Kino im Kopf: Zur Visualisierung des Mythos in den »Metamorphosen« Ovids 9783666252822, 9783525252826

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Kino im Kopf: Zur Visualisierung des Mythos in den »Metamorphosen« Ovids
 9783666252822, 9783525252826

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V&R

Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker

Band 173

Vandenhoeck & Ruprecht

Philipp Fondermann

Kino im Kopf Zur Visualisierung des Mythos in den »Metamorphosen« Ovids

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortlicher Herausgeber: Siegmar Döpp

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN: 978-3-525-25282-6 Hypomnemata ISSN 0085-1671

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Wintersemester 2006/07 auf Antrag von Prof. Ulrich Eigler und Prof. Manuel Baumbach als Dissertation angenommen.

Umschlagabbildung: Ausschnitt aus: Peter Paul Rubens, Der Sturz des Phaeton (1636). Bildquellennachweis: © akg-images © 2008, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co.KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: ® Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort

Herzlicher Dank gilt zuallererst meinem Doktorvater Professor Ulrich Eigler für die engagierte Förderung des Projektes und seine wertvollen Ratschläge. Viel haben auch die Professoren Manuel Baumbach und Christoph Riedweg beigetragen. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe sei schliesslich allen Herausgebern der >Hypomnemata< gedankt, besonders aber Professor Siegmar Döpp. Das Buch ist meiner lieben Frau Anna Christina gewidmet.

Zürich, im November 2007

Philipp Fondermann

Inhalt

1. Einleitung

11

1.1

>Anschaulichkeit< 1.1.1 Erfolgsgeheimnis >Anschaulichkeit* 1.1.2 Leseerlebnis >Anschaulichkeit< 1.1.3 Text und Textwirkung

11 11 12 18

1.2

>AnschaulichkeitsBild< als Innere Anschauung 1.3.2 Vom Text zum >Bild< 1.3.3 Interaktionsmodell

25 25 26 28

1.4

Ausblick und Aufbau

30

2. Visualisierungsstrategien

33

2.1

Vorbemerkungen

33

2.2

Statik 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.2.6

Kulissen Figurendeskription Körpersprachliche Figurendeskription Nichtobligatorische Deklamatorik Sprechaktbegleitende Handlung >Dramatisierungen< - die Ästhetik der Bühne

37 37 44 48 53 54 56

Dynamik 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7

Vorbemerkungen Diachron-konsekutive Sequenzierung Szenische Frequenz und Blickwechsel Diachron-chaotische Sequenzierung Synchrone Sequenzierung Makro-Sequenzierung Sequenzierungen - Ästhetik der bildenden Kunst

57 57 58 62 65 67 73 81

2.3

8

Inhalt

2.4

Die >Entgrenzung< der Fiktion 2.4.1 Visuelle Figurenperspektive 2.4.2 Imaginierte Präsenz des Rezipienten

2.5

Kreislauf 2.5.1 2.5.1.1 2.5.1.1.1 2.5.1.1.2 2.5.1.1.3 2.5.1.2 2.5.1.2.1 2.5.1.2.2 2.5.1.2.3 2.5.2 2.5.3

2.6

Kumulierung und Synergien

115

2.7

Fazit

118

der Bildlichkeiten Bild-Import - Leerstellen Kunstwissen Populäre Stoffe Populäre Figuren Augusteische Lebenswelt als >Bild-Reservoir< .... Welt-und Kulturwissen Fauna, Flora, Meteorologie - Vergleiche Geographica Sonstige Lebensweltlichkeiten Bild-Export - Aitiologie Der Text als >Motor< im Bildlichkeits-Kreislauf...

3. Sehen und Gesehenwerden in der erzählten Welt

82 82 90 93 93 97 97 101 104 105 105 109 111 113 115

121

3.1

Vorbemerkungen

121

3.2

Licht, Augenlicht und Blickrichtung 3.2.1 fiat lux 3.2.2 Der sehende Mensch 3.2.3 Sehende und Blinde 3.2.4 Sehvermögen und Schöpfungshierarchie

122 122 125 127 130

3.3

Sehen und Interaktion 3.3.1 Das Auge als erotisches Organ 3.3.2 Körperkult und Sexualität 3.3.3 Sehen als Handlungs-Movens

133 133 137 143

3.4

Sehen und Erkenntnis 3.4.1 Sehen ohne Erkenntnis 3.4.2 Erkenntnis ohne Sehen 3.4.3 Pythagoras, der >weise Narr
mimetische Paradigma< der Metamorphosen

189

4.5

Fazit

192

5. Ausblick

195

5.1

Vorbemerkungen

195

5.2

Einflüsse

195

5.3

Vertiefung

199

5.4

Übertrag

199

6. Literatur

201

6.1

Quellen 6.1.1 Metamorphosen 6.1.2 Andere

201 201 201

6.2

Kommentare und Übersetzungen der Metamorphosen

202

6.3

Sekundärliteratur

203

7. Stellenregister

215

1. Einleitung

1.1 > Anschaulichkeit 1.1.1 Erfolgsgeheimnis >Anschaulichkeit< Ovid hat den Mythos auch für spätere Epochen leicht assimilierbar und übertragbar gemacht. So konnte auch in christlicher Zeit und in der modernen Welt ein fester Bilderschatz und so etwas wie eine Weltsprache der Dichtung und Kunst fortleben.'

Die Metamorphosen sind einer der erfolgreichsten Texte der Weltliteratur. Als populärste aller Mythendichtungen in lateinischer Sprache hat vor allem dieser Text die griechisch-römische Sagenwelt von der augusteischen Zeit bis in unsere vermittelt und fasziniert die Menschen seit bald 2000 Jahren. Eduard Fränkel etwa kann unwidersprochen feststellen, die Metamorphosen hätten »der antiken Mythologie ihren unübertroffenen, endgültigen und umfassenden Ausdruck« verliehen und es existiere kein anderes Werk, in dem der Leser den »Götterhimmel der Antike mit gleicher Genauigkeit und Vollständigkeit oder mit vergleichbarer Anmut und Frische dargestellt finden kann«2. Dieser Erfolg ist kein Zufall. Sehr anziehend fur den Fachmann ist beispielsweise die Virtuosität, mit der die rund 250 Einzelsagen der Metamorphosen miteinander verknüpft sind,3 die Kunstfertigkeit, mit der das Werk mehrere literarische Gattungen miteinander verschmilzt 4 , oder der unver1

V. Albrecht, Fortwirken, S. 987f. Fränkel, Dichter, S. 97. Während dies eine durchaus positive Einschätzung des Autors und seines Werkes ist, neigte die Forschung lange zu abwertenden ästhetischen Urteilen über den Dichter. Zur Ovid-Kritik, die heute überwunden scheint, vgl. allgemein Hinds, Generalizing, S. 4ff. Zum >rhetorischen< Charakter Ovids vgl. S. 36, Fn. 21. 3 Zur Montagetechnik R. Schmidt; Guthmüller; Frécaut. Forschungsüberblick: Wheeler, Narrative Dynamics, S. Iff. 4 Effe stellt zutreffend fest, das universale Epos mit seiner Spannweite vom Beginn der Welt bis in die augusteische Zeit sei der Versuch, »mit einer solchen völlig neuen Konzeption die hesiodeisch-mythologische Katalogdichtung mit dem historisch-politischen Epos, die alexandrinischhellenistische Tradition quasi-epischer Kollektiv- und Epylliendichtung mit dem traditionellen Epos homerischer Provenienz zu vermitteln und so die gesamte epische und quasi-epische Überlieferung - samt der hexametrischen Lehrepik - in einem umfassenden >Überepos< aufzuheben.« (S. 47f.) 2

12

Einleitung

gleichlich schöpferische Umgang mit der vorgängigen mythologischen Überlieferung. 5 Das breite Publikum fasziniert der Text durch die Vollständigkeit, mit der er die antike Sagenwelt umfasst, durch seine Phantastik, seinen Humor, seine Erotik. Hauptverantwortlich jedoch für die einzigartige Erfolgsgeschichte des Textes ist, dass die Metamorphosen beim Rezipienten in besonderem Masse eine bildhafte und farbige >innere Anschauung< des Geschilderten erzeugen. Davon zeugt nicht nur die immense Rezeption der >Bibel der MalerAnschaulichkeit< ist als Spezifikum der Metamorphosen seit der Antike in zahlreichen Äusserungen auch explizit erwähnt.8

1.1.2 Leseerlebnis >Anschaulichkeit< Schon Seneca Minor bezeugt dieses einzigartige Lektüre-Erlebnis. In den Naturales Quaestiones setzt er sich mit der Schilderung des diluvium aus dem I. Buch auseinander. Er verteilt dabei Lob und Tadel gleichermassen:

5

Vgl. dazuS. 80, Fn. 144. »Juppiter und Io, Juppiter und Callisto, Juppiter und Europa; Apoll und Daphne, Bacchus und Ariadne, Polyphem und Galatea; Perseus und Andromeda, Meleager und Atalante, Pyramus und Thisbe - wieviele heroisch-galante Bildwerke kommen uns bei diesen Namen in den Sinn, wie viele Gemälde allein von Peter Paul Rubens! [...] Der Kunsthistoriker weiß, daß außer der Bibel kein Literaturdenkmal den bildenden Künstlern so viele Anregungen gegeben hat, daß die OvidIkonographie unerschöpflich ist [...].« (Friedrich, S. 362) Ähnlich v. Albrecht, Verwandlungen, S. 364: »Seit der Renaissance haben die Metamorphosen als Thesaurus der Gelehrsamkeit, Grundtext der Mythologie und Themenschatz für Künstler nicht nur die Literatur, sondern auch die Malerei, Bildhauerei, Teppichweberei und alle musischen Künste erobert [...].« 6

7 Die Metamorphosen sind aufgrund der besonderen Qualität ihrer Darstellung - wie Allen, Ovid and art, S. 339 richtig bemerkt - »ideally suited to serve as raw material for painters.« Zur Ovid-Rezeption in der Kunst vgl. ζ. Β. Allen, Ovid and art; Llewellyn. Epochenspezifischen Zugriffbieten ζ. Β. Reinhardt; Thuillier; Panofsky, Classical Mythology. Episodenspezifische Rezeptionsuntersuchungen existieren in immenser Zahl. Besonders häufig begegnen Phaeton, Philemon und Baucis, Medea, Orpheus, Narcissus, aber auch Europa und Pygmalion. Zu Europa vgl. ζ. B. Bierschenk; Bühler; Hanke. Zu Pygmalion u. a. Annes Brown; Mayer; Blühm. Eine vielbeachtete medien-, bzw. Mediums-spezifische Rezeptionsstudie legte Huber-Rebenich vor. Ähnlich: Henkel. Zur Ovidrezeption allgemein: Hardie, Transformations; Horn; Martindale. Häufig in diesem Zusammenhang genannt sind auch Gombrich; Panofsky, Meaning; Ders., Iconology; Allen, Rediscovery; Wind. 8 Solche >Leseerlebnisse< führen unmittelbarer zur spezifischen Qualität des Werkes, denn wir wissen nicht genau, welche Teile der Metamorphosen-Rezeplion in der bildenden Kunst unmittelbar auf den Text zurückgehen und welche nur mittelbar.

>Anschaulichkeit
Daher ragen wie Inseln heraus die Berge und vermehren die verstreuten Cycladem, wie der begabteste unter den Dichtern anmutig sagte, so wie er auch der Gewalt des Ereignisses entsprechend formulierte: >Ringsum nichts als Wasser, und dieses Wasser kannte keine Küsten«, wenn er nicht dieses glückliche Zusammentreffen von Talent und Stoff mit solchen Kindereien verdorben hätte wie: >Es schwimmt der Wolf unter Schafen, die Wogen fuhren gelbe Löwen. < Es ist schon kühn genug, mit dem Bild des überschwemmten Erdkreises zu provozieren. Er sprach Grosses aus und fing das Bild des riesenhaften Durcheinanders ganz ein, indem er sagte: >Zügellos stürzen über die offenen Felder die Flüsse, [...] und überspült wanken unter Wasser die Türme.< Das wäre grossartig, hätte er sich nur nicht darum gekümmert, was die Schafe und Wölfe treiben. Kann man überhaupt in einer solchen reissenden Flut schwimmen? Wäre nicht vielmehr das gesamte Vieh von eben der Gewalt, von der es weggerissen worden ist, herabgezogen worden? Ihr habt ein Bild empfangen, wie man es empfangen muss, wenn die ganze Welt sich umkehrt und der Himmel auf die Erde stürzt.< W i c h t i g ist in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g der B e g r i f f der imago,

des >Bildes
erfasst
Sightsaw< - die der sinnlichen, oder besser: die des >Sehensin die Fiktion hineinEntgrenzung der Fiktion< S. 82ff. 23 Hardie, Poetics of Illusion, S. 6. Später heisst es zur Vergegenwärtigungsleistung der Metamorphosen im Zusammenhang mit dem vates-Begriff bei Ovid: »Ovid is afflicted with a nostalgia for a primitive world of art in wich the poet or artist was a potent magician, capable of a true feigning, a time when the artist was capable of a >presentification Anschaulichkeit

17

Die Vielzahl von Stimmen, die in der »Anschaulichkeit ein Spezifikum der Metamorphosen sehen und während der Rezeption des Textes den Eindruck hatten, vor ihrem inneren Auge habe sich ein Bild, eine Skulptur oder ein Film konkretisiert, ja sich geradezu - wie weiland Goethe - in die Fiktion hineingezogen fühlten, bewog Edward J. Kenney schon zu Beginn der 70'er Jahre zu der Feststellung: »No writer on the Metamorphoses has failed to pay tribute to Ovid's powers of description.«35 Dass Narration nach >Anschaulichkeit< strebt, ist freilich nichts Neues. Von Beginn an inkludierten antike Texte mit Kunstwerks- und Gebäudeschilderungen sgn. έκφράσεις 36 und bemühten sich auch jenseits dieser epischen Konvention um Visualisierung der erzählten Welt. Stets war dabei die in der Funktionsweise des >Zeichensystems Sprache< verankerte Verbindung von Wort und Bild, bzw. von ars und natura Gegenstand auch theoretischer Diskurse zur μίμησις, wie sie von Piaton oder Aristoteles überliefert sind. Die Metamorphosen sind also nicht der erste Text, der solch ein visuell geprägtes Rezeptionserlebnis bewusst erzeugt.37 Jedoch stimulieren die Metamorphosen die visuelle Imagination ihres Publikums in quantitativ und qualitativ ganz einzigartigem Masse: Das vermögen antike, nachantike und moderne Leser in ihren entsprechenden Äusserungen - eine Konstante der Metamorphosen-Rezeption seit der Antike - sowie nicht zuletzt eine unüberschaubare Masse von Werken der bildenden Kunst, die sich von Ovidischer Mythendichtung inspiriert zeigen, nahezu empirisch zu belegen.38

34 In diesem Sinne ζ. B. Hinds, Landscape, S. 137; Friedrich, S. 364; Diller, S. 333; Kraus, S. 115; Frankel, Dichter, S. 93; Bernbeck, S. 91 u. 93; Herter, S. 50; Büchner, S. 387. 35 Kenney, Style, S. 140. 36 Vgl. dazu S. 34f. 37 Man denke fur die lateinische Literatur bspw. an Livius (vgl. Steinmetz), Vergil (zur mimischem Anmutung von Teilen der Aeneis vgl. S. 79, Fn. 141 a. E. sowie Mench.) oder Tacitus. Bei letzterem kann man sich - ähnlich wie im Falle der Metamorphosen - auf eine Sentenz des französischen Dramatikers Racine berufen, der gesagt haben soll, Tacitus sei >der grösste Maler der Antike< gewesen, auf ähnlich lautende Äusserungen von Diderot und anderen Schaffenden sowie auf einige Stimmen der Forschung (vgl. Rademacher, S. 6ff. u. 45). Zu den Ursachen der taciteischen >Bildhaftigkeit< u. a.: Rademacher; Hommel. Insgesamt erweist sich jedoch dieser Strang der Tacitus-Forschung aus verschiedenen Gründen als nur begrenzt hilfreich für vorliegende Untersuchungen. Sowohl der zugrundegelegte >BildAnschaulichkeit< an anderem Orte fort: im Text selbst. Man verlegte sich darauf, zu ergründen, welche technischem Möglichkeiten der Dichtung, bzw. der Sprache zur Verfugung stehen, um >Anschaulichkeit< aus sich selbst heraus zu erzeugen, und allmählich verbreitete sich die Erkenntnis, dass das Geheimnis der >Anschaulichkeit< der Metamorphosen in Text und Sprache selbst liegt, nicht jenseits davon. So begann man dem Autor und seinem Text, nach dessen Vorlagen man im Rahmen des beliebten >source huntingvor Augen< treten zu lassen. Häufig wurde das Geheimnis der vielbeschworenen >Anschaulichkeit< der Metamorphosen in der Beschränkung auf die Abschilderung nur der Äusserlichkeit der jeweiligen Gestalt oder Handlung bestimmt. Im Falle der berühmten Allegorien konnte etwa Joseph Solodow überzeugend nachweisen, dass deren Gestalten deshalb so anschaulich hervortreten, weil ihre Erscheinung unter ausschliesslicher Erfassung ihrer Oberfläche beschrieben ist: »The poet, in his reliance of surfaces alone [...] is not unlike a painter.«53

49

Ebd., S. 52. Vgl. Glenn, S. ix. 51 Das Aufspüren vermeintlicher Ovidischer Arbeitsvorlagen war lange ein Hauptanliegen der Forschung. Je mehr man jedoch über frühere Bearbeitungen wusste, desto deutlicher wurde auch, wie dürftig und skizzenhaft diese im Vergleich zu den Ovidischen Bearbeitungen waren (vgl. dazu S. 80, Fn. 144.). Inzwischen ist Quellenforschung immer noch wichtig, hilft aber die Ovidische Originalität besser zu begreifen: »[I]t is«, so Glenn, »important to know Ovid's sources, because then one can compare Ovid's renditions with them and better determine his meaning, artistry, and originality«. (S. ix.) 50

52 Der Sonnenpalast in II Iff., Pallas" Webarbeit in VI 70ff., Arachnes Webarbeit in VI 103ff. und die Schale des Aeneas in XIII 685ff. 53 Solodow, S. 202.

>AnschaulichkeitsBlick< des Lesers durch den Gang der Beschreibung gezielt gefuhrt: »One can readily visualize it as a movie, filmed by a single camera without cutting.«54 Dazu passt die Betrachtung Michael von Albrechts, der einige Jahre später bezogen auf die Verwandlungen bemerkte, zuweilen scheine der Text »Möglichkeiten vorwegzunehmen, die erst der Film visuell realisieren wird.«55 Nicht wenige betonen ferner die Detailversessenheit Ovidischer Schilderung. Dazu gehört Lancelot P. Wilkinson, der sagt, Ovids Erzählerqualitäten bestünden einerseits in »economy and consequent swiftness«, aber mehr noch in seinem »eye for significant details, the quality we associate with >good reportages« 56 Dadurch entstehe der Eindruck der »vividness«57, der Lebendigkeit der Schilderung.58 Ebenso verlebendigend wirkt nach von Albrecht in Met. IX 523-525 der Hinweis des Textes, die Byblis habe während der Suche nach den rechten Worten ihr Schreibtäfelchen bald aufgenommen, bald wieder weggelegt.59 Ähnlich Christopher Allen, der nach den Gründen für die grosse Wirkung der Ovidischen Mythographie auf die bildende Kunst fragt. Ovid, so Allen, »includes every detail that might help the reader to visualize the events he describes«60. Hans Diller erkennt entsprechend in der Schilderung der Allegoresen des Gerüchts, des Neids, des Hungers und des Schlafes »eine Ausführlichkeit, wie sie vor ihm [Ovid] nicht da war.«61 Das >ausdrucksstarke< Detail ist es also nach Wilkinson u. a., das die Ovidische Schilderung auszeichnet. Karl Galinsky zeigt ebenfalls an einer Allegorie, nämlich am Beispiel der Hecuba in Met. XIII 561-575, dass gerade hier das >abscheuliche< Detail grossen Effekt erzielt, und belegt das mit dem Termnius der »visuellen Überdeutlichkeitc »Her [Hekuba] last action as a human being still is described with the sort of visual over-

54

Ebd., S. 201. V. Albrecht, Geschichte, S. 637. Zur filmischen Anmutung mancher Passagen vgl. auch Kenney, Style, S. 141 und Viarre, S. 119. 56 Wilkinson, Ovid, S. 169. In gleicher Terminologie spricht Higham, S. 40 von Ovids »eye for significant detail«. 57 Wilkinson, Ovid, S. 169. 58 Als Beispiel ist eine Passage aus dem XV. Buch genannt, die von den versunkenen Städten Heiice und Buris berichtet, sowie der junge Ikarus aus Buch VIII, der seinem Vater beim Verfertigen der Flügelapparatur zusieht, dabei nach einer Flaumfeder greift und das noch weiche Wachs zu formen versucht. In ersterer Passage (XV 293ff.), so Wilkinson, »it is the word >sloping< (inclinata), that makes the picture vivid; peering with the sailor into the depths, we see the shapes in refracted light.« (S. 169), zu Icarus (bes. VIII 195ff) heisst es (ebd.): »How delightfully true to life is the description of young Icarus watching his father make the wings.« 55

59 60 61

Vgl. v. Albrecht, Geschichte, S. 637. Allen, Ovid andari, S. 339. Diller, S. 336.

22

Einleitung

explicitness that is typical for Ovid«62. Neben dem ausdrucksstarken und dem abscheulichen Detail ist es auch das >originelle< Detail, dem man vereinzelt die Wirkung des Textes zuschreibt. Ernst J. Bernbeck etwa weist in seiner Monographie darauf hin, der Reiz Ovids bestehe in der Hinzufugung origineller, von der gewöhnlichen Vorstellung abweichender Einzelzüge, die beim Rezipienten Aufmerken, Befremden und Amüsement auslösten.63 Über die Beschränkung auf die Oberfläche des Geschehens, der Blicklenkung, der Aufsuchung des ausdrucksstarken, abscheulichen und originellen Details hinaus, die im Mikrobereich der Erzählung als konstituierend für den Stil der Metamorphosen und deren >Anschaulichkeit< herausgearbeitet worden waren, untersuchte die Forschung ebenso die Frage, wie diese Bilder in den Erzählfluss eingebettet sind. Hans Diller kam auf diesem Gebiet in einer einflussreichen Arbeit aus den 30'er Jahren im Zuge eines Vergleichs der Schlachtenszenen bei Homer und Ovid zu einem interessanten Ergebnis.64 Während bei Homer die Auflösung der Schlacht in Einzelkämpfe als eine Strategie zur Bewältigung der Massen anzusehen sei, in der jede Auseinandersetzung einen Progress der Handlung bewirke und damit in der Teleologie der Erzählung zweckmässig sei, präpariere auch Ovid gern eine einzelne Begegnung aus einer unübersichtlichen Szenerie heraus. Nur dienten seine Einzelkämpfe nicht als funktionale Glieder einer zielorientierten Gesamthandlung, sondern als »isolierte Szenen, sei es in ihrer figürlichen Plastik [...], oder sei es um der Pointen willen, die sich an die einzelnen Kämpfer oder die besondere Art ihres Todes knüpfen lassen.«65 In Ausweitung dieser Beobachtungen auch auf andere Teile des Textes kam Diller zu dem Schluss: Dies Beispielhafte, Repräsentative ist nun auch in jenem Bereich der ovidischen Dichtung mächtig, der nicht der Erregung des Verstandes, sondern der sinnlichen Phantasie gilt. Auch hier treten die Menschen nicht in einmaligen, aus der Handlung geborenen Situationen auf, sondern sie stehen oder bewegen sich in repräsentativen, typischen Handlungen, Gruppen und Figuren.66

Wenn darüberhinaus, so Diller weiter, die umgebende Szenerie fur ein Geschehnis beschrieben sei, dann in einer immer gleichbleibenden Technik der Beschreibung, die mit >est locus< oder ähnlich einsetzt und gewissermaßen die Szenerie für die Handlung aufbaut. In eine

62

Galinsky, Metamorphoses, S. 148. Ähnlich auch Bernbeck, S. 91, der u. a. bei der Betrachtung von IV 48Iff., der Tisiphone, die den Sohn des Aeolus mit Wahnsinn schlägt, die fesselnde und zugleich abstossende Wirkung der Details in dieser Szene hervorhebt. 63 Vgl. Bernbeck, S.91. 64 Diller. 65 Ebd., S. 333. 66 Ebd., S. 335.

>AnschaulichkeitsGuckkastenSettingsUmstülpung< des bukolischen Idylls in sein Gegenteil sei einerseits eine persiflierende Auseinandersetzung mit literarischen Konventionen, aber auch eine Zeitkritik: »Ovid seems to have caught, beneath the polished surface of his rhetorical grace and the coruscation of his mythical imagination, a sense of the helplessness and vulnerability of the individual in the vast Roman imperium.« (S. 93) Zum Thema Landschaft als einem >verlorenen Paradies< im vielfach gleichen Sinn vgl. auch Richlin und Hinds, Landscape, der von den Metamorphosen sagt, sie bildeten eine »significant intervention in the history of landscape« (S. 122) und zusammenfasst: »Briefly put, Ovid's contribution to this history is to appropriate and renew the highly rhetorical and idealized tradition of landscape description as he inherits it, to enhance its selfconciousness, to mythologize its origins and accumulated generic associations, to extend the kinds of action wich it stages, to exploit its potential for interplay between verbal and visual imagination, and to add a specifically cosmological accent by describing a metamorphic world in wich the setting may always be more than just a setting.« (S. 122) Untersuchungen wie diese erweisen in der Tat, dass die Landschaften der Metamorphosen »more than just a setting« sind. Dem steht ihre sorgfaltige Visualisierung als Kulisse nicht entgegen. 27

Gebäude und ihr Innenraum: II 760ff.; IV 753ff.; Vili I4ff.; 562ff.; XII 155f.; 638f.; XIV 8ff.; 254ff.; XV 671f. Wald: I 568ff; II 417f.; 455f.; III 28ff.; VI 520f.; VII 74f.; Vili 329f.; X 686ff.; XI 234. Grosse, freie Plätze: III 708ff.; VI 218ff.; VII lOOff. Berg oder Hügel: I 314ff.; III 143ff.; IV 525ff.; X 86ff.; XI 728ff.; XIII 778f.; 910f.; XV 296ff. Tal: III 155ff.; VIII 334ff. Grotte: VII 409f.; X 691f.; XI 235ff.; 592ff.; XII 21 Iff. Quelle, Gewässer, Meer: III 407ff.; IV 297ff.; V 385ff.; 409ff.; 585ff.; VI 343ff.; Vili 624ff.; XI 229ff.; 352ff.; XIII 924ff. Baum: IV 88ff.; VIII 743ff.; X 554ff.; 644ff. Unterwelt: IV 436ff. Himmel, Sternbild, Wetter: I 168ff.; II 195ff.; VII 185ff.; X 446ff.; XI 520ff. Sonstiges: IV 632ff.; VIII 788f.; XII 39f. 28

Zu dem Phänomen mit Beispielen aus anderen Texten knapp z. B. Hinds, Landscape, S.

126f. 29

II 760ff.

40

Visualisierungsstrategien

Sofort strebt Pallas zum Haus der Invidia, das von schwärzlicher Jauche trieft. Es liegt verborgen im tiefsten Grund eines Tals, ohne Sonnenschein, von keinem Windhauch je berührt, verfallen und ganz erfüllt von starrendem Frost, ein Haus, das niemals vom Feuer warm wird und stets in Nebel gehüllt ist. Hier angelangt, bleibt die im Kampf fürchterliche Heldenjungfrau draussen vor der Tür stehen - denn unter dieses Dach zu treten, verbietet ihr das göttliche Gesetz - und pocht mit der Spitze ihres Speers an die Pforte.

Man beachte hier besonders den geradezu filmischen Effekt, der dadurch entsteht, dass nach der Evozierung der Umgebung des Hauses eine Art Zoom auf die sich der Schwelle nähernde und dann klopfende Pallas vorgenommen ist. Die Substantive domus, valli bus, virago, postes und extrema cuspide fokussieren den Rezipienten kontinuierlich auf immer kleine Ausschnitte aus der anfangs entworfenen Landschaft. Ähnlich mutet VII lOOff. an. Hier muss Jason auf dem Marsfeld unter den Augen tausender Zuschauer den furchtbaren Stieren gegenübertreten: postera deputerai stellas aurora micantes: conveniuntpopuli sacrum Mavortis in arvum consistuntque iugis; medio rex ipse resedit agmine pupureus sceptroque insignis eburno, ecce adamanteis Vulcanum naribus efflant aeripedes lauri, iactaeque vaporibus herbae ardent;30 Die Morgenröte des folgenden Tages hatte die blinkenden Sterne vertrieben, da sammeln sich die Völker auf dem geheiligten Marsfeld und lassen sich auf den Anhöhen nieder. Inmitten der Menge nahm der König selbst Platz, kenntlich am Purpurgewand und dem elfenbeinernen Szepter. Sieh: Feuer schnauben aus stählernen Nüstern die mit ihren erzenen Hufen scharrenden Stiere; vom Gluthauch berührt, verglimmt das Gras;

Liegen mit obigen Stellen Kulissenerrichtungen vor, die innerhalb einer Mikrostruktur, also einer Episode, bzw. Teilepisode funktional sind, kann übrigens die Weltschöpfung in I 5ff. als eine Schauplatzschilderung gelten, die für die ganze erzählte Welt von makrostruktureller Bedeutung ist. Denn hier wird die Gesamtheit der Orte verfertigt, an denen sich das Geschehen der erzählten Welt vollzieht.31 In zwei grossen Bewegungen, in der von der Unform zur Form und der vom Dunkel zum Licht, stellt ein ungenannter

30 Das ecce versetzt den Rezipienten hier mitten unter die Zuschauer. Zur suggerierten Augenzeugenschaft des Rezipienten vgl. S. 90ff. 31 Zur Kosmogonie der Metamorphosen Myers, Cosmogony and Aetiology. Parallelstellen bieten u. a. Maurach; Börner, I-III, S. 15ff.; Stevens mit ergiebigem Kommentar (47ff.). Zu Abhängigkeit und Eigenständigkeit der Passage s. McKim; Lämmli; DeLacy. Forschungsüberblick: Spahlinger, S. 216ff.

Statik

41

Demiurg den Kosmos der erzählten Welt ordnend her.32 Alle Naturorte, die später in ihrer Mikrostruktur eine Kulisse abgeben, sind hier im wesentlichen bereits genannt. Denn der Schöpfergott, so erfahren wir, erzeugt nach der Lokation der See, der Erde und des Himmels et fontes et stagna inmensa lacusque fluminaque obliquis cinxit declivia ripis [...]. iussit et extendí campos, subsidere valles, fronde tegi silvas, lapidosos surgere montes33 [Er schuf hinzu] Quellen, riesige Teiche und Seen; die Flüsse säumte er mit teils steilen Ufern [...]. Er befahl den Feldern, sich zu erstrecken, den Tälern, einzusinken, den Wäldern, sich zu belauben, den felsigen Bergen, sich zu erheben.

Ist die gewöhnliche Kulissenerrichtung in Funktion und Wirkung mit den Kulissen der Theaterbühne vergleichbar, und bleibt man in diesem Vergleich, ist mit der Weltschöpfung die grösste, ja die grosse, rahmende Bühne der Metamorphosen Schritt für Schritt aufgerichtet, bis zum Schluss um eine moderne Vorstellung in den Text hineinzuprojizieren - die >Bühnenlampen< angehen: vix ita limitibus dissaepserat omnia certis, cum, quae pressa diu fuerant caligine caeca, sidera coeperunt toto effervescere cáelo;34

[Kaum hatte er der Welt diese klare Ordnung gegeben, als schliesslich die

Sterne, die solange in Finsternis verborgen gewesen waren, nach und nach überall am Himmel aufzuleuchten begannen.]

Dass das Publikum bei der Verfertigung des Schauplatzes der erzählten Welt zugegen ist und gleichsam an der Herstellung der Fiktion teilnehmen kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Ein Einsetzen der Handlung bei bereits vollendetem Ort ist in der Narration zu allen Zeiten das Übliche gewesen und noch heute verbirgt im Theater der Vorhang den Bühnenumbau. Anders hier: ähnlich wie in Bertolt Brechts >epischem Theaten, das dem Publikum die illusionserzeugenden Bühnenmechanismen zeigte, um der mimetisch-dramatischen Kunst ihren Täuschungscharakter zu nehmen, legen die Metamorphosen gleich zu Beginn Wert auf Transparenz. Zunächst decouvriert sich die Erzählung der Metamorphosen dadurch schon im frühstmöglichen Moment als Erzählung und entlarvt die erzählte Welt ab initio als Fiktion: Im XV. und letzten Buch wird die Rede des Pythago-

32 E. A. Schmidt, Anthropologie stellt für den deus creator zu Recht fest: »Kein >creator ex nihiloEs läuten die Glockem, das meint: sie werden geläutet, und seien die Stuben auch noch so leer. - Wer also läutet die Glocken Roms? - Der Geist der Erzählung. - Kann der denn überall sein, hic et ubique, zum Beispiel zugleich auf dem Turme von Sankt Georg in Velabro und droben in Santa Sabina, die Säulen hütet vom greulichen Tempel der Diana? An hundert weihlichen Orten auf einmal? Allerdings, das vermag er. Er ist luftig, körperlos, allgegenwärtig, nicht unterworfen dem Unterschiede von Hier und Dort. Er ist es, der spricht: >Alle Glocken läutetenSettings< beginnt. Insgesamt jedoch übertreffen die ovidischen Kulissenerrichtungen die homerischen, wenn schon nicht qualitativ, so doch quantitativ. Zum Verhältnis der Metamorphosen zu den Visualisierungs-Standards der griechischen Literatur vgl. S. 69, Fn. 112; S. 72, Fn. 117; S. 119 a. E. 42 43 44

Vgl. H. Lausberg, § 810. Vgl. ebd., §819. Vgl. ebd.

44

Visualisierungsstrategien

formelhaftes est locus u. ä.45 Doch kommt in den Metamorphosen die Schauplatzschilderang besonders häufig, nämlich über 60mal,46 und unter Entfaltung besonders starker Wirkung zum Einsatz, vor allem da, wo sich andere Tugenden ovidischer Visualisierungskunst mit dieser Technik verbinden, etwa die Figuren-Deskription, gleichfalls kein unübliches poetisches Verfahren.47

2.2.2 Figurendeskription Der mythologische Kosmos der Metamorphosen gibt zweifellos mit seinen märchenhaften und phantastischen Zauberwesen,48 all den Göttern und Halbgöttern, Naturgeistern, Faunen, Nymphen, Satyrn, Allegoresen und anderen phantastischen Abnormitäten49 einen besonders lohnenden Gegenstand für descriptio und εκφρασις ab.50 Solche Erscheinungen sind daher stets mit besonderer Sorgfalt visualisiert, das heisst: beschrieben. In der Regel erfasst ein Exkurs die genaue Körperbildung, Grösse, Form und Farbe51 unter häufiger Aufsuchung des rührenden, charakteristischen, originellen oder abscheulichen Details.52 45 Vgl. ζ. Β. Ο v. Fast. 2, 491; 4, 337; Pont. 3 , 2 , 4 5 ; Horn. //. 2 , 8 1 1 ; 11, 711; 722; 13, 32; Od. 3, 293; Verg. Aen. 1, 159; 530; 3, 163; 7, 563. 46 Stellensammlung S. 39, Fn. 27. 47 Die häufig detailversessene Abschilderung einer Person oder eines Gegenstandes ist die descriptio (zur descriptio allgemein vgl. H. Lausberg, § 810, zur descriptio von Personen vgl. ebd., § 818), bei griechischen Theoretikern auch der χ α ρ α κ τ η ρ ι σ μ ό ς (vgl. ebd., § 818). 48 Der Begriff des >Phantastischen< ist übrigens von der Literaturwissenschaft verschieden besetzt worden. Zum Terminus vgl. Scheffel; zum >Phantastischen< in der narrativen Literatur der Antike und im Mythos vgl. Baumbach; Kloss. 49 Wie bunt sich die Bevölkerung der erzählten Welt zusammensetzt, bekennt sie selbst in einer Äusserung Iuppiters in 1 192ff.: sunt mihi semidei, sunt, rustica numina, Nymphae Faunique Satyrique et monticolae Silvani, quos, quoniam caeli nondum dignamur honore, quas dedimus certe terras habitare sinamus. Zur erzählten Welt als einer >monde magique< vgl. etwa Viarre, S. 197ff., v. Albrecht, Verwandlungen, S. 286 oder Fantham, Metamorphoses im Kapitel »Fantasy, the Fabulous and the Miraculous Metamorphoses of Nature.« (S. 105ff.), wo es heisst: »Ancient myth and modern science fiction have in common their special ingredients of the fabulous, the miraculous, and the monstrous.« (S. 105) 50 Neben Lebewesen sind vereinzelt auch Gebäude, Fahrzeuge oder Objekte der bildenden Kunst geschildert, z. B. ein verfallener Tempel (I 373f.); der Sonnenpalast (II Iff.); das Labyrinth des Minotaurus (VIII 160ff.); Behausung des Schlafes (XI 592ff.); Behausung der Fama (XII 39ff.); der Sonnenwagen (II 107ff.); ein Horn (I 335ff.); ein Pfeil (I 468ff.); Webstühle (VI 53ff.); die Flügel des Daedalus (VIII 189ff.); die Webarbeit der Pallas (VI 70ff.); die Webarbeit der Arachne (VI 103ff.); die geschmückte Statue des Pygmalion (X 260ff.); der Mischkrug des Aeneas (XIII 680ff.). 51 Farben spielen fur das Kunsterlebnis übrigens eine gewisse Rolle. MacCrea konnte in einer lange singular gebliebenen Studie nachweisen, dass die erzählten Welten Ovids bevorzugt in Farben aus dem roten, bzw. orangenen Spektrum leuchten, gefolgt von Gelb, Grün/Blau, Cyan und Violett. Eine ähnliche, den Farb-Vergleich zwischen Vergil und Ovid suchende Arbeit hatte zuvor

45

Statik E i n e d e r e r s t e n descriptiones

d e r Metamorphosen,

die das

Wunderbare

z u m O b j e k t h a b e n , ist d i e B e s c h r e i b u n g d e s S ü d w i n d e s , der i m R a h m e n d e s diluvium

aufsteigt: protinus

Aeoliis

et quaecumque

Aquilonem fugant

emittitque

Notum:

terribilem

picea

madidis tectus

barba

gravis

nimbis,

fronte

sedent

nebulae,

claudit

inducías

in

antris

flamina

Notus

caligine

nubes,

evolat

alis

vultum:

canis fluii unda

capillis, sinusque;53

rorantpennaeque

Sofort v e r s c h l i e s s t er den N o r d w i n d in d e n a e o l i s c h e n H ö h l e n und alle W i n d e , die h e r a u f z i e h e n d e W o l k e n vertreiben könnten; stattdessen entlässt er d e n S ü d w i n d : a u f f e u c h t e n S c h w i n g e n fliegt N o t u s auf, d a s s c h r e c k l i c h e Antlitz in t i e f s c h w a r z e s G e w ö l k gehüllt: der Bart trieft s c h w e r v o n R e g e n , W a s s e r fliesst aus d e m w e i s s e n Haar, N e b e l u m w o g t seine Stirn, tropfensprühend die Federn und das Kleid. D i e Wirkung einer solchen Passage auf Vorstellungskraft und G e m ü t

des

antiken Publikums, das wir uns sicher empfanglicher und gegenüber

sol-

chen

Reizen

weniger

abgestumpft

als

das

unsrige

denken

müssen,

ist

s c h w e r a u s z u r e c h n e n : a m e h e s t e n d ü r f t e - u n d d a s ist n u r n a c h v o l l z i e h e n d zu erschliessen - Staunen die Reaktion g e w e s e n sein. Schrecken, Schauder und Ekel h i n g e g e n erregt auch heute n o c h die V i sualisierung des Hungers i m VIII. B u c h unter Einschluss Scheusslichkeiten.54

Dort

erblickt

zunächst

von

ferne

ausgesuchtester

eine

durch

Ceres

gesandte, ländliche Oreade die allegorische Gestalt:

festgestellt: »Both poets in their use of coulours idealise the world about them. But in Ovid, endowed with a far more sensuos nature than that of Vergil, the contrast between the real and its >counterfeit presentment is more sharply defined, the colours are more vivid and glowing.« (Price, S. 193f.) V. Albrecht, Verwandlungen, S. 307 bemerkt: »Hinzu kommt bei Ovid ein italischer Sinn für Farbe und Bewegung - Züge, die sein Schaffen >barock< erscheinen lassen können.« Vgl. zum Thema auch Viarre, S. 67ff. Es wäre sicher eine reizvolle Aufgabe, sich den Farbigkeiten der ovidischen Epik erneut zuzuwenden, und zwar mit besonderem Augenmerk auf der Frage, inwieweit diese etwa einem Zeitgeschmack entsprechen, wie er sich in gleicher Weise für die dem Text zeitgenössische bildende Kunst feststellen liesse. Im Sinne eines sich in verschiedenen Kunstgattungen zugleich ausdrückenden Zeitgeschmacks André, S. 399: »[LJ'évolution du vocabulaire chromatique latin est parallèle à celle du goût des Romains pour la couleur. Il se développe dans la dernière moitié du premier siècle avant Jésus-Christ sous la quadruple influence de la technique, de la culture artistique, de l'alexandrinisme et de la poésie.« 52 Der gezielte Einsatz der Detaillierung wurde in der Forschung bereits mehrfach festgestellt. Vgl. dazu S. 2 I f f . 53 1 262ff. 54 Zu ähnlichen Wirkungen der Allegorie der invidia Otis, S. 120: »[B]ut the grisly invocation of Envy by Minerva and Envy's horrible infection of Aglauros [...] are meant to excite a kind of melodramatic frisson in the reader. Ovid was here indebted to Virgilian figures like Fama and, especially, Allecto, but he greatly accentuated the visual and plastic detail«. Zur in den Metamorphosen vorgeführten Wirkung anschaulicher Mythendichtung vgl. S. 166ff.

46

Visualisierungsstrategien quaesitamque Famem lapidoso vidit in agro unguibus et raras vellentem dentibus herbas. hirtus erat crinis, cava lumina, pallor in ore, labra incana situ, scabrae rubigine fauces, dura cutis, per quam spectari viscera possent; ossa sub incurvis exstabant arida lumbis, ventris erat pro ventre locus; pendere putares pectus et a Spinae tantummodo crate teneri; auxerat artículos macies, genuumque tumebat orbis, et inmodicoprodibant tubere tali.is

Da sah sie den Hunger, den sie gesucht, auf steinigem Acker mit Fingernägeln und Zähnen schütteres Kraut ausgraben. Strohig war das Haar, eingesunken die Augen, das Antlitz bleich, die Lippen aufgesprungen vom Durst, rauh und gerötet die Kehle, spröde die Haut, durch die man die Eingeweide hätte sehen können; Spitz ragten die Knochen aus dem hageren Leib, und wo sonst der Magen ist, fand sich bloss eine Grube; Man hätte meinen können, der schlaff hängende Leib werde nur noch vom grätigen Rückgrat aufrecht gehalten. Die Gelenke wirkten durch die Magerkeit geschwollen, unmässig gross die Kugeln der Kniegelenke, und knotig standen hervor die Knöchel. Glaubt man Aristoteles, der in seiner Poetik betonte, gern sehe man in der Kunst die Nachbildung v o n Dingen, die man in der Wirklichkeit nur ungern erblicke, 56 mischte sich hier vermutlich in paradoxer W e i s e , w i e es heute noch i m Horror-Genre ist, Entsetzen mit e i n e m seltsamen, w e i l widersinnig e n Behagen. Besondere Schönheit fuhrt dem Publikum die Erscheinung des Cyllarus vor Augen, der während der Schlacht z w i s c h e n Centauren und Lapithen gezeigt wird: nec te pugnantem tua, CyIlare, forma redemit, si modo naturae formant concedimus tili, barba erat incipiens, barbae color aureus, aurea ex umeris medios coma dependebat in armos. gratus in ore vigor, cervix umerique magnusque pectoraque artificum laudatis próxima signis, et quacumque vir est; nec equi mendosa sub ilio deteriorque viro facies: da colla caputque,

55

Vili 799ff. Hollis ad loc. zur Allegorie in der griechischen Literatur und bei den Römern: »Personifications were also quite familiar to the Romans. Many abstractions were officially defied and had temples in the city (Cicero, D.N.D. ii. 79); Besides Mens, Fides, Virtus, and Concordia mentioned there, even Febris had altars on the Palantine and Esquilin (Cicero, De Legibus ii. 28). [...] Ovid's description of Hunger is close to that of Invidia at ii. 760ff. Bearing in mind also the pictures of Somnus (xi. 592ff.) and Fama (xii. 39ff.), we can say that Ovid outdoes his fellow poets in detail and vividness [...].« 56 α γ α ρ α ύ τ ά λυπηρώς όρώμεν, τούτων τ ά ς εικόνας τάς μ ά λ ι σ τ α ήκριβωμένας χαίρομεν ι}εωροΰντες, οίον θ η ρ ί ω ν τε μορφάς των ατιμότατων καί νεκρών. (Aristot. Poet. 1448b)

47

Statik Castore

dignus

pectora

celsa

candida

cauda

erit; sic tergum toris. totus pice

sessile, nigrior

tarnen, color est quoque

sic

sunt

atra, cruribus

albus.51

U n d nicht rettete dich, Cyllarus, d e i n e S c h ö n h e i t aus der Schlacht, w e n n wir bei einer s o l c h e n Erscheinung v o n S c h ö n h e i t sprechen w o l l e n . Ein Bart b e g a n n gerade zu spriessen, g o l d e n seine Farbe, g o l d e n e s Haar floss v o n den Schultern auf die Oberarm e herab. A n m u t lag w i e auch Tapferkeit in s e i n e n Z ü g e n , N a c k e n , Schultern, A r m e und Brust g e m a h n t e n an die g e p r i e s e n e n Statuen der Künstler, w i e auch sonst alles, w a s an i h m m e n s c h e n ä h n l i c h war; K e i n e s w e g s w e n i g e r v o l l k o m m e n w a r der Pferdeleib unter alldem und nicht geringer als seine m e n s c h l i c h e Gestalt: F ü g e n o c h H a l s und K o p f e i n e s Pferdes dazu, und er wird e i n e s Castors würdig sein: S o sehr lädt der R ü c k e n z u m Sitzen ein, s o h o c h w ö l b t sich die m u s k u l ö s e Brust. A m g a n z e n Leib ist er dunkler als s c h w a r z e s Pech, hell leuchtet d e n n o c h der S c h w e i f , und auch die U n terschenkel sind w e i s s .

In diesem Fall darf man Entzücken als Effekt vermuten. Mühelos Hessen sich zahlreiche andere Beispiele für solch effektvolle Schilderungen beibringen.58 Eines haben sie, ungeachtet methodischer Variationen wie der wechselnden Erzählperspektivik in der Deskription,59 alle gemeinsam: Wirkziel dieses Verfahrens ist Augenlust im Sinne einer >l'art

57 XII 393ff. Zu den artìficum laudata signa von Castor und Pollux Hill, IX-XII, S. 214: »Both brothers were frequently represented on or with horses; [...] It is tempting to imagine that here Ovid is thinking of the statues of the brothers wich are widly supposed to have stood by the Lacus Iuturnae (cf. Fasti 1.706-8) [...].« 58 Vgl. ζ. Β. Iuppiter (I 177ff.); Daphne (I 497ff. u. 525ff.); Sol (II 23f.); Callisto (II 41 Iff.); Invidia (II 775ff.); Iuppiter als weisser Stier (II 850ff.); ein Drachen (III 32ff.); Cadmus (III 52ff.); Narcissus (III 419ff.); Bacchus (III 666ff.); Erinys (IV 490ff.); Athis (V 47ff.); der abgehäutete Marsyas (VI 387ff.); der Drache, der das Vlies bewacht (VII 149ff.); der Calydonische Eber (VIII 284ff.); eine Jägerin (VIII 317ff.); Fames (VIII 799ff.); der heilige Hirsch (X 109ff.); Atalanta (X 59Iff.); ein Wolf (XI 365ff.); der schlafende Aphidas (XII 316ff.); Dorylas (XII 380ff.); Cyllarus (XII 393ff.); Hylonome (XII 405ff.); Latreus (XII 462ff.); Scylla (XIII 730ff.); Glaucus (XIII 960ff.); Allegoresen der Jahreszeiten (XV 200ff.); ein wassergeborener Stier (XV 51 Iff.); die Riesenschlange (XV 669ff.); Der verwandelte Lycaeon (I 237ff.); Neptun (I 330ff.); Saturnia im Wagen (II 531 f.); Ocyroe (II 635f.); Merkur (II 733ff.); die getarnte Iuno (III 275ff.); Mars und Venus (IV 182 ff.); Clyde (IV 266ff.); Unterweltsbewohner (IV 450ff.); Perseus (IV 665ff.); Niobe (VI 165ff.); Marsyas (VI 387ff.); Procne als Bacchantin (VI 591ff.); König von Colchis (VII 102f.); die Stiere (VII 104ff.); Medea (VII 182f.); Cephalus (VII 496ff.); Minos (VIII 25ff.); Ägyptische Gottheiten (IX 687ff.); Tmolus (XI 157ff.); Phoebus (XI 165ff.); Morpheus in Gestalt des Ceyx (XI 652ff.); Polyphem I (XIII 842ff.); Glaucus (XIII 912ff.); Polyphem II (XIV 198ff.); Picus (XIV 342ff.); ein Reiher (XIV 576ff.); Vertumnus (XIV 654ff.). 59 Die descriptiones der Metamorphosen arbeiten mit variierenden erzählerischen Perspektiven. Am häufigsten ist die Mitteilung durch den Haupt-Erzähler, verbreitet aber auch die Delegierung der Aufgabe an einen der vielen Binnenerzähler des Textes. Die originellste Variation findet sich sicher mit XIII 840ff.: Dort schildert Polyphem sich selbst in Anrede an Galathea in Erinnerung an sein Spiegelbild im Wasser. Stets jedoch funktioniert die Technik ungeachtet der wechselnden Perspektive und erreicht ihren Zweck zuverlässig. Denn die erzählte Welt und ihre Objekte bleiben stets diesselben: nur der Zugang zu ihnen wechselt mit der Erzählweise.

48

Visualisierungsstrategien

pour l'art Ä u s s e r n : S i e ist a u f d e n R e z i p i e n t e n b e r e c h n e t . 6 8 W i e o r i g i n e l l d i e S t r a t e g i e ist, w i r d erst d a n n

64

Zum Motiv der Tränen und des Weinens in den Metamorphosen vgl. Hollenburger-Rosch. 1 729ff. 66 Vgl. z. B. 1 199; 367; 375f.; 386; 477; 484; 543; 555f.; 729ff.; 755; II 412ff.; 439f.; 447ff.; 477; 600ff.; III 99f.; 183ff.; 237ff.; 540ff.; IV 105ff.; 138ff.; 202ff.; 228f.; 329f.; 675ff.; 684; V 47Iff.; 569f.; VI 45ff.; 277ff.; 522f.; 601f.; 607; 628; 642; 639f.; VII 78; 135f.; 161f.; 340f.; 7 7 2 f ; VIII 21 Of.; 447f.; 465ff.; 681f.; 780f.; IX 368f.; 470f.; 523ff.; 527; 535ff.; 581f.; 636f.; 786ff.; X 185ff.; 292f.; 359f.; 366f.; 389f.; 361f.; 423ff.; XI 416ff.; 458ff.; 674f.; 680ff.; 725ff.; XIII 474f.; 475f.; 477f.; 581 f.; 687ff.; XIV 305f.; 350; 420ff.; 562ff.; 592f.; 628ff.; 753ff.; XV 229ff.; 803f. 65

67

Rademacher, der die >Bildhaftigkeit< der taciteischen Historiographie untersuchte, formuliert unter Verweis auf Cousin, S. 235: »Der Psychologe Tacitus weist immer wieder auf das Mienenspiel seiner Personen hin, sei es eines Einzelnen oder einer Gruppe, deren Handlungsweise auf einem einheitlichen Antrieb beruht. Aber Tacitus ist grundsätzlich skeptisch; er traut den Menschen nicht und ist selten davon überzeugt, dass der äussere Ausdruck tatsächlich einem inneren Vorgang entspricht, denn, so sagt er, als er die Begründung dafür gibt, dass Nero nach dem Mord an seiner Mutter Baiae wieder verlässt; tarnen non, ut hominum vultus, ita locorum facies mutantur [Ann. 14, 10, 3], Wenn aber jemand einen Gesichtsausdruck trägt, der seiner eigentlichen seelischen Lage nicht entspricht, dann heuchelt er, und ist dieses Heucheln immer wieder feststellbar, dann ist das Heucheln nicht nur einer gewissen Situation entsprungen, sondern gehört zur Natur dieses Menschen.« (103f.) Ein interessanter Aspekt der Körpersprache in der Erzählung, jedoch scheint die fiir den Rezipienten erkennbare, >entlarvende< Abweichung von Innerlichkeit und heuchlerischer Äusserlichkeit in den Metamorphosen kaum eine Rolle zu spielen. 68 Als grundlegend im Hinblick auf die Gebärde in der antiken Kultur, Literatur und Kunst wird immer wieder Sittl angegeben. Vereinzelt ist die Bedeutung der Körpersprache für die antike Dichtung untersucht worden, zuerst fur die homerische Epik (vgl. hierzu Hentze; Grajew; Latei-

50

Visualisierungsstrategien

deutlich, wenn man berücksichtigt, welchen konventionellen Erzähltechniken die körpersprachliche Figuren-Deskription hier systematisch vorgezogen wird. Denn die Metamorphosen verzichten damit auf den Einsatz auktorialer Erzählformen, wie etwa der >InnenschauErlebten Rede< und ner, Nonverbal Behaviour in Homeric Epic). Für die Aeneis liegen ungefähr ein Dutzend Arbeiten vor, die sich aber auf Detailprobleme fokussieren, etwa das Weinen, Tränen oder das Erröten der Lavinia (Forschungsüberblick in: Lobe, S. 21ff. Zu Vergil umfassend Sullivan). Die TacitusForschung hat bereits auf die Wichtigkeit des Gesichtsausdrucks in den Annales und Historiae hingeweisen (vgl. u. a. Rademacher, S. 103ff.; Hommel, S. 124ff.). Für die Metamorphosen Ovids ist das Phänomen mehrfach registriert, jedoch nur >en passante V. Albrecht, Geschichte etwa meint die körpersprachliche Figurendeskription, wenn er im Zusammenhang mit IX 523ff sagt: »Vor Augen tritt uns die Verwirrung der Byblis: Ihre anfängliche Suche nach dem rechten Wort spiegelt sich im Aufnehmen und Weglegen der Schreibtäfelchen, im Niederschreiben und Auslöschen« (S. 636); Ähnlich Ders., Verwandlungen, S. 77: »Für die Verbindung von visueller und motorischer Darstellungsweise sind immer wieder ausdrucksstarke Gebärden charakteristisch. Wir sahen, daß Dianas Wesen aus der Körperhaltung spricht, die sie ganz instinktiv einnimmt, als Actaeon sie überrascht; ähnlich bringt der in einen Hirsch verwandelte Actaeon sein Flehen gebärdenhaft zum Ausdruck«. Auch Fuhrmann, Geschichte verweist auf eine Art PseudoNaturalismus, der zwecks Darstellung von Emotionen innere Handlung veräusserliche (S. 239). Zum Thema auch Pöschl, Dichtkunst Vergils, der (S. 59f.; 118, Anm. 158; 139; 205) den Begriff der symbolischen Geste< einfuhrt. Freundt nennt körpersprachliche Äusserungen wie Tränen, Klagelaute, Zeichen der Trauer oder flehend erhobene Arme als wesentlich für die rührende Wirkung vieler Episoden des Textes. Systematisch aber ist die Körpersprache in den Metamorphosen kaum untersucht. Am umfassendsten bisher Lateiner, Nonverbal Behaviour in Ovid's Poetry, der betont: »Ovid's one epic presents a wide range of nonverbal behaviors in portrayals of formal and informal communication.« (S. 225) Im Anschluss an verschiedene sozialpsychologische, komparativ-anthropologische und literar-semiotische Studien wendet Lateiner vor allem auf das 14. Buch insgesamt fünf verschiedene Kategorien von »nonverbal behavior useful for analysis of ancient epic« (S. 226) auf die Ovidische Dichtung an: »A. Ritualized, conventional gesture, posture, orientation, & vocalics. B l . Affect display: Psycho-physical, out-of-awareness emotional show. B2. Subconcious, out-of-awareness gesture, posture, and vocalics. C. External adaptors: communicative objects and clothes; self grooming. D. Proxemics & chronemics: the social manipulation of space and time. E. Informal, in-awareness gesture, posture, and vocalics.« (S. 226f.) Wiewohl auch er den Zeichencharakter der Körpersprache erwähnt (vgl. S. 246), ist die Technik von ihm nicht als Visualisierungsstrategie erkannt, Ausnahme ist die kurze Bemerkung: »The actio helps visualize scenes« (S. 233). Vielmehr erkennt Lateiner humoristische, sogar parodistische Absichten: »Comic literature includes more bodily business and movement than tragic. Gawky bodies betray social pretence and pretensions. Undignified behavior suits the comic genre. Ovid exploits his predecessors 1 solemn poetic conventions, generic pastoral, elegiac, and epic vocabulary and motifs, in order to exploit the humorous potential inherent in both heroic and amatory characterization.« (S. 228) Dabei sei das Gestenrepertoir der augusteischen Zeit auf die archaische Welt des Mythos übertragen, um so Komik zu erzeugen: »Genuine, contemporary political and religious business and Roman state mechanics are reflected back onto the ancient gods and Greek mythical times for their humorous inappropriateness. [...] Ovid parodies official religious procedures and myths of the New Régime and the superhuman pretensions of the Augustan dispensation [...]. Heroic Aeneas, Augustus' mascot, is repeatedly humbled, and not only by the depressed Sibyl. Social class, age, and gender determine conventions of gesture and posture, as one today still remembers hat-tipping and door-opening etiquette. Anti-authoritarian Ovid foils the Roman reader's social expectations and parodies literary generic conventions as well.« (S. 228f.) Zur möglichen Portraitierung der augusteischen jeunesse dorée in den libidinös liebenden Göttern der Metamorphosen vgl. S. 142f.

Statik

51

weiterer Techniken, die den Zugang zu Gefühl und Bewusstsein einer Figur unter Nutzung der erzählerischen Allwissenheit unmittelbarer hätten herstellen können.69 Wirkungsvoll ist es, weil Emotion dadurch objektiviert ist: die errötende, knieende, weinende, stöhnende Figur wird zur Projektionsfläche für eine Reihe von Empfindungen, die das Publikum körpersprachlich gelenkt in sie hineinlegen kann. Die Einfühlung bleibt so trotz narrativperspektivlicher Distanz gewährleistet, wird sogar noch verstärkt.70 Voller Implikationen schliesslich im Hinblick auf die grundlegenden, poetologischen Konzepte des Textes ist es, weil sich in dieser Abneigung gegen abstraktere, emotionsschildernde Sprachlichkeit, wie sie die Umsetzung einer Gedanken- oder Gefühlsbewegung erfordert, eine Metamorphosentypische Vorliebe für das Sichtbare, oder besser: die prinzipielle wie willentliche Beschränkung der Metamorphosen auf die Schilderung von Sichtbarkeiten exemplarisch ausdrückt. Dass es dadurch nicht zu Wirkungsverlust kommen muss, sondern das Gegenteil eintritt, beweist die körpersprachliche Figurendeskription: durch sie kann der Text den Rezipienten an den emotionalen Verfasstheiten einer Figur teilhaben lassen, ihn emphatisch beanspruchen und damit unter Umständen erschüttern oder anrühren,71 ohne seinen durchgängig deskriptiven Gestus aufgeben zu müssen.72

69 Auktorialität kommt in den Metamorphosen nur sehr vereinzelt vor, etwa in VII 169ff., wo das Gefühlsleben der Medea in der Innenschau mitgeteilt ist, oder in XI 739ff. (der tote Ceyx am Strand). Das zeigt, dass der Verzicht bewusst erfolgt. Zur Auktorialität in den Metamorphosen vgl. Effe, 47ff. 70 Für Lobe, der die Rolle der Gebärden in der Aeneis untersuchte, ist die Körpersprache ein Mittel sowohl zur Exposition als auch zur Erzeugung von Affekten (S. 198ff.). Er fasst zusammen: »Die Beschreibung von Gebärden im vergilischen Epos ist vor allem ein gezielt eingesetztes Instrument zur Psychologisierung des Geschehens. Denn das Gros körpersprachlicher Ausdrucksformen gibt dem Leser Aufschluss über das Innenleben der Figuren: sei es über ihre momentane Gefuhlslage (Affektgebärden), ihren Charakter (Ethosgebärden) bzw. ihr augenblickliches Denken (Gebärden der Reflexion). [...] Doch damit sind die Funktionen der Gebärde im vergilischen Epos nicht erschöpft: ein Gebärdentyp besitzt keinerlei deskriptive oder der Binnenverständigung der Figuren dienende Funktion, sondern ist einzig auf die Lenkung des Leserinteresses berechnet (Gebärden der Leserlenkung).« (S. 209) Für diese Ästhetik verantwortlich gemacht sind übrigens von Lobe die »Vorrangstellung des Pantomimus in der augusteischen Zeit« (S. 204) sowie die »Vorliebe des Augustus fur die Gattung Drama« (S. 205. Vgl. zum Thema auch S. 56f; 196). Nicht unerheblich ist schliesslich die Wirkung dieser Objektivierung der ProtagonistenSubjektivität auf die Universalität des Mythos. Das seelische Leid der Callisto nämlich, die in II 461 f. schamhaft als Entkleidete ihre Schwangerschaft zu verbergen versucht, ist durch das Bild, das der Text erzeugt, aus dem subjektiv-unnachvollziehbaren Raum ihres originären seelischen Erlebens herausgenommen und in Form gleichsam einer Ikone fur die Übertragung und Vervielfältigung tauglich gemacht. Zur besonderen Wirkung dieser und anderer Erzähltechniken auf die memoria vgl. S. 79f. 71 Die teils stark rührende Wirkung der Metamorphosen erwähnt Freundt: »Denn es ist nicht so sehr das Gleichmass des Erzähltons, wie es in der Elegie vorherrscht, das den Leser so besonders fasziniert als vielmehr das ständige Auf und Ab der Stimmungen, von Schrecken zu Freude, von Angst zu Erleichterung, von Grausen zu Rührung, in dem er mitgerissen wird, erfüllt von sym-

52

Visualisierungsstrategien D e r Z e i c h e n c h a r a k t e r d e r K ö r p e r s p r a c h e d e r H a n d e l n d e n ist, w i e

übri-

g e n s beinahe j e d e der v o m T e x t a n g e w a n d t e n Strategien i r g e n d w o >aufgedeckt< ist, a n m e h r e r e n S t e l l e n t h e m a t i s i e r t , 7 3 ζ . B . i m F a l l e d e r C a l l i s t o : D i e s e ist s c h w a n g e r in d e n S c h w ä r m der D i a n a z u r ü c k g e k e h r t , aber n i e mand weiss davon: heu quam difficile vix oculos

attollit

iuncta deae lateri

est crimen

non prodere

humo nec, ut ante nec toto est agmine

sed silet et laesi dat signa rubere et, nisi quod virgo est, poterai mille notis

vultu!

solebat, prima,

pudoris,

sentire

Diana

culpam;74

Oh, w i e s c h w e r ist es, das V e r b r e c h e n nicht m i t der M i e n e zu verraten! K a u m löst sie den B l i c k v o m B o d e n , sie bleibt nicht - w i e sie e s sonst zu tun p f l e g t e - e n g an der Seite der Göttin und ist nicht länger die erste der Schar; Sie s c h w e i g t und gibt denn o c h durch Erröten zu erkennen, dass ihre Ehre geraubt ist, und w e n n D i a n a k e i n e Jungfrau g e w e s e n wäre, hätte sie aus tausenderlei Z e i c h e n a u f Callistos S c h u l d g e f ü h le s c h l i e s s e n können. D e r T e x t s p r i c h t a l s o s e l b s t v o n k ö r p e r l i c h e n Z u s t ä n d e n a l s signa, notae

bzw.

für innere Verfasstheiten.75

pàtheia mit den Gestalten der Dichtung.« (S. 61) Diese starke innere Bewegung als Effekt der Rezeption wird von Freundt auch auf den Einsatz von Körpersprache im Epos zurückgeführt. 72 Diejenige aus der antiken Theorieliteratur überkommene rhetorisch-poetische Technik, die dieser Praxis am ehesten entspricht, ist wohl das Verfahren des χαρακτερισμός, das recht unbestimmt als »Kennzeichnung [...] einer Person vermittels Personenbeschreibung sowie Schilderung ihres Verhaltens« definiert ist (vgl. H. Lausberg, § 818). Doch scheint in diesen und ähnlichen Definitionen eher auf grundsätzlichere Charakterzüge denn auf vorrübergehende Affekte abgehoben zu sein. 73 Ähnlich etwa diejenigen Stellen, die durch Problematisierung oder humoristische Umsetzungen ein Wissen des Textes, bzw. des texkonstituierenden Subjekts um die visuelle Fixierung der Textfiguren in Liebesdingen verraten. Vgl. dazu S. 133f. 74 II 447ff. Vgl. Börner, I-III, S. 35lf. zum gesenkten Blick als Zeichen der Scham in anderen Texten. Vor allem crimen (447) hat den Übersetzern hier verschiedentlich Schwierigkeiten bereitet. Eine gute Lösung ist die >Gewalttat< (Fink), vertretbar ist >Schuld< (v. Albrecht), sofern nicht Callistos Schuld damit gemeint ist, sondern das unberechtigte Schuldgefühl des Opfers. Anderson, Books 1-5, S. 284 dazu: »[T]he >crime< that Jupiter perpetrated (cf. 433) has now, as often today with innocent victims, become hers.« 75 Ähnlich IV 202f.; VI 34ff.; XIII 687ff. Besonders interessant IX 535ff.: Byblis spricht dort in ihrem Brief über die äusserlichen Anzeichen ihrer Liebe zum Bruder: esse quidem laesi poterai tibi pectoris index et color et macies et vultus et umida saepe lumina nec causa suspiria mota patenti et crebri amplexus et quae, si forte notasti, oscula sentiri non esse sororia possent.

Statik

53

2.2.4 Nichtobligatorische Deklamatorik Die körpersprachliche Figuren-Deskription ist nur ein Symptom der Bemühungen des Textes, sich schildernd auf die Sichtbarkeiten der Erzählten Welt zu beschränken und in diesem Interesse Innerlichkeit konsequent zu veräusserlichen. In VIII 42ff. schildert der Text die Scylla, Tochter des Nisus, die in einer Art von Mauerschau von ihrem Turm aus den attraktiven König Minos bei seinen Kriegsgeschäften, der Belagerung der Stadt, beobachtet: candida >laeter< in dubio sed nisi

utque sedebat Dictaei spectans tentoria regis, ait >doleamne geri lacrimabile bellum, est: doleo, quod Minos hostis amanti est; bella forent, numquam mihi cognitus esset.

U n d w i e sie so dasass und die Zelte d e s diktaeischen K ö n i g s betrachtete, sprach sie: >Ich w e i s s nicht, ob ich mich über diesen tränenreichen Krieg freuen oder grämen soll; Ich leide, weil M i n o s fur mich, die ihn liebt, ein Feind ist. W e n n es aber diesen Krieg nicht gäbe, hätte ich ihn nie kennengelernt.

Es gibt niemanden, der Scyllas Worte hören könnte. Für die erzählte Figur ist diese dialoglose Rede damit nicht obligatorisch, denn eine gedankliche Bewegung könnte ebensogut Ausdruck derjenigen dynamischen Entscheidungsvorgänge sein, die am Ende die Scylla zu ihrem Entschluss fuhren, Minos in die Stadt einzulassen. Auf der Ebene der erzählten Welt sind diese Sprechakte pragmatisch zwecklos. Zweckhaft ist das laute Sprechen eines Einsamen einzig im Hinblick auf die Kommunikationssituation des Textkonsums: Wie auf der Bühne der Monolog oder Dialog als eine Art Fenster zur Innenwelt der Figuren dazu dient, ein komplexes inneres Geschehen im Sprechakt zu objektivieren, um es dem Publikum zur Kenntnis zu bringen, konkretisieren die Metamorphosen in der Rezipientenimagination vornehmlich Figuren, die ihr Gefühlsleben nach aussen tragen, indem sie nicht nur körpersprachlich agieren, sondern häufig auch deklamieren, bzw. monologisieren. 76 Eine 76

Vgl. z. B. I 222f.; 497f.; 607f.; II 385ff.; 423f.; 657ff.; III 261ff.; IV 356; 422ff.; VI 3f.; 513; 687ff.; VII 1 Iff.; Vili 42ff.; 176; 326f.; 478; 724; IX 143ff.; 474ff.; 519f. Mitteilung eines Brieftextes in IX 530ff. u. 585ff.; IX 726ff.; X 230ff.; 320ff.; 584ff.; 61 Iff.; XI 712f.; 725; XII 106ff.; 120f.; XIII 942; XIV 192ff.; XV 587ff. Auhagen untersucht alle Texte Ovids, »in denen ein >Individuum< - ein >Ich< - in >Einsamkeit< sich äussert (laut redend, schriftlich oder gedanklich), wobei es keine Rolle spielt, ob dieses Individuum (physisch) wirklich allein ist oder sich - trotz Anwesenheit anderer - aufgrund seiner psychischen Disposition allein glaubt.« (S. 22f.) Auhagens Monologbegriff bezeichnet in Anlehnung an Schadewaldt, S. 28f. die »>Selbstäusserung< als >reiner Ausdruck des Innem< und als >Affektäusserungdum cessant nos quoque,

quas Pallas,

>utile opus manuum perque

vices aliquid,

non sinat,

pollice

filum

aliae commentaque

in medium

melior

sacra

vario sermone quod tempora vacuas

frequentant,

dea, detineU

inquit

levemus longa

referamus

videri

ad aures. Während andere s ä u m e n und n i c h t s n u t z i g e n Kulten frönen, w o l l e n wir, die u n s Pallas, die bessere Göttin, hier hält, u n s d a s r e c h t s c h a f f e n e Werk unserer H ä n d e m i t d e m Erzählen v o n G e s c h i c h t e n v e r s ü s s e n und u n s e r e n Ohren - die j a u n b e s c h ä f t i g t sind - a b w e c h s e l n d e t w a s erzählen, damit u n s d i e Zeit nicht z u lang wird.
Entrüstung< und >Drohungultima verbaTotenklagen< und solche, die den Widerstreit verschiedener Prinzipien oder Wünsche in der bewegten Seele des Deklamierenden erlebbar machen. Letztere Sorte wird von Ortega »Affektkampf« (S. 110) und von Offermann »Entscheidungsmonolog« genannt (S. 28). Ebenso ordnet Börner, V1II-IX, S. 15 den Monolog »in die Reihe der >Entscheidungsmonologe< liebender Frauen« ein. Martini spricht vom ovidischen Monolog als »Seelentopographie« (S. 32). 77 Leichnam: III 58f.; IV 251; XI 720f.; 727f.; 778ff.; XIII 494ff. Abwesende Person: IV 108ff.; X 380; XI 694ff.; XIII 789ff.; XIV 355ff. Schlafende Person: XII 321f. Entfernte Person: VIII 108ff. Schlangen: III 328ff. Maulbeerbaum: IV 158ff. Wälder: III 441ff. Kleidungsstück: IV 118. Troja: XIII 420. Erde: XIII 947f. Haustür: XIV 718ff.; 736. 78 Vgl. dazu S. 158ff. 79 IV 36ff. Hill, I-IV, S. 236 spricht von der Erzählsituation als einer »>Arabian Nights< situation«. Vgl. auch Wilkinson, Ovid, S. 203. 80 Hier - wie auch in der Arachneepisode - deutet übrigens das Weben oder Spinnen metaphorisch zugleich auf die Erzähltätigkeit. In diesem Sinne Rosati, Form in Motion, S. 240: »It is well known that in the Greek and Latin language and cultures [...] the semantic field of spinning and

Statik

55

während der folgenden Figurenrede. Indes diese sprechaktbegleitende Handlung durativen, bzw. iterativen Charakter hat,8' findet sich noch häufiger eine statische Pose oder Körperhaltung, in der die Figur während der wörtlichen Rede verharrt,82 wie ζ. B. im Falle des Midas, der in dem Geschenk, das er erbeten hatte, inzwischen eine Strafe erkannt hat: ad caelumque manus et splendida bracchia tollens >da veniam, Lenaee pater! peccavimus< inquit, >sed miserere, precor, speciosoque eripe damno. [Die Hände und die schimmernden Arme zum Himmel erhebend spricht er: >Vergib mir, Vater Lenaeus! Ich habe gesündigt. Doch erbarme Dich, ich flehe Dich an, und entreisse

mich dem goldglänzenden Verderben!Actaeon!MassenszenenTableaus< in den Metamorphosen in einer vergleichenden Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die Metamorphosen ζ. B. in der Sintflutschilderung des 1. Buches nicht teleologisch und kohärent schilderten, wie man dies bei Vergil beobachten könne (ähnlich zu den Schlachtenschilderungen bei Homer und Ovid Diller, S. 335), sondern sprunghaft: »(A) jumping focus is only the consequence of the most distinctive feature of Ovid's narrative style: the tendency away from relating actions and towards painting static pictures instead.« (S. 123 unter Verweis auf Bernbeck, S. 28f.) Die Schilderung der Sintflut und ihrer Wirkung bestehe in grossen Teilen aus »a dozen or so vignettes contrasting the present with the former state of affairs« (S. 123). Diese >vignettes< (vgl. zum Terminus auch Murphy, S. 68) nennt Solodow auch »scattered snapshots« (S. 125).

69

Dynamik

sponte pars egerit

tarnen properant munire

alii subducere

latus, pars

ventis

hic fluctus aequorque

hic rapii

vela

remos, negare,

refundit

in

aequor,

antemnas;

Plötzlich überstürzen sich die einen, die Ruder e i n z u z i e h e n , die anderen, die Seite abzudichten, w i e d e r andere, die S e g e l aus d e m W i n d zu n e h m e n ; der eine s c h ö p f t e i n g e d r u n g e n e s W a s s e r und giesst e s zurück ins Meer, der andere erklettert die Rahen;

Mit den Wogen wächst die Verzweiflung: non tenet hic lacrimas, fuñera

quos maneant,

bracchiaque pocit

opem;

stupet

ad caelum, subeunt

hic cum pignoribus

hic; vocat

hic votis numen

ille

quod non videt,

illifraterque domus

beatos,

adorat inrita

tollens

parensque,

et quod cuique

relictum

est.1,2

112 XI 539ff. Hier drängt sich ein Vergleich der Ovidischen Seesturmszene mit Horn. Od. 5, 291-381 und Verg. Aen. 1, 81-123 auf, der es erlaubt, sich ein Bild vom Einsatz unterschiedlicher narrativer Techniken am übereinstimmenden Objekt zu machen. Was die Quantitäten betrifft, verwendet die Odyssee, umfasst man nur den Schiffbruch vom Beginn des Sturms bis zum Kentern des Flosses oder Schiffes, bzw. dem Eintritt seiner Manövrierunfahigkeit, insgesamt 90 Verse auf das Ereignis, in der Aeneis sind es 42. Die Metamorphosen schildern den Vorgang in 92 Hexametern. Das bedeutet auf den ersten Blick gleichen Umfang für Homer und Ovid. Jedoch und das betrifft die Qualitäten - inkludiert der Homerische Text einen grossen Anteil an Monologen und Götterhandlung, so dass am Ende lediglich 37 Verse reine Sturmbeschreibung verbleiben (Od. 5, 291-298; 314-332; 365-376). Die vergilische Fassung kommt nach Abzug des Monologs des Aeneas (Aen. 1, 132-141) in diesem Punkt auf insgesamt 32 Hexameter. Ovid hingegen bietet 92 Verse reine Ereignis-Schilderung, und zwar mit einem Schwerpunkt auf Sequenzierungen, denn der Text setzt Kulissenerrichtung (Met. XI 514-523), diachron-konsekutive Sequenzierungen (XI 478-481; 524-535), synchrone Sequenzierungen (XI 486-491; 537-543), diachron-chaotische Sequenzierung (XI 495-513) und mehrere Vergleiche (XI 508-513; 525-530) ein. Bei Homer lassen sich diachron-konsekutive Sequenzierungen (Zeus wühlt das Meer auf: Od. 5, 291-298; Odysseus wird vom Floss gespült und erreicht es wieder: 5, 313-332; das Floss wird endgültig zerschmettert: 5, 365-376), diachron-chaotische Sequenzierung (Odysseus treibt auf dem Floss umher: 5, 327-332) sprechaktbegleitende Handlung (Monolog der Ino: 5, 351-353), nichtobligatorische Deklamatorik (Odysseus im Sturm: 5, 299-312 u. 356-364), mehrere Vergleiche (passim) und visuelle Figurenperspektive (Zeus: 5, 282-284; Ino: 5, 333-335) aufweisen: Hier sind also eher >dramatische< Elemente, wie der Monolog, prominent. Vergil setzt die Techniken der Kulissenerrichtung (Nacht senkt sich herab: Aen. 1, 87-91), diachron-konsekutiven Sequenzierung (Iuppiter wühlt das Meer auf: 1, 81-86; Das Schiff gerät ausser Kontrolle: 1, 102-105), Sprechaktbegleitenden Handlung (1, 92-94) und in einem langen >Wimmelbild< die der Synchronen Sequenzierung ein (das Schicksal der einzelnen Schiffe: 1, 106-132). Während also die vorgängigen Texte z. B. mit der nichtobligatorischen Deklamatorik schwächer visualisierende Elemente einsetzen, die als Unterbruch schilderungsretardierend wirken, oder aber - im Falle der homerischen Götterhandlung - eine Digression vom Schauplatz darstellen, setzen die Metamorphosen ganz auf stark visualisierende Sequenzierungs-Verfahren. Ein wenig zeigt sich schon hier, was sich insgesamt erweist: Am ehesten noch erreichen griechische Texte die visuelle Suggestivkraft der Metamorphosen, die somit ihre lateinischsprachigen Vorgängerwerke immer und ihre griechischen meis-

70

Visualisierungsstrategien

Der eine kann die Tränen nicht halten, der andere starrt vor sich hin; der preist jene glücklich, auf die der Scheiterhaufen wartet, und der fleht unter Gelübden zu den Göttern und bittet, die Arme zu einem Himmel streckend, den er nicht mehr sieht, vergeblich um Hilfe; Diesem erscheinen Bruder und Vater, jenem sein Haus mit allem, was ihm teuer ist und was er zurückliess.

Hier geschieht vieles zur selben Zeit. Da jedoch der Text diese Vielheit des Erzählten nicht >auf einmal< gesamthaft mitteilen kann, kommuniziert er im Nacheinander der Erzählung die Teilvorgänge, oder auch: Teilsequenzen dieser Gleichzeitigkeit nach und nach. Der Teilereignis-Charakter der einzelnen Vorgänge ist durch Distributiva wie pars, ... pars, alii, ... alii, hic, ... hic, verdeutlicht.113 Das Publikum, dadurch über die Gleichzeitigkeit informiert, setzt aus den Informationen, die es in zeitlicher Erstreckung eine nach der anderen erhält, rückwirkend dennoch die vielfach bewegte Gleichzeitigkeit eines >WimmelbildesChaos< unter Verweis auf das >noch nicht< (I 8ff.); Goldenes Zeitalter unter Verweis auf das >noch nicht< (I 89ff.); Silbernes Zeitalter (I 119ff.); Eisernes Zeitalter (I 132ff.); Gemischte Reaktionen der Götterversammlung (I 244f.); Hypothetisches Katastrophenszenario (I 253ff.); erste Verwüstungen durch starken Regen (I 296ÍT.); Sintflut-Panorama (I 285ff.); das Wasser zieht sich zurück (I 343ff.); Entstehung des Lebens im warmen Schlamm (I 425ff.); die ganze Welt in den Reliefdarstellungen auf den Toren des Sonnenpalastes (II 5ff.); erste Schäden durch Phaeton (II 171 ff.); Weltenbrand durch Phaeton / Katalog (II 21 Off.); Wohltaten der Tellus (II 285ff.); Verwandlung der trauernden Sonnentöchter (II 346ff.); Diana wird von ihren Nymphen umsorgt (III 165ff.); die Hunde des Actaeon / Katalog (III 206ff.); Bacchanalienfeier (III 528ff.); die gierigen Schiffer murren (III 642f.); die Schiffsbesatzung nach dem Wunder (III 662ff.); die Schiffer tummeln sich als Delphine in den Fluten (III 683ff.); Bacchanal (III 28ff.); die MinyasTöchter bei der Arbeit (IV 32ff.); die Webstühle der Minyas-Töchter belauben sich (IV 394ff.); die Minyas-Töchter werden verwandelt (IV 405ff.); Stadt des Dis (IV 439ff.); verschiedene Unterweltsbewohner (IV 450ff.); die Gefahrtinnen der Ino werden verwandelt (IV 552ff.); Tötung des Phorbas und Amphimedon (V 74ff.); Saalschlacht anlässlich der Hochzeit des Perseus: Gesamteindruck (V 149ff.); Arachne und Pallas weben (VI 59ff.); fromme Thebanerinnen (VI 162ff.); Bauern arbeiten am Seeufer (VI 343 ff.); die in Frösche verwandelten lycischen Bauern (VI 370ff.); die Thessalier opfern (VII 159ff.); Mondnacht (VII 185ff.); Feiern zu Ehren des Theseus (VII 428f.; 45If.); Minos verhandelt um Waffenhilfe (VII 475ff.); die Pest auf Aegina: Tiere (VII 533ff.); die Pest auf Aegina: Menschen (VII 552ff.); die Pest auf Aegina: Tempel-, Opfer- und Begräbnisszenen (VII 587ff.); des Minos Belagerungsheer (VIII 21f.); auf der Jagd nach dem erymantischen Eber (VIII 33Iff.); allgemeine Freude über den Tod des erymantischen Ebers (VIII 420ff.); Trauer um Meleager (VIII 526ff.); Reaktionen auf Orpheus' Lied (X 4Iff.); Venus-Feiern auf Zypern (X 270ff.); Angriff auf Orpheus (XI 24ff.); die Bacchantinnen stehlen landwirtschaftliche Geräte (XI 30ff.); Trauer um Orpheus (XI 44ff.); Onetors Rinder (XI 352ff.); hektisch betriebsame Schiffsbesatzung im Sturm (XI 486ff.); verzweifelt-resignierte Schiffsbesatzung im Sturm (XI 539ff.); ertrinkende Schiffsbesatzung im Sturm (XI 557ff.); eine Hochzeitsgesellschaft (XII 21 Off.); beginnender Aufruhr in der Hochzeitsgesellschaft (XII 242ff.); allgemeiner Angriff auf Caenus (XII 494f.); das gefallene Troja (XIII 408ff.); Krieg zwischen Vögeln (XIII 61 Off.); ein Leichenbegängnis (XIII 687ff.); die Nymphen der Circe bei der Arbeit (XIV 264ff.); die Gefährten

Dynamik Dasselbe

wie

die

oben

sprachlichen Mittel w i e pars, nektoren w i e et, atque

eingesetzten, ... pars

71 ausdrücklich

distribuierenden

leisten v i e l f a c h g e w ö h n l i c h e r e K o n -

oder -que, b e i s p i e l s w e i s e i m Falle der v o n B a c c h u s

in D e l p h i n e verwandelten, gierigen Schiffer: undique dant saltus multaque adspergine rorant emerguntque iterum redeuntque sub aequora rursus inque chori ludunt speciem lascivaque iactant corpora et acceptum patulis mare naribus efflant.116 Ringsumher vollfuhren sie Sprünge, Wasser und Gischt verspritzend, tauchen auf und in die See wieder ein, bilden einen Reigen, schnellen voll Übermut ihren Leib in die Höhe und blasen eingesogenes Meerwasser aus ihren weiten Nasenlöchern.

umdrängen Odysseus (XIV 305f.); ein mächtiger Zauber der Circe (XIV 403ff.); Lichter im Wald (XIV 418f.); auf friedliche Art erworbene Speisen / Katalog (XV 75ff.); Ernährung im goldenen Zeitalter (XV 99ff.); Symptome des Verfalls (XV 103ff.); Frühling (XV 202ff.); Blitzlichter des ewigen Wandels in der Natur (XV 262ff.); menschliche Grausamkeit gegen Tiere (XV 463ff.); der Tiere wahre Bestimmung (XV 470ff.); Vorzeichen der Ermordung Caesars (XV 782ff.). 115 Zu ähnlichen Ergebnissen für Livius kommt Steinmetz, der einige narrative Techniken der römischen und griechischen Historiographie vergleichend untersucht. Für eine der livianischen Massenszenen, den Zug Hannibals durch die Arnosümpfe in 22, 5-11, weist Steinmetz nach, wie Livius anhand des durativen Imperfekts und zahlreicher Partizipien des Präsens - distributive Partikel spielen hier keine Rolle - »die Gleichzeitigkeit der Handlungen« betont und derart »sowohl innerhalb der einzelnen Sätze als auch in der Aufeinanderfolge der einzelnen Sätze nicht das Nacheinander von Geschehnissen erzählt, sondern das Nebeneinander von Abläufen« schildert (S. 199). »Wenn man es scharf formuliert, so gibt es in diesem Abschnitt kein zeitliches Nacheinander, sondern nur die Schilderung eines einzigen Augenblicks. [...] Livius stellt den Zug durch das Sumpfgebiet nicht dar, indem er vor unseren Augen die Ereignisse in chronologischer Folge Revue passieren lässt, bis sie schliesslich in einem Höhepunkt gipfeln, noch gibt er in systematischer Ordnung einen belehrenden Bericht, sondern greift einen einzigen charakteristischen Augenblick der Ereignisse heraus, nämlich den Zustand des Heeres am Ende des vierten Tages, und schildert das Bild, das er sich von diesen Geschenissen macht, in seinen Einzelheiten.« (S. 199f. S. 202 sind fur die Bücher XXI und XXII allein 8 weitere Beispiele genannt.) Steinmetz weist u. a. auf die akustische Komponente dieser Bildbeschreibungen hin (S. 205), bevor er Livius eine Pionierrolle betreffs dieser narrativen Technik zuweist: »Diese Darstellungsform, die wir Schilderung oder Beschreibung eines vorgestellten Bildes genannt haben, hat, wie es scheint, Livius selbst geschaffen.« (S. 206) Trifft das zu, käme der republikanischen und augusteischen Zeit eine besondere Rolle im Zusammenhang mit der Ausprägung stark visualisierender narrativer Techniken in der lateinischen Literatur zu. Als mögliche Einflüsse nennt Steinmetz die »in der lateinischen Erzählung geläufige Hintergrundschilderung einer Haupthandlung« (S. 207) und die in Triumphzügen mitgefühlten Schlachtengemälde (S. 208). Rademacher 1974 trennt für Tacitus >Gesamtbilder< von >EinzelbildernIkonographische Reihern When we think of the Metamorphoses, we tend to think of certain wonderful stories - the stories of Pyramus and Thisbe, of Narcissus, Medea, Pygmalion, Orpheus - all these and many more are likely to linger in our memories long after we have read them. 1 2 0

Die Figuren-Deskription und die körpersprachliche Figurendeskription visualisieren eine Figur in ihrem spektakulären Äusseren und teilen dabei innere Zustände teils körpersprachlich mit. Einige Episoden grösseren Umfangs enthalten mehrere dieser Schilderungen. Sie sind an dramaturgisch besonders wichtigen Punkten der oft komplexen und wendungsreichen Handlung positioniert und zeigen ein gleichbleibendes, handelndes oder leidendes Subjekt in Kalamität, Gefahr, Rettung, Tod und anderen Extremsituationen.121 Als Marksteine und Wendepunkte des Plots sowie als subjektiv empfundene Höhepunkte des Kunsterlebnisses ergeben diese statischen, packenden Bilder eine >ikonographische Reiheshape< (528-9 = abAB) to fix the moving picture for a short moment.« (S. 140f.) Schmitzer, Ovid bemerkt zur immensen Rezeption bspw. der Fabel von Pyramus und Thisbe in der bildenden Kunst: »Die chiffrenartige Verwendung führte zu einer gewissen ikonographischen Monotonie, denn es war nicht der Geschehensablauf, der Maler und andere Künstler interessierte, sondern ein durch die Bild- und Vorstellungstradition vermittelter signifikanter, vom Betrachter wiedererkennbarer Augenblick.« (S. 212) 123

II 401. II 409. 125 Doblhofer weist hin auf die Korrespondenz zwischen igrtis als Schluss von Vers 402 und ignes als Schluss von Vers 410 (S. 499). »[D]er Juppiter, der löschen sollte, entbrennt selber; er, der Ordnung herstellen und halten soll im Kosmos, verstößt durch seine zügellose Leidenschaft selbst gegen diese Ordnung.« (S. 501 ) 126 Vgl. II 419ff. Der Schutz, den das Wäldchen der Callisto bietet, ist lediglich ein scheinbarer. Im Gegenteil wird er dadurch, dass Täter und Opfer in seiner Einsamkeit auch vor Blicken geborgen sind, zur Voraussetzung fur das Verbrechen. Darin liegt eindeutig eine gewisse Verfinsterung des klassischen, arkadischen Idylls. Vgl. zum Thema S. 39, Fn. 26. 124

Dynamik cultumque

Dianaenl

75

[legt Gestalt und Habitus der Diana an], tritt z u d e m M ä d -

chen hin, und beginnt sehr bald die körperliche Annäherung gegen den Willen der Callisto, die sich heftig zur Wehr setzt, als sie die Tarnung zu durchschauen beginnt.128 Nachdem Iuppiter den arkadischen Hain verlassen hat, bleibt Callisto verstört zurück und vergisst während ihrer Flucht von dem Orte um ein Haar Köcher und Bogen. Kurz darauf begegnet sie im Walde der wahren Diana, die sie anruft. Callisto erschrickt zunächst, da sie glaubt, wiederum den getarnten Göttervater vor sich zu haben: adspicit hanc visamque vocat: clamata refugit et timuit primo, ne Iuppiter esset in illa','29 [Die Göttin erblickt sie und ruft sie an; doch die Angeredete schreckt zurück und fürchtete zunächst, Iuppiter könne in ihr wohnen.] D o c h d i e z a h l r e i c h e n

Nymphen, die im Gefolge der Diana auftauchen, zerstreuen Callistos Bedenken und sie schliesst sich der Schar an. Während sie weiter mit dem Schwärm der Nymphen umherzieht, verbirgt sie ihre Schwangerschaft vor den anderen. Die Lage spitzt sich noch zu, als der Schwärm neun Monate später an einem heissen Tage nach anstrengender Pirsch an einen kühlen Weiher gelangt, in den zur Abkühlung einzutauchen man allgemein beschliesst. Alles zieht sich aus, nur una moras quaerit;130 [eine einzige ziert sich.] Aber Callisto wird von den mutwilligen Nymphen, die ihr Zaudern als Koketterie deuten mögen, endlich doch entkleidet. Sie versucht noch, Bauch und Schoss mit den Händen zu verdecken, um ihr furchtbares Geheimnis zu schützen: qua posita nudo patuit cum corpore crimen. attonitae manibusque uterum celare volenti >iprocul hinc< dixit mec sacros pollue fontes ! Als die Kleider abgelegt waren, wurde zusammen mit ihrem Körper auch die Folge des Verbrechens offenbar. Zur verzweifelten, die noch versuchte, ihren Schoss mit den Händen zu bedecken, sprach die Göttin: >Geh weit fort von hier, und beflecke nicht die heiligen Quellen!
[...] adimam tibi namque figuram, qua tibi quaque places nostro, importuna, marito. Ich nehme dir nämlich deine Gestalt, in der du, Unglückliche, dir selbst und meinem Mann so gefällst! Bewegungsverben< subit, exuit und retendit entschleunigen die imperfektischen, durativen Verben iacebat und premebat die Handlung schrittweise bis zur völligen Unbewegtheit. Das Adjektiv fessam unterstützt die zeitweilige Stillstellung der Figur zusätzlich.

132

II 4 7 4 f .

133

Vgl. II 483fr.

134

Vgl. II 4 9 6 f f .

135

II 505fr.

77

Dynamik

Ein gutes Beispiel ist auch der M o m e n t , in dem nach der Entkleidung durch die mutwilligen N y m p h e n Callistos Schwangerschaft offenbar geworden ist: cunctae velamina ponunt: una moras quaerit; dubitanti vestís adempia est, qua posita nudo patuit cum corpore crimen, attonitae manibusque uterum celare volenti >iprocul hinc< dixit >nec sacros pollue fontes/e136 Alle ziehen sich aus, nur eine ziert sich; Da wird sie von den anderen entkleidet, und als sie schliesslich nackt dastand, wurde zusammen mit ihrem Körper die Folge des Verbrechens offenbar. Zur verzweifelten, die noch versuchte, ihren Schoss mit den Händen zu bedecken, sprach die Göttin: >Geh weit fort von hier, und beflecke nicht länger die heiligen Quellen!< Bewirkte in II 4 1 7 f f . v. a. das Imperfekt die Verlangsamung, ist Statik hier anders hergestellt. Durch die d e m Prädikat dixit zugeordneten Partizipien attonitae

und volenti

ist nämlich die zeitliche Ausdehnung dieser Handlun-

g e n s o w o h l im präsentischen Partizipialaspekt ausgedrückt, w i e auch durch die nicht zuletzt grammatisch enge Verknüpfung mit der Äusserung der Diana die körpersprachliche Handlung zumindest während der wörtlichen Rede andauert. Z w e i f e l l o s die Klimax der Episode ist der M o m e n t der B e g e g n u n g v o n Mutter und Sohn: ecce, Lycaoniae proles ignara parentis, Arcas adest ter quinqué fere natalibus actis, dumque feras sequitur, dum saltus eligit aptos nexilibusque plagis silvas Erymanthidas ambit, incidit in matrem; quae restitit Arcade viso et cognoscenti similis fuit, ille refugit inmotosque oculos in se sine fine tenentem nescius extimuit propiusque accedere aventi vulnifico fueratfixuruspectora telo.nl Sieh, da ist Arkas, der ahnungslose Sohn der Lycaonischen Mutter, fünfzehn Jahre alt, und während er dem Wild hinterherjagt, geeignete Waldschluchten auswählt und dann in den erymanthischen Wäldern seine Netze ausspannt, da steht er plötzlich vor seiner Mutter. Die blieb stehen, da sie Arkas sieht, und es schien, als hätte sie ihn erkannt. Er schrak zurück und geriet, den starren Blick fortwährend auf sie gerichtet, ahnungslos in Furcht; Schon war er im Begriff, ihr, die sich ihm nähern wollte, mit seinem tödlichen Jagdspiess die Brust zu durchbohren. Seinen statischen Charakter erhält das Ende der Szene nicht nur durch die Semantik v o n restitit 136 137

II 4 6 0 f f . II 4 9 6 f f .

und refugit,

inmotos

und sine fine s o w i e durch das

78

Visualisierungsstrategien

Partizip Futur Aktiv fixurus; Am eindrucksvollsten ist hier nach der Serie von Bewegungsverben in II 498f. (sequitur, eligit, ambit) die durch incidit schon zu Beginn ganz plötzlich bewirkte >EntschleunigungLebendigen< nachweisen.

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den Erzählfluss und montierte man die entsprechenden Textpassagen unter Auslassung dessen, was dazwischen liegt, aneinander, wäre die ganze lange und wendungsreiche Fabel auch ohne die Strecken zwischen den Einzelbildern in ihrem Gang begreifbar. Denn ganz wie die Teilereignisse der diachron-konsekutiven Sequenzierung verweisen die Teilereignisse der Makro-Sequenzierung aufeinander, weil sie einen Progress abbilden und jedes für sich Ursache von etwas Vorangegangenem und Vorraussetzung für etwas Folgendes ist. Daher scheint es gerechtfertigt, von diachronkonsekutiver Makro-Sequenzierung zu sprechen.139 Die Einarbeitung solcher Deskriptionen in den Erzählfluss und ihre Positionierung an Schlüsselstellen des Plots zeitigt erstaunliche Wirkungen, derer sich die Rezipienten in den seltensten Fällen bewusst sind. Während des Textkonsums entfalten Deskription, körpersprachliche Deskription und Sequenzierungen ihre Wirkung, indem sie ein starkes visuelles Erlebnis produzieren, das anhand der körpersprachlichen Schilderung die Einfühlung in die Figur der unschuldig leidenden Callisto, das Mitleid und das Mitleiden erheblich steigert: die Erzählung wird durch sie sowohl plastischer als auch packender.140 Noch mehr wirkt diese Technik jedoch in der Phase, da das Kunsterlebnis der Erinnerung überantwortet ist. Denn die in einer wendungsreichen Fabel so stark exponierten Einzelbilder sind freilich erheblich besser memorabel als ein prozessualer geschildertes Geschehen es wäre,'41 139 Vergleichbare Anmutung hat das carmen 64 Catulls, von dem Schmale, S. 49 feststellt: »[Andererseits jedoch wird ausserhalb der Ekphrasis die Erzählung immer wieder angehalten, in Bildern stillgestellt. Eine eigentliche Erzählung, die sukzessive Handlung in Szene setzt, findet fast überhaupt nicht statt, sondern Erzählstränge werden gekappt, münden in bildhafte Szenen [...]. Auf diese Weise kommt es zu einer Verräumlichung der Erzählung, sie wird wiederholt in ihrem Zeitfluss unterbrochen. Das Gedicht präsentiert sich über weite Strecken mehr als Abfolge von Bildern, als >Bilderreigen< denn als lebendige Handlung.« (Ähnlich ebd., S. 284f.) Rademacher 1974 konstatiert eine vergleichbare Technik für die taciteische Historiographie. Für die annales und die historiae sei festzustellen, »dass sich die Schilderungen nicht gerade an strukturell unwichtigen Stellen des Geschehensablaufes finden« (S. 163), sogar »an kompositorisch wichtigen, ja entscheidenden Stellen stehen« (S. 215). Abschliessend heisst es: »Wenn man für das Werk des Tacitus den Begriff des Dramatischen anwenden will, so kann man es bei diesen beiden Episoden [Ann. 1, 16-30 und 1, 31-45] ohne Bedenken tun. Hier findet sich >eine genaue Bezeichnung ihrer (seil, der Handlung) Steigerungen und Ruhepunkte und dadurch gleichsam ihrer Acte, eine geschickte Vorbereitung und Einleitung ihrer Hauptwendungen, ein oft schlagender Ausdruck jeder Peripetie, eine sehr überlegte Wahl der Stellen, von wo sich Licht über das Ganze oder über einzelne Teile verbreitet ...< [Fn.: Süvera, S. 96f.] Doch empfiehlt es sich, bei der Lämmertschen Terminologie zu bleiben und von einer im wesentlichen szenischen Darstellung zu sprechen, [Fn.: Lämmert, S. 87; 92] deren Spannungsbögen durch die eingefügten Bilder markiert werden.« (S. 215) 140

Zur evidentia als affekterregender Technik vgl. S. 168, Fn. 58. Diese Comic-artige Technik ist sicher mitverantwortlich ftir die Umsetzung der Metamorphosen in einen Comic. K.-H. Graf v. Rothenburg und M. Frei setzten 1999 zehn ausgewählte Episoden der Metamorphosen in einen Comic um (Rubricastellus u. a.), aber auch andere Epen besonders die homerischen und die Aeneis Vergils - sind im Comic stark rezipiert worden (vgl. 141

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Visualisierungsstrategien

weil durch die Umarbeitung prozessualer Komplexität zu sequenzierter Statik der Stoff stark komprimiert wird.142 Unter anderem der Hang der Metamorphosen zur ikonographischen Reihe hat den Mythos »auch für spätere Epochen leicht assimilierbar und übertragbar gemacht«143 und so das unvergleichliche Fortleben des Textes ermöglicht. 144

dazu Korenjak; Eloy; Buffière). Zudem gab es Bestrebungen, Teile der Aeneis in ein Film-Skript umzusetzen (vgl. Mench). 142 Bilder dieser Art, so Rademacher zum Phänomen in der Taciteischen Geschichtsschreibung, dienten dazu, »dem Leser Ansichten und Überzeugungen des Autors darzubieten, und zwar in einer Form, die dazu geeignet ist, stark auf die memoria des Lesers einzuwirken.« (S. 255) Ähnlich Hommel zur >Bildhaftigkeit< des Tacitus allgemein: »Soll nun, wie wir es ja im Anschluss an Klingner von Tacitus's Geschichtswerk feststellen konnten, programmatisch die memoria an Vergangenes lebendig gemacht und forterhalten werden, so müssen solche Bilder - imagines - , wie sie sonst gemeinhin durchs äussere Auge einzugehen pflegen, zu unmittelbarer Schau vor die Seele gestellt werden. Dass Tacitus als Diener an der memoria bildhaft gestaltet hat, konnte also nichts Ungewöhnliches sein;« (S. 141) Hier (S. 141 ff.) auch Ausführungen zum engen Zusammenhang von memoria und imago sowie zur antiken Mnemotechnik. 143

V. Albrecht, Fortwirken, S. 987f. Betrachtet man übrigens die Sage, wie die ovidischen Fasti sie in 2, 155-192 erzählen, wird rasch deutlich, dass die Version - schon im Umfang kaum vergleichbar - mit nicht annähernd so elaborierten Visualisierungsstrategien arbeitet wie die Metamorphosen. Wo letztere in II 417ff. das Bild des Hains und des in ihm lagernden Mädchens sorgfaltig und am Ende entschleunigend entwerfen, heisst es in Fast. 2, 162 lediglich: cavit mortales, de love crimen habet. Auch die Enttarnungsszene ist - trotz der erkennbaren Absicht, die Vorgänge im Hain zum Zentrum der 20 Distichen zu machen - wesentlich knapper gehalten als Met. II 460ff.: exuerat tunicas; uteri manifesta tumore proditur indicio ponderis ipsa suo. cui dea >virgineos, periura Lycaoni, coetus desere, nec castas pollue< dixit >aquas.< (Fast. 2, 171ff.). Vor allem fehlt hier der so anrührende Versuch der Callisto, sich mit den Händen vor den Blicken der anderen zu schützen. Ebenfalls stark verkürzt gegenüber Met. II 496ff. ist die Mutter-Sohn-Begegnung in Fast. 2, 183ff.: iam tria lustra puer furto conceptus agebat, cum mater nato est obvia facta suo. illa quidem, tamquam cognosceret, adstitit amens, et gemuit: gemitus verba parentis erant. hanc puer ignarus iaculo fixisset acuto ni foret in superas raptus uterque domos. Zieht man noch weitere vorgängige Bearbeitungen der Sage hinzu (Die literarische Überlieferung der Callisto-Sage ist ausfuhrlich dargelegt von Franz. Die Arbeit präpariert aus der Überlieferung fünf verschiedene Formungen der Sage heraus, auf die je ein Teil der Überlieferung zurückzufuhren sei: eine, die auf Hesiod zurückgehe, eine, die auf den arkadischen Volksglauben zurückgehe, eine, die auf Kallimachos zurückgehe, eine die auf Eratosthenes zurückgehe und schliesslich eine, die auf Ovid zurückgehe), wird deutlich, wie wenig Wert die den Metamorphosen vorgängige Mythographie scheinbar auf die narrative Aus- und Durchgestaltung ihres Stoffes gelegt hat und mit wie immensem Aufwand die Metamorphosen nach Visualisierung ihres Stoffes streben. Bedenkenlos lässt sich deshalb auf Ovids Bearbeitung nicht nur des Callisto-Stoffes anwenden, was Fränkel über dessen Umgang mit der ihm überlieferten Version des Pygmalion-Mythos in den Metamorphosen gesagt hat: »[W]enn [...] das alles war, was Ovid vorlag, dann war sein Rohmaterial billig und unbedeutend im Vergleich zu dem, was er daraus gemacht hat.« (Fränkel, Dichter, S. 104f.) 144

Dynamik

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2.3.7 Sequenzierungen - die Ästhetik der bildenden Kunst An vielen Stellen in den Metamorphosen wird anhand des Hinweises, jemand berichte ordine, bzw. ex ordine eine ideale Erzählsituation signalisiert.145 In der Aeneis ist mit der gleichen Wendung die Rezeption des narrativen Frieses im Iuno-Tempel Karthagos beschrieben, dessen Teilbilder Aeneas nacheinander betrachtet, so dass für ihn wie für den Rezipienten der Passage ein bewegtes Panorama der Kämpfe vor Troja entsteht,146 ähnlichen Wortlaut finden wir auch in der Schildbeschreibung, wo es in Aen. 8, 629 heisst, die Kämpfe im Latium seien in ordine dargestellt. Dadurch, dass die verschiedenen Sequenzierungstechniken dynamische Komplexitäten der erzählten Welt zu nur wenigen, statischen Bildern formen, entsteht tatsächlich ein Kunsterlebnis, das sonst nur eine mythologische Wandmalerei oder ein narrativer Fries verschaffen kann, der einen populären Mythos in wenigen konsekutiven Bildern mitteilt oder - etwa in einer breiten Schlachtendarstellung - eine Gleichzeitigkeit abbildet.147 Erzielen die Metamorphosen bereits durch die Aneignung >dramatischer< Ausdrucksformen Wirkungen, die ansonsten nur die Bühne bewirken kann,148 adaptiert der Text zusätzlich noch der bildenden Kunst eignende 145

Vgl. dazu S. 164f. namque sub ingenti lustrat dum singula templo reginam opperiens, dum quae fortuna sit urbi artificumque manus intra se operumque laborem miratur, videi Iliacas ex ordine pugnas beUaque iam fama totum vulgata per orbem [...]. Aen. 1, 453ff. 147 Zur transmedialen Erzähltheorie jüngst Mahne. Die Bestrebungen schon der antiken Kunst, besonders der Malerei und des Reliefs, zeitlich ausgedehnte Ereignisse zu sequenzieren, untersuchten etwa Kaelin und Lochman im Zusammenhang einer Arbeit zur Antikenrezeption im neuzeitlichen Comic. Die Autoren weisen anhand ägyptischer und assyrischer Schlachtenreliefs sowie diversen Vasenmalereien und Friesen aus griechisch-römischer Zeit nach, mit wie verschiedenartigen, comic-haften Techniken die bildende Kunst schon frühzeitig versuchte, sich als >Augenblicksmedium< die Dimension der Zeit dennoch darstellend hinzuzugewinnen. Lochman stellt dabei für die griechische Kunst fest, deren Künstler hätten »im Laufe der Zeit denn auch immer mehr das Geschick verfeinert, schon allein durch die Wahl eines bestimmten szenischen Augenblicks, auch die vergangenen wie noch bevorstehenden Momente einer Handlung insinuierend zu vergegenwärtigen.« (Lochman, S. 22) Im Hinblick auf die Zeit in mehrbildrigen Darstellungen, so Lochman weiter, sei jedoch auffallend, dass »weder in der Bilderserie noch im Fries [...] die griechischen Maler bzw. Bildhauer eine kontinuierliche zeitliche Abfolge« anstrebten (Lochman, S. 24): »Erst seitdem die Griechen gegen die Wende zur Klassik hin (ca. um 500 v. Chr.) ein Interesse an der Geschichte entwickelt hatten und nachdem auch eine griechische Geschichtsschreibung einsetzte [...], fliesst auch der Faktor >Zeit< in die griechischen Friese und Bilder ein. Dies betrifft vor allem die monumentalen Reliefs, die an öffentlichen Gebäuden zu sehen waren.« (Lochman, S. 27) In hellenistisch-römischer Zeit hat sich nach Lochman die narrative Technik der bildenden Kunst zu voller Blüte entfaltet (S. 27) und er weist daraufhin, dass »die Römer in der Entwicklung der narrativen Bildersprache und mit der teilweisen Einbindung auch der Schrift die Bedingungen der modernen Comic-Sprache praktisch erfüllt hatten.« (Lochman, S. 30) Literatur für Rom: Brilliant. Für Griechenland und Rom: Lochman, S. 22ff. Weiter interessant: J. Assmann, Stein und Zeit; J. Assmann, Flachbildkunst; Schlingloff; Gaballa. 146

148

Vgl. dazu S. 56f.

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Visualisierungsstrategien

Darstellungs-, bzw. Erzählverfahren. Zu ελεος und φόβος tritt Einprägsamkeit.149

2.4 Die >Entgrenzung< der Fiktion 2.4.1 Visuelle Figurenperspektive Ist eine Figur, ein Objekt der Natur oder eines der Kunst vom Text visualisiert, d. h. geschildert, erhält der Rezipient häufig Kenntnis von einer Figur der erzählten Welt, die das Beschriebene ebenfalls beobachtet: Das Publikum, in dessen verarbeitendem Bewusstsein Wahrgenommenes und Wahrnehmender gleichermassen imaginiert sind, sieht eine Figur der Erzählten Welt ein Objekt der Erzählten Welt sehen.150 Damit betrachten schon zwei Instanzen - der Rezipient ausserhalb der Fiktion und die Text-Figur im Inneren der Fiktion - ein Objekt gemeinsam.151 Jedoch sind es nur selten zwei verschiedene Perspektiven. In den meisten Fällen ist durch die untrennbare Verbindung von Schilderung und Seh-Akt dafür gesorgt, dass Leser- und Figurenperspektive vorübergehend zusammenfallen, wie in II 149

Vgl. dazu auch S. 79f. Vgl. ζ. Β. I 324ff.; 348ff.; 425ff.; 490; 498ff.; 588f.; 601ff.; 629ff.; 640ff.; 680ff.; 699; 713f.; 767ff.; II 19ff.; 107ff.; 116f.; 178; 190; 190; 193f.; 198f.; 208f.; 227f.; 294f.; 409f.; 521ff.; 403f.; 404f.; 422; 443; 445; 493f.; 501f.; 748; 752; 768f.; 773; 858; III 15; 55f.; 95; 146ff.; 200; 206; 243; 245f.; 247; 327f.; 370f.; 420; 428; 430ff.; 494; 577; 609; 676f.; IV 67f.; 99f.; 105; 107f.; 129; 131; 133; 137; 145f.; 147f.; 185f.; 218ff.; 264f.; 297; 316; 339ff.; 375f.; 380f.; 420f.; 464ff.; 544; 669ff.; 714f.; 731; 779ff.; 782ff.; V 22; 59f.; 133f.; 190; 21 lf.; 264ff.; 296; 297; 363; 393ff.; 440f.; 447f.; 470ff.; 505; 536ff.; 542; 560; 569f.; 603; 614f.; 671ff.; VI 17f.; 180f.; 247f.; 343ff.; 455f.; 553f.; 639ff.; VII 34f.; 76f.; 131ff.; 135f.; 222ff.; 234f.; 256f.; 285f.; 294f.; 371; 384f.; 388f.; 42Iff.; 433f.; 436ff.; 490ff.; 565f.; 584f.; 587; 602; 624ff.; 635; 637; 639; 643; 655; 672f.; 679f.; 70Iff.; 779ff.; 789ff.; 845ff.; 862; VIII 19f.; 42ff.; 144f.; 217ff.; 233f.; 236f.; 324f.; 367ff.; 385f.; 422f.; 446; 553f.; 573ff.; 679f.; 696f.; 701f.; 709f.; 714f.; 732; 753; 799f.; 803; 809f.; 859ff.; IX 46ff.; 194ff.; 21 lf.; 250; 310f.; 344f.; 353ff.; 359f.; 439ff.; 461f.; 602f.; 643f.; 686ff.; 695f.; 776f.; X 20f.; 56f.; 131 f.; 197; 225ff.; 243ff.; 281; 292ff.; 384ff.; 472ff.; 554ff.; 575; 578ff.; 588ff.; 597; 632; 720ff.; XI 3ff.; 34; 61f.; 79f.; 160; 182f.; 199ff.; 332f.; 336f.; 394ff.; 427ff.; 435ff.; 457f.; 463f.; 465f.; 467; 468ff.; 503ff.; 546ff.; 553; 672f.; 677ff.; 686ff.; 714ff.; 749f.; 75Iff.; 769ff.; XII 13f.; 88ff.; 113f.; 125f.; 129ff.; 143ff.; 171f.; 182ff.; 258f.; 320f.; 327f.; 366f.; 426; 429ff.; 443f.; 520f.; 524ff.; 588f.; 598ff.; XIII 3f.; 70; 73f.; 197; 223f.; 262ff.; 415ff.; 455f.; 495; 521 f.; 536f.; 579ff.; 583f.; 645ff.; 764ff.; 824ff.; 840ff.; 870ff.; 873ff.; 906; 913f.; 960ff.; XIV 59ff.; 64f.; 167ff.; 177ff.; 18Iff.; 198ff.; 210ff.; 218; 286f.; 313f.; 349ff.; 358ff.; 423ff.; 474; 504f.; 514ff.; 563ff.; 652f.; 659f.; 652f.; 727f.; 738ff.; 751ff.; XV 132f.; 229ff.; 261ff.; 444f.; 508ff.; 552ff.; 560f.; 565ff.; 576ff.; 608; 610ff.; 653ff.; 659f.; 738ff.; 771ff.; 803f.; 840ff.; 850f. 150

151 In der Forschung ist das verschiedentlich gesehen worden. Hinds, Landscape etwa merkt dazu an: »Rather the point is that Ovid's landscape descriptions characteristically involve invitations to view, whether channelled through the perceptions of Charakters who enter a setting (>s/he saw ...(), or more implicitly prompted by strong visual themes in the plots enacted therein [...].« (S. 136).

D i e >Entgrenzung< der Fiktion

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709ff., wo der über Athen kreisende Merkur von oben die Aglauros erblickt: Munychiosque volans agros gratamque Minervae despectabat humum cultique arbusta Lycei. illa forte die castae de more puellae vertice subposito festas in Palladis arces pura coronatis portabant sacra canistris. inde revertentes deus adspicit ales iterque non agit in rectum, sed in orbem curvai eundem.152 Im Flug blickte er herab auf die Felder v o n Munychia, das Land, das der Minerva so lieb war, und die gepflegten Pflanzungen d e s Lyceums. Zufällig trugen an d i e s e m Tag dem Herkommen g e m ä s s keusche Mädchen die heiligen Gerätschaften in kranzgeschmückten Körben auf d e m K o p f zur festlich hergerichteten Burg der Pallas. Der geflügelte Gott betrachtet sie, w i e sie v o n dort zurückkehren, und beschreibt keine gerade Bahn mehr, sondern beginnt Kreise zu ziehen.

Die Mitteilung der sehenden Tätigkeit des Merkur durch den Erzähler (despectabat humum, revertentes deus adspicit) und die detaillierte Mitteilung dessen, was er sieht (castae de more puellae vertice subposito festas in Palladis arces pura coronatis portabant sacra canistris),152 fuhren zu einer Überlagerung der ausser- und innertextlichen Blickrichtung, wie überall dort, wo der Sehvorgang einer konkreten und genannten Instanz unter Mitteilung dessen mit einer Deskription verbunden ist, die - und das ist ungemein wichtig - den Bewusstseinshorizont der erwähnten Figur nicht überschreitet. Ein weiteres exzellentes Beispiel fur eine visuelle Figurenperspektive liegt vor, wo Alcyone dem Schiff des Ceyx hinterherblickt, bis es nicht mehr zu sehen ist: sustulit illa umentes oculos stantemque in puppe relicta concussaque manu dantem sibi signa maritum prima videt redditque notas; ubi terra recessit longius atque oculi nequeunt cognoscere vultus, dum licet, insequitur fugientem lumine pinum. haec quoque ut haudpoterai spatio summota videri, vela tarnen spectat summo fluitantia malo; ut nec vela videt, vacuum petit anxia lectum seque toro poniti54

152

Zur hier geschilderten, festlichen πομπή, dem Zug der Παναθήναια, vgl. Börner, I-III, S.

406. 153 Anderson, Books 1-5, S. 318f. ad loc.: »Ovid imagines an occasion much like those in New Comedy, when a young man first sees a girl of good family in public. Religious celebrations gave rare opportunities for girls to escape the confines of their houses. In New Comedy, such occasions almost inevitably lead to the rape of the girl; and Mercury looks for a similar conclusion.« 154 XI 463ff. Zu XI 466f. (ubi terra recessit longius) bemerkt Hill, IX-XII, S. 198 zu Recht: »[J]ust for a moment, the perspective changes to that of Ceyx before returning to Alcyone's.« Laut

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Visualisierungsstrategien

Sie hob ihren tränenfeuchten Blick und sieht als erste ihren Mann, der am Heck steht und ihr winkend Zeichen gibt; Sie winkt gleichfalls. Als die Küste schon weit entfernt ist und ihre Augen seine Gestalt nicht mehr erkennen können, folgt sie dem Schiffsrumpf mit dem Blick, solange es geht. Als auch der wegen der wachsenden Entfernung nicht mehr sichtbar ist, betrachtet sie stattdessen die noch über den Horizont ragenden Segel. Erst als sie auch die nicht mehr sieht, nimmt sie sorgenvoll Zuflucht zu ihrer leeren Bettstatt und wirft sich auf das Polster. I n d e s hier d i e s e h e n d e Figur, in deren P e r s p e k t i v e e i n e d a m i t v e r b u n d e n e D e s k r i p t i o n für d e n R e z i p i e n t e n gerät, g l e i c h z u B e g i n n e i n g e f ü h r t u n d als s e h e n d v o r g e s t e l l t ist, k a n n d i e I n f o r m a t i o n , d a s s j e m a n d e t w a s s e h e , b z w . e t w a s g e s e h e n h a b e , a u c h erst n a c h e i n e r S c h i l d e r u n g g e g e b e n w e r d e n , z. B . in V I I I 2 1 2 f f . Zuerst sind dort D a e d a l u s u n d Ikarus a u f i h r e m Katastrop h e n f l u g v o n der E r z ä h l i n s t a n z in k o n v e n t i o n e l l e r P e r s p e k t i v e g e s c h i l d e r t , erst n a c h t r ä g l i c h , in VIII 2 1 7 f f . , tritt d i e F i g u r e n - P e r s p e k t i v i k hinzu: pennisque levatus ante volat comitique timet, velut ales, ab alto quae teneram prolem produxit in aera nido, hortaturque sequi damnosasque erudit artes et movet ipse suas et nati respicit alas, hos aliquis, tremula dum capiat harundine pisces, autpastor báculo stivave innixus arator vidit et obstipuit, quique aethera carpere possent, credidit esse deos.] 55 Von seinen Schwingen getragen fliegt er voran und fürchtet dabei um seinen Gefährten wie ein Vogel, der vom hohen Nest seine j u n g e Brut in die Luft führt; Er mahnt ihn, zu folgen und lehrt ihn so die verderbenbringende Kunst, bewegt dabei seine Schwingen und blickt doch stets zurück auf die seines Sohnes. Die beiden sah so manch einer, der mit zitternder Rute fischte, ein Hirte mit seinem Stab oder ein Pflüger, auf den Sterz gestützt, und erstarrte, und glaubte - denn schliesslich konnten sie j a fliegen - es handele sich um Götter. In all d i e s e n F ä l l e n l e g t d i e E r z ä h l i n s t a n z d i e v i s u e l l e P e r s p e k t i v e d e s R e z i p i e n t e n in d i e j e n i g e e i n e s dritten, einer Figur der e r z ä h l t e n W e l t . S o m i t l i e g t Subjektivität v o r , a l l e r d i n g s nur mittelbare. U n m i t t e l b a r e Subjektivität

Börner, X-XI, S. 360 ist das langsam ausser Sicht kommende Schiff ein elegisches Motiv. Übereinstimmend Murphy, S. 68. Vgl. zum Meer in der lateinischen Poesie: Saint-Denis, S. 448; 464. 155 Vgl. Ars 2, 77 t: Hier werden Vater und Sohn von lediglich einem Fischer gesehen, der vor Staunen seine Rute fallen lässt. Das berühmte Gemälde Breughels, mit Fischer, Schäfer und Bauer geht also eindeutig auf Met. VIII 217ff. zurück. In diesem Sinne Anderson, Books 6-10, S. 353 und Hollis, S. 60, der zusätzlich zum Bruegel'sehen Bild (plate III) ein ähnliches Wandbild aus Pompeji zeigt (plate IV) und im Hinblick auf das Motiv des ein phantastisches Geschehen naiv beobachtenden Landmanns u. a. auf Cie. Nat. Deor. 2, 89 verweist: Dort hat sich ein Fragment der Medea des Accius erhalten, in dem ein Schäfer sein Erstaunen beim Anblick der Argo zum Ausdruck bringt, im Glauben, es handele sich um ein Seeungeheuer.

Die >Entgrenzung< der Fiktion

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h i n g e g e n besteht dann, w e n n eine Figur der erzählten W e l t in direkter Figurenrede e i n optisches Erleben mitteilt. D a n n gerät die Rezipientenwahrn e h m u n g o h n e B e t e i l i g u n g und Z u w e i s u n g durch eine vermittelnde Erzählerinstanz direkt in die fiktive Subjektivität, w i e in die d e s A c h a e m e n i d e s , der v o n seiner traumatisierenden B e g e g n u n g mit P o l y p h e m berichtet: me luridus occupât horror spectantem vultus etiamnum caede madentes crudelesque manus et inanem luminis orbem membraque et humano concretam sanguine barbam: mors erat ante oculos, minimum tarnen ipsa doloris. et iam prensurum, iam nunc mea viscera rebar in sua mersurum, mentique haerebat imago temporis illius, quo vidi bina meorum ter quater adßigi sociorum corpora terrae, cum super ipse iacens hirsuti more leonis visceraque et carnes cumque albis ossa medullis semianimesque artus avidam condebat in alvum. me tremor invasit: stabam sine sanguine maestus mandentemque videns eiectantemque cruentas ore dapes et frusta mero glomerata vomentem.156 Mich packt das blanke Entsetzen, wie ich sein Gesicht sehe, das immer noch von Blut trieft, seine grauenhaften Hände, die leere Augenhöhle und den von Menschenblut verklebten Bart. Der Tod stand mir förmlich vor Augen, doch machte der mir noch am wenigsten Sorgen. Gleich, fürchtete ich, werde er mich packen, gleich meine Innereien in die seinen versenken, und mir kam das Bild jenes Augenblicks in den Sinn, in dem ich mitansehen musste, wie die Körper zweier meiner Gefährten dreimal, viermal auf den Boden geschmettert wurden, während er, sich darüber beugend, wie ein struppiger Löwe die Eingeweide, das Fleisch, die Knochen mit ihrem weissen Mark und die nur halbentseelten Glieder in seinen gierigen Wanst stopfte. Zittern überkam mich: Kreidebleich und voll Trauer stand ich da, beobachtete, wie er kaute und dann seine blutige Speise wieder auswürgte und mit Wein vermengte Fleischbrocken erbrach. D i e Schilderung erhält durch diese V e r l e g u n g des virtuellen Leserblickes in eine v o l l w e r t i g e Figurenperspektive 1 5 7 hinein erstens eine gesteigerte 156

XIV 198ff. Hill, X1II-XV, S. 177 gibt als Parallelstellen Horn. Od. 9, 287-293 und 371-374. Die beiden in den Metamorphosen auftauchenden Odysseus-Gefährten Achaemenides und Macareus sind für Börner lediglich Hilfsmittel der Erzählung, um den Homerischen Stoff annähernd plausibel einzubinden: »Mit XIV 440 hat Macareus dann seine Erzählungen beendet, er hat für die poetische Regie seine Schuldigkeit getan und erleidet damit das Schicksal solcher ad hoc erfundener Gestalten: Der Dichter sagt nicht, wo er geblieben ist, und das ist kein Zufall, er hat auch nicht gesagt, wie er nach Caieta gekommen ist (XIV 440). Für Ovids Erzählungen sind die Personen da, wenn sie gebraucht werden [...], und sie verschwinden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden [...].« (Börner, XIV-XV, S. 65f.) 157

Es lassen sich vollwertige und nicht vollwertige Figurenperspektive unterscheiden. Als vollwertig kann eine visuelle Figurenperspektive dann angesehen werden, wenn sowohl die

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Visualisierungsstrategien

Intensität, da sich die wahrnehmenden Instanzen vermehren und mit ihnen ein darin objektiviertes Interesse am Geschilderten.158 Zweitens vermag eine derart verengte, weil personalisierte Perspektivik das Publikum ungleich stärker zu fesseln und Spannung zu erzeugen: Man vergleiche verschiedene Techniken der Malerei oder des Films, die in ähnlicher Weise den Blick des Publikums fuhren. Dort entspricht bspw. eine blicklenkende, auch der Tiefenwirkung dienende >Repoussoir-Figur< oder die »subjektive KameraMauerschau< den die Stadt belagernden Feldherren mit wachsendem Entzücken beobachtet:159 hac iudice Minos, seu caput abdiderat cristata casside permis, in galea formosus erat; seu sumpserat aere fulgentem clipeum, clipeum sumpsisse decebat; torserat adductis hastilia lenta lacertis: laudabat virgo iunctam cum viribus artem; sehende Instanz mitgeteilt ist, als auch das Gesehene eine hinreichende Deskription erfahrt. Schwächere Formen liegen dort vor, wo die Information über das Gesehene zu spärlich ist, oder aber die Nennung eines spezifischen, wahrnehmenden Subjektes auf Textebene unterbleibt, etwa durch Verwendung einer Form des passivisch-unpersönlichen videri. Eine nicht vollwertige Variante ist auch das >Zeigen und Deutern: Dadurch, dass eine Figur einer anderen gegenüber auf etwas, was beiden sichtbar ist, zeigt und deutet, etwa mit dem Finger unter begleitender Rede, wird die Perspektive auf das Bedeutete der Figur, an die die Aufforderung gerichtet ist, zugewiesen. In XIV 113ff. beispielsweise spricht die Sibylle zu Aeneas: dixit et auro fulgentem ramum silva lunonis Avernae monstravit iussitque suo divellere trunco. Vgl. auch: II 697; Vili 573ff.; XI 751 ff.; XII 604f.; XIII 381 ; 415ff.; 511 ff.; XIV 113ff.; 313f. 158 Lobe erfasst in seiner Untersuchung zu den Gebärden in Vergils Aeneis für diesen Text eine ähnliche Technik im Abschluss an Halter, S. 162. Im Falle besonders spektakulärer Kampfszenen lasse Vergil »das Geschehen nicht einfach seinen Lauf nehmen, sondern sichert ihm zuvor mit einem dramaturgischen Kunstgriff das Interesse des Lesers: indem er Menschenmassen den Blick auf eine bestimmte Figur lenken lässt, gibt er dem Leser/Hörer der Aeneis damit vorab ein deutliches Signal, dass sich im folgenden etwas Aussergewöhnliches, >SehenswertesSchaulust< des Lesers. Die Funktion dieses Blicks ist dem Spotscheinwerfer einer modernen Theaterbühne vergleichbar: wie dessen Lichtkegel einen Darsteller besonders anstrahlt und ihn derart in den Mittelpunkt des Publikumsinteresses rückt, so hebt die Vielzahl der auf eine bestimmte Figur der Aeneis gerichteten Blicke diese besonders hervor.« 159

belio quoque saepe solebat spedare

ex illa [turri] rigidi certamina Mortis. (VIII 19)

Die >Entgrenzung< der Fiktion

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inposito calamo patulos sinuaverat arcus: sic Phoebum sumptis iurabat stare sagittis; cum vero faciem dempto nudaverat aere purpureusque albi stratis insignia pictis terga premebat equi spumantiaque ora regebat, vix sua, vix sanae virgo Niseia compos mentis erat [...].160 In ihren Augen sah Minos, hatte er sein Haupt unter einem Helm mit Federkamm geborgen, hinreissend aus; Hatte er seinen erzfunkelnden Rundschild aufgenommen, stand ihm das ausnehmend; Hatte er den schweren Speer mit raschem Armschwung fortgeschleudert, lobte die Jungfrau seine mit Kraft verbundene Technik; Hatte er nach dem Einlegen des Pfeils seinen gewaltigen Bogen gespannt: so, ja genauso, schwor sie, müsse Phoebus mit seinen Waffen dastehen. Und erst wenn er seinen Wuchs durch Ablegen der Rüstung zeigte und in Purpur gekleidet weithin sichtbar auf dem mit bemalten Decken überworfenen Pferderücken sass und von dort das schnaubende Ross lenkte, dann war die Tochter des Nisus kaum noch bei sich, kaum noch bei Sinnen ... Verdeutlicht man sich, als w i e unzuverlässig der Text an verschiedenen Stellen den Sehsinn gerade der Textfiguren entlarvt, 161 m u s s man hier beständig einer Täuschung gegenwärtig sein, in der sich die Fiktion selbst als Fiktion decouvriert. W i e stark eine solche Figurenperspektivik den Rezipientenblick auf die erzählte Welt verzerren, b z w . >krümmen< kann, mag die ein oder andere Stelle zeigen, die uns einen ersten Blick auf einen Gegenstand in einer v o m Erzähler geleisteteten Deskription gewährt, einen zweiten Blick auf denselben Gegenstand aber durch die A u g e n einer Textfigur, w i e im IV. Buch, w o wir ab Vers 4 3 2 eine erste, konventionell epische Unterweltsschilderung erhalten: est via declivis, funesta nubila taxo: ducit ad infernas per muta silentia sedes; Styx nebulas exhalai iners, umbraeque recentes descendunt illac simulacraque functa sepulcris; pallor hiemsque tenent late loca senta, novique, qua sit iter, manes, Stygiam qua ducat ad urbem, ignorant, ubi sit nigrifera regia Ditis. mille capax aditus et apertas undique portas urbs habet, utque fretum de tota flumina terra, sic omnes animas locus accipit ille nec ulli exiguus populo est turbamve accedere sentit, errant exsangues sine corpore et ossibus umbrae, parsque forum celebrant, pars imi tecta tyranni,

160 161

Vili 24ff. Vgl. dazu S. 147ff.

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Visualisierungsstrategien pars aliquas artes, antiquae imitamina vitae, exercent, aliam partem sua poena coercet.

Es gibt einen steilen Weg, beschattet von giftigen Eiben. Durch undurchdringliche Stille führt er hinab in das Reich der Toten. Die Styx verströmt ihre dicken Nebel, wohin die Schatten jüngst Verstorbener als Schemen aus dem Grabe hinuntersteigen. Fahles Licht und kalter Winter beherrschen die weithin trostlose Ödnis; Zuerst wissen die neu herabgekommenen Seelen nicht, wo der Weg ist, der zur stygischen Stadt führt, oder der schreckliche Palast des schwarzen Dis. Tausend weite Eingänge hat diese Stadt und überallhin geöffnete Tore, und wie der Ozean die Flüsse aus der ganzen Welt aufnimmt, so empfängt dieser Ort alle Seelen; für kein Volk ist er zu klein und er spürt es nicht, wenn die Menge wächst. Blutleere Schatten ohne Körper und Knochen irren darinnen umher. Ein Teil belebt das Forum, ein Teil die Hallen des finsteren Tyrannen, andere üben, wie in ihrem alten Leben, irgendein Handwerk aus, wieder andere quält die ihnen zugedachte Strafe.

Wenig später betritt Iuno die Unterwelt:162 sustinet ire illuc caelesti sede relicta (tantum odìis iraeque dabat) Saturnia Iuno. quo simul intravit sacroque a corpore pressum ingemuit limen, tria Cerberus extulit ora et tres latratus semel edidit; illa sorores Nocte vocat genitas, grave et inplacabile numen: carceris ante fores clausas adamante sedebant deque suis atros pectebant crinibus angues. quam simul agnorunt inter caliginis umbras, surrexere deae; Sedes Scelerata vocatur: viscera praebebat Tityos lanianda novemque iugeribus distractus erat; tibi, Tantale, nullae deprenduntur aquae, quaeque inminet, effugit arbor; aut petis aut urges rediturum, Sisyphe, saxum;

162 Der Aufenthalt der Iuno im Reich der Toten - und damit die Doppelung der Schilderung scheint im hohen Masse >gewolltzweiten Runde< zu ermöglichen, setzt sich der Metamorphosendicbter nach Börner (ebd.) über die vergilische Unterweltstopographie souverän hinweg: »Sei es nun, daß er sie als bekannt voraussetzt, sei es, daß er sich über die Einzelheiten hinwegsetzt, man kommt bei ihm mit der Topographie Vergils nicht weiter. Ovid hätte nämlich, wie gesagt, Iuno nur bis in die vergilische >Vorhölle< [...] zu schicken brauchen, wenn sie Tisiphone oder sonst eine der Erinyen antreffen wollte. Das hätte aber bedeutet, daß Ovid auf die Beschreibung der eigentlichen Unterwelt hätte verzichten müssen. [...] So hat Iunos Besuch in der Unterwelt auch seine poetisch-technischen Gründe.« Vgl. ebd. (S. 144ff.) zu den Abhängigkeiten der langen Passage.

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Die >Entgrenzung< der Fiktion volvitur Ixion et se sequiturque fugitque, molirique suis letum patruelibus ausae adsiduae repetunt, quas perdant, Belides undas. quos omnes acie postquam Saturnia torva vidit et ante omnes Ixiona, rursus ab ilio Sisyphon adspiciens, >cur hie e fratribus< inquit >perpetuas patitur poenas, Athamanta superbum regia dives habet, qui me cum coniuge semper sprevit?Haus der Verdammten< genannt: Hier gab Tityos seine Eingeweide der Zerfleischung preis und war dabei über neun Morgen ausgestreckt; du, Tantalus, erhaschst nicht einen Tropfen Wasser, und der Baum, dessen Zweige über dir hängen, weicht stets zurück; du, Sisyphos, stösst entweder den zurückrollenden Felsblock vor dir her oder läufst ihm nach; Ixion, der sich selbst verfolgt und flieht zugleich, dreht sich im Kreis und die Beliden, die ihren Vettern den Tod zu geben wagten schöpfen unermüdlich Wasser, das ihnen sogleich wieder davonfliesst. Nachdem die Tochter des Saturn all diese grimmigen Blickes betrachtet hatte, Ixion vor allem, sprach sie, sich von ihm ab- und dem Sisyphus zuwendend: >Weshalb leidet von den beiden Brüdern dieser hier ewige Qualen, während der hochmütige Athamas in einem königlichen Palast wohnt, obwohl er mich und meinen Gatten stets missachtet hat?< Verlangt bereits die N o t w e n d i g k e i t , ihren W e g dorthin zu schildern, die Mitteilung anderer Details als in o b e n s t e h e n d e m Erzählerbericht, fuhrt die plötzlich vorherrschende Figurenperspektive zu g a n z anderen G e w i c h t u n gen

und veränderten

Zugängen

zum

geschilderten

Gegenstand.

Iunos

W a h r n e h m u n g a u f ihrem W e g durch die Unterwelt, die hier (vgl. die Sperrungen) r e g e l m ä s s i g in Erinnerung gerufen wird, ist ihrem A n l i e g e n entsprechend nämlich besonders den Wächterfiguren, s o w i e den berühmtesten Sündern dortselbst g e w i d m e t , die i m ersten Teil keine Erwähnung g e f u n d e n hatten. 164

163 164

I V 447ff.

Zur Rezeption der Episode in Handschriftenillustrationen und frühen Drucken vgl. Wlosok, Unterwelt.

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Visualisierungsstrategien

2.4.2 Imaginierte Präsenz des Rezipienten Die bislang zusammengetragenen Techniken erzeugen, bzw. fördern einzeln und im Zusammenspiel die visuelle Vorstellung der erzählten Welt, wie sie vom verarbeitenden Bewusstsein des Rezipienten halbautonom erzeugt wird. 1 " Besonders durch die Visuelle Figurenperspektive kann im Einzelfall bereits, wie Goethe und ähnlich Bodmer es formulierten, der Eindruck entstehen, »in jenen heitern und herrlichen Gegenden mit Göttern und Halbgöttern zu verweilen und ein Zeuge ihres Thuns und ihrer Leidenschaften zu sein;«166 Es kann also eine Anschauung entstehen, die im Einzelfall derjenigen des Augenzeugen nahekommt und bis zur Illusion des Zugegenseins in der erzählten Welt steigerbar ist.'67 Erscheinen die Grenzen der erzählten Welt schon dadurch als zum Rezipienten hin durchbrochen, bzw. aufgehoben, dass er sie als Illusion um sich als >sehendes< Subjekt herum textgelenkt konstruiert, wird die ausdrückliche Gegenwart des Rezipienten in der erzählten Welt von den Metamorphosen auch explizit vorstellbar gemacht, beispielsweise in V 427ff.168 Dort ist die Veränderung der Cyane geschildert: lacrimisque absumitur omnis et, quorum fuerat magnum modo numen, in illas extenuatur aquas: molliri membra videres, ossa patiflexus, ungues posuisse rigorem. Sie wird ganz von Tränen verzehrt und zerfliesst in eben die Wasser, deren mächtige Gottheit sie gerade noch war: Du hättest sehen können, wie ihre Glieder weich wurden, die Knochen sich bogen und ihre Nägel die Härte verloren.

Neben der Unmöglichkeit des Sehens ist auch der Vollzug anderer Sinneswahrnehmungen und Erkenntnisvorgänge angesichts des Geschehens an zahlreichen Stellen als möglich, bzw. unmöglich genannt.169 Von der talen-

165

Vgl. dazu S. 28ff. Vgl. dazu S. 14f. 167 Vgl. zur oft ganzheitlichen Qualität des Illusionserlebnisses und zur >Entgrenzung< der Fiktion S. 14f; 82ff. 168 Anderson, Books 1-5, S. 542 sieht in dem videres scheinbar auch eine Aufforderung mit innertextlicher Richtung: »molliri membra videres'. Minerva and we are invited to imagine the sight and sympathize.« 169 Z. B. contenderepossis (II 855f.); videres (IV 559); credas (V 194); videres (V 429); scires (VI 23);putares (VI 104); videres (VI 296);possis [...] numerare (VI 390f.); adspiceres (VII 578); putares (VII 791 ); putes (Vili 191); putares (Vili 805); videres (IX 209); credas (X 250); putes (Χ 654); putes (XI 114); videres (XI 126); putares (XI 337); credas (XI 517); posses (XIII 685); videres (XV 527). 166

Die >Entgrenzung< der Fiktion

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tierten Arachne s cires a Pallade doctam170 [hättest du schwören mögen, sie sei von Pallas selbst ausgebildet worden], i m Falle d e s Marsyas, d e m die Haut bei

lebendigem Leibe abgezogen worden war, salientia viscera possis et perlucentes numerare in pectore fibras171 [hättest du die zuckenden Gedärme und die in der Brust leuchtenden Fibern zählen können], u n d b e i m A n b l i c k d e s H u n g e r s

pendere putares pectus et a Spinae tantummodo crate teneri172 [hättest du geglaubt, der hängende Brustkorb werde nur noch vom Gegräte der Wirbelsäule

gehalten] - Anwesenheit vorausgesetzt.173 Ein Vergleich mit früher und später entstandenen, ähnlich umfangreichen epischen Texten zeigt, dass z. B. putares und vider es in den Metamorphosen erheblich häufiger vorkommen als andernorts.174 Wenngleich man einwenden mag, es handele sich dabei um verbreitete idiomatische Wendungen, die hier nicht bewusst eingesetzt seien,175 entgrenzen die Erzähleranreden wie videres, possis, putares usw. dennoch - bewusst oder nicht deutlich die erzählte Welt. Die Erzählerstimme wendet sich dabei mit der Anrede an die 2. Person Singular unvermittelt aus dem Text, bzw. - wenn es sich um eine einem innertextlichen Publikum durch einen Binnenerzähler vorgetragene Erzählung handelt - ihrem Text heraus'76 hin zum spezifi170 sive rüdem primos lanam glomerabat in orbes, seu digitis subigebal opus repetitaque longo vellera mollibat nebulas aequantia tractu, sive levi teretem versaba/ pollice fusum, seu pingebat acu: scires a Pallade doctam. (VI 19ff.) 171 cruor undique manat detectique paient nervi trepidaeque sine ulla pelle micant venae; salientia viscera possis et perlucentes numerare in pectore fibras. (VI 388ff.) 172 ossa sub incurvis exstabant arida lumbis, ventris erat pro ventre locus; pendere putares pectus et a Spinae tantummodo crate teneri; (Vili 804ff.) 173 Hardie, Poetics of Illusion weist verschiedentlich auf diese Technik hin und spricht von einer »incorporation of the ecphrastic address to the reader, of the type >you could see ...imaginary second person< address is used in the Metamorphoses mostly to induce the reader to respond to visual phenomena in the story world: the illusionist effect of a metamorphosis or a work of art is compounded by the invitation to the reader to entertain the illusion of being present within the fiction«. Ähnlich Wheeler, Audience and Performance, der nach einer Betrachtung des Phänomens bei Homer, Apollonius Rhodius und Vergil (S. 143ff.) fìir die Metamorphosen feststellt: »In the Metamorphoses, Ovid goes beyond his epic predecessors in the frequency of use of the generalizing second person. [...] Most of these appeals induce the listener to respond to visual phenomena in the story-world.« (S. 151) Beiläufig dazu auch Kenney, Style, S. 144. 174

putares: Lucr. (7380 V.): 0; Verg. Aen. (9896 V.): 0; Lucan. (8060 V.): 1; Val. Fl. (5591 V.): 0; Stat. Theb. (9748 V.): 1; Sil. (12202 V.): 2; Ov. Met. (11986 V.): 8. videres: Lucr. (7380 V.): 5; Verg. Aen. (9896 V.): 5; Lucan. (8060 V.): 0; Val. Fl. (5591 V.): 4; Stat. Theb. (9748 V.): 1; Sil. (12202 V.): 3; Ov. Met. (11986 V.): 8. Datenbank: Bibliotheca Teubneriana Latina 3 (2004). Vgl. auch Deferrari. 175 Der Grad der Bewusstheit, mit dem in Texten Gestaltungsmittel eingesetzt sind, sollte - ohne hier den Autor gleich >abschaffen< zu wollen - in der Literaturwissenschaft keine, bzw. eine nur begrenzte Rolle spielen. Die meisten in der Textbetrachtung bedeutsamen Charakteristika des Kunstwerkes liegen unterhalb, bzw. ausserhalb der Bewusstheit des textkonstituierenden Subjektes. 176

Vgl. V 427ff. sowie S. 158ff.

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Visualisierungsstrategien

sehen Subjekt ausserhalb des Textes, das sich so, übrigens nicht ohne Überraschung, durch den Erzähler plötzlich als Individuum wahrgenommen fühlen mag. Der Angeredete ist dabei stets explizit als gegenwärtig und als das Geschehen der erzählten Welt sinnlich wahrnehmend angesprochen. Zwar betont der potentiale, bzw. irreale Konjunktiv lediglich die Möglichkeit, ja sogar Unmöglichkeit der sinnlichen Wahrnehmung in diesem Fall und verweist damit vorderhand eigentlich auf die Unüberschreitbarkeit der Grenzen zwischen der gern als >real< bezeichneten Welt des Rezipienten und der illusionshaften der Fiktion. Gerade dadurch jedoch, dass die Augenzeugenschaft an so vielen Stellen als unmöglich angesprochen ist, ist sie - was ja auch das höchste ist, was der Text zu erreichen hoffen kann gedacht und damit vorstellbar geworden. Auch in dem in den Metamorphosen verbreiteten Ausruf ecce,111 (Sieh!, oder: Sieh doch!) ist der Rezipient vielfach vom Erzähler unmittelbar über die Grenze der erzählten Welt hinweg angeredet.178 Indes eine Wendung wie videres auf die Möglichkeit, bzw. Unmöglichkeit des Zugegenseins verweist und diese nur vorstellbar macht, suggeriert die Aufforderung ecce eine viel unmittelbarere, nicht mehr nur imaginierte Berührung des Rezipienten mit den Realien der erzählten Welt. Denn ihre Verwendung setzt voraus, dass das, worauf mit der demonstrativen Partikel hingewiesen werden soll, für beide, den Redenden und den Angeredeten, nahe, gegenwärtig und damit sinnlich wahrnehmbar ist. So tritt etwa dort, wo der Rezipient zusammen mit Phaeton gerade den Sonnenwagen bestaunt hat, der ecce sagende Erzähler als zusätzliche, wie die Textfigur und der Rezipient auch in der erzählenden Welt stehende Instanz noch hinzu: dumque ea magnanimus Phaeton miratur opusque perspicit, ecce vigil nitido patefecit ab ortu purpureas Aurora fores et piena rosarum atria: diffugiunt stellae, quorum agmina cogit Lucifer et caeli stallone novissimus exit.179 Und während der verwegene Phaeton das alles noch bestaunt und das Kunstwerk mustert, siehe, da öffnet die morgenfrische Aurora im lichtglänzenden Osten die

177 Die Partikel kommt in den Metamorphosen häufig, aber nicht ungewöhnlich häufig vor, wie eine Textdatenbankrecherche erweist: Lucr. (7380 V.): 0; Verg. Aen. (9896 V.): 37; Lucan. (8060 V.): 9; Val. Fl. (5591 V.): 38; Stat. Theb. (9748 V.): 54; Sil. (12202 V.): 44; Ov. Met. (11986 V.): 40. Datenbank: Bibliotheca Teubneriana Latina 3 (2004). Vgl. auch Deferrari. 178 Vgl. z. B. II 93; 112; 441; 496; 635; III 101; 174; 259; 572; IV 96; 128; 706; V 74; VI 165; 325; 451; VII 104; 279; 863; VIII 391; IX 211; 363; 759; 779; X 210; 554; XI 3; 516; 568; 693; 775; XII 215; 271; 494; 520; XIII 91; 216; 692; 904; XIV 530. 179 II 11 Iff.

Die >Entgrenzung< der Fiktion

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purpurnen Tore und ihre Hallen voller Rosen: Es fliehen die Sterne, deren Zug der Morgenstern beschliesst, der v o n s e i n e m H i m m e l s p o s t e n als letzter weicht.

Ein ähnlicher Hinweis erfolgt dort, wo sich der Medea, die den Verjüngungstrank herstellt, der zum Umrühren benutzte Ast eines Ölbaumes unversehens begrünt: ecce vetus calido versatus stipes aeno fit viridis primo nec longo tempore frondes induit et subito gravidis oneratur olivism [Siehe, der alte Stecken, g e s c h w e n k t im brodelnden Kessel, wird zuerst grün, treibt nach kurzer Zeit Blätter und ist plötzlich v o n prallen Oliven schwer], o d e r a l s T u r n u s

die Brandfackel auf die Schiffe der Teuerer wirft: fert, ecce, avidas in pinea Turnus texta faces, ignesque timent, quibus unda pepercit.m [Da schleudert, sieh doch, Turnus verzehrendes Feuer auf die aus Fichtenholz gefügten Schiffe, und es fürchten das Feuer, die die W o g e n verschont hatten.]

Der Rezipient wird anhand der suggerierten Augenzeugenschaft in noch erheblicher Steigerung des Effektes der potential-irreal suggerierten Augenzeugenschaft mitten in die Fiktion hinein, an die Seite eines gleichfalls in ihr stehenden Erzählers182 gestellt.183

2.5 Kreislauf der Bildlichkeiten 2.5.1 Bild-Import - Leerstellen In der Ovidischen Ars Amatoria erleben wir die Calypso, die dem zwar nicht schönen, aber beredten Odysseus wiederholt anliegt, er möge ihr vom 180

VII 279ff. XIV 530f. 182 Zum in der erzählten Welt stehenden Erzähler vgl. S. 132, Fn. 55. 183 Natürlich ist hier für jeden Einzelfall zu prüfen, ob das Objekt, auf das verwiesen ist, innerhalb einer Erzählung liegt oder ein Teil der vom Angeredeten als >real< empfundenen Welt ist, ob also die Partikel von einem Erzähler verwandt ist, der einen Rezipienten damit auf ein Objekt der erzählten Welt hinweist (ob das der >HauptBinnenhineingestelltureigeneihnen zugehörige< Gestalt sowie einen typischen >KontextSignifikatKunstwissen< eine Art von weniger spezifischem >WeltKulturwissen< ein zweites Reservoir: dieses ist aktiviert durch Rekurrenz auf des Rezipienten allgemeine lebensweltliche Erfahrung im Rahmen eines Vergleichs, durch Nennung tatsächlich existierender Geographica u. ä.193 Die verschiedenen Varianten der Beanspruchung 192 Solodow, S. 132f. dazu: »In identifying the characters who appeared in their stories poets had always been allowed a certain freedom. They could either simply name someone, of course, or refer to him or her in a variety of indirect ways: through genealogy, place of origin, or some other association. In the latter case recognition depended on the reader's familiarity with mythology. Within this poetic tradition Ovid's usage, though not unprecedented, is remarkable.« Im folgenden weist Solodow im Vergleich mit der Praxis Vergils nach, dass »(t)hese allusive identifications, characteristic of Ovid, go beyond the traditional usage, and instead of a mere poetic periphrasis become almost a game between him and the reader, as he teases the latter's knowledge and demands his participation in the poem.« (S. 133) Vgl. dazu auch Börner, Ovid als Erzähler, S. 6ff und Bernbeck, S. 44ff. 193 Als dritte Gruppe treten innertextliche Rück- und Querverweise auf besonders anschauliche Stellen hinzu, die die Erinnerung an eine starke Bildlichkeit erneuern. Tsitsiou-Chelidoni, S. 269ff. erwähnt neben verschiedenen motivischen Verflechtungen und Vorwegnahmen auch die Wiederaufnahme im Text bereits erzählter Geschichten unter den >Querverbindungen< des Textes: »Häufig wird ausserdem eine in einem Buch bereits dargestellte oder auch nur kurz gestreifte Handlung [...] im nächsten oder in einem späteren Buch im Rahmen der Erzählung einer anderen Geschichte in geraffter Form und andeutungsweise wiederaufgenommen.« Vgl. ebd., S. 293ff. zur zu diesem Phänomen bis 1999 erschienenen Literatur. Zum Beispiel übergibt in Buch IX die Byblis in einer sehr eindrücklichen Szene den Brief, in dem sie sich ihrem Vater offenbart, einem Boten. Dabei fallen - ein schlechtes Vorzeichen - die Täfelchen zu Boden: cum darei, elapsae manibus cecidere tabellae; ornine turbata est, misil tarnen. (IX 57If.) Wenig später erinnert sie sich an das Ereignis: quid, quod et ominibus certis prohibebar amori indulgere meo, tum cum mihi ferre iubenti excidit et fecit spes nostras cera caducasi (IX 595ff.) An anderer Stelle spricht Medea zu den Kräutern, die den Aeson verjüngen sollen: vos mihi taurorum flammas hebetastis et unco inpatiens oneris Collum pressisitis aratro, vos serpentigenis in se fera bella dedistis custodemque rüdem somno

Kreislauf der Bildlichkeiten

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von Kunst- und Weltwissen seien im folgenden auseinandergesetzt und mit Beispielen illustriert.

2.5.1.1 Kunstwissen 2.5.1.1.1 Populäre Stoffe Gern verknappt der Text in einer percursio'94, seltener in einer besonders bekannte Mythen zu einer Skizze.

praeteritiom

sopistis et aurum vindice decepto Graias misistis in urbes. (VII 21 Off.) So spielt der Text auf Ereignisse an, die zuvor bereits Gegenstand einer stark visualisierenden Schilderung waren oder vereinzelt (vgl. III 517ff.) später werden. Vgl. z. B. I 182ff. auf I 151ff.; II Iff. auf I 32ff.; II 325ff. auf II 150ff.; II 335ff. auf II 325ff.; II 562 auf II 558ff.; III 35ff. auf III 3 Iff.; III 55f. auf III 3 Iff.; III 235ff. auf III 206ff.; III 327f. auf III 324f.; III 517ff. vorgreifend auf III 70Iff.; IV 83 auf IV 65ff.; IV 95 auf IV 88ff.; IV 131 ff. auf IV 120ff.; IV 420ff. auf div.; IV 543f. auf IV 525ff.; IV 569ff. auf III Iff.; V lOff auf IV 663ff.; VI 273ff. auf VI 165ff.; VI 576ff. auf VI 51 Iff.; VI 581f. auf VI 51 Iff.; VII 21 Off. auf VII lOOff.; VII 635ff. auf VII 622ff.; VIII 11 Iff. auf VIII 8 Iff.; IX 213 auf IX 152ff.; IX 441f. auf VIII 6ff.; IX 450f. auf VIII 162ff.; IX 586f. auf IX 523ff.; IX 596f. auf IX 571f.; IX 610ff. auf IX 572ff.; IX 742 auf Vili 183ff.; IX 776ff. auf IX 686ff.; XI 41ff. auf X 86ff.; XI 61 f. auf X Uff.; XI 394ff. auf XI 365ff.; XI 662ff. auf XI 480ff.; XI 712f. auf XI 454ff.; XII 159ff. auf XII 64ff.; XII 580ff. auf XII 144f.; XIII 536f. auf XIII 435ff.; XIII 620 auf XIII 565ff.; XIII 634f. auf VI 185ff.; XIV 1 auf V 346ff.; XIV 18f. auf XIII 904ff.; XIV 838f. auf XIV 829ff.; XV 32f. auf XV 21ff.; XV 416f. auf IV 740ff. 194 Die percursio ist eine verkürzende Aufzählung von Gegenständen oder Geschehnissen, die zu einer Geschehensraffung führt (vgl. H. Lausberg, §§ 229; 881). Vgl. in den Metamorphosen z. B. die Rekurrenz auf den Lycaeon-Mythos, noch bevor der Text ihn in I 209ff. erzählt (I 164ff.); Ocyroe eröffnet dem Sohn der Coronis sein Wesen und sein künftiges Geschick (II 640ff.); Skizzierung des Actaeon-Mythos in einer Vorbemerkung, noch bevor er ab III 143ff. ausfuhrlich berichtet wird (III 138ff.); Iuppiter verzichtet vor seinem Besuch bei Semele auf seine stärksten Waffen (III 303f.); Zeugung des Perseus (IV 611); Perseus erbeutet das Medusenhaupt (IV 614ff.), später ausfuhrlich in IV 772ff.; Andromeda über ihre und ihrer Familie Geschichte (IV 685ff.); Perseus über seine Biographie (IV 697ff.); Tritonia über den Ursprung der Quelle auf dem Helicon (V 256ff.); wovon die Pieriden im Wettkampf singen (V 318ff.); Biographie des Ascalaphus (V 539ff.); der Teppich der Pallas erzählt (VI 70ff.); der Teppich der Arachne erzählt von den Liebesabenteuern des Iuppiter, Neptun, Apoll, Bacchus und Saturn (VI 103ff.); Biographie des Tantalus (VI 172f.); Skizze der Argonautensage bis zur Ankunft in Colchis (VI 719ff.; VII Iff.); Medea äussert eine (wie jedermann weiss) nicht zutreffende Befürchtung bezüglich Jasons Schicksal (VII 29ff.); das Schicksal der Scylla (VII 64f.), erst später geschildert in XIV Iff.; Medeas Flug über Griechenland und Aufruf dort beheimateter Sagen (VII 350ff.); Medeas Kindermord (VII 394ff.); ein Preislied, in dem die Taten des Perseus aufgezählt sind (VII 433ff.); Latonas Sohn und die goldene Leier (VIII 15f.); Biographie des Minos und Zeugung des Minotaurus (VIII 122f.; 136f., 155f.); der Minotaurus, das Labyrinth und Ariadnes Flucht daraus (VIII 170ff.); Theseus' Tötung des Minotaurus (VIII 260ff.); die Begleiter des Meleager während der Jagd auf den calydonischen Eber, deren Biographien und künftige Taten (VIII 299ff.); Castor und Pollux und ihre angekündigte Verstirnung (VIII 372ff.); Herkules erwähnt seine >ruhmreichen Arbeitern (IX 14); Herkules berichtet die Tötung der lemaeischen Natter (IX 67ff.); der sterbende Herkules zählt noch einmal seine Taten auf (IX 182ff.); Zeugung des Minotaurus (IX 735ff.); die Fabel von Orpheus und Eurydice bis zu Orpheus' Erscheinen bei den Unterirdischen (X 9ff.); kurze Anspielung auf den

98

Visualisierungsstrategien

Sicher beispielsweise wäre die Fabel von der Errettung der Ariadne aus dem Labyrinth anhand des berühmten Fadens, ihr unerquicklicher Aufenthalt auf Naxos und ihre Errettung durch Bacchus den Erzähltechniken der Metamorphosen ein dankbares Objekt gewesen. Jedoch widmet der Text all dem gerade mal 9 Verse: quo postquam geminarti tauri iuvenisque figurant clausit et Actaeo bis pastum sanguine monstrum tertia sors annis domuit repetita novenis, utque ope virgínea nullis iterata priorum ianua difficilis filo est inventa relecto, protinus Aegides rapta Minoide Diam vela dedit comitemque suam crudelis in ilio litore destituii, desertae et multa querenti amplexus et opem Liber tulitm Nachdem er dort die Zwittergestalt aus Stier und Knabe eingeschlossen und das Opfer des dritten Loses das zweimal von Athenerblut gesättigte Untier im neunten Jahr zur Strecke gebracht hatte, und als mit Hilfe des Mädchens - was noch niemandem zuvor geglückt war - die eigentlich unauffindbare Tür anhand eines ausgelegten Fadens

Raub der Helena als auslösendes Moment des trojanischen Krieges (XII 4ff.); Achill über einige seiner Heldentaten (XII 106ff.); Taten des Herkules (XII 549ff.); Hektor und dessen Rolle im trojanischen Krieg (XII 588ff.); Aiax verweist in seiner bis XIII 122 dauernden Rede vielfach sowohl auf seine eigenen, als auch auf verschiedene Taten des Odysseus (XIII 5ff.); Odysseus verweist in seiner bis XIII 381 dauernden Rede sowohl auf seine eigenen, als auch auf verschiedene Taten des Aiax, aber auch des Achilles (XIII 128ff.); Leistungen des Aiax (XIII 384f.); der Ehemännermord im Reich des Thoas (XIII 399ff.); das brennende Troja (XIII 408ff.); Aeneas bei Dido (XIV 75ff.); Aeneas in der Unterwelt (XIV 116ff.); Abenteuer des Odysseus (XIV 223ff.); Aeneas in Italien (XIV 445ff.); begehrte Frauen (XIV 669ff.); Römische Frühgeschichte: Wiedereinsetzung des Numitor, Stadtgründung, Raub der Sabinerinnen, Tarpeia (XIV 772ff.); Taten Caesars (XV 750ff.); Venus über die Irrfahrten des Aeneas (XV 769ff.). 195 Zur praeteritio vgl. H. Lausberg, §§ 882-886. Entsprechend verfahrt in IV 276ff. die Minyastochter Alcithoe, indem sie mitteilt, was sie alles nicht erzählen wolle, bevor sie von Salmacis und Hermaphroditus berichtet Ähnlich: IV 44ff. 196 VIII 169ff. Börner, VIII-IX, S. 57: »Die 28 Verse über den Minotaurus, seine Unterbringung im Labyrinth, die Befreiung der Athener von dem Menschentribut durch Theseus, über Ariadnes Liebe, ihre Flucht nach Naxos, Theseus's heimliche Heimkehr, über Ariadne und Liber und schliesslich über den Katasterismos der Krone sind in dieser gedrängten Form offensichtlich nur als Übergang zu den weiteren Erzählungen um Daedalus gedacht: Hier werden geradezu stichwortartig Themen berührt [...], die geeignet wären, ganze Bücher zu füllen (man vergleiche etwa Catulls Verse allein über die verlassene Ariadne auf Naxos in der Ekphrasis 64, 50ff. oder Ovids Ariadne-Brief [epist. 10] oder Ariadne auf Naxos in fast. III 459-516).« Weiter zu VIII 169f.: »Hier wird weder Theseus noch Ariadne noch Naxos mit Namen genannt (Aegides, Minois, Dia); auch hier kann sich der Dichter, dazu noch bei der Kürze der Darstellung (o. VIII 155f. S. 57), darauf verlassen, daß seine Hörer wissen, worum es geht: III 513 (Komm.).« (S. 62) Hill, VVIII, S. 223 vermutet zur Ursache der Vermeidung: »As editors observe, the romantic story of Ariadne abandoned by Theseus is perhaps too close in spirit to the Scylla story for inclusion here. Furthermore, Catullus (64) had treated Ariadne in a way that Ovid may have felt he could not surpass.«

Kreislauf der Bildlichkeiten

99

doch entdeckt worden war, setzte der Sohn des Aegeus mit der Minostochter als Beute unverzüglich Segel nach Dia und liess - grausam, wie er war - seine Gefährtin an diesem Strande zurück. Liber rettete schliesslich mit seiner Umarmung die Zurückgelassene und unermüdlich Klagende. E b e n s o eindrucksvoll lässt der Text wesentliche Teile der römischen Frühgeschichte zur

flüchtigen

Skizze zusammenschnurren, w i e überhaupt i m

Schlussteil des Werkes gewaltige Strecken aus dem corpus

der halbmytho-

logischen römischen Vor- und Frühgeschichte w i e im Telegrammstil dargeboten sind: proximus Ausonias iniusti miles Amuli rexit opes, Numitorque senex amissa nepotis muñere regna capii, festisque Palilibus urbis moenia conduntur, Tatiusque patresque Sabini bella gerunt, arcisque via Tarpeia reclusa dignam animam poena congestis exuit armis.197 Als nächstes herrschte die Soldateska des ungerechten Amulius über das fruchtbare Ausonien, der greise Numitor gewann mit Hilfe seiner Enkel die verlorene Königswürde zurück, am Palilienfest befestigte man die Mauern der Stadt, Tatius und die sabinischen Väter führten Krieg und nachdem Tarpeia den Weg zum Capitol eröffnet hatte, haucht sie ihre strafwürdige Seele unter einem Berg von Waffen aus. A n anderer Stelle ruft der sterbende Herkules s o w o h l sich selbst, als auch d e m Rezipienten seine Taten noch einmal in Erinnerung: ergo ego foedantem peregrino templa cruore Busirin domui saevoque alimenta parentis Antaeo eripui nec me pastoris Hiberi forma triplex nec forma triplex tua, Cerbere, movit. vosne, manus, validi pressistis cornua tauri? vestrum opus Elis habet, vestrum Stymphalides undae Partheniumque nemus, vestra virtute relatus Thermodontiaco caelatus balteus auro pomaque ab insomni concustodita dracene! nec mihi Centauri potuere resistere nec mi Arcadiae vastator aper, nec profuit hydrae crescere per damnum geminasque resumere vires, quid, cum Thracis equos humano sanguine pingues plenaque corporibus laceris praesepia vidi visaque deieci dominumque ipsosque peremi? his elisa iacet moles Nemeaea lacertis, hac caelum cervice tuli.198 197 XIV 772ff. Börner, XIV-XV, S. 229 dazu: »Im Gegensatz zu dem breiten Raum, den der >Komplex Romulus< nicht nur im National- und >GeschichtsNationalhelden Nr. 1< der Römer widmet, ungewöhnlich bescheiden aus.«

100

Visualisierungsstrategien

Also habe ich den wilden Busiris, der Tempel mit Fremdenblut schändete, niedergerungen, dem Antaeus die mütterliche Nahrung entzogen, und weder die dreifache Gestalt des iberischen Hirten noch deine dreifache Gestalt, Cerberus, konnten mich wankend machen. Habt Ihr, meine Hände, nicht die Hörner des kraftstrotzenden Stieres zu Boden gedrückt? Von eurem Werk zeugt Elis, zeugen die stymphalischen Wasser und der parthenische Wald, durch eure Kraft ward der mit thermodontischem Gold beschlagene Gürtel wiedergewonnen wie auch die Äpfel, bewacht vom schlaflosen Drachen! Die Centauren konnten mir nichts entgegensetzen und ebensowenig der Eber, der Verwüster Arcadiens, und der Hydra hat es nichts genützt, durch ihre Verluste nur noch zu wachsen und so doppelte Kraft zu gewinnen. Und was ist damit, dass ich, als ich die von Menschenblut fett gewordenen Pferde des Thracers und deren Krippen, voll mit Leichenteilen, entdeckte, diese daraufhin umstiess und die Tiere samt ihrem Herrn tötete? Von diesen Armen erwürgt, liegt der gewaltige nemeische Löwe, auf diesem Nacken habe ich den Himmel getragen. Betrachtet m a n d i e j e n i g e n M y t h e n , a u f d e r e n a u s f u h r l i c h e B e a r b e i t u n g d i e Metamorphosen

v e r z i c h t e n , fällt auf, d a s s e s g r ö s s t e n t e i l s e x t r e m p o p u -

läre u n d andernorts bereits a u f h ö c h s t e m N i v e a u bearbeitete S t o f f e sind, d i e s o g e m i e d e n w e r d e n . D a s entspricht der V o r l i e b e der >Alexandriner< fur d a s Entlegene, ausserdem entbindet dies v o m an übereinstimmendem

Stoffe

ausgetragenen, dichterischen A g o n mit Autoren w i e Homer, Livius oder Vergil. 1 9 9 W a s hier aber n o c h w i c h t i g e r ist: M ü h e l o s Hess s i c h d a m i t a n h a n d s c h o n k l e i n s t e r I m p u l s e e i n R e s e r v o i r >anzapfenBilderstrom< d e s Kunsterlebnisses n o c h zusätzlich vermehrte, ohne den Text darob unge-

198 IX 182ff. Börner, VI1I-IX, S. 328 konstatiert eine »Aretalogie in Form einer IchPrädikation«. In den Metamorphosen gehe es im Vergleich mit anderen Texten »eindeutig um den Dodekathlos als solchen, um seine Vollständigkeit [...], wie sie die zeitgenössische und spätere Mythographie gehandhabt hat [...]. Diese pedantische Vollzähligkeit (auch X 190f.), wenn etwas, dann dies ein Kriterium rhetorischer Schulübung, wird rhetorisch dargeboten, in pathetischer Jagd, in kurzen und ungleichen Parataxen, ohne Rücksicht auf Versende und Symmetrie (wie gelegentlich in epist. 9: Für jede Tat ein Distichon). Trotzdem darf man bezweifeln, ob es dem Dichter (wenigstens für unseren Geschmack) gelungen ist, auf diese Weise den Schmerz und den Zorn des zu Tode Getroffenen mit adäquaten stilistischen Mitteln darzustellen. Ja noch mehr: Es wird sich nicht einmal mit Sicherheit entscheiden lassen, ob Ovid mit dieser in Wirklichkeit kaum vorstellbaren Situation, in der der Sterbende darauf bedacht ist, more rhetorico sowohl seine 12 Taten und dazu noch 4 weitere außerhalb des Dodekathlos (Busiris, Antaeus, Centauren, Atlas) aufzuzählen, befremdend [...] oder gar unfreiwillig komisch (IX 386) wirkt (wie etwa II 272ff. die Klage der Tellus) oder ob sich der Dichter mit hintergründigem Humor (VIII 406f.) über die Rhetorik seiner Zeit lustig machen will [...].« (ebd., S. 329) Für einen Vergleich der Passage mit Soph. Trach. 1058-1061 vgl. Galinsky, Hercules, S. lOOff. 199 In diesem Sinne Schmitzer, Ovid zu den römischen Nationalmythen des 15. Buches: »Wiederum versteht sich Ovid klug zu beschränken: Er konkurriert nicht mit den damals in Mode kommenden knappen Abrissen der römischen Geschichte und schon gar nicht mit Ennius oder Livius.« (S. 136) Börner hingegen vermutet Meidung aller Mythen, die keine Gelegenheit zur Schilderung einer Verwandlung enthalten (vgl. XIV-XV, S. 229f.).

Kreislauf der Bildlichkeiten

101

bührlich a n s c h w e l l e n z u lassen.200 D a s gilt auch für alle w e i t e r e n Leerstellen der Erzählung.

2.5.1.1.2 Populäre Figuren

B e l i e b t ist n e b e n der A b b r e v i a t u r der p o p u l ä r s t e n M y t h e n a u c h die K o m pensation einer nicht v o r g e n o m m e n e n Figuren-Deskription durch N e n n u n g lediglich des N a m e n s , eines oder mehrerer der Attribute oder eines biographischen Details. In I 6 6 9 f f . r u f t I u p p i t e r i m R a h m e n d e r I o - E p i s o d e d e n M e r k u r h e r b e i . D i e s e r erscheint m i t s e i n e m ü b l i c h e n >Equipmentfer opem,

deprendimun

saepe

dedisti

ferre

arcus

tuos

inclusaque

inquam,

>armigerae,

tela pharetra.Rette, denn gleich werde ich eingeholt, Diana, deine

200

Vgl. dazu auch S. 191, Fn. 148. Hill, I-IV, S. 190 z. St.: »The account of Mercury equipping himself for travel comes originally from Horn. Od. 5.448 and is picked up by Virgil (A en. 4.239-44). It is typical of Ovid that he should undercut this famous epic scene by describing how Mercury divests himself of his equipment once he is safely on earth. A different, but equally amusing pastiche on the epic passages occurs at 2.730-36.« 202 »Der Götterbote trug als charakteristisches Kleidungsstück für Reisende (und Herolde) den πέτασος (Athen. XII 537F und andere), einen Filzhut mit niedrigem Kopf und breitem Rand; [...] Der Petasos war ein typisch griechisches Kleidungsstück, das die Römer literarisch zuerst aus der Palliata kennen lernten, Plaut. Amph. 143ff. 443. Pseud. 753. 1186. [...] Bildliche Darstellungen des Hermes mit Petasos sind zahlreich, die moderne Ausschmückung des Petasos mit Flügeln ist in der Antike sehr selten [...].« (Börner, I-Ili, S. 202f.) 201

203

V618ff.

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Visuali si erungs Strategien

Waffenträgerin, der du oft deinen Bogen und die Pfeile im Köcher zu tragen gegeben

hast!Da ich einmal a n g e f a n g e n habe, sollen auch die F l ü s s e b e s i e g t

sein.kulturellen Gedächtnisses< weiterentwickelt haben, systematisch für eine Rekonstruktion des Bildes und der Bedeutung der Vergangenheit und des Umgangs mit ihr in einer jeweils aktuellen Gegenwart der römischen Republik zu nutzen« (Hölkeskamp, S. 301), sei diese Theorie hier zur Behauptung eines kollektiven >Mythengedächtnisses< herangezogen, denn das Konzept hat ganz zweifellos seine Universalität und »sein bedeutendes Erklärungspotential in der Anwendung auf andere Epochen, Gesellschaften und ihre >Geschichten< [...] bereits bewiesen« (Hölkeskamp, S. 303). Wichtige Texte zum Thema: A. Assmann, Mnemosyne; Dies., Kultur als Lebenswelt; J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis; Ders., Kultur und Gedächtnis; Halbwachs, Gedächtnis und Bedingungen; Ders., Das kollektive Gedächtnis. 217 Zur expliziten Bezugnahme auf das Äussere sakraler Bildwerke bemerkt Börner, XIV-XV, S. 428: »Das ist natürlich, man stellte sich die Gottheit so vor, wie man deren Bild gesehen hat [...], das primärste und sicherlich eines der wichtigsten psychologischen Phänomene jeder Epiphanie. Es gibt den Menschen erst die Gewißheit über die Identität des Erscheinenden;« 218 XV 653ff.

105

Kreislauf der Bildlichkeiten

Art die ganze Stadt, ihre Plätze und T e m p e l und natürlich auch die Atrien in den Häusern der grossen Familien. 2 1 9

Ubiquitär waren bildliche Konkretationen auch im Freizeit- und Bildungsraum der Aristokratenvilla: Bei der Bibliothek standen die Statuen und Büsten der grossen Dichter, Philosophen und Redner, und bei den gymnasium

genannten Säulenhallen sah man Athleten-,

Hermes-, Herakles- und Athenastatuen. B e i m Gang durch die Gärten entdeckte man dionysische Gestalten und erotische Gruppen. A n d e r s w o wurde man in die Welt d e s homerischen M y t h o s versetzt, der in der grossen Villa bei Sperlonga sogar in einer natürlichen Grotte inszeniert wurde. 2 2 0

Am Ende scheint der augusteische Mensch wirklich überall von Bildern umgeben gewesen zu sein: D i e auffalligste Eigenheit der römischen Wandmalerei ist die allgemeine Verbreitung künstlerisch oft sehr anspruchsvoller Dekoration in allen Bereichen d e s Lebens. Nicht nur Tempel und öffentliche Gebäude, sondern der gesamte private Wohnbereich, selbst kleinste Wohnräume und Schlafzimmer waren ausgemalt. 2 2 1

So hatte man sich, schon bevor man die Metamorphosen Mythos >ein Bild gemachte 222

rezipierte, vom

2.5.1.2 Welt- und Kulturwissen 2.5.1.2.1 Fauna, Flora, Meteorologie - Vergleiche In der forensischen Rhetorik galt der Vergleich, die similitudo, als Hilfsmittel der Beweisführung. 223 In poetischer Rede hingegen kann sie als 219 Hölkeskamp, S. 306. Hölkeskamp fuhrt (S. 301 ff.) aus, dass der öffentliche Raum des republikanischen Rom durch eine wachsende Zahl von Bildern aus der halbmythischen römischen Geschichte - Standbilder, Historienbilder, die Ahnenbilder der pompa funebris u. ä. - zu etwas wie einer >Erinnerungslandschaft< geworden war: »Die Stadt mit ihren öffentlichen Räumen und ihren Gebäuden war voll von historischen Monumenten, Denkmälern, Bildern und Symbolen aller Art.« (S. 305) 220 P. Zanker, S. 36. 221 Mielsch, Wandmalerei, S. 9. Das änderte sich, wie die pompeijanischen Grabungen zeigen, auch im Übergang von der Republik zum Prinzipat trotz manchen Wandels im ästhetischen Empfinden nicht. Vgl. zum Thema auch: Neudecker. Zur Frage des Einflusses der zeitgenössischen bildenden Kunst, besonders der Wandmalerei oder des Frieses auf die narrativen Techniken der Metamorphosen vgl. S. 81 f.; 197ff. 222 Herter, S. 50f. hingegen warnt davor, einen Vorrang der bildlichen vor der literarischen Tradition anzunehmen. Am Beispiel des Amor als pharetratus puer weist er nach, wie heikel es sei zu behaupten, die Konvention des Köchers stamme aus der bildenden Kunst und sei von dort in den Text eingegangen. Eine ähnlich geringe Rolle spielt die Bildtradition im kollektiven Mythengedächtnis bei Wilkinson, World, S. 241 ff.

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Visualisierungsstrategien

Schmuckmittel (ornatus)224 illustrieren und verdeutlichen,225 indem zum gemeinten Gegenstand ein herbeigezogener in Beziehung gesetzt ist. Damit der zum Vergleich herbeigezogene Gegenstand jedoch tatsächlich verdeutlichende Wirkung haben kann, muss es sich um etwas dem Publikum bekanntes und geläufiges handeln. Quintilian stellt fest: quo in genere id est praecipue custodiendum, ne id quod similitudinis gratia adscivimus aut obscurum sit aut ignotum: debet enim quod inlustrandae alterius rei gratia adsumitur ipsum esse clarius eo quod inluminat.226 Dabei muss besonders beachtet werden, dass dasjenige, was wir zum Vergleich heranziehen, nicht rätselhaft oder unbekannt ist. Es muss nämlich das, was wir verwenden, um eine zweite Sache zu erhellen, vertrauter sein als das, was es erhellt.

Idealiter besteht folglich der zum Vergleich herangezogene Gegenstand aus einer »Tatsache des Naturlebens und des allgemeinen (nicht historisch fixierten) Menschenlebens, die mit dem dem Redner vorliegenden Gegenstand in Parallele gesetzt wird.«227 In den Metamorphosen kann die Visualisierung einer Handlung oder eines Ereignisses ganz gemäss obiger Massgaben durch die vergleichende Erwähnung eines allbekannten Vorgangs, der dem optischen Gedächtnis und der Vorstellungswelt des Rezipienten näher ist, unterstützt werden.228 Sprachlich ist der Vergleich in der Regel mit sie [...] ut, u. ä. realisiert. Aus der Tierwelt entlehnt ist bspw. der Vergleich, der den die Daphne verfolgenden Apoll visualisieren hilft: ut canis in vacuo leporem cum Gallicus arvo vidit, et hic praedam pedibus petit, ille salutem (alter inhaesuro similis iam iamque tenere sperai et extento stringit vestigia rostro, alter in ambiguo est, an sit conprensus, et ipsis morsibus eripitur tangentiaque ora relinquit): sic deus et virgo;129

223

Vgl. H. Lausberg, §§ 422-425. Vgl. Quint. Inst. 8, 3, 74. 225 Vgl. ebd. 8, 3, 72. Zur similitudo allgemein vgl. H. Lausberg, §§ 843-847. 226 Quint. Inst. 8, 3, 73. Zu den 3 Bekanntheitsgraden des zum Vergleich herangezogenen Gegenstandes vgl. H. Lausberg, § 845. 227 H. Lausberg, § 843. Entsprechend v. Albrecht, Verwandlungen, S. 37: »Seit Homer ist das epische Gleichnis >Fenster zur Realitätnunc tibi me posito visam velamine narres, si poteris narrare, licet. < (III 190ff.) Actaeon wird erst verwandelt, dann von seinen Hunden gehetzt und getötet, der Rezipient aber kommt davon; Ebenfalls Diana ist es, die in der Callisto-Episode feststellt, jetzt, wo jeder Augenzeuge fern sei, könne man sich ja entkleiden (>procul est< ait >arbiter omnis; nuda superfusis tingamus corpora lymphisj II 458f.): der Rezipient darf weiter zusehen. Das nächtliche Bacchanal, als dessen Augenzeuge Pentheus von den rasenden Weibern zu Tode gebracht wird (hie oculis illum cernentem sacra profanis prima videt, prima est insano concita cursu, prima suum misso violavit Penthea thyrso mater etc. III 71 Off.) dürfen wir ungestraft sehen, Pentheus aber wird zerrissen. Ganz privilegiert gar ist der Rezipient, der den Zauber der Medea miterleben darf, denn bevor die Zeremonie beginnt, hinc procul Aesoniden, procul hinc iubet ire ministros, et monet arcanis oculos removere profanos, diffugiunt iussi, passis Medea capillis bacchantum ritu flagrantes circuit aras (VII 255ff.). Zu den konventionellen Götterstrafen für diejenigen, die eine Gottheit auch unverschuldet nackt sehen, vgl. Buxton, S. 33ff.

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Vi suali sierungs Strategien

viro (178f.) mit dem des Actaeon zusammengeführt. Die Blickbündelung bewirkt eine zusätzliche Fokussierung auf die für alles weitere zentrale Figurengruppe der überraschten Diana mit ihrer Schar, die in einer eindrucksvollen, körpersprachlich aufgeladenen und damit affekterregenden (pectora percussere, 178f.; ululatibus, 179; color solis fuit in vultu Dianae, 183ff.) Figuren-, bzw. Figurengruppendeskription (180-188) visualisiert ist. Das statische Bild der von ihrer Schar geschützten Göttin steht als erste punktuelle Stillstellung der Handlung am Beginn einer Makrosequenzierung, die - in einer Mehrfachfimktion nicht nur die Schaulust befriedigend, sondern auch speziell auf die memoria wirkend - die Episode als ikonographische Reihe wie ein Strang durchzieht und die Höhe- und Wendepunkte der Dramaturgie markiert.257 Zwischen das Erscheinen Actaeons und die Verwandlung ist die plötzliche wilde Bewegung der Ertappten anhand einer weiteren, diesmal jedoch nur 4schrittigen diachron-konsekutiven Sequenzierung eingeschaltet (186-191), die den vorrübergehenden Stillstand der Figurengruppe wieder in Bewegung wandelt und gleichzeitig als sprechaktbegleitende Handlung Dianas Fluch (192f.) begleitet, bevor schliesslich eine óschrittige diachron-konsekutive Sequenzierung (194-198) die Verwandlung Actaeons in einen Hirsch visualisieren hilft. Erkennbar wird also das Bemühen um eine schrittweise vorzunehmende, planvoll aufgebaute Visualisierung der Szenerie und des Geschehens unter wirkungsvoller Abwechslung von Stillstand und Bewegung. Schon früh wird dabei der Rezipient ein Teil der Fiktion und sein Blick ist wirksam gelenkt. Mehrere eindrucksvolle Figuren, bzw. Figurengruppendeskriptionen sind narrationsverlangsamend in die Handlung eingeschaltet. Sie wirken durch ihre körpersprachliche Aufladung nicht nur affekterregend, sondern bilden eine die ganze Episode durchziehende Reihe von Stillstellungen, die die >Gelenkpunkte< der Dramaturgie markieren, die Erzählung so strukturieren und zudem - das ist sehr wichtig - in der Erinnerung des Rezipienten nach Wegfall des Umgebenden besonders haften bleiben.258

2.7 Fazit Eine Untersuchung der Metamorphosen auf ihre Visualisierungsstrategien ergibt: Der Text strebt unter enormen Aufwendungen nach beinahe nichts

257 Die Stillstellungen der Acateon-Episode sind neben der überraschten Diana in III 180ff. der sich im Wasser betrachtende Actaeon (III 200), die in den Hirsch verbissenen Hunde (III 232ff.) und der in die Knie gebrochene Actaeon (III 240f.). 258 Vgl. zur Wirkung der Makrosequenzierung auf die memoria S. 79f.

Fazit

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anderem als nach Inkorporation der Erzählten Welt in der Rezipientenimagination. Zu diesem Zweck bedient er sich einerseits etablierter narrativer Techniken, wendet diese jedoch in doppelt spektakulärer Weise, denn sie sind exzessiv und in der Regel in wirkungssteigernder Kumulierung eingesetzt. Gleichzeitig findet man die bis dato bekannten Veranschaulichungstechniken in auffallig viele, teils neuartig anmutende Varianten weiterentwickelt. Andererseits verleihen etwa die >dramatischen< Formen oder die Sequenzierungstechniken dem Kunsterlebnis Qualitäten und Wirkungen, die man sonst nur vom Drama und aus der bildenden Kunst kennt. Durch diese Bündelung, Steigerung und Fortentwicklung etablierter narrativer Techniken und die Hinzugewinnung von eigentlich literaturfremden Ausdrucksmöglichkeiten können die Metamorphosen ihren Stoff in der Rezipientenimagination zu einer Reihe von lebendig-bewegten Bildern und figurativen Emblemen formen, die das Publikum durch Farbigkeit, Einprägsamkeit, aber auch durch unmitelbare Wirkung im Sinne des aristotelischen ελεος und φόβος bis heute in ihren Bann schlägt. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, wie stark der Text zur Steigerung der ενάργεια auch mit den mythologischen Vorkenntnissen des Rezipienten operiert, oder genauer: wie gezielt er durch Leerstellen und Verweise in der Schilderung an ein Reservoir bildlicher Vorstellungen appelliert, das der Rezipient durch Kunsterleben und lebensweltliche Anschauung gewann und gewinnt, um dadurch einen Import fremderzeugter Bildlichkeiten in das Kunsterlebnis zu bewirken. Nimmt man hinzu, dass der bildimportierende Text dort, wo er sich aitiologisch geriert, durch Verknüpfung zahlreicher Naturerscheinungen aus Flora und Fauna mit bestimmten Mythologemen die Lebenswelt des Rezipienten seinerseits mit textgenerierten Bildern >auflädtlight< or >eyeLebenslichtes< mit dem Sinnesorgan, in dem es wohnt und sich ausdrückt.29 In allen diesen Fällen ist das Erlöschen der Augen das letzte, untrüglichste Zeichen fur das Ende des Lebens. 30 Das Sehen erscheint so als elementarste menschliche Lebensäusserung und Seinsform, deren Dauer der des Lebens entspricht.

3.2.3 Sehende und Blinde α π α ν τ α γαρ άποδίδομεν τοις ύεοίς όράν. 3 1 Den Götter schreiben wir ja die Fähigkeit zu, alles zu sehen. 32

Einige der originellsten Figuren des Textes erhalten ihre herausgehobene Rolle in der Handlung dadurch, dass sie besonders gut und viel sehen, indes andere bemerkenswert scheinen, weil sie nichts, bzw. wenig sehen.

27

1 720f. Vgl. dazu auch S. 126, Fn. 22. 29 Börner, I-III, S. 213 betont hingegen den semantischen Unterschied der beiden Wörter als wesentlich fur den Reiz der Stelle und sieht eine »Paranomasie (III 95) in der Sonderform, daß zwei unmittelbar oder nahe nebeneinander stehende gleichlautende Wörter verschiedene Bedeutung haben [...].« Zu exstinctum est (721) ebd.: »Die rhetorisch singulare Verbindung der beiden Bedeutungen des Erlöschens sowohl des ignis oculorum als auch des Lebens ist m. W. ohne Parallele;« Anderson, Books 1-5, S. 218 zur Stelle: »quodque ... lumen: plays with the two related senses of lumen·, namely, the literal sense of light and the metonymous sense of eye. All those eyes had one single kind of light, and that has been snuffed out; now they have a single night of darkness and death.« Übereinstimmend Haupt, S. 66. 28

30 Unsicher muss bleiben, ob mit XIII 560ff. eine Tötung oder lediglich eine Blendung vorliegt. Hecuba rächt dort den Tod des Polydorus an Polymestor: ita correpto captivarum agmina matrum invocai el dígitos in perfida lumina condii expilatque genis oculos (facit ira nocentem) inmergitque manus foedataque sanguine sonti non lumen (neque enim superest), loca luminis haurit. Liegt Tötung vor, wäre die Passage geeignet zu zeigen, dass nicht allein der Sehsinn mit dem Leben endigt, sondern zuweilen auch das Leben mit dem Verlust des Sehsinnes endigen kann. 31 32

Aristot. Poet. 1454b. Übersetzung: M. Fuhrmann, Stuttgart 1994.

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Sehen und Gesehenwerden in der erzählten Welt

Zu den >Superseh-Wesen< zählt natürlich Argus, das Geschöpf mit den hundert Augen,33 das die verwandelte Io beaufsichtigt. Der Invidia Hauptbeschäftigung ist das Sehen: videt ingratos intabescitque videndo successus hominum34

[Missgünstig betrachtet sie die Erfolge der Menschen, und wird rasend

bei deren Anblick.] Von ihrer Behausung aus35 sieht Fama schlichtweg alles:36 ipsa, quid in caelo rerum pelagoque geratur et tellure, videt totumque inquirit in orbem,37 [Was immer im Himmel, im Wasser und zu Lande geschieht, sieht sie, und mit ihrem Blick durchforscht sie die ganze Welt.] Uber die grösste

Sehkraft in der erzählten Welt jedoch verfugt in homerischer Tradition38 der Sonnengott, der einerseits allen anderen Geschöpfen das Sehen ermöglicht, andererseits selbst alles zu sehen vermag.39 Dies betont er selbst: >ille ego sum< dixit >qui longum metior annum, omnia qui video, per quem videt omnia tellus, mundi oculus: mihi crede, places. [>Ich bin derjenige^ sprach er, >der das lange Jahr abmisst, der ich alles sehe, durch den die Erde alles sieht, das Au-

ge der Welt: Du gefällst mir, glaub mir.augenblicklich< verliebt: puerum vidit visumque optavit habere;60 [Sie sah den Knaben und wollte ihn, von dem Moment an, da sie ihn gesehen hatte, besitzen] oder bei der Echo, die

den Narcissus sieht und sofort Feuer fängt: Narcissum per devia rura vagan lem vidit

et incaluif1

[Sie sah den durch die weglose Wildnis streifenden

Narziss und entbrannte]. Immer ist dabei der Vorgang des Sehens ausdrücklich bezeichnet und der zeitliche Zusammenfall von Sehen und Verlieben

56

J. W. Goethe. Römische Elegien 3, 7ff„ ed. E. Trunz, München 1998. Vgl. z. B. I 490; 588f.; 699; II 409f.; 574; III 370f.; 416f.; IV 316; 673ff.; V 393ff.; VI 455f.; VII 76f.; 701 ff.; Vili 324f.; IX 461f.; X 578ff.; 632; XI 303ff.; 769ff.; XIII 770ff.; 906; XIV 349ff.; 652f.; 698ff. 58 IV 672ff. Börner, IV-V, S. 319 ad loc.: »videt leitet oft eine neue, meist erotische Szene ein«. 59 XIII 906. 60 IV 316. Die Formulierung nach Börner, IV-V, S. 114 ein »[e]rotischer Topos vom Typ »vidit et incaluitemissionistischen< Theorien vgl. auch S. 128, Fnn. 41 u. 42): »Diese visuelle Strömung der Sehstrahlen [...] ist eine materielle, oft feurige Emission aus dem Auge, die aber zugleich mit der psychischen Qualität der Empfindung verbunden ist, ein >psychophysisches< Phänomen, das in unserer Kultur ohne Gegenstück ist.« (Racoczy, S. 20) Von Beginn an wiesen daher Philosophie und Dichtung dem >psychoaktiven< Blick eine wichtige Rolle auch bei erotischen Vorgängen zu. Zum erotischen und erotisierenden Blick z. B. in Piatons Phaidros oder den Quaesliones Plutarchs, wo es um homosexuelle Liebe geht, vgl. Rakoczy, S. 196ff. 63 Mit wenigen Ausnahmen fiihrt übrigens die über das Auge geweckte Begehrlichkeit zu männlicher sexueller Gewalt gegen ein weibliches Opfer. Anderson, Books 1-5, S. 446 verweist darauf in seinen Bemerkungen zu Salmacis und dem Knaben (bes. IV 316) und damit zu einer Szene, die als Ausnahme die Regel erweist: »[P]icking flowers is a typical part of girls's play, but it regularly serves as the occasion when a maiden, separated from the protection of parents and home, is especially pretty and vulnerable to an impetuous male. [...] When the narrator, then, introduces a male at 316, she starts false expectations that she cleverly thwarts, with what she believes is >sweet noveltyc (cf. 284). The male is only an inexperienced and innocent puer. What develops, then, is a rape of the boy by the impetuous, lustful nymph.« Anderson weiter (S. 446): »The sight of the boy ignites Salmacis' desires, a variation of >love at first sightzieht< ihn gleichsam >mit den Blicken ausVerbürgerlichung< der ovidischen Götterwelt ist, die einige Züge der Gesellschaft der augusteischen Zeit erhalten haben dürfte. Vgl. dazu bes. S. 142f. 73

I X 462ff. Vgl. XIII 789ff. Zur Stelle ausfuhrlicher S. 138ff. 75 X 547ff. Zuweilen könnte man meinen, die Augen seien weniger dasjenige Organ, durch das die Liebesempfindung zuerst erregt und in der Folge genährt wird, sondern selbst der Sitz des Gefühls. Dieser Eindruck jedenfalls drängt sich auf, zieht man XIII 772ff. hinzu. Dort begibt sich der Seher Telemus zu Polyphem und spricht: >lumen< que, >quod unum fronte geris media, rapiet tibU dixit >Ulixes.< risit et >o vatum stolidissime, falleris< inquit, >altera iam rapuit.t Hopkinson zu altera iam rapuit (S. o.): »Polyphemus' wittily savage retort exploits the chliché of the beloved person >snatching the eyes< of an admirer; cf. Am. 2.19.19 quae nostros rapuisti nuper ocellos.v. 74

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Zuneigung erregt hat, lässt Löwen, borstenstarrende Keiler, Augen und Herz wilder Tiere kalt.]

3.3.2 Körperkult und Sexualität Überhaupt spielt die römische Realität in Ovids Metamorphosen eine Rolle, die derjenigen der Anachronismen in der Renaissancemalerei vergleichbar ist. Die Gestalten der Tradition werden dem Betrachter dadurch nahegebracht, daß sie zeitgenössisches Gewand und moderne Züge tragen. 76

Mit der grossen Bedeutung, die in den Metamorphosen dem Auge in Liebesdingen eingeräumt ist, knüpft der Text an Traditionen der griechischen Liebesdichtung an.77 Das Motiv der >Liebe auf den ersten Blick< erinnert stark etwa an Sappho, die in ihrem von Catull im carmen 5178 bearbeiteten carmen 31 das Auge ebenso zum >erotischen< Organ macht: φαίνεται μοι κήνος ίσος Οέοισιν εμμεν' ώνηρ, δτχις ενάντιος τοι ίσδάνει καί πλάσιον άδυ φωνείσας υπακούει καί γελαίσας ψέροεν, τό jj.' ή μάν καρδίαν έν στηύεσιν έπτοαισεν ώς γαρ σ' ϊδω βρόχε', ώς με φώνη-

(Übrigens gibt es in der Ovidischen Liebesdichtung einige interessante Parallelstellen, ζ. B.: Am. 2, 19, 19: tu quoque, quae nostros rapuisti nuper ocellos\ 3, 6, 28: rapuit vultus [...] Neaera tuos\ 3, 11, 48: perque tuos oculos, quae rapuere meos.) Hierher gehört auch Met. XIV 372ff., wo Circe zu Picus spricht: >per, o, tua lumina< dixit, >quae mea ceperunt, perque hanc, pulcherrime, formarti, quae facit, ut supplex tibi sim dea, consule nostris ignibusdas Auge geraubtgefangengenommen σ ' ϊδω βρόχε', ώς με φώνησ' ο υ δ έ ν ετ' ε'ικει / qui sedens [...] te spectat et audit,m simul te, Lesbia, aspexi81), und seine Symptome bestehen in einer Art Hitzewallung (λέπτον δ' α ΰ τ ι κ α χρώι π υ ρ ΰ π α δ ε δ ρ ό μ α κ ε ν / tenuis sub artus fiamma demanaf1'). A u f den ersten Blick erscheinen die Metamorphosen hier also konventionell. Dass der Text diese Topoi aber ganz in seinem - einem ganz anderen - Sinne wendet, erhellt auf den zweiten Blick aus einem Vergleich der entsprechenden Passagen mit verschiedenen vorgängigen Texten. Der Monolog des verliebten Polyphem im XIII. Buch der Metamorphosen etwa (789ff.) verweist auf das XI. Idyll Theokrits. Dort heisst es (2549): ήράσύην μεν έγωγε τεούς, κόρα, άνίκα πράτον ήνύες έμά συν ματρί Αέλοισ' ύακίνίΗνα φύλλα έξ δρεος δρέψασύαι, έγώ δ' όδόν άγεμόνευον. παύσασϋαι δ' έσιδών τυ και ύστερον ούδ' έτι πα νυν έκ τήνω δύναται· τίν δ' οϋ μέλει, ού μά Δί' ουδέν, γινώσκω, χαρίεσσα κόρα, τίνος ουνεκα φεύγειςοΰνεκά μοι λασία μέν όφρύς έπι παντί μετώπω έ§ ώτος τέταται ποτί ΰώτερον ώς μία μακρά, εις δ' οφθαλμός ϋπεστι, πλατεία δέ ρΐ£ έπί χείλει. αλλ' ούτος τοιούτος έών βοτά χίλια βοσκώ,

79 80 81 82

Übersetzung: Μ. Treu, München 1963. Cat. 51, 3f. Cat. 51, 6f. Cat. 51, 9f.

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κήκ τ ο ύ τ ω ν το κ ρ ά τ ι σ τ ο ν ά μ ε λ γ ό μ ε ν ο ς γ ά λ α π ί ν ω · τ υ ρ ό ς δ ' ού λ ε ί π ε ι μ' ο ΰ τ ' έν ιΐέρει οΰτ' έν όπώρα, ού χ ε ι μ ώ ν ο ς άκρω· τ α ρ σ ο ί δ ' ύ π ε ρ α χ ύ έ ε ς α ΐ ε ί . σ υ ρ ί σ δ ε ν δ ' ώς ο ΰ τ ι ς ε π ί σ τ α μ α ι ώ δ ε Κ υ κ λ ώ π ω ν , τίν, το φ ί λ ο ν γ λ υ κ ύ μ α λ ο ν , ά μ α κ ή μ α υ τ ο ν ά ε ί δ ω ν π ο λ λ ά κ ι ν υ κ τ ό ς ά ω ρ ί . τ ρ ά φ ω ¿ έ τοι ε ν δ ε κ α ν ε β ρ ώ ς , π ά σ α ^ μ α ν ν ο φ ο ρ ω ς , καΐ σ κ ύ μ ν ω ς τ έ σ σ α ρ α ς ά ρ κ τ ω ν , ά λ λ ' α φ ί κ ε υ σ ο π ο ύ ' άμε, και έξεί«^ ο ύ δ ε ν έ λ α σ σ ο ν , τ ά ν γ λ α υ κ ά ν δε θ ά λ α σ σ α ν εα ποτι χ έ ρ σ ο ν ό ρ ε χ ι ί ε ΐ ν · ά δ ι ο ν έν τ ώ ν τ ρ ω π α ρ ' έ μ ί ν τ ά ν ν ύ κ τ α δ ι α ξ ε ι ς . έντί δ ά φ ν α ι τ η ν ε ί , έντί ρ α δ ι ν α ί κ υ π ά ρ ι σ σ ο ι , εστι μέλα^ κισσός, ε σ τ ' ά μ π ε λ ο ς ά γ λ υ κ ύ κ α ρ π ο ς , εστι ψ υ ^ ρ ο ν ϋ δ ω ρ , τό μοι ά π ο λ υ δ έ ν δ ρ ε ο ς Α ί τ ν α λ ε ύ κ α ς εκ χ ι ό ν ο ς ποτόν ά μ β ρ ό σ ι ο ν προ'ίητι. τ ί ς κ α τ ώ ν δ ε θ ά λ α σ σ α ν εχειν καί κΰμα.θ' ελοιτο; 8 3 Verliebt habe ich mich in dich, Mädchen, als du zum ersten Mal zusammen mit deiner Mutter gekommen bist und Hyazinthenblumen vom Berg pflücken wolltest und ich den Weg zeigte; und aufhören kann ich seitdem nicht mehr, nachdem ich dich erblickt habe, danach nicht und auch jetzt nicht. Doch dich kümmert es nicht, beim Zeus, kein bisschen. Ich weiss, reizendes Mädchen, weshalb du fliehst; weil sich bei mir auf der ganzen Stirn eine zottige Braue vom einen bis zum anderen Ohr hinzieht, eine einzige, lange, und ein einziges Auge darunter ist und eine platte Nase über der Lippe. Aber ich hier, so wie ich bin, weide doch tausend Schafe, und aus denen melke ich mir die beste Milch und trinke sie; Käse geht mir nicht aus, weder im Sommer noch im Herbst, nicht gegen Ende des Winters; die Darren sind stets überschwer. Auf der Syrinx zu spielen, verstehe ich wie keiner der Kyklopen hier, wenn ich oftmals tief in der Nacht von dir, meinem lieben Süssapfel, und zugleich auch von mir selbst singe. Ich ziehe für dich elf Rehkitze auf, alle mit Halsbändern, und vier Junge von Bären. So komm doch zu mir, und du wirst keinen Nachteil haben, das blaue Meer aber lass gegen das Land schlagen; angenehmer wirst du in der Höhle bei mir die Nacht verbringen. Es gibt Lorbeerbäume hier, es gibt schlanke Zypressen, es gibt dunklen Efeu, es gibt den süssfruchtigen Wein, es gibt kühles Wasser, das mir der baumreiche Aitna aus seinem weissen Schnee als ambrosischen Trunk entsendet. Wer würde schon lieber als dies das Meer haben und die Wogen? 8 4

Bei Ovid äussert sich der Cyclop anders im Hinblick auf sein Äusseres: certe ego me novi liquidaeque in imagine vidi nuper aquae, placuitque mihi mea forma videnti. adspice, sim quantus: non est hoc corpore maior Iuppiter in caelo (nam vos narrare soletis, nescio quem regnare lovem), coma plurima torvos prominet in vultus umerosque, ut lucus, obumbrat, ne, mea quod rigidis horrent densissima saetis corpora, turpe puta [...].85

83

Theokr. 1 1 , 2 5 - 4 9 .

84

Übersetzung: Β. Effe, Darmstadt 1999.

85

XIII 840ff. Die Stelle erweist neben dem ovidischen Hang zur Parodie auch den zur

Visualisierung. Börner, XII-XIII, S. 4 1 9 dazu: »Seine grotesken Übertreibungen (XII 295) lassen sich schon durch einen einfachen Zahlenvergleich charakterisieren: Das Lied enthält in 19 Versen ( 7 8 9 - 8 0 7 ) mit einer kunstvollen asyndetischen Reihung 30 Vergleiche, gegenüber 4 und j e 3 Vergleichen in den entsprechenden Gedichten bei Theocr. l l , 1 9 f f . und Verg. bue. 7,37ff.« Hill, XIII-

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Sehen und Gesehenwerden in der erzählten Welt

Natürlich kenne ich mich: Neulich noch habe ich mein Spiegelbild im Wasser betrachtet, und mir gefiel die Gestalt, die ich sah. Sieh nur, wie gross ich bin: Auch Iuppiter im Himmel hat keinen eindruckvolleren Körper als diesen (denn ihr pflegt zu erzählen, dort herrsche ein gewisser Iuppiter). Dichtes Haar fällt in eine grimmige Stirn und beschattet meine Schultern wie ein Hain, und halte es nicht fur hässlich, dass mein Körper über und über von harten Borsten starrt.

Beidemale zwar gilt Hässlichkeit als Makel. Während aber der theokritische Polyphem beim Werben um Galatea ganz auf seine >inneren WertemenschelteVerbürgerlichung< - über die oft vermutete Kaiserkritik101 hinaus - auch gleich gesellschaftskritisch geben, muss, trotzdem der Gedanke etwas Faszinierendes hat, Spekulation bleiben: Wenn in seiner Mythographie der Mensch jeder Epoche sich selbst bespiegelt, dann sind die vom Metamorphosenàichter geschilderten caelicoli eben Augusteer und damit »keine transzendenten Mächte, sondern nach dem Bilde des Menschen geschaffen, der in den Göttern sich selbst, in's Riesenhafte gesteigert, begegnet.«102

3.3.3 Sehen und Gesehenwerden als Handlungs-Movens Nicht bloss in Liebesangelegenheiten, auch ganz generell ist das Sehen und Gesehenwerden, bzw. Nichtsehen und Nichtgesehenwerden ein hauptsächliches Movens der Handlung.103 Dies ist stets durch auffällig gehäuft auftretende verba nominaque videndi betont. entspricht dem Wohnungsluxus der ovidischen Zeit, cf. Horn. Lat. v. 316: secum in thalamos deferì testudine cultos.« 101 Namhafte Latinisten haben eine >anti-augusteische< Deutung der Metamorphosen und anderer Werke Ovids vorgestellt, darunter Otis, Galinsky, Segal, Doblhofer, Syme, Barchiesi u. a. (Forschungsüberblick zum Thema und der damit verknüpften Frage nach den Gründen für das ovidische Exil in Schmitzer, Zeitgeschichte, S. Iff), jüngst noch legte Davis eine solche Studie zur Ovidischen Liebesdichtung vor. Diese Ansätze sind jedoch, so verlockend sie auch sein mögen, aus mehreren Gründen problematisch (vgl. dazu Fondermann). Die Forschung scheint hier nämlich einerseits die Auseinandersetzung mit einem >Augusteischen System< erkennen zu wollen, von dem wir uns in zeitlichem Abstand und den Kontroversen der Gelehrten kaum ein konsensfahiges Bild machen können, so dass in all der Beschwörung der >antiaugusteischen< Zwischentöne noch durchaus ungeklärt ist, was >augusteisch< eigentlich bedeutet. Ebenso umstritten ist die Frage, inwieweit der Kaiser den Literaturbetrieb des Reiches auf seine Herrschaftideologie auszurichten versuchte, also - bspw. über Maecenas - eine Art von >Gleichschaltung< verlangt haben könnte: hier sollte man sich vor der Projektion derjenigen Erfahrungen, die insbesondere das 20. Jh. mit totalitären Regimen gemacht hat, auf die Antike hüten. Zudem - und das ist die wesentlichste Schwäche dieses Forschungsstranges - bleibt die Suche nach Zeitbezügen stets starr auf die Figur des Augustus fixiert: Mit Zeitkritik bleibt zumeist Kaiserkritik, bzw. Systemkritik gemeint. In diesem Sinne etwa Phillips, S. 780, der feststellt: »>Augustan< and >anti-AugustanOppositionAnschaulichkeit< als Leseerlebnis vgl. S. 12ff. 133

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3.4.3 Pythagoras, der >weise Narr< nihil est toto, quodperstet, in orbe, cuneta fluunt, omnisque vagans formatur imago.136 Auf der ganzen Welt gibt es nichts, was Bestand hat. Alles fliesst, und jede Erscheinung verändert sich, noch während sie vorrüberzieht.

Im XV. und letzten Buch der Metamorphosen lässt die Pseudo-Chronologie der mythologischen Historie die Ereignisse der erzählten Welt in einer vom Publikum vermutlich noch als innerhalb seiner Erfahrungswelt liegend empfundenen Ära münden, derjenigen des Caesarmordes und der Aufrichtung des Prinzipats des Augustus. Doch bevor wir die Vergöttlichung des Juliers erleben, ist ab XV 60ff eine Passage platziert, die kurz vor Schluss, da die zeitliche Bewegung des Epos mit Macht auf das Finale hinstrebt, mit ihrem Exkurscharakter ein retardierendes Moment darstellt: die Rede des Pythagoras.137 Entscheidend für die Beantwortung der Frage nach Zweck und Bedeutung der Rede ist sicher der >Status