fingiert-authentisches Sprechen zu werten, obwohl die Gefahr eines Hinüberkippens in die rollenspielerische Wolfram-Inszenierung stets besteht, da das mediale Oszillieren der Verse zur Programmatik des ‚dunklen Stils‘ gehört. Zwar ist der Zusammenhang abstrakt, doch scheint es nicht unmöglich, dass es genau dieser Zustand der beim Parzival im Sprecher-Ich latent präsenten Trias von Dichter, inszenierter Erzählerrolle und Rezitator ist, auf welche die hypothetische Dreiteilung des Ichs der oberen Verse anspielt. In der Aufführung werden die Verse vom Rezitator 188 Vgl. zusammenfassend: BUMKE, 1997, S. 128-151.

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Zugeständnis ungenügender erzählerischer Fähigkeit

gesprochen – er muss bei einer performativen Analyse also der Ausgangs- (mîn eines wesen) und Mündungspunkt (ich [...] eine) für das sich dreiteilende Ich sein. Der Rezitator behauptet, dass selbst wenn er dreifach wäre – was er als Sprachorgan des Texts, Darsteller der Autorfigur und autonome körperliche Präsenz ja gewissermaßen auch ist – auf jeder Ebene dieser medialen Trias189 noch ein kreatives Moment, der wilde funt, hinzukommen müsse, damit das Erzählen gelingen könne. Er will es nun trotzdem alleine (aber eigentlich doch in medialer Dreieinheit) versuchen. Im Gegensatz zu Hartmann und Heinrich gewichtet Wolfram die schriftliche Komposition also nicht als an sich fehlerlose Vorlage, die im medialen Zustand der Performativität verfälscht werde, sondern betont, dass alle Ebenen der textuellperformativen Vermittlung (schriftliche Komposition, Rollenspiel und Präsenz) in gleichem Maße zum Erfolg der Fiktionsvermittlung beitragen müssen. Unabhängig von den jeweiligen Wertungen der medialen Translation bleibt festzustellen, dass bei den vom Dichter komponierten Selbstbezichtigungen des Rezitators (Hartmann/Heinrich) oder inszenierten Reflexionen des medialen Wechsels (Chrétien/Wolfram) der Illusionsbruch dadurch eintritt, dass die Darstellung der fiktiven Welt unterbrochen und willentlich der Blick auf ihre (fehlbare) Medialität frei wird. Die Verfremdung ist den Momenten vergleichbar, in denen ein Darsteller aus der Rolle tritt, um seine schauspielerische Unfähigkeit zu beteuern, oder eine Kamera sich selbst in einem Spiegel einfängt: Mittels medialer (und wortwörtlicher) Selbstreflexion wird das idealiter Unsichtbare sichtbar, bricht die Illusion und die Medialitäten führen quasi-dichterisch ‚ihre eigenen Spuren vor‘ (Canetti).

189 Siehe zur ‚medialen Trias‘ bei Wolfram auch Kapitel 4.2.4.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

4.2.2 Narrative Eigenmächtigkeit Pauschal ‚stanzelnd‘190 lässt sich sagen, dass in der modernen Literatur im Normfall der Autor, manchmal auch der ihn repräsentierende Erzähler, Gewalt über ‚seine‘ Erzählung hat oder dass man als Leser und/oder Interpret zumindest davon ausgeht, dass dem so sei: Der Autor bestimmt den Ausgang von Handlungen, die Ausführlichkeit sowie den Stil der Darstellung und ist generell Herr aller narrativen Eigenheiten. Ein auktorialer Erzähler kann dieser Allmacht des Autors unter Umständen entsprechen. Bei Ich-Erzählern, die in das fiktive Geschehen involviert sind, fehlt zwar die Möglichkeit, den Verlauf der Erzählung zu bestimmen, die Entscheidung über die Art der Erzählung (Stil, Wortwahl, Raffung, Dehnung, Kommentierung, etc) bleibt zum Schein – also entgegen der Tatsache, dass der Autor der Erschaffer des Geschriebenen ist – beim jeweiligen Erzähler. Ähnlich macht bei der Instanz des personalen Erzählers die Wahrnehmung der Figur, die der Autor durch fokalisierende Eingriffe u. a. stilistisch kenntlich macht, das ‚Eigene‘ aus. Ein Problem tritt auf, wenn man die Eigenmächtigkeit des Erzählens, die dem Autor immer, der Erzählerfigur unter Umständen zukommt, von ihrer Stanzel’schen Betrachtung auf eine Literatur wie die mittelalterliche überträgt, welche die Instanz des modernen être de papier namens ‚Erzähler‘191 nicht kennt.192 Beim höfischen Roman umfasst das erzählende Ich die Dreiheit von Dichter, Autorfigur und Rezitator. Mit dem Stanzel’schen Modell lässt sich diese medial bedingte Trias nicht erfassen. Wenn das Sprecher-Ich des höfischen Romans in einem verfremdenden Akt die illusionistische Darstellung der fiktiven Welt unterbricht, um auf die Eigenmächtigkeit des sich gerade vollziehenden 190 Die grundlegende Trennung der Erzählinstanzen in Ich-, personalen und auktorialen Erzähler wurde 1955 von Franz Karl Stanzel eingeführt und bildet bis heute die Grundlage vieler narratologischer Betrachtungen; vgl. STANZEL, 1955. 191 Vgl. BARTHES, 1966, S. 19; siehe Kapitel 2.1. 192 Den jüngsten Vesuch, das Stanzel’sche und das komplexere Fokalisierungsmodell Genettes auf den höfischen Roman zu übertragen, stellt Gert Hübners Studie Erzählform im höfischen Roman dar; vgl. HÜBNER, 2003, zu Stanzel: S. 12-25.

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Narrative Eigenmächtigkeit

Erzählens hinzuweisen, so stellt sich die Frage, welche der drei Instanzen in den Augen des Rezipienten (laut einer Entscheidungsleistung)193 den eigentlichen Ablauf der Erzählung ändert. Natürlich ist der Text vom jeweiligen Dichter verfasst und als Rezipienten seiner Schriftform scheint dies einem modernen Leser selbstverständlich; doch im Vortrag ist es dem Rezitator ein Leichtes, durch seine Präsenz als der momentan die Beschreibung Verändernde zu gelten – auch wenn oder aber gerade weil er sich an die Verse hält. Wie sollte ein Zuhörer, der nicht dem statischen Text, sondern dem flüchtigen performativen Ereignis begegnet und der auch nicht in den Bahnen skriptural gelenkter Fiktionsvermittlung, sondern den Mustern oraler Erzähltraditionen entsprechend rezipiert, den Unterschied erkannt haben, ob er einer vom Autor fingierten oder aber einer echten Eigenmächtigkeit des Rezitators lauscht? Aus der Sicht der Zuhörer ist der Dichter beim Akt des Vortrags nicht der ‚Schöpfer-Gott‘ (Derrida) der Fiktion, sondern kann allzeit vom performativ ko-kreativen Prometheus ‚Rezitator‘ unterwandert werden. Oft ist die Entscheidungsleistung, wer an konkreten Stellen als der Eigenmächtige gelten soll, nicht eindeutig nachzuzeichnen und kann nur aus dem entsprechenden medialen Fokus heraus eine Begründung finden. Als Beispiel für einen fingierten eigenmächtigen Eingriff in Form einer narrativen Kürzung soll eine Passage aus Chrétiens Erec et Enite dienen: Harpes, vïeles, i resonent,

Harfen und Fiedeln erschollen da,

gigues, sautier et sinphonies,

Geigen, Psalterien und Symphonien

et trestotes les armonies

und alle Harmonien,

qu’an porroit dirre ne nomer;

die man sagen und nennen könnte;

mes je le vos vuel assomer

aber ich will es euch nur kurz,

briemant sanz trop longue demore. ohne längeres Verweilen zusammenfassen. (EREC ET ENIDE, V. 6330-35)

Die Beschreibung der bei einem Fest erklingenden Laute wird unter Hinweis auf eine eigenmächtige Kürzung ausgelassen. Man kann natürlich annehmen, dass hier ein Dichter über die von ihm konstruierte Erzählerfigur mit dem integrierenden vos seine postulierte Rezipientenschaft anspricht und entweder eine schriftliche Quelle kürzt oder aber 193 EGIDI, 2002, S. 351-353; siehe Kapitel 2.1.1.

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die überbordende Fülle einer ontologisierten fiktiven Welt eindämmt. Doch eine Verortung der Passage im medialen Feld der Performativität scheint aus einem pragmatischen Grund einleuchtender: Im Sinne der ‚imaginativen Leerstelle‘194 müssen bei einem Vortrag, der meist während Festen stattfand, die umgebenden Laute nicht beschrieben werden, da sie ohnehin präsent sind. An Stellen wie diesen begegnen sich – wie einleitend bezüglich der Brecht’schen Theorie vermutet –195 die Techniken der Verschaltung und der Verfremdung: Da sich die fiktive und die Situation im Aufführungsraum entsprechen (Verschaltung), kann die Darstellung des Geschehens durch ein Hervortreten des Rezitators als (vermeintlich) eigenwillig den Text Kürzender unterbrochen werden (Verfremdung). Ein ähnliches Wechselspiel von Verschaltung und Verfremdung ist in Situationen anzutreffen, in denen die Vortragssituation sich im Text widerspiegelt: Quant apeisiez fu li murmures, Als sich das Gemurmel gelegt hatte, Erec ancomance son conte:

begann Erec seinen Bericht;

ses avantures li reconte,

er schilderte dem König seine Abenteuer,

que nule n’en i antroblie.

ohne eines davon zu vergessen...

Mes cuidiez vos que je vos die

Aber glaubt ihr, dass ich euch sage,

quex acoisons le fist movoir?

was der Inhalt dieser Erzählung war?

Naie; que bien savez le voir

Keinesfalls; denn ihr kennt die Wahrheit

et de ice, et d’autre chose,

darüber gut und auch über andere Dinge,

si con ge la vos ai esclose:

da ich sie euch dargelegt habe.

li reconters me seroit griés,

Es wäre mir beschwerlich, das zu wiederholen,

que li contes n’est mie briés,

weil die Geschichte durchaus nicht kurz ist,

qui le voldroit recomancier,

wenn man sie wieder anfangen

et les paroles ragencier

und die Worte schön aufputzen wollte,

si com il lor conta et dist [...].

so wie er sie ihnen erzählte und ausführte.

(EREC ET ENIDE, V. 6416-29)

Da die Handlung, die Erec in seinem Vortrag wiedergibt, dem Publikum schon aus früheren Vorträgen bekannt ist, lässt der Sprecher sie aus. Das Betonen, dass die Erzählung beschwerlich sei, hebt dabei die 194 Siehe Kapitel 4.1.2. 195 Siehe Kapitel 4.2.

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Narrative Eigenmächtigkeit

Leistung hervor, die der Rezitator bisher für sein Publikum erbrachte. Es ist möglich, das ‚Schön-Aufputzen‘ (ragencier) der Worte als einen Verweis auf die Skripturalität und damit die Leistung des Dichters zu sehen, jedoch legt die Verwendung von paroles (statt mots) das gesprochene Wort als Objekt des ‚Aufputzens‘ nahe. Es handelt sich nach dieser medialen Gewichtung um ein implizites Selbstlob des Rezitators. Die Passage zieht dabei ihr humoristisches Potenzial aus der Tatsache, dass die mimetische Vermittlung der fiktiven Welt zum Zwecke der Kürzung durchbrochen wird – die Darlegung der Gründe für diese Kürzung jedoch recht langwierig ausfällt. 196 So wirkt das dem Rezitator zugeschriebende Selbstlob affektiert und damit demaskierend. Ähnlich funktioniert die folgende Verfremdung: Dô stach der künec von Arragûn

Da stach der König von Arragun

den alten Utepandragûn

den alten Utepandragun,

hinderz ors ûf die plâne,

den König von Bertane,

den künec von Bertâne.

hinter das Streitross auf die Wiese.

ez stuont dâ bluomen vil umb in.

Da standen viele Blumen um ihn.

wê wie gefüege ich doch pin,

Ach, wie passend ich mich doch verhalte,

daz ich den werden Berteneis

dass ich den edlen Berteneisen

sô schône lege für Kanvoleis,

auf so schöne Weise vor Kanvoleis niederlege,

dâ nie getrat vilânes fuoz

dorthin, wo nie eines Bauerntölpels Fuß trat,

(ob ichz iu rehte sagen muoz)

was (wie ich euch rechtens sagen muss)

noch lîhte nimmer dâ geschiht.

auch so leicht nie mehr geschehen wird.

(PARZIVAL, V. 74, 5-15)

Während beim vorigen Beispiel aus dem Erec noch ein pragmatischer Grund dafür vorhanden war, die Fiktionsvermittlung zu unterbrechen, ist hier das Gegenteil der Fall. Der Einschub stört ohne Notwendigkeit die illusionistische Damaturgie. Just, als der Kampf zwischen dem König von Arragun und Artus’ Vater eine entscheidende Wendung nimmt, reißt der Rezitator den Zuhörer aus der Illusion und lobt sich für den Einfall, Utepandragun (Utherpendragon) unsanft auf einer Blu-

196 Die Eigenmächtigkeit des (fingierten) Kürzens auf Aufführungsebene lässt sich auch weitaus knapper betonen: „Jch wil, daz ivch genüege, / Daz ich von ir gesagt han“ (KRONE, V. 8216f.; ‚Ich will, dass euch genügt, / was ich über sie erzählt habe‘).

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menwiese gebettet zu haben, eine Bildwahl, die er in einem Akt des Fingierens als seine eigene ausgibt. Der Rezitator spricht die Verse, als habe er die Setzung der Blumenwiese als eigenmächtiger Herrscher der fiktiven Welt (also illokutionär im Vollzug der Sprechhandlung) vorgenommen. Damit betont er einerseits den symbolischen Gehalt des Bildes, also das Fallen von Artus’ Vater auf eine herkömmliche Minnemetapher, was auf seinen moralischen Fall durch seine unmäßige Liebe zu Ygerna (Ingerna, Igraine, Arnive) 197 verweisen könnte. Andererseits erzielt der Rezitator einen humoristischen Effekt dadurch, dass er sich selbst überheblich als ‚kämpfend Erzählender‘ gebärdet, indem er behauptet, dass er „den werden Berteneis / sô schône [ge]leg[t]“ habe, obwohl das legen doch wohl eher die Figur Arragun vollbracht hat. So beraubt der Rezitator den Kampf der handlungslogischen Dramatik, 198 überträgt diese jedoch auf die Metaebene der Textvermittlung. Die Begründung des Eingriffes in die fiktive Welt findet also nicht auf Basis narratologischer Darlegungen, sondern aufgrund eines vorgeblich ‚WAHRsprechenden‘ Akts statt. Dieses Fingieren fiktionssetzender Spontaneität ist auch dem folgenden Beispiel abzulesen: Einr red het ich vergezzen

Eine Erzählung habe ich vergessen, [und zwar,]

War vmb div meit in daz lant

warum die Jungfrau von ihrer Herrin

Von ir vrowen wurd gesant

in das Land und nach Gawein,

Nach Gawein dem rechen.

dem Recken, ausgesandt wurde.

Daz wil ich iv endechen,

Das will ich euch [nun] enthüllen,

Als sein div auentivr swert.

wie es die Aventüre für wahr erklärt.

(KRONE, V. 7901-06)

197 Wolfram erzählt die Geschichte um Artus’ Geburt im Parzival nicht. Dennoch könnte auf die von Geoffrey of Monmouth geschilderte Passage verwiesen sein, in der Utherpendragon Ygerna (in manchen Hss. auch Ingerna; prägende Namensgebung bei Malory: Igraine; bei Wolfram trägt Artus’ Mutter den Namen Arnive), die Ehefrau seines Landsmanns, begehrt und sie – mit Merlins Hilfe und auf moralisch wie lehnsrechtlich äußerst fragwürdige Weise – für sich gewinnt, um mit ihr Artus zu zeugen; vgl. Galfredus Monumetensis, Historia regum Britanniae, VIII,19f. 198 Das Geschehen wird gewissermaßen ‚eingefroren‘, was diese Stelle in die Nähe der im Folgenden (siehe Kapitel 4.3) behandelten Cliffhanger rückt.

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Narrative Eigenmächtigkeit

Während man bspw. im so genannten Bogengleichnis des Parzival199 eine Legitimierung für ein unchronologisches Erzählen findet, die sich aus narratologischen Überlegungen speist, hat man es in diesem Beispiel aus der Krone mit einer ganz anderen Begründung dafür zu tun, dass elementare Fakten erst später in den Erzählfluss eingespeist werden: Der Rezitator habe an früherer Stelle angeblich einfach vergessen, die entsprechende Information mitzuteilen. Die Partitur weist dabei im Sinne der Fingierung diese Achronologie nicht auf (als die auentivr swert). Einzig die Vorstellung eines spontan und deshalb auch gegebenenfalls fehlerhaft Vortragenden macht diese Legitimierung einer achronologischen Erzählweise glaubhaft. Im Gegensatz zur Betonung des Wolfram’schen Rezitators, Herr seiner (symbolischen) Setzungen zu sein, wird hier das Gegenteil betont: Der Rezitator ist nicht ganz Herr der Lage und muss deshalb einen Fehler wiedergutmachen, indem er das handlungschronologisch Frühere an dieser Stelle nachholt. Die Autorität, derer es dem Rezitator ermangelt, verlagert sich so auf die Erzählung selbst, was die narratologisch in letzter Zeit wieder verstärkt beachtete200 ‚Motivation von hinten‘ Clemens Lugowskis201 auch als eine Spielart performativer Gesten erweist. 199 PARZIVAL, V. 241,19-25; siehe Kapitel 4.1.1.2; vgl. zu dessen narratologischem Gehalt und Stellenwert in der Poetik Wolframs u. a. in aller Kürze BUMKE, 1997, S. 132-135. 200 Zuletzt: GEROK-REITER, 2007 (Erec, Enite und Lugowski), und SEEBER, 2011. 201 Vgl. LUGOWSKI, v. a. 1994 [zuerst 1932], v. a. S. 25-27 und S. 66-81. Zusammenfassend dazu MÜLLER, 1999 (Der Prosaroman), S. 148f.: „Was scheinbar gegen eine zu erwartende narrative Logik verstößt, leitet Lugowski aus spezifischen Regeln des Erzählens ab: ‚Motivation von hinten‘ (d. h. ein Vorgang oder Ereignis wird vom Ergebnis der Erzählhandlung her gefordert, anstatt daß sie ‚induktiv‘ aus Voraussetzungen und Ursachen abgeleitet würden); ‚thematische Überfremdung‘ (d. h. eine Erzählsequenz oder einzelne ihrer Elemente sind von einem Thema wie ‚Liebe‘, ‚Treue‘ usw. her vorweg bestimmt, das in ihnen in Erscheinung tritt, ohne daß es mit der jeweiligen Situation und den jeweiligen Umständen, worin es auftritt, in plausiblem Zusammenhang stehen muß); ‚Gehabtsein‘ (d. h. eine Figur repräsentiert eine überindividuelle Eigenschaft, ein Merkmal, eine Norm, eine Funktion, die gewissermaßen von außen von ihr Besitz ergriffen hat, ist nicht Komplexion vielfältiger, besonderer und widersprüchlicher Eigenschaften). All dies ergibt eine vorgängige Prägung des Erzählens durch stereotype Muster, bedingt ein Fortschreiten in ‚Wiederholungen‘ identischer Konstellationen (an Stelle von Gespanntheit zu einem

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Performative Gesten für den Umgang mit der fiktiven Zeit müssen nicht immer auf eine Fehlleistung des Rezitators hinauslaufen: der turnei wart gesprochen dar nach uber virzehen tage; do di vergingen als ich sage, der ritter der bereite sich zu dem turnei hubschlich.

Das Turnier wurde von da an in vierzehn Tagen vereinbart. Als die vergingen, wie ich [es] sage, rüstete sich der Ritter hofgemäß für das Turnier.

(BORTE, V. 125-128)

Der Rezitator äußert einen fiktionssetzenden Sprechakt, mit dem er die zwei Wochen auf sein Wort hin verstreichen lässt. Er ist der eigenwillige Herrscher der fiktiven Zeit und profiliert sich als solcher, womit er jedoch die Illusion auf Ebene der Aufführung zerstört und die Diskrepanz zwischen dargestellter und Darstellungszeit dem Zuhörer vor Augen führt. Als der Meister der kohärenten Raffung stellt der Rezitator des Borte202 das Gegenteil des Krone-Rezitators dar, der die chronologische Kohärenz aufgeben muss und der Komplexität des Geschehens narrativ ‚hinterherhinkt‘. Die Polarität zwischen souveränen, die Fiktion beherrschenden und ohnmächtigen, der Fiktion und ihrer Vermittlung nicht Herr seienden Rezitatoren, führt Wolfram in einem Verfremdungseffekt zusammen. Dies geschieht an der berühmten Stelle, an der sich der närrisch gekleidete Parzival kurz vor seiner Ankunft am Artushof befindet: unumkehrbaren Prozeß) und ergibt insofern Aufhebung der Zeitlichkeit durch Gewißheit des Ausgangs des Erzählten, folglich ‚Wie‘-Spannung statt ‚Ob-überhaupt‘-Spannung.“ Vgl. zur Auseinandersetzung mit Lugowski aus narratologischer Perspektive MARTINEZ, 1996, S. 14-33. 202 Die Verwendung von Der Borte mag in diesem Kapitel unpassend erscheinen, da es sich im Gegensatz zu allen anderen verwendeten Texten nicht um einen Artusroman handelt. Doch Der Borte nimmt nicht nur – wie schon im Kapitel 3.1 gezeigt – Elemente des Wigalois-Prologs auf, sondern zitiert neben Motiven aus demselben (bspw. zitiert der titelgebende borte den Zaubergürtel Jorams; vgl. dazu zuletzt KIRCHHOFF, 2013, S. 435-438) auch performative Techniken. Aufgrund des Zitatcharakters und der mindestens 50 Jahre späteren Textproduktion sind diese teils noch deutlicher ausgearbeitet, als es in den Romanen der Fall war, wie auch implizit REICHLIN, 2008, mit ihrer sehr ergiebigen performativen Untersuchung des Texts feststellt. Aus diesem Grund soll zum Zwecke der Verdeutlichung die Gattungshomogenität hintenan gestellt werden; siehe Kapitel 3.1.

416

Narrative Eigenmächtigkeit mîn hêr Hartman von Ouwe,

Verehrter Herr Hartmann von Aue,

frou Ginovêr iwer frouwe

Frau Ginover, Eurer Dame,

und iwer hêrre der künc Artûs,

und Eurem Herrn, dem König Artus,

den kumt ein mîn gast ze hûs.

kommt von mir ein Gast ins Haus.

bitet hüeten sîn vor spotte.

Gebietet, dass man ihn vor Spott bewahre.

[...]

[...]

anders iwer frouwe Enîde

Andernfalls werden Eure Herrin Enite

unt ir muoter Karsnafîde

und ihre Mutter Karsnafide

werdent durch die mül gezücket

durch die Mühle gedreht

unde ir lop gebrücket.

und ihr Lob zerbröckelt.

sol ich den munt mit spotte zern,

Soll ich den Mund vor Spott verzerren,

ich wil mînen friunt mit spotte wern.

so werde ich es tun, um meinen Freund

(PARZIVAL, V. 143,21-144,4)

mit Spott zu verteidigen.

Als erster Artusdichter deutscher Sprache ist Hartmann von Aue der Verantwortliche für ‚seinen‘ (Hartmanns) Artushof und – so die herkömmliche Interpretation – Wolfram von Eschenbach droht seinem Dichterkollegen, die Figuren Enite und Karsnafide mit Spott zu strafen, wenn ‚sein‘ (Wolframs) Protagonist Parzival am Hof nicht gütig behandelt werde. Wenn es aber Wolfram oder besser: die in Rolle gesprochene Autorfigur ‚Wolfram‘ wäre, die diese Drohung ausspricht, warum wird dann so explizit auf das ‚Mund-Verzerren‘ verwiesen? Als gestisches Zeichen ist das ‚Mund-Verzerren‘ ein Element der Semiotik, die der Dichter eben gerade nicht nutzen kann, sondern seinem Rezitator überlassen muss. Wolfram zitiert diese auch bei Hartmann schauspielerisch konzipierte Mimik aus der bereits behandelten Dialogpassage der Zelterepisode („jâ stât dir spotlîch der munt“)203, bezieht sich also auf eine dezidiert theatrale Stelle des Vorgängers. Die Betonung der Verantwortlichkeit Hartmanns für den Artushof wird dafür eingesetzt, die Ohnmacht des Sprechers bezüglich des Verhaltens des präfigurierten arthurischen Personals zu behaupten. Diese Ohnmachtsbehauptung ergäbe aber keinen Sinn, wenn sie auf Basis von fest auf dem Papier gefügten Schriftzeichen gemacht würde. Skriptural könnte der Dichter Wolfram den Artushof ebenso überlegt gestalten, wie Hartmann es tat. Einzig in der Denksphäre der Aufführung, in der (zum Schein) die fiktive Welt ad hoc aus den vom Rezitator geäußerten 203 EREC, V. 7514; siehe Kapitel 3.2.

417

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Lauten entspringt, ist diese Ohnmacht mehr als ein groteskes Spiel. Im medialen Zustand der Performativität ist es vorstellbar, dass die schon schriftlich fixierten Worte Hartmanns dazu führen könnten, dass die transitorische, in diesem Moment vorgetragene Erzählung von Parzival an Hindernisse stößt. Ebenfalls ist es nur auf Basis des spontan erlebten Wortes denkbar, dass ein Rezitator ob dieses Hindernisses seinen Mund in Spott verzerrt und so zum Schlag gegen die Hartmann’schen Schöpfungen ausholt. An dieser Stelle stehen also nicht die Dichter Hartmann und Wolfram in einem potenziellen Konflikt, sondern die medialen Zustände der Skripturalität (Hartmanns präfigurierender Artushof) und der Performativität (der im Moment der Wortäußerung das präfigurierte Setting aufrufende Rezitator). Der Wolfram’sche Verfremdungseffekt bewirkt zwei sich überlagernde Phänomene: einerseits die nach dem Brecht’schen Ideal geforderte Desillusionierung durch die ostentative Hervorhebung der Fiktionalität und andererseits den Aufbau einer neuen Illusion, nämlich der, dass der illusionsbrechende Rezitator diesen Akt (nach dem Denkmuster der Oralität) spontan vornähme. Systematisch betrachtet wohnt diese Zweischneidigkeit der Verfremdung noch bis zu ihrer Verwendung im Epischen Theater inne, denn wenn dort Schauspieler aus ihrer Rolle treten, um den Zuschauer zu desillusionieren, tun sie dies (meist) aufgrund der Vorgaben im Dramentext, der ihnen die Aufgabe erteilt, die Desillusionierung als spontanen Zerstörungsakt zu fingieren. Es ist eine demonstrative Desillusionierung zum Zwecke der neuen metafiktionalen Illusion – ein Abnehmen der Maske, hinter der sich nur eine neue verbirgt.204 Auf dem Wege dieser Exponierung der Masken, die sich theoretisch ad infinitum weiterführen ließe, stellt sich letztendlich die Frage (für das Epische Theater wie den höfischen Roman), ob eine Brechung des Illusionismus im Rahmen der performativen Medialität überhaupt möglich ist. 204 Herbert Grabes beschreibt diese Staffelung der Masken in der Rezeption des Epischen Theaters sehr treffend als ein Scheitern an einer „betrachtend-ästhetische[n] oder sogar rein kulinarische[n] Zuschauerhaltung“; GRABES, 1998, S. 35. Aus dem dilemmatischen Konflikt zwischen antiillusionärem, gesellschafspolitischem Anspruch und exponiertem Illusionismus lösten sich bspw. spätere amerikanische epische Dramatiker wie Thornton Wilder, indem sie wieder die ‚alte‘ kontemplative Haltung des Zuschauers anstrebten; vgl. ebd., S. 34-38.

418

Narrative Eigenmächtigkeit

Wolfram beantwortet diese Frage zu Ungunsten der Desillusionierung, indem er seinen Rezitator – im Gegensatz zu seinen literarischen Vorgängern Chrétien und Hartmann – nur noch eingeschränkt authentisch agieren lässt und ihn stattdessen weit häufiger in den Augen der Zuhörer als Illusionist kennzeichnet, als Träger der Maske der Autorfigur ‚Wolfram‘, einer eindeutig fiktiv gekennzeichneten persona, die man „für die Hauptperson der Dichtung halten könnte“. 205 Das Brecht’sche Dilemma der Erzeugung kritischer Distanz durch ‚illusionistische Desillusionierung‘ hat bei Wolfram eher den Charakter einer spielerischen Verschachtelung der Illusionen, die in der Dominanz der Autorfigur-Rolle mündet.

4.2.3 Hervorhebung von WAHRnehmungsleistungen Heiko Wandhoff beschreibt unter dem Begriff der ‚Autopsie‘,206 dass im mittelalterlichen Denken die Fiktion homodiegetischer Augenzeugen bedarf, um vermittelt werden zu können. Solange der Betrachter und das Objekt der Betrachtung auf derselben Ebene existieren, ist die Notwendigkeit der ‚Augenzeugenschaft‘ zwar ein merkwürdiges Charakteristikum mittelalterlichen Erzählens, jedoch kein Verfremdungseffekt. Dies kann erst zutreffen, wenn der Betrachter nicht fiktiv ist, sondern auf der Aufführungsebene existiert und die Bezeugung transgressiv vollzogen wird. Bei der Beschreibung der Schönheit von Conrads Ehefrau in Der Borte heißt es: mich nimet michel wunder,

Mich versetzt es in große Verwunderung,

daz ir ougen sint so clar:

dass ihre Augen so glänzend sind.

si sihet reht sam ein adelar

Beinahe so gut wie ein Adler kann sie sehen.

(BORTE, V. 40-42)

Die Schönheitsbeschreibung ist ansonsten im Präteritum gehalten, doch in diesen Versen taucht plötzlich eine präsentische Formulierung auf. Der Tempuswechsel dient dazu, den Körper des Rezitators als Augen-

205 BUMKE, 1997, S. 128. 206 Siehe Kapitel 2.2.

419

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

zeugen der Fiktion zu statuieren. Für ihn als illusionistisch Darstellenden sind die Augen der Figur momentan ein Grund der Verwunderung, denn er verfällt durch seinen imaginären Blick selbst ihrer Macht: „swer ir an ir ougen sach / dem tet ir minne ungemach“.207 Der Rezitator wird über diese ‚Vergegenwärtigung‘ des WAHRnehmungsprozesses als medialer Transgressor (respektive als zwischen den Welten agierender Trickster) betont, denn er existiert zum Schein auf beiden Ebenen als Liebestoller: In der Fiktion ist er der hingerissene Betrachter der Figur, in der Aufführung derjenige, der den Effekt seiner Betrachtung in einer ausschweifenden Schönheitsbeschreibung dem Publikum mitteilt. Die Verse unterstreichen die Transgression mittels einer Doppelung der Augenwahrnehmung, die sich auf das Objekt genauso wie auf den Vorgang der Beschreibung bezieht. Wie die Figur einen außerordentlichen Sehsinn hat („si sihet reht sam ein adelar“), so hat ihn der Rezitator, da er die Figur im Moment der Verbalisierung der Verse zu erblicken scheint. Damit könnte gleich in doppelter Hinsicht auf eine inhaltliche Thematik der Erzählung verwiesen sein, die später die visuelle Unterscheidbarkeit von Geschlechterrollen in Frage stellt.208 Obwohl der Tempuswechsel ‚befremdlich‘ wirkt, handelt es sich also gerade nicht um einen ‚verfremdenden‘ Effekt. Der Rezitator wird Schnittstelle einer Wahrnehmung, die Fiktion, Aufführung und in diesem Fall auch einen metafiktionalen Diskurs miteinander verbindet statt kontrastiert. Die Verschaltung liegt im medialen ‚Wesen‘ des Rezitators begründet. Der gegenteilige Effekt tritt ein, wenn nicht das Medium, sondern der Empfänger zum Augenzeugen erklärt wird: En la sale ot deus faudestués [...]. Im Saal waren zwei Faltstühle [...]. ja tant n’esgardessiez an tor

Ihr könntet sie ringsum nicht lange genug betrachten,

por l’un de l’autre dessevrer

um den einen vom anderen zu unterscheiden.

207 BORTE, V. 57f. 208 Die Ehefrau hatte ihren Mann ‚aus guten Gründen‘ betrogen. Um ihn zurückzugewinnen, verkleidet sie sich als Mann und bringt ihn dazu, sich aus weitaus schlechteren Gründen ihrem vorgeblich homosexuellen Begehren hinzugeben. Die Lösung des Ehekonflikts findet also durch eine Transgression statt, welche die Festigkeit der Geschlechtergrenzen wie der Genderrollen grundlegend in Frage stellt; dazu zuletzt: RIBAJ, 2009; und skeptisch gegenüber der bisherigen queer-Auslegung KIRCHHOFF, 2013.

420

Hervorhebung von W AHRnehmungsleistungen que ja i poïssiez trover

Ihr könntet dort an dem einen nichts finden,

an l’un qui an l’autre ne fust.

was nicht auch an dem anderen wäre.

(EREC ET ENIDE, V. 6651-60)

Die WAHRnehmungsleistung des Rezipienten wird in dieser Passage durch den Konjunktiv zwar als imaginativ ausgewiesen, die Transgression zwischen Fiktion und Aufführungsraum wird dennoch vollzogen, da die imaginative Leistung trotz Betonung ihrer Virtualität stattfindet. Durch die Beschreibung des imaginativen Blicks werden die Faltstühle im Gegensatz zu einer herkömmlichen descriptio sogar quasi-haptisch erfahrbar. Indem der Zuhörer auf seinen Status als Imaginierender aufmerksam gemacht wird, legen die Verse gleichzeitig den Illusionsmechanismus offen: Derselbe performative Gestus erschafft und zerstört zugleich die Illusion. Die WAHRnehmung der Zuhörer ist jedoch nicht nur ein Spielball illusionierender oder verfremdender Techniken: Ihr kommt im höfischen Roman auch eine moralische Bedeutung zu. Diese ist einer Ambiguität abzulesen, die Wolfram im Parzival benutzt: swer selbe sagt wie wert er sî,

Wenn einer von sich selbst sagt, wie edel er sei,

da ist lîhte ein ungeloube bî:

so fällt er damit leicht in Unglauben.

es solten de umbesæzen jehen,

Es sollen die Umsitzenden sagen

und ouch die hêten gesehen

und auch die, die seine Taten dort gesehen haben,

sîniu werc da er fremde wære:

wo er unbekannt ist.

sô geloupte man dez mære.

So würde man die Erzählung glauben.

(PARZIVAL, V. 12,27-13,2)

Die umbesæzen meinen auf einen ersten, der Fiktion verhafteten Blick – in Kontrast zu denen, da er fremde wære – die ‚Nachbarn‘. Jedoch findet sich dieser Begriff an mehreren Stellen des Parzival auch in anderer Verwendung: „Der Vortragende und sein Publikum – in erster Instanz der Autor und die umbesezzen, die Wolfram so gerne apostrophiert – werden Bestandteil der Fiktion, aber weil eben dieser Fiktion eine gesellschaftliche

421

Stimme im Raum und Bühne im Kopf Wirklichkeit entspricht, ist sie jederzeit insofern ganz oder teilweise wieder aufhebbar, als der Text als Vortrag in diese Realität eintritt.“209

Was Curschmann in einem Dreierschritt ausdrückt – (1.) die umbesezzen werden Teil der Fiktion, die aber (2.) in eine gesellschaftliche Wirklichkeit eingebettet ist, sodass die umbesezzen (3.) im Vortrag wieder real werden –, lässt sich, setzt man die Performativität als mediales Primat, viel leichter ausdrücken: Der Begriff ‚umbesezzen/umbesæzen‘ ist ein Platzhalter für das Publikum, mit dem eine Verschaltung bewirkt wird. An der oben zitierten Stelle wird über die Verschaltung dem Zuhörer die (virtuell-)soziale Aufgabe zugesprochen, den wert der Figur zu bestätigen oder abzulehnen, also mit seinem urteilenden Blick abstrakte Zuschreibungen vorzunehmen. Dies ist eigentlich ein ‚natürlicher‘ Akt der Rezeption. Da die obigen Verse die Zuhörer aber offen auf diese Pflicht der Wertzusprechung hinweisen, wirken sie wiederum verfremdend. Durch die Offenlegung dessen, was bei einer illusionistischen Fiktionsvermittlung selbstverständlich wäre, werden die Gedanken der umbesæzen auf eine Metaebene gezwungen. Hier entspricht die Funktion des Verfremdungseffekts also dem, was Brecht für sein Episches Theater forderte. Durch die Brechung der Illusion wird der Zuhörer an seine Rolle als kritisch denkender Mitgestalter des performativen Kunstwerks erinnert. Es ist dem Rezitator also fingierend möglich, seine eigene Perzeption oder die des Zuhörers als einerseits die Fiktion ‚bewahrheitende‘ und andererseits moralisch wertende Instanz einzubringen. Der Einsatz des Zuhörers als ‚Augenzeuge‘ wirkt dabei in der Regel stark verfremdend; den Rezitator als ‚Sehenden‘ zu imaginieren mindert im Vergleich dazu die Verfremdung, da sein ohnehin medialer Status an die mythischen Schauungen ‚inspirierter‘ Sänger oraler Kulturen erinnert und somit auf eine rituell-performative Tradition verweist. Manche Dichter arbeiten daran, den verbleibenden Rest der Verfremdung beim Rezitator durch eine ‚zweistufige Medialität‘ zu minimieren. ‚Zweistufige Medialität‘ meint, dass dem Kontakt des Rezitators mit der Fiktion eine berichtende Instanz zwischengeschaltet ist, die Anteil an beiden Ebenen hat. Im Falle des Wigalois bestimmt die Zweistufigkeit gleichermaßen den Tradierungs- wie den Vermittlungsmodus des Romans. Der 209 CURSCHMANN, 1984, S. 252.

422

Hervorhebung von W AHRnehmungsleistungen

Sprecher berichtet im Zuge seines Erstaunens über Gaweins Niederlage gegen Joram darüber, wie die Geschichte in Erfahrung gebracht wurde: ezn kæme ouch nimmer vür mîn munt,

Es käme mir nicht über die Lippen,

hêt mirz ein knappe niht geseit

wenn es mir nicht ein Knappe

zeiner ganzen wârheit

als völlige Wahrheit gesagt hätte,

wider den ich alle wîle streit.

mit dem ich viel zu diskutieren hatte.

(WIGALOIS, V. 595-98)

Generell wird diese Stelle zu den Beteuerungen Wirnts gezählt, ein Knappe habe ihm den Wigalois erzählt,210 eine Lesart, die v. a. durch den Epilog gestärkt wird, in dem diese Vermittlung einer oralen Erzählung an einen tihtære unmissverständlich ihren Ausdruck findet.211 Der Knappe wäre nach dieser Vermittlungsstufung (als Quellenfiktion) eine reale Person, die Wirnt die Geschichte erzählte. Doch diese Stufung umfasst mit der Tradierung nur eine Funktion des Knappen. Wenn man für die oben zitierten Verse den Rezitator als Sprecher annimmt, was (1.) die Verwendung von munt als Hinweis auf die performative Fiktionsvermittlung nahelegt sowie (2.) das intratextuelle Zitat der Phrase „zeiner ganzen wârheit / trûwe ich ez niht bringen“, die im Prolog schon als Aussage des Rezitators konzipiert wurde,212 findet man wenige Verse später ein Indiz für eine zweite Funktion des Knappen. Im Zuge der Schönheitsbeschreibung Flories taucht er in einer kurzen Phrase beinahe unmerklich wieder auf: ouch was ir diu kel

Auch war ihre Kehle

sleht unde sinwel,

glatt und rund, hermelinweiß

harmwîz, als er jach

wie der mir sagte,

der die juncvrouwen sach.

der die Jungfrau gesehen hatte.

(WIGALOIS, V. 927-30)

210 Zusammenfassend: FASBENDER, 2010, S. 8f.; für folgende Bearbeitungen prägend CORMEAU, 1977, S. 100-103. 211 „Ich wil daz mære volenden hie, / als michz ein knappe wizzen lie, / der mirz ze tihten gunde“ (WIGALOIS, V. 11686-88; ‚Ich will die Geschichte hier zu Ende bringen, / so, wie sie mich ein Knappe wissen ließ, / der sie mir zum Dichten überließ‘). 212 WIGALOIS, V. 133f.; siehe Kapitel 3.1.

423

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Der Knappe, so die Vermittlungsfiktion, berichtete dem Rezitator, was er von Flories Schönheit gesehen habe. Er wird an dieser Stelle also nicht, wie es die Tradierungsfunktion erfordern würde, als heterodiegetisch imaginiert, sondern fungiert als Augenzeuge auf Fiktionsebene. Dieser Einsatz des Knappen als Medium des Mediums, als jemand, der die fiktiven Geschehnisse sah und dann dem Rezitator berichtete, der sie nun den Zuhörern erzählt, mindert die Schwelle zwischen Fiktion und Aufführungsrealität, da nun nicht mehr die vor den Zuschauern stehende Person behauptet, Teil der Fiktion gewesen zu sein, sondern lediglich vorgibt, jemanden getroffen zu haben, der dies gewesen sei. Mit dieser Senkung der Schwelle ist es im Folgenden auch möglich, dass der Rezitator sich zum Zweck einer kleinen humoristischen Anzüglichkeit selbst als Augenzeuge stilisiert, ohne dass der Verfremdungseffekt zu stark zum Tragen käme:213 Michn triegen danne die sinne mîn, Falls mich meine Sinne nicht trügen, si möhte wol under ir hemde sîn

könnte sie unter ihrem Hemd

ein sô schœne crêatiure, [...]

ein so schönes Geschöpf sein, [...]

daz ich wæn ie von wîbe

dass ich glaube, dass niemals von einer Frau

reiner lîp würde geborn.

ein makelloserer Körper geboren wurde.

(WIGALOIS, V. 934-40)

Mag auch nach der medialen Fingierung eigentlich der Knappe der Augenzeuge gewesen sein – die Möglichkeit, als Connaisseur von Frauenschönheit vor seinem Publikum zu stehen, lässt sich der Rezitator doch nicht nehmen,214 sodass er seine Wahrnehmung der präsent 213 Eine weitere Darlegung der vielseitigen Verfremdungseffekte dieser Passage findet sich unter dem Fokus der ‚Offenlegung der Fiktionalität‘ in Kapitel 4.2.5. 214 Susanne Reichlin weist just diesen performativen Gestus in seiner Bedeutung für die Sexual- respektive Genderthematik des Borte auf: „Auch der Erzähler ordnet sich scheinbar in die Reihe der (männlichen) Betrachter ein: we wi wol ir daz stat (V. 496), sagt er, nachdem sich die Frau die Haare abgeschnitten hat. [...] Dies verdeutlicht, dass hier intradiegetische und narrative Identitätskonstitution parallelisiert werden“; REICHLIN, 2008, S. 187. Diese Parallelisierung ist es, welche ich unter dem Begriff der ‚Verschaltung‘ zu fassen gedenke. Reichlin zeigt präzise, wie sehr die transgressiven performativen Akte und die Projektion von Männlichkeit, Weiblichkeit und verkleideter Weiblichkeit auf den Körper eines Rezitators die Genderthematik dieses Textes prägen. Bei aller ‚Präzisierung‘

424

Hervorhebung von W AHRnehmungsleistungen

imaginierten Florie um die Geburt ihres Körpers durch einen Körper exponiert – ein Bild der korporalen Reproduktion femininer Schönheit. Neben den leichten und starken Verfremdungsakten, welche die transgressiven Wahrnehmungsleistungen von Rezitator oder Zuhörer auslösen, ist der auffälligste Akt verfremdender Autopsie-Konstellationen dort anzutreffen, wo (1.) kein Wahrnehmender auf Fiktionsebene vorhanden ist, (2.) der Zuhörer nicht als Imaginierender mit ins Spiel kommt und (3.) die Verschaltung über den Rezitator verweigert wird: hie huop sich ein strîten

Hier begann ein Kampf,

daz got mit êren möhte sehen,

den Gott mit Ehren betrachten könnte,

und solt ein kampf vor im geschehen [...].

wenn vor ihm ein Kampf stattfinden sollte [...].

Ich machte des strîtes harte vil

Ich könnte nun über den Kampf

mit worten, wan daz ich enwil,

viele Worte verlieren, nur, dass ich es nicht will,

als ich iu bescheide,

weil, wie ich euch mitteile,

sî wâren dâ beide,

nur die beiden da waren

unde ouch nieman bî in mê

und sonst niemand mehr bei ihnen,

der mir der rede gestê.

der mir die Erzählung bestätigen könnte.

spræche ich, sît ez nieman sach,

Wie sollte ich erzählen, wo es doch niemand sah,

wie dirre sluoc, wie jener stach:

wie dieser schlug und jener stach?

ir einer wart dâ erslagen:

Einer von ihnen wurde dort erschlagen,

dern mohte niht dâ von gesagen:

der nicht mehr davon erzählen kann.

dar aber den sige dâ gewan,

Der aber, der den Sieg davon trug,

der was ein sô hövesch man,

war ein so höfisch erzogener Mann,

er hete ungerne geseit

dass er es abgelehnt hätte,

sô vil von sîner manheit

so viel von seiner Tapferkeit zu erzählen,

dâ von ich wol gemâzen mege

dass ich davon das Ausmaß seiner Stiche

die mâze ir stiche und ir slege.

und Schläge hätte ermessen können.

wan ein dinc ich iu wol sage,

Nur eine Sache sage ich euch:

daz ir deweder was ein zage.

dass keiner von ihnen ein Feigling war.

(IWEIN, V. 1020-46)

dieser Effekte im Borte scheint mir hier, ebenso wie bezüglich des Prologs, ein interpartitureller Rückgriff auf die Florie-Beschreibung im Wigalois vorzuliegen.

425

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Wandhoff schreibt zu dieser ausbleibenden Beschreibung des Kampfes zwischen Iwein und Askalon: „Durch die Rückbindung des poetischen Verfahrens der Beschreibung an die optische Wahrnehmbarkeit des Beschriebenen durch Beobachter auf der Handlungsebene wird der generelle Anspruch erhoben, daß die deskriptiven Informationen des Texts die Relevanz von Augenzeugenberichten haben.“215

Mit diesem ex negativo-Beleg der Autopsie trifft Wandhoff nur einen Teil der Instanzen, die in der Iwein-Passage ihren potenziellen Augenzeugenstatus verlieren: Auch der Rezitator weigert sich, die Rolle des Mediums einzunehmen, und beruft sich ganz auf seine körperliche Präsenz im Aufführungsraum. Damit fällt natürlich erst recht die Möglichkeit einer imaginierten Wahrnehmungsleistung des Zuhörers weg. Die Kluft zwischen Fiktion und Realität wird dennoch klein gehalten, weil der Sprecher vorgibt, die Figuren hätten ihm Bericht geben können, wenn ihr Ableben oder die höfischen Konventionen ihnen dies nicht verwehrt hätten. Hier handelt es sich um eine ähnliche Konstruktion von ‚zweistufiger Medialität‘ wie im Wigalois, mittels der die Transgression als möglich postuliert wird – jedoch effektiv nicht stattfindet, weil die figuralen ‚Medien‘ (Iwein und Askalon) verhindert sind. Die Möglichkeit einer transgressiven ‚Augenzeugenschaft‘ ohne mediale Aktanten wird im Iwein sogar bis hinein in die höchsten Kreise der Existenz negiert („daz got mit êren möhte sehen, / und solt ein kampf vor im geschehen“): Die Denkfigur des esse est percipi,216 die Wandhoffs Autopsie zugrunde liegt und Gott als W AHRnehmenden zum Garanten der Existenz macht, wird durch diese Blackbox-Situation der Beschreibung aufgehoben. Selbst Gott habe den Kampf nicht gesehen, weil Kämpfe nicht vor ihm geführt würden. Unsicher ist, ob diese Infragestellung der Allwahrnehmung Gottes sich nur auf die Fiktion oder auch auf die Realität bezieht. Im Falle einer Ausweitung auf die Realität stellt die Passage eine herbe Kritik am ritterlichen Zweikampf

215 WANDHOFF, 1996, S. 179. 216 Teil des Haupttheorems George Berkeleys, nach dem die Außenwelt nicht materiell, sondern nur in ihrer Wahrnehmung, v. a. in der Wahrnehmung Gottes existiert; siehe Kapitel 2.2.2., Anm. 246.

426

Hervorhebung von W AHRnehmungsleistungen

dar, in der Form, dass Gott seine Augen vor der ritterlichen Gewalt schließe; die Kritik käme der Häresie recht nahe. Falls Gott jedoch – was aus diesem Grund wahrscheinlicher erscheint – als Instanz dargestellt wird, welche die Fiktion bzw. den fiktiven Zweikampf nicht WAHRnimmt, so handelt es sich – ähnlich wie beim Finale der Krone – um eine ontologische Infragestellung der Fiktion und ihrer Vermittelbarkeit. In beiden Fällen ist der Effekt für den Zuhörer, dass über die Betonung der Unmöglichkeit von W AHRnehmung die Illusion bricht. Die Fiktion verfremdet in dem Maße, in dem die Medien entgegen ihrem Ideal, unsichtbar zu sein, zur Schau gestellt werden und damit – um das Canetti-Motto des Verfremdungs-Kapitels aufzunehmen – die Spur vorgeführt wird, die der schlechte Dichter verwischt.

4.2.4 Hervorhebung der korporalen Person Es wurde bereits dargelegt,217 dass Wolfram seine Autorfigur dazu einsetzt, die ‚illusionistische Desillusionierung‘ (bzw. das Brecht’sche Dilemma) wesenhaft offen zu legen (ohne es als dilemmatisch aufzufassen). Dementsprechend ist seine persona (Maske) auch nicht abstrakt gehalten; sie ist in den Passagen, in denen der Rezitator sie ‚anlegt‘, keine immaterielle Stimme aus dem heteroperformativen Off, sondern stellt sich bspw. im finalen Bild der so genannten Selbstverteidigung (dort in Kombination mit der medialen Positionierung des Parzival als ‚Unbuch‘)218 als dezidiert körperlich dar. Über diu âventiure lässt Wolfram verlauten: ê man si hete für ein buoch,

Ehe man sie [die Erzählung] für ein Buch hielte,

ich wære ê nacket âne tuoch,

bliebe ich lieber nackt und ohne Tuch,

sô ich in dem bade sæze,

wenn ich in der Wanne säße,

ob ichs questen niht vergæze.

– nur den Badewedel dürfte ich nicht vergessen.

(PARZIVAL, V. 116, 1-4)

217 Siehe Kapitel 4.2.2. 218 Siehe Kapitel 2.1.

427

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Unter der Kapitelüberschrift „Körperteile und Autorinszenierung“ behandelt Christian Kiening diese Stelle als Indiz für eine „Dissoziation zwischen dem Urheber und dem Vortragenden“:219 „Der hier spricht in der Autorenrolle [der Rezitator], suggeriert die Präsenz eines scheinbar greifbaren Körpers [des Dichters]“.220 In der Inszenierung der Körperlichkeit fallen – laut Kiening – die textproduzierende und die textvermittelnde Instanz auseinander. Unter Einbezug der theaterwissenschaftlichen Sicht und der Wirkweisen von Verfremdungseffekten lässt sich das Bild vom Badenden auch anders lesen. ‚Unkörperlich‘ ist es das Publikum gewöhnt, den Rezitator als ‚dreifache Existenz‘, als ‚mediale Tias‘ („nun lât mîn eines wesen drî“),221 also als Stellvertreter der Romanfiguren, der Autorfigur und als für sich selbst sprechende Instanz, zu betrachten. Dabei lag es bisher nahe, anzunehmen, dass die Autorfigur lediglich im Rollensprechen dargestellt wurde, während körperliche Präsenzherstellung tendenziell eher auf den Rezitator verweist. Wolframs Verse zeigen jedoch, dass die Annahme einer dekorporalen Maske für die Autorfigur des Parzival zu relativieren ist. Denn der Rezitator muss mit den von ihm geäußerten Versen stellvertetend für die Autorfigur namens Wolfram ins Bad steigen, d. h. der unkörperlichen Maske durch den eigenen, dem Publikum vor Augen stehenden Körper darstellerisch Physis verleihen. So betrachtet ginge es nicht um eine ‚Dissoziation‘ in der Körperlichkeit, sondern um eine multiple Vereinigung von figuralen wie metafiktionalen Körpern am sowie mit dem Körper des Darstellers. So entstünde nicht abstrakt, sondern korporal imaginiert die mediale Dreieinheit des Sprechenden. Der Rezitator ist also nicht ‚Eins‘, sondern, ganz im Sinne des Epischen Theaters eine ‚multiple Persönlichkeit‘, die nicht nur im Wort, sondern ganzheitlich durch die Register der Darstellung springt. Der korporale Verfremdungseffekt kann dabei – analog zu dem über mediale Augenzeugenschaft erzeugten – graduell stärker oder schwächer und in beide Richtungen der Transgression (FiktionĺAufführung, 219 KIENING, 2003, S. 201. Ähnliches stellt auch Klaus Ridder fest: „Das Auseinandertreten von Geschichte und Diskurs, von Erzähler und Autor setzt Autorbewusstsein ebenso voraus, wie es das Spiel mit der Möglichkeit einer Identität von erzählter und realer Erfahrung erlaubt“; RIDDER, 1998, S. 194. 220 KIENING, 2003, S. 199. 221 PARZIVAL, V. 4,2; siehe Kapitel 4.2.1.

428

Hervorhebung der korporalen Person

AufführungĺFiktion) eingesetzt werden. Hartmann bspw. projiziert den Körper des Rezitators mittels Vergleichen in die Fiktion. Als der Schrecken beschrieben wird, den der totgeglaubte Erec mit seinem plötzlichen Erwachen zu gewaltsamen Taten beim Gesinde des Grafen Oringles auslöst, heißt es: ir vluht was âne schande.

Ihre Flucht war ohne Schande.

swer inz ze laster wande,

Wer ihnen das als Laster anrechnen wollte,

der überspræche sich dar an.

der würde dabei den Mund zu voll nehmen.

nû sprechet, swâ ein tôter man,

Nun sagt: Wo ein toter Mann,

mit bluotigen wunden, [...]

mit blutigen Wunden, [...]

mit einem swerte alsô bar

mit einem so blankgezogenen Schwert

ûf ein ungewarnte schar

auf eine unvorbereitete Schar

in aller gæhe liefe

in vollem Tempo zuliefe

und wâfen über si riefe,

und ihnen ‚Angriff‘ entgegenriefe

er vlühe swem et wære

– wem das Leben auch nur etwas lieb

der lîp ze ihte mære:

wäre, der würde fliehen.

und wære ich gewesen bî,

Und wäre ich dabei gewesen,

ich hete gevlohen swie küene ich sî. ich wäre geflohen, wie tapfer ich auch sei. (EREC, V. 6666-81)

Der Zuhörer wird über den ersten Teil des Anakoluths (V. 69-77), imaginativ zur Teilhabe an der Flucht aufgerufen; sein Körperschema wird in die Menge der Flüchtigen eingespeist. Sodann äußert der Rezitator, dass auch er nicht dazu in der Lage gewesen wäre, dem Grauen des von den Toten auferstandenen Erec zu trotzen. Er projiziert seinen eigenen Avatar in (oder gar über) die Beschreibung und steht so mit seinem Körper für die Wirkkraft des Stressmoments ein. Die Verfremdung hält sich in Grenzen, da keine Distanz zum Verhalten der Figuren, sondern Empathie ausgedrückt wird. Der Zwischenschritt über das rezipierende Körperschema erleichtert die Transgression von der Fiktion zur körperlichen Reaktion. Empathie kann auch bezüglich des Romanprotagonisten als Brücke zu behaupteten oder möglichen körperlichen Empfindungen des Rezitators dienen:

429

Stimme im Raum und Bühne im Kopf ouch nâhten im bœsiu mære.

Auch nahten ihm [Iwein] böse Ereignisse.

im wîssagete sîn muot,

Sein Gefühl weissagte [sie] ihm,

als er mir selbem ofte tuot:

so wie mein eigenes es mir oft tut:

ich siufte, sô ich vrô bin,

Im Glück beseufze ich

mînen künftegen ungewin.

mein künftiges Unglück.

(IWEIN, V. 3096-3100)

Iweins nahende Krise, seine Strafe für das Versetzen seiner Minnedame, lässt den Rezitator zu einem Akt der Empathiebekundung ausholen, die sich – charakteristisch gerade für mittelalterliche Emotionsäußerungen – somatisch in einem Seufzer Ausdruck verleiht. Die Transgression hin zum Körper des Rezitators ist oberflächlich betrachtet ein Akt der Sympathielenkung zugunsten Iweins: Es fallen wiederum Illusionsbruch und -herstellung bzw. Verfremdung und Verschaltung im selben performativen Gestus zusammen. Einzig der Zuhörer, der das Strategische der Lenkung seiner Sympathie erkennt – was aufgrund der auffallend expressiven und dadurch verdächtigen Empathiebekundung wahrscheinlich ist – wird sich fragen, ob Iwein wirklich so bemitleidenswert ist, wie der Rezitator ihn glauben machen will. Dem Skeptiker impliziert die Sympathiebekundung Distanz und nur er wird die Stelle als Verfremdungseffekt erfahren. Die Betonung einer körperlichen Empfindung muss jedoch nicht immer zwecks intellektueller bzw. moralisierender Verfremdung eingesetzt werden: ich wæn mich iemen küssens wene

Ich glaube, dass jemand mich an das Küssen eines

an ein sus wol gelobten munt:

so hoch gepriesenen Munds gewöhnen könnte.

daz ist mir selten worden kunt.

Mir ist das bisher selten passiert.

(PARZIVAL, V. 130,14-16)

Durch das iemen222 wird das Küssen, das auf Fiktionsebene Parzival Jeschute aufnötigt, auf die zwischenkörperliche Ebene der Aufführung gehoben. ‚Durch die (transgressive) Blume‘ flirtet der Rezitator (der 222 Das Wort wird von Knecht nur sehr zurückhaltend übersetzt „Ich glaube schon, daß man mich daran gewöhnen könnte, einen Mund zu küssen, von dem es so viel gutes zu berichten gibt“; KNECHT-Übersetzung; meine Hervorhebung.

430

Hervorhebung der korporalen Person

gleichzeitig auch der ‚Wolfram‘ Verkörpernde ist)223 mit dem weiblichen Teil seines Publikums, indem er andeutet, dass ihm als Ungeküsstem diese Erfahrung zuteil werden sollte. Aufgrund dieser (für Wolfram noch eher harmlosen) Anzüglichkeit stellt sich der verfremdende Effekt dadurch ein, dass der bloße Voyeurismus der Betrachtung eines geraubten Kusses auf Fiktionsebene zu einer Aufforderung zum Küssen des Rezitators umgebogen wird. Wie bei diesem Kuss(bei)spiel fallen die Vergleiche von Rezitatorund Figurenkörpererfahrung häufig komödiantisch aus: Gawein sah von verre

Gawein sah von Weitem,

Vier gùldin kertzstal

wie vier goldene Kerzenleuchter

Mit kertzen tragen in den sal

mit Kerzen darauf in den Saal getragen wurden

Vier jumpfrauwen schöne,

von vier schönen Jungfrauen.

Vnt trügen vier cronen

Die trugen vier Kronen

Vnd cleider kosperlich.

und kostbare Kleider.

Den ich nit glich.

Denen [den Jungfrauen?] gleiche ich nicht.224

(KRONE, V. 14742-48)

Es soll hier nicht die Möglichkeit ausgeschlagen werden, dass das nit im letzten Vers ehemals ein nihts gewesen ist, was den Vers in Bezug zu den Kleidern setzen würde: Kleider, ‚denen ich nichts vergleichen kann‘. Ist es zu weit gegriffen, sich eine prinzipiell ‚nichtige‘ Änderung eines nihts zu einem nit vorzustellen, die den grammatikalischen Bezug von den Kleidern auf die Jungfrauen wechselte und so einer herkömm-

223 Die Erzählerfigur wird im Parzival als ein Ritter inszeniert, der um die Minne einer Verflossenen trauert und zürnt. Dementsprechend fallen transgressive Vergleiche mit Figuren (v. a. wenn es um Frauen geht) oft so aus, dass bei der ‚multiplen Persönlichkeit‘ die Anteile der Autorfigur überwiegen. Der Ungeküsste der obigen Verse ist deshalb auch als der enttäuschte Liebende ‚Wolfram‘ zu sehen, der sich wenige Verse später nochmals zu Wort meldet: „wær mir aller wîbe haz bereit, / mich müet doch froun Jeschûten leit“ (PARZIVAL, V. 137,29f.; ‚Und würde ich alle Frauen hassen, / mich rührte doch das Leid der Frau Jeschute‘). 224 Bei SCHOLL (1852) und FELDER (2012) lautet der letzte Vers „den ich niht gelîch(e)“. Es handelt sich auch in dieser Lesart um die obige Pointe, Kragl jedoch übersetzt „denen ich nichts vergleichen kann“; KRAGL, 2012, S. 216. Eventuell hat Kragl recht – nur der Kalauer wäre damit leider auch dahin.

431

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

lichen Phrase der Prachtbeschreibung eine verfremdende Pointe entlockte? Wenn man die Möglichkeit einer auf die performative Wirkung bedachten ‚Verbesserung‘ nicht a priori ausschließt, ergibt sich eine interessante Variante der Verfremdung, die auf einem transgressiven Crossgender-Humor basiert, der sich auch anhand von späteren Texten wie dem Borte nachweisen lässt.225 Wenn es nicht die angenehmen und komödiantischen Aspekte der Korporalität sind, welche die höfischen Dichter zur Verfremdung nutzen, kann der Effekt Teil komplexer metafiktionaler bzw. metaperformativer Diskurse sein. Da solch ein Diskurs schon anhand der Wunderketten erläutert wurde,226 soll an dieser Stelle auch ein Beispiel aus der Krone folgen: Swie vngefüeg ez regenet

Wie unfreundlich/unhöflich es mit

Vnt donert mit blichen.

Blitzen/Blicken regnet und donnert.

Jch wolt den hagel diken

Ich wollte lieber durch heftigen Hagel

Dann reiten oder gen,

davonreiten oder -gehen,

E ich da wolt besten,

bevor ich es dort aushielte,

Da man mein also phlage.

wo man mich so behandelte.

Swa ich dannoch belage,

Egal, wo ich dann lagerte,

Daz vurdert mich verre baz,

bekommt mir das viel besser,

Dann ob ich lit des wirtes haz

als wenn ich des Hausherrn Hass erleiden müsste

Vnd mir hin nah sein gewalt

und mir im Nachhinein sein Verwalter

Di speis in den mvnt gezalt.

die Speise in den Mund zählte.

Sölh wirt sein verwazen!

Verflucht soll solch ein Hausherr sein!

(KRONE, V. 6239-50)

Die in Kapitel 3.4.3 dargelegte ambivalente Nutzung Heinrichs von mhd. blic als einerseits nhd. ‚Blitz‘ und andererseits nhd. ‚Blick der Augen‘227 kommt auch in dieser Passage zum Tragen, welche die Reaktion auf Gawein an Ywalins Hof beschreibt. Hier jedoch meinen die bliche wirkliche Blicke (die des Gesindes auf Gawein) und nur auf metaphorischer Ebene vermögen diese Blicke zu regenen und donern. Die metaphorische Referenz der zweiten Wunderkette, in der mit den 225 Vgl. REICHLIN, 2008; siehe Anm. 214. 226 Siehe Kapitel 3.4 und 3.5. 227 Vgl. LEXER, 1992, S. 23; siehe Kapitel 3.4.3.

432

Hervorhebung der korporalen Person

blichen auf Fiktionsebene die Blitze und auf Metaebene die auf die Figur gerichteten imaginären Blicke der Zuhörer gemeint waren, ist hier umgekehrt, weshalb auch die Richtung der Transgression wechselt: Die blic-Attacken in dieser Passage werden von der Fiktion auf den realen Körper des Rezitators umgeleitet. Die Unhöflichkeit der Gastgeber, Gawein zu beäugen, wird so kurzgeschlossen mit der realen Situation, in der die Augen des Publikums auf dem Körper des Rezitators ruhen. Mit der Offenlegung der theaKonstellation werden die räumliche Anordnung der Aufführung bzw. die Grundlagen der Theatralität selbst als Akt der Unhöflichkeit ausgewiesen und der Zuhörer muss sich als Voyeur ertappt und der Illusion entfremdet fühlen. Die Verfremdung bleibt auch bestehen, obwohl das Kritisieren einer theatralen Selbstverständlichkeit ebenso wie das anschließende Fluchen auf einen Gastgeber, der so etwas zulasse und einem dafür auch noch Essen in den Mund zahlen lässt, nicht anders als ironisch inszeniert worden sein kann. Am stärksten ist der verfremdende Effekt, wenn der Körper des Rezitators nicht nur als allgemeiner Blickfang, sondern in seinen Details zum Einsatz kommt. Da die Geste zu den Elementen der performativen Kommunikation zählt, deren man aufgrund ihrer Transitorik kaum noch habhaft werden kann, lässt sie sich nur an den Stellen der Partitur untersuchen, an denen Dichter versuchten, inszenatorisch zu steuern. Dies geschieht meist hinsichtlich der manuellen Gestik, wie bspw. in Hartmanns Exkurs zur Zauberin Famurgan: man enmac diu wunder niht gesagen von ir, man muoz ir mê verdagen, der diu selbe vrouwe phlac. doch sô ich meiste mac, sô sage ich waz si kunde. [...] sô hâte si in kurzer vrist die werlt umbevarn dâ unde kam wider sâ. ich enweiz wer siz lêrte. ê ich die hant umbe kêrte oder zuo geslüege die brâ,

Man kann ihre Wundertaten nicht erzählen, man muss die meisten verschweigen, die diese Dame vollbrachte. Doch so gut ich es eben kann, will ich erzählen, was sie vermochte. [...] So hatte sie in kurzer Zeit die Welt umfahren und kam dort wieder zurück. Ich weiß nicht, wer ihr das beigebracht hatte. Schneller, als ich meine Hand umdrehe oder mit den Wimpern schlage,

sô vuor si hin und schein doch sâ. (EREC, V. 5162-75)

fuhr sie fort und schien doch da zu sein.

433

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Dem relativierten Unsagbarkeitstopos („man muoz ir [der Wunder] mê verdagen“) wird mit dem Versuch begegnet, das Mögliche zu beschreiben. Doch wo die Worte zu einer Beschreibung nicht ausreichen, bleibt dem Rezitator letztendlich nichts anderes, als der Vergleich des an sich Unvergleichlichen, in diesem Fall der Schnelligkeit von Famurgans ‚Teleportationen‘, mit seinen eigenen körperlichen Vorgängen, dem Umdrehen der Hand und dem Wimpernschlag. Beide Gesten sind aufgrund der Konstellation, dass (1.) die Figur auf Handlungsebene nicht präsent ist und (2.) das Wunderbare der arthurischen eine große Kluft zur realen Lebenswelt darstellt, eine für die Fiktionsvermittlung notwendige Schnittstelle. Die Gesten des Rezitators kompensieren gleichzeitig figurale Absenz wie rationale Distanz. Die unmittelbare Präsenz des Körpers verleiht dem Unfassbaren Gestalt und Nähe. Dazu muss die rezipierende Imagination jedoch den Raum der Fiktion verlassen und Halt in der realen Geste finden – oder anders ausgedrückt: Die verfremdende Transgression macht die unfassbare Fiktion ‚im Handumdrehen‘ fassbar. Dieses korporale Kurzschlussverfahren ist in der Famurgan-Passage Programm. Zum Wissen der Zauberin heißt es: diu erde deheine wurz entruoc,

Die Erde trug nie ein Kraut,

ir enwære ir kraft erkant

dessen Wirkung ihr nicht so vertraut wäre

alse mir mîn selbes hant.

wie mir meine eigene Hand.

(EREC, V. 5213-15)

Alleine stehend würde diese Formulierung als bloße Redewendung durchgehen, die nicht zwingend einer Geste bedarf. In Kombination mit dem Wenden der Hand jedoch wird klar, dass der Rezitator hier ein zweites Mal manuell für die Evidenz der Fiktion einsteht. Bei beiden Beispielen handelt es sich ebenfalls um Verschaltungen; doch dadurch, dass die Illusionsvermittlung unterbrochen, der imaginierende Blick des Zuhörers von der Zauberin auf den Körper des Rezitators gelenkt wird, findet eine Transgression statt, die durch das Substitut des Körpers die Mängel einer rein verbalen Fiktionsvermittlung ausgleicht. So ist die Verfremdung Mittel zum Zweck der Verschaltung. Mit dem Kurzschluss der fiktionsvermittelnden Modi über manuelle Gesten schließt sich auch der Kreis, den dieses Unterkapitel beschreibt.

434

Hervorhebung der korporalen Person

Zur anfangs anhand der Wolfram’schen Selbstverteidigung umrissenen Programmatik dichterisch-rezitatorischer Korporalität gehört auch eine Funktionalisierung der Hand im Parzival-Prolog: wer roufet mich dâ nie kein hâr

Wer rupft mich dort wo kein Haar

gewuohs, inne an mîner hant?

je wuchs, auf der Innenseite meiner Hand?

dar hât vil nâhe griffe erkant.

Der beherrscht sehr nahegehende Griffe.

sprich ich gein den vorhten och,

Wenn ich wegen dieser Nöte „Au“ schrie,

daz glîchet mîner witze doch.

entspräche es meiner Gerissenheit.

(PARZIVAL, V. 1,26-30)

Eine Kritik am zuvor dargelegten Erzählen in ‚fliegenden Beispielen‘228 wird nicht, wie es der Fernkommunikation von Dichter und Hörer/Leser entspräche, de-korporal kommuniziert, sondern mit dem Bild einer (vorgeblich) peinigenden und nâhen Körperlichkeit belegt. Dies überträgt die Verantwortung des Dichters für das Erzählverfahren auf den körperlich anwesenden Rezitator. Da dieser jedoch (genauso wenig wie die von ihm verkörperte Autorfigur) Haare in seiner Handinnenfläche haben dürfte, die die Kritiker rupfen könnten, wird die Vergeblichkeit der Kritik erst in der Präsenz des Körper evident: Die Vorstellung einer gestisch zum Publikum hin geöffneten Hand wandelt die sprachliche Subtilität des Bildes zu einer aggressiven Selbstbehauptung des Dichters mittels des Rezitatorkörpers.

4.2.5 Offenlegung fiktionsvermittelnder Mechanismen Einer der für die heutige Theaterpraxis beinahe als gängig zu bezeichnenden Verfremdungseffekte ist es, die Artifizialität des Inszenierten und der thea-Konstellation (der quasi-vertraglichen Festlegung von Schauendem und Beschautem, Schauraum und beschautem Raum), herauszustellen. Der Offenlegung der Theatermaschinerie entsprechen beim Romanvortrag drei Kategorien rezitatorischer Sprechakte: (1.) die Offenlegung der ‚Gemachtheit‘ des Textes, (2.) die Betonung des

228 Vgl. PARZIVAL, V. 1,15.

435

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

‚Erzählt-Seins‘ der Geschichte und (3.) das Aufzeigen des ‚AufgeführtSeins‘ des Vortrags. Die erste Kategorie führt in erster Linie zu Fiktionalitätsdiskursen, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung der Aufführungssituation höchstens indirekt von Belang sind. 229 Die zweite Kategorie nimmt eine mediale Zwischenposition ein, da sie einerseits am Fiktionalitätsdiskurs teilhat, dies andererseits aber in Form eines performativen Akts tut. Die Äußerungen der dritten Kategorie sind, analog zur Metafiktionalität, als metaperformative Akte zu verstehen, als Sprechhandlungen, die ihren performativen Charakter oder die theaKonstellation reflektieren, damit die Fiktionsvermittlung unterbrechen und so verfremdend wirken. Die Übergänge zwischen den Kategorien sind dabei abermals einer Entscheidungsleistung des Rezipienten bzw. Interpreten unterstellt: dô sprach der künec Guivreiz:

Da sprach der König Guivreiz:

„nû wil ich iuch wizzen lân

„Nun will ich euch wissen lassen,

wie diu âventiure ist getân. [...]

wie es um die Aventüre bestellt ist. [...]

sist Joie de la curt genant.“

Sie wird Joie de la curt genannt.“

daz selbe wort ist unerkant

Unbekannt ist dieses Wort

under tiutschen liuten:

unter deutschsprachigen Menschen.

durch daz wil ichz diuten:

Deshalb will ich es euch übersetzen

des hoves vreude sprichet daz.

Es heißt: ‚des Hofes Freude‘.

(EREC, V. 7997-8006)

(1.) Als Offenlegung der ‚Gemachtheit‘ des Textes ist der Grund für die Übersetzung aus Sicht der Rezipienten offenkundig: Der Dichter übernimmt ein Wort seiner französischen Vorlage und aus Angst, man könne es nicht verstehen, übersetzt er es. Implizit rückt Hartmann so seine Arbeit mit der Chrétien’schen Quelle und die Materialität der von ihm vorgefundenen französischen Schrift ins Zentrum der Betrachtung. Der Dichter stärkt (2.) damit die Konturen seiner Autorfigur: Dadurch, dass Joie de la curt von Guivreiz genannt wird, inszeniert er die maskenhafte Vermittlung zwischen der Figuren- und der Rezipientenwelt. Aus der

229 Zu Fiktionalitätsdiskursen und zu diesen gegenläufigen (pseudo-)chronikalen Tendenzen im höfischen Roman um 1300 zuletzt: HERWEG, 2010, v. a S. 184-219; mit überzeugendem Bezug auf die Autorfigur und unter Verwendung performativer Denkweisen GLAUCH, 2009, S. 137-197.

436

Offenlegung fiktionsvermittelnder Mechanismen

Sicht einer metaperformativen Wirkweise ist (3.) diese Vermittlungsleistung anders zu verorten: Ein Rezitator liest das französische Wort aus der Hartmann’schen Partitur und wendet sich dann an sein Publikum, um diesem den vom Dichter verwendeten Begriff näher zu erläutern. Je nach Betrachtung wird also (1.) für einen Leser ein Text von einem Dichter/‚Erzähler‘, (2.) für einen postulierten Rezipienten eine Rede der Autorfigur oder aber (3.) für die Zuhörer die Partitur vom performer übersetzt. Die Formulierung der Verse macht alle drei Ebenen der Übersetzungsleistung gleichermaßen möglich.230 Lediglich beim letzten 230 Dieses Gleichgewicht in der medialen Verortbarkeit ist nicht die Norm, sondern eher die Tendenz zur einen oder anderen Art der Offenlegung. In Chrétiens Chevalier de la Charrette heißt es bspw.: Mes une an i ot avuec eles, Darunter auch befand sich eine Qui suer estoit Meleagant – es war Meleagants Schwester –, Don bien vos dirai ça avant von der ich euch später sagen werde, Mon panser et m’antancion, was ich mit ihr im Sinn führe Por quoi j’an ai fet mancion; und warum ich sie erwähnt habe. Mes n’afiert pas a ma matire Es passt nicht zu meiner Erzählung, Que ci androit le doie dire, wenn ich an dieser Stelle davon reden müsste. Ne je ne la vuel boceiier Ich will [die Erzählung] ja nicht verunstalten, Ne corronpre ne forceiier, verderben oder verfälschen, Mes mener buen chemin et droit. sondern auf dem richtigen, geraden Wege (LANCELOT, V. 6262-71; Übersetzung: JAUSS-MEYER) weiterführen.

Diese Unterbrechung des narrativen Flusses wurde interpretiert als „a sign of the substitute-poet’s anxiety to stay on course“; RAFFEL, 1997, S. 197, Anm. zu V. 6251-60; vgl. POIRION, 1994, zur selben Stelle. Gemeint ist mit ‚substitute-poet‘ Godfrey, der das Chrétien’sche Fragment aller Wahrscheinlichkeit nach vollendete. Um diese Interpretation auf Basis der Skripturalität (1.) stützen zu können, bedarf es der eher problematischen Vorannahme, dass Chrétien schon eine Art Plan vorgegeben hatte, anhand dessen der Fortsetzer die Geschichte nun zu erzählen hat. Ist es aber nicht wahrscheinlicher, diese Vorstellung einer ansonsten nicht tradierten schriftstellerischen Konzipierung für einen Fortsetzer außen vor zu lassen und stattdessen den Einwurf auf den beiden anderen medialen Ebenen der Verfremdung zu betrachten? Auf der Ebene der Kommunikation zwischen Autorfigur und postuliertem Rezipienten käme man (2.) zu einer narratologischen Aussage, die der des Wolfram’schen Bogengleichnisses entspräche: Bestimmte Geschehnisse sollten erst jenseits ihrer Chronologie erwähnt werden, um die Sehne zu spannen, von der die Erzählung pfeilgleich losschießt; vgl. PARZIVAL, V. 241,19-25; siehe Kapitel 4.1.1.2. Diese Programmatik findet sich im Chevalier de la Charrette jedoch nicht mit der gleichen Stringenz wie im Parzival verwirklicht. Deshalb scheint es am sichersten, in dem Einwurf eine Verfremdung für die face-to-faceKommunikation der Aufführung zu sehen (3.). In diesem Fall gäbe hier ein

437

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Fall, der performativen Kommunikation, handelt es sich um einen Verfremdungseffekt, weil der Fluss der Fiktionsvermittlung durch einen parenthetischen Einschub unterbrochen wird und der Rezitator nicht in figuraler Rolle, nicht als Stellvertreter der Autorfigur, sondern ‚im eigenen Namen‘ in die Vermittlung erläuternd eingreift. Eine Motivation für die Verwendung der Verfremdung an just dieser Stelle des Erec könnte der Eintritt der Erzählung in die finale Aventüre sein. Was diese Vermutung erhärtet, ist, dass Wirnt von Grafenberg an der parallelen Strukturstelle, am Punkt von Wigalois’ Eintritt in die finale Korntin-Episode, ähnlich verfährt. Während bei Hartmann die Transgression von Figurenrede in die face-to-face-Kommunikation der Aufführung jedoch noch recht sanft gestaltet ist, weil Guivreiz’ Rede zum Zeitpunkt des Eingriffs syntaktisch zu einem Abschluss gekommen ist, radikalisiert Wirnt den Effekt und ‚grätscht‘ übersetzend in die Figurenrede der Botin Nereja ein: „Mîn altvrouwe was gevarn,

„Meine alte Herrin hatte sich,

als si got wolde bewarn

weil Gott sie schützen wollte

und ez ir sælde solde sîn,

und es ihr Glück sein sollte,

ûz dem lande ze Korntîn

aus dem Land Korntin begeben

ûf ir hûs ze Roimunt,“

auf ihre Burg Roimunt,“

(daz tuon ich iu entiuschen kunt:

(das nenne ich euch auf Deutsch:

Künigesberc hieze ez hie),

Hier bedeutet das ‚Königsberg‘),

„daz ir ir vater z’eigen lie

„die ihr Vater ihr

und allez daz dar umbe lît.“

mit allem Umland vererbt hatte.“

(WIGALOIS, V. 3751-59)

Mitten hinein in den grammatikalischen Zusammenhang von Nerejas Rede231 äußert der Rezitator zwei Verse, die nicht aus dem Mund der Figur stammen können, da sie sich an das deutschsprachige Publikum wenden. An diesem kurzzeitigen ‚Aus-der-Rolle-Fallen‘ zeigt sich, wie nah die Ebenen der Fiktion und der Aufführung beieinander gehalten Rezitator vor, nicht mehr ganz Herr der Erzählung zu sein bzw. ihre Kohärenz nicht herstellen zu können. Der Effekt wäre dann (wie an anderen Beispielen bereits erläutert) eine Schwächung seiner ko-kreativen Autorität; siehe u. a. Kapitel 4.2.1. 231 Die Interpunktion der Seelbach’schen Ausgabe wurde dem Sprecherwechsel entsprechend verändert.

438

Offenlegung fiktionsvermittelnder Mechanismen

werden und der Rezitator dem Brecht’schen Ideal der Doppelexistenz des Darstellenden entsprechen bzw. das Publikum eine gleichzeitige Wahrnehmung des Rezitators als Übermittler des Demonstrierten und als eigenwillig agierender Demonstrant (oder anders: an die Doppelexistenz des Zeugen) gewöhnt sein muss. An der Figurenrede Nerejas232 zeigt sich generell ein großes Interesse daran, Figuren- und Rezitatorrede nahe beieinander zu halten, was nicht zuletzt daran liegt, dass ihre Rolle als Botin sie zu einer idealen Spiegelfigur des Rezitators macht: eine transgressive Entsprechung zweier Medien. Das Beieinander-Halten von Figuren- und Rezitatorrede wird durch Phrasen bewirkt, wie sie untypisch für ein Gespräch zwischen Figuren, jedoch typisch für die performative Kommunikation sind.233 So wird die Kommunikationsebene ‚Nereja/Wigalois‘ mit der zwischen Rezitator und Zuhörer verschaltet. Die Verwendung dieser Technik liegt im diskursiven Stellenwert der Figurenrede begründet: Nereja gibt viel weniger Wigalois Auskunft über sich und die Vorgeschichte von Korntin, als dass sie die Vorgeschichte für den Zuhörer vorträgt, da dies ‚Wirnt‘ bisher vermieden hatte. Der Übertrag der narrativen Verantwortung von der Autor- auf die Romanfigur führt dazu, dass Sprechakte, die in einem heterodiegetischen Einschub nicht besonders auffallen würden, in Nerejas Rede zu verfremdenden Effekten werden. Die translatorischen Eingriffe im Erec und im Wigalois sind als performative Gesten mehr als nur praktische Erläuterungen. Die Haltung des Rezitators als Übersetzer der Partitur behauptet einen gewissen ‚Besitzanspruch‘ der performativen Gemeinschaft: Die Aventüre ist als Text existent und ‚handhabbar‘, um im Hier und Jetzt der Aufführung verstanden zu werden. Ebenso wie mittels translativer Eingriffe kann der verfremdende und ‚Besitzanspruch‘ erhebende Sprung in die performative Kommunikation auch über Erläuterungen an Stellen eingesetzt werden, an denen die Gefahr besteht, dass sich die narrative Logik dem Zuhörer nicht direkt erschließt. Als Erec und Enite vor den Truppen eines Grafen flüchten, hört Enite im Gegensatz zu ihrem Ehemann die herannahenden Truppen und warnt ihn entgegen des ihr auferlegten Schweigegebots: 232 Vgl. WIGALOIS, V. 3617-3839. 233 Vgl. u. a. WIGALOIS V. 3666, 3744, 3781, 3839.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf nû endarf niemen sprechen daz:

Nun braucht niemand so sprechen:

„von wiu kam daz diu vrouwe baz

„Woher kam es, dass die Dame

beide gehôrte und gesach?“

sowohl besser hörte als auch sah?“

ich sage iu von wiu daz geschach.

Ich sage euch, woher das kam:

diu vrouwe reit gewæfens bar:

Die Dame ritt ohne Rüstung,

dâ was er gewâfent gar,

während er voll bewaffnet war,

als ein guot ritter sol.

wie es einem tapferen Ritter gebührt.

(EREC, V. 4150-56)

Der Rezitator nimmt eine mögliche Frage seines Publikums vorweg. Damit springt er von der Ebene der Fiktion auf die der performativen Kommunikation. In der Haltung, dem Publikum eine kritische Frage zur Handlungslogik zu unterstellen, wird der bei Brecht sozialpolitisch formulierte Anspruch des Verfremdungseffekts sichtbar: Durch ihre Unterstellung wird der Zuhörer sich die Frage erst stellen und so gegenüber der Fiktion in eine wertende Distanz gesetzt.234 Ein besonderer Reiz dieser Stelle liegt darin, dass der Rezitator über die Betonung dessen, was der Zuhörer nicht fragen dürfe („nû endarf niemen sprechen daz“), ebendiese Frage provoziert.235 Die Distanz wird hergestellt durch das oberflächliche Verbot derselben und die moralische Wertung gibt sich ‚widerständlerisch‘. Dies setzt den Zuhörer in eine analoge Position zu Enite, die ja auch zum (moralisch) Besten ihres Ehegatten spricht, obwohl ihr eben dies verboten wurde. Wenn Enite ohne Grund ihr Schweigen bräche, wäre dies moralisch verwerf234 Im Erec findet sich diese Art der Verfremdung recht häufig, bspw. in V. 8946-53, 9169-71 und 10046-53. Als große Ausgestaltung dieser Technik ist der fingierte Dialog zwischen der Autorfigur ‚Hartmann‘ und ihrem Rezitator zu sehen; siehe Kapitel 3.2. 235 Ähnlich verfährt auch Heinrich bei der Beschreibung von Gaweins Verhalten in der zweiten Wunderkette. Die Zuhörer wissen, dass Gawein einem Handlungsverbot unterliegt; als Gawein dennoch gegen einen der Provokateure kämpfen will, wendet sich der Rezitator an das Publikum: „Jch enweisz, wie es ùch behage: / Er wolt mit yme han gestritten“ (KRONE, V. 16350f.; ‚Ich weiß ja nicht wie euch das behagt, / aber er wollte mit ihm kämpfen‘). Auf die gleiche Weise wird das Publikum in den Versen 28873f. involviert, als Gawein, der an einem gedeckten Tisch vergeblich auf einen anderen Menschen wartet, sich irgendwann entgegen des höfischen Protokolls vom Tisch erhebt: „Wolt ir darvmb belangen, / Das er da eyne müsz sin?“ (‚Wollt ihr es ihm zum Vorwurf machen, / da er dort doch ganz alleine war?‘).

440

Offenlegung fiktionsvermittelnder Mechanismen

lich; die verfremdende Darlegung der Umstände, die sie trotz des Verbots sprechen lassen, erzeugt im Rezipienten also eine moralisch urteilende Distanz, die einen Gedankengang fördert, der die Figur entlastet. Der Gedankengang formt sich jedoch ebenfalls entgegen einer Interdiktion, sodass der Zuhörer letztendlich über die Figur sich selbst in seiner subversiven Mündigkeit exkulpiert. Diese komplexe Entsprechung von Figur und Rezipient ist ein Sonderfall der ‚Offenlegung‘. Die verfremdende Distanzerzeugung wird weitaus häufiger an Stellen eingesetzt, an denen der den Text des Dichters sprechende Rezitator sich in besonders schematischen Beschreibungen zu beweisen hat, wie bspw. bei der descriptio weiblicher Schönheit:236 ichn gesach ir nie deheine

Niemals sah ich Irgendeine,

– geworht âne zungen –,

die nicht durch Sprache geschaffen war,

diu sô wol bedrungen

die derart schön

mit gezierde wære

mit Zierat geschmückt war,

als an disem mære.

wie in dieser Geschichte.

(WIGALOIS, V. 787-791)

Wirnts Rezitator inszeniert Flories Schönheit bzw. die ihrer Accessoires, indem er sie mit der historischen Realität des Publikums, dem nichtsprachlich Erschaffenen (geworht âne zungen), vergleicht. Er betont so die ‚Gemachtheit‘ des Texts, genauso wie er durch den Verweis auf ‚mære‘ darauf aufmerksam macht, dass auch Flories Schönheit zum Teil ‚gemacht‘, also künstlich durch textuelle Accesoires verstärkt ist. Diese Ausstellung der Artifizialität ist die Basis für eine weitere Varianz des fiktionsvermittenden Gestus: Der Rezitator stilisiert sich als gemeinsam mit seinem Publikum ad hoc Schönheit Erschaffender: (1) swer daz nu wolde nîden daz si sô schône was gekleit, daz wær ein michel tôrheit, wand ez ist âne ir aller schaden swaz ich ûf si mac geladen von sîden und von borten und von gezierde, mit worten.

Wer ihr das nun missgönnen wollte, dass sie so schön gekleidet war, beginge eine große Dummheit, denn es geschieht zu niemandens Schaden, was auch immer ich ihr an Seiden, Schmuck und Borten umhänge – mit Worten.

236 Zur hier behandelten Wigalois-Passge siehe auch Kapitel 4.2.3.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf (2) daz ich mich nu nœte der gedanke alsô verre, ich wæn ez mir niht werre, wan von gedanken kumt der muot der dem lîbe sanfte tuot.

Dass ich nun die Phantasie unter Mühen so weit treibe, gereicht mir, glaube ich, nicht zum Nachteil, denn aus der Phantasie entsteht die Haltung, die dem Körper Gutes tut.

(WIGALOIS, V. 856-862 und 922-926)

Beide Seiten der in der Aufführung erschaffenen Schönheit werden thematisiert: Der Rezitator gibt offen zu, die Schönheit der Figur mit worten auszustatten und der Effekt dieser Evozierung auf die Imagination des Publikums wird (im Sinne der körperlichen Teilhabe) als Wohltat, die dem lîbe sanfte tuot beschrieben.237 Die Mechanismen der imaginationserschaffenden performativen Kommunikation oder anders: die Theatermaschinerie der ‚Kopfbühne‘ wird offengelegt. Der kokreative Anteil des Publikums an der Schönheitsschöpfung wird dadurch bekräftigt, dass die descriptio an die Lebenswelt der Zuhörer anknüpft: ein zobel reichte ir ûf die hant, der was swarz unde breit, gemischet grâ unde reit, als noch manic vrouwe treit.

Ein Zobelpelz reichte ihr bis zur Hand der war schwarz und breit, teils grau, teils gelockt, so wie ihn heute noch manche Dame trägt.

(WIGALOIS, V. 826-29)

237 Eine ähnliche Offenlegung im Rahmen einer oft ebenso schematisch gehandhabten Art der descriptio, der Kampfbeschreibung, findet sich in Hartmanns Iwein beim Aufeinandertreffen von Protagonist und arthurischem Idealritter: Machte ich diz vehten Malte ich den Kampf von disen guoten knehten dieser beiden hervorragenden Ritter mit worten nû vil spæhe, mit Worten kunstvoll aus, waz töhte diu wæhe? was würde diese Ausschmückung bringen, wand iu ist ê sô vil geseit da euch schon zuvor so viel von ietweders manheit. von der Tapferkeit eines jeden erzählt wurde. (IWEIN, V.6939-44)

Mit einem Verweis darauf, dass das Publikum schon viel über die Tapferkeit von Gawein und Iwein gehört habe, stellt der Rezitator in Frage, dass eine ausgiebige Kampfesbeschreibung überhaupt noch Wert habe. Damit thematisiert er die (traditionellen) Mechanismen der Kampfesbeschreibung sowie die Mechanismen der das Maß der manheit bestimmenden Imagination des Rezipienten. Diese stehen offen zur Debatte – während die Dramaturgie auf der Strecke bleibt.

442

Offenlegung fiktionsvermittelnder Mechanismen

Flories modische Ausstattung entspricht dem gegenwärtigen Geschmack; wie ein Mannequin wird sie (sprachlich) mit Accessoires und Kleidungsstücken behängt, die aus der zeitgenössischen Realität des mittelalterlichen Publikums stammen. Das modische Schönheitsideal wird also nicht im Sinne des Illusionismus ‚stillschweigend‘ auf die Figur projiziert, sondern die Überblendung wird als illusionistischer Akt kenntlich gemacht: die Schönheits-descriptio als Kunstgriff des Tricksters, der aber entgegen jeder Ethik der Zauberei seine Handlungen offenlegt – und so den Eindruck von Magie erst gar nicht aufkommen lässt. Die Verfremdung führt bei dieser descriptio nicht zu einer moralischen Distanzhaltung gegenüber der Figurenwelt (wie bei Enite), sondern gegenüber der narrativ-performativen Imaginationsleitung. Der Zuhörer kann nicht mehr unkritisch bewundern, welche Schönheit vor seinem inneren Auge erschaffen wird, sondern muss sich distanziert mit den Mechanismen dieser Schönheitserschaffung auseinandersetzen und diese als handwerklich gelungen oder minderwertig beurteilen. Der einführend dargelegten Dreiteiligkeit der verfremdenden Kommunikation entsprechend ist neben der Distanz zur Figur (1.) und zum Erzähler (2.) auch die zum Rezitator selbst möglich (3.). Dies geschieht am häufigsten über Thematisierungen der imaginatio als primärer Ort der Fiktionsentstehung, die meist recht formelhaft ausfallen, sodass hier zwei kurze abschließende Beispiele genügen können: (1) swes ein man vil wîse möhte in sînem muote

Alles, was ein wirklich weiser Mann sich in seinem Geiste

erdenken ze guote,

an Gutem vorstellen kann,

des heten si die überkraft.

davon hatten sie dort im Übermaß.

(2) ine sagez iu niht nâch wâne: Gebiet ir, sô ist ez wâr.

Ich erzähle euch das nicht von ungefähr: Wenn ihr befehlt, dann ist es wahr.

(EREC, V. 387-90 und PARZIVAL, V. 59,26f.)238

238 Zwei weitere Beispiele für diese direkte Ansprache der imaginatio wurden bereits zwecks der Verschaltung über das Festmahl angeführt. Dass dieselben Textpassagen zur Verdeutlichung von Verschaltung und Verfremdung dienen können, zeigt, dass es sich bei den performativen Techniken nicht um konträre, sondern in vielen Fällen auch um sich ergänzende und bedingende Phänomene handelt; vgl. ENEAS, V. 13143-50 und KRONE, V. 8405-09 in Kapitel 4.1.2.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Die Verfremdung wird dadurch erzeugt, dass das, was selbstverständlich geschehen sollte, die Illusionserzeugung in der imaginatio des Zuhörers, unter Offenlegung des Effekts geschieht. Der Text verweigert die Beschreibung und schafft so eine Leerstelle für freie Imaginationsleistungen des Zuhörers. Mit dem Aufruf zu ‚imaginativen Extempores‘ wird gleichzeitig die Wirkkraft der Imagination selbst in Distanz gerückt. Letztendlich wird der Zuhörer darauf aufmerksam gemacht, welche Verantwortung ihm obliegt, und damit eine Grundlage zur (Selbst-)Reflexion im fiktionsgenerierenden Prozess geschaffen. Diese Reflexion ist jedoch im Wesentlichen unkritisch und als Selbstzweck auf die performative Situation bezogen. Somit ist sie dem Restbestand dessen analog, was vom Epischen Theater abzüglich seines gesellschaftspolitischen Anspruchs bleibt: die distanzierte Selbstanalyse von Kulturkonsumenten als Kulturkonsumenten – ein rezeptiver Narzissmus.

4.2.6 ‚Persönliche‘ Distanzierung zum Geschehen Von den drei Distanzierungstechniken, die der Verfremdungseffekt bedient (Offenlegung der ‚Gemachtheit‘ des Texts; Betonung des ‚Erzählt-Seins‘ der Geschichte; Aufzeigen des ‚Aufgeführt-Seins‘ des Vortrags), gründen die ersten zwei auf dem medialen Clash, der in der Aufführung stattfindet. Im Rahmensystem der Performativität treffen die Oralität in Form all der Geschichten, die schon zuvor dem Publikum erzählt wurden, und die Skripturalität in Form der schriftlich verfassten Partitur, aus der der Rezitator vorträgt, aufeinander, um durch mediale Translation ‚Aufführung‘ zu werden. Eine mediale ‚Konkurrenzdynamik‘ stellt deshalb beim Vortrag des höfischen Romans die Norm dar. Im Falle einer regulären Fiktionsvermittlung vereint der Rezitator die Medialitäten bzw. lässt sie im medialen Zustand der Performativität aufgehen; die Behauptung einer „Mediendominanz“239 ist dabei nicht 239 Mediale ‚Konkurrenzdynamik‘ ist der Leitbegriff der von Uta Degner und Norbert Christian Wolf herausgegebenen Aufsatzsammlung Der neue Wettstreit der Künste. Aufbauend auf Pierre Bourdieus Theorie vom ‚literarischen Feld‘ wird dort die harmonisierende Tendenz des Intermedialitätskonzepts abgelehnt, laut dem es sich beim jeweiligen Kunstwerk um ein hybrides Nebeneinander, gar eine Symbiose verschiedener Medien

444

‚Persönliche‘ Distanzierung zum Geschehen

von Nöten: Die literatur-gemeinschaftliche Notwendigkeit, einen Roman performativ zu verwirklichen, macht sie zu einer Selbstverständlichkeit. Zum Zweck der Verfremdung kann der Rezitator jedoch die medialen Differenzen hervorheben bzw. künstlich eine ‚Mediendominanz‘ suggerieren. Dies kann u. a. geschehen, indem er sich zum schriftlich fixierten Geschehen mittels der persona (‚Maske‘) der Autorfigur oder als er selbst in Distanz setzt. Diese Distanzherstellung kann bspw. in Form von (vorgeblich) fehlendem Wissen ausgestaltet werden. In den Wunderketten der Krone erfährt Gawein beim ersten Besuch der Gralsburg einen unerwartet freundlichen Empfang: (1) [D]ie brùck nydder schosz: Jch enweisz, wes er da genoz.

Die Zugbrücke rasselte herunter: Ich weiß nicht, wessen Gunst er da erfuhr.

(2) Jch enweisz, wa her jne Ich weiß nicht, woher ihn der portener kant der Torwächter kannte. (KRONE, V. 14597f. und 14610)

Kopfschüttelnd bekennt der Rezitator, dass er das Geschehen in der Gralsburg nicht versteht. Er begibt sich so in die distanzierte Haltung eines oberflächlichen Betrachters hintergründiger Vorgänge, eine Haltung, die ihn der Fiktion entfremdet, dem Zuhörer hingegen annähert. Dies schafft jedoch einen vermittlungstechnischen Konflikt, wenn das zutrifft, was Mertens zum Sänger (respektive Rezitator) schreibt: „Der Sänger gab dem Lied seine Aura, durch ihn war es lebendig und authentisch. Dazu trug nicht nur seine sinnliche Präsenz, seine Stimme,

handelt. Stattdessen wendet sich der Fokus der ‚Konkurrenzdynamik‘ zu, nach der sich bestimmte Medien durch die Inklusion anderer als sozial dominant zu beweisen gedenken; vgl. DEGNER/WOLF, 2010, S. 7-17. Diese zwecks der Etablierung eines Leitmediums inszenierte Medienkonkurrenz mag anhand moderner und postmoderner Beispiele überzeugen. Leider fehlt in dem Band eine Betrachtung der Vormoderne, in der diese Konkurrenzdynamik erst gar nicht unter dem Zeichen einer harmonisierenden Intermedialität steht, sondern im Vorgang der intermediate reception (GREEN, 1994; siehe 1. Kapitel) die Medien in ‚natürlicher‘ Konkurrenz stehen, einer Konkurrenz also, die nicht dazu zwingt, im Spannungsfeld von Oralität, Skripturalität und Performativität die Dominanz eines ‚Leitmediums‘ zu evozieren.

445

Stimme im Raum und Bühne im Kopf bei, sondern auch sein Amt, die Tatsache, daß er mit seiner Kunst und seinem Wissen in einer Traditionskette stand, die Authentizität der Übermittlung und des Übermittelten garantierte.“240

Was passiert, wenn der Rezitator wie in den Wunderketten seine Funktion als Authentizitäts-Garant demonstrativ ablehnt? Diese Verweigerungshaltung ist in der Krone nicht auf die Wunderketten beschränkt, was die Beantwortung dieser Frage als ein Sonderphänomen erleichtern würde: Immer, wenn das Geschehen zu ‚wunderlich‘ wird, bspw. als Gawein seine Minnedame Amurfina mit Begierde berührt und daraufhin ein magisches Schwert auf ihn herunterfährt, weist der Rezitator die narrative Verantwortung von sich: Daz selb wunder begienc,

Dasselbe [Schwert] vollbrachte ein Wunder,

Daz ez übel ze glouben ist,

dass es schwer zu glauben ist,

Daz sölh chvnst vnd ir list

dass solche Magie und ihr Zauber

Jmmer möht fvnden sein.

jemals anzutreffen wären.

Ouch nim ich ez auf di triwe mein

Ich lege meine Hand dafür ins Feuer

Niht, daz ez war sei.

nicht, dass das die Wahrheit ist.

(KRONE, V. 8511-16)

Der Rezitator, der von Amts wegen für die Fiktion einzustehen hat, weigert sich, den Wahrheitsgehalt des Geschehens in seine Verantwortung zu nehmen. Dabei ist die Verweigerungshaltung entsprechend inszeniert: Am Verswechsel zwischen 8515 und 8516, der durch den Anschluss an den starken Reim sein/mein akustisch als eine Zäsur erkennbar ist, führt das durch grammatische Inversion und Enjambement nachgeschobene Niht dazu, dass die Satzaussage entgegen der Zuhörererwartung plötzlich in ihr Gegenteil kippt. Die so erzeugte humoristische Betonung der Verweigerung („Ouch nim ich ez auf die triuwe mein –…– Niht, daz es war sei“) könnte dabei intertextuell auf die Chrétien’sche Aventüre des lit de la marveille241 oder das huoteSchwert in Gottfrieds Minnegrotte anspielen.242 Die Formulierung wür-

240 MERTENS, 1996, S. 359. 241 Vgl. CONTE, V. 7732-7848, PARZIVAL, V. 566,11-569,27; dazu: FELDER, 2006, S. 232. 242 Vgl. TRISTAN, V. 17412-16.; dazu: FELDER, 2006, S. 236.

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‚Persönliche‘ Distanzierung zum Geschehen

de so augenzwinkernd die Verantwortung auf die Dichter respektive die Rezitatoren dieser älteren Aventüren schieben. Mit derselben Geste verweist der Rezitator also auf die – in Mertens Worten – ‚Traditionskette, welche die Authentizität der Übermittlung und des Übermittelten garantiert‘, wie er sich selbst demonstrativ in einem Abseits dieser Tradition verortet: Verfremdung fungiert in diesem Fall als Selbstbehauptung traditionsbrüchiger Innovation. Verfremdende Effekte können auch einhergehen mit Wertungen, die sich auf die Figurenebene beziehen lassen. So sind im Parzival v. a. in den ersten beiden Lachmann’schen Büchern, in den Passagen also, in denen Wolfram unabhängig von seiner Vorlage von Parzivals Vater Gahmuret berichtet, auffällig viele ‚persönliche‘ (d. h. in der persona ‚Wolfram‘ oder aber als Person) Distanzierungen zu finden: (1) ine sagez iu niht für wæhe:

Ich erzähle euch das nicht, um schön zu tun:

dâ was diu ruowe smæhe. [...]

Da brachte das Nichts-Tun Schande. [...]

dâ stuont al kurz grüene gras:

Da stand kurz das grüne Gras,

dâ vielen ûf die werden man,

darauf fielen die edlen Männer,

den diu êre en teil was getân.

denen diese Ehre zuteil wurde.

mîn gir kan sölher wünsche doln,

Mein Verlangen kann solchen Ehrgeiz aushalten,

daz et ich besæze ûf dem voln.

sodass ich auf dem Fohlen sitzen bliebe.

(2) sîne sicherheit er an sich las.

Sein Sicherheitsversprechen sammelte er auf.

doch læse ich samfter süeze birn,

Ich sammelte doch lieber saftige Birnen,

swie die ritter vor im nider rirn.

so wie die Ritter dort vor ihm niederfielen.

(PARZIVAL, V. 75,11-22 und 79,30-80,2)

In beiden Beispielen erzeugt der Rezitator Verfremdung, indem er seine ‚Gemütlichkeit‘ in Kontrast zum kämpferischen Treiben Gahmurets setzt: Den Beschreibungen der stürzenden Gegner setzt er das Selbstbildnis eines gemächlichen Herumtreibers entgegen. Die Distanzierung ist ähnlich wie bei der Krone eine humoristische, die durch den Kurzschluss von Fiktion und dem (mit Vorstellungen belegten) Rezitatorkörper entsteht. Die Ironie ist dabei kein Selbstzweck, sondern gehört zur Sympathielenkung, mittels der Gahmuret als zwar ehrenhafter, jedoch bei Weitem noch nicht des Protagonistenstatus’ würdiger Ritter dargestellt wird.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Dabei obliegt dem Publikum die Entscheidungsleistung, ob der Humor über den ‚authentischen Körper‘ des Rezitators oder aber über seinen die Autorfigur vertretenden ‚medialen Körper‘ erschaffen wird. Im ersten Fall entsteht jenseits der Pointe keine weitere Aussage, jedoch die Möglichkeit komödiantischer Aktion. Wenn jedoch die ritterlich stilisierte Autorfigur durch den ‚medialen Körper‘ spricht, wird über den Humor der ritterliche Ehrbegriff in Frage gestellt: Wenn ‚Wolfram‘ lieber als Taugenichts denn als Kämpfer durch die Lande zieht, was kann die durch Kampf gewonnene Ehre dann schon wert sein? Die Zuschreibung bleibt in der Schwebe. An einer anderen Stelle jedoch zeigt sich, dass der Verfremdungseffekt die ‚Möglichkeit‘ einer Kritik generiert, indem die Distanzierung zur Romanfigur und damit zum ritterlichen Ehrbegriff performativ diskursiviert wird: wie vil er lande durchrite

Wie viele Länder er [Gahmuret] durchritt

und in schiffen umbefüere?

und in Schiffen umfuhr?

ob ich iu dâ nâch swüere,

Wenn ich euch darauf einen Schwur leistete,

sô saget iu ûf mînen eit

so versichert es euch mein ritterliches

mîn ritterlîchiu sicherheit

Ehrenwort bei meinem Eid,

als mir diu âventiure giht:

was mir doch nur die Aventüre vorsagt:

ine hân nu mêr geziuges niht.

Ich habe nicht mehr als ihr Zeugnis.

(PARZIVAL, V. 15,8-14)

Hier ist es die Ehre des Sprechenden, die für die Bezeugung des fiktiven Geschehens aufs Spiel gesetzt wird. Nach den üblichen textorientierten Interpretationen kann man davon ausgehen, dass es sich um die Ehre der ritterlichen Autorfigur handelt. Doch die Passage ist abermals ambivalent und lässt auch die auf den ‚authentischen Körper‘ bezogene Lesart zu. Geht man – hypothetisch – des Weiteren nach den gängigen Vorstellungem vom ‚Spielmann‘ davon aus, dass der Rezitator kein stattlicher Ritter, sondern eher ein vagabundierender Dienstleister war, so ist seine Behauptung, sein Eid würde vom Publikum als ritterlicher verstanden, eine verfremdende Kontrastierung zu seiner ‚unritterlichen‘ Erscheinung. Doch auch ohne Bemühung des überstrapazierten Spielmann-Imagos243 sollte diese Differenz bestehen, da wohl kein realer Vortragender den moralischen und körperlichen ‚Superhelden‘ der 243 Siehe Kapitel 2.1.

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‚Persönliche‘ Distanzierung zum Geschehen

arthurischen Welt gerecht werden könnte. Die vorgebliche Sorge um den Ehrverlust findet über diese Differenzerfahrung244 zu ihrer ironischen Verkehrung. Es obliegt also abermals einer Entscheidungsleistung des Zuhörers, ob er in der Passage eine Kritik entdeckt oder nicht. Im Gegensatz zum vorigen Beispiel führt nun jedoch nicht die Entscheidung für den ‚medialen‘, sondern die für den ‚authentischen Körper‘ und die damit einhergehende Differenzerfahrung zur Ironie. Gemein ist beiden Beispielen, dass die Distanzierung des Sprechenden zur Partitur – der er folgen muss, ohne für sie einstehen zu wollen (ohne ironische Verkehrung) oder zu können (mit ironischer Verkehrung) – Ausdruck einer ernsthaften Skepsis gegenüber der fiktionalen Welt, dem in ihr dominierenden Ehrbegriff und so auch gegenüber der Figur Gahmuret ist.

244 Siehe Kapitel 4.1.2.2.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

4.3 Ein Sonderfall der Verfremdung: der Cliffhanger „Die Rede hat bekanntlich die Macht, den schon abgeschickten Pfeil aufzuhalten in einem Bruchteil von Zeit.“ Michel Foucault, Das unendliche Sprechen245

Ein höfischer Roman kann aufgrund seines Umfangs, ähnlich wie bei den antiken Rhapsoden,246 nur in einzelnen Etappen zur Aufführung gebracht worden sein. Anhand der tradierten Texte fällt es jedoch schwer, die ehemaligen Vortragsanfänge und -enden zu bestimmen. Der Grund hierfür ist wahrscheinlich, dass die Romane im Tradierungsverlauf nach dem Durchsetzen der Skripturalität als dominantem medialem System für die Lese-Rezeption geglättet wurden.247 Tendenziell am stärksten betrifft dies wohl den Erec, dessen performatives Potenzial aufgrund seiner äußerst späten Tradierung im Ambraser Heldenbuch des frühen 16. Jahrhunderts unter einer dicken Schicht der skripturalen Glättungen verschüttet liegt und dem performativen Interpreten einen gleichermaßen archäologischen Gestus wie analytische Fantasie abverlangt.248 Vorarbeiten zu dieser archäologischen Spurensuche nach Vortragsumbrüchen liefert gerade für Hartmanns Werke Hansjürgen Linke.249 Seine Studie macht deutlich, dass man beim Vortrag von Artusromanen Chrétien’scher Prägung von relativ gleichförmigen Vortragseinheiten auszugehen habe. Was Linke in seiner strukturellen Untersuchung nicht anmerkt, ist, dass dieser mediale Zwang zur Sektionierung des Gesamttexts einen kreativen Spielraum eröffnet – einen Spielraum, der weniger 245 Foucault, 1988, S. 90. 246 ‚Rhapsode‘ von gr. rháptein (‫ק‬ȐʌIJİȚȞ), ‚zusammenfügen‘, und ǀd‫ߍ( ڼ‬įȒ), ‚Gesang‘, meint denjenigen, der einzelne Teile (im Gegensatz zum Aoiden der Oralität) eines (Gesamt-)Texts durch seine performative Umsetzung zusammenfügt; vgl. PFEIFER, 1999, S. 1125. Zur Funktion des Rhapsoden als performer homerischer Texte vgl. SEECK, 2004, S. 18f. 247 Ähnliches wird für die (ehemals) rhapsodischen Texte der Antike angenommen; vgl. SEECK, 2004, S. 51f. 248 Siehe Kapitel 3.2 und 3.3. 249 Vgl. LINKE, 1968; siehe Kapitel 3.2.

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Ein Sonderfall der Verfremdung: der Cliffhanger

den Dichter als den Rezitator zum Erschaffer enorm wirkungsvoller Verfremdungseffekte werden lässt. Wenn man die Rezeption des Romanvortrags als eine durchgehend multisensuelle Teilhabe des Zuhörers an der Partitur begreift, als einen Fluss, der ausgehend von der textuellen Quelle die Sinne ergreift und mit sich reißt, was passiert dann, wenn dieser Fluss unversehens versiegt oder (den Worten Foucaults folgend) der abgeschickte Pfeil der Erzählung abrupt aufgehalten wird? Was bedeutet der Stillstand bei einem Rezeptionmodus, der als besonders kinästhetisch, d. h. auf den Nachvollzug von Bewegung ausgerichtet gelten kann? Um Fragen wie diesen nachgehen zu können, möchte ich den höfischen Roman in eine systematische Perspektive rücken – in eine Betrachtung entlang der Traditionslinie serieller Formate.

4.3.1 Höfische Literatur und Fernsehserie: ein definitorischer Versuch ΖϴΪΤϠ΍ Ϧϋ ΖΘϜδϔ ΢ΑμϠ΍ Ϊ΍ΰ΍ήϬθ ϚήΪ΍Ϯ Alf Laila Wa-Laila (Tausendundeine Nacht)250

Eine Definition des Begriffs ‚Serialität‘ birgt das Problem, sich gegen viele Vorurteile durchsetzen zu müssen, da die idealtypische Ausprägung des seriellen Erzählens heutzutage die Fernsehserie, genauer: das ‚serial‘ ist, 251 das trotz des wachsenden wissenschaftlichen Interesses an so genannten ‚Qualitätsfernsehserien‘ häufig und v. a. in den Philo250 „Da erreichte das Morgengrauen Schaharasad, und sie hörte auf zu erzählen“; Originaltext: MAHDI, 1984, S. 104, Z. 14; Übersetzung: OTT, 2009, S. 33. 251 Die Unterscheidung von Fernsehserien in ‚series‘ und ‚serials‘ nimmt Lothar Mikos vor; vgl. MIKOS, 1994, S. 138f.; auch PLAKE, 2004, S. 144154. Im Groben bezeichnen ‚series‘ (JURGA, 1999, S. 119f., bezeichnet sie als ‚Episodenserien‘) eine Reihe von kleinen, autonomen Erzählungen, bei denen bspw. die Figurenkonstellation, das Setting, Rahmenhandlungen oder aber auch nur das äußere Erscheinungsbild einen Zusammenhang der Episoden herstellen. Da die Episoden der ‚series‘ abgeschlossen sind, läßt sich an ihnen kaum ein kreativer Umgang mit Erzähl-Enden feststellen. Aus diesem Grund sind für die vorliegende Studie die ‚serials‘ von größerem Interesse. Für einen Überblick über den Forschungsstand zu deutschsprachigen serials und v. a. soap operas vgl. MIELKE, 2006, S. 527-545.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

logien immer noch als niedere künstlerische Ausdrucksform gilt. Entfernt man sich auf verwundenen definitorischen Pfaden zu weit von dieser vorurteilsbelasteten Form des Seriellen, wird definitorische Arbeit jedoch zur Farce: Man sieht, wie zum Beispiel Werner Faulstich in seiner Untersuchung der Serialität aus kulturwissenschaftlicher Sicht, in der Serie ein „Formprinzip des Erzählens überhaupt“,252 ein strukturelles Merkmal aller Künste,253 ein Handlungsprinzip im Alltag oder das Movens hinter den gewählten Stellungen beim Sex. Faulstich erhebt Serialität gar zum allgemeinen „Wahrnehmungs- und Ordnungsprinzip des Menschen“.254 Eine weite Definition wie diese kann für eine konkrete Anwendung auf die Vortragsreihen des höfischen Romans und die kreativen Prozesse eines Rezitators nicht fruchten, da nach ihr alles Serie wäre und das ‚Serielle‘ als heuristischer Begriff somit nichts. Deshalb ist es nötig (entgegen möglicher Verfechter einer als bedroht imaginierten Hochkultur, die als Denkmuster des 19. Jahrhunderts nach dem vorübergehenden künstlerischen und literaturtheoretischen Aufweichen in den späten 1960ern und frühen 70ern255 momentan, so scheint mir, wieder ein Revival erlebt), das serial als definitorische Folie beizubehalten. Günter Giesenfeld256 definiert Serialität mittels dieser Folie als „eine Form narrativer Geschehenskonstruktion“, bei der die augenscheinlichsten Charakteristika „zunächst als solche der Präsentation, und erst in zweiter Linie als Konsequenz aus dieser in der inneren Struktur und ästhetischen Erscheinung“257 festzustellen sind. Er geht davon aus, dass Serialität nicht als ästhetisches Prinzip entsteht, sondern vielmehr durch die Einwirkungen ökonomischer und/oder medialer Umstände auf das

252 253 254 255

FAULSTICH, 1994, S. 48. Ebd., S. 49f. Ebd., S. 51. Zur Entwicklung des Dreischichtenmodells ‚Hochliteratur/Unterhaltungsliteratur/Trivialliteratur‘ anhand der DDR-Literatur vgl. FOLTIN, 1970 und KLEIN, 1969. 256 Ich folge der Definition Giesenfelds, weil diese eine Ausweitung des Begriffs auf literarische Phänomene begünstigt. Es soll jedoch bemerkt werden, dass sich in der Grundlagenarbeit Knut Hickethiers zur Fernsehserie kaum andere definitorische Parameter finden lassen; vgl. HICKETHIER, 1991. 257 GIESENFELD, 1994, S. 1f.

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Höfische Literatur und Fernsehserie

Kunstwerk, die sich eher zufällig als intendiert in bestimmten ästhetischen Formen niederschlagen. Neben der ökonomisch-medialen Bedingtheit ist die ‚Variation des Schemas‘ das augenfälligste eigen-ästhetische Charakteristikum des Seriellen, das Giesenfeld, Umberto Eco u. a. als zentrales Gestaltungsprinzip aller seriellen Formate gilt.258 Während das Monoton-Rituelle eine beruhigende Wirkung hat und die Serie zur idealen Form der Fernsehunterhaltung macht, ist die Variation innerhalb des ritualisierten Schemas das, was das Interesse an (inter-esse; zwischen den Grenzen) der einzelnen Episode bestimmt. Eco schreibt von der dem Seriellen eigenen „Dialektik zwischen Repetition und Innovation“.259 Die (Fernseh-)Serie hat aufgrund dieser Dialektik zwei verschiedene Ebenen der Rezeption: einerseits den naiven Reiz des Rituellen und andererseits die reflektierende Lust an der in das Ritual eingebetteten Variation. Diese Dialektik bringt eine reduzierte Spannbreite der Dramatik mit sich, da das Strickmuster der Serie schnell zu durchschauen sein muss, um zu wirken, sowie eine Offenheit der Handlungsstruktur, die diesem Strickmuster formal entgegenwirkt, es in seiner Wirkmacht dennoch festigt. Giesenfeld sieht hierin einen „Gegensatz zum Erzählen vom Typ Entwicklungsroman“,260 da dieser stets auf ein Ende hin konstruiert ist, das gerade in der Abgeschlossenheit sinntragend ist, während die Serie zwar innerhalb der Episoden provisorische Enden hat, jedoch auf einem ‚unendlichen Sprechen‘ (Foucault) beruht, das jeglichen Abschluss negiert und nur eine partielle (also Pseudo-)Finalität zulässt. Dieses Nebeneinander von episodischem und (potenziell) unendlichem Erzählen ist das grundlegende Strukturprinzip des Seriellen.261 Die richtige Mischung aus endlich-episodischen und (potenziell) unendlichlinearen Erzählelementen trägt viel zum kulturellen Impact (respektive ökonomischen Erfolg) eines serial bei.262 Das Serielle als ästhetisches 258 259 260 261

Vgl. ECO, 1990. Ebd., S. 314. GIESENFELD, 1994, S. 4. Hickethier prägte für diesen Zusammenhang das Schlagwort der ‚doppelten Formstruktur‘; vgl. HICKETHIER, 1991, S. 10. 262 So gibt es bspw. nur sehr wenige Episoden der international erfolgreichen Sitcom Friends (1994 bis 2004) in denen nicht die eine oder andere Anspielung auf den linear erzählten Ablauf der Liebe zwischen den Figuren Ross und Rachel auftaucht, welche die Fans weltweit für zehn Jahre bei der Stange hielt. Dass die Geschichte dieser Liebe nach der zehnten Staffel

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Prinzip kann somit als austarierte Mischung aus zirkulärem und linearem Erzählen beschrieben werden, dessen Wirkung zwischen ritueller Beruhigung und Lust an der Variation oszilliert.263 Gegenläufig zu seinem hochliterarischen Ritterschlag möchte ich versuchen, den Artusroman dem Fahrwasser dieser Theorie des ‚Trivialen‘ zu übergeben: Auch die Erzählung vom Artushof begreift sich (zumindest in den Versromanen des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts) als unendlich, sich jenseits der Grenzen des einzelnen Texts im Sinne des per se unhistorischen Mythos264 fortgesetzt und kontinuierlich fortsetzend.265 Warum sonst hätten sich so viele Dichter immer wieder auf das gleiche Figureninventar gestürzt, sich intertextuell vernetzt und den Artushof stets aufs Neue beschrieben, wenn nicht aus dem Grund, schließlich doch zu einem Ende findet, ergibt sich nicht aus narrativen Notwendigkeiten, sondern aus den realen Bedingungen der Produktion. In dieser Hinsicht ist vielleicht The Simpsons (1989 bis [vorerst] 2012) als die ideale Form des serial zu betrachten, da bei gezeichneten Charakteren das unendliche Erzählen nur im geringen Maße vom realen Zeitverlauf (bspw. vom Altern der Darsteller) gehindert wird, weswegen – eine gleichbleibende Einschaltquote vorausgesetzt – ein Ende der Serie in den nächsten Jahren nicht zu erwarten ist. 263 Mielke kommt zu einer ähnlichen Definition von Serialität. Basierend auf dieser unternimmt sie eine weitfassende kulturwissenschaftliche Untersuchung, welche die Kontinuität serieller Phänomene schlaglichtartig zu belegen gedenkt. Als Element dieses longue durée-Phänomens bleibt der höfische Roman jedoch unbeachtet; vgl. MIELKE, 2006. 264 Der Unterschied zwischen einer ‚historischen‘ und einer ‚mythischen‘ Zeitvorstellung wird u. a. von Hans Hübner – in Deckungsgleichheit mit den strukturalistischen Untersuchungen Levi-Strauss’ – als Differenz von zirkulär-unendlichen und linear-endlichen Zeitverläufen beschrieben, wobei „der mythische Mensch in zwei Zeitdimensionen, nämlich einmal in der heiligen Zeit […] und in der profanen […] [lebte]. […] Als Sterblicher erfährt er zwangsläufig die mythischen Zyklen im Rahmen der profanen Zeit, die mythische Zeit wird in die profane und irreversible eingebettet“; HÜBNER, 1985, S. 143f.; vgl. auch CZERWINSKI, 1993; für meine Auseinandersetzung mit der mythischen Struktur bezüglich der seriell, d. h. über die Textgrenzen hinweg erzählten Keie-Figur vgl. DÄUMER, 2011 (Keie). 265 „Die zyklisch-serielle Narration hat sich damit als eine kontinuierliche, funktional wie ästhetisch bestimmbare Erzähltradition erwiesen, die fiktionsintern durch eine charakteristische Narrationsstruktur und Motivik erkennbar ist, und die fiktionsextern eine Wiederkehr der gesellschaftskonstituierenden mythologischen Erzählung darstellt. Sie erfüllt die tradierte, nahezu anthropologisch begründete Funktion des Mythos – die Sinnstiftung wie die gesellige Unterhaltung“; MIELKE, 2006, S. 669.

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weil sie die damit evozierte fiktive Welt als infinite behaupteten? Im Gegensatz zu den linear erzählten Prosakompilationen, die die Artuswelt unter Rückgriff auf chronikale Erzählweisen bis zur Mort Artu erzählen,266 sprechen die Versromane Artus, dem Zentrum dieser mythischen Welt, sowie dem Erzählen von ihm Unendlichkeit zu. Die Krone des Heinrich von dem Türlin kann mit ihrem zirkulären Zeitverlauf267 und der Weigerung, entgegen der vorherigen Ankündigung, Artus am Ende des Romans sterben oder gar die Gralssphäre die Artussphäre überschatten zu lassen, als ein Paradigma dieser unendlichen Präsenz gelesen werden.268 Heinrichs Werk ist das auffälligste Statement in diesem Versuch einer das Serielle begünstigenden ‚Remythisierung‘ der Artussphäre im 13. Jahrhundert. Durch das mythisch-serielle Verständnis der Artuswelt wird jeder einzelne der Romane zu einer Episode in einem größeren Fortsetzungszusammenhang: Selbst wenn der Weg des jeweiligen Protagonisten beendet ist, stellt der einzelne Roman ein zyklisches, d. h. ein stets im Vortrag zu erneuerndes Gebilde dar. Dass der Held sich im Verlauf der Vortragsreihen auf lineare Art und Weise zu entwickeln scheint, ist dabei kein Bruch mit dem zyklischen Prinzip des Seriellen, bleibt die ihm umgebende Welt doch in ihren Grundzügen die gleiche und bietet die Basis für die vom nächsten Helden zu drehende Kapriole – oder anders ausgedrückt: für die nächste Episode der arthurischen Serie.269 Man hat es also auch beim Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts mit einem ‚unendlichen Sprechen‘ zu tun, das episodische bzw. zykli-

266 Gemeint sind bspw. der altfranzösische Prosalancelot aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts oder die im 15. Jahrhundert entstandene Zusammenstellung Le Mort Darthur des Briten Sir Thomas Malory. Malorys Titelgebung zeugt vom Bewusstsein des Kompilators, dass sein Vorhaben, alle Geschichten um Artus zu bündeln und zu einem linearen Erzählstrang zu formen, unweigerlich zur Zeitigung des um die Wende vom 12. auf das 13. Jahrhundert noch unsterblich gedachten Garanten der fiktionalen Welt führen muss. Löst man die Kreise der Mythen zugunsten der Linie auf, ist der Tod unvermeidlich. 267 Vgl. STÖRMER-CAYSA, 2004. 268 Vgl. EBENBAUER, 1977. 269 Die textübergreifende Erzählweise der arthurischen Versromane entspricht nach der Unterscheidung Mikos’ (siehe Anm. 251) der ‚series‘ (Reihe), während die im Folgenden betrachtete serielle Darbietungsweise eines einzelnen Romans in einer Vortragsreihe den Charakter der ‚serials‘ aufweist.

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sche Muster mit einem linearen Fortschreiben der fiktionalen Welt verbindet. Bezüglich der das Serielle konstituierenden Wechselwirkung von Schema und Variation bzw. den damit einhergehenden Rezeptionsarten des ‚naiven Reizes des Rituellen‘ und der ‚reflektierenden Lust an der Variation‘ lassen sich für den Artusroman strukturelle und genreabhängige Strategien unterscheiden. Strukturell ist an den Umgang mit parallel konstruierten Episoden wie denen im doppelten Kursus270 zu denken, da dort mehrmals zwei paradigmatisch aufeinander bezogene Episoden nach dem gleichen Muster erzählt werden, beim zweiten Erzählen jedoch eine signifikante Variation stattfindet. Wenn diese Variation nichts anderes als eine bloße Steigerung ist, führt dies – vor allem aus moderner Sicht – zum Definiens der ‚reduzierten Spannbreite der Dramatik‘. Des Weiteren findet sich eine Art des genre- bzw. epochenabhängigen Umgangs mit der signifikanten Variation des Schemas in den Hybridisierungserscheinungen der so genannten ‚nachklassischen‘ Texte, welche die gewohnte fiktionale Welt des Artushofs heraufbeschwören (Schema/Ritual), sie jedoch mit Elementen anderer Gattungen verbinden (Variation).271 Auf der Basis dieses basalen Strukturprinzips des Seriellen, das auch dem Artusroman zugrunde liegt, kommt es zur Ausbildung serientypischer narrativer Muster. Eines davon ist der Cliffhanger, der plötzliche Abbruch der Erzählung bzw. das Einfrieren der fiktiven Handlung in einem Bild latenter Aktion.272 Dieser Vorgang erzeugt im Rezipien-

270 Vgl. KUHN, 1973. 271 Als Beispiel sei der eher den Brautwerbungsepen als dem Artusroman zugehörige Titelheld aus Strickers Daniel von dem Blühenden Tal genannt. Zum Status solcher ‚hybriden Helden‘ vgl. u. a. FUCHS, 1997. 272 Jurga definiert den Cliffhanger wie folgt: „Es handelt sich um den abrupten Handlungsabbruch an einer besonders spannenden Stelle, der der Markierung des Endes einzelner Erzählsegmente und -einheiten dient und den (temporären) Endpunkt eines auf die Klimax hin konstruierten Handlungsverlaufs bildet. Dieses Mittel [...] hat spezifische Funktionen innerhalb serieller Texte und dient der Aufrechterhaltung der Zuschauer-TextBeziehung, die – das wäre der Idealfall – sich zu einer Gesamtrezeption der Serie verfestigt (bzw. habitualisiert)“; JURGA, 1998, S. 472. Es bestehen Ähnlichkeiten, jedoch auch elementare Abweichungen zur Definition der ‚Katapher‘ (verstanden als direkt nach der Ankündigung aufgelöste Prolepse) und des ‚offenen Endes‘, die Vincent Fröhlich in seiner Mono-

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ten Spannung auf das Wiederanheben der Erzählstimme und die damit einhergehende Freisetzung des Latenzzustands in erneute Handlung. Martin Jurga beschreibt die Wirkung des Cliffhangers auf den Rezipienten als Aufruf zur Ko-Kreativität: „Die Leser [...] werden zu ‚Mitautoren‘, indem sie den ausstehenden Handlungsverlauf antizipieren und die durch die Segmentierung auftretenden Informationslücken eigenhändig auffüllen. Die Cliffhanger haben in diesem Prozeß eine wichtige Funktion: Sie sollen die Beteiligung am bzw. die Einbindung der Zuschauer oder Leser in das erzählte Ge273 schehen aufrechterhalten oder verstärken.“

Jurgas Beschreibung des Cliffhangereffekts ist sehr einseitig, da sie unter Berufung auf die Iser’sche Rezeptionsästhetik274 zu einer Überbetonung der Ko-Autorenschaft des Rezipienten neigt. So wird die Ratio des Rezipienten unter Ausschluss seiner emotionalen Teilhabe am fiktionalen Geschehen als Primat gesetzt. Ebenso wie Brecht überbewertet Jurga die Differenzerfahrung der Verfremdung als eine kritische, rational erfahrene. Natürlich werden die Rezipienten eines Cliffhangers die abgebrochene Erzählung mittels Intellekt und Fantasie fortführen – doch die ‚Erzählhoheit‘ liegt weiter in den Händen der Fortsetzer. Warum sonst würde man zur nächsten Episode wieder ‚einschalten‘? Diese unhinterfragte Autorität lässt Jurgas Stilisierung des Cliffhangers zu einem – im Gegensatz zur Verfremdung – integrativen Effekt fraglich erscheinen. In den Augen der Zuhörer eines höfischen Romanvortrags liegt diese Autorität in den Händen des unmittelbar präsenten Rezitators. Anhand von Texten, die im Tradierungsverlauf nicht so stark wie die Artusromane skriptural geglättet wurden, denen also ihre mediale Provenienz aus den Systemen der Oralität oder Performativität eindeutig abzulesen ist,275 kann das Ausspielen dieser Autorität unschwer graphie zu Tausendundeiner Nacht gegen die Spezifika des Cliffhangers abgrenzt; vgl. FRÖHLICH 2011, S. 22-28. 273 JURGA, 1998, S. 474. 274 Vgl. ISER, 1984, zum hier anklingenden ‚Leerstellenkonzept‘ v. a. S. 297f. 275 Die so genannten Spielmannsepen, zu denen der im Folgenden zitierte Münchner Oswald und der Orendel gezählt werden, sind mit Handschriften aus dem 15. Jahrhundert belegt. Aufgrund der Reimtechnik und des

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nachgewiesen werden. In der Brautwerbungsdichtung276 Orendel strauchelt der Titelheld, auch der Graue Rock genannt, im Zweikampf und fällt vor seinem Gegner, dem Heidenkönig Durian, nieder. Die verzweifelte Lage des Grauen Rocks wird mit allen Mitteln der Dramatik ausgeschmückt und die Steigerung der Spannung kulminiert in folgender Publikumsansprache: Wa ist nu der biderbe? er lit vor dem kunige dar nidere und muoz verliesen sin leben, man enwelle dem leser ze trinken geben. (ORENDEL, V. 2826-29)

Sprachmaterials nimmt man jedoch eine frühe Entstehungszeit an, im Falle des Orendel das Ende des 12. Jahrhunderts; vgl. EBENBAUER, 1974, S. 2528. Grund für diese Rückdatierung ist u. a., dass es sich beim Text um den Niederschlag einer Sprachform handele, die wegen ihrer Formelhaftigkeit stark den medialen Regeln der Oralität verpflichtet scheine, also zu den vor-skripturalen Erzählungen gehören könnte. Der Münchner Oswald erfuhr aus ähnlichen Gründen eine Rückdatierung in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts; vgl. CURSCHMANN, 1974, S. VIII. Eine vergleichbare Handschriftenlage ist beim im Folgenden ebenfalls behandelten Aventürehaften Dietrichsepos Laurin festzustellen, ebenso seine Rückdatierung in die Zeit der Oralität; vgl. HEIMANN, 1990, S. 157. Die einzige Ausnahme bei den zitierten Texten bildet der Widuwilt, die westjiddische Bearbeitung von Wirnts Artusroman Wigalois, dessen Datierung in das 14. Jahrhundert fällt (vgl. ERIK, 1928, S. 111), aber trotzdem stilistisch starke Züge von Oralität aufweist. Wie fraglich solche Datierungen auf Basis medialer Eigenheiten sind, muss wohl nicht extra betont werden, wenn man die These von der ‚Vermeintlichkeit‘ des Medienkonflikts akzeptiert (siehe 1. Kapitel). Ausgehend davon, dass mediale Systeme sich nicht exkludieren, sondern nebeneinander existieren, könnte man die Texte bspw. auch ohne Zuweisung einer bestimmten Epoche als ‚besonders performativ‘ bezeichnen. Aus diesem Grund und in Anbetracht der ohnehin unhaltbaren Gattungsbezeichnung ‚Spielmannsepik‘ scheint es mir gerechtfertigt, die Texte systematisch, d. h. epochenunabhängig hinsichtlich ihrer medialen Charakteristika als zusammengehörig zu betrachten. Zur Unhaltbarkeit der Gattungsbezeichnung besonders prägnant: SCHULZ, 2002, S. 246-249. Ich umgehe im Folgenden gezielt die veraltete Gattungsbezeichnung. 276 Vgl. SCHMID-CADALBERT, 1985; zu den im Folgenden verwendeten Bezeichnungen der schematischen Szenen und Handlungsrollen vgl. ebd. S. 80-95.

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Höfische Literatur und Fernsehserie Wo ist er nun, der große Held? Er liegt vor dem König darnieder gefällt und hat sein Leben verwirkt, wenn man dem Vorleser kein Getränk serviert.

Der Zuhörer dieser Verse wird an der dramatischsten Stelle aus seiner illusionistischen Teilhabe hinaus in die trinkselige Vortragssituation gerissen. Der Zeitpunkt des Abbruchs ist bei diesem Beispiel kein zwingender, da kein Zusammenhang mit der Bedeutung des fiktionalen Geschehens festzustellen ist: Er findet an der dramatischsten, nicht an einer interpretatorisch interessanten Stelle statt. Der Cliffhanger ist in diesem Fall bloßer ‚Showeffekt‘, sein Ziel die performative Unterhaltung und nicht der intellektuelle Reiz. Dieser ‚Showeffekt‘ wird in den Brautwerbungsdichtungen mehrmals ausgekostet. In der Leithandschrift des Münchner Oswald heißt es, als der ungewöhnliche Bote des ‚Brautwerbers‘, der sprechende Rabe, sich weigert, zu seinem Auftraggeber Oswald zu kommen: nu rat all an dem ringe wie wir den raben ab dem turen pringen. (OSWALD, Hss. M, V. 381f.)

Nun gebt all’ Rat in diesem Ring wie wir den Raben vom Turme bring’.

Der Rezitator wendet sich seinen Zuhörern zu, um diese als Ratgeber mit in die fiktive Situation einzubeziehen. Da auch der König Oswald in dieser Szene (nach dem Schmid-Cadalbert’schen Schema die ‚Ratsszene‘) von seinen Vertrauten umringt ist, handelt es sich um eine Verschaltung, ähnlich der, wie sie im Artusroman über Festmähler bewirkt wird.277 Der Abbruch der Fiktionsvermittlung führt dazu, dass das Publikum – genauso wie Oswald auf den widerspenstigen Raben – auf den widerspenstigen Rezitator warten muss. Dass es sich um eine Cliffhanger-Technik handelt, die auf Basis einer Wechselwirkung von Verschaltung und Verfremdung funktioniert, wird noch deutlicher,

277 Siehe Kapitel 4.1.2.

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wenn man die Variante dieses performativen Eingriffs in der Handschrift I mit in Betracht zieht: nu ratet alle an dem ringe wie ich den rabn ab der zinne pringn er mocht h’ab nicht chomen wol man pring den dem leser ein chopff weins vol. (OSWALD, Hss. I, V. 79-82)

Nun gebt all’ Rat in diesem Ring, wie ich den Raben von der Zinne bring’. Er kommt hinab nicht von allein, bringt man dem Vorleser kein Glas Wein.

Die enge Bindung, welche die Verschaltung von Oswalds Rat und dem zum Ratschlag aufgeforderten Publikum erzeugt, wird in dieser Variante dazu genutzt, den Konnex abrupt zu trennen. „Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock durch den es plötzlich sich als Monade kristallisiert.“278

Über die Wirkung des „Chocks“ (nach Benjamin) erzielt der Vortrag eine ‚traumatische‘279 Wirkung: Der Zuhörer wird durch den plötzlichen Abbruch der performativen Kommunikation von der Fiktion in die Aufführungssituation und so auf sich selbst, die Monade mit Kommunikationsentzug, zurückgeworfen. Beim ersten, gemäßigten Cliffhanger der Handschrift M wurden über die Verwendung des Plurals („wie wir den raben ab dem turen pringen“) die Zuhörer als diejenigen angesprochen, deren Ratschlag den Raben vom Turm bringe – eine Konstellation, die Jurgas ‚Mitautorenschaft‘ als Ziel der Verfremdung unterstützen würde. In Handschrift I jedoch profiliert sich der Rezitator als narrative Autorität („wie ich den rabn ab der zinne pringn“), da er nach seinem Gutdünken entscheiden 278 BENJAMIN, 1974 (Über den Begriff der Geschichte), S. 703f. 279 Zum ästhetischen ‚Trauma‘ als mnemotechnische Wirkung des Cliffhangers vgl. DÄUMER, 2010 (Held an der Klippe).

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Höfische Literatur und Fernsehserie

kann, ob die Erzählung nun weitergeht oder nicht. Von ‚Mitautorenschaft‘ kann keine Rede sein: Entweder das Publikum leistet die geforderte Bestechung oder der Rezitator verweigert den Fortgang der Narration. Würde der Zuhörer als Ko-Autor angesehen, der sich den getrennten Faden der Geschichte nun weiterspinnen könne, verlöre die Forderung ihre Vehemenz. Bei Cliffhangern funktioniert die Wechselwirkung von Verschaltung und Verfremdung in beide Richtungen: Genauso wie verschaltet werden kann, um den verfremdenden Effekt zu verstärken, kann auch der verfremdende Effekt eingesetzt werden, um zu verschalten. Da es sich beim Cliffhanger um einen Kunstgriff handelt, der den Rezipienten in die Situation eines Wartenden versetzt, ist es nicht erstaunlich, dass die beiden anderen Varianten der ‚Weinforderung‘ sich (jenseits der ‚Ungattung‘ Spielmannsepik) an Stellen finden lassen, an denen auch die Figuren einstweilig warten müssen – in Momenten der Gefangenschaft. So heißt es, als Widuwilt, der westjiddische Wiedergänger des Wirnt’schen Wigalois, von der sogenannten ‚Riesenmutter‘, in einer Baumspalte eingeklemmt wird:280 Noch mus Widwilt aso lang gifangn sein, bis ir mir gibt zu trinkn gutn wein, do wil ich im helfn wol schenkt ir mir ein glas vol. (WIDUWILT, C, V. 3537-39)

Widuwilt muss noch so lange gefangen sein, bis ihr mir einschenkt guten Wein. Wenn ich ihm besonders gut helfen soll, schenkt mir das Glas bis zum Rande voll.

280 Eine genaue Datierung der ursprünglichen westjiddischen Fabel ist aufgrund der Tradierungslage nicht möglich. Trotz der erst späten Überlieferung wird seit der Edition durch Leo Landau (vgl. LANDAU, 1912) und der literaturgeschichtlichen Einordnung durch Max Erik eine Entstehung des Texts im 14. Jahrhundert angenommen; vgl. ERIK, 1928, S. 111. Eine Anspielung auf die judenfreundliche Politik der toskanischen Großherzöge verweist auf das 16. Jahrhundert, kann aber als Einfügung verstanden werden; vgl. CORMEAU, 1978, S. 30. Für eine allgemeine Darstellung der Forschungs- und Datierungslage vgl. JÄGER, 2000, S. 63-72.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Der Widuwilt-Cliffhanger ermöglicht dadurch, dass der Held analog zum Erzählfluss in einer Schlüsselszene ‚eingefroren‘ wird, eine besondere Akzentuierung des Bildes. Durch den Cliffhanger ändert sich nicht nur die Dramaturgie, sondern auch die Rezeptionsweise, da der Szene ein größeres Gewicht zugesprochen wird, als wenn die Handlung weiterlaufen würde. So wird der Rezipient durch das Pathos des Stillstands dazu angeregt, in geistiger Betrachtung des separiert ausgestellten Bildes über die Handlung hinausweisende Verbindungen herzustellen. In dieser Form wird das Bild nach Jacques Lacan dem Zuhörer zum ‚Fetisch‘: „Was den Fetisch konstituiert [...], ist speziell der geschichtlichen Dimension entlehnt. Eben im Moment der Geschichte wird das Bild angehalten [...]. Stellen Sie sich vor, wie eine kinematographische Bewegung, in raschem Ablauf begriffen, plötzlich an einer Stelle angehalten wird und dabei alle Figuren erstarren. Dieses Augenblickliche ist bezeichnend für die Reduktion der vollen, signifikanten, von Subjekt zu Subjekt artikulierten Szene auf das, was stillgestellt wird in der Fantasie“.281

Bezüglich des eingeklemmten Widuwilts regt das ‚chockierende‘ Stillstellen der Handlung respektive die Fetischisierung des Bilds u. a. Assoziationen mit einer Stelle im paulinischen Römerbrief an, in der das Judentum als edler Ölbaum symbolisiert wird, in den von Gottes Hand die Zweige eines wilden Ölbaums (die griechischen Christen) gepfropft wurden282 – eine Verbindung, die dem interreligiösen Subtext des Romans zuzurechnen wäre.283 Funktional ist dieser Cliffhanger also nicht nur Effekt, sondern ein elementarer Bestandteil der Bedeutungserzeugung,284 da der Stillstand das ‚Gewicht‘ und das Assoziationspotenzial des Bildes steigert. 281 LACAN, 2003, S. 184 (Über den Fetisch als ‚Denkmal‘, Trophäe und ‚Zeichen des Triumphs‘) und S. 139. 282 Vgl. Rom (Epistula ad Romanos) 11,17-24 und zum Motiv des ‚Aufpfropfens‘ WIRTH, 2008, S. 28. 283 Vgl. DÄUMER, 2009 (Lachen), bzw. D ÄUMER, 2010 (Laughing). 284 Des Weiteren lassen sich im Vergleich der Widuwilt-Handschriften und -Drucke an diesem Cliffhanger bestens die Mechanismen der skripturalen Glättung aufzeigen, die schon bezüglich der Artusepen zur Sprache kamen.

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Höfische Literatur und Fernsehserie

Das letzte hier angeführte Beispiel für ‚Weinforderungen‘ findet sich im Aventürehaften Dietrichsepos Laurin in der Passage, in der die Helden um Dietrich vom Zwergenkönig erst mit einem Trank betäubt und dann gefangen genommen werden: Nû lâgen si gevangen: wi kâmen si von dannen? daz enmac niemer ergân, der leser muoz ein trinken hân. (LAURIN, V. 1215-18)

Nun lagen sie gefangen. Wie kamen sie von dannen? Niemals kann das passieren, will man dem Vorleser kein Getränk servieren.

Die Helden sind in der Widuwilt- wie der Laurin-Passage zur Inaktivität gezwungen; den Zuhörern wird dieser Zwang über den Einsatz eines Cliffhangers mit auferlegt. Beim zweiten Beispiel wird die Verschaltung dabei noch um das Element des Getränks erweitert: In der Situation, in der Dietrichs Helden sich den Schlaf ‚ertrinken‘, fordert der Rezitator seinen ‚Schlaftrunk‘. Angesichts dieser Analogie (und aufgrund der Positionierung des Cliffhangers nach einem dafür geeigneten Textumfang) ist anzunehmen, dass es sich bei diesem Erzählabbruch nicht nur um eine kurze Unterbrechung, sondern das Ende einer Vortragseinheit handelt. Es wird also weder der bloße Effekt, noch die interpretatorische Ebene angesteuert: Der Laurin-Cliffhanger korreliert mit den Ritualen des Vortrags.

Diese Variante der Cambridger Handschrift, die Cristoph Cormeau als „echt spielmännische Wendung“ bezeichnet (vgl. CORMEAU, 1978, S. 34), wurde im Druck von Josel Witzhausen durch einen anderen medialen Index ersetzt: „nun weln mir den riter on kinig Artiss hof losen bleiben / un weln fun dem edlen riter Widuwilt weiter schreiben“ (WIDUWILT, W, V. 141,11f.; meine Hervorhebung; ‚Nun lassen wir den Ritter am Artushof verbleiben / und wollen weiter vom tapferen Widuwilt schreiben‘). Die auffälligste Spur der performativen Techniken wird substituiert durch eine eindeutige Zuordnung der Fabel in die mediale Sphäre der Skripturalität; vgl. dazu auch JÄGER, 2000, S. 202.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Angesichts dieser Funktionalisierungen, die nicht auf die Fortsetzung der Erzählung, sondern auf den Eigenwert des Standbilds, den Fetisch, ausgelegt sind, scheint es ratsam, die Verfremdung durch den Cliffhanger nicht im Sinne der rational genutzten Iser’schen Leerstelle zu verstehen. Der Fetisch-Charakter entsteht erst durch die ästhetische Traumatisierung, die künstliche Herstellung des Benjamin’schen ‚Chocks‘ durch den plötzlichen Wechsel aus der Fiktion in die Realität ihrer Vermittlung. Oder anders formuliert: Der Cliffhanger katapultiert die illusionierende, kinästhetische Rezeption abrupt auf den Stillstand und aus diesem in die reale Aufführung und bewirkt so ein konzeptkörperliches Trauma, eine Verfremdungserfahrung, die als Fetisch (Lacan) dem Gedächtnis der Rezipienten eingeschrieben, d. h. ‚inkarniert‘ wird.285 So bleiben dem Zuhörer die Standbilder vom eingeklemmten Widuwilt oder dem gefangenen Dietrich ‚lebendig‘ (tableaux vivants) in Erinnerung und können bis zum Wiederanheben der Stimme gesondert betrachtet werden. Wie es weitergeht, wird der Zuhörer aufgrund seiner Überlegungen am Bild nur umso mehr wissen wollen und wird deshalb beim nächsten Vortrag seiner Scheherazade ‚Rezitator‘ gute ‚Einschaltquoten‘ bescheren.

285 Mittels einer kulturgeschichtlichen Skizze und eines Abgleichs der narrativen Phänomene mit der psychologischen Theorie des ‚Zeigarnik-Effekts‘ (vgl. ZEIGARNIK, 1927), der die mnemotechnische Wirkweise von abgebrochenen Erzählungen beschreibt, konnte ich an anderer Stelle zeigen, dass ein traumatischer Ebenenwechsel wie dieser zwar sekundär auf die Imagination, primär aber für eine Einschreibung ins Körpergedächtnis des Rezipienten konstruiert wurde, also nicht die imaginatio, sondern die memoria als primäres Ziel des Cliffhangers zu betrachten ist; vgl. DÄUMER, 2010 (Held an der Klippe). Für eine weitere Übertragung des ‚ZeigarnikEffekts‘ auf den literarischen Cliffhanger vgl. FRÖHLICH, 2011, S. 25.

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Der Cliffhanger im Artusroman

4.3.2 Der Cliffhanger im höfischen Roman Definitorisch wird das serielle Erzählen (jenseits seiner ästhetischen Formbarkeit) durch äußere Einwirkungen ausgelöst.286 Für die Analyse der bedingten Serialität beim höfischen Roman bedeutet dies, eine Wechselwirkung von textinternen und textexternen Phänomenen zu beschreiben. Die textexternen Phänomene, die als prägend für das Erzählen im 12. und 13. Jahrhundert beschrieben wurden, sind die medialen Bedingungen, in denen der Artusroman existierte. Die Eigenheiten der performativen Medialität erforderten vom Rezitator eine Aus- oder Umarbeitung der Partitur, zu der es auch gehörte, inszenatorisch eine der Aufmerksamkeitsspanne des Publikums angemessene Länge287 und ein publikumswirksames Ende bzw. den richtigen Anfang der nächsten Teillesung zu planen. Bei der Rekonstruktion der Vortragsgliederungen von Chrétiens und Hartmanns Werken richtet Linke sein Augenmerk auf ‚Erzähleinsätze‘.288 Jedoch sind diese Erzähleinsätze nur selten deutlich zu erkennen und auch Linke muss an vielen Stellen spekulieren, um auf die angestrebte gleichmäßige Länge der Vorträge zu kommen. Das Vorhaben, einen gesamten Roman nach diesen Umbrüchen zu untersuchen, scheint (einerseits aufgrund skripturaler Glättungen, andererseits deshalb, weil von Vornherein nicht jeder Vortragsumbruch eine textuelle Spur hinterlassen haben muss) eher vergeblich. An vereinzelten Stellen zeichnen sich Erzähleinsätze jedoch noch klar vom Textfluss ab. Deswegen sollen exemplarisch einige (mögliche) Vortragsumbrüche vorgestellt werden, an denen das Phänomen des Cliffhangers zu entdecken und anhand derer eine Abgrenzung und Kategorisierung möglich ist. Für die Abgrenzung gegen andere Phänomene an Vortragsumbrüchen empfiehlt es sich, mit einem Beispiel zu beginnen, das nur auf den ersten Blick wie ein Cliffhanger wirkt. Als sich im Eneas Heinrichs von Veldeke Euryalus und Nisus von Ascanius, Eneas Sohn, verabschieden, um dem feindlichen Lager einen nächtlichen Besuch abzustatten, heißt es:

286 Vgl. GIESENFELD, 1994, S. 1f.; siehe voriges Kapitel. 287 Vgl. LINKE, 1968. 288 Ebd., S. 26; siehe Kapitel 3.2.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf urloub si zim nâmen

Sie verabschiedeten sich von ihm

und ze den hûsgenôzen

und von dem Ingesinde,

luzeln unde grôzen

den bedeutenden und unbedeutenden,

und giengen von der borch nider.

und stiegen von der Burg herab.

sine quâmen nimmer mêre wider.

Sie kamen niemals wieder.

Vortragsumbruch Welt ir hôren vore baz

Wenn ihr weiter zuhören wollt,

sô mogen wir û sagen daz

so können wir euch erzählen,

wie sie ez ane viengen,

was sie taten,

dô si von der borch giengen.

als sie von der Burg herabgestiegen waren.

(ENEAS, V. 6634-42)

Vor allem die Dramaturgie der Verse deutet auf eine performative Zäsur hin. Die Figuren verabschieden sich, so wie auch der Rezitator mit verschaltendem Gestus. Die Vortragseinheit schließt mit einer düsteren Prolepse. Die neue Einheit eröffnet mit einer Publikumsapostrophe und wiederholt den Vorgang des Hinabsteigens von der Burg. Die Zäsur (sei es ein Vortragsumbruch oder aber auch nur eine kurze Sprechpause) ist aufgrund des antizipierenden Dramaturgiebruchs offensichtlich. Die Passage ist aber dennoch nicht als Cliffhanger zu verstehen, da die Prolepse nicht im Sinne einer abrupten Überführung von Handlung in ihren Latenzzustand, sondern als eine narrative Prämonition verstanden werden muss. Sie erzeugt zwar Spannung, ist aber – um die Folie der Fernsehserie beizubehalten – dem Teaser verwandt, der bei den serials in Form von antizipierenden Inhaltsfragmenten aus der darauffolgenden Episode Lust auf mehr erzeugt: ‚Sehen Sie nächste Woche: die Tode des Euryalius und Niscus‘. Der Teaser ist im Gegensatz zum Cliffhanger weder verfremdend, noch Teil der performativen Bedeutungserzeugung. Ein Vortragsumbruch, der uns im Kontrast zum Teaser dem arthurischen Cliffhanger näher bringt, ist in der Krone des Heinrich von dem Türlin zu finden. Dem Roman wurde durch Dreierreime eine abgeschlossene Mikrostruktur in rhythmische und somit auch für den Vortrag verbindliche Einheiten verliehen,289 was die Suche nach Vortrags289 Zur Bedeutung dieser Segmentierung durch Dreierreime vgl. ACHNITZ, 2000.

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Der Cliffhanger im Artusroman

umbrüchen erleichtert. Im Gegensatz dazu kann bei nicht weiter segmentierten paargereimten Romanen lediglich ein Vortragsumbruch innerhalb eines Reimpaars ausgeschlossen werden. Eine Passage der Krone, in der König Artus im Winter auf einen fremden, nur in einem Hemd herumreitenden Ritter namens Gasoein wartet, endet mit den folgenden Versen: Wie Artvse da ergienc

Wie es Artus da erging

Vnd wie er den riter enphienc,

und wie er den Ritter empfing,

Daz enwirt niht verswigen.

das wird nicht verschwiegen,

Da in vand der riter ligen,

Der Ritter fand ihn dort liegen,

Da er seinr huote phlak,

dort, wo der [Artus] auf der Lauer lag,

Den ouch der arebeit bewak,

dem die Mühe sehr zusetzte,

Daz er da also lange lak.

dass er dort so lange gelegen hatte.

(KRONE, V. 4314-20)

Die nächste rhythmische Einheit beginnt wie folgt: Artvs an der huote

Artus lag wohlgemut

Lach mit hohem muote,

auf der Lauer,

Wan daz in ser verdroz

außer, dass ihn der Frost,

Vmb den vrost, der was groz,

der eisig war, verdross,

Vnd daz er so lang was.

und dass er so lange [dort] war.

(KRONE, V. 4321-25)

Gasoein hat zuvor drei seiner Ritter besiegt und nähert sich nun Artus selbst. Vor der Klimax endet der erste Vortrag, indem der Erzählfluss im Bild des bibbernd am Boden liegenden Königs einfriert. Die neue Passage beginnt mit einleitenden Worten zu Artus’ misslicher Lage, welche die Zuhörer erneut in die Situation einführen. Die Spannung kann sich neu aufbauen – dann erst kommt es zur Begegnung von Krone- und Hemdträger. Die Erwartungen, die Linke an einen Erzähleinsatz stellt, sind erfüllt.290

290 Vgl. LINKE, 1968, S. 26; siehe Kapitel 3.2. Kragl sieht dies wohl auch so, denn er setzt an just dieser Stelle einen Kapitelumbruch – die skripturale Ersatzbefriedigung für den performativen Cliffhanger; vgl. KRAGL, 2012, S. 67.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Die einleitenden Verse der zweiten rhythmischen Einheit knüpfen vom Wortmaterial her an die vorhergehenden Verse an („Da er seinr huote phlak“ und „Artvs an der huote / Lach“; „Daz er da also lange lak“ und „daz er so lang was“). An den aufeinander verweisenden Worten erkennt man, dass der Anfang der zweiten in Hinblick auf das Ende der ersten rhythmischen Einheit skriptural konstruiert wurde. Ihren Effekt erhält die Passage jedoch erst im Vortrag. Der performative Effekt steht dabei – ähnlich wie beim Widuwilt-Beispiel des letzten Unterkapitels – in engem Zusammenhang mit der Bedeutung der Passage: In der ersten Vortragseinheit wurde Artus von seiner Gattin Gynever beschuldigt, im Vergleich zu Gasoein verweichlicht zu sein; diesen Vorwurf macht sie dem Herrscher, als er sich ob der winterlichen Kälte am Kaminfeuer wärmt.291 Die Kälte ist in vielerlei Hinsicht symbolisch, bspw. als Zeichen mangelnder herrschaftlicher Autorität, aristokratischer Dekadenz, geschwächter Kampfeskraft, sexueller Impotenz oder (auf poetologischer Ebene) als Kritik am statischen Bild des Herrschers im so genannten klassischen Artusroman. Das ‚Latenzbild‘, das dem Zuhörer über die Memorialfunktion des Cliffhangers für die Zeit zwischen den beiden Vorträgen ‚inskribiert‘ wird, untergräbt in polyvalenter Art und Weise Artus’ Idealität, die es im nächsten Vortrag mittels Konkretisierung der ‚Kälte‘ zu verwerfen oder rehabilitieren gilt. Die Verfremdung der Artusfigur, die über Gynevers Kritik erst figural aufgebaut worden war, wird durch die Fetischisierung des Bilds auf eine Metaebene gehoben. Auf dieser entsteht die Möglichkeit für kritische Reflexion. Der moralische Impetus des Epischen Theaters wird bei diesem Beispiel also bestens eingelöst. Die rückwirkende Festschreibung der Kälte-Polyvalenz findet anhand eines weiteren, jedoch konzeptuell anders gearbeiteten Cliffhangers statt. Die folgende Vortragseinheit erzählt von der Provokation durch Gasoein, der schließlich Artus’ Gattin Gynever entführt. Nachdem der Entführer die Königin auf sein Pferd gehoben hat, erfolgt die Beschreibung von Gynevers Angst vor dem Ritter und ein kurzer Kommentar zu nature und girde,292 beides Begriffe, die in diesem Zusammenhang den männlichen Geschlechtstrieb bezeichnen. An dieser Stelle deutet bereits alles auf eine Vergewaltigungsszene hin. Doch 291 Vgl. KRONE, V. 3356-427. 292 Vgl. KRONE, V. 11411-61.

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Der Cliffhanger im Artusroman

entgegen der Erwartungshaltung eines eklatlüsternen Rezipienten richtet sich der Erzählfokus nun (1.) auf Boten, die dem Artushof die traurige Nachricht von Gynevers Entführung überbringen, dann werden (2.) viele Verse der Beschreibung des trauernden Artushofs gewidmet und (3.) verstrickt sich der Erzähler in einen umfangreichen intertextuellen Exkurs zu ähnlichen Trauersituationen.293 Erst nach diesen Digressionen kehrt der Text zum eigentlichen Spannungsmoment der Erzählung, dem Bild des die Artusgattin lüstern begleitenden Ritters, zurück. Hier handelt es sich um einen Cliffhangereffekt ganz anderer Art. Die Spannungserzeugung der performativen Technik wurde zu einer narrativen Technik umgeformt. Weder braucht es des Vortragsendes noch des Textabbruchs; der Cliffhanger emanzipiert sich von der durch äußere Einflüsse bestimmten Serialität. Er dient nun dazu, das Spannungsmoment der Erzählung in der Schwebe und die Sinne der Zuhörer in Anspannung zu halten, während die Auflösung des in latenter Aktion eingefrorenen Bildes von Gasoein und Gynever immer weiter hinausgeschoben wird. Die Digression bzw. der Perspektivenwechsel entspricht funktional einem Verstummen des Vortragenden. Der Rezipient muss sich bis zur Fortsetzung der eigentlichen Erzählung gedulden; nur wird dieses Mal der Punkt des Neueinstiegs in die Handlung nicht vom Rezitator, sondern von der Partitur bestimmt. Aufgrund dieser (Re-)Textualisierung und Neuverortung des Cliffhangers in einer (auch) skripturalen Ästhetik erzeugt die Passage ebenfalls für den modernen Leser Spannung, während ein rein performativer Cliffhanger beim medialen Wechsel zur skripturalen Rezeption leicht verlorengeht. 294 Der ‚retardierende‘ schreibt dabei die offene Bedeutung des vorigen ‚abrupten‘ Cliffhangers fest. Dort bot die Kälte im Bild des fröstelnden Artus eine undifferenzierte Bandbreite von symbolischen Deutungen 293 Vgl. KRONE, V. 11519-606. 294 Der durch narrative Digression bewirkte ‚retardierende‘ Cliffhanger wird nicht in den höfischen Romanen erfunden: Schon Homers Odyssee beginnt mit der Situation, dass der Protagonist, von den Göttern beobachtet und schon im zehnten Jahr seiner Irrfahrt, sich in der Gefangenschaft der Calypso befindet. Im zweiten Gesang verlässt die Narration aber den Helden und der Zuhörer zieht, an der Hand der Pallas Athene, mit nach Ithaka, wo man von der Intrige der Freier gegen Odysseus’ Sohn Telemachos hört. Erst im fünften Gesang kehrt die Odyssee zurück zu ihrem Protagonisten, den sie wie ‚einen Pfeil in einem Bruchteil von Zeit‘ (Foucault) aufgehalten hat.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

an. Durch das ‚Latenzbild‘ des lüsternen Gasoeins engt sich die Vielzahl der Interpretationen ein. Die Vermutung, dass die Kälte auf Artus’ Sexualität verweisen könnte, wird durch den korrelierenden ‚Fetisch‘ des sexuell aggressiven Gasoein konkretisiert.295 Mit dieser Verengung des Sinns geht ein anderer Effekt einher: Die Verfremdung, die eine kritische Haltung des Zuhörers förderte, wird zurückgenommen. Der entfremdete Artus wird durch die Kontrastierung zum sexuell aggressiven Gasoein in seiner zurückhaltenden, ‚kalten‘ Sexualität aufgewertet und steht dem Zuhörer wieder ‚distanzlos‘ nahe. Die Retardation revidiert somit die abrupt erzeugte Verfremdung. Die Rücknahme der Verfremdung durch retardierende Cliffhanger ist jedoch nicht die Norm. Im Erec bspw. findet sich ein Vortragsumbruch, der die Wirkweise einer Digression selbstreflexiv und verfremdend in die performative Kommunikation integriert: die rehten strâze si vermiten: die baz gebûwen si riten. und dô si nâch der wîle geriten wol vünf mîle, ein burc si sâhen vor in stân, michel unde wol getân. und als si Guivreiz ersach, daz wart im vil ungemach und begunde in vaste beswæren daz si dar komen wæren. „nu sage, von wiu?“ daz weiz ich wol und sagez sô ichz sagen sol. des enist noch niht zît. wie gebitelôs ir sît! wer solde sîn mære vür sagen?

Sie nahmen nicht den rechten Weg, sondern ritten den besser ausgebauten. Und nach einer Weile, als sie rund fünf Meilen geritten waren, sahen sie eine Burg vor sich stehen, groß und stattlich gebaut. Und als Guivreiz sie sah, bekümmerte es ihn sehr und es bereitete ihm große Sorgen, dass sie hierher gekommen waren. „Nun sag schon: Weshalb?“ Ich weiß das schon und sage es auch, wenn es soweit ist. Dafür ist jedoch noch nicht die Zeit. Wie ungeduldig ihr doch seid! Wer würde da seine Geschichte weitererzählen?

ich enwil iuch niht verdagen wie diu burc geschaffen wære: daz vernemet an dem mære.

Ich will euch [aber] nicht verschweigen, wie die Burg beschaffen war: Das sollt ihr nun erzählt hören.

(EREC, V. 7816-33)

295 Zu einer ähnlichen Deutung der Kälte kommt Danielle Buschinger in einem Aufsatz zu Erotik und Sexualität in der Artusepik; vgl. BUSCHINGER, 2010, S. 146-151.

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Der Cliffhanger im Artusroman

Die einleitenden Verse der Passage wurden schon mehrmals im Sinne des homo viator in bivio-Topos verstanden:296 Erec, Enite und Guivreiz reiten nicht in den (auch moralisch) ‚rechten‘ Weg, sondern betreten den besser ausgebauten, der nach der biblischen Wegmetaphorik297 zu nichts Gutem führen kann. Die Behauptung, dass Erec den falschen Weg eingeschlagen habe, bleibt im (Aufführungs-)Raum stehen. Erst im Laufe der folgenden Joie de la curt-Episode wird der Verdacht aufgelöst, wenn sich der Weg nach Brandigan zumindest für Erec doch als der richtige erweist.298 Die Wegemetaphorik ist als düstere Prolepse ein Akt der Spannungserzeugung, ähnlich wie in dem zu Anfang angeführten Beispiel aus dem Eneas. Im Unterscheid zu diesem kann man beim Erec jedoch nicht von einem Vortragsumbruch ausgehen, denn die einzige dramaturgisch für eine Zäsur geeignete Stelle fällt in einen Paarreim und widerspricht somit der Mikrostruktur des Texts.

296 Zu dieser Stelle im Sinne der Wegesymbolik u. a. TRACHSLER. 1979, S. 194-196 und 210-217. Der homo viator in bivio-Topos bezeichnet das Erzählen vom Menschen am Scheideweg, an einer Kreuzung, die nach dem Y als res significans (Harms) entweder in die richtige oder aber die falsche Richtung führt. Diese Wegesymbolik ist im Mittelalter in Literatur wie Malerei weit verbreitet; vgl. allgemein zum Homo viator in bivio HARMS, 1970, und mit Bezug auf den Parzival: ebd., S. 221-249; grundlegend zu diesem Topos im höfischen Roman vgl. auch STÖRMER-CAYSA, 2007, S. 53-63; zu dieser Stelle S. 55f.: „Hartmann, insofern er durch den Ambraser Erec repräsentiert wird, stellt im Erec gegen Chrétien an zwei Stellen ausdrücklich fest, daß die beiden Figuren den besser ausgebauten und den linken Weg nehmen, einmal in eindeutig biblischer Sprache (reht – baz gebûwen), in Erzählerrede und damit objektiviert, einmal in Figurenrede. So muß es für Hörer oder Leser, denen die biblische Metaphorik vertraut ist, der falsche Weg sein, obgleich sie darauf nach Brandigan kommen, wo Erec die Aventiure besteht, die gleichsam für ihn gemacht ist“. 297 „Daß rechts das Rechte und Gute, links das Böse und Schlechte liegt, hat sich durch das Vorbild der biblischen Wegemetaphorik (z. B. Mt 26,64, Apg 7,55, Eph 1,20) tief in die Ikonographie der bildenden Künste und der Literatur in Europa eingeprägt. [...] Ein prominentes und allverfügliches Bild für eine Richtungsentscheidung bietet zudem Mt 7,14 an: Der schmale und unbequeme Weg führt demnach zum ewigen Leben, der breite und bequeme dagegen stracks in die Hölle“; STÖRMER-CAYSA, 2007, S. 53. 298 Dass der vermeintliche ‚Irrweg‘ Erecs sich doch als der einzig richtige erweist, erklärt Hanno Rüther anhand der Metapher des Labyrinths; vgl. RÜTHER, 2010. Zu einer ähnlichen Feststellung der arthurischen Unmöglichkeit, in die Irre zu gehen, vgl. DÄUMER, 2010 (Errari non potest).

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Trotzdem wird mit den ‚Figuren am Kreuzweg‘ ein ‚Latenzbild‘ erzeugt. Ähnlich wie bei der Beschreibung von Enites Zelter299 lässt Hartmann zu diesem Zweck einen zweiten Sprecher zu Wort kommen: „nu sage, von wiu“, fordert ein Zuhörer und der Rezitator breitet mit aller Gefälligkeit aus, dass er den Weitergang der Handlung zwar wisse, es aber gar nicht nötig habe, auf so ungeduldige Zwischenrufe einzugehen;300 stattdessen beginne er nun eine Digression. Die Spannung entsteht im Unterschied zum Krone-Cliffhanger nicht durch Verwendung einer skriptural-narrativen Technik. Stattdessen zeugen Hartmanns Verse von einer Stilisierung der performativen Kommunikation, bei der die Verfremdung und der retardierende Cliffhanger miteinander verbunden und durch die anschließende architektonische Beschreibung der Burg die Nerven der Zuhörer auf die Folter gespannt werden, um die Irreführung durch den proleptischen ‚Fetisch‘ auszukosten. Wie die Erec-Passage zeigt, ist die verfremdende Variante nicht vom Vortragsumbruch abhängig. Der Cliffhanger ist also beim Artusroman nur teilweise ein – wie die Definition von Serialität es fordert – von außen bestimmtes Phänomen. Stattdessen scheint es so, als ob der Cliffhanger eine ästhetische Autonomie entwickelt hat, die seine literarische Formung jenseits der medialen Bedingtheit ermöglicht. Dies zeigt sich auch an einer Szene, in der es einem der wohl bekanntesten Ritter der Tafelrunde nicht erspart bleibt, schutzlos über einem Abgrund zu baumeln und damit der modernen Wortprägung ‚Cliffhanger‘301 bestens zu entsprechen:302 299 Siehe Kapitel 3.2. 300 Im Gegensatz zur Zelterepisode, für die der Dialog als einer zwischen Autorfigur und Rezitator gelesen werden konnte (siehe Kapitel 3.2), wird hier, um die Unterbrechung der Argumentation durch eine ausschweifende Begründung zu vermeiden, die herkömmliche Zuweisung eines Zuhörers als Sprecher angenommen. Es ist aber ebenfalls die Lesart eines Dialogs zwischen der Maske ‚Autorfigur‘ und dem hinter ihr hervorlugenden Rezitator denkbar. Das „wie gebîtelôs ir sît!“ ist entweder an eine Gemeinschaft gerichtet oder aber eine in Rolle darzustellende Reaktion der Autorfigur, die (wie auch in der Zelterepisode) den Rezitator ‚ihrzt‘. 301 „Anlaß für die Prägung des Begriffs ‚Cliffhanger‘ gaben [...] im Kino der zwanziger Jahre [...] serielle Kinofilme (Stummfilm-Serials), bei denen das zugrunde liegende Bild wörtlich zu nehmen ist“; JURGA, 1998, S. 475. 302 Die einzige mir geläufige Szene, in der ein Ritter noch treffender als Parzival den Cliffhanger verbildlicht, ist Teil der Anfangsepisode des okzitanischen Artusromans Jaufre (entweder zweite Hälfte des 12. oder Anfang

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Der Cliffhanger im Artusroman er [Parzival] traf in [...],

Er [Parzival] traf ihn [...],

daz von Munsalvæsche der templeis

sodass der Templer von Munsalvæsche

von dem orse in eine halden reis. [...]

von dem Ross einen Abhang hinunter fiel. [...]

Parzivâl der tjoste nâch

Parzival folgte der Wucht der Tjost.

volgt. dem orse was ze gâch:

Das Pferd hatte es zu eilig.

ez viel hin ab, deiz gar zebrast.

Es stürzte hinab, sodass es zerschellte.

Parzivâl eins zêders ast

Parzival ergriff mit seinen Händen

[b]egreif mit sînen handen.

den Ast einer Zeder.

(PARZIVAL, V. 444,21-445,1)

Da hängt er, der Held, und obwohl sich an dieser Stelle des Texts keine Spuren für einen Vortragsumbruch finden lassen, wird die brenzlige Situation nicht sofort aufgelöst. Stattdessen zieht die Partitur es vor, den klippenhängenden Protagonisten vom Rezitator mit einem Kommentar versehen zu lassen: nu jehts im niht ze schanden,

Nun rechnet es ihm nicht zu seinen Ungunsten an,

daz er sich âne schergen hienc.

dass er sich ohne Schergen hing.

(PARZIVAL, V. 445,2f.)

des 13. Jahrhunderts). Artus bleibt in dieser Szene an den Hörnern eines Ungetüms hängen, das ihn vor den erschrockenen Augen der Gesellschaft über einem Abgrund baumeln lässt. Die Artusritter entkleiden sich und schichten einen Stoffhaufen auf, um den Sturz ihres Herrschers abzufangen – doch das Monstrum bewegt einfach nur seinen Kopf und die nackten Ritter sind abermals so verzweifelt wie zuvor. Dann lässt sich das Monster mit dem König fallen... und entpuppt sich als ein dem Artushof freundlich gesinnter Formwandler, der sich nur einen Scherz erlaubte (vgl. V. 90-522). Es handelt sich in der Rezeption des Romans um eine der zentralen Szenen, deren programmatische Signifikanz (nicht zuletzt aufgrund der Illustrierung durch Gustave Doré im 19. Jahrhundert) bis heute anerkannt wird. In einem Aufsatz mit dem – nur auf den ersten Blick – vielsagenden Untertitel „Comedy and Interpretation in a Medieval Cliff-Hanger“ arbeitet Caroline Eckardt das humoristische Potenzial dieser Episode heraus. Leider behandelt sie die Episode dabei nicht wirklich als Sinnbild für den Cliffhanger (stattdessen geht sie kontinuierlich von einem Lektürevorgang und einem ‚Leser‘ aus, sodass dieser Gedanke gar nicht aufkommen kann); vgl. ECKHARDT, 2009. Ich sehe in der Szene eine Reflexion über das ‚Latenzbild‘ des Cliffhangers und die ängstlichen Artusritter als (verschaltendes) Symbol des Publikums – eines Publikum, das ‚sein letztes Hemd‘ für eine Auflösung der Spannung gäbe.

473

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Im Moment der größten Spannung wird das Publikum aus der nachvollziehenden Bewegung, dem kinästhetischen Illusionismus gerissen und mit einer humoristischen Apostrophe angesprochen. Das kurzzeitig eingefrorene Bild des am Zedernast baumelnden Helden wird als Pointe für eine entsprechende ironische Distanzierung zum Geschehen genutzt – die (konzept-)körperliche Anspannung kann sich im Gelächter entladen. Dabei ist auch hier eine Autonomisierung des Cliffhangers festzustellen, der unabhängig vom Vortragsumbruch und somit vom Format des Seriellen den ‚Chock‘ nutzt, den traumatisch-inkorporierenden Effekt des Cliffhangers. Der moderne Rezipient liest leicht über die Passage hinweg, um möglichst schnell die Lösung der lebensbedrohenden Situation zu erfahren – erst ein kreativ in die Präsentation der Handlung eingreifender Rezitator kann den Cliffhanger ‚fetischistisch‘ auskosten. Es handelt sich also trotz der Autonomie vom seriellen Format um einen (primär) performativen Cliffhanger mit verfremdender Wirkung. Verstärkt wird die Verfremdung der Szene auf der Mikroebene dadurch, dass der Held durch den Griff nach einem Zedernast gerettet wird. Wie Uta Störmer-Caysa bemerkt, ist die Verwendung einer Zeder an dieser Stelle eine botanische Besonderheit: Zedern, die groß genug wären, das Gewicht eines Ritters halten zu können, kommen erst in der Frühen Neuzeit über die Alpen und das, was sonst noch als zêder bezeichnet werden könnte, sind buschartige Gewächse, die als Rettungsanker nicht taugen würden. Störmer-Caysa kommt deswegen zu dem Schluss: „Es wird also, wenn man so will, Parzival auf der Ebene der Fiktion eher von einem Gedankenbaum als von einem grünen Gewächs vom Abgrund zurückgehalten.“303 Der Einsatz dieses ‚Gedankenbaums‘ kohäriert mit der distanzierenden Wirkung des Cliffhangers: Die Hilfe, die dem Protagonisten gereicht wird, könnte über die sonderbare Wahl der Zeder deutlich machen, dass es auf Handlungsebene der Gral oder Gott ist, der Parzival auf so unwahrscheinlichem Wege rettet. Durch die starke Verfremdung jedoch, die den Rezipienten desillusioniert und damit metafiktional denken lässt, ist es wahrscheinlicher, dass er niemand anderen als den Dichter erkennt, der mit seiner auktorialen Macht ‚seinem‘ Helden die Hand bzw. den Ast reicht.

303 STÖRMER-CAYSA, 2007, S. 50.

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Der Cliffhanger im Artusroman

Dieses Bild ist vor allem dann stimmig, wenn man sich die Position der Szene im Parzival ins Gedächtnis ruft: Sie befindet sich am Anfang des IX. der Lachmann’schen Bücher, an einer Stelle also, an der ein Zuhörer mehrere Vortragseinheiten mit dem zweiten Helden des Romans, Gawein, verbrachte. Über ein Aventüregespräch wendet sich der Vortragende am Ende der Gawein-Passage wieder dem eigentlichen Gralshelden zu. Dem Zuhörer muss Parzival an dieser Stelle noch fremd sein, denn er hat in absentia des Rezipienten seine Reise fortgesetzt. Die auktoriale Rettungsaktion impliziert, dass der Held genauso hätte fallen respektive die Erzählung weiter bei Gawein hätte bleiben können. Diese Frage, mit wem die Erzählung weitergeht, ist vor allem deshalb entscheidend, weil Chrétiens Fragment zwar diesen Protagonistenwechsel vorgibt, jedoch nicht festlegt, welcher der beiden Helden Gralserlöser sein wird.304 Mittels der von Wolfram frei hinzugefügten Episode wird schon vor Abbruch des französischen Texts die (zumindest teilweise) offene Frage für den mittelhochdeutschen Roman entschieden. Diese Entscheidung wird im Kern des ‚Suchbilds‘, der Zeder, versinnbildlicht. Es ist allerdings erst der Fetisch-Charakter des Standbilds, der die entsprechende Aufmerksamkeit zu erzeugen vermag, sodass der Zendernast als konstruierte, symbolträchtige Unstimmigkeit ins Bewusstsein rückt. Der Fetisch-Charakter des Cliffhangers verdeutlicht so die Selbstreflexion der Sympathielenkung, die sich an einer Gelenkstelle des Romans zwischen den beiden Gralssuchern Gawein und Parzival zu entscheiden hat. Strukturell befähigt Wolfram seinen sündigen Helden Parzival mit dem Reichen der Zeder zur folgenden conversio und somit zum Gral; die Latenz des Cliffhanger-Bildes markiert also die Bereitstellung einer final ausgerichteten Erlösungshandlung. Durch die Fetischisierung, also die ostentative Ausstellung der Rettungsaktion, wird jedoch impliziert – so will mir scheinen – dass die Entscheidung genauso anders hätte ausfallen können.

304 Gerade die Weigerung Heinrichs von dem Türlin, Parcifal zum Gralserlöser zu machen, zeugt von einer Neurezeption Chrétiens, die diese Offenheit entgegen des Wolfram’schen und auch entgegen des französischen Abschlusses des Fragments durch Manessier betont. Es schien also den mittelhochdeutschen Dichtern des 13. Jahrhunderts nicht undenkbar, dass eventuell auch bei Chrétien Gauwain der Gralserlöser sein sollte.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Rekapitulation Was anhand der Textbeispiele beobachtet werden konnte, ist ein Oszillieren des Cliffhangers zwischen einem von außen, d. h. durch die zwangsläufige Serialität der Vortragsreihen bestimmten, und einem Binnenphänomen des Texts. Jenseits der historischen Formung durch Medialitäten bleiben bestimmte Funktionen wie bspw. der ‚chockierende‘ (Benjamin) Memorialeffekt zur ‚Fetischisierung‘ (Lacan) des ‚Latenzbildes‘ konstant. Die mediale respektive historische Bedingtheit lässt zwei Veränderungen deutlich werden: (1.) Der Cliffhanger wandelt sich parallel zum mediengeschichtlichen Verlauf vom auf die Vortragssituation abzielenden Unterhaltungsmittel (‚Weinforderung‘) oder von einer aufführungspraktischen Notwendigkeit (Eneas) zu einem text-ästhetischen Phänomen: Er wird zu einer narrativen Technik, die sowohl im medialen Zustand der Performativität (erstes Krone-Beispiel, Erec, Parzival) als auch skriptural (zweites Krone-Beispiel) Bedeutung generiert. (2.) Einhergehend mit diesen medial bedingten Spezifika lässt sich beobachten, dass der Verfremdungseffekt v. a. durch performative, ‚abrupte‘ Cliffhanger ausgelöst wird, während der ‚retardierende‘ Cliffhanger in einer kontinuierlichen Fiktionsvermittlung seine Wirkung entfaltet, wobei nicht unbedingt auf einen Wechsel der Kommunikationsebenen verzichtet werden muss (Erec-Beispiel). Wie sich zeigt, ist der Cliffhanger ein Phänomen, das besonders an den Bruchstellen der Medialitäten seine systematischen Konstanten wie historischen Varianzen entfaltet. Von dem anhand des höfischen Romanvortrags verdeutlichten Medienumbruch aus sollte der Verlauf des Cliffhangers fortzusetzen sein – brächte man dem Kulturwissenschaftler ein Glas voll Wein.305

305 Ich verweise auf die ausstehenden Ergebnisse der momentan an der JustusLiebig-Universität Gießen entstehenden Dissertation Der Cliffhanger. Formen und Funktionen eines kultur- und medienübergreifenden Erzählmittels VINCENT FRÖHLICHs, der sich diesen Wein verdienen dürfte.

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Der Cliffhanger im Artusroman

4.3.3 Die Verabsolutierung des Cliffhangers Nun mögen der Cliffhanger und der durch ihn mitunter ausgelöste Verfremdungseffekt manchem als Marginalie der höfischen Medialität gelten, die zu einem Verständnis der Texte nur wenig Beitrag leisten können. Es hat sich jedoch schon im letzten Unterkapitel gezeigt, dass die künstliche ‚Chock‘-Wirkung von Cliffhangern zur Konkretisierung von Aussagen verwendet werden kann. Gänzlich ist der Marginalisierung dann dort zu widersprechen, wo der Cliffhanger Teil der programmatischen Gesamtkonstruktion eines Werkes wird: im Titurel Wolframs von Eschenbach. In der mediävistischen Forschung hat es seit den 1980er Jahren mehrere Ansätze dazu gegeben, den Fragmentstatus dieses Texts nicht mehr als durch äußere Einflüsse bedingt, sondern als konzeptuelle Grundlage zu beschreiben.306 Weder die intertextuellen Bezüge zum Parzival oder zum Jüngeren Titurel,307 noch die Suche nach einer Quelle

306 Erstmals betonte Margareth Richey eine Eigenständigkeit der Fragmente, indem sie sie als „two seperate preludes, composed as antecedents to the story of Sigune’s life-in-death“ betrachtete; vgl. RICHEY, 1961, S. 191. Ebenfalls aus der amerikanischen Mediävistik kam die Frage von Marion Gibbs und Sidney M. Johnson: „[I]s Titurel truly a fragment, or was it intentionally left unfinished?“; GIBBS/JOHNSON, 1988, S. XXII. In der deutschen Mediävistik ist v. a. Walter Haugs Position ausschlaggebend, der den Fragmentstatus aufgrund der Haltung eines Erzählens ‚vom Tode her‘ analysiert; HAUG, 1980 (Erzählen vom Tode her), S. 23. Haug relativiert die Autonomie jedoch dadurch, dass er, ebenso wie im selben Jahr Max WEHRLI, 1980, S. 316, ein ‚Zerbrechen von Wort und Welt‘ (Haug) bzw. ein ‚Auseinanderfallen von Form und Inhalt‘ (Wehrli) konstatiert. Diese Position scheint mir ob der Analogien von äußerlicher Fragment-Form und innerer Handlung über eine Fragment-Erfahrung nicht ganz nachvollziehbar. Für eine Zusammenstellung und Diskussion der Theorien vgl. FUCHSJOLIE, 2013, S. 11-14. Ich möchte an dieser Stelle Stephan Fuchs-Jolie herzlich für die Zusendung seiner bis dato noch nicht im Druck vorliegenden Habilitationsschrift danken. Die verwendeten Zitate beziehen sich auf die Manuskriptversion; Abweichungen zur endgültigen Monographie bitte ich deshalb zu entschuldigen. 307 „Keiner der beiden Texte [Parzival und Jüngerer Titurel] kann die Möglichkeit entkräften, die Titurel-Stücke böten nicht Ausschnitte aus einem noch nicht existierendem Ganzen, sondern dieses selbst“; KIENING/ KÖBELE, 1998, S. 238.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Wolframs308 konnten überzeugende Argumente anführen, die die Annahme eines erzwungenen Abbruchs verbindlich erscheinen lassen könnten. Letztendlich ist die Annahme eines nicht-fragmentarischen Status’ auch über die Handschriftenlage zu begründen: Obwohl die beiden ‚Fragmente‘ ihre Fortsetzung im (ausgehend von der Anzahl der überlieferten Handschriften) äußerst beliebten Jüngeren Titurel fanden, wurde der Wolfram’sche Text stets auch separat abgeschrieben, was dafür spricht, dass die Literaturinteressierten der Folgejahrhunderte ihn ebenfalls als eigenständig wahrnahmen.309 Das Hauptargument für die Annahme eines konzeptuellen Abbruchs des Texts ist aber die offensichtliche Form/Inhalt-Analogie, die der zweite Textteil des Titurel aufweist:310 Als Sigune auf dem Brackenseil den mit Edelsteinen geschriebenen Text liest, löst sie das Seil, mit dem der Hund Gardeviaz befestigt war. Ihr Drängen danach, weiterzulesen, 308 Die Suche nach Vorlagen hat mitunter sogar zu der gegenläufigen Tendenz geführt, über eine (mögliche) Quelle Wolframs die Abgeschlossenheit zu begründen. So zeigt Albrecht Classen in seiner Studie zu Überschneidungen bei der Minnekonzeption und dem Brackenseil-Motiv in Andreas Capellanus De Amore und den Wolfram’schen Fragmenten einen inneren Zusammenhang auf, „der letztendlich den fragmentarischen Charakter aufzuheben in der Lage ist“; CLASSEN, 1990, S. 15. Jedoch begründet Classen die Autonomie nur indirekt über (nicht zwingende) strukturelle Beziehungen zwischen den Werken; vgl. ebd., S. 30. Erst mittels der Parallelisierung des Titurel zur Waldeinsamkeits-Episode des ebenfalls fragmentarischen Tristan Gottfrieds gelingt ihm die Formulierung einer ‚Programmatik des Fragments‘; vgl. ebd., S. 33-49. Die weiteren motivischen Parallelen bspw. zur Episode um Didos Jagd nach Eneas’ Minne bei Heinrich von Veldeke (dazu OHLY, 1965, S. 178) oder Percevals Suche nach einem Hund für die ‚Herrin des Schachspiels‘ in der zweiten französischen Chrétien-Fortsetzung (vgl. DÄUMER, 2010 [Errari non potest], S. 291-93) sprechen ebenfalls nicht gegen einen konzeptuellen Erzählabbruch. 309 Diese Aussage treffen auch Kurt RUH, 1980, S. 141 und CLASSEN, 1990, S. 61; vgl. zu den Titurel-Handschriften HEINZLE, 1973. 310 Vergleichbare Überlegungen gibt es auch bezüglich des ersten Teils von Guillaumes de Lorris Roman de la Rose (vgl. HULT, 1986) und dem fragmentarischen Tristan Gottfrieds; vgl. v. a. HAMBURGER, 1989, S. 165-180. Denkbar wäre auch eine konzeptuelle Interpretation des plötzlichen Abbruchs des Wolfram’schen Willehalm über bspw. die unvereinbaren Motivationen der Figur Rennewart, dem für die Christen kämpfenden ‚ewigen Heiden‘. Man könnte vermuten, dass Wolfram im Abbruch einen integrativen Toleranzgedanken (nicht und dadurch implizit doch) zum Ausdruck bringt, der Gyburcs Schonungsgebot noch bei Weitem übersteigt.

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Die Verabsolutierung des Cliffhangers

ermöglicht es Gardeviaz, Reißaus zu nehmen. Sigune will jedoch das Ende der Geschichte erfahren und sendet deshalb Schionatulander auf eine Suche nach dem Bracken, bzw. nach der Schrift auf dem Seil, von der er (wie man aus dem Parzival weiß) nicht lebend zurückkehren wird. „Das Fragmentarische innerhalb der Brackenseil-Geschichte findet also seine analoge Entsprechung in der Titurel-Geschichte selber. Sigûne, die die Leine auflöst, wird somit in überraschender Übereinstimmung dem Rezipienten dieser Geschichte gleichgesetzt, denn auch ihm, also uns, wird das Ende vorenthalten. Dies bedeutet aber, daß Wolfram uns bewußt durch den Abbruch des narrativen Kontinuums zur Teilnahme am literarischen Diskurs aufruft, denn auch wir als Leser/Rezipienten müssen uns nun auf die Suche nach Gardeviaz, d. h. dem Rest des Texts begeben.“311

Der ‚Abbruch des narrativen Kontinuums‘ meint im performativen Denksystem den Vortragsumbruch; der Zwang zur ‚Suche nach Gardeviaz‘ (d. h. dem Rest des Texts) ist als Reaktion auf bzw. Versuch einer Kompensation der traumatischen ‚Chock‘-Wirkung des Cliffhangers zu sehen. Im Falle des Titurel ist diese Wirkung intra- wie extradiegetisch vorhanden. Sigune erfährt den Chock, als ihr die Leine durch die Hände fährt – der Rezipient beim Abbruch der Erzählerstimme am Ende des Texts. Ohne den Cliffhanger explizit zu behandeln positioniert sich Classen mit dem Aufzeigen dieser Analogie zu seinen Wirkweisen: Indem er im Erzählabbruch einen ‚Aufruf zur Teilnahme am literarischen Diskurs‘ sieht, präferiert er die von Jurga postulierte KoAutorschaft des Rezipienten,312 wobei er sich, ähnlich wie Jurga, auf die rezeptionsästhetischen Grundsätze Roland Barthes bezieht. 313 Dabei setzt Classen die Schrift auf dem Brackenseil, Gardeviaz und die uns überlieferte Wolfram’sche Schrift in eins: Der ‚Abbruch des narrativen Kontinuums‘ ist ihm somit ein schriftliches Phänomen und der Hund bekommt die Rolle eines Störfaktors der skripturalen Rezeption.

311 CLASSEN, 1990, S. 48. 312 Vgl. JURGA, 1998, S. 474; siehe Kapitel 4.3.1. 313 CLASSEN, 1990, S. 50; für die Barthes’sche Theorie siehe Kapitel 2.3.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Als medienreflexives Bild ist die Funktion des Hundes damit jedoch zu kurz gefasst.314 Die Brackenseilinschrift wird als Sublimierung des Schriftlichen eingeführt: mit guldînen nagelen wâren die steine vaste an die strange genietet. Smaragede wâren die buochstabe, mit rubînen verbundet. (TITUREL, V. 146,4-147,1)

Mit goldenen Nägeln waren die Edelsteine fest an das Seil genietet worden. Smaragde waren die Buchstaben, zusammen mit Rubinen.

Nicht nur äußerst kostbar, auch vaste genietet ist die Schrift, also unbeweglich und unzerstörbar. Träger ist die strange, d. h. eine Leine.315 Es handelt sich beim Brackenseil also auf den ersten Blick um ein prunkvolles Symbol der Schrift als ‚lineare‘ (linum), als unveränderbare und monumentale Kommunikationsform. Wäre da nicht der Hund: nie seil baz gehundet / wart, ouch was der hunt vil wol geseilet. (TITUREL, V. 147,2f.)

Noch nie wurde eine Leine besser gehundet, auch war der Hund sehr gut geleint.

Der Text betont die wechselseitige ‚Abhängigkeit‘ von Hund und Seil; der eine kann nicht ohne das andre sein.316 Dass diese Abhängigkeit schon im späten Mittelalter als symbolisches Arrangement begriffen 314 Um diese Aussage darzulegen, sollen im Folgenden alle Spekulationen über den genauen Inhalt der Brackenseilschrift ab ihrem Abbruch sowie viele der Positionen zu einer möglichen Schuldfrage Sigunes ausgeklammert und stattdessen die Cliffhanger-Konstellation ‚inhaltslos‘ betrachtet werden. Eine Zusammenfassung der älteren Positionen zu Sigunes Schuld findet sich bei HEINZLE, 1972, S. 213ff., und FUCHS-JOLIE, 2013, S. 10f. 315 ‚Leine‘ von griech. ȜȚȞȑĮ, ‚Seil, Strick‘ und ȜȓȞoȞ, ‚Lein, Flachs‘ bzw. lat. linea ‚Schnur, Leine, Strich‘ und lat. linum ‚Lein Flachs‘; PFEIFER, 1999, S. 788f. Classen behauptet einen möglichen Zusammenhang von ‚strangen‘, also ‚Leine‘, mit logos, der, wenn auch interpretatorisch reizvoll, leider etymologisch ganz und gar nicht ‚logisch‘ ist; vgl. CLASSEN, 1990, S. 37. 316 Vgl. KIENING/KÖBELE, 1998, S. 259.

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Die Verabsolutierung des Cliffhangers

wurde, lässt sich einer ganzseitigen Illustration aus der Berleburger Papierhandschrift (k) des Jüngeren Titurel (1479)317 ablesen. Abb. 2: Jüngerer Titutrel, Hss. k, Lage 11, fol. 8r

Schionatulander hält das Brackenseil in Händen, das in Form einer Schriftrolle gezeichnet ist. An deren Ende erscheint als ‚Appendix‘ ein Hundekopf. Man kann sich den Körper des Hundes vorstellen, verdeckt von einem mit geschwungenem Strich angedeuteten Felsen und der Säulenrahmung der Illustration, sodass das Bild ‚realistisch‘ bliebe. Es 317 Bad Berleburg, Fürstliche Bibliothek, Litr. T. Nr. 437. Für die Datierung vgl. die von Wolf herausgebenene Ausgabe (JT, Bd. I, S. LXVI).

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

ist jedoch auffällig, dass die Zeichnung den Körper des Hundes graphisch zurückzudrängt. Auf diese Weise erweckt sie den Anschein, als ob Hund und Schrift eins wären und die Schriftrolle ein Substitut des fehlenden Körpers. Abb. 3: Blick- und Bilddynamik

Der Hundekopf schaut Schionatulander an; genauso scheint der Bach, in dem Schionatulander steht, vom Bracken auszugehen.318 Die Schrift auf dem Seil wird nicht gelesen, sondern stattdessen ein direkter Kontakt mit dem Hundekopf aufgebaut. Das laufende Wasser markiert als Gegenlauf zum Griff nach der Schriftrolle den Hund als Initiator eines zweiten Kontakts, der den Austausch zwischen Schionatulander und Bracke als Kreislauf erscheinen lässt. Was sollen diese seltsame Amalgamierung von Tier und Schrift, der Blickkontakt mit dem Bracken und die Zirkularität der Bilddynamik bedeuten?

318 Auch der Bach ist eine ebenso illustrierende wie symbolische Setzung, denn Schionatulander ist beim Fischen, als der Bracke Sigune, deren Zelt im Hintergrund abgebildet ist, entläuft. Der Bach taucht in der Erzählung früher auf als die Jagd nach dem Hund. So nutzt die Illustration die Konvention der Simultandarstellung zu einer ‚vektoriellen‘ Dynamisierung des Motivs.

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Die Verabsolutierung des Cliffhangers

Der Hund heißt ‚Gardeviaz‘, „Hüete der verte“,319 wie Wolfram selbst übersetzt. Die Inschrift des Seils setzt den Namen als ‚Überschrift‘ der moralischen Liebeslehre: „swie ditze sî ein bracken name, daz wort ist den werden gebære. / man unt wîp die hüeten verte schône!“320 Die meisten Interpretationen haben demnach im Hund ein (scheiterndes) ‚Fährte-Halten‘ in Liebesdingen versinnbildlicht gesehen. Dabei wurde eine andere Lesart marginalisiert, die in Christian Kienings und Susanne Köbeles Analyse anklingt, in der Minnekonzeption und Medientheorie nah beieinander gehalten werden: „Ringend um Begriffe, sich mühend um die Schrift, werden Sigune und Schionatulander gezeigt als ein Paar, das sich auf Zeichen einläßt, deren Bedeutung es nicht selbst zu bestimmen, ja nicht einmal völlig zu kontrollieren weiß [...]. Gerade die Schrift, die den fluktuierenden Zeichen Stabilität verleihen könnte, ist es am Ende, die das Bezeichnete eher in weite Ferne als in große Nähe rückt: weil sie als Schrift allein nicht zu haben ist, sondern nur gebunden an einen Körper, der seiner eigenen Dynamik gehorcht und sie, die unbewegte, in Bewegung hält. Medienhistorisch mag dies als Krisen- oder Reflexionsmoment in der Aufberei321 tung volkssprachlicher Schriftlichkeit gelten.“

Der Körper, an den die Schrift untrennbar gebunden ist, ist der eines Hundes. Gardeviaz ist, wie der Name es ankündigt, der Verantwortliche für das ‚Dazwischen‘, verantwortlich für die Wege, welche die Schrift geht: Er ist es, der den Text von Claudite zu Ehcunaver und, nachdem er diesem ausgerissen ist, zu Sigune bringt. Er hat eine „Funktion als Textträger“,322 d. h. die Funktion eines Mediums, das den Weg zwischen Sender und Empfänger von Schrift überbrückt. Dabei bewegt er sich auf einem „strâlsnitec mâl“,323 einer ‚pfeilgeritzten Spur‘, wird also vektoriell ausgerichtet auf den Empfänger. Diese Formulierung bringt eine ähnliche ‚Gerichtetheit‘ zum Ausdruck, wie in der Berleburger 319 TITUREL, V. 148,4 (‚Gib acht auf die Fährte‘, ‚Hüte den Weg‘). 320 TITUREL, V. 149,2 (‚Obwohl dies der Name eines Hundes ist, so passt das Wort doch auch zu edlen Menschen. / Männer und Frauen achten [ebenfalls] gut auf den Weg‘). 321 KIENING/KÖBELE, 1998, S. 262. 322 CLASSEN, 1990, S. 47. 323 TITUREL, V. 141,2.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Illustration der Blickkontakt von Schionatulander und Hundekopf, dessen Vektor durch den Bach bestimmt wird. Gardeviaz ist also genauso ‚Pfeil‘ wie die im Bogengleichnis auf das Publikum abgeschossene, d. h. performativ umgesetzte Erzählung.324 Schionatulander ermangelt es der Macht, „den schon abgeschickten Pfeil aufzuhalten“:325. Er ist deshalb dem Lauf des Bracken respektive der performativ verwirklichten Erzählung ausgeliefert, die als ‚pfeilgerichteter‘ Vektor seinem Tod entgegenjagt und die Antwort auf Parzivals Frage an die trauernde Sigune sein müsste: „wer hât in [Schionatulander] erschozzen?“326 Das ‚hündische Medium‘ wird als auf verhängnisvolle Art und Weise defektiv gezeichnet, als „ein problematisches Objekt [...] menschlichen Haben-Wollen[s]“:327 Ehcunaver entkommt er, Sigune lässt er mit einem schmerzlichen Sehnen nach dem Ende der begonnenen Geschichte zurück und Schionatulander führt er in den Tod. Weil Gardeviaz die ‚gängige‘ Medialität verbildlicht, von der der Schrifttext (Seil) abhängig ist, die Performativität, ist er im Text auch, wie Kiening und Köbele feststellen, „mehr akustisch als optisch präsent[]“.328 Mit der Interpretation Gardeviaz’ als Sinnbild der Performativität wird auch die wechselseitige Beziehung bzw. Amalgamierung von Hund und Seil verständlich: So wie der Text (Seil) die Performativität (Bracke) braucht, um übermittelt zu werden, so braucht die Performativität (Bracke) den Text (Seil), da er die ‚Leitlinie‘ (ȜȚȞȑĮ, linea, strangen) bzw. Partitur der Aufführung ist. Dass die Performativität in Gardeviaz als defektiv dargestellt wird, passt zu einer verfremdenden Bemerkung, die nach der Beschreibung der Kostbarkeit des Brackenseils fällt: „ir muget wol errâten, welhez ih dâ næme, op wære der hunt dergegene geteilet.“329 Wenn ein Zuhörer sich daran erinnert, wie Wolfram sich in der Selbstverteidigung des Parzival dagegen verwehrte, seine Geschichte als skripturales Mach-

324 325 326 327 328 329

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Zur performativen Deutung des Bogengleichnisses siehe Kapitel 4.1.1.2. Vgl. FOUCAULT, 1988, S. 90. PARZIVAL, V. 139,2; meine Hervorhebung. KIENING/KÖBELE, 1998, S. 252. Ebd., S. 256. TITUREL, V. 147,4 (‚Ihr könnt schon erraten, welches [von beiden] ich nähme, wenn der Hund dagegen gesetzt würde‘).

Die Verabsolutierung des Cliffhangers

werk missverstanden zu wissen,330 müsste er im Titurel eine Präferierung des Bracken bzw. der Performativität vor dem Seil bzw. der Schrift vermuten. Der Vers impliziert jedoch das Gegenteil. Wolframs Einschätzung der Medialität hat sich also allem Anschein nach gegenüber der Parzival-Programmatik gewandelt. Als Begründung seiner neuen Gewichtung liefert er das Bild des ‚medialen Hundes‘: Gardeviaz verkörpert „eine Erscheinung, die immerhin teilweise vom Menschen in Dienst genommen [...], mit Zeichen der Kultur ausgestattet werden kann. Aber eben nur teilweise. Letztlich folgt er seinem eigenen Instinkt und damit einer verte, die ins Wilde führt.“331 Der Bracke symbolisiert den Romanvortrag also als oberflächlich kulturell markierten Dienst und Vermittler der Schrift – und eben diese Oberfläche als Gefahr, da sie die unkontrollierbaren (medialen oder rituellen) Eigenheiten verdeckt, denen die Aufführung gehorcht und die dem Zuhörer den Schriftsinn ‚zu entziehen‘ vermögen. Es trifft also nicht zu, dass Wolfram „eine kommunikative Strategie mit der Hundeleine entwickelt, die ihn als Autor mit seinem Publikum in unmittelbare Beziehung bringt“.332 Im Gegenteil: Die ‚wilde‘, ‚tierhafte‘ Distanz zwischen dem Dichter und seinen Rezipienten, d. h. die unberechenbaren Akte der vermittelnden Performativität, werden im ‚medialen‘ Gardeviaz verbildlicht. Die performative Technik, die Wolfram besonders in das Zentrum seiner Verbildlichung des zweiten Titurel-Teils setzt, ist dabei der Cliffhanger, der (1.) in dem Moment der Handlung auftritt, in dem das Brackenseil durch Sigunes Hände gerissen wird, und (2.) den korrelierenden performativen Moment meint, in dem die Stimme des Rezitators zu einem abrupten Ende kommt.333 330 331 332 333

Vgl. Kapitel 2.1. KIENING/KÖBELE, 1998, S. 257. CLASSEN, 1990, S. 55. Fuchs-Jolie schreibt in seiner Untersuchung der Titurel-Strophenform: „Wolframs extremer Bogen- und Hakenstil, seine Enjambements auch über die durch Reim gebundenen bzw. durch ein großes Melisma separierten Strophenhälften, ja zuweilen über Strophengrenzen hinweg, lassen es reizvoll erscheinen, auch den Ort der Zäsur als Spiel mit den Potenzen des Enjambements zu deuten. Und auch die Melodie ermöglicht eine Art von ‚Übersingen‘ der durch Binnenkadenz manifesten Zäsur, ermöglich zäsurartige Effekte an anderen Stellen“; FUCHS-JOLIE, 2013, S. 156f. Auch wenn es ergiebig sein könnte, die zäsurierte Strophenform einerseits und das

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Das Entschwinden von Gardeviaz mit dem Brackenseiltext wird nicht nur als enttäuschende, sondern auch als für Sigune körperlich schmerzhafte Erfahrung geschildert. Der Rezitator bemerkt angesichts der vom Hund geflohenen Sigune: ih klage der herzoginne blanc linde hende, op daz seil die zerfüere. waz mac ich des? ez was von steinen herte. Gardevîaz zucte

unt spranc durh gâhen nâch huntwildes verte. (TITUREL, V. 161,2-4)

Ich beklage die zarten, weißen Hände der Herzogin, weil das Seil sie zerfurchte. Was kann ich da tun? Es war hart von den Edelsteinen. Garedeviaz zog und sprang eilig los auf die Fährte des dem Hund bestimmten Wilds.

Der Rezitator beteuert seine Unschuld für das Sigune zugeführte Leid: Einerseits sei die herte der Schrift, andererseits das Wesen Gardeviaz’ als Jagdhund schuld an der Verletzung. Die Verletzung wird – in Ausdeutung – als unvermeidbar ob der medialen Gegebenheiten dargestellt: Die Schrift ist hart und statisch, der sie übermittelnde mediale Zustand, die Performativität, flüchtig und unberechenbar, stets auf der ‚Fährte‘ nach Anerkennung durch ein Publikum. Ihre Kombination, das Amalgam aus Hund und Seil bzw. das Zusammenwirken von Schrift und Performativität führt zu Sigunes Verletzung. Classen hat durch eine Parallelisierung mit Gottfrieds Tristan zeigen können, dass die Selbstvergessenheit Sigunes den entscheidenden Unterschied zu Isolde in der vergleichbaren Szene darstellt, in der Tristans Minnedame den Hund Petitcriu als Geschenk erhält.334 Petitcriu hat ein Halsband mit Schellen, deren Klang jede(n) den eigenen Schmerz vergessen lassen.

Umspielen der Zäsur mittels Sprache und Melodie andererseits als kleinteilige Verbildlichung bzw. ‚Vertonung‘ des Cliffhangers zu beschreiben, beschränkt sich die vorliegende Studie auf den oberflächlichen Zusammenhang zwischen Text- und Aufführungsebene, um den medialen Diskurs des Titurel in einen Vergleich zu den nicht-strophischen Artusromanen setzen zu können. 334 Vgl. CLASSEN, 1990, S. 33-49.

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Die Verabsolutierung des Cliffhangers so süeze was der schellen klanc,

So lieblich war der Klang der Schellen,

daz sî nieman gehôrte,

dass sie niemand hörte,

sine benæme im und zestôrte,

dem sie nicht nähmen und beendeten

sine sorge und al sîn ungemach.

seine Sorge und all sein Leiden.

(TRISTAN, V. 15860-63)

Isolde unterbindet mit einem Handgriff den illusionierenden Klang, der vom Halsband des Hundes ausgeht, um sich ihrer ‚echten‘ (d. h. im Gegensatz zum besänftigenden Glockenklang nicht künstlich erzeugten) Sehnsucht nach dem abwesenden Tristan hingeben zu können.335 Isolde erweist sich als ‚realitätsnahe‘, unbeirrbare und leidenswillige Liebende, während Sigune sich völlig in die zu den Schellen analoge Schrift und ihre Illusion versenkt, damit auf längere Sicht das Ende ihres Geliebten herbeiführt und erst nach seinem Tod den Eigenwert des Leidens erkennt. So gesehen führt die inhaltliche und vieldiskutierte Frage um Sigunes Schuld wiederum auch zu einer rezeptionsmoralischen Aussage: zu der Warnung vor einer unreflektierten Hingabe an die Illusion oder, positiv formuliert, zu einem Lob auf die kritische Distanzhaltung zur Fiktion – welche der Verfremdungseffekt generiert. Die Verletzung der ‚selbstvergessenen Rezipientin‘ Sigune wird im Folgenden nach der Regel der Autopsie durch einen Augenzeugen bestätigt: Nachdem Schionatulander barfuß dem Hund durch Dornengestrüpp hinterhergejagt ist und sich dabei die Beine zerschnitten hat – ein Bild das schon von Classen336 als ein vergebliches und schmerzhaftes Streifen durch ‚Text‘ (lat. texere, ‚weben, flechten‘) gedeutet wurde – wird über ihn fokalisiert und abermals das innere Auge des Zuhörers auf die zerschundenen Hände Sigunes gelenkt: sus vant er Sigûnen dort unden: innerhalp ir hende, als si wæren berîfet, grâ als eines tiostiurs hant,

dem der schaft von der gegenhurte slîfet,

der zuschet über blôzez vel gerüeret. rehte alsô was seil

durch der herzoginne hant gefüeret. (TITUREL, V. 166,4-167,4)

335 Vgl. TRISTAN, V. 16347-93. 336 Vgl. CLASSEN, 1990, S. 49.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf So fand er Sigune darunter [unter dem Zeltdach] sitzen: Auf der Innenseite ihrer Hände, als wären sie mit Reif benetzt, grau wie die Hand eines Tjostierers, dem der Schaft vom Rückstoß schrammt und zischt bewegt über bloße Haut. Genau so wurde das Seil durch der Herzoginnen Hand gerissen.

Die Sprache der Verse ist merkwürdig: Der ‚Satz‘ über die Innenseite von Sigunes Händen findet keine grammatische Fortführung. Auch die Beschreibung des Blutes als ‚Reif‘ wirkt schräg, denn wie soll (1.) das Entstehen von Raureif dem Hervorbringen des Blutes gleichen und (2.) eine Übereinstimmung mit den grauen Händen des Tjostierkämpfers möglich sein?337 Aufgrund der grammatikalischen Unabgeschlossenheit und der schrägen Metaphorisierung wirken Sigunes Handflächen losgelöst vom restlichen Gefüge und sind als statisches Bild exponiert. Erst mit dem finalen Vers der Strophe löst sich die Statik in die geistige Bewegung des Vergleichs auf. Die WAHRnehmung Schionatulanders wird dem Zuhörer also in Form einer unbewegten Detailaufnahme, eines extreme close-up übermittelt.338 Zum Exponat ‚fetischisiert‘ (Lacan) erhält das Bild einerseits ikonographische Bedeutung: Sigune wurde durch das Seil wie der Gekreuzigte durch die Nägel stigmatisiert; wie dieser sich mit seinen durchstochenen Händen in den Augen der Jünger identifiziert und Zeugnis seiner Auferstehung ablegt, bezeugt die Nahaufnahme von Sigunes Handinnenflächen die herte der Buchstaben, die sich in die Haut ‚eingeschrieben‘ hat. Andererseits ist die Verwendung einer stati337 Die Funktionsweise des Bilds gehört zu der von Fuchs-Jolie beschriebenen Hermetik, welche die ‚Durchkreuzung metonymischer und metaphorischer Beziehungen‘ bewirkt, und könnte in den Bildbereich der ‚tauigen Rose‘ zählen, auch wenn Fuchs-Jolie diese Stelle nicht in seine Analyse aufnimmt; vgl. FUCHS-JOLIE, 2013, S. 28-35. 338 Zur Verwendung des Begriffs ‚WAHRnehmung‘ und zum filmischen Vokabular siehe Kapitel 3.3.1. Für eine vergleichbare Verwendung von extreme close-ups, die durch ihre zu große Nähe eine Traumatisierung des fiktiven Betrachters zum Ausdruck bringen bzw. eine ‚Chockierung‘ des Rezipienten erzeugen, ließe sich an das ebenfalls an die messianische Stigmatisierung gemahnende Bild aus Buñuels Chien andalou (in Min. 8:35-8:45 krabbeln die von Dalí entworfenen Ameisen aus einer stigmatisierten Hand) oder das intertextuelle Korrelat aus David Lynchs Blue Velvet denken (dort findet der Protagonist ein abgeschnittenes Ohr, aus dessen Öffnung beim close-up Ameisen hervorkommen; Min. 5:40f.).

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Die Verabsolutierung des Cliffhangers

schen Momentaufnahme, eines exponierten ‚Bruchstücks der Zeit‘ (Foucault) selbst schon metaperformative Aussage: Der mit der Schrift entflohene Gardeviaz hinterlässt eine erstarrte und stigmatisierte Sigune – wie der Cliffhanger einen ‚chockierten‘ Rezipienten hinterlässt, dem das letzte Bild des Vortrags ins Gedächtnis geschrieben wurde. Hier zeigt sich, dass Wolframs Cliffhangerkonzept nicht der ‚Ko-Autorenschaft‘ Jurgas bzw. der (Barth’schen) Interpretation des Fragmentarischen als Aufruf zur Mitarbeit am Text entspricht: Der Effekt des Abbruchs ist ein verletzend ‚inskribierender‘, ein inkarnierender Memorialeffekt, der gewaltsam das letzte Bild in das Körpergedächtnis des Rezipienten einbrennt.339 Doch was ist dieses letzte, der Inskription in die memoria des Zuhörers zugedachte Bild des zweiten Titurel-Teils? Auf den ersten Blick kommt es recht schlicht daher. Nachdem Sigune Schionatulander die Erfüllung der Minne versprochen hat, sobald er ihr den Bracken und das Seil zurückgebracht habe, und der so dem Tod Geweihte unter Berufung auf „gelücke unt dîn minne“340 die Aventürefahrt aufnimmt, heißt es: Sus hêten si mit worten ein ander ergetzet, unt ouch mit guotem willen. der anevanc vil kumbers, wie wart der geletzet?341 daz freischet wol der tumbe unt ouch der grîse von dem verzageten sicherboten, obe der swebe oder sinke an dem prîse. (TITUREL, V. 175,1-4)

So hatten sie sich gegenseitig mit Worten getröstet (erfreut), und auch mit Aufrichtigkeit. Der Anfang großen Leides, wie wurde der beendet?

339 Als Referenz bietet sich das Bild aus dem Daniel des Stricker an, in dem die Artusritter ihren Gegnern als tiurlîche schrîbære die Schwerthiebe in die Körper schlagen, das, u.a. im Zusammenhang mit der im Bogengleichnis zur Sprache kommenden Inskriptionsprogrammatik Wolframs, schon in Kapitel 4.1.1.2 als Beispiel für die korporale Inskription der Schrift über ihre Lautlichkeit herangezogen wurde. 340 TITUREL, V. 174,4 (‚Glück und deine Minne‘). 341 Das Fragezeichen ist mein Eingriff in die seit der Ausgabe Ernst Martins (1903) etablierte Interpunktion der Verse. Der Grund hierfür ist, dass im Sinne eines performativ ausgekosteten Erzählabbruchs an dieser Stelle wirklich gefragt werden muss und nicht unter Voraussetzung des Parzival alles als bekannt erwartet werden kann.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf Das wird der Junge und der Greise vom mutlosen Überbringer der Wahrheit vernehmen, ob der in seinem Ruhm steigt oder niedersinkt.

Die Bedeutung der letzten Verse hängt davon ab, wie man den verzageten sicherboten liest bzw. ob er das Objekt oder der Sender dessen ist, was zukünftig vom Publikum vernommen werden könnte. Die meisten Interpreten gingen davon aus, dass die Bezeichnung Schionatulander meine und trieben wie bspw. Lachmann die Annahme so weit, den verzageten kurzerhand zum unverzageten sicherboten zu konjizieren, wahrscheinlich, weil dies besser zum Wunschbild des heroisch um der Schrift und Liebe willen in den Tod gehenden Jünglings passt. Die Textausgabe von Bartsch/Fuchs-Jolie (2003) und die kritische Ausgabe der gesamten Parallelüberlieferung von Bumke/Heinzle (2006) vollziehen eine Revision dieser editorischen ‚Skriptural-Heroisierung‘ des 19. Jahrhunderts. Fuchs-Jolie ruft in diesem Zusammenhang 342 die Lesart des Endverses in Erinnerung zurück, die Bernhard Josef Docen anstrebte, als er 1810 als erster den Titurel aus der Münchner Handschrift G abdruckte: „Bernhard J. Docen [...] wies darauf hin, daß der Crux des oxymoronverdächtigen verzageten sicherbote zu entkommen sei, wenn man sicherbote nicht als Bezeichnung für Schionatulander, sondern für den Dichter verstehe, sicherbote ist ‚derjenige, der [...] durch festes versprechen sich anheischig macht, etwas zu leisten‘ [...] – also möglicherweise auch derjenige, der verspricht, eine Geschichte richtig weiter zu erzählen. In dieser Verwendung ist das Wort zwar nicht belegt, aber es 343 spricht nichts dagegen, dies prinzipiell für möglich zu halten.“

Die Nachsicht, die Fuchs-Jolie ob Docens freier Auslegung des Begriffs walten lässt, scheint aus medialer Perspektive problematisch. Wenn man sicherboten als denjenigen versteht, der das Versprechen gegeben hat, zu erzählen, so kommt man zum Bild des Dichters, der sein Versprechen aufgrund seiner zagheit nicht einhält. Doch Fuchs-Jolie merkt zur belegten Wortbedeutung an: 342 Eine ähnliche Feststellung findet sich, wenn auch implizit, bei Mertens; er übersetzt: ‚von dem mutlosen Gewährsmann‘; vgl. MERTENS, 1994, S. 376. 343 FUCHS-JOLIE, 2013, S. 181f.

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Die Verabsolutierung des Cliffhangers „sicherbote ist ein rechtsterminologischer Begriff, der einen Bürgen, Vormund oder Zeugen bezeichnet, und ist in der erzählenden Literatur des Mittelalters, außerhalb von Rechtstexten, ausschließlich bei Wolfram und Albrecht belegt [...]. Beidemale aber ist die Verwendung eindeutig rechtsterminologisch, ein konkreter ritterlicher Kampf wird mit jeweils mehreren Vokabeln aus dem Rechtsbereich als gerichtsförmiges 344 Handeln beschrieben.“

Die Vokabel bezeichnet rechtsterminologisch also immer einen Dritten (terstis), der einem Rechtsvorgang zwischen zwei Parteien zur Seite steht, ihn als testis ‚bezeugt‘ bezw. durch sein Zeugnis verbürgt; er gehört damit dem von Foucault als ‚akkusatorisch‘ bezeichneten Recht an, das durch épreuve (‚Probe‘) im Gegensatz zum ‚modernen‘ Recht der enquête (‚Untersuchung‘) durch die Bezeugung nicht Wissen generiert, sondern den regelmäßigen Ablauf bspw. eines Ordals als ‚Augenzeuge‘ absichert.345 In diesem Sinne mag das Bild aber nicht auf den Dichter passen: Zwar kann dieser ‚durch festes versprechen sich anheischig machen, etwas zu leisten‘, doch als solcher wäre er kein Dritter, kein Bezeugender, sondern Ausführender des ‚Rechtsvollzugs‘ des Erzählens. Der Dichter könnte als derjenige gesehen werden, der sich als Erschaffer der Partitur für das verbürgt, was in der face-to-faceKommunikation der Aufführung geschieht. Dies wäre jedoch unlogisch, da der Dichter ja gerade nicht anwesend ist, also auch nicht Zeuge des Ge- oder Misslingens der Aufführung sein kann. Es ist für eine perfor344 Ebd., S. 182 345 Foucault unterscheidet diese beiden Rechtsformen und das durch sie erzeugte Wissen in Die Wahrheit und die juristische Formen (orig: La vérité et les formes juridiques von 1994); vgl. FOUCAULT, 2002. Die von Foucault (und seinen Exegeten) anhand der Formen beschriebene historische Zäsur scheint mir auf einem teleologischen Apriori zu fußen, zumal Foucault selbst sie ‚abfedert‘, indem er die Argumentation ablehnt, „dass die Untersuchung (enquête) einfach nur das Ergebnis einer Art Realitätsfortschritt ist“ (vgl. ebd, S. 723), sondern die Zäsurierung auf die die Rechtspraxis umlagernden Machtstrukturen abwälzt. Dies scheint mir unsicher, weshalb ich in der obigen Formulierung ‚modern‘ als uneigentliches Sprechen kennzeichne. Mir scheint es angemessener, auch in diesem Punkt nicht pauschal von einer Alterität des Mittelalters auszugehen, sondern enquête und épreuve als systematische Denkformen zu begreifen, die historisch in unterschiedlichen Gewichtungen auftreten können, ohne einander ‚abzulösen‘ oder ‚auszuschließen‘.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

mativitätsorientierte Analyse also am ‚sichersten‘, im sicherboten den Rezitator zu sehen, der sich als Anwesender im Sinne der épreuve passiv (und das heißt hier: ohne performative ‚Verfälschung‘ der Partitur) dafür zu verbürgen hat, dass die Vermittlung zwischen Dichter (bzw. der schriftlichen Partitur) und Zuhörer ‚im Sinne des Rechts‘ vollzogen wird. Nur er ist es, der in seiner medialen Funktion den etymologischen Zusammenhang von terstis und testis auf sich vereint. Mit dieser Deutung des sicherboten löst sich auch die verzagetheit auf: Natürlich lässt sich weiterhin mit Docen der Dichter als derjenige vorstellen, der aus Angst vor dem tragischen Ende, auf das Sigunes und Schionatulanders Geschichte unweigerlich zuzulaufen hat, seine Erzählung abbricht. Doch eingedenk der Aufführungssituation, in der durch den Abbruch des Textes die Stimme des Rezitators zu einem abrupten Ende gezwungen wird, bekommt die verzagetheit eine ganz andere Bedeutung. ‚Das wird der Junge und der Greise vom verzageten sicherboten [also vom Rezitator] vernehmen, ob der [Schionatulander] in seinem Ruhm steigt oder niedersinkt‘: Mit diesen Worten gibt die Autorfigur ihr Vorhaben einer Vollendung auf und überträgt – ähnlich wie ‚Hartmann‘ es vorübergehend in der Zelterepisode macht („durch got, nû saget an“) –346 die gesamte Last der narrativen Autorität auf den Rezitator. Dieser soll nun beschreiben, was mit dem Protagonisten weiter geschehe. Stellt man sich dieses Abwälzen der Verantwortung vor den Augen erwartungsvoller Zuhörer vor, so ist die verzagetheit desjenigen, der der Partitur bedurfte, die nun plötzlich ohne Vollendung abbricht, nur allzu deutlich nachzuvollziehen. In der Selbstverteidigung des Parzival konnte der Rezitator noch vorgeben, âne der buoche stiure die Geschichte zu erzählen347 – nun muss er dies wirklich tun, ohne textuelles Netz und den doppelten Boden der dichterischen Diktats. So beweist Wolfram letztendlich stärker als all seine in dieser Haltung verwandten Vorgänger und Nachfolger (Hartmann oder Wirnt in seiner skeptischen Haltung im WigaloisProlog)348 mit dem Abbruch der Partitur, d. h. – im Gegensatz zur gefährdeten Fiktionsvermittlung der Krone –349 der vollständigen Verwei-

346 347 348 349

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EREC, V. 7499; siehe Kapitel 3.2. Vgl. PARZIVAL, V. 115,25-30, Zitat: V. 30; siehe Kapitel 2.1. Siehe Kapitel 3.1. Siehe Kapitel 3.5.

Die Verabsolutierung des Cliffhangers

gerung der Narration, seine Macht, als Abwesender die Aufführung zu kontrollieren.350 Das von Kiening und Köbele speziell für die Titurel-Forschung dargelegte Paradox,351 dass allgemein jedes Sprechen vom ‚Fragment‘ automatisch ein Ideal der Totalität und Linearität präsupponiere, findet in der medienhistorischen Interpretation zu einer Lösung. Das Ideal von ‚Totalität‘ und ‚Kohärenz‘ ist bei der performativen Interpretation des Titurel keines, das auf der Ebene des Texts gedacht werden muss: Die Idealsetzung ist eine Form der Zuschauererwartung, also auf der Aufführungsebene zu denken, mit der Wolfram in aller Konsequenz bricht und so mit dem Titurel-Text als unfragmentarischer Totalität seine Machtposition gegenüber dem verzageten Rezitator behauptet, der von der passiven Anforderung der épreuve (also der ‚augenscheinlichen‘ Bezeugung der Fiktion im Sinn einer transgressiven Autopsie) durch den Cliffhanger in die unliebsame Rolle des Verantwortlichen gezwungen wird. Aufgrund dieses verfremdenden Sprungs aus dem Text- in die 350 Mertens kommt zu der genau gegenteiligen Aussage: „Die Geschichte von Ehkunaver und Clauditte will [...] nicht vorgetragen, sondern ‚privat‘ gelesen werden – so jedenfalls ist die ‚Erzählung in der Erzählung‘ im Titurel inszeniert. Hier gibt es keinen Sänger mehr [...] – der neuzeitliche Erzähler meldet seine Ansprüche an seinen Leser an“; MERTENS, 1994, S. 377f. Mir mag die Grundlage von Mertens Argumentation nicht einleuchten: Natürlich wird das Lesen des Brackenseils als ein ‚privates‘ geschildert – doch es führt über den Cliffhanger als ‚einschneidendes‘ Erlebnis doch zur Katastrophe. Wenn der Erzähler also am Ende des zweiten Teils verstummt, so verweist er auf den ‚Chock‘, den Sigune durch den entlaufenden Träger der Schrift versetzt bekam, dessen Analogon, den Rezitator, der Zuhörer aber direkt vor sich sieht. Es handelt sich also nicht um ein Ablösen des Sängers (respektive Rezitators) durch den modernen Erzähler, sondern ganz im Gegenteil um eine effektive Festigung der performativen Korporalität, die im Gegensatz zur entschwindenden Schrift verzagt, doch umso evidenter im Raume steht. 351 „[Es] zeigt sich, in welchem Ausmaß die Wahrnehmung von Inkohärenz (und mit ihr verknüpft diejenige fehlender Totalität) an eine Erwartung von Kohärenz gebunden bleibt, die im gegebenen Fall sich mehr an der ‚Verlaufsgestalt‘ als an der ‚Simultangestalt‘ orientiert. [...] Objektivierbar ist die ‚innere Folgerichtigkeit‘ des Fragmentarischen nicht als Ausdruck des ‚Versagens‘ oder ‚Scheiterns‘ eines erzählerischen ‚Experiments‘, sondern nur als Ergebnis einer den Text in seinen sprachlichen Rekurrenzen und poetischen Dimensionen ernst nehmenden Lektüre“; KIENING/KÖBELE, 1998, S. 239. Allgemein zum Fragment-Begriff als implizite ‚Totalitätstheorie‘ OSTERMANN, 1991.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Aufführungsebene und von der passiven zur aktiven Anforderung an den sicherboten ‚Rezitator‘ findet das Kiening/Köbele-Paradox nicht statt, da die paradoxale Zirkularität zur Spirale aufgebogen wird. 352 Der Cliffhanger ist im Titurel deshalb genau das Gegenteil eines ‚nicht-abschlusshaften Endes‘:353 Als textuelle Darstellung und Diskussion der performativen Technik ist das Pseudo-Fragment gewissermaßen vollständiger als jedes ‚vollendete‘ Werk, da es die kommunikative Gemeinschaft von Rezitator und Rezipient ‚chockiert‘ in der Totalität des Schweigens ‚hängen lässt‘.

352 Nach Roland Hagenbüchle (HAGENBÜCHLE, 1992, S. 31) ergeben sich Schein-Paradoxien oftmals daraus, dass Reflexionsebenen nicht sauber getrennt werden. Generell überführt eine Unterscheidbarkeit von Ebenen (wie die der Aufführung und der Fiktion) Paradoxien auf den Status von ‚logischen Antinomien‘; vgl. zu diesem Enttarnen von Scheinparadoxien anhand des Parzival auch DÄUMER, 2013. 353 Dies formulierte Paul Ricœur für den Titurel; vgl. RICŒUR, 1989, S. 39.

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5. S CHLUSS : EIN

E NDE

DEM

19. J AHRHUNDERT

„Ich liebe ein altes Kunstwerk um seiner Neuheit willen. Es ist nur der Kontrast, der uns an die Vergangenheit bindet.“ Tristan Tzara, Manifest Dada 19181

In dem Zeitraum, in dem diese Studie sich in der Endphase ihrer Niederschrift befand, veröffentlichte die F.A.Z. ein Wissenschaft Spezial zum Mittelalter.2 Der Leitartikel der Beilage trug den Titel: „Geht’s ein bisschen echter?“ mit der Schlagzeile „Was wir ‚das Mittelalter‘ nennen, hat kaum etwas mit der Zeit der Ritter zu tun, aber sehr viel mit dem 19. Jahrhundert – und unserer Gegenwart“. Der Luzerner Historiker Valentin Groebner stellt in dem Artikel die ‚ererbte‘ nationale Indienstnahme des ‚Mittelalters‘ sowie Automatismen der Rückprojektion unserer Gegenwart auf diese vermeintliche Zeit des Ursprungs dar: „Um ordentliche künstliche Welten aufbauen und betreiben zu können, braucht es nichts notwendiger als den ununterbrochenen Rekurs auf das ‚Originale‘. Denn nur das Präsentieren von Originaltexten, Originalschauplätzen und Originalkostümen bringt das Verschwundensein der Vergangenheit zum Verschwinden. [...] Das Mittelalter ist eine Feedbackschleife, ein Loop. Die populären Bilder vom Mittelalter sind so erfolgreich, weil sie Vertrautes wiederholen, denn das 19. Jahrhundert ist zäh!“3 1 2 3

Tzara, 1992, S. 40. Vgl. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 19. September 2010. Der Artikel baut auf Thesen aus GROEBNER, 2008, auf. GROEBNER, 2010, S. 63f.

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Ich meinte bei der Lektüre einen Aufruf zu vernehmen,4 diese Zähigkeit alter mediävistischer Bilder und die Feedbackschleife ewiger Projektion zu überwinden und dies gab mir den letzten Antrieb, den es benötigt, zum Ende auszuholen. Denn was ist die Imagination eines mittelalterlichen Lesers anderes, als die Rückspieglung des selbst vor einem Buch sitzenden Forschers (sei es nun ein Forscher des 19. oder 21. Jahrhunderts) auf sein Objekt und dies zu dem Zweck, sich selbst einen historischen Ursprung zu setzen und die mittelalterlichen Dichter in teleologischer Selbstverliebtheit als Menschen zu imaginieren, die sich nichts sehnlichster wünschten, als endlich ‚richtig‘ gelesen zu werden? Meist unbewusst wird mit dieser Implikation eines Lesers ein Konnex von Schrift und Nation reaktualisiert, den das 19. Jahrhundert etablierte: Zuvor waren bspw. Märchen mündliche Erzählungen von a) einer Königin in einem fremden, nicht benannten Land oder b) von der Burg auf dem Hügel da drüben respektive dem Brunnen vor dem Tore. Doch die Kirche blieb nicht im Dorf: Mit der Verschriftlichung der Märchen durch die Gebrüder Grimm wurden die Erzählungen – trotz teilweiser Inklusion dialektaler Heterogenität – ihrer a) lokalen Unbestimmtheit oder b) ihrer ursprünglichen Regionalität entrissen und Teil des Narrativs einer systematisch begriffenen ‚Nation‘. Nun ist die Verschriftlichung kein Phänomen des 19. Jahrhunderts; doch der Normierungswille der ‚Neuen Schriftlichkeit‘ übertrifft alle bisherigen Phasen. Am deutlichsten wird dies in der Mediävistik: Indem die Heterogenität der Textzeugnisse in der normierten Kustsprache des Mittelhochdeutschen eingeebnet wurde, konnte – maskiert hinter dudenhafter Reglementierung – eine nationale (Sprach-)Einheit suggeriert werden. So projizierte das 19. Jahrhundert das eigene Ideal über anachronistische Skripturalitätsnormen auf das Hochmittelalter und machte die (Norm-) Schrift zum Medium der invented tradition5 namens ‚Nation‘.6 Diese 4

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Ich meine diesen Unterton noch immer zu vernehmen, auch wenn Groebner anlässlich der Tagung „Kontinuität, Nostalgie, Aufbruch“ am Karlsruher Institut für Technologie (Oktober 2011) von mir nach diesem Aufruf befragt, sich ironisch lächelnd auf den Gemeinplatz der ‚Schweizer Neutralität‘ zurückzog. Vgl. HOBSBAWM, 1994. Zum im 19. Jahrhundert konstituierten Zusammenhang von Schrift und Nation vgl. MC LUHAN, 1968; mit spezieller Thematik (bezüglich des armenischen Nationalismus), aber grundlegend: NICHANIAN, 2007, S. 137f. et passim und Appendix: ‚Philologie et ethnographie au XIXe siècle‘.

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nationalsprachliche Rückprojektion betraf die mittelalterlichen Artusromane ebenso wie die Heldenepik, wobei letztere und insbesondere das Nibelungenlied auch inhaltlich der Fingierung nationaler, später gar völkischer Denkformen zuträglich war.7 So stellte sich über die neue, normierende und medial verfälschende Verschriftlichung des 19. Jahrhunderts das ein, was seit den 1980er Jahren der Politikwissenschaftler Benedict Anderson als ‚Erfindung der Nation‘8 und der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Eric Hobsbawm als ‚erfundene Tradition‘ beschreibt: „Nationale Mythen entstehen nicht spontan aus den tatsächlichen Erfahrungen der Menschen. Sie sind etwas, das Menschen von anderen übernehmen: von Schriftstellern, Historikern, aus Filmen und heute von Menschen, die Fernsehsendungen machen“9

Nicht zuletzt aufgrund politischer Abneigungen gegen diesen Konnex Schrift/Nation wurde mit diesem Bild schon ab Mitte der 1960er Jahre (Albert Bates Lord)10 und wieder in den 1980ern (Walter Ong)11 abgerechnet, jedoch hauptsächlich in der amerikanischen Mediävistik. In der deutschen Forschung machte es der Mangel an methodischen Alternativen zum schriftgebundenen Forschen jedoch allzu leicht, trotz widerstrebender Tendenzen kontinuierlich den alten Projektionen wieder zu erliegen, sei es in Form einer impliziten medialen Standardisierung der Schrift oder auch einer Romantisierung des ‚Spielmanns‘. Dabei scheint es für eine (auch) gegenwärtig wirkende Mediävistik schon deshalb an der Zeit, sich wieder den de-skripturalen Denkweisen und einem abgeklärten Blick auf die performative Umsetzung von Schrift zuzuwenden, weil die Werte des ausgehenden 19. Jahrhunderts generell im Schwinden begriffen sind: Ganz davon abgesehen, dass die herkömmliche Schriftlichkeit immer mehr den graduell virtuelleren Medialitäten weicht, dekonstruiert unsere Gegenwart infolge der (ökonomischen wie politischen) Globalisierung schrittweise ihre historische Altlast: die (auf Schriftverehrung und -normierung fußende) ‚Erfindung 7

Zu den Auswüchsen dieser nationalen Indienstnahme vgl. SCHULZE, 1997, S. 290-298. 8 Vgl. ANDERSON, 2005. 9 HOBSBAWM, 2000, S. 36. 10 Vgl. LORD, 1965. 11 Vgl ONG, 1982.

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der Nation‘. Möge also das ZDF noch so viele Guido KnoppSendungen über ‚Die Deutschen‘ und ihren Ursprung im Mittelalter bringen –12 letztendlich zeugen Positionen wie diese doch nur von einer konservativen Nostalgie, die althergebrachte Muster reanimiert, indem sie von der Gegenwart überrumpelt den alten Sermon von Schrift und Nation betet. Im Zuge des Schwindens der Nation als Kern und der Schrift als Medium kultureller Identifikation in der westlichen Kultur trifft Groebners (impliziter) Aufruf also ins Zentrum dessen, was eine (auch) gegenwärtig engagierte Mediävistik durch eine Revision der eigenen Methodik voranzutreiben hätte: ein Ende des 19. Jahrhunderts, das hinsichtlich des Mittelalterbilds auch die (Post-)Moderne nicht erwirken konnte.13 Die Überwindung der Nationalismen, d. h. das Aufweichen von ehemals ‚erfundenen‘ nationalen Grenzen, könnte dabei das große Analogon zu dem sein, was die Kulturwissenschaft im Kleinen vollzieht: das Aufweichen der ebenfalls imaginierten disziplinären Grenzen.

12 Zur neuen Staffel der Serie schrieb Claudius Seidl in der F.A.Z. vom 21. November 2010 bezüglich der Episode zu Karl dem Großen: „Es sind nicht die Taten des Kaisers, die uns etwas angehen können, es sind die Geschichten, die man sich über ihn erzählt hat und erzählt. Geschichte ist immer auch Rezeptionsgeschichte, und dazu fällt der Serie ‚Die Deutschen‘ nur ein, dass Charlemagne den Franzosen ein Franzose sei, den Deutschen ein Deutscher; dass aber auch Karls Gegner, der Sachse Widukind, den Deutschnationalen ein echter Deutscher und Held gewesen sei“; Seidl, 2010, S. 25. Welche Frage Seidl nicht stellt, ist, warum in globalisierten Zeiten eine Fernsehepisode zu Karl dem Großen überhaupt unter dem nationaldünkelnden Titel Die Deutschen firmieren muss. Wäre ein Verständnis Karls als ‚Europäer‘ nicht viel angemessener? Lieber verweist Seidl darauf, dass andere „[d]ie Frage, was es heißt, deutsch zu sein, deutsch zu sprechen und zu denken“ besser gestellt hätten: „Die Dichter, die Musiker und die Philosophen“; ebd. Man möchte hier jedoch wiederum Seidl die Frage stellen, ob es wirklich erstrebenswert ist, mit einem Rückzug auf das Klischee eines ‚Volks der Dichter und Denker‘ größere Geister als den Guido Knopps heraufzubeschwören, die sich entgegen des Abbaus nationaler Mythen an die Neu-Konturierung des ‚Deutschen‘ machen. 13 „Polemisch möchte man sagen: Das naive Vertrauen des 19. Jahrhunderts in jede Äußerung historischer Fremdheit und Primitivität ist am Ende des 20. Jahrhunderts eingetauscht worden für ein ebenso naives Wiedererkennenwollen des Eigenen, (Post-)Modernen, das sich nur unter einer raffinierten, fiktionalen Mittelalterhülle verberge“; GLAUCH, 2009, S. 44.

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‚Interdisziplinarität‘ könnte mehr sein als eine antragstaugliche Vokabel – sie wäre die akademische Entsprechung zur internationalen Politik; ‚Kulturwissenschaft‘ wäre demnach mehr als eine Neuanordnung oder -etikettierung alter disziplinärer Wissensbestände – sie wäre eine autonome Heuristik, und ‚Dilettantismus‘ mehr als eine spielerische Haltung – er würde eine der akademischen wie politischen Gegenwart angemessene Metamethode bieten. Dabei dürften die neuen mediävistisch-kulturwissenschaftlichen Ansätze nicht behaupten, den Schlüssel zum ‚wirklichen‘ Mittelalter gefunden zu haben. Genau das Gegenteil muss der Fall sein: Das ‚Verschwunden-Sein des Verschwindens der Vergangenheit‘ zu negieren, bedeutet, das Flüchtige dieser Kultur neu zu begreifen. Der kulturwissenschaftliche Wille, eine Zeit wie das späte 12. und frühe 13. Jahrhundert in ihrer Alterität wie in ihren Analogien zu begreifen, darf sich nicht der Einsicht verwehren, dies stets auf unsicherem Boden zu tun: Dort, wo wir feststellen, dass ‚das Mittelalter‘ uns gleicht, sind wir ebenso in unserer gegenwartsgebundenen Sichtweise gefangen wie dort, wo wir seine Alterität festzustellen meinen. Letztendlich erleichtert die Flüchtigkeit des Ereignisses die Rückprojektion der eigenen Position allzu sehr; eben aus diesem Grunde muss das Transitorische möglichst systematisch in der mediävistischen Methode verankert sein, um so die Grundlage zu einer neuen, oder aber besser: die Grundlage zu einem Verzicht auf jegliche Ideologie zu liefern. Mit der Darstellung der überlieferten Manuskripte als bloße Partituren, d. h. als artefaktische Rückstände einer über sie nur indirekt zu erschließenden Form der Kulturentfaltung, möchte die vorliegende Arbeit einen Beitrag zu dieser Neubewertung der historischen Flüchtigkeit liefern. Sie will, anstatt das ‚Verschwinden des Verschwindens‘ voranzutreiben, sich lieber methodisch dem Vorgang des primären ‚Verschwindens‘ nähern. Das Großnarrativ der Schrift soll so durch das Transitorische ergänzt werden – wobei das Erstellen des KomplementärNarrativs auf methodischer Diversität fußen muss. Vor allem das ‚Wesen‘ theaterwissenschaftlicher Theorien bedeuteten diesem Vorhaben eine große Hilfe, insofern die theaterwissenschaftliche Hermeneutik sui generis die Flüchtigkeit ihrer Forschungsobjekte (Aufführungen) in ihre Methoden miteinbezieht und den monumentalen (Dramen-)Text als Forschungsprimat ablehnt.

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Aufgrund dieser Zielsetzung können die Aussagen dieser Arbeit auch keinen Anspruch auf positivistische Beweisbarkeit erheben – und wollen dies auch nicht. Lediglich das Erarbeiten einer möglichen Methode, der textuellen Latenz Einblicke in das flüchtige Ereignis abzugewinnen, ist die Motivation des Geschriebenen. Dass die vorgeschlagenen Methoden nur mögliche und die so gewonnen Einblicke nur eventuelle sind, liegt in der Natur einer sich auf das Transitorische einlassenden Untersuchung.

*** An dieser Stelle möchte ich die aufgezeigten Möglichkeiten zum Umgang mit dem Transitorischen des mittelalterlichen Romanvortrags zusammenfassen. Die modellhafte Darstellung der Medialität des höfischen Romans ging einher mit Ansätzen zu einem Fokuswechsel der wissenschaftlichen Betrachtung: Im Zentrum steht der im autonomen (1.) medialen Zustand der Performativität agierende Rezitator (2.1.1). Die Grundlagen seines Agierens erforderten die Präsupposition eines Rollendenkens, das u. a. an der mittelalterlichen Poetria Nova und den Bergiff der ‚persona‘ als existent ausgewiesen wurde (2.1.2). Ebenso, wie das Denkbild des Rezitators als Sender der performativen Kommunikation eine Fundierung jenseits kultureller Konstanten erfuhr, musste dies der Seite des Empfängers, dem Zuhörer, zuteil werden. Eine historisierende Alterität seiner Imaginationsleistung wurde über die Darstellung der kinästhetischen Wahrnehmung (nach Wenzel/Lechtermann) und der Autopsie (nach Wandhoff) angestrebt. Dabei erforderte die Theorie eine Erweiterung des Körperbilds, um die Mechanismen der Teilhabe an der Fiktion beschreiben zu können. Zu diesem Zweck wurde die kinästhetische Wahrnehmung mit verschiedenen Konzepten von rezipierender Körperlichkeit und v. a. den wahrnehmungspsychologischen Betrachtungen Melchior Palagyis und Hans Joas’ rezeptionsästhetischen Überlegungen kurzgeschlossen, um das ‚Körperschema‘ als eine Art Avatar des Zuhörers zu beschreiben, als imaginäres Sensorium, das im Umgang mit der Fiktion steht (2.2.1). Um eine Rückprojektion (post-)moderner Theorien auf das 12./13. Jahrhundert zu vermeiden, musste die kinästhetische Wahrnehmung des

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Weiteren eine Fundierung im historischen Kontext erfahren, die sie in der Darstellung der Vier-Kammern-Lehre im Welschen Gast, aber auch in ersten Beispielen von ‚bewegten‘ Beschreibungen aus den höfischen Romanen fand (2.2.2). Die Werkzeuge für die Sender- und Empfänger-Betrachtung der performativen Analyse waren somit bereitgestellt – es fehlte noch die analytische Handhabung der (historischen) Spezifika des Mediums. Da die Performativität sich nicht in all ihren semiotischen Wirkweisen anhand einer textuellen Partitur erfassen lässt, war es für die spätere Analyse wichtig, sich den Schriftzeichen über die Wirkmächtigkeit ihrer vorprädikativen (Krämer) Lautlichkeit zu nähern. Dies geschah einerseits über die Schriften Antonin Artauds zum Theater der Grausamkeit wie über sprachphilosophische Betrachtungen (2.3). Ziel der Überlegungen war es, eine interpretatorische Sensibilität für die Korporalität der Sprache, d. h. ihre Einwirkung auf die reale Physis des Zuhörers, der kinästhetischen Einwirkung auf das Körperschema zur Seite zu stellen. Schon auf theoretischer Ebene stellten sich dabei Möglichkeiten zur Verschaltung dieser beiden Wirkweisen heraus. Im 3. Kapitel wurden diese theoretischen Grundlagen in einem ersten Schritt an die höfischen Romane herangeführt. Dafür wurden einschlägige Textpassagen gewählt, die dazu geeignet erschienen, die Besonderheiten einer performativen Interpretation und den Status des ‚Kunstwerks im Zeitalter seiner transitorischen Einmaligkeit‘ herauszustellen. Ausgang nahm das Kapitel beim Prolog des Wigalois, der bisher als ein Indiz für ein primär skripturales Medienverständnis des Romans Wirnts von Grafenberg galt. Anhand von semantischen Verschiebungen des Mittelhochdeutschen und Neuinterpretationen der Bildlichkeit des Prologs ergab sich die Lesart, dass Wirnt den Prolog nicht für Leser, sondern für einen ‚Vor-Leser‘ schrieb. Er erschuf einen Nebentext, der es ihm als abwesendem Dichter ermöglichen konnte, inszenatorisch auf die Aufführung einzuwirken (3.1). Ein komplexerer Weg der metamedialen Reflexion ließ sich anhand der Zelterepisode aus Hartmanns Erec nachweisen. Die Zelterepisode wurde dafür als eine Vortragseinheit konturiert, die in gesteigertem Maße die performative Kommunikation ansteuert und so vor dem Eintritt des Helden in die finale Joie de la curt-Episode, also an symbolisch bedeutsamer Stelle, einen Diskurs eröffnet, der sich in zwei Punkten

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verdichtet. Den ersten (3.2) macht das inszenierte Gespräch zwischen dem in Rolle gesprochenen ‚Hartmann‘ und seinem Rezitator aus. Der Dialog dient – ähnlich der Nebentexttechnik Wirnts – dazu, den Dichter als durch seinen Text vertretene Autorität und den Rezitator als tumben kneht zu stilisieren, dem es nur bei einer textgetreuen Wiedergabe gelingen werde, eine ‚Wahrheit‘ hervorzubringen. Der zweite Kulminationspunkt dieses Diskurses ist in der Ekphrasis des Zelters und vor allem der Decke zu finden (3.3). Unter Wiederaufnahme der Theorie vom Körperschema wurde die Lenkung des imaginierenden Blicks analysiert, den der Text über die Gegenstände der fiktionalen Welt leitet. Einerseits ergab sich hieraus eine Problematisierung der ‚Räumlichkeit‘ von Fiktion im Kontrast zur realen Welt, die zu der Frage nach der Nachweisbarkeit der Fiktion und somit (über die dem Publikum unterstellte ‚Sünde‘ der curiositas) zu einer moralischen Gewichtung der ‚thea‘-Konstellation des fiktionsvermittelnden Vortrags führte. Andererseits ergab sich in der Betrachtung der Blicklenkung erstmals ein Gefühl für die bewusst betriebene Leitung der imaginativen Sinnlichkeit des Rezipienten, eine Feststellung, die zur Betrachtung der hinsichtlich solch einer ‚Sinnesregie‘ auffälligsten Passage führte: den Wunderketten des Heinrich von dem Türlin. Diese stellen in einem besonderen Maße eine sensuelle Kopplung des Zuhörers bzw. seines Körperschemas an die Figur Gaweins her, deren Auswirkungen mit der medialen Funktion der Kamera verglichen wurden. Das Bedürfnis nach bewegten und bewegenden Bildern wurde dabei als ein Grundbedürfnis des Kunst rezipierenden Menschen charakterisiert, dem das Medium ‚Film‘ nur in besonderem Maße entspricht, das es aber nicht ursprünglich erzeugte. Die Annahme einer konstanten Bedürfnisstruktur führte zur Negation teleologischer Tendenzen in der Medienentwicklung. In den Wunderketten wird durch den gemeinschaftlichen Vorgang bezeugender WAHRnehmung ein enger Konnex von Zuhörer und Figur erschaffen. In der Vermittlung wie in den Bildinhalten wird dieser als gefährdet ausgewiesen, da er an einer Konkurrenz der Sinne (v. a. des akustischen und des visuellen) zu scheitern droht. Diese Bedrohungssituation wurde im folgenden Unterkapitel (3.4) über eine Verschränkung der Wunderketten mit dem (fiktions-)vermittelnden Modus der Visionsliteratur erklärt. Der in der Visionsliteratur als ‚Zeugenschafts-

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helfer‘ die WAHRnehmung sichernde angelus interpres wird in den Wunderketten mit aller Bestimmtheit getilgt. Dadurch entsteht letztendlich die Situation, dass der in den Wunderketten etablierte Konnex spätestens in der Gralspassage der Krone zerstört wird (3.5): Während Gawein den Gral wahrnimmt, kommt das heilige Zentrum der Prozession aufgrund einer konzeptionell motivierten Unschärfe der Beschreibung für den Zuhörer nie klar in den Fokus und kann so nicht ‚bezeugt‘ werden. Die ontologische Grenze zwischen Fiktion und Aufführung wird so zur epistemischen erklärt. Damit handelt Heinrich nach der ‚Bleherisregel‘, die, ursprünglich in der französischen Elucidation formuliert, Ausprägungen in vielen Artusromanen fand, genauso wie die historische Person Bleheris ihre Spuren in den Texten hinterließ. Letztendlich ließ sich hier die Vermutung wagen, dass es sich bei Bleheris um einen realen performer handelte, dessen Ratschlag es Dichtern wie Rezitatoren nahelegte, um der Gunst des Publikums willen stets das Tabu des Grals zu wahren. Diesen Ratschlag setzte Heinrich mit großer Kunstfertigkeit um und sein Text eröffnet so eine Reflexionsebene, auf welcher die Vermittelbarkeit der fiktiven Welt im medialen Zustand der Performativität und die epistemischen Möglichkeiten fiktionaler Zeugenschaft über figurale Fokalisierung grundlegend in Frage gestellt werden. Die Untersuchungen des Erec und der Krone zeigten, dass es auf theoretischer Ebene noch Erweiterungsbedarf gab, bevor die Behandlung allgemeinerer Textpassagen angegangen werden konnte. Das Ziel des 4. Kapitels war es deshalb, die performativen Techniken des Rezitators zu kategorisieren, um sein Wirken als kreativer Bestandteil der Aufführungen adäquat beschreiben zu können. Dazu wurden in einem ersten Schritt die Ebenen des im 2. Kapitel etablierten Kommunikationsmodells als durch Handlung konstituierte Räume beschrieben (v. a. nach Michel de Certeau). Das räumliche Denken ermöglichte es sodann, zwei Arten des performativen Umgangs mit der Fiktion und der Aufführung voneinander zu trennen: ihre Verschaltung und die Verfremdung. Für eine erste Veranschaulichung der Verschaltung (4.1) wurde auf die Vorüberlegungen zur Korporalität der gesprochenen Sprache zurückgegriffen (4.1.1). Objekt der Untersuchung war der Daniel von dem Blühenden Tal des Stricker und insbesondere dessen zweiter Teil, der

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sich im Gegensatz zu der vehementen Verweigerung gegen jegliche performative Kommunikation im ersten Romanteil durch eine hohe Frequenz von auf den Rezitator und die kinästhetische Wahrnehmung zugeschnittenen Techniken auszeichnet (4.1.1.1). Es ließ sich zeigen, dass der Stricker in seinen Schlachtbeschreibungen vokalische und konsonantische Lautqualitäten sowie eine wiederum kameraartige Fokalisierung über einen ‚Pars-pro-toto-Körper‘ einsetzt, um dem Zuhörer die Möglichkeit zu bieten, über sein Körperschema und der ‚Grausamkeit‘ (Artaud) der Laute an der Schlacht teilzuhaben. Eine Untersuchung der vom Stricker verwendeten Bildlichkeit zeigte, dass die Regie der korporalen Wirkweisen auf einer Programmatik der Inskription fußt (4.1.1.2). Der zweite Teil des Kapitels (4.1.2) widmet sich nicht einem bestimmten Text, sondern einer spezifischen Raumkonstellation des Artusromans: dem Festmahl. Ausgehend von der Annahme, dass die Texte vornehmlich anlässlich realer Festmähler vorgetragen wurden, konnten diese Szenen als Grundlagen einer Verschaltung profiliert werden, bei der der fiktive Artushof und das reale Publikum in eine analoge Beziehung gesetzt werden (4.1.2). Arthurische Rituale wie die ‚Essensverweigerung in Aventüreerwartung‘ konnten dabei ebenso in ihren performativen Wirkweisen analysiert werden wie die Sonderfunktion des arthurischen Truchsessen Keie (4.1.2.1). Auf der Ebene der Fiktionsvermittlung fielen – v. a. in der zweiten französischen ChrétienFortsetzung – die Vielzahl der Beschreibungsverweigerungen in Bezug auf Essen auf, die als Leerstellen für eine Projektion der aktuellen Realität des Zuhörers in die fiktive Bildlichkeit verstanden wurden (4.1.2.2). Die Beschreibung der zweiten Haupttendenz performativer Techniken, die der ‚Verfremdung‘, fand nicht an bestimmten Romanen, Passagen oder Motiven statt. Da es sich bei Verfremdungen um eher überraschende Eingriffe in die Fiktionsvermittlung handelt, wurden die Effekte in ihrer gattungsübergreifenden Vielzahl gesammelt und ausgehend von Bertolt Brechts theoretischer Fundierung des Verfremdungseffekts in verschiedene Kategorien unterteilt (4.2). Eine besondere Hervorhebung erfuhr dabei der Cliffhanger (4.3). Die Umbrüche zwischen Vortragseinheiten erwiesen sich als Stellen, an denen – aufgrund einer ‚chockierenden‘ (Benjamin) Memorialfunk-

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tion – das Performative und die als ‚Fetisch‘ (Lacan) exponierte Aussage der ‚Latenzbilder‘ nahe beieinander gehalten werden konnten, d. h. die Textaussage durch das Verstummen der Stimme verstärkt oder der performative Eingriff metaperformativ bedacht wurde. Die programmatische Selbstreflexion des Cliffhangers fand ihre deutlichste Ausprägung in der nicht-fragmentarischen performativen Aussage des Wolfram’schen Titurel. Der Grund dafür, eine Untersuchung des performativen Potenzials der Artusromane mit dem Thema des Cliffhangers enden zu lassen, ist eine methodische Zwangsläufigkeit. Da sich die Arbeit einer Aufwertung des Transitorischen in der Betrachtung der überlieferten textuellen Monumente verschrieben hat, gibt es mehr als nur ein Problem – von griechisch próblƝma (ʌ‫ק‬óȕȜȘȝĮ): ‚Vorsprung, Klippe‘ –,14 an dem sie selbst hängen bleibt. Doch trotz ihrer Unabschließbarkeit bleibt zu hoffen, dass die Methodenerarbeitung dazu beitragen kann, die Stimme im Raum des mittelalterlichen Kaminsaals und die Bühne im Kopf des Wissenschaftlers einander näher zu bringen. Damit ist dem Denken des 19. Jahrhunderts mit Sicherheit kein Ende gesetzt; es öffnet sich mit der Flüchtigkeit im Jenseits der Partitur jedoch eine Sphäre, deren Analyse den Indienstnahmen forschungshistorischer Rückprojektionen ein wenig zu trotzen vermag.

14 Vgl. HERMANN, 1983, S. 391.

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S IGLENVERZEI CHNIS BEOWULF BIRKHAN BORTE CONFESSIONES CONTE CONTIN., E CONTIN., P CONTIN., T DANIEL ECKE ELUCIDATION ENEAS EREC EREC ET ENIDE EVANGELIENBUCH WELSCHE GAST GOLDEMAR HEINRICH HELMBRECHT HERENNIUM INSTITUTIO IWEIN

Beowulf, hg. von MITCHELL/ROBINSON. Keltische Erzählungen vom Kaiser Arthur übers. von BIRKHAN. Dietrich von der Glezze, Borte, hg. von MEYER. Augustinus, Confessiones, übers. von BERNHARDT. Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal, hg. von OLEF-KRAFFT. Première Continuation, Mss. E, hg. von ROACH. Continuations, hg. von POTVIN. Première Continuation, Mss. T, hg. von ROACH. Stricker, Daniel von dem Blühenden Tal, hg. von RESLER. Eckenlied, hg. von WIERSCHIN. Elucidation, hg. von HILKA. Heinrich von Veldeke, Eneasroman, hg. von ETTMÜLLER. Hartmann von Aue, Erec, hg. von CRAMER. Chrétien de Troyes, Erec et Enide, hg. von G IER. Otfrids Evangelienbuch, hg. von ERDMANN. Thomasin von Zerklære, Welsche Gast, hg. von WILLMS. Albrecht von Kemenaten, Goldemar, hg. von ZUPITZA. Hartmann von Aue, Der Arme Heinrich, hg. von RAUTENBERG. Wernher der Gartenære, Helmbrecht, hg. von PANZER/RUH. Rhetorica Ad Herennium, hg. von NÜSSLEIN. Quintilianus, Institutio Oratoria, hg. von RAHN. Hartmann von Aue, Iwein, hg. von CRAMER.

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

JOHANNESKOMM. JT KAISERCHRONIK KOMÖDIE KRONE LAIS LANCELOT LANZELET LAURIN LEGENDA MELERANZ MF NIBELUNGEN ODYSSEE ORATOR ORENDEL OSWALD OWEIN PARTONOPIER PARZIVAL PAULUS PHAIDROS POETRIA PROSALANCELOT RDE ROLAND SANDKÜHLER II SANDKÜHLER III SANDKÜHLER IV SIGENOT THOMAS TIMAIOS

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Aurelius Augustinus, In Joannis Evangelium, hg. von MIGNE. Albrecht [von Scharfenberg], Jüngerer Titurel, hg. von WOLF/NYHOLM. Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von SCHRÖDER. Dante Alighieri, Göttliche Komödie, übers. von WARTBURG. Heinrich von dem Türlin, Krone, hg. von EBENBAUER/KNAPP/KRAGL/NIESER. Marie de France, Lais, hg. von RIEGER. Chrétien de Troyes, Lancelot, hg. von JAUSSMEYER. Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, hg. von KRAGL. Laurin und Walberan, hg. von TUCZAY. Jacobus de Voragine, Legenda aurea, hg. von MAGGIONI. Pleier, Meleranz, hg. von BARTSCH. Minnesangs Frühling, 33. Auflage. Nibelungenlied, hg. von BRACKERT. Homer, Odyssee, übers. von SCHADEWALDT. Cicero, De Oratore, hg. von NÜSSLEIN. Orendel, hg. von STEINER. Münchner Oswald, hg. von CURSCHMANN. Owein or Chwedyl Iarlles y Ffynnawn, hg. von THOMSON. Konrad von Würzburg, Partonopier und Meliur, hg. von BARTSCH. Wolfram von Eschenbach, Parzival, 6. LACHMANN’sche Ausg. Apocalypse of Paul, hg. SILVERSTEIN/HILHORST. Platon, Phaidros, hg. von DIÈS u. a. Geoffrey von Vinsauf, Poetria Nova, hg. von FARAL. Prosalancelot, hg. und übers. von STEINHOFF. Roman d’Eneas, hg. von SCHÖLER-BEINHAUER. Pfaffe Konrad, Rolandslied, hg. von KARTSCHOKE. Première Continuation, übers. von SANDKÜHLER. Deuxième Continuation, übers. von DEMS. Manessier-Continuation, übers. von DEMS. Sigenot, hg. von TUCZAY. Thomas, Tristan, hg. von BONATH. Platon, Timaios, hg. von RIVAUD/DIÈS.

Siglenverzeichnis

TITUREL TRISTAN TRISTRANT WELT LOHN WIDUWILT, C WIDUWILT, W WIGALOIS

Lateinische Bibel Deutsche Bibel

Wolfram von Eschenbach, Titurel, hg. von BRACKERT/FUCHS-JOLIE. Gottfried von Straßburg, Tristan, hg. von MAROLD. Eilhart von Oberg, Tristrant und Isalde, hg. von BUSCHINGER. Konrad von Würzburg, Dër Wërlte lôn, hg. von ROTH. Widuwilt, Cambridger Mss., hg. von LINN. Widuwilt, Druck: Josel von Witzenhausen, hg. von WOLF. Wirnt von Grafenberg, Wigalois, hg. von SEELBACH/SEELBACH. Biblia Sacra Juxta Vulgatam Clementinam, hg. von WEBER. Die Bibel. Einheitsübersetzung.

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B IBLIOGR APHI E A

Mittelalterliche und ältere Primärtexte

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Biblia Sacra Iuxta Vulgatam Versionem, hg. von ROBERT WEBER, 5. Aufl., Stuttgart 2007. Chrétien de Troyes, Lancelot [Chevalier de la Charrette] (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 13), hg. und übers. von HELGA JAUSS-MEYER, München 1974. Chrétien de Troyes, Erec et Enide. Erec und Enide. Altfranzösisch/ Deutsch, hg. und übers. von ALBERT GIER, Stuttgart 1987. Chrétien de Troyes, Perceval. Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Der Percevalroman oder die Erzählung vom Gral. Altfranzösisch/Deutsch, hg. und übers. von FELICITAS OLEF-KRAFFT, Stuttgart 1991. [Chrétien-Continuations] Elucidation, in: Christian von Troyes, Der Percevalroman (Li Contes del Gral), hg. von ALFONS H ILKA, Halle a. d. Saale 1932, S. 417-429. [Chrétien-Continuations] Perceval Le Gallois ou le conte du graal. Tome III-IV, hg. von CHARLES POTVIN, Nachdr. der Ausg. von 1866/1868, Genf 1977. [Chrétien-Continuations] The Continuations of the Old French Perceval of Chretien de Troyes, The First Continuation, 2 Bde., hg. von WILLIAM ROACH, Philadelphia 1949/1950. [Chrétien-Continuations] Gauwain sucht den Gral. Erste Fortsetzung des ‚Perceval‘ des Chrestien de Troyes, übers. von KONRAD SANDKÜHLER, Stuttgart 1959. [Chrétien-Continuations] Irrfahrt und Prüfung des Ritters Perceval. Zweite Fortsetzung von Chrestien de Troyes’ ‚Perceval‘, übers. von KONRAD SANDKÜHLER, Stuttgart 1960. [Chrétien-Continuations] Perceval der Gralskönig. Ende der zweiten und dritte (Manessier-)Fortsetzung von Chrestien de Troyes’ ‚Perceval‘, übers. von KONRAD SANDKÜHLER, Stuttgart 1964. Cicero, Marcus Tullius, Vom pflichtgemäßen Handeln/De Officiis, hg. und übers. von HEINZ GUNTERMANN, Stuttgart 1977. Cicero, Marcus Tullius, De Oratore/Über den Redner, hg. und übers. von THEODOR NÜSSLEIN, Düsseldorf 2007. Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, hg., übers. und komm. von IDA VON WARTBURG/WALTHER VON WARTBURG, Zürich 1963. Dietrich von der Glezze, Der Borte, hg. von OTTO RICHARD MEYER, Heidelberg 1915.

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Mittelalterliche und ältere Primärtexte

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

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Mittelalterliche und ältere Primärtexte

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

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Mittelalterliche und ältere Primärtexte

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B

Sonstige Primärtexte, Musikalben, Fil me

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

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Stimme im Raum und Bühne im Kopf

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A UTO R -, W ERK -

UND

19. Jahrhundert 16, 52f., 55f., 128, 131, 452, 490, 495-505 Aiode (ĺRhapsode) 25, 58, 361f. Affekte, Affektbereich (ĺVier-Kammern-Lehre) 81-86, 105-108, 123, 126, 132f., 136, 141, 145, 387f. Alanus ab Insulis 106f. Albrecht, Jüngerer Titurel 70f., 74f., 328, 390, 393, 477-79, 481f. Alcuinus 161 Alexanderroman, 194, 208 angelus interpres (ĺPaulusapokalypse) 241, 246-58, 293, 502 Apostelgeschichte (Apg) 392 Apparat 219, 228-31, 240, 266, 322f. arke (memoriale Symbolik) 148, 158-62, 202 Artaud, Antonin, 125, 136-45, 240, 333-38, 351, 501, 504 Augenzeuge (ĺAutopsie; ĺZeugenschaft) Augustinus 131f., 143, 207f., 245, 247-49, 251-54 – Confessiones 207f.

B EGRIFFSREGI STER – De Musica 131f. – Tractatus in Joannis 247-49, 252-54 Autopsie 87, 114f., 121f., 197, 237, 313, 347, 419, 424-26, 487, 493, 500 Autor, impliziter (ĺAutorfigur) Autorfigur (ĺpersona) 57-59, 65-73, 86, 157, 165-69, 186-91, 404, 407-10, 417f., 427f., 430, 435-37, 445-49, 472, 492 Avatar (ĺKörperschema) Aventürehafte Dietrichsepik 244, 366-68, 372, 458, 463f. Bedürfnis, kinematisches 234-40, 502 Benjamin, Walter 133, 135f., 147f., 229, 238, 261f., 266, 321, 460f., 464, 476, 504 bildes reht 201f., 295f. Bleherisregel 302-20, 373, 503 blic, Blick/Blitz 221, 278f., 286f., 321, 431f. Blick, feuriger (ĺEmission) Brecht, Bertolt 154, 343, 353, 360, 369, 396, 399-404, 411f., 418, 422, 427, 438f., 457, 504

561

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Bühne, Bühnenbild, Bühnenformen, Kopfbühne 29, 38, 62, 86, 108, 112-114, 118, 241, 257, 326, 392, 399403, 442, 505 Buñuel, Luis 94f., 488 captatio benevolentiae 44, 157-59, 404-407 Chanson de Geste 344, 348-50 Chock 122, 133, 321, 460-64, 474-79, 489, 494, 504 Chrétien de Troyes 29, 55, 68, 71, 120, 133, 262, 306, 343, 376f., 386, 388, 418, 451, 465 – Erec et Enide 24, 43, 163, 178, 182f., 185, 196, 212, 312, 375f., 405-09, 411f., 420, 436, 471 –– ‚Prolog‘ 171-75, 183, 258 – Chevalier de la Charrette 187, 244, 272, 436f. – Yvain 371, 381-83 – Conte du Graal 41, 43, 51, 213-18, 261f., 300, 302, 332, 386, 389f., 446, 475 Chrétien-Fortsetzungen 284f., 302, 317, 319, 373 – Première Continuation 213, 216, 302-05, 314-20, 356, 369-71, 389 – Deuxiéme Continuation 119, 213, 284f., 318f., 37375, 478, 504 – Manessier-Continuation 284, 317, 373, 475 –– ‚Kapellenabenteuer‘ 284-86, 295f., 314-18 Cicero 161 – De officiis 68f. 562

– De oratore 76, 80, 84-86 Cliffhanger 133, 414, 457494, 504f. conjointure (ĺChrétien, Erec et Enide, ‚Prolog‘) curiositas (ĺSchau, adamit.; ĺthea-Konstellation) 206-10, 502 Dante Alighieri, Commedia 201, 243, 250-54, 280 Derrida, Jacques 139-41, 188f., 237f., 257, 321, 323, 333, 411 Dietrich von der Glezze, Borte 167-69, 415f., 419f., 424, 431 Diderot, Denis 81-86 Dilemma, Brecht’sches 418f., 427 Dilettatismus 11-17, 499 Eckenlied 366-68 Eilhart von Oberge, Tristrant 312, 377 Elucidation 302f., 307-13, 320, 503 Emission, Emissionstheorie 276-292 Erzähler-Substitution 54-59 Erzähleinsatz (ĺVortragseinheit) – Erzähleinsatz mit Erzählung 361-80 Erzählen (Sprechen), unendliches, 367, 449, 453-56 Essensverweigerung in Aventüreerwartung 369-71, 389-393, 504 Ezechiel-Vision (Hes) 162, 269, 281, 301

Register

Festmahl (ĺEssensverweig.; ĺKeie) 360-76, 376-89, 389-98, 504 Fetisch (ĺLacan) Filmische Metaphorik 228-40 – close-up, extreme 488f. – Matchcut 94f. – Unschärfe 300-302 Fragmentstatus 466, 475-494, 505 Gattungsbegriff 71, 194f., 211f., 243f., 283, 290, 343f. 366-68, 377f., 416, 456 Gawein (ĺKamera) Geistliches Spiel 111-14, 118 Genesis (1 Mose) 128f., 287 – adamitische Schau 204-07 Geoffrey von Vinsauf, Poetria Nova 69, 74-87, 144f., 500 Glättung, skripturale 450, 463, 465 Gottfried von Straßburg, Tristan 151, 153, 157, 268f., 272, 328, 377, 446, 478, 486f. Grausamkeit der Sprache (ĺArtaud; ĺsonic turn; ĺSprache, verkörperte) 117, 122-145, 221, 240, 281, 285, 326, 333-360, 382f., 501, 504 Hartmann von Aue 43, 49f., 55, 68, 70, 120, 133, 268f., 389, 416-18, 465 – Armer Heinrich 43 – Erec 29, 76, 163, 272, 312, 406-09, 428f., 435-37, 440, 450, 470-72

–– ‚Zelterepisode‘ 120, 174212, 236, 244, 296, 325, 328, 368, 472, 492, 501f. – Iwein 187f., 264f., 335f., 377, 424-26, 429f., 441f. –– ‚Prolog‘ 43f., 46f., 149, 157, 159, 211, 340, 368, 393 –– ‚Kalogrenants Vortrag‘ 371, 378-83, 385 Heinrich von dem Türlin, Krone 133, 333f., 372f., 389-92, 407f., 413-16, 431-33, 443, 455, 466-72, 476 – ‚Kapellenabenteuer‘ (ĺChrétien-Fortsetzungen) – ‚Wunderketten- und Gralspassagen‘ 212-323, 427, 440, 445-47, 492f., 502f. Heinrich von Freiberg 153 Heinrich von Morungen 102 Heinrich von Veldeke, Eneas 24, 42-46, 76, 152, 173, 194f., 198-202, 204f., 212, 244, 253f., 331f., 336-38, 362-66, 371f., 393-98, 443, 465f., 471, 476, 478 Heldenepik 71, 344, 348-51, 377, 497 Homer 394, 450 – Odyssee 361-65, 371, 469 Hugo von St. Viktor 20, 25f., 160-64, 202f., 206, 208, 279 Inskription, memoriale 113, 282, 355-59, 398, 489, 504 Jacobus de Voragine, Legenda Aurea 210 Johannes-Evangelium (Ioh) 128

563

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Johannes-Offenbarung (Apc) 162, 242, 245, 252, 255f., 266, 269-72, 274, 282 Johannes von Salisbury 103 Jünger, Ernst 126-28, 133, 136

Korintherbrief, zweiter (II Cor) 245f., 248, 253f., 322 Kreuzweg 111f. Kristall 268-74, 281-83, 287, 291f.

Kalogrenant (ĺHartmann, Iwein; ĺOwein) Kaiserchronik 208f. Kamera, ‚Kameramann‘ 95, 116f., 227f., 228-40, 243, 250, 257, 264, 267, 292-94, 301, 320-22, 348f., 409, 502-04 Keie (ĺTruchsess) Keltische Arthur-Texte 284, 315, 376f., 379, 383-85 Kinästhetik (ĺWahrnehmung, kinästhetische) Körperschema 89-101, 110, 117, 122f., 134, 182, 198, 200f., 206, 209, 220-22, 226, 233, 258, 282, 287, 293, 326, 335, 350, 429, 500-504 Kommunikationsmodell, performatives 65-67 Konkurrenzdynamik, mediale 19-32, 444f. Konrad, der Pfaffe, Rolandslied 344, 350-52, 355 Konrad von Heimesfurt, Urstende 357 Konrad von Würzburg – Der Welt Lohn 148-50, 170 – Otte mit dem Barte 377 – Partonopier 180f., 218 Kopfbühne (ĺBühne) Korintherbrief, erster (I Cor) 272

Lacan, Jacques – ‚Fetisch‘ 457, 462-76, 488, 504f. – ‚Spiegelstadium‘ 91-93, 99, 201 Latenzbild (ĺLacan, Fetisch) laudatio temporis pronuntiationis (ĺIwein-Prolog) Laurin 244, 366, 458, 463 Lesegeschwindigkeit 175-78 Lohengrin 71

564

Mainzer Hoffest 331f., 335 Matthäus-Evangelium (Mt) 164 Marie de France 307-309 Maske (ĺpersona) Medialitäten, höfische (Def.) 31f. Medialität, zweistufige 230, 311, 422-26 Montage, teilhabende 95, 119, 229-234, 264 Mündlichkeit, fingierte 54-56, 69 Nero 208-210 Nibelungenlied 367, 377, 497 Oralität (Def.) 32 Orendel 457-59 Ort/Raum, lieu/espace (de Certeau) 325-28, 503 Osterspiel (ĺGeistliches Spiel) Oswald, Münchner 457-61

Register

Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch 49 Owein 383-85 Palagyi, Melchior 98-100, 102105, 186, 199, 267, 500 Pars-pro-toto-Körper 348-50, 504 Passionsspiel (ĺGeistliches Spiel) Paulusapokalypse (ĺangelus interpres) 245-54 Performativität (Def.) 32-40 persona, Maske, Rolle (ĺAutorfigur) 42, 65, 6871, 74-87, 114f., 157, 187f., 191, 395-98, 402, 404f., 418f., 427f., 436, 445-47, 500 Pfingsten (ĺApg) Platon – Phaidros 192f. – Timaios 277-80, 286 Prologe (ĺChrétien, Erec et Enide; ĺHartmann, Iwein; ĺStricker, Daniel, ĺWirnt, Wigalois; ĺWolfram, Parzival) Prosalancelot 258, 269f., 455 Pleier 133, 392 Polyvokalität 174, 186-92 Quintilian, Institutio Oratoria 76, 80-86 Rauheit (le grain) der Stimme (Barthes) 124-29 Raum (ĺOrt/Raum) rede/getihte 44-46 Regie (ĺSinnesregie)

Rezipient, postulierter 66, 73, 411, 437 Rezitator (Def.) 58-62, 65-67 Rhapsode (ĺAiode) 55, 58, 251, 361f., 365, 371, 450 Rhetorica ad Herennium 80-85, 382 Roman d’Eneas 253, 362-65, 394, 397 Rolle (ĺpersona) Rudolf von Ems 164, 194 Sainte-Albine, Rémond de 82f. Schau, adamititsche (ĺcuriositas; ĺthea-Konstellation) 204-07, 210 Schmerz 81, 85, 94-97, 133, 266f., 280-82, 350, 486 Schock (ĺChock) Schrift/Honig, Süße 158, 162f., 170, 224 Schrift/Nation 12, 332, 496-500 Sigenot 366f. Simultanbühne (ĺGeistliches Spiel; ĺBühne) Sinnesregie, Sinneskonkurrenz 142, 229f., 230f., 259, 26367, 285, 316, 338, 502f. Skripturalität (Def.) 32 sonic turn (ĺGrausamk.; ĺSprache, verkörperte) 35, 131, 138 Spielmann 52f., 58, 363f., 448, 497 ‚Spielmannsepik‘ 457-61 Sprache, verkörperte (Krämer, ĺGrausamk.; ĺsonic turn) 123-35 Sprüche (Prov) 129, 144

565

Stimme im Raum und Bühne im Kopf

Stimme (ĺRauheit; ĺVokalität) 35-37, 51f. 55, 61, 67, 77, 80-84, 91f., 124-29, 131, 138, 142f., 350, 387, 457, 464, 479, 485, 492 Stimme, körperlose 252, 255, 267f., 314 Stimmung (Gumbrecht) 129-32 Stricker 133, 388 – Daniel 267f., 339-43, 456, 489, 504 –– ‚Cluseschlachten‘ 339, 34360, 504 –– ‚Prolog‘ 339-41, 343 – Karl 344, 347, 350 – Pfaffe Amis 296 tageliet 283, 290 Teaser 465 tihtære (Dichter/Diktierender) 39, 59-61, 166, 191, 358, 423 thea-Konstellation (ĺcuriositas; ĺGenesis; ĺSchau, adamit.) 207, 269f., 433-36 thesaurus (ĺarke) Thomas d’Angleterre 304 Thomas von Aquin 106 Thomasin von Zerklपre, Welscher Gast 49, 72, 10210, 254, 257, 379, 388, 501 Transgression 28f., 95, 205207, 288, 311-14, 319, 41921, 424-34, 438f., 493 Transitorik 38f. 55, 133, 147f., 307, 332f., 338, 433, 499501, 505 Trickster 383, 420, 443 Trias, mediale 408-10, 428 Trimedialität (Def.) 31f. 566

Tristanstoff (ĺEilhart; ĺGottfried; ĺThomas) 304-313 Truchsess 295f., 317, 376-89, 504 Unsichtbarkeit des Grals (ĺFilmische Metaphorik, Unschärfe; ĺBleherisregel) Verfremdung, V-Effekt (Def.) (ĺDilemma, Brecht’sches) 400-404 Vergil 45f., 173, 253f., 362f., 394, 397 Verschaltung (Def.) 329-33 Versfüße (füeze) 48-50 Vier-Kammern-Lehre (imaginatio, memoria, ratio, intellectus) 72, 100, 102-10, 119, 203, 211, 225, 238-40, 254f., 257f., 264, 287, 303, 315, 320, 322, 331f., 335, 347, 443f., 464, 501 Visio Tnugdali 243-45, 249, 253 Visionsliteratur 241-57, 266f., 273, 280, 293, 322, 502f. Vokalität 25f., 55 Vorprädikative (ĺSprache, verkörperte) Vortrag im Vortrag (ĺErzähleinsatz; ĺEssensverweigerung) 393-98 Vortragseinheit (Linke) 120, 175-78, 450f., 463, 466-68, 475 WAHRnehmung (Def.) 236-38 Wahrnehmung, kinästhetische 87-90, 98-102, 109f., 112-

Register

123, 141, 145, 183, 196f., 203, 211f., 220, 226f., 232, 316, 326, 335, 348-50, 464, 474, 500f., 504 Weinforderung 457-64, 476 Wernher der Gartenære, Helmbrecht 23f., 210f., 367f. Widuwilt 334f., 458, 461-64, 468 Wildenberg (Burg) 330-33, 335, 360, 373 Wirnt von Grafenberg, Wigalois 56, 133, 194, 244, 272-74, 291, 311, 390, 391f., 407, 422-426, 438f., 441-43 – ‚Prolog‘ 148-70, 171-73, 192, 202, 252, 416, 492, 501f. Wisse, Claus/Colin, Philipp Rappoltsteiner Parzival 302 Wolfram-Maske (ĺTrias, mediale; ĺWolfram, ,Selbstnennungen‘) 55, 57, 67-75, 408f., 419, 427f. Wolfram von Eschenbach 133 – Parzival 41f., 55, 147, 177 –– ‚Bogengleichnis‘ 357-59, 415, 437 –– ‚Cliffhanger‘ 472-75 –– ‚Essensverweigerung‘ 389 –– ‚Frageversäumnis‘/‚Sigune‘ 214-19, 260f., 484

–– ‚Gahmuret‘ 447-49, 413f., 431 –– ‚Hartmann-Apostrophe‘ 191, 416-19 –– ‚Keie‘ 377, 386-88 –– ‚Kussspiel‘ 430f. –– ‚Kyot‘ 41f., 309-13 –– ‚Munsalvपsche‘ (ĺWildenberg) –– ‚Namensbedeutung‘ 217f. –– ‚Prolog‘/‚Epilog‘ (ĺTrias, mediale) 41, 408f. 428, 435 –– ‚Selbstnennungen‘/‚Selbstverteidigung‘ 41f., 47-52, 427f., 435, 484f., 492 –– umbesِzzen 421f. – Titurel 51, 70, 308, 477-94, 505 –– Gardeviaz 478-87 –– sicherbote 489-494 Zeugenschaft (ĺAutopsie; ĺWolfram, Titurel, sicherbote) 114f., 121f., 197, 206f., 209, 219f., 226, 229-31, 237, 242f., 255-57, 261, 264f., 268, 275f., 28590, 293, 319-23, 347f., 362, 365, 400-403, 419, 439, 487, 491f., 502f.

567

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