Wortgeographie und Gesellschaft: Festgabe für Ludwig Erich Schmitt zum 60. Geburtstag am 10. Februar 1968 9783110817966, 9783110003802

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Wortgeographie und Gesellschaft: Festgabe für Ludwig Erich Schmitt zum 60. Geburtstag am 10. Februar 1968
 9783110817966, 9783110003802

Table of contents :
INHALT
ERSTES KAPITEL. Lexikologie und Lexikographie
Soziologie und Mundartforschung
Wortbildung als Wortsoziologie
Soziologische Namengeographie
Alte Lexikographie und moderne Wortgeographie
Deutsche Lexikographie und Sprachnorm im 17. und 18. Jahrhundert
Mundartwörterbücher im Königreich der Niederlande
Niederländische Mundartwörterbücher in Belgien
ZWEITES KAPITEL. Worträume und Wortschichten
Der Deutsche Wortatlas als Forschungsmittel der Sprachsoziologie
Alemannisch
Bairisch
Westmitteldeutsch
Ostmitteldeutsch
Niederdeutsch
DRITTES KAPITEL. Fachsprachen
Fach- und Gemeinsprache. Zur Emanzipation und Isolation der Sprache
Rechtswortgeographie
Sprache und Politik: Zur Bezeichnung der Repräsentativkörperschaften
Zur Wortgeographie der deutschen Bergmannssprache
VIERTES KAPITEL. Lehnwortaustausch des Deutschen mit den Nachbarsprachen
Deutsch-französischer Lehnwortaustausch
Deutsch-italienischer Lehnwortaustausch
Deutsch-englischer Lehnwortaustausdi
Deutsch-niederländisdier Lehnwortaustausdi
Deutsch-nordischer Lehnwortaustausdi
Deutsch-slawischer Lehnwortaustausdi
Deutsch-ungarischer Lehnwortaustausdi
Deutsche Sprache und gesellschaftliche Ordnung im Baltikum
Register

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Wortgeographie und Gesellschaft

Wortgeographie und Gesellschaft

Herausgegeben von

Walther Mitzka

Walter de Gruyter &c Co. Berlin 1968

© Archiv-Nr. 459468/1 Copyright 1968 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Kar! J. Trübner • Veit Sc Comp. Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Herstellung: Walter de Gruyter & Co., Berlin 30

Festgabe für Ludwig Erich Schmitt zum 60. Geburtstag am 10. Februar 1968

INHALT

ERSTES KAPITEL

Lexikologie und Lexikographie Else Hünert-Hofmann: Soziologie und Mundartforschung

3

Peter von Polenz: Wortbildung als Wortsoziologie

10

Friedhelm Debus: Soziologische Namengeographie

28

Gilbert de Smet: Alte Lexikographie und moderne Wortgeographie

49

Helmut Henne: Deutsche Lexikographie und Sprachnorm im 17. und 18. Jahrhundert

80

Klaas Heeroma: Mundartwörterbücher im Königreich der Niederlande

115

Jan Goossens: Niederländische Mundartwörterbücher in Belgien

131

ZWEITES KAPITEL

Worträume und Wortschichten Reiner Hildebrandt: Der Deutsche Wortatlas als Forschungsmittel der Sprachsoziologie 149 Rudolf Freudenberg: Alemannisch

170

Walther Mitzka: Bairisdi

185

Hans Friebertshäuser: Westmitteldeutsch

211

Walther Mitzka: Ostmitteldeutsch

248

Walther Mitzka: Niederdeutsch

282

DRITTES KAPITEL

Fachsprachen Dieter Möhn: Fach- und Gemeinsprache. Zur Emanzipation und Isolation der Sprache 315 Horst Haider Munske: Rechtswortgeographie

349

Horst Grünert: Sprache und Politik: Zur Bezeichnung der Repräsentativkörperschaften 371 Herbert Wolf: Zur Wortgeographie der deutschen Bergmannssprache

418

Inhaltsverzeichnis

vni

VIERTES KAPITEL Lehnwortaustausch des Deutschen mit den Nachbarsprachen Bernd K r a t z : Deutsch-französischer Lehnwortaustausch

445

Egon Kühebacher: Deutsch-italienischer Lehnwortaustausch

488

Anthony W . Stanforth: Deutsch-englischer Lehnwortaustausdi

526

J a n Peter Ponten: Deutsch-niederländisdier Lehnwortaustausdi

561

Türe Johannisson: Deutsch-nordischer Lehnwortaustausdi

607

Bernhard Peters: Deutsch-slawischer Lehnwortaustausdi

624

Claus Jürgen Hutterer: Deutsch-ungarischer Lehnwortaustausdi

644

Alfred Schönfeldt: Deutsche Sprache und gesellschaftliche Ordnung im Baltikum . .

660

Register

679

ERSTES KAPITEL

Lexikologie und Lexikographie Else Hünert-Hofmann: Soziologie und Mundartforschung

3

Peter von Polenz: Wortbildung als Wortsoziologie

10

Friedhelm Debus: Soziologische Namengeographie

28

Gilbert de Smet: Alte Lexikographie und moderne Wortgeographie

49

HelmutHenne: Deutsche Lexikographie und Sprachnorm im 17. und 18. Jahrhundert 80 Klaas Heeroma: Mundartwörterbücher im Königreich der Niederlande

115

Jan Goossens: Niederländische Mundartwörterbücher in Belgien

131

ELSE

HONERT-HOFMANN

Soziologie und Mundartforschung O b w o h l jede wissenschaftliche D i s z i p l i n eine eigene M e t h o d i k

entwickeln

muß, führt doch häufig nur der interdisziplinäre Methodenaustausch zu neuen Einsichten. Seit einiger Zeit dient vor allem die Soziologie vielen Wissenschaftsz w e i g e n — vielleicht nicht immer legitimerweise — als Hilfswissenschaft. I m Falle der Mundartforschung ist diese Verbindung mit der Soziologie

nicht

neueren D a t u m s : D i e Dialektforschung bedient sich seit ihren A n f ä n g e n 1 der einfacheren M e t h o d e n der empirischen Sozialforschung, hat sich bei der Interpretation ihrer Forschungsergebnisse auf sie stützen müssen und e t w a bei der Erklärung v o n Sprachveränderungen in einer Mundart die s o z i a l e n Ursachen dieser Veränderungen nicht unberücksichtigt gelassen. In den gängigen H a n d büchern u n d Darstellungen der Mundartforschung, e t w a bei A . Bach, W . H e n z e n , B. Martin, u n d in jüngster Zeit G. Bergmann 2 findet sich ein Kapitel, das sich mit der soziologischen Seite der Mundartforschung auseinandersetzt. Was L. Weisgerber ganz allgemein v o n der Sprachforschung fordert, d a ß sich nämlich ihr soziologisches Interesse auf die Sprache als fait

social

z u richten

habe 3 , gilt in der Mundartforschung schon immer. D a s soll hier dargelegt werden. Zunächst m ü ß t e der Terminus fait social näher bestimmt werden. Weisgerber bezieht sich auf Emile Durkheim 4 , der den Begriff allerdings selbst nicht ein1

J. A. Schmeller, Die Mundarten Bayerns, München 1821, S. 11; vgl. F. Wrede, Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Mundartforschung, Kleine Schriften, Marburg 1963, S. 331—344 (ursprünglich in Z f d M a a 1919, S. 3—18). R. Freudenberg, Zur Entwicklungsgeschichte der dialektgeographischen Methode, Zs. für Mundartforschung ( = ZMF) 32, 1965, S. 170-182.

2

A. Bach, Deutsche Mundartforschung. Ihre Wege, Ergebnisse und Aufgaben, Heidelberg 1950 2 . W. Henzen, Schriftsprache und Mundarten, Bern 1954 2 . B. Martin, Die deutschen Mundarten, Marburg 1959 2 . W. Mitzka, Deutsche Mundarten, Heidelberg 1943; ders., Sprachausgleich in den deutschen Mundarten bei Danzig, Königsberg 1928. G.Bergmann, Mundarten und Mundartforschung, Leipzig 1964. G. H a r d , Zur Mundartgeographie = Beiheft zur Zs. .Wirkendes Wort' 17, 1966. L. Weisgerber, Artikel .Sprachsoziologie', Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. IX, Tübingen und Göttingen 1956, S. 725—729.

3

4

l*

Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, übers, u. hg. René König, Neuwied 1961. Die Definition bei Durkheim in Königs Übersetzung: „Ein soziologischer Tatbestand' ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt." (S. 114.)

4

Else

Hiinert-Hojmann

deutig verwendet; es kann damit ein soziologischer Tatbestand oder auch ein soziales Phänomen gemeint sein. R . König hat, Beobachtungen von Parsons verwendend, die Mißverständnisse um diesen Begriff geklärt: „Ein soziologischer Tatbestand ist also eine Aussage und kein Phänomen, er ist eine Aussage über ein oder mehrere Phänomene" 5 . Die Mundartforschung hat Phänomene gesammelt, sie hat in mühevoller Kleinarbeit 6 Sprachveränderungen

innerhalb der einzelnen Mundarten

fest-

gestellt und sich zur Aufnahme des Sprachbesitzes der verschiedenen Mundartsprecher der Interviewtechnik der empirischen Sozialforschung bedient. Eine Erklärung sprachlicher Veränderungen gelang oft genug nur auf Grund der beim Interview erworbenen Kenntnis der s o z i a l e n

Verhältnisse der befragten

Sprachgruppen, auf Grund sozialer Veränderungen. Die Mundartforschung hat die Aufgabe, sprachliche Phänomene aufzunehmen und die teilweise sozial bedingten Veränderungen angemessen zu interpretieren. Während bei Weisgerber das soziologische Interesse innerhalb der Sprachforschung noch auf die sprachlichen Phänomene der .Gemeinschaft' gerichtet ist, bemüht

sich

L . E . Schmitt

Sprachgruppe7.

um

den

präziser

faßbaren

Sprachbesitz

einer

Schmitt betont Einzelforschung und Teilergebnisse, die

auch in der neueren Soziologie als grundlegend erachtet werden. Die präzisen Einzelergebnisse aus der Erforschung kleinerer und übersichtlicher Mundartgebiete sollen die Grundlage bilden für genauere Darstellungen übergreifender Sprachstrukturen

und

Sprachveränderungen.

Weisgerbers Überlegungen orientieren sich vornehmlich an der Sprache im Sinne eines historisch gewordenen l i n g u i s t i s c h e n S y s t e m s , an dem das Individuum teilhat, wenn es sich seiner Umwelt verständlich machen will. D e r zweite Aspekt der Sprache, die Sprache als , R e d e' 8 , kommt in seiner Bedeutsamkeit weniger zur Geltung. Das , s o z i a l e

Objektivgebilde''

steht

im Vordergrund. Die Mundartforschung dagegen hat sich fast ausschließlich mit der Rede beschäftigt und den schöpferischen Anteil der lebenden gesprochenen Sprache am historisch w e r d e n d e n

System beobachtet.

Terminologische Schwierigkeiten und Unklarheiten ergeben sich aus der Geschichte der Dialektologie; volkskundliche Begriffe und Begriffe der älteren Soziologie werden nicht immer streng unterschieden. H i e r sollen die Termini Sprachgemeinschaft' und ,Sprachgruppe' nur in ihrer Bedeutung für die Sprach5

R . K ö n i g in seiner Einleitung zu Dürkheims ,Regeln', a. a. O . S. 3 8 . T . Parsons, The S t r u c t u r e o f Social A c t i o n , Glencoe, Illinois, 1 9 4 9 2 , S. 7 3 4 ff.

• Vgl. die in der wissenschaftlichen Reihe Deutsche Dialektgeographie Untersuchungen,

Marburg

1908—1967,

hg. F. W r e d e ,

W . Mitzka,

gesammelten

B.Martin,

L. E.

Schmitt. 7

L . E . Schmitt, Sprache und Geschichte, Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte M a r b u r g 1 9 5 7 , S. 2 7 8 f.

7,

8

Vgl. die bekannte Unterscheidung zwischen .langue' und ,parole' bei F. de Saussure, Cours de Linguistique Générale, Genève 1 9 1 6 .

9

A . V i e r k a n d t , Gesellschaftslehre, S t u t t g a r t 1 9 2 3 , S. 3 2 1 .

Soziologie

und

5

Mundartforschung

forschung kurz diskutiert w e r d e n 1 0 . A n d r é M a r t i n e t gibt eine für die Sprachwissenschaft brauchbare E r l ä u t e r u n g des Begriffs Sprachgemeinschaft: „Die Welt ist gegenwärtig in politische Gemeinschaften gegliedert, in denen jeweils, wenigstens im allgemeinen, eine bestimmte Sprache in offiziellem Gebrauch ist. Man glaubt daher leicht, die Glieder derselben Nation bildeten insgesamt eine geschlossene, homogene Sprachgemeinschaft. Die offiziellen Sprachen weisen eine geschriebene, meist bis ins kleinste festgelegte Form auf, mit der ein Ausländer gewöhnlich zuallererst Bekanntschaft macht. Innerhalb seines eigenen Landes hat der Sprecher im allgemeinen starke Empfänglichkeit für das Prestige der geschriebenen Form. Von der Festgelegtheit und Einheitlichkeit dieser Form schließt er gern auf dieselben Eigenschaften in der offiziellen Sprache. Die Sprachwissenschaftler selbst haben lange Zeit ihre Aufmerksamkeit vorzüglich den großen Literatursprachen zugewandt, die sie als Philologen untersuchten, und haben erst recht spät erkannt, wie wichtig das Studium der schriftlosen, neben den Nationalsprachen existierenden Sprachformen für ihre Forderungen war. Noch länger hat es gedauert, bis man sich der oft erheblichen Unterschiede bewußt wurde, die zwischen diesen offiziellen Literatursprachen und dem täglichen mündlichen Sprachgebrauch selbst solcher Sprecher bestehen, deren Verhalten am nachahmenswertesten erscheint 11 ." M a r t i n e t gibt eher eine Umschreibung als eine Definition und -wird damit dem P h ä n o m e n m e h r gerecht als der globale traditionelle Begriff. Ähnlich v e r f ä h r t H . Steger: E r kritisiert die summarische A n w e n d u n g

des Begriffs

auf

G r o ß s t r u k t u r e n wie die Gesamtheit der Sprecher der englischen, französischen, deutschen Schriftsprache

usw. Dabei

bleibe der Sprecher

in der

konkreten

Sprachsituation innerhalb seiner Kleingruppe unberücksichtigt 1 2 . Diese Differenzierung der Begriffe läuft den Bemühungen um größere Genauigkeit in der Soziologie parallel und w i r d durch sie gefördert. R . K ö n i g stellt auf G r u n d e x a k t e r empirischer Forschungen fest, d a ß auch ein so kleines gesellschaftliches Gebilde wie das D o r f oder die Gemeinde nicht oder nicht mehr als eine ,unbewußte Gemeinschaft' betrachtet w e r d e n d a r f . E r sagt: „ W e n n eine Gemeinde unter anderem durch das Vorhandensein gemeinsamer W e r t i d e e n definiert wird, so heißt das in dieser Betrachtungsweise, d a ß es grundsätzlich G r u p p e n geben kann, die als U n t e r g r u p p e in einem größeren Z u s a m m e n h a n g leben, ohne an deren Wertgefühlen Anteil zu n e h m e n 1 3 . " 10

Die Soziologie hat ähnliche terminologische Schwierigkeiten, vgl. R. König, Artikel .Gruppe*, Lexikon der Soziologie, Frankfurt 1958.

11

A. Martinet, Grundzüge der allgemeinen Sprachwissenschaft, übers. Anna Fuchs, Stuttgart 1963, S. 133 f. (nach dem Original ,Elements de Linguistique Generale', Paris 1960).

12

H. Steger, Gruppensprachen — Ein methodisches Problem Sprachbetrachtung, 2 M F 31, 1964, S. 125—138.

13

R . König, Einige Bemerkungen zur Soziologie der Gemeinde, Soziologische Orientierungen, Köln 1965, S. 409, zuerst in Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft I, Soziologie der Gemeinde, Köln 1956. Dazu: F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887, Neudruck Darmstadt 1963, bes. S. 8—83. R . König, Die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bei Ferdinand Tönnies, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 7 (1955), S. 348—420. J . Fichter S J , Die Sozialstruktur der Gruppen in einer Pfarre, ebd. S. 43—54. H . Stirn, Die .kleine Gruppe' in der deutschen Soziologie, ebd. S. 532—557.

der

inhaltsbezogenen

6

Else

Hünert-Hofmann

Die Mundartforschung ist vor Jahrzehnten davon ausgegangen, daß eine Dorfgemeinschaft gleichzusetzen sei mit der kleinsten Einheit der Sprachgemeinschaft. Man wählte wenige Sprecher aus einem Ort aus, ließ sie die vierzig Wenker-Sätze 1 4 und zusätzlich selbstformulierte Fragen beantworten und sprechen und stellte auf der Grundlage dieses Materials O r t s g r a m m a t i k e n her. Die Kritik an dieser Praxis muß allerdings in zwei wesentlichen Punkten eingeschränkt werden: einmal war zu dieser Zeit die ländliche Gemeinde sicherlich weniger differenziert als heute, wo der Prozeß der Industrialisierung die alten Gebilde auflöst, zum andern war das Interesse der Mundartforschung in ihren Anfängen größeren Mundarträumen und größeren Zusammenhängen zugewandt. Überdies fehlte es an Mitteln, die intensive Untersuchung einer Ortsmundart mit technischen Hilfsmitteln und von speziell geschulten Kräften durchführen zu lassen. Außerhalb der eigentlichen Mundartforschung wurden schon früh, beginnend gegen Ende des 19. Jahrhunderts, G r u p p e n s p r a c h e n erforscht, wenn es sich um geschlossene soziale Gruppen handelte: Studenten, Seeleute, Soldaten, Drucker usw. Man bezeichnet sie heute als F a c h - u n d S o n d e r s p r a c h e n . Hier geht es um andere Gruppen. In den U S A hat man bei der Untersuchung der ,language groups' sofort soziologische Methode benutzt — die Forschung setzte dort später ein —, und die soziologischen Aspekte waren offenkundig 15 . Diese Sprachgruppen in den U S A sind zweisprachig. Darf aber eine mundartsprechende Gruppe, die sich in bestimmten Situationen der neuhochdeutschen oder städtischen Umgangssprache bedient, grundsätzlich gleich betrachtet werden wie die ,language group', die z. B. Deutsch als Muttersprache und Englisch als Sprache ihrer ,Wahlheimat' spricht? Bevor die Frage beantwortet werden kann, muß festgestellt werden, was unter zweisprachig' zu verstehen ist. André Martinet sagt dazu: „Die Vorstellung, bei Zweisprachigkeit müsse es sich um zwei Sprachen von gleichem Status handeln, ist so verbreitet und eingewurzelt, daß einige Sprachwissenschaftler den Ausdruck ,Diaglossie' als eine Bezeichnung für eine Situation vorgeschlagen haben, bei der eine Gemeinschaft je nach den Umständen eine vertrautere und weniger angesehene Sprachform gebraucht oder eine andere, gelehrtere und gesuchtere. N u n gibt es aber so viele verschiedene Möglichkeiten der Symbiose zwischen zwei Sprachformen, daß man lieber einen Ausdruck wie Zweisprachigkeit', der sie alle deckt, beibehalten als eine Klassifikation auf der Grundlage einer simplifizierten Zweiteilung versuchen wird1'." 14

13

10

W . Mitzka, Handbuch zum Deutschen Sprachatlas, Marburg 1952, S. 13 ff. F. Wrede, Kleine Schriften, D D G Bd. 60, Marburg 1963, S. 13 ff. Mit dem Schwinden der sozialen Solidarität geht eine rapide Disintegrierung der Sprachgruppen H a n d in H a n d . Dieser P r o z e ß kann gegenwärtig noch beobachtet werden. Vgl. T I M E Magazine, N e w Y o r k , Dee. 2, 1966, p. 3 0 f. Eigene Beobachtungen des Vorgangs in einer ursprünglich rein deutschsprachigen S t a d t : N e w Braunfels/Texas. A . Martinet, Grundzüge der allgemeinen Sprachwissenschaft, a. a. O. S. 136.

Soziologie

und

Mundartforschung

7

Im Gegensatz zu Andreas von Weiß' Definition „Zweisprachigkeit ist der aktive und passive Gebrauch zweier Sprachen durch den Sprachträger" 17 ist Martinets Umschreibung flexibel. Sie trifft für die Situation des Mundartsprechers wie des Sprechers in der ,language group' zu. Martinet stellt sich auf die Sprechsituation ein18, der Sprecher ist ein- und mehrsprachig, ähnlich wie er zu mehreren s o z i a l e n G r u p p e n gehört. Dabei dürfen die Unterschiede zwischen der Situation des Mundartsprechers und des Sprechers in der ,language group' nicht verwischt werden. Uriel Weinreich folgert aus seinen Beobachtungen der Sprachtendenzen innerhalb der ,language groups': "In a given case of contact, the prevalent type, direction, and extend of interference may change with time. Since the languages themselves remain the same, it must be their relative status with the agents of the contact and interference — the bilingual individuals — that is undergoing the modification 1 '." . . . "The structure of a language group belongs primarily to sociology, but the allegiance problems of the bilingual who potentially belongs to two language communities can also be formulated in terms of individual psychology 20 ."

Die Situation des Mundartsprechers ist nicht grundsätzlich anders, doch die Tendenzen sind ausgeprägter, die Alternativen strenger, die Übergänge beschränkt: die zweisprachige Gruppe in den USA hebt sich ab durch ein besonderes soziales Verhalten. Die Individuen versuchen, einen aufgegebenen oder verlorenen sozialen Status unter den veränderten Bedingungen wiederherzustellen oder überhaupt zu etablieren. Die intime Verkehrssprache untereinander bleibt die Sprache ihres Heimatlandes, doch im Interesse der sozialen Etablierung ist die Beherrschung der Sprache des Gastlandes notwendig, ist eine sprachliche Anpassung vorausgesetzt, um ein volles Mitglied der neuen Gesellschaft zu werden. Für sie hängt mehr davon ab als für einen Mundartsprecher. Trotzdem bleiben überraschende Parallelen, warum die einen von der Muttersprache in die Fremdsprache', die andern von der Mundart in die Umgangssprache wechseln: Sozialprestige und wirtschaftlich bedingter Druck zur Anpassung scheinen in beiden Fällen wesentlich zu sein. Auf der einen Seite muß sich der Sprecher der Sprache der Umgebung bedienen, um sich überhaupt verständigen zu können. Diese Sprache wird zunächst nur im Berufsleben gebraucht, und die alte im Umkreis des familiären Bereichs wird bewußt konserviert. In der mundartlichen Sprachgruppe gibt es keine so hohe Sprachbarriere, die Verständigung ist immer garantiert. Die Hochsprache oder Umgangssprache wird zeitweilig verwendet; sobald aber der Arbeitsbereich im städtischen Industrie- oder Bürobetrieb verlassen ist, kann sich der Mundartsprecher seinem 17

A. von Weiß, Hauptprobleme der Zweisprachigkeit, Heldelberg 1959, S. 26.

18

Dazu G. Bellmann, Mundart — Schriftsprache — Umgangssprache, PBB 79 (Halle) 1957, S. 168 ff.

19

U. Weinreich, Languages in Contact, The Hague 2 1963, p. 74 (ursprünglich "Publications of the Linguistic Circle of N e w York", Nr. 1, N e w York 1953).

20

ibd. p. 117.

in

8

Else

Hünert-Hofmann

vertrauten Idiom überlassen 21 . Ist ihm allerdings auch in seiner hergebrachten Umgebung die Aufgabe gestellt, sich über ein Problem zu äußern, das den Arbeitsbereich oder seinen politischen Standpunkt berührt, so bedient er sich der U m g a n g s s p r a c h e , da er auf Wörter, Begriffe und Vorstellungen stößt, für die er in seiner Mundart keine Entsprechung fände. Man könnte hier von einer ,Gleichgewichtslage' sprechen. Der Begriff der Gleichgewichtslage ist für das Verhältnis zweier Nationalsprachen entwickelt worden 2 2 , trifft aber ebenso für das Verhältnis von Mundart und Umgangssprache zu. Dieses Gleichgewicht ist prekär und selten statisch. Vielmehr gleitet es von einer sozialen Stufe zur nächsten. Vor achtzig Jahren galt es für Lehrer, Pfarrer, Beamte, Mitglieder von Berufsgruppen mit einigem Sozialprestige. Inzwischen haben sich die Verhältnisse geändert. Der Mundartsprecher, der sich nicht mehr auf Grund seiner Herkunft und seiner Besitzverhältnisse in seinem Wert als Person bestimmt sieht, sondern nach dem sozialen Status seines städtischen Kollegen strebt, tendiert zur Anpassung um jeden Preis. D a die alte Sprachform gar keinen Wert mehr für ihn darstellt, besteht die Möglichkeit, daß dieses Gleiten der Gleichgewichtslage zu einem endgültigen Halt kommt, wie das bei vielen ehemaligen ,language groups', allerdings unter anderen Bedingungen, der Fall ist 2 *. Zunächst jedoch wird von den Sprechern der ,language groups' nur erwartet, daß sie sich verständigen können; akzeptiert die Umgebung ihre Sprache, obwohl sie oft sehr fehlerhaft ist, so entfällt vorerst jeder weitere Druck zu höherer Anpassung — eine Besonderheit eines großen Teils der amerikanischen Nation, die ihre Großzügigkeit gegenüber abweichendem Sprachverhalten aus der ständigen Berührung mit neuen Einwanderern bezieht. Bei den entsprechenden Gruppen von Mundartsprechern begegnen im tatsächlichen sprachlichen Verhalten ähnliche Verhältnisse, obwohl die erwähnte Großzügigkeit nicht vorhanden ist. Wird der anpassungsbewußte Mundartsprecher nicht mehr ,von der Seite angesehen', wenn er sich der städtischen Umgangssprache bedient, dann glaubt er, die ,feinere' Sprache zu beherrschen, und das Bemühen um Anpassung läßt nach. Aus diesem Nachlassen der Anpassung erklärt sich in beiden Fällen die nur graduell vollzogene Anpassung: häufig ,übersetzt' der Angehörige der 21

Über die nach Alter, sozialer Stellung usw. abgestuften Grade von Anpassung vgl. E. Hofmann, Der Einfluß der Stadtsprache auf mundartsprechende Arbeiter, Jahrbuch des Marburger Universitätsbundes Bd. II, Marburg 1963, S. 201—281.

22

A. von Weiß, Hauptprobleme der Zweisprachigkeit, a. a. O. S. 21.

23

Die Bewegung auf die Gleichgewichtslage zu und über sie hinaus hat ihre Parallelen im außersprachlichen Bereich, etwa in der Namengebung. In einer Liste von Konfirmanden der First Protestant Church von New Braunfels/Texas von 1848 bis 1955 bleiben die Vornamen bis etwa 1890 ganz deutsch: Heinrich, Emil, Wilhelm, Hulda, Emma, Käthe; dann begegnen in zunehmendem Maße Namen, die beiden Sprachen geläufig sind: Lydia, Irene, Norma, Paul, Oscar, Walter. Schließlich, in besonders auffälliger Weise nach dem ersten Weltkrieg, gibt es fast nur noch englische Vornamen: Marvin, Oliver, Ethel, Zelda. Vgl. Oscar Haas, The First Protestant Church: Its History and Its People, 1845—1955, New Braunfels 1955. p. 118—155.

Soziologie

und

Mundartforschung

9

,language group' seine Sprache wörtlich in die andere, d. h. er bedient sich des alten syntaktischen Systems und der geläufigen Idiomatik. Er denkt noch nicht in der anderen Sprache. Auch der Mundartsprecher behält seine Syntax in der Umgangssprache bei und spricht weniger geläufige Wörter nach dem Lautsystem seiner alten Mundart aus. Wie in der Sozialforschung soll in der Dialektologie der Nachweis einer Theorie am l e b e n d i g e n Material erbracht werden. Georg Wenker begründete den Deutschen Sprachatlas, um die Theorie von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze an der lebenden Sprache zu prüfen. Endgültige Ergebnisse kann weder die Soziologie noch die Mundartforschung erbringen. Die Ergebnisse sind im günstigsten Falle einleuchtend, gültig f ü r eine gewisse Zeit. Ebenso wie die Verifizierung einer Theorie das Ergebnis der Forschungsarbeit sein kann, besteht die Möglichkeit, daß eine nachzuprüfende Annahme sich als nicht stichhaltig erweist: auch ein negatives Ergebnis ist ein Ergebnis. In der Sozialforschung wie in der Mundartforschung gibt es nur Erkenntnisse, die immer wieder revidiert werden müssen; denn beide Wissenschaften arbeiten mit lebendigem Material, die eine vorzüglich mit dem Menschen und seinem Verhalten, seiner Meinung usw., die andere mit dem Menschen und seiner Sprache.

PETER

VON

POLENZ

Wortbildung als Wortsoziologie Ein Ansatz zur strukturellen Wortbildungslehre soll hier am Beispiel der Ableitungsgruppen deutscher A d j e k t i v e versucht werden. Die methodologische Neuorientierung der Sprachwissenschaft hat im letzten Jahrhundert — nach der Laut- und Formenlehre — auch die Wortbildungslehre auf neue Wege geführt. Der herkömmlichen diachronisch-semasiologischen Wortbildungslehre, wie sie im Bereich des Deutschen das Handbuch von Walter Henzen zu einem runden Abschluß geführt hat, hat Leo Weisgerber eine synchronisch-,inhaltbezogene' Wortbildungslehre entgegengestellt, die er schon zu einer ,leistungs-' und ,wirkungsbezogenen' weiterzuführen im BegriiT ist1. Die Stufe der inhaltbezogenen Wortbildungslehre, die man nach der Terminologie der Romanistik auch die onomasiologische nennen kann, verdient aber vorläufig noch alle Aufmerksamkeit, da ihre Methoden und Ergebnisse noch nicht ausgereift erscheinen. Die Erkenntnis der .Wortnischen' (von den formalen Ableitungsmitteln her gewonnene Inhaltsgruppen) und der ,Wortstände' (von den Inhaltsgruppen her gefundene übergreifende Wortbildungsklassen) 1 » bedeutet einen großen Schritt vorwärts zur Erschließung der Wortschatzstrukturen. Die für die moderne Linguistik sehr wichtigen de Saussureschen Unterscheidungen zwischen Diachronie und Synchronie und zwischen ,langue' und ,parole' sind dabei aber noch nicht konsequent genug beachtet worden. Henzens Kritik an Weisgerbers ,Wortnischen' und ,Wortständen' trifft das Richtige mit dem Einwand, nicht alle Ableitungen ließen sich in diese Inhaltsgruppen einordnen 2 . Und Weisgerber selbst gibt Anlaß zu diesem Mißverständnis, wenn er versucht, allzuviel in seine Inhaltsgruppen einzuordnen. So bemüht er sich z. B., bei den -¿¿r-Ableitungen neben dem, was er ,Zugänglichkeitsadjektive' nennt z. B. eßbar = ,gegessen werden könnend' = ,dem Gegessenwerden zugänglich'), auch Fälle wie fruchtbar, dankbar, ehrbar, dienstbar, streitbar, klagbar, haftbar, schandbar, kostbar, wandelbar, schiffbar einer Wortnische zuzuordnen, für die er mit einigem Zögern eine „Gemeinsamkeit der Bedeutung" erkennen will, nämlich „die des Umfassens (Hervorbringens, Anstoßens) des im Stammsubstan1

Leo Weisgerber, Vierstufige Wortbildungslehre, in: Muttersprache 14, 1964, S. 2—12.

la

Zuerst bei K. Baldinger, Kollektivsuffixe und Kollektivbegriff, Berlin 1950, bes. S. 268 ff. (.Nischenbildung' und .semantische Überdachung').

s

Walter Henzen, Inhaltbezogene Wortbildung, Betrachtungen über ,Wortnischen' und .Wortstände', in: Archiv f. d. Studium d. neueren Sprachen 109, 1958, S. 1—23.

Wortbildung

als

Wortsoziologie

11

tiv Vorgestellten (,Frucht, Dank, Streit, Klage usw. bringend')" 3 . Hier sind aber die Grenzen des Wortnischenprinzips überschritten. Es kann in der synchronischen Wortbildungslehre gar nicht darum gehen, alle Wörter gleicher formaler Bildungsweise in Wortnischen und Wortstände einzuordnen. In die Wortbildungsstruktur des heutigen Deutsch gehört nur das, was vom normalen Sprachteilhaber als Wortbildungsbeziehung empfunden wird und damit das Vorbild für weitere gleichartige Bildungen abgeben kann. Das Suffix -bar hat keinesfalls mehr die Bedeutung ,bringend', die es einst im Mittelhochdeutschen noch hatte. Diese diachronische Tatsache darf nicht für eine erzwungene synchronische Einordnung solcher sehr alten, längst lexikalisierten -bar-Adjektive herangezogen werden. Fruchtbar und dankbar werden zwar noch von jedem Sprachteilhaber auf Frucht und Dank bzw. danken bezogen, aber keiner von ihnen kann nach Vorbild dieser Wörter eine neue -¿w-Ableitung bilden. Dies sind nur teilmotivierte Lexeme4 des heutigen Deutsch. Allenfalls kann man bei fruchtbar das semantische Element .bringend, tragend' in dieses -bar hineindeuten, aber nicht bei dankbar und ehrbar und schon gar nicht bei klagbar. Das Suffix -bar sollte man hier nicht mehr als Monem 5 , als kleinste, in gleicher semantischer Funktion wiederkehrende Sinneinheit der heutigen deutschen Sprache auffassen. Diese -bar-Adjektive sind schon feste Lexeme, haben komplexe Bedeutungen. Das ist eine fortgeschrittene Stufe der L e x i k a l i s i e r u n g von Monemverbindungen. Noch weitergehend lexikalisiert ist kostbar, dessen Bedeutung man heute zu dem Verbum kosten weder in der einen noch in der anderen Bedeutung dieses Verbs stellen kann. Solche Wörter spielen in der heutigen Wortbildungsstruktur keine Rolle mehr, sie sind feste, unauflösbare Einheiten des Lexikons der heutigen deutschen Sprache, ebenso wie scheinbar, offenbar, sonderbar, ruchbar, die auch Weisgerber (a.a.O.) als »ohne durchschaubare Art der Beziehung" oder als „isoliert" einstuft. In der synchronischen Wortbildungslehre des heutigen Deutsch muß ein großer Teil von dem, was die diachronische Methode ableitend und wortgeschichtlich darzustellen hat, ausgeschieden werden. Das ist durchaus nicht eine Verlegenheitslösung, die etwa den Wert der synchronisch-strukturellen Methode in Frage stellt, sondern eine notwendige Bedingung der S t r u k t u r a n a l y s e . Hier zeigt sich die bisherige unklare Stellung der Wortbildungslehre zwischen Lexikologie und Syntax. Der l e x i k o l o g i s c h e Teil der synchronisdien Wortbildungslehre fragt nur nach der Art der relativen Motiviertheit eines großen 3

Weisgerber, a. a. O., S. 5.

4

Zum Begriff der relativen .Motiviertheit' von sprachlichen Zeichen vgl. F. de Saussure, Grundfragen d. allg. Sprachwiss., Berlin 1931, S. 156 ff.; zum Begriff ,Lexem' vgl. A. J. Greimas, Sémantique structurale, Paris 1966, S. 38; B. Pottier, Vers une sémantique moderne, in: Travaux de Linguistique et de Littérature, Strasbourg, II, 1, 1964, S 119; E. Zierer, Minimum Linguistic Units, in: Zs. f. Phonetik 18, 1965, S. 181 ff.; H . Wissemann. Das Wortgruppenlexem, in: Idg. Forschungen 66, 1961, S. 225 ff.

5

Zu diesem Segmentierungsbegriff vgl. A. Martinet, Grundzüge der allgemeinen Sprachwiss., Stuttgart 1963, S. 23 f.

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Peter von Polenz

Teils des Wortschatzes. Dabei werden die Lexeme als fertige Einheiten des Wortschatzes dargestellt, die den Sprachteilhabern im Sprechakt als bereitliegende Elemente der ,langue' v e r f ü g b a r sind u n d in der ,parole' im Satz verwendet werden. Anders steht es mit denjenigen Einheiten, die z w a r nach der herkömmlichen Wortdefinition ebenfalls z u m Wortschatz gerechnet werden, aber keine Lexeme sind. Das sind Einheiten, die sich in anderer Weise auf die A n w e n d u n g in der ,parole* auswirken, weil ihre monematische S t r u k t u r derart auflösbar ist, d a ß ihre einzelnen Moneme ausgetauscht werden können, ohne d a ß sich die Bedeutung des anderen Monems u n d die Inhaltsstruktur der Monemverbindung ändert, so wie z. B. in eßbar das Monem (Basislexem / eß-/ mit /trink-/, /zerleg-/, /verwend-/ usw. ausgetauscht werden k a n n . H i e r h a t der einzelne Sprachteilhaber eine Freiheit in der W a h l der Moneme, er k a n n nach Vorbild solcher - Z w - A d j e k t i v e weitere derartige Verbindungen aus dem gleichen Ableitungsmonem u n d einer großen Zahl von Basislexemen bilden. Er k a n n sie — ganz gleich, ob diese Verbindungen schon üblich sind oder nicht — selbst im Sprechakt entstehen lassen, weil alle diese (üblichen oder nur möglichen) Monemverbindungen nichts anderes als S y n t a g m e n sind, also Einheiten der Syntax. Genauso wie jeder Sprachteilhaber nach einem bestimmten Satzmuster der ,langue' aus den Lexemen /man/, lkönn-1, /Wort/, /zerleg-/ u n d den M o r p h e m e n ,3. sg. Präs. Ind.', ,Akk. sg.' u n d ,Inf.' in der ,parole' den Satz bilden k a n n : Man kann das Wort zerlegen, so k a n n er nach einem bestimmten Wortbildungsmuster der ,langue' diesen Satz in der ,parole' transformieren in den Satz: das Wort ist zerlegbar. H i e r ist Wortbildungslehre ein Teil der Syntax, u n d damit k a n n sie wortsoziologisch den Teil des üblichen oder möglichen Wortschatzes herausarbeiten, bei dem der einzelne Sprachteilhaber nicht nur seinen festen Besitz an Lexemen reproduzierend anwendet, sondern p r o d u zierend, durch eigene Kombinationsakte, am Sprachleben u n d möglicherweise der Sprachentwicklung teilnimmt. Das ist die — nicht zuletzt durch die Sprachgeographie vorbereitete — s p r a c h s o z i o l o g i s c h e Blickrichtung der modernen Strukturlinguistik, die schon von de Saussures Zeichentheorie her die Beziehungen der einzelnen Einheiten im Sprachsystem untereinander u n d die Kombination dieser Einheiten miteinander als eine F u n k t i o n der Sprechergemeinschaft sehen lehrt. Wenn sich heute Sprachkritiker darüber beklagen, der deutsche Wortschatz w ü r d e durch so viele neue W ö r t e r auf -bar oder auf -mäßig oder mit be- überschwemmt, so sind sie in der traditionellen Auffassung der Worteinheit b e f a n gen, die alles als lexikalische Einheit nahm, was zusammengeschrieben wird. Das , W o r t * in diesem Sinne ist aber n u r eine morphosyntaktische Einheit. Die kleinste unteilbare Einheit des Wortschatzes ist vielmehr das L e x e m , u n d die meisten der unzähligen neuen Ableitungen (und Zusammensetzungen) sind noch längst nicht Lexeme der deutschen Sprache (wie kostbar, offenbar), sondern Syntagmen, u n d z w a r Syntagmen des sparenden, kürzenden Ausdrucks der Sprachökonomie. Ableitungen u n d Zusammensetzungen, die gewissen lebendigen Wortbildungsmustern entsprechen, sind das, was die Kürzel in der Steno-

Wortbildung

als

Wortsoziologie

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graphie sind. Das häufige Vorkommen bestimmter Ableitungs- oder Zusammensetzungstypen ist nur ein Zeichen f ü r die häufige Anwendung bestimmter sprachökonomischer Verfahrensweisen in der Bildung von Syntagmen. Auf syntaktische Funktionen der Wortbildung hat die deutsche Forschung schon seit längerer Zeit im Bereich der sog. Abstrakta mit dem Begriff ,Satzwort' hingewiesen'. Viel weitergehend und differenzierter ist man diesen Fragen in den letzten Jahren in einigen Ansätzen zur strukturellen Wortbildungslehre nachgegangen 7 . Die wichtigste, erste Aufgabe der synchronischen Wortbildungslehre und damit der inneren Wortsoziologie einer lebenden Sprache ist die Erkenntnis der s y n t a k t i s c h e n T r a n s f o r m a t i o n s m u s t e r (engl. patterns), nach denen heute ständig neue ,Wörter' entstehen können. U n d hier ist in der Forschungsentwicklung der Punkt erreicht, wo es geboten erscheint, die ,inhaltbezogene' Wortbildungslehre Weisgerbers mit jenen strukturlinguistischen Ansätzen in Beziehung zu setzen. Es zeigt sich nämlich, daß Weisgerbers Unterscheidung von ,Wortständen' und ,Standnischen' 8 sich systematisch erschließen und darstellen läßt als ein Verhältnis von syntaktischen Transformationsmustern zu gewissen semantischen Modifizierungen und Untergruppen, die von der semantischen Struktur der Basislexeme abhängig sind. Die Gefahr, syntaktische und zusätzliche semantische Leistung von Ableitungen zu vermischen, läßt sich vermeiden, indem man jedesmal zuerst von bestimmten Satzbauplänen als Ausgangsformen der Transformation ausgeht und erst danach, wenn nötig, die diesem Muster zugehörigen Ableitungen nach semantischen Modifizierungen und Untergruppen näher bestimmt. Anhand der wichtigsten Ableitungsgruppen der deutschen Adjektive soll im Folgenden eine eigene Synthese aus inhaltbezogener und strukturlinguistischer Wortbildungslehre versucht werden. Für eine abgekürzte Bezeichnungsweise der Einheiten und ihrer Transformationsbedingungen müssen einige S y m b o l e eingeführt werden. Die mit ihrer Hilfe aufstellbaren Transformationsmuster bedeuten durchaus noch keine ,Mathematisierung' der Sprachwissenschaft — wie es auf den ersten Blick erscheinen mag — sondern sollen nur die abgekürzte Bezeichnung und konsequente Einordnung des jeweiligen Typus in das System erleichtern. Jedes Transformationsmuster verbindet zwei Formeln mit einem Pfeil (-*). Dieser Pfeil be6

W. Porzig, D i e Leistung der Abstrakta in der Sprache, in: Blätter für dt. Philosophie 4, 1930/31, S. 66 ff.; H . B r i n k m a n n , die Wortarten im Deutschen, in: Das Ringen um eine neue dt. Grammatik, Darmstadt 1962, S. 101 ff.; G. Stötzel, Zum Nominalsti! Meister Eckarts, die syntaktischen Funktionen grammatischer Verbalabstrakta, in: Wirk. Wort 16, 1966, S. 289 ff.

7

H . Marchand, Synchronic Analysis and Word-formation, in: Cahiers F. de Saussure 13, 1955, S. 7 ff.; W. Mötsch, Zur Stellung der Wortbildung in einem formalen Sprachmodell, in: Studia Grammatica I, Berlin 1965, S. 31 ff.; vgl. auch P. C. Spydier, die Struktur der Adjektive auf -ig und -lieh in der dt. Schriftsprache d. Gegenwart, in: Orbis 4, 1955, S. 74 ff.; 5, 1956, S. 435 ff.; 6, 1957, S. 410 ff.; N . Morciniec, Wort, Wortzusammensetzung und Wortgruppe, in: Germania Wratislaviensia IV, 1960, S. 115 ff.

8

Weisgerber, a. a. O., S. 6.

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Peter von

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deutet keineswegs in diachronischem Sinne, daß etwa das Zweite aus dem Ersten entstanden sei, sondern ist rein synchronisch in der Weise zu verstehen, daß in der Syntagmenwahl des Sprechaktes das Zweite für das Erste wählbar ist. Die Transformationsmuster sagen nichts aus über die Wortentstehung im diachronischsprachgeschichtlichen Sinne, sondern dienen nur als heuristisches Bezugssystem zur Erkenntnis der heutigen Wortbildungsstruktur. Im gleichen Sinne stellen wir die Wortbildungsverhältnisse nicht diachronisch als eine Ableitung ,von' oder ,aus' dar, sondern synchronisch als eine Beziehung ,zu'. Beides geht nicht immer zusammen: findig und gelegentlich stammen von Fund (über fündig) und von gelegen, gehören aber heute zu finden und Gelegenheit. Für die beiden Teile der Ableitung setzen wir die Symbole x und y. Das Basislexem heißt x, das Ableitungsmonem heißt y. Die Ableitung abhängig besteht aus dem x labhäng-l und dem y /-ig/. Die Zusammenbildung langlebig besteht aus dem x /langleb-/ (einem Basislexem, das einer Fügung von Adverb und Verb entspricht) und dem y /-ig/. Zu den Kombinationsbedingungen des Ableitungsmonems /-ig/ können auch Vokalwechsel des Basislexems gehören. So besteht die Ableitung gültig aus dem Basislexem /gelt-/ und dem Ableitungsmonem /-ig/, das in Verbindung mit diesem Basislexem einen Vokalwechsel e/ü fordert. Ferner gibt es Ableitungsmoneme, die in Verbindung mit bestimmten Basislexemen den Wegfall eines Teils des Basislexems fordern, z. B. bei den l-abell-Ableitungen, die aus entlehnten Verbalstämmen auf l-ier-l gebildet werden, wobei das Element l-ier-l wegfällt, so daß die Einheiten l-ier-l und l-abell niemals nebeneinander vorkommen: z . B . respektabel zu respektieren. Das Ableitungsmonem (y) kann auch aus diskontinuierlichen Teilen bestehen, bei vielen abgeleiteten Verben vor allem aus Suffix und Präfix (z.B. benachteiligen: x = /NachteilI, y = lbe-1 + l-igl; besänftigen-, x = Isanfll, y = lbe-1 + l-igl mit Umlaut). Schließlich ist auf die Möglichkeit der Ableitung mit Nullmonem* hinzuweisen, vor allem bei den Verben, z. B. lausen zu Laus, wobei x = ILausl und y = 0 (die Infinitivendung l-enl ist hier ja kein Ableitungsmonem, sondern ein Flexionsmorphem). — Neben den Symbolen für Basislexem und Ableitungsmonem sind für die syntaktischen Transformationsmuster Symbole für lexikalisch variable Mitspieler10 notwendig: A und B. Diese werden nach ihren morphologischen Kennzeichen mit Indices versehen: A n = nominativisches A, B a = akkusativisches B, usw. Nun sind für die Aufstellung der Transformationsformeln neben diesen metasprachlichen Symbolen noch Flexionsmorpheme nötig, die mit objektsprachlichen Einheiten angegeben werden können, z. B. die Endung der 3. sg. Präs. Ind. mit Itl, die neutrale Adjektivendung im Nominativ und Akkusativ sg. mit lesl. Bei bestimmten Satzbauplänen müssen als objektsprachliche Einheiten Verblexeme wie listl oder /hat/ eingeführt werden, die 9

10

Vgl. H . Marchand, Die Ableitung desubstantivischer Verben mit Nullmorphem im Französischen und die entsprechenden Verhältnisse im Deutschen und Englischen, in: Zs.f.frz.Spr.u.Lit. 73, 1963, S. 164 ff. Zu diesem Begriff (frz. actant) vgl. L. Tesnière, Éléments de syntaxe Paris 1959, S. 105 ff.

structurale,

Wortbildung

als

Wortsoziologie

meist als Archilexeme zu verstehen sind (z.B. für /bat/ auch: /besitzt/, fügt über! usw.

15 /ver-

Eines der einfachsten Transformationsmuster f ü r abgeleitete Adjektive sieht nun — wenn wir die 3. Person sg. Präs. Ind. als Normalform des Transformanden und den neutralen Nominativ des artikellosen attributiven Adjektivs als Normalform des Transformats ansetzen — folgendermaßen aus: A n x-/i/ xy-/es/ A z. B.: A gilt ->- gültiges A Das sind Adjektive aus Verbalkernen; das Basislexem x ist im Verbalkern des Transformanden enthalten. Es handelt sich hier um die adjektivische Attribuierung eines Verbinhalts zum Subjekt des Transformanden. Hierhin gehören zunächst einmal alle Präsenspartizipien, die ja attributiv verwendbare Verbaladjektive sind: z. B. geltend, gehörend, abhängend, gebührend, schadend, usw. Hier ist das y der Ableitung das Suffix l-endl. Daneben gibt es aber von vielen verbalen Basislexemen Ableitungen mit anderen Ableitungsmonemen: gültig, gehörig (zu: sich gehören), abhängig, zielstrebig, langlebig, unablässig, eisenhaltig (zu: Eisen enthalten)-, gebührlich (zu: sich gebühren), schädlich, tauglich, erbaulich, förderlich, tröstlich, unaufhörlich. Und ein in B wohnender A (y = l-end/) ist im Amtsstil ein in B wohnhafter A (y = Ihaftl). — Bei einigen von diesen Transformationen verringert sich auch die Zahl der Mitspieler, da im adjektivischen Transformat der B wegfällt: z.B.: A fördert den B —•* förderliches A, A hängt von B ab abhängiger A, ebenso: schädlich, erbaulich, tröstlich. Zur syntaktischen Leistung dieser Ableitungsklasse kommt also in diesen Fällen die Wertigkeitsverminderung hinzu. Nach diesem einfachen syntaktischen Transformationsmuster gibt es nun Ableitungen mit semantischen M o d i f i z i e r u n g e n : Ein begehrlicher oder weinerlicher Mensch ist nicht nur ein ,begehrender' oder ,weinender*. Hier kommt die Modifizierung ,oft, immer, gewohnheitsmäßig' hinzu. So gibt es zu dem oben genannten syntaktischen Muster eine ,Standnische* (nach Weisgerbers Terminologie) mit Beispielen wie: bissig, zappelig, leichtlebig, eidbrüchig; vergeßlich, begehrlich; weinerlich (y = l-erlichl); zänkisch, mürrisch-, übelnehmerisch (y = l-erischl); enthaltsam (zu: sich enthalten), strebsam, duldsam-, schwatzhaft, naschhaft, zaghaft, schreckhaft; tolerant (zu: tolerieren). — Eine weitere semantische Modifizierung wäre mit ,gern, freiwillig' zu kennzeichnen (Neigungsadjektive); z. B.: unterwürfig (zu: sich unterwerfen), ehrerbietig (zu: Ehre erbieten)-, streitbar; folgsam, fügsam (zu: sich fügen), arbeitsam; schreibselig, redselig (wenn man -selig hier schon als Suffix auffassen darf). — Dann gibt es die Modifizierung der positiven Graduierung im allgemeineren Sinne, bei der etwa (je nach den semantischen Kontextbedingungen des Basislexems) die Bedeutungen ,sehr, gut, viel, leicht, lange' einzusetzen wären; z. B. ergiebig, haltbar, empfindsam, heilsam, kleidsam, nahrhaft, schmackhaft. — Von den Beispielen für diese Modifizierungen haben den Wegfall des Mitspielers B: begehr-

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Peter von Polenz

lieh, vergeßlich, übelnehmerisch, duldsam, tolerant, ergiebig, empfindsam, heilsam, kleidsam (alle mit akkusativischem B); mit genetivischem B: enthaltsam, mit dativischem B: unterwürfig, ehrerbietig, folgsam, fügsam. Das gleiche Transformationsmuster t r i t t nun auch mit einem Verbalkern aus M o d a l v e r b u n d Vollverb auf, wobei der I n h a l t des Modalverbs in der A b leitung aufgehoben ist: A n Ikannl x-/en/ z. B.: A kann nicht sinken

xy-/es/ A unsinkbares

A

Die Beispiele dieses Musters sind wenige; es ist wahrscheinlich nicht mehr p r o d u k t i v : unsinkbar, unfehlbar (zu veraltetem fehlen ,sich irren'), wandelbar (zu: sich wandeln), etwas häufiger mit der Modifizierung der positiven G r a d u ierung (,sehr, gut, leicht'): zerbrechlich, verweslich, verderblich, veränderlich (zu: sich verändern), bekömmlich. Das gleiche Transformationsmuster gibt es (ohne weitere semantische Modifizierung) mit den Modalverben sollen b z w . müssen: A n /soll [muß]/ x-len/^ xy— /es/ A z. B.: A muß sterben -»- sterbliches A Auch dieses Muster ist n u r schwach besetzt u n d vielleicht nicht mehr p r o d u k t i v : sterblich, vergänglich, verantwortlich (B fällt weg), haftbar (B fällt weg, z u : haften für B). Es ist zu beachten, d a ß verantwortlich eine andere Wortbildungsstruktur hat als unverantwortlich: Ein verantwortlicher Mensch ist einer, der ,etwas v e r a n t w o r t e n m u ß ' , eine unverantwortliche T a t ist eine T a t , die ,man nicht v e r a n t w o r t e n k a n n ' . Solche Strukturunterschiede lassen sich nicht mit der herkömmlichen Suffixwortbildung, sondern nur mit H i l f e der T r a n s f o r m a t i o n s muster erkennen. Die modale A b a r t unseres Verbalkern-Musters (/kann/ x-/en/, /soll [muß]/ x-/en/) gibt es nun viel häufiger in . p a s s i v i s c h e r ' Sehweise, die uns schon bei unverantwortlich begegnet ist. (Man kann B nicht verantworten B kann nicht verantwortet werden.) Aber ,passivisch' ist ein etwas mißverständlicher Begriff. Vom Satzbauplan her handelt es sich u m einen Verbalkern mit zwei Mitspielern, wobei in der T r a n s f o r m a t i o n v o m zweiten Mitspieler ausgegangen w i r d u n d vom ersten abgesehen werden k a n n . D e r Satz Man kann den B zerlegen ist transformierbar in den Passivsatz B kann zerlegt werden. D e r gleiche T r a n s f o r m a n d k a n n aber auch in ein adjektivisches A t t r i b u t transformiert werden. A n /kann/ B a x-/en/ - * xy—/es/ B z. B.: Man kann B zerlegen —' zerlegbares

B

Das Besondere an diesem Transformationsmuster ist die Attribuierung des A d jektivs zum A k k u s a t i v o b j e k t des T r a n s f o r m a n d e n . D e r Mitspieler A fällt weg, so d a ß das T r a n s f o r m a t als ein R e z e s s i v u m 1 1 betrachtet werden m u ß . 11

Vgl. L. Tesnière, a. a. O. S. 272 ff.

Wortbildung

als

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Rein inhaltlich bleibt der A aber in der Bedeutung der Adjektivableitung aufgehoben, denn es wird selbstverständlich dabei mitgedacht, daß ein B nur für einen menschlichen' A x-/bar/ ist. Das semantische Klassem12 /,Mensch'/ des wegfallenden Mitspielers A (meist durch das Archilexem Imanl vertreten) bleibt in der Ableitung erhalten, obwohl der Mitspieler formalgrammatisch nicht mehr bezeichnet zu werden braucht, sondern nur ausnahmsweise zur Verdeutlichung, aber in redundanter Funktion, hinzugefügt werden kann: Diese Pilze sind eßbar [für den Menschen]. Die Semantik der Ableitung sollte man aber bei diesem rezessiven Transformationsmuster nicht unnötig von der Semantik des Transformanden fernrücken. Weisgerber nennt diesen Adjektiv-Wortstand , Z u g ä n g l i c h k e i t s a d j e k t i v e ' : „Sie besagen, daß das Substantiv, zu dem sie gesetzt werden, für das in ihrem Ausgangsverb gefaßte Tun zugänglich ist: eßbare Kastanien = ,Kastanien, die für das Gegessenwerden zugänglich sind'1®." Solche metaphorischen Definitionen und Termini fördern nicht die Klarheit der Strukturerkenntnis, zumal sie metasprachliche Einheiten wie Substantiv mit objektsprachlichen Einheiten wie Izugänglich! und ITunl auf der gleichen Ebene miteinander verbinden. Ein Substantiv kann nicht für ein ITunl /zugänglich/ sein, sondern allenfalls die von ihm bezeichnete Sache (z.B. /Kastanien! oder /GegenstandI, /Person/)-, aber eine /Zugänglichkeit für das Gegessenwerden/ gibt es wohl doch nur im Sprachstil des Philologen. Man sollte lieber bei denjenigen objektsprachlichen Einheiten bleiben, die sich aus den Transformationen ergeben, die jeder Sprachteilnehmer beim Sprechen immer wieder selbst vollzieht. Die Semantik der Possibilität eines Tuns ist bei Man kann diese Kastanien essen dieselbe wie bei dem rezessiven Transformat Diese Kastanien sind eßbar [für den Menschen]. Es handelt sich hier nach wie vor um ein /Tun-Können/ des Menschen, nur eben — genauso wie bei der Passivtransformation — vom Objekt des Tuns her gesehen und mit Weglassung der Täterbezeichnung. Diese Adjektive sind nicht ,Zugänglichkeitsadjektive', sondern einfach Adjektive, die ein Handlungsobjekt nach dem /Getan-werden-Können/ einer auf es gerichteten Handlung des Menschen charakterisieren. Die syntaktische und semantische Leistung dieser -¿ar-Ableitungen hat schon R. Hotzenköcherle (der mit seinen treffenden Beobachtungen zu den Entwicklungstendenzen des Neuhochdeutschen die Diskussion um die nhd. -¿ar-Adjektive ausgelöst hat) klar erkannt: „Der geschilderte wortbildungsgeschichtliche Aufstieg von -bar hat eine gewichtige syntaktische Komponente. In solchen passivisch-potentiellen Adjektiven auf -bar lassen sich bequem ganze Sätze zusammenraffen und damit prädikativ wie attributiv verfügbar machen14." Da es für den Menschen, besonders im verwissenschaftlichten, technisierten und organisierten Leben der modernen Massengesellschaft (aber auch schon vorher 12 13 14

2

Vgl. A. J. Greimas, B. Portier, a . a . O . ; E. Coseriu in: Poetica 1, 1967, S. 295. Weisgerber, a. a. O. S. 4. R. Hotzenköcherle, Entwicklungsgesdiiditlidie Grundzüge des Neuhochdeutschen, in: Wirk. Wort 12, 1962, S. 326 f. M i t z k a , Wortgeographie

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in Wissenschaft, Technik, Handwerk und Verwaltung) sehr wichtig ist, auszudrücken, ob er dies oder jenes mit einem Objekt (sei es ein Gegenstand oder eine Person) tun kann oder nicht tun kann, ist dieses Transformationsmuster heute das produktivste bei den Adjektiven, und zwar mit Ursachen: „Geschlossenheit der Bedeutung, silbische Selbständigkeit . . . , leichte Analysierbarkeit und Offenheit der Bildungsmöglichkeiten machen diesen nhd. Adjektivtypus zum Musterbeispiel einer vitalen, funktionstüchtigen Wortbildungskategorie" (R. Hotzenköcherle, a. a. O.). Das ist nicht so sehr ein „muttersprachlicher Zugriff oder Ausgriff" der deutschen Sprache mit einer „Beziehung zu geistigen Tendenzen der Gegenwart, wie sie mit den Stichwörtern ,Sprache der verwalteten Welt' und ,Wörterbuch des Unmenschen' angedeutet sind" (L. Weisgerber, a . a . O . S. 11), sondern eine jahrhundertealte sprachliche Auswirkung der abendländischen Lateinkultur im Zusammenhang mit der Rationalisierung des Denkens und Sprechens, denn gerade diesen deverbalen, passivisch-modalen Typus gibt es — was der vergleichende Sprachwissenschaftler Weisgerber nicht erwähnt — nach lateinischem Vorbild (-abilis, -ibilis)15 seit dem Mittelalter 16 in vielen europäischen Kultursprachen; z. B. ,eßbar': ndl. eetbaar, engl, eatable, edible, frz. mangeable, ital. mangiabile, span. comestible, vgl. vlat. comestibilis. Es gibt auch gleichartige, aber nicht oder kaum vom Latein beeinflußte Wortbildungen in weiteren Sprachen (z. B. dän. spiselig, schwed. ätlig, russ. swedosnyi, altgriech. ¿ScöSifxos, ßpcorög, ßpciatixog). Diese übereinzelsprachlichen Beziehungen zu erforschen, wäre eine lohnende Aufgabe der vergleichenden Sprachforschung. Ihre Lösung hat in dieser Frage und in dieser forschungsgeschichtlichen Situation den Vorrang vor jeder voreiligen Behauptung ,muttersprachlicher Zugriffe' und ,Weltbild'-Elemente, weil solche Behauptungen zu gefährlichen sprachkritischen und kulturpolitischen Folgerungen führen können, die Weisgerber selbst noch nicht zu ziehen wagt, aber mit seinen Hinweisen anderen zu ziehen nahelegt. Es ist heute in Deutschland leider noch immer nötig, auf die hintergründigen Gefahren oberflächlicher, populärwissenschaftlicher Sprachwertung hinzuweisen 17 . Die Produktivität dieses Musters ist bei den -^»--Ableitungen derart unbeschränkt, daß — auch wenn längst nicht alle Möglichkeiten üblich oder not15

Vgl. R. Flury, Struktur- und Bedeutungsgeschichte des Adjektivsuffixes -bar, Winterthur 1964, S. 54.

18

E. ö h m a n n weist in seiner Besprechung des Buches von R. Flury (Anz.f.dt.Altertum 77, 1966, S. 162 f.) auf die „strukturellen Vorbilder' der lat. Wörter auf -bilis seit ahd. fluabbäri, lastarbäri (nach lat. detestabilis, damnabilis), „deren Wirkung dann im Spätmittelhochdeutschen mit Händen zu greifen ist", und macht auf das spätere ständig wirkende Vorbild von frz. und engl, -able, -ible, ital. -abile, - ibile aufmerksam.

17

Vgl. P.V.Polenz, Sprachpurismus und Nationalsozialismus, in: Germanistik — eine deutsche Wissenschaft (edition suhrkamp), Frankfurt 1967; ders., Fremdwort und Lehnwort sprachwissenschaftlich betrachtet, in: Muttersprache 77, 1967; ders., Sprachkritik und sprachwissenschaftliche Methodik, in: Sprache der Gegenwart, hrg. vom Institut für deutsche Sprache, Bd. 2, Düsseldorf 1968.

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wendig sind — zu jedem passivfähigen Verb eine solche Ableitung grundsätzlich möglich ist. Dies ist allerdings in einigen Fällen behindert dadurch, daß es schon ältere Ableitungen der gleichen formalen, aber andersartiger inhaltlicher Struktur gibt, wie im Falle von kostbar, das völlig lexikalisiert ist im Sinne von ,wertvoll', ,auserlesen', .selten' und deshalb eine Transformation aus A kann B kosten (im Sinne von ,schmecken, probieren') unmöglich macht. In einigen Fällen ist dieses Muster schon von älteren -//cÄ-Ableitungen besetzt wie erhältlich, unverantwortlich, unumstößlich. Außerdem sind hierher zu stellen die -abelAbleitungen von Lehnverben auf -ieren (z. B. variabel, akzeptabel) und moderne Bildungen wie bügelfähig, die auf dem Wege sind, dieses Transformationsmuster weiter auszubauen. Zum gleichen syntaktischen Muster gehören semantische M o d i f i z i e r u n g e n mit der positiven Graduierung ,sehr, leicht, gut' : unzählig (vgl. unzählbar), faßlich (vgl. faßbar), erklärlich (vgl. erklärbar), erträglich (vgl. tragbar), unglaublich, vernehmlich (vgl. vernehmbar), verkäuflich, verständlich (vgl. verstehbar), unvergeßlich, untröstlich, leserlich (y = /-erlich/), reizbar, verwundbar, biegsam (vgl. biegbar), unbeugsam, unaufhaltsam, glaubhaft. Weisgerber erklärt diese ,Standnische' mit Hilfe von ähnlichen semantischen Modifizierungen: „besonders zugänglich", „entgegenkommend", „Art und Grad der Zugänglichkeit" 1 8 , „wirklich bewältigt werden können" 19 . Aber statt unklarer metaphorischer Umschreibungen wie „entgegenkommend" und „bewältigt werden" und statt der ebenso dynamischen Gegenüberstellung von „einer Handlung zugänglich" (erklärbar) und „durch eine Handlung bewältigbar" 20 (erklärlich) sollte man lieber etwas umfassender und sachlicher von Adjektiven dieses syntaktischen Musters sprechen, die jene semantische Modifizierung der positiven Graduierung nicht haben ( e r k l ä r b a r , erhältlich) und solchen, die sie haben {erklärlich, verwundbar). Es handelt sich hier nicht um ein ,Bewältigen' oder um ein Entgegenkommen' des Objekts, sondern einfach um einen höheren Grad der Möglichkeit des menschlichen Tuns. — Bei der Aufstellung von solchen Oppositionen ist außerdem auf die Lexikalisierungen zu achten. Bei löslich: lösbar kommt in der Graduierungsopposition noch (sie aufhebend) ein klassematischer Unterschied hinzu: löslich bezieht sich auf die Veränderung eines Aggregatzustandes (lösliche Farbe, Pulver, Masse usw.), lösbar auf eine mechanische Zustandsveränderung (lösbarer Belag, Verschluß, Knoten usw.). Das gleiche syntaktische Muster gibt es — weniger häufig — auch mit den Modalverben sollen oder müssen: A n /soll [muß]/ B a x-/en/ — xy-/es/ B z. B . : Man muß das B verwerfen -*• verwerfliches

B

Der Mitspieler A ist auch hier — wie schon bei dem vorigen Muster — so allgemein, daß man meist nur das Archilexem man einsetzen kann, ein Zeichen 18

Weisgerber, a. a. O. S. 6, 9.

19

Weisgerber, Grundzüge der inhaltbezogenen Grammatik, 3. Aufl., 1962, S. 221.

20

ebda. S. 222.

2*

Peter von Polenz

20

d a f ü r , d a ß dieser T r a n s f o r m a n d nach dem Rezessivum (der Weglassung dieses Mitspielers) geradezu verlangt, so wie es auch in einer anderen T r a n s f o r mationsmöglichkeit üblich ist: B ist zu verwerfen. D a z u gehören Adjektive wie verwerflich, bedauerlich, rühmlich; zahlbar, achtbar; ratsam; respektabel (zu respektieren). N u r noch als lexikalisierte Fälle sind zu diesem Muster zu stellen: bedenklich, ehrbar. D e r modale S a t z b a u p l a n mit können ist n u n in einigen Fällen auch mit P r ä p o s i t i o n a l o b j e k t (statt des Akkusativobjekts) T r a n s f o r m a n d derartiger Adjektive, die also z u m Präpositionalobjekt attribuiert w e r d e n : A n /kann/ x-/en! BPr ->- xy-/es/ B z. B. Man kann sich auf B verlassen verläßliches

B

So ist ein schiffbarer Fluß ein ,Fluß, auf dem man schiffen k a n n ' (wenn m a n das veraltete Verbum schiffen noch als Bestandteil des heutigen Wortschatzes anerkennen will). I m modernen amtlichen u n d politischen Stil findet sich ebenso das von Sprachkritikern als sprachwidrig b e k ä m p f t e unverzichtbar. Eine unverzichtbare Bedingung ist eine ,Bedingung, auf die man nicht verzichten k a n n ' , ebenso wie eine diskutable Sache eine ,Sache' ist, ,über die m a n diskutieren k a n n ' , ferner ein schreibfähiges Papier ein Papier ,auf dem man schreiben k a n n ' (hier mit der graduierenden Modifizierung ,gut, leicht'). Das Gleiche gibt es wieder mit dem M o d a l v e r b n

müssen:

r

A /muß! TL-Ien/ BP ->- x y - / « / B z . B . : Man muß über B lachen lächerliches

B

Ebenso ist eine zweifelhafte Sache eine ,Sache, an der m a n zweifeln muß'. Schon lexikalisiert im Sinne von z w e i f e l h a f t ' , aber dem gleichen Muster zugehörig, ist fraglich (ursprünglich z u : fragen nach B). Die „Sprachwidrigkeit" solcher Attribuierungen z u m Präpositionalobjekt besteht darin, d a ß das Deutsche die Passivfähigkeit nur beim Akkusativobjekt kennt. Wenn m a n aber noch weitere solche Adjektivbeispiele entdeckt, w i r d man sich f r a g e n müssen, ob man diesen Wortbildungstypus um der T r a d i t i o n willen v e r d a m m t oder ob man zur Kenntnis nimmt, d a ß — wie im Englischen — sich auch im Deutschen die Tendenz des analytischen Sprachbaus allmählich geltend macht, die p r ä p o sitionalen Satzglieder den Kasus-Satzgliedern in der syntaktischen Transf o r m a t i o n gleichzustellen, zunächst noch nicht beim grammatikalisierten Rezessivum des Passivs, wohl aber schon beim Rezessivum der Ableitungstransformation des Adjektivs. Das ist eine sprachökonomische Verfahrensweise, die weder der deutschen Sprache noch ihren Sprechern schadet. Die Rolle der präpositionalen Satzglieder in der Verwertung der Valenzlehre f ü r die Satzbaupläne w i r d im Deutschen ohnehin noch stärker berücksichtigt werden müssen, als es Tesni^re getan hat 2 1 . 21

Vgl. H . J. Heringer, Wertigkeit und nullwertige Verben, demnächst in: Zs. f. dt. Sprache. Ders., Präpositionale Ergänzungsbestimmungen, demnächst in: Zs. f. dt. Phil.

Wortbildung

als

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Wortsoziologie

Dies wären die Adjektivableitungen mit Basislexemen, die den Verbalkern des transformierbaren Satzplanes bilden. Wir gehen weiter zu verschiedenen Stufen der Erweiterung und Ergänzung des Verbalkernes. Unter den Adjektiven aus n o m i n a t i v i s c h e n Satzgliedern stehen die aus G l e i c h s e t z u n g s g r ö ß e n an erster Stelle: A n /ist/ x n z. B.: A ist ein Adjektiv

xy-/es/ A -*• adjektivisches

A

Hierher gehören auch Fälle wie substantivisch, egoistisch, überschüssig, einheitlich, vorteilhaft, beispielhaft, verbal. Dazu gibt es semantische Untergruppen, in denen — je nach der Semantik der Basislexeme — das Archilexem /ist/ im Transformanden auch durch andere Verben ersetzt werden kann. Bei den sog. S t o f f a d j e k t i v e n kann f ü r /ist/ x n auch stehen: /besteht! xPr, z. B. A ist Wolle (= A besteht aus Wolle) -> wollenes A; ebenso: seiden, golden, silbern, kupfern, bleiern, eisern, hölzern, steinern, tönern; sandig, lehmig, tonig, schwarzerdig. Daneben gibt es die F o r m a d j e k t i v e : A ist ein Rechteck (= A hat die Form eines Rechtecks) -»- rechteckiges A; ebenso: dreieckig (besser nicht als ,drei Ecken habend' zu fassen), würfelig, spitzbogig, quadratisch. Daran schließen sich die m a t e r i e l l e n Z u s t a n d s a d j e k t i v e an, z. B. A ist ein Brei (= A befindet sich im Zustand eines Breis) ->- breiiges A; ebenso pulverig, gasig, sumpfig, moorig. Schließlich sollte man hier die M a ß a d j e k t i v e anschließen, die in einfachster Ausdrucksweise ebenfalls eine Gleichsetzung darstellen, z . B . : A ist eine Stunde (= A ist eine Stunde lang = A dauert eine Stunde) einstündiges A; ebenso: zweimonatig, dreijährig, einpfündig, einmetrig, hundertprozentig, hochgradig, erstklassig. — Bei den meisten dieser Adjektive aus Gleichsetzungsgrößen kommt noch die semantische Modifizierung ,annähernd' hinzu: Ein würfeliger Gegenstand kann auch annähernd die Form eines Würfels haben, lehmiger Boden kann auch annähernd bzw. überwiegend aus Lehm bestehen. Dies führt schon hinüber zu den Basislexemen aus V e r g l e i c h s g r ö ß e n : A n /ist wie/ x n — xy -/es! A z. B.: A ist wie Stroh -*• strohiges

A

Für das Archilexem /ist/ können hier — je nach dem semantischen Klassem des Basislexems und dem Kontext — auch eintreten: /schmeckt/, /riecht/, /fühlt sich an/, /geschieht/, /handelt/ usw. Unter dieser Variationsbreite kann bei diesem Transformationsmuster die große Zahl der Vergleichsadjektive 22 zusammengefaßt werden: strohig, seidig, (vgl. seiden), wässerig, schwefelig, gabelig; kindlich, väterlich, königlich, feierlich, herbstlich; stürmisch; märchenhaft, romanhaft, onkelhaft, pöbelhaft, geisterhaft, nebelhaft, bildhaft; frühlingsmäßig; mosaikartig, fächerartig, turmartig, orkanartig; konzertant; theatralisch. — Mit expressiver Modifizierung gehören hierher -¿scA-Ableitungen wie kindisch, " Viele der hierhergestellten -ig- und -i'jc&-Ableitungen haben diese Vergleichsfunktion nur in bestimmten Kontexten (vgl. väterlicher Freund und väterlicher Besitz, s. unten unter A x s ! ) .

22

Peter von Polenz

weibisch, bäurisch, deren p e j o r a t i v e sprechenden -Z/cÄ-Ableitungen beruht.

Wirkung auf der Opposition zu ent-

Für Adjektive aus d a t i v i s c h e n Satzgliedern gibt es einen Satzbauplan, der in Entsprechungsadjektive transformiert werden kann: A n Ientspricht! x d ->- xy-/es/ A z. B . : A entspricht der Mode -*• modisches

A

Dieses entsprechen kann auch ein sich richten nach sein. Hierher gehören: sittlich, rechtlich, moralisch, sittsam, regelhaft, vorschriftsmäßig, planmäßig, normal, formell. Hier (wie anderswo) ist aber darauf zu achten, ob die Basislexeme in der Ableitung noch die gleiche Bedeutung haben wie in der Ausgangsform der Transformation oder ob sie schon lexikalisiert sind. Ein regelmäßiger Besuch ist im heutigen Sprachzustand kein ,der Regel entsprechender' Besuch mehr, sondern ein ,in bestimmten Abständen wiederkehrender*. Auch sittsam und normal sind schon auf dem Wege der Lexikalisierung. In der Gruppe der Adjektivableitungen aus a k k u s a t i v i s c h e n Satzgliedern gibt es nur bestimmte Funktionen von Akkusativen. Zunächst die akkusativischen Z e i t e r g ä n z u n g e n : A n /geschieht! x a xy/es/ A z. B . : A geschieht dieses Jahr -*• diesjähriges

A

Dieses Beispiel (ebenso sonntäglich) kann auch zu dem später zu behandelnden Muster mit präpositionaler Zeitangabe gestellt werden (in diesem Jahr, am Sonntag). Dazu gibt es die semantische Modifizierung „jedes x wieder" : stündlich, täglich, monatlich, jährlich, wöchentlich, ferner die Modifizierung „dauert" (= /ist/ x a Hang!) : einminütig, zweistündig, dreitägig, vierwöchig, fünfmonatig, sechsjährig, ganztägig, halbstündig. Dabei gibt es Oppositionen zwischen den Suffixen nach beiden Modifizierungen: der halbstündliche Verkehr eines Busses ist nicht ein halbstündiger, und seine halbstündige Fahrt nicht eine halbstündliche, obwohl dies im öffentlichen Sprachgebrauch oft verwechselt wird. Weiterhin gibt es Adjektive aus i n n e r e n H a n d l u n g s o b j e k t e n , die substantivische Vorgangs- oder Zustandsbezeichnungen (nomina actionis) sind: A n /tut! x a xy-/es! A z. B. A führt gern Krieg kriegerisches A Hier haben wir es mit der semantischen Modifizierung ,gern' zu tun (Neigungsadjektive); ebenso bei abergläubisch (x = /Aberglaube/), dienstbar. Das Vollziehen des Vorgangs oder Zustands kann dabei nicht immer mit /tut/ angesetzt werden. /tut/ steht hier nur als hypothetisches Archilexem für vollziehen, führen, haben, erleiden, erleben, an sich erfahren usw. Die Transformation A hat Eifersucht -*• eifersüchtiger A sollte man aus semantischen Gründen nicht zu den Adjektiven aus Besitzobjekten stellen (s. unten!), denn Eifersucht ist nicht etwas, was man besitzt, sondern ein Zustand, den man an sich erfährt bzw. mehr oder weniger vollzieht. In diesem Sinne sind neben eifersüchtig mit der Modifizierung

Wortbildung

als

Wortsoziologie

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„oft, ständig, gewohnheitsmäßig" hierher zu stellen: geduldig, launig, mutig, gläubig (zu: Glaube), neidisch, launisch, ängstlich, furchtsam, launenhaft-, o h n e M o d i f i z i e r u n g : hungrig, glücklich, zuversichtlich. Für die Adjektive aus B e s i t z o b j e k t e n muß dagegen ein Ihatl angesetzt werden, das auch mit /besitzt/, /verfügt über/, /ist versehen mit/ austauschbar ist: A n /hat! x a -» xy-lesl A z. B.: A hat einen Bart —>• bärtiges A Diese Struktur haben auch: anmutig, farbig, rassig, blumig, einäugig, unförmig, gleichaltrig; fehlerhaft, mangelhaft, lückenhaft, stimmhaft. Einst hat hierhin auch das heute lexikalisierte gemütlich gehört. Die Modifizierung „annähernd, vergleichsweise" kann hinzukommen in Fällen wie bauchig (z. B. eine bauchige Flasche). Von den substantivischen Ergänzungsbestimmungen des Verbalkerns kommen wir nun zu den U m s t a n d s a n g a b e n , zunächst den a d v e r b i e l l e n . Das in ein attributives Adjektiv transformierte Adverb kann zum Mitspieler A attribuiert werden oder zur substantivischen Form des Verbalkerns (v). Daraus ergeben sich zwei Transformatmöglichkeiten: »„ , , * A n v-/1 x ä d v

i ->-xy-/es/ A s , , . , . , 1 -> xy-lesl v-lenl r [As] z. B.: A geschieht heute heutiges A A kommt heute -»• heutiges Kommen [des A] Der Normalfall ist natürlich die Oberführung eines adverbiell verwendeten Adjektivs in ein attributives, also sozusagen mit y = 0 . Das ist bei dem allergrößten Teil der Adjektive möglich: schnell, kurz, breit, usw. Bei den echten Adverbien aber tritt unser Transformationsmuster in Funktion: heutig, gestrig, morgig, baldig, damalig, anderweitig, auswärtig, obig, dreimalig, innerlich, äußerlich (x = lauß[en]l, y = lerlichl mit Umlaut), ferner die Varianten innen : inner-, außen ; äußer-, hinten : hinter-, unten : unter-, oben : ober-, wobei das y (-lerl) im zweiseitigen Verhältnis zu -lenl steht. In der Nähe dieses Transformationsmusters stehen die Adjektive aus p r ä positionalen U m st a n d sa n g a b en : f xy-/«/ A A n v-ltl xPr { _ ' , . . . . , ( xy-lesl v-lenl r[As] z. B.: A geschieht bei Nacht -> nächtliches A A kommt bei Nacht —• nächtliches Kommen [des A] Daß nächtlich eine andere Wortbildungsstruktur hat als täglich, daß also ein nächtlicher Diebstahl nicht nur die zeitliche Entsprechung zu einem täglichen ist, hängt mit der unterschiedlichen semantischen Struktur von Tag und Nacht zusammen 23 . Wenn wir nach der üblichen Einteilungsweise die Umstands23

Vgl. H . J. Heringer, Tag und Nacht, Gedanken zu einer strukturellen Lexikologie, demnächst in: Wirk. Wort.

24

Peter non

Polenz

angaben nach ihrer Erfragung ordnen, ergeben sich hier folgende semantische Untergruppen: nächtlich antwortet auf die Frage „wann?"; ebenso: gegenwärtig, werktäglich, sonntäglich, zwischenzeitlich, gelegentlich (diachronisch aus: gelegen, aber synchronisch aus Gelegenheit). — Auf die Frage „wo?" : einseitig, beidseitig, östlich, westlich usw. Auf die Frage „womit?" bzw. „wodurch?" : beidhändig, freudig, mutig, trotzig, sorgfältig, eifrig; mündlich, absichtlich, willentlich, herzlich; telegraphisch, telefonisch; gewaltsam, mühsam, sorgsam; pomphaft, schamhaft; listenmäßig, karteimäßig, verstandesmäßig, gefühlsmäßig; protokollarisch, tabellarisch, dokumentarisch, testamentarisch; instinktiv; intellektuell. — Auf die Frage „in welcher Weise?" : eilig, hastig, ruhig, förmlich; ruckhaft, sprunghaft, fieberhaft. — Auf die Frage „warum?" : versehentlich, triebhaft. Im öffentlichen Sprachgebrauch ist nach diesem Muster heute besonders produktiv die Adjektivableitung aus präpositionalen Umstandsangaben auf die Frage „in welcher Hinsicht?", „mit welchem Bezug?" : weltanschaulich, zeitlich, körperlich, gesundheitlich, charakterlich, rechtschreiblich (x = ¡Rechtschreibung/); schulisch, rassisch (vgl. die andersartige Struktur von rassig, s. o.!), orthographisch, grammatisch, stilistisch; rechnerisch, zeichnerisch, gestalterisch (bei den letzten Beispielen ist y = lerischl, zu: Rechnung, Zeichnung, Gestaltung bzw. rechnen, zeichnen, gestalten); wohnungsmäßig, verkehrsmäßig, arbeitsmäßig, leistungsmäßig, wortbildungsmäßig. Gerade diese Ableitungen auf -mäßig sind von Sprachkritikern getadelt worden. Sie sind ohne Zweifel Kennzeichen des Amtsstils, aber auch des technischen und wissenschaftlichen Sprachgebrauchs. Es kann jedenfalls nicht bestritten werden, daß ein Adjektiv wie verkehrsmäßig einen sprachökonomischen Vorteil hat gegenüber den präpositionalen Fügungen (hinsichtlich des Verkehrs, in bezug auf den Verkehr) oder den parenthetischen Nebensätzen (was den Verkehr betrifft)2*. Eine große Gruppe von Adjektiven steht in so vielfältigen semantischen Beziehungen zum Basislexem („zu x gehörend", „von x stammend", „von x ausgehend", „x geziemend", „x eigen seiend"), daß man sie am besten als Transformationen aus G e n i t i v a t t r i b u t e n zusammenfaßt, zumal der Wechsel zwischen genitivischem und adjektivischem Attribut ja nach beiden Seiten hin häufig vorkommt: A x« -»- xy -lesl A z. B.: A des Staates staatliches A Dabei ist zu beachten, daß viele dieser Adjektive je nach dem Kontext oft audi nach einem anderen Transformationsmuster verwendet werden; ein väterlicher Besitz ist ein „Besitz des Vaters", aber ein väterlicher Freund ist ein „Freund, der wie ein Vater ist, sich verhält" usw. (s. o.!). Auch in vielen anderen Fällen und bei verschiedenartigen Transformationsmustern kommt es vor, daß Ableitungen in verschiedenen Arten von Kontexten nach verschiedenen Ableitungs24

Vgl. W. Seibicke, Wörter auf -mäßig, Sprachkritik und Sprachbetraditung, in: Muttersprache 73, 1963, S. 33 ff., 73 ff.

Wortbildung

als

25

Wortsoziologie

mustern gebildet sind, ähnlich wie ein und dasselbe Wort je nach dem Kontext zu verschiedenen Wortfeldern gehört. Wie staatlich oder väterlich sind — in entsprechenden Kontexten — folgende Adjektive gebildet: königlich, bischöflich, herrschaftlich, polizeilich, richterlich, ärztlich, elterlich; dichterisch, biblisch, gegnerisch, irdisch, himmlisch; fiskalisch, physikalisch, postalisch. Und auch unser Volksname deutsch hat im Frühmittelalter als diut-isk („des Volkes") zu diesem Transformationsmuster (einem der einfachsten und urtümlichsten) gehört, ist aber längst bis zur Unkenntlichkeit lexikalisiert. Das gleiche Muster ist bei P r ä p o s i t i o n a l a t t r i b u t e n A xPr xy-/es/ A z. B. Reise nach Italien —>- italienische Reise

möglich:

So ist auch ein politisches Interesse ein „Interesse für Politik", eine wissenschaftliche Begabung eine „Begabung für die Wissenschaft". Bei den Transformationen aus Attributen liegt allerdings die schwächste Stelle unseres Systems: Da sich nicht alle Arten von Attributen in Adjektive transformieren lassen (z. B. nicht: Veränderung des Wetters oder Brief für den Vater), müßten hier noch allerhand Ausschließungsregeln gefunden oder aber ganz andere Musterformeln für diese Adjektive aufgestellt werden. Vielleicht ist hier die Grenze des syntaktischen Transformationsprinzips bereits überschritten und der rein lexikologische Teil der Wortbildung erreicht, der andere Klassifizierungsmethoden erfordert. Schließlich gibt es Adjektivableitungen, bei denen gar keine syntaktische Transformation stattfindet ( A d j e k t i v e a u s A d j e k t i v e n ) , so daß das y nur noch einer semantischen Modifizierung dient (ähnlich wie bei den Substantiven z. B. das Diminutivsuffix keine syntaktische, sondern nur eine semantische Funktion hat): x-/es/ A -»- xy-/es/ A z. B.: rotes A —• rötliches A Es handelt sich hier um die Modifizierung „annähernd, ungefähr" : rötlich, gelblich, grünlich, bläulich, bräunlich, schwärzlich, weißlich (aber nicht von den Mischfarben orange und lila, was Gründe in der inhaltlichen Geschichte des deutschen Farbwortfeldes hat), ferner: länglich, ältlich, süßlich, säuerlich, kränklich. Durch Lexikalisierung diesem Muster ferngerückt sind zärtlich, gütlich, bitterlich. Die vorangegangenen Aufstellungen beanspruchen durchaus keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Viele dieser Wortbildungsmuster wird man mit zahlreichen, z. T. Hunderten von weiteren Beispielen anfüllen können. Es sind auch noch nicht alle vorkommenden Muster der Adjektivableitung erfaßt, nur die wichtigsten. Hie und da wird sich vielleicht noch eine bessere Möglichkeit der Gruppierung und Einordnung, eine andere Art von Transformationsformeln finden lassen. Es dürfte aber wohl deutlich geworden sein, daß auf diese Weise die Wortbildungsstruktur deutlicher zu fassen ist als von den einzelnen Suffixen

26

Peter von

Polenz

her. Die Suffixe haben k e i n e e i g e n e , b e s t i m m t e B e d e u t u n g . Jedes Suffix ist an mehreren Inhaltsgruppen beteiligt, und in jeder Inhaltsgruppe finden sich mehrere Suffixe. Darauf hat schon Weisgerber hingewiesen, und es hat ihn zu seiner Lehre von den „Wortnischen", „Wortständen" und „Standnischen" geführt. Die strukturelle Analyse führt aber darüber hinaus zu einer Unterscheidung von syntaktischen Transformationsmustern, die etwa den ..Wortständen" entsprechen, und semantischen Modifizierungen oder semantischen Untergruppen, die etwa den „Standnischen" entsprechen. Eine solche synchronisch-strukturelle Wortbildungslehre soll keineswegs die herkömmliche diachronisch-semasiologische ersetzen. Sie ist nur eine Ergänzung dazu, ähnlich wie die Onomasiologie und die Wortfeldbetrachtung zur Semasiologie oder Wortbedeutungsgeschichte. Die synchronische Betrachtung fragt nur nach dem Was und dem Wie unserer Sprachstruktur; für die Frage nach dem Warum und dem Woher ist die diachronische zuständig. Der praktische Nutzen der strukturellen Wortbildungslehre ist vor allem auf dem Gebiet der Sprachpädagogik und der Sprachdokumentation zu erwarten. Sprache ist ein System von E i n z e l e l e m e n t e n und von R e g e l n für die Kombination dieser Elemente. Je größer die Zahl der erlernbaren und anwendbaren Regeln, desto kleiner kann die Zahl der zu erlernenden Elemente gehalten werden. Im Fremdsprachunterricht und in der muttersprachlichen Stillehre müssen Lexeme wie kostbar, offenbar, scheinbar wie Vokabeln gelernt werden, aber Syntagmen wie eßbar, zerlegbar, transformierbar gehören nicht unbedingt ins Vokabular. Es genügt völlig, nach Transformationsmustern ihre syntaktische Auflösbarkeit und ihre Verwendung im eigenen Sprechen nach Regeln zu beherrschen. Bei der beängstigend angeschwollenen Masse des Wortschatzes der modernen Zivilisationswelt — in der Gemeinsprache ebenso wie in den Teilen des Fachwortschatzes, mit denen jeder Sprachteilhaber durch die Massenkommunikationsmittel täglich in Berührung kommt — ist es notwendig, die produktiven Wortbildungsregeln bewußt zu machen, nach denen im Sprechakt das Maß der bloßen Reproduktion fester Lexeme in Grenzen gehalten werden kann zugunsten der Produktion eigener Syntagmen des Sprechers. Diese Forschungs- und Lehraufgabe hat auch eine große Bedeutung für die Erarbeitung von sprachlichen G r u n d s t r u k t u r e n in der Art der Français fondamental oder des Basic English, wie sie heute auch für das Deutsche von Reformern des Fremdsprachunterrichts und der internationalen Kommunikation gefordert und seit kurzem am Institut für deutsche Sprache in Mannheim geplant wird. Die Herstellung von Grundvokabularien nach der Häufigkeit des Wortgebrauchs und nach bestimmten Sachgebieten bleibt unbefriedigend, wenn die Menge der listennotwendigen Lexeme nicht dadurch entlastet wird, daß ein möglichst großer Teil der Ableitungen und Zusammensetzungen nach Transformationsmustern in die Regelgrammatik verwiesen wird. Das Gleiche gilt für die fast unlösbaren Mengenprobleme in der L e x i k o g r a p h i e . Sowohl in einem deskriptiven wie in einem ableitenden Wörterbuch muß nur der Teil des „Wortschatzes" gebucht werden, der sich aus den Grund-

Wortbildung

als

Wortsoziologie

27

lexemen und den mehr oder weniger lexikalisierten Wortbildungen zusammensetzt. Gelegenheitskomposita und frei auflösbare Ableitungen wie Lübkebesucb und Aufforderung beanspruchen nicht unbedingt einen Platz in einem für praktische Zwecke auswählenden Wörterbuch. Auch die wissenschaftlichen Wörterbücher, die eine „Vollständigkeit" anstreben, müssen hier eine deutliche Grenze setzen, wenn sie nicht die entsagungsvolle Arbeit mehrerer Generationen beanspruchen wollen. In dem ersten rückläufigen Wörterbuch der deutschen Sprache, das mit Hilfe von datenverarbeitenden Maschinen eine Wörterliste aus mehreren Wörterbüchern vom Wortende her zusammengestellt hat und nun der Wortbildungsforschung als unschätzbares Materialwerk zur Verfügung steht 25 , finden sich allein über 9500 Wörter auf -ung einschließlich entsprechender Zusammensetzungen. Das sind selbstverständlich bei weitem noch nicht alle -ung-Wörter, die es in der deutschen Sprache gibt, weil noch hunderte oder tausende weiterer -ung-Wörter nach bestimmten Transformationsmustern für Ableitung und Zusammensetzung üblich oder möglich sind. Aber das sind nicht alles Einheiten des Wortschatzes der „langue". Ein sehr großer Teil von ihnen stellt nur Syntagmen der „parole" dar, die nach einer durchaus überschaubaren Zahl von Wortbildungsmustern der „langue" verstehbar bzw. bildbar sind. Gewiß haben auch die bisherigen wissenschaftlichen Wörterbücher ihre relative „Vollständigkeit" nach bestimmten Auswahlprinzipien begrenzt, nach historischen, sprachsoziologischen und stilistischen. Aber das Mengenproblem in der Lexikographie kann erst dann konsequent und befriedigend gelöst werden, wenn die Endlosigkeit der Wörtermenge nach dem herkömmlichen morphosyntaktischen „Wort"-Begriff auch von der Sprachstruktur her auf eine Endlichkeit nach dem wirklich lexikologischen „Lexem"-begriff reduziert wird. Für diese Kategorienfrage ist aber noch viel zu tun. Die Strukturlinguistik ist über die Segmentierung in Phoneme und Morpheme (bzw. Moneme) noch nicht weit hinausgekommen. Bemühungen der neuesten Forschung26 zeigen aber, daß der gerade von Lexikologen und Semantikern lange Zeit mit Recht der Semantikferne geziehene „Strukturalismus" nun dabei ist, sich auch diesen wichtigsten Bereich der Sprache zu erobern. Daß es dazu eine unerläßliche Vorbedingung ist, die Zwitterstellung der Wortbildungslehre zwischen Grammatik und Wortschatz zu klären, ist für den Verfasser des vorliegenden Versuches nicht zuletzt ein in Leipziger Vorlesungen mehrfach vorgetragener Gedanke unseres verehrten Jubilars. 25

E.Mater, Rückläufiges Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Leipzig 1965.

28

Vgl. Greimas, Pottier, a. a. O.; E. Coseriu, Pour une sémantique diachronique structurale, in: Travaux de Linguistique et de Littérature (Strasbourg) 2, 1964, S. 139 ff.; Kl. Heger, Die methodologischen Voraussetzungen von Onomasiologie und begrifflicher Gliederung, in: Zs. f. roman. Phil. 80, 1964, S. 486 ff.; Kl. Baumgärtner, Zur strukturellen Semantik, in: Zs. f. dt. Sprache 20, 1965, S. 83 fT.; ferner die Beiträge von A. A. Ufimceva, A. Neubert, G . F . M e i e r , J. Filipec, in: Zeichen und System der Sprache, III. Bd. ( = Schriften zur Phonetik, Sprachwiss. u. Kommunikationsforschung Nr. 11), Berlin 1966; E. Coseriu, Lexikalische Solidaritäten, in: Poetica 1, 1967, S. 294 ff.

FRIEDHELM

DEBUS

Soziologische Namengeographie Zur sprachgeographisch-soziologischen Betrachtung der Nomina propria I.

1957 hat Ludwig Erich Schmitt 1 die S p r a c h s o z i o l o g i e eine „der wichtigsten sprachwissenschaftlichen Disziplinen" genannt und zugleich die Sprachtopographie bzw. Sprachgeographie als deren „vornehmste Methode" bezeichnet 2 . S p r a c h g e o g r a p h i e umfaßt sowohl die Appellativa als auch die Propria nach räumlichem Vorkommen, sie ist W o r t g e o g r a p h i e u n d N a m e n g e o g r a p h i e . Diese beiden Arbeitsmethoden können indessen, wie die Forschungsgeschichte lehrt, weitgehend oder vollkommen unabhängig voneinander angewandt werden, es wird überdies mit Sprachgeographie als Begriff nicht selten lediglich der Appellativbereich gefaßt. So spielen Namenformen und -belege etwa in den dialektgeographischen Arbeiten der Marburger Schule Ferdinand Wredes durchaus keine Rolle. Dabei sind die revolutionierenden Ergebnisse solcher Untersuchungen f ü r die gesamte Sprachwissenschaft und insbesondere f ü r die Sprachgeschichte unbestreitbar 8 . Die in der Arbeit an und mit den Karten des Deutschen Sprachatlasses entwickelten und erprobten dialektgeographischen Begriffe „Verkehrsgemeinschaft", „Kulturraum", „Kulturkreis", „Sprachlandschaft", „Strömung", „Strahlung" u. a. 4 — wesenhaft sprachsoziologische Termini, da sie von der Sprache als 1

Sprache und Geschichte; in: Hess. Jb. f. Landesgesch. 7 (1957), 259—282, daraus 262. Dazu s. F. Debus, Namensoziologie als linguistisches Hilfsmittel; demnächst in: Handelingen van het X X V I e Vlaams Filologencongres. Zum Begriff, Sprachsoziologie* vgl. zuletzt: ,Taalsociologie' ( = Bijdr. en Med. d. Dialectencommissie van de Kon. Ned.Akad. van Wet. te Amsterdam X X X I I , Amsterdam 1967) mit Beiträgen von Jo Daan, Communicatie-taalkunde und A. Weijnen, Sociodialectologische onderzoekingen in Limburg.

* L. E. Schmitt, a. a. O. und 280. * Vgl. etwa F. Maurer, Geographische und soziologische Betrachtung in der neueren Sprachgeschichte und Volkskunde (Antrittsvorlesung Erlangen 1931); in: Volkssprache. Gesammelte Abhandlungen ( = Beih. z. Zs. WiWo 9), Düsseldorf 1964, 53—67. 4

Vgl. besonders die Arbeiten von Theodor Frings zum rheinischen Sprachgebiet, nun zusammengefaßt in: Th. Frings, Sprache und Geschichte I ( = Md. Studien 16) und II ( = Md. Studien 17). Halle/Saale 1956. Ferner s. dazu R. Sdiützeichel, Die Grundlagen des westlichen Mitteldeutschen. Studien zur historischen Sprachgeographie. Tübingen 1961.

Soziologische

29

Namengeographie

einem sozialbedingten Gebilde ausgehen — erwiesen sich ebenso für die von Arnoldschem Stammesdenken noch immer nicht restlos geläuterte Namenkunde als außerordentlich fruchtbar. Seit 1923 wandte Adolf Bach diese Begriffe und die damit verknüpften Methoden bzw. Prinzipien auf die Ortsnamen (ON) an 5 , und diese wurden mithin als von den gleichen Wirkkräften außer- und innersprachlicher Art determiniert betrachtet wie die übrige gesprochene Sprache auch. Jede N a m e n l a n d s c h a f t — ein zuerst von Hans Bahlow im Blick auf die für eine Landschaft typischen Personennamen (PN) nach dem Vorbild von „Sprachlandschaft" verwendeter Begriff 9 — ließ sich auf diese Weise nur als eigenständiges Gefüge verstehen und entsprechend für sich deuten. Diese Einsicht bewirkte nicht nur die endgültige Lösung von starren siedlungsgeschichtlichstammeskundlichen Vorstellungen, sondern auch die Einordnung der Namenwelt in das neue an den gesprochenen Dialekten gewonnene Bild sprachlichen Lebens. Namengeographie und Namensoziologie gehen, wie Wortgeographie und Wortsoziologie, zunächst von der Sammlung synchron-statistischen Materials aus. Die in zweiter Arbeitsstufe kartographisch aufbereiteten und so in ihrer räumlichen Gliederung sichtbar gemachten sprachlichen Daten werden vom Interpreten als Momentaufnahme aus einem Entwicklungsprozeß heraus gesehen, sie werden „als zeitliche Schichtung aufgefaßt . . . , die in sich von jüngeren zu älteren Schichten abgetragen werden m u ß " 7 ; es wird „aus dem Gewordenen auf das Werden" geschlossen8. Dieses Umsetzen des Kartenbildes in Diachronie kann freilich die bloße Karteninterpretation nicht vollgültig leisten. Zur Ergänzung, Vertiefung oder auch Korrektur muß neben den Ergebnissen von Sachforschung, Altertumskunde, Volkskunde u. a. notwendig die schriftliche Überlieferung hinzutreten — insofern aus der g e s c h r i e b e n e n

die

gespro-

c h e n e Sprache als soziologisch vergleichbare Komponente gewonnen werden kann. Diese geographisch-soziologische Betrachtung ist für die Eigennamen, die Nomina propria, von besonderer Bedeutung, weil die damit zu erzielenden Ergebnisse ihrerseits für die Erforschung der Appellativa in ihrer Art wertvoll, ja einmalig sind. Der sprachhistorische Aussagewert von Namen, auch solcher ohne schriftliche Überlieferung, darf grundsätzlich hoch eingeschätzt werden. Nomina propria sind zwar den lautlichen und lexikalischen

Entwicklungs-

gesetzen unterworfen, im Gebrauch isolieren sie sich jedoch bald und können 5

Die einschlägige Literatur s. bei A.Bach, Deutsche Namenkunde I I : Die deutschen Ortsnamen 1, Heidelberg 1953, § 7 und 2, Heidelberg 1954, § 657 ff.

• H . Bahlow, Namenlandsdiaften und Erbnamenforschung; in: Premier Congrés International de Toponymie et d'Anthroponymie, Paris 1938, Actes et Mémoires, Paris o. J., 223—227, bes. 2 2 4 ; vgl. auch Dens., Namenlandsdiaften; in: B z N 3 (1951/52), 92-102. 7

L. E. Schmitt, a. a. O. 263.

8

F. Maurer, a. a. O. 66.

30

Friedhelm

Debus

völlig erstarren8. Die Flurnamen (F1N), die nicht selten keine oder nicht weit zurückreichende historische Belege aufweisen, hat man daher treffend als „ungeschriebene Urkunden" einer Landschaft bezeichnet10. Sonderlich die Gruppe der Gewässernamen ist vor allem durch die Forschungen Hans Krahes in ihrem spracharchäologischen Charakter deutlicher herausgearbeitet worden11. Aber auch aus den Siedlungsnamen (SN) lassen sich älteste Schichten gewinnen, wie zuletzt besonders Hans Kuhn gezeigt hat 12 . Eigennamen können gleichsam „Fossilien" sein, „versteinerte Reste einer älteren und oft längst vergangenen Zeit" 13 , die nicht nur ihres Alters, sondern ihrer festen Raumgebundenheit wegen sprachhistorisch-geographisch einzigartiges Material darstellen. II. Die sprachgeographische Betrachtung der Antbroponymica impliziert immer auch die Anwendung soziologischer Gesichtspunkte14. Das zeigt vor allem die Entwicklung der T a u f n a m e n (TN)- bzw. R u f n a m e n (RN)-Gebung; denn in der Wahl eines bestimmten Namens kommt die innere Einstellung der Namengeber stets mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck. Die moderne Namengebung wird hierbei offenbar durchgehend stärker von subjektivindividuellen Motiven geleitet, wie das beim wohlhabenden städtischen Bürgertum bereits im 19. Jahrhundert zu beobachten ist15, aber doch kommen auch heute ausgesprochene Modenamen vor. Die gegenwärtige RN-Gebung ist daher durch eine große Vielfalt gekennzeichnet. „Die Namengebung schweift sehr weit aus; sie ist räumlich ungebunden"1'. Eine solche Feststellung gilt selbst für ausgesprochene Reliktlandschaften. Das ergibt sich klar aus einer Untersuchung der Namengebung in Gemeinden des sogenannten hessischen Hinterlandes17. 9

Vgl. dazu mit einschlägiger Literatur F. Debus, Aspekte zum Verhältnis Name —Wort. Rede uitgesproken bij de officiele aanvaarding van het ambt van gewoon hoogleraar . . . aan de Rijksuniversiteit te Groningen. Groningen 1966.

10

Vgl. A. Zobel, Flurnamensammlungen und -archive in West- und Ostdeutschland; in: Jb. f. ostdt. Vkde. 7 (1962/63), 2 2 1 - 2 2 8 , daraus 222. Zuletzt und zusammenfassend H . Krähe, Unsere ältesten Flußnamen. Wiesbaden 1964. Vgl. bes. H. Kuhn, Grenzen vor- und frühgeschichtlicher Ortsnamentypen ( = Akad. d. Wiss. u. d. Lit. in Mainz, Abhandlungen d. Geistes- und Sozialwiss. Kl. Jg. 1963, Nr. 4). Wiesbaden 1963. H. Krähe, Ortsnamen als Geschichtsquelle ( = Vorträge und Studien zur indogermanischen Sprachwissenschaft, Namenforschung und Altertumskunde), Heidelberg 1949, 9. Zu diesem Kapitel vgl. F. Debus, a. a. O. (Anm. 1).

11 12

13

14 15

Vgl. A.Bach, Deutsche Namenkunde I: Die deutschen Personennamen 2, 2. Aufl. Heidelberg 1953, § 317. 441.

16

H.Naumann, Zu Fragen moderner Namengebung; in: Wiss. Zs. d. Karl-Marx-Univ. Leipzig 13 (1964), Ges.- und Sprachwiss. Reihe, H. 2, 387—390, Zitat 388. Zugrunde legt N. die Namen der vom 1 . 1 —31. 8 . 1 9 6 3 in Grimma/Sachsen Geborenen. Vgl. auch A. Bach, a. a. O. § 460. 518.

17

Demnächst F. Debus, Namengebung im hessischen Hinterland. Dargestellt am Beispiel des Kirchspiels Dautphe nach Quellen seit dem beginnenden 17. Jahrhundert.

Soziologische

31

Namengeographie

Bemerkenswert ist dabei die Parallele zur gesprochenen Sprache derartiger Gebiete: d e r f o r t s c h r e i t e n d e n d i a l e k t o l o g i s c h e n Reduzierung entspricht eine wachsende on om a t o 1 o gi sc h e Ber e i c h e r u n g . Diese im Endergebnis konträren Erscheinungen sind dennoch aus denselben Ursachen abzuleiten. Deutliche Raumgebundenheit, d. h. geographische Gliederung des RN-Schatzes, findet sich indessen bei chronologisch rückschreitender Betrachtung. Dabei zeigt sich immer wieder die klare Opposition von Stadt und Land, die in der ständischen Schichtung der Bevölkerung begründet ist. Die Richtung der Ausbreitung neuer Namen und Namenmoden verläuft nach Ausweis der Quellen immer wieder von „oben" nach „unten": die in Adelskreisen gebräuchlichen bzw. seit dem 11. Jahrhundert im Süden und Südwesten aus fremden Kulturen vom Adel akzeptierten Namen 1 8 tauchen nachfolgend auch im städtischen Patriziat und in der breiten Schicht des Bürgertums auf, um dann von der Stadt in die ländliche Umgebung auszustrahlen. Der soziale „Mehrwert" solcher Namen ist dafür offenbar entscheidend, sie gelten als vornehmer, besser, sie sind vorbildlich und werden deshalb nachgeahmt bzw. einfach übernommen. Die Oberschicht ihrerseits strebt demgegenüber wiederum nach klarer Namenunterscheidung: es ist „das alte onomastische Wettrennen", wie Ernst Pulgram 1 9 trefflich charakterisiert hat. Der zeitlose und in vielen, nicht nur sprachlichen Bereichen zu beobachtende 20 und von Hans Naumann 2 1 mit dem Ausdruck vom „gesunkenen Kulturgut" gekennzeichnete Vorgang hat allerdings — was hier nur angemerkt sei — ein Gegenstück in der als „Ansteigen" 2 2 oder „Aufsteigen" 2 3 genannten Erscheinung der Übernahme unterschichtlicher Formen durch die Oberschicht. Jedoch geht es dabei nicht um das tiefverankerte soziologischpsychologische Prinzip des „Absinkens", wofür sich in der RN-Gebung vor allem drei Bereiche abgrenzen lassen 24 : 18

Vgl. dazu bes. A. Socin, Mittelhochdeutsches Namenbuch. Nach oberrheinischen Quellen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts, Hildesheim 1966 ( = Unveränd. reprogr. Nachdruck d. Ausgabe Basel 1903), passim; A. Bach, a. a. O. § 293. 297. 437.

19

Historisch-soziologische Betrachtung (1950/51), 1 3 2 - 1 6 5 , daraus 146.

20

Vgl. z. B. E. Pulgram, a. a. O., bes. 164; A. Bach, a. a. O. § 459.

21

Über das sprachliche Verhältnis von Ober- zu Unterschicht; in: Jb. f. Philologie 1 (1925), 55—69. Dazu s. bes. F . M a u r e r , Volkssprache als Teil der Volkskunde; in: Zs. f. dt. Bildung 8 (1932), 337 ff., jetzt überarbeitet in: F . M a u r e r , Volkssprache. Gesammelte Abhandlungen ( = Beih. z. Zs. W i W o 9 ) ; Düsseldorf 1964, 23—36; ferner A. Bach, a. a. O. § 459 ff. und Ders., a. a. O. (Anm. 5) II, 2, $ 706.

22

A. Bach, a. a. O. (Anm. 15) § 4 6 0 , 2 .

des

modernen

Familiennamens;

in:

BzN 2

23

F. Maurer, a. a. O. (Anm. 3) 63 f.

24

Vgl. dazu bes. A. Socin, a. a. O. 85 u. ö.; G. Schramm, Namenschatz und Dichterspradie. Studien zu den zweigliedrigen Personennamen der Germanen ( = Ergänzungshefte z. Zs. f. vgl. Sprachf. 15), Göttingen 1957, bes. 144; B. Boesch, Die Eigennamen in ihrer geistigen und seelischen Bedeutung; in: Der Deutschunterricht 9 (1957), H . 5, 32—50, bes. 43. Zur Frage der dt. P N „in ihrer ständischen Schichtung" unterrichtet

Friedhelm Debus

82

1. Der dynastisch-politische Bereich: Namen wie Heinrich, Friedrich, Konrad, Ludwig und Otto, Adelheid und Margarethe gehen in ihrer allgemeinen Beliebtheit wesentlich auf entsprechende Namenträger aus deutschen Herrscherhäusern des Mittelalters zurück, wenn auch mit zusätzlichen regionalen Vorbildern zu verschiedenen Zeiten zu rechnen ist 25 . Durch landesfürstliche Namenträger wurden bestimmte R N innerhalb der jeweiligen Landesgrenzen besonders beliebt; so Rup(p)recht und Luitpold in Bayern, Franz und Josef bzw. FranzJosef in Österreich, Friedrich und Wilhelm bzw. Friedrich-Wilhelm neben Charlotte und Luise in Preußen, Friedrich und August bzw. Friedrich-August in Sachsen, Ludwig und Philipp in Hessen-Darmstadt, Adolf in Nassau 2 6 . Ähnliches gilt in anderen Ländern, wo auch heute noch Einfluß von N a m e n aus königlichen Familien festzustellen ist 27 . Boudewijn mit seinen Varianten ist hauptsächlich in Flandern volkstümlich, und Willem ist durch holländische Grafen zu einem der häufigsten R N in Holland geworden 2 8 . Dieser letztere N a m e ist aber auch in Frankreich und England außergewöhnlich weit verbreitet. Das ist P. J. Meertens2® „daarom een raadsel omdat er geen algemeen bekende heilige van deze naam is geweest". Es scheint indessen, daß die letzte Ursache hierfür in der beherrschenden Stellung Wilhelm des Eroberers zu suchen ist 80 . Andererseits sind tatsächlich in dynastischen Kreisen gebräuchliche R N nicht populär geworden, wie etwa Beatrix nach Barbarossas Gattin Beatrix von Burgund 3 1 , oder sie wurden es erst, nachdem ein Heiliger gleichen Namens vorhanden war. Das war beim Kaisernamen Karl der Fall, der nachweislich seit der Heiligsprechung des Karl Borromäus am 4. November 1610 allgemein beliebt wurde 3 2 , und auch der bei den Hohenstaufen gebräuchliche R N Elisabeth umfassend A. Bach, a . a . O . (Anm. 15) § 436 ff. 518 mit zahlreichen Lit.-Hinweisen. Zum Ndl. vgl. vor allem P. J. Meertens, Nederlandse familienamen in historisch perspectief ( = Anthroponymica IV), Leuven, 's-Gravenhage 1951, 27—39, bes. 30; O. Leys, De oudste vrouwennamen en Hollandse naamgeving in de middeleeuwen ( = Bijdragen en Meded. der Naamkunde-Commissie v. d. Kon. Ned. Akad. v. Wet. te Amsterdam XIV), Amsterdam 1959, 5—28, bes. 14. 25

Für den norddeutschen Raum nimmt W. Feiten, Die Personennamen der Stadt des Landes Boizenburg vom 13. bis 17. Jahrhundert (in: Mecklenburg. Jahrbücher 1936, 1—178), 30 einen besonderen Einfluß durch Heinrich den Löwen an. Bei wirkt sich später Otto von Bismarck als Vorbild aus; nach A. Bach, a. a. O. § Zur Frage allgemein s. bes. A.Bach, a . a . O . § 504; A. Socin, a . a . O . 122 f.

26

Hierzu vgl. R. F. Arnold, Die deutschen Vornamen, 2. Aufl., Wien 1901, 40 ff.; A.Bach, a . a . O . § 309. 317. 450.

27

Vgl. O. Leys, a. a. O. 50 (als Diskussionsbeitrag).

28

P. J. Meertens, a. a. O. 32 f. bzw. 30.

und 100, Otto 450.

28

a. a. O. 30.

30

Vgl. zu den historischen und vor allem sprachhistorischen Hintergründen zuletzt R. Derolez, „1066 and all that . . B e s c h o u w i n g e n over taal en gemeenschap; demnächst in: Handelingen van het X X V I e Vlaams Filologencongres.

31

Vgl. A. Bach, a. a. O. 293. 460.

32

Nach E. Nied, Heiligenverehrung und Namengebung, sprach- und kulturgeschichtlich mit Berücksichtigung der Familiennamen, Freiburg i. Br. 1924, 17.

Soziologische

Namengeographie

33

erhielt erst durch die hl. Elisabeth „so starke religiöse Hilfe, daß (er) unmerklich in den eisernen Bestand hinübergleitet und dort, von der Kirchenspaltung unbehelligt, bis in die Gegenwart verbleibt" 33 . 2. Der religiös-kirchliche Bereich: Die letztgenannten R N haben bereits angedeutet, daß die Heiligen bzw. deren Verehrung für die Namengebung außerordentlich wichtig gewesen sind. Wohl vor allem durch die Wirksamkeit der (Bettel)Orden wurden seit dem 13. Jahrhundert — stärker im städtischen Bürgertum und nachfolgend auf dem Lande als beim traditionsbewußteren Adel 34 — Heiligennamen als R N gewählt, längst bevor sich die Kirche auf dem Tridentinum offiziell für eine christliche Namenwahl einsetzte35. Diese Ausrichtung nach bestimmten Vorbildern führte dann, nach Gebieten verschieden rasch, von der altdeutschen Namenfülle hinweg zu einer großen RNEintönigkeit, so daß selbst innerhalb einer Familie zwei oder mehr Kinder denselben Namen führen konnten. In der Frankfurter Patrizierfamilie Orth hießen noch im 18. Jahrhundert drei Brüder, „welche die letzten Sprößlinge dieser Familie und alle drei Rechtsgelehrte waren, Johann Philipp" 39 . Edmund Nied 37 geht so weit zu sagen, daß die nicht untergegangenen germ. R N durchweg „durch irgendwelche kirchlich verehrten Träger geheiligt waren" und sich „unter dem Schutze des Heiligenkultes" hätten halten können. Unter allen R N ist Johannes der bei weitem beliebteste Männername. Er nimmt in seinen vielfältigen Varianten „vom 13. bis ins 19. Jhd. hinein in unserer Namengebung unbestritten den ersten Platz" ein38. Beliebt wird die auf Grund ihrer Häufigkeit selbst in den vokabulären Bereich der Sprache übergetretene Form Johann39 auch zuerst in Doppel-RN, an denen das auffällige schichtenmäßig-zeitlich gestaffelte Aufkommen und Verschwinden im allgemeinen überschaubar ist 40 : diese zuerst in Adelskreisen auftauchende Namensitte strahlte über das Stadtbürgertum in die ländliche Umgebung aus, bis sie im 33

R . F . A r n o l d , a. a. O . 5 5 ; vgl. auch das. 4 0 zu

34

Vgl. A . Bach, a. a. O . § 2 9 9 . 3 2 2 . 4 3 7 ; C h . Scheffler-Erhard, A l t - N ü r n b e r g e r N a m e n buch ( = N ü r n b e r g e r Forschungen, Einzelarbeiten z. N ü r n b e r g e r Gesch. 5), N ü r n berg 1 9 5 9 , 7.

Josef.

35

Vgl. E . N i e d , a. a. O . 5. 2 4 .

36

G. L . K r i e g k , Deutsches B ü r g e r t h u m im Mittelalter. N a c h urkundlichen Forschungen N . F., F r a n k f u r t a. M . 1 8 7 1 , 2 0 2 . Z u r F r a g e s. auch A . Bach, a. a. O . § 4 5 7 .

37

a. a. O . 17.

39

E . Nied, a. a. O . 39, s. das. 2 6 f. auch die tabellarische Ubersicht. Ferner vgl. J . F r e y , Heiligenverehrung und Familiennamen in Rheinhessen, Diss. Gießen 1938 ( = Gießener Beitr. z. dt. Phil. 6 1 ) , 18. 2 0 f. und A . Bach, a. a. O . § 3 0 1 .

38

Vgl. dazu zuletzt G. Eis, Tests über suggestive Personennamen in der modernen L i t e r a t u r und im A l l t a g ; in: B z N 10 ( 1 9 5 9 ) , 2 9 3 — 3 0 8 , daraus bes. 3 0 5 f. (Fn. 1 1 ) ; ferner W . B e t z , Z u r N a m e n p h y s i o g n o m i k ; in: Namenforschung ( = Fs. f. A . Bach, hrsg. v. R . Schützeichel und M. Zender), Heidelberg 1 9 6 5 , 1 8 4 — 1 8 9 .

40

Skizziert nach A . B a c h , a . a . O . § 3 0 6 f f . 4 6 0 . D e t a i l l i e r t e Einzeluntersuchungen werden dieses Bild differenzieren müssen.

3

Mitzka, Wortgeographie

34

Friedhelm Debus

16. Jahrhundert allgemein üblich war; doch während seit dem späten 18. Jahrhundert in den Städten die Doppelnamigkeit wieder aufgegeben wurde, hielt man auf dem Lande noch bis ins 20. Jahrhundert daran fest. Neben Johannes {Johann) hat Maria {Marie) als Frauenname eine ähnlich wichtige Rolle gespielt, allerdings erst relativ spät und zunächst zögernd. Auffällig ist, daß Maria als R N im Mittelalter fast völlig verschwand, also gerade in einer Zeit blühenden Marienkultes. Das erklärt sich zweifellos aus religiöser Scheu und Zurückhaltung. „Vom 12. Jhd. an gewinnt er, anscheinend durch Vermittlung der höheren Stände von Welschland her, wo er schon vorher anzutreffen ist, zunächst ganz langsam Boden. Noch im 14. Jhd. gehört er bei uns zu den seltenen N. V o m 16. J h d . a n beginnt sein S i e g e s l a u f , bis schließlich jedes Milchmädchen Marie heißt und besonders während des 18. Jhd. sogar eine ganze Anzahl M ä n n e r damit geschmückt wird" 4 1 . Namengeographisch wichtig sind vor allem die in bestimmten Kult- bzw. Kulturräumen verehrten Lokalheiligen. Matthias Zender 42 hat eine Reihe instruktiver, teilweise in zeitlicher Schichtung angelegte Kartenbilder über die Verbreitung der Verehrung einzelner Heiliger und daran geknüpfter Volksbräuche geboten, z. B. für Lambert von Lüttich, Servatius von Maastricht, Cornelius von Cornelimünster bei Aachen, Remigius von Reims, Severin und Gereon von Köln, Maximin und Celsus von Trier 4 3 . Damit ist ein Beitrag zu der von Edmund Nied 4 4 geforderten „h a g i o l o g i s c h e n Nameng e o g r a p h i e " geleistet, die in vieler Hinsicht, vor allem im Blick auf die RN-Geographie, zu erweitern ist. In dieser Beziehung ist Zenders Karte 7 hervorzuheben, die in einer Aufnahme des Rheinischen Wörterbuches aus dem Jahre 1930 das Vorkommen von Servatius als Vorname darstellt. Nach Edmund Nied 4 5 gruppieren sich die nach Heiligen gegebenen R N „mehr oder weniger ausschließlich und in größerem oder kleinerem Umkreis jeweils um das betreffende Kultzentrum". Diese ursprüngliche Korrelation zwischen Heiligen41

E. Nied, a. a. O. 37. Vgl. dazu auch G. Kietz, Die Personen- und Familiennamen im Leipziger Lande zur Zeit Luthers; in: Z O N F 15 (1939), 244—261, daraus 245. Oberhaupt müssen auch nicht die historisch bedeutsamsten Heiligen die populärsten sein; s. dazu E. Nied, a. a. O. 27 f.

42

Räume und Schichten mittelalterlicher Heiligenverehrung in ihrer Bedeutung für die Volkskunde. Die Heiligen des mittleren Maaslandes und der Rheinlande in Kulturgeschichte und Kultverbreitung. Düsseldorf 1959.

43

Wobei, wie Zender, a . a . O . 16 ff. ausführt, jeweils der Unterschied zwischen volkstümlich verehrtem Heiligen und kirchlich-offiziellem Patron zu beachten ist. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Aussage von Ch. Scheffler-Erhard, a . a . O . 13: „Den Namen der Nürnberger Kirchenheiligen Sebaldus und Laurentius begegnet man merkwürdigerweise nur selten . . . Der Kirchenpatron müßte demnach keine Rolle in der Nürnberger Namengebung gespielt haben. Die scherzhafte Behauptung Fischarts, daß alle Nürnberger Sebald hießen, trifft für das 14. Jh. nicht z u " ; man verwendet statt dessen andere bekannte Heiligennamen!

44

a. a. O. 29.

45

a. a. O.

Soziologische

Namengeographie

35

Verehrung und Namengebung kann Zender 46 an seinem Beispiel leicht nachweisen. Und selbst die auf jungem Material beruhende Karte demonstriert noch diesen Tatbestand: „So zeigt die Karte durchaus die Beziehung zwischen Kult und Namen, wenn auch nicht in starrer und für alle Fälle bindender Form" 47 . Es ist dabei einleuchtend, wenn auch anderwärts der Name allmählich auftaucht, sei es durch einen dorthin verzogenen Namenträger o. ä. Und außerdem kann ein solcher R N „noch lange leben und gegeben werden, wenn die Verehrung des Heiligen gleichen Namens schon erstarrt oder längst abgestorben ist" 48 . Das wird etwa dadurch bestätigt, daß im Leipziger Land nach Einführung des Protestantismus noch bis gegen 1600 keinerlei Bruch in der RN-Gebung festzustellen ist49 — die Reformation also, wenigstens anfänglich und in dieser Gegend, im RN-Bestand nicht irgendwie Ausdruck fand. Bei einzelnen fest verwurzelten Namen wie Elisabeth ist ja bis in die Gegenwart der Konfessionswechsel unmerkbar geblieben50. Daß sich die Reformation aber allmählich dennoch auch namengeographisch durch ihre Vorliebe für alttestamentliche und andere R N abzeichnete, wird daran deutlich, daß die „Konfessionskarte . . . , wenn wir aufs große Ganze sehen, gleichzeitig eine Karte der Besonderheiten des in Deutschland gebräuchlichen RN-Schatzes" darstellt 51 . Inwieweit eine solche Feststellung auch noch für die jüngere Gegenwart mit ihren Bevölkerungs(Konfessions)Verschiebungen und den die Grenzen verunklärenden, rasch wechselnden Namenmoden zutrifft, wäre durch statistische Untersuchungen näher zu klären. 3. Der literarische Bereich: Bereits im Mittelalter wurden durch den Ritterstand und teilweise auch schon durch bürgerliche Kreise Namen nach Dichtern oder Gestalten aus Dichtungen bei der Namengebung gewählt, z. B. Siegfried, Dietrich (Dirk), Iwan = Iwain, Artus oder Floris52. Dirk (nach Dietrich — Theoderich) und Floris (nach „Floris ende Blanchefloer") sind in Holland über das Grafenhaus zu beliebten R N im Volk geworden. Floris kommt im 14. und 15. Jahrhundert zahlreich vor und verschwindet, ähnlich wie Dirk, nach dem Mittelalter weitgehend, da diese Namen in späteren holländischen Grafenhäusern nicht mehr verwendet wurden. Allerdings werden beide R N noch heute vor46

a. a. O. 72. Audi E. Nied, a. a. O. 29 weist darauf hin, daß die Kölner und Trierer Kirchenprovinzen seit früher Zeit in ihren P N stark hagiologisch geprägt sind.

47

M. Zender, a. a. O. 74.

48

Das. 75.

49

Vgl. G.Kietz, a . a . O . , bes. 245. Ferner s. dazu E . N i e d , a . a . O . 17 ff. und zur Namengebung in den rekatholisierten Gebieten M. Zender, a. a. 0 . 1 9 .

50

s. o. S. 32 f. Das beweist auch die Anm. 17 genannte Untersuchung über das der Wirkungs- und Wallfahrtsstätte der Heiligen nahegelegene Gebiet.

51

A. Bach, a. a. O. § 388, dazu § 360. 305.

52

Vgl. dazu B. Boesch, Über die Namengebung mittelhochdeutscher Dichter; in: DVjschr. 32 (1958), 241—262, bes. 261; K. Finsterwalder, Die Familiennamen in Tirol und Nachbargebieten und die Entwicklung der Personennamen im Mittelalter ( = SdilernSchriften 81), Innsbruck 1951, 26 f.; A. Bach, a. a. O. § 293 f. 505 f.



Friedhelm

36

Debus

wiegend oder gar ausschließlich in Bauernfamilien geführt 5 3 : hier hat die alte im literarischen Bereich verankerte, dynastisch popularisierte Namenmode ihre Tradition bewahrt. — Später läßt sich vor allem im Bürgerstand Namenwahl nach Dichtern oder nach Figuren ihrer Werke beobachten, so Wolfgang, Hermann, Dorothea, Gretchen, Lotte, Wilhelm Tellsi, Minna, Emilie, Adelheid05. Bei solchen individuell oder stark modisch bedingten R N gibt es allerdings kaum geographisch abgrenzbare Namenlandschaften. Hierzu liegen bisher keine systematischen Untersuchungen vor. Die Einzelbeobachtungen „würden ihren vollen Wert gewiß erst dann gewinnen, wenn auch r e i n z a h l e n m ä ß i g festgestellt würde, wie stark die Zunahme der gen. Namen nach dem Erscheinen der betr. Werke war" 5 8 . In der Sammlung und Auswertung der T N bzw. R N stehen wir noch am Anfang der Möglichkeiten. N u r über wenige N a m e n besitzen wir bisher ausführlichere Untersuchungen oder, was meistens der Fall ist, zeitlich und räumlich zu begrenzte oder zufällige Feststellungen. Eine der wenigen gründlichen Arbeiten, die von Otto Behaghel angeregten „Studien über die Namengebung im Deutschen seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts" von Karl Heinrichs 57 , blieb „unbeachtet und anscheinend unverstanden" 5 8 . Nicht nur eine hagiologische Namengeographie, wie Edmund Nied sie forderte 5 9 , sondern überhaupt eine umfassende chronologisch gestaffelte T N - bzw. RN-Geographie wäre sprachgeographisch und sprachsoziologisch von außerordentlichem Nutzen. Dies bleibt eine Aufgabe der zukünftigen Forschung, wobei nicht allein die einzelnen R N als solche, sondern auch die von einem R N üblichen Kurzformen und lautlichen Varianten als geographische und soziologische Oppositionen zu berücksichtigen sind 60 . Eine solche geographisch-soziologische Erfassung und Darstellung wird freilich um so schwieriger, je weiter man zeitlich zurückgeht. Die Frage etwa, 53

Nach P. J. Meertens, a. a. O. 30 f. Vgl. auch J. A. Huisman, Sporen van Theodorik de Grote in N e d e r l a n d ; in: Handelingen van het X X I I e Nederlands Filologencongres te Utrecht, Groningen 1962, 19—32, bes. 28 f. mit weiteren Lit.-Hinweisen.

54

„Wir kennen bei uns mehr als einen der die Vornamen Wilhelm Teil t r ä g t " : F. Vetter, Uber Personennamen und Namengebung in Bern und anderswo. Rektoratsrede ( = Berner Universitätsschriften 1), Bern 1940, 41.

55

Vgl. weiter bes. A.Bach, a . a . O . § 317 f.; E . N i e d , a. a. O. 20.

56

A.Bach, a . a . O . § 317.

57

( = Quellen u. Forschgn, z. Sprach- u. Kulturgesch. d. germ. Völker 102). Straßburg 1908. H . behandelt speziell die Namengebung von F r a n k f u r t , Rüsselsheim und Flörsheim a. Main.

68

F. Stroh, Handbuch der germanischen Philologie, Berlin 1952, 453, dazu 455. 459. Weitere Literaturhinweise bei A. Bach, a. a. O. § 304. 385. Vgl. auch W. Betz, a. a. O. 185.

59

s. o. S. 34.

60

Zur Sache vgl. K. Roelandts, Die N a m e n k u n d e als Schlüssel zur psychologischen Erforschung der Sprachentwicklung; in: VI. Int. Kongr. f. Namenforschg. München 1958, Kongreßberichte Bd. I I I ( = Studia Onomastica Monacensia IV), München 1961, 642-648.

Soziologische

37

Namengeographie

ob bereits in der frühen Überlieferung lautlich-formale Unterschiede zwischen den einzelnen Schichten in Namengebung und Namengebrauch bestanden haben oder nicht 61 , ist nur annähernd nach den Quellen zu beantworten. Nach Wilhelm Schiaug 62 sind Kurznamen „wohl durchschnittlich etwas häufiger für die Hörigen bezeugt, dieser Unterschied dürfte aber scheinbar sein: in offiziellen Schreiben wie Urkunden u. dgl. werden für die Zeugen, die ja alle angesehene Leute sind, die feierlichen Vollnamen lieber verwendet als die für dieselben Personen bezeugten K u r z n a m e n " . Dennoch scheinen, zumindest gebietsweise, in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen Hörigen und Freien üblich gewesen zu sein 63 . In jedem Fall läßt sich aus der altdeutschen Namenüberlieferung nicht ableiten, daß es für die betreffenden Personen aus höheren Schichten keine K u r z formen im familiär-täglichen Gebrauch gegeben hat und andererseits, daß eine formal-onomatologische Opposition zwischen den einzelnen sozialen Gruppen nicht vorhanden gewesen ist. Wie stark Gefühls- und Kindersprache die altdeutschen R N geformt haben, hat zuletzt Henning Kaufmann

überzeugend

zusammengefaßt 6 4 . In späterer Zeit lassen sich den Werken mhd. Dichter „oft die familiären,

umgangssprachlichen

Spielformen"

entnehmen,

die

zugleich

„typische Vertreter ihres Standes" sind und die in der meist zu ausschließlich auf urkundlichen Quellen fußenden Namenforschung noch besser genutzt werden können 6 5 . Viele solcher individuellen, örtlich-landschaftlichen

RN-Varianten

leben erstarrt noch heute in Familiennamen fort. Die F a m i l i e n n a m e n

( F N ) runden in mehrfacher Hinsicht das aus den

R N zu gewinnende geographisch-soziologische Bild ab. Alfred Goetze, der zahlreiche namenkundliche Untersuchungen anregte, stellte 1925 über die F N fest: S1

Vgl. dazu z. B. O . Leys, a. a. O . 14 f. mit F n . 3 0 . Ü b e r die Arbeit von L . Friedrich, Die Geographie der ältesten deutschen Personennamen ( = Gießener Beitr. z. dt. Phil. 7), Gießen 1 9 2 2 vgl. W . Will, Deutsche N a m e n f o r s c h u n g ; in: Germanische Philologie. Ergebnisse und A u f g a b e n ( = Fs. f. O . Behaghel, G e r m . Bibl., E r s t e Abt., 1. Reihe, Bd. 19), Heidelberg 1 9 3 4 , 1 3 7 - 1 5 4 , daraus 1 5 2 und A. Bach, a. a. O . § 3 8 2 .

62

Die altsächsischen Personennamen v o r dem J a h r e 1 0 0 0 ( = L u n d e r Germanist. Forschgn. 3 4 ) , L u n d / K o p e n h a g e n 1 9 6 2 , 8. D a z u vgl. H . N a u m a n n in: B z N 16 ( 1 9 6 5 ) , 3 0 0 f., daraus 3 0 0 ; ferner A . Socin, a. a. O . 1 9 2 ; A . Bach, a. a. O . § 3 0 2 . 4 3 7 ; O . Leys, a . a . O . , bes. 13 ff.; E . U l b r i c h t , K u r z n a m e n in althochdeutscher Zeit. Namenstudien zu den ältesten fuldischen U r k u n d e n ; in: A t t i e Memorie del Congresso della Sezione A n t r o p o n i m i c a , V I I . Congresso Int. di Scienze Onomastiche Firenze 1 9 6 1 , Vol. I I I , Firenze 1 9 6 3 , 3 2 1 - 3 2 5 ; W . Feiten, a . a . O . 3 1 . 113.

63

Vgl.

vor

allem

S. Sonderegger,

Der

althochdeutsche

Personennamenschatz

St. Gallen. Ein Beitrag zum Problem einer althochdeutschen N a m e n g r a m m a t i k ; V I . Int. K o n g r . f. Namenforschg. München 1 9 5 8 , Kongreßberichte Bd. I I I ( =

von in:

Studia

O n o m a s t i c a Monacensia I V ) , München 1 9 6 1 , 7 2 2 — 7 2 9 , daraus 7 2 3 und Ders., A u f gaben und Probleme der althochdeutschen N a m e n k u n d e ; in: Namenforschung ( =

Fs.

f. A . B a c h , hrsg. v. R . Schützeichel und M . Z e n d e r ) , Heidelberg 1 9 6 5 , 5 5 — 9 6 , daraus bes. 7 5 . ®4 H . K a u f m a n n ,

Untersuchungen

N a m e n k u n d e 3). München 65

zu

1965.

B. Boesch, a. a. O . ( A n m . 5 2 ) 2 6 0 f.

altdeutschen

Rufnamen

(=

Grundfragen

der

Friedhelm

38

Debus

„ W e n n m a n längere Zeit in der gleichen Landschaft lebt und mit der Obacht auf die sprachliche und sachliche Bedeutung der Familiennamen in ihrer geschichtlichen Entwicklung die A u f m e r k s a m k e i t auf die Familiengeschichte verbindet, dann erstarkt allgemach ein Gefühl auch für die Schichten und G r u p p e n der B e v ö l k e r u n g " 6 6 . Dieser Aussagewert erwächst den F N daraus, d a ß sie ursprünglich als Beinamen ( B N ) 6 7

die d a m i t Genannten in der Regel ihrer sozialen

Schicht entsprechend näher kennzeichneten. W i n f r i e d Scharf 6 8 hat nach mittelalterlichen Quellen zeigen können, daß m a n tatsächlich nicht allein B N , sondern auch V o r n a m e n bei guter Materialgrundlage bis zu einem gewissen G r a d e v e r schiedenen Bevölkerungsschichten zuordnen kann. I m Entstehungsprozeß der erblichen F N äußern sich nach E r n s t P u l g r a m 6 9 die „sozialen A m b i t i o n e n " der niederen Schicht; der „Vornehmheitstrieb des Individuums, der Sippe oder einer ganzen Bevölkerungsklasse"

figuriert

ihm

dabei als grundlegende Tendenz neben den „administrativen E r f o r d e r n i s s e [ n ] des organisierten S t a a t e s " . B N lassen sich zuerst in Adelskreisen des Südwestens gegen E n d e des 10. J a h r h u n d e r t s feststellen, sie w u r d e n in zeitlicher Staffelung allmählich übernommen durch Ministeriale, Stadtbürger und L a n d b e w o h n e r 7 0 . D i e Opposition S t a d t : L a n d tritt dabei besonders h e r v o r . A u f dem L a n d wurden F N teilweise erst spät eingeführt, ja sie sind als amtlich-offizielle N a m e n oftmals noch heute in der Siedlungsgemeinschaft weniger oder g a r nicht bekannt, wenigstens werden andere unterscheidende B N gebraucht 7 1 . Allerdings ist über E n t 66

A. Goetze, Spuren alter Hörigkeit in heutigen Familiennamen? in: Germanica ( = Fs. E. Sievers), Halle a. S. 1925, 2 0 3 - 2 1 1 , Zitat 203.

67

Für die frühe Zeit sollte man lieber von B N sprechen statt von (festen) F N ; vgl. dazu S. Hagström, Kölner Beinamen des 12. und 13. Jahrhunderts ( = Nomina Germanica 8), Uppsala 1949, 11 ff.

68

Personennamen nach Braunschweiger Quellen des 14. Jahrhunderts. Die Neubürger-, Verfestungs- und Vehmgerichtslisten bis zum Jahre 1402. 2 Bände. Diss. Freiburg i. Br. 1957/60.

«• a . a . O . 134 bzw. 137. 70

Vgl. zur Sache umfassend A. Bach, a. a. O. § 325 ff. 459; ferner A. Socin, a. a. O. passim, bes. 226 ff.; E. Pulgram, a. a. O. 155; B. Boesch, a. a. O. (Anm. 52), 250; Ders., a. a. O. (Anm. 24) 36. Für das Ndl. vgl. das noch immer gültige Standardwerk von J . Winkler, De Nederlandsche Geslachtsnamen in oorsprong, gesdiiedenis en beteekenis. Haarlem 1885.

71

Vgl. dazu zuletzt etwa H . M. Heinrichs, Namengebung in einem niederrheinischen Dorf vor 40 Jahren; in: Namenforschung ( = Fs. f. A.Bach, hrsg. v. R . Schützeichel und M. Zender), Heidelberg 1965, 178—183; ferner A.Bach, a . a . O . § 345. Anderwärts ist es üblich, selbst im vertrautesten Kreis, den F N statt des R N in der Anrede zu verwenden: W. Feiten, a. a. O. 147 f. belegt diese Sitte schon für das 15. Jahrhundert und möchte den „nodi heutzutage" gültigen Brauch mit dem Charakter der Bewohner („eine innere Abgeschlossenheit zur Außenwelt") in Zusammenhang bringen. Audi K . Bischoff bezeugt für Aken a. d. Elbe die Anrede mit dem F N im Familienkreis, „ohne damit irgendwelche Gefühlskälte ausdrücken zu wollen. Das war Rest eines früher auch in der Oberschicht üblichen Brauches . . . " ; vgl. K. Bischoff, Personenbezeichnungen in einer kleinen Stadt; in: Festgabe f. U. Pretzel, hrsg. v. W. Simon, W. Bachofer, W. Dittmann, Berlin 1963, 3 9 0 - 3 9 7 , daraus 392.

Soziologische

Namengeographie

39

wicklung und Bedeutung der FN in ländlichen Gebieten im ganzen noch zu wenig bekannt, da man das Interesse auf Grund der besseren Quellenlage eher auf die Städte richtete72. Eine rühmliche Ausnahme bildet die von Ludwig Erich Schmitt angeregte Untersuchung Horst Grünerts73, der ausdrücklich von der Einsicht ausgeht, „daß es nötig ist — neben der Untersuchung einzelner Namenquellen oder einzelner Städte —, mehr als bisher die bäuerlichen Namen kleinerer oder größerer Landschaften in einem möglichst umfassenden Zeitraum zu untersuchen und sie zu den bürgerlichen Namen der die Landschaft beherrschenden Stadt in Beziehung zu setzen". Grünert kommt dabei in Übereinstimmung mit Peter von Polenz 74 zu dem wichtigen Ergebnis: „Grundsätzlich darf . . . gefolgert werden, daß es innerhalb der großräumigen Verbreitung der Familiennamen kleinräumige Namenlandschaften mit ganz bestimmten charakteristischen Namen gibt, die sich von denen der angrenzenden Gebiete deutlich abheben. Die Träger dieser Namen sind Bauern. Eine solche charakteristische Namenlandschaft auf ostmitteldeutschem Boden ist das Altenburger Land. Die Ergebnisse der Mundartforschung erfahren durch die Namenforschung eindeutige Bestätigung" 75 . Im ndl. Bereich bilden vor allem die F N auf -a eine solche klar umgrenzte Namenlandschaft. Klaas Heeroma 76 hat nach dem seit 1963 erscheinenden „Nederlands Repertorium van Familienamen" 77 diese noch in napoleonischer Zeit zu FN gewählten Bildungen untersucht und gezeigt, daß die Grenzen ihres noch heute geschlossenen Verbreitungsgebietes mit Isoglossen auf Sprachkarten korrespondieren und daß sich die soziologisch bedingte historisch-sprachliche Eigenart der friesischen Städte auch im Bestand dieser Namen niederschlägt. Der Landschaftsgebundenheit deutscher F N läßt sich ähnlich durch die Auswertung der Adreßbücher nachgehen, was Fritz Tschirch zuletzt getan hat 78 . Der Plan der Deutschen Akademie der Wissenschaften, ein zwölfbändiges Hand72

Vgl. z. B. W. Fleischer, Die deutschen Personennamen ( = Wiss. Tasdienbücher, Sprachwissenschaft 20), Berlin 1964, 88.

73

Die altenburgischen Personennamen. Ein Beitrag zur mitteldeutschen Namenforschung ( = Md. Forschgn. 12). Tübingen 1958; folgendes Zitat das. I. Dazu P. von Polenz: „Landschaftliche Namenuntersuchungen wie diese gibt es leider nur sehr wenige. Die deutsche Namengeschichte bedarf dringend der Ausweitung der Quellengrundlage über den städtischen Bereidi hinaus"; in: Germanistik 1 (1960), 153.

74

Die altenburgische Sprachlandschaft ( = Mitteldeutsche Forschungen 1). Tübingen 1954.

75

H. Grünert, a. a. O. 564. Vgl. auch das. 567 das Gesagte in bezug auf den slaw. Bevölkerungsanteil und ferner die Tabellen 560 ff., dazu die Karten.

76

Die friesischen Familiennamen auf -a; in: Namenforschung ( = Fs. f. A.Bach, hrsg. v. R. Schützeichel und M. Zender), Heidelberg 1965, 1 6 8 - 1 7 7 , bes. 172 ff.

77

Hrsg. v. P. J. Meertens.

76

F. Tschirch, Namenjagd durch sieben Adreßbücher. Statistisches zur Landschaftsgebundenheit deutscher Familiennamen; in: Festgabe f. U. Pretzel, hrsg. v. W. Simon, W. Bachofer, W. Dittmann, Berlin 1963, 398—410. T. legt dazu die Adreßbücher von Berlin, Hamburg, Köln, Karlsruhe, Stuttgart, München und Wien aus den Jahren zwischen 1927 und 1937 zugrunde. — „Die F N in ihrer landschaftl. Staffelung" skizziert A. Bach, a. a. O. § 394 ff.

40

Friedhelm

Debus

buch der deutschen F N nach Landschaften herauszubringen, wurde leider durch den 2. Weltkrieg nicht ausgeführt79, und auch das verdienstvolle Werk Josef Karlmann Brechenmachers80 kann dafür keinen Ersatz bieten. Aus den FN stellen vor allem Berufsnamen (BerN) und Herkunftsnamen (HN) in historischer Hinsicht gutes sprachgeographisch-soziologisches Material dar. Die Vielzahl der mittelalterlichen Berufe als Folge der Arbeitsteilung81 läßt nicht allein die Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur erkennen, sondern liefert durch die entsprechende Mannigfaltigkeit an besonderen Berufsbezeichnungen auch historische Wortbelege, die bei genügend dichter Streuung eine hinreichende diachronische Wortgeographie erlauben82. Als besonders geeignet erscheinen dafür die am häufigsten vorkommenden BerN nach Handwerkerbezeichnungen, von denen Fritz Tschirch diejenigen zu Küfer, Töpfer und Fleischer dem gegenwärtigen wortgeographischen Befund gegenüberstellt88 mit dem Resultat: „Seit der Zeit der FN-Bildung sind also im Gebrauch der Handwerkernamen deutlich starke geographische Verschiebungen eingetreten; ihre heutige Verbreitung als F N spiegelt offenkundig einen weit älteren Verbreitungsstand, der sich freilich durch so grobmaschige Untersuchungen wie diese nicht wirklich fassen läßt" 8 4 . Zur schmalen Materialbasis kommt in diesem Fall aber noch hinzu, daß auch die bis ins 20. Jahrhundert hinein übliche Wanderschaft der Handwerksgesellen in Rechnung zu stellen ist, wodurch eine stärkere landschaftliche Verschiebung in den betreffenden FN stattfinden mußte 85 . Mir scheint daher eine derartige Feststellung zunächst wenig überzeugend. Sie müßte durch umfassenderes und historisch erarbeitetes FN-Material fundiert sein. Es lassen sich zweifellos für die nach Handwerkerbezeichnungen gebildeten BerN wissenschaftlich einwandfreie Belege gerade aus der Zeit gewinnen, in der diese „Namen" noch eher BN als schon feste FN waren. Bemerkenswert ist jedoch das Ergebnis Tschirchs, daß noch um 1930 die H N der untersuchten Städte deutlich und teilweise ausschließlich O N der jeweils 79

Als (=

Band

in

dieser

Reihe

war

vorgesehen

H . Bahlow,

Schlesisches

Namenbuch

Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 3). K i t z i n g e n / M a i n

1953.

60

Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Familiennamen. 2. Aufl. (der

„Deutschen

81

F ü r N ü r n b e r g konnten allein 5 9 und für F r a n k f u r t a. M a i n 4 5 selbständige metallverarbeitende Berufe registriert w e r d e n ; vgl. C h . Scheffler-Erhard, a. a. O . 23 und K . Bücher, Die Berufe der Stadt F r a n k f u r t a. M . im Mittelalter ( = Abhandlungen d. Phil. H i s t . K l . d. Königl. Sachs. Ges. d. Wiss. 3 0 , N r . 3), Leipzig 1 9 1 4 , 16 f.

82

Vgl. W . Scharf, a. a. O . I, 6 9 ff.; C h . Scheffler-Erhard, a. a. O . 1. 2 3 ; A . Bach, a. a. O . § 3 9 4 ; E . Schwarz, Deutsche Namenforschung I : R u f - und Familiennamen, Göttingen 1 9 4 9 , 122 ff. I m Süden des N d l . entstanden F N früher als im N o r d e n , weshalb man d o r t auch zahlreichere B e r N findet; vgl. P . J . Meertens, a. a. O . 3 8 .

63

a. a. O . 4 0 5 ff. Allerdings hätte Tschirch für diesen Vergleich die W o r t k a r t e n des D W A 9 (Gießen 1 9 5 9 ) benutzen sollen und nicht die noch lückenhaften Ubersichten von L . Ricker, P . Kretschmer und die d a r a u f fußenden von A . Bach und E . Schwarz.

Sippennamen"). 2 Bde. Limburg a. d. L a h n 1 9 5 7 .

84

F. Tschirch, a. a. O . 4 0 8 .

85

W a s Tschirch auch durchaus bewußt ist; vgl. a. a. O . 4 0 7 .

Soziologische

Namengeographie

41

näheren Umgebung zeigen 86 . Ähnlich wie bei den um bestimmte Kultzentren gruppierten R N nach Heiligen 8 7 zeichnen sich in dem durch die H N einer Stadt angegebenen Gebiet relativ klar abgrenzbare Kulturräume bzw. Verkehrsgemeinschaften ab. Adolf Bach 88 hat zuerst auf diese Erscheinung in ihrer Bedeutung für die Kulturraumforschung hingewiesen: „Man wird in der Tat nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß die Herkunftsbezeichnungen darstellenden Zunamen im wesentlichen (auf Einzelheiten kommt es hier ja ganz und gar nicht an) das Gebiet umschreiben, das als das eigentliche Hinterland der Stadt anzusprechen ist" 8 9 . Nun können H N nicht die wirkliche Heimat, sondern den letzten Aufenthalt des betreffenden Namenträgers oder auch dessen Besitz in der näheren Umgebung der Stadt angeben 90 . Trotz solcher Einwände ist Bach aber doch grundsätzlich zuzustimmen. Man kann die H N nach einzelnen Zeiträumen getrennt kartieren und erhält damit ein Bild von den „Kulturkreisen" einer Siedlung, die sich in „Kerngebieten" und „Randgebieten", „Misch-" und „Einlagerungs-" bzw. „Umfassungsgebieten" abzeichnen. Bach hat auf diese Weise einen bis dicht vor Gießen reichenden Einfluß Frankfurts für das 12./13. und späte 14./frühe 15. Jahrhundert aufzeigen können 91 und bestätigt damit für diese Zeitabschnitte die von Friedrich Maurer 9 2 „versuchsweise" dargestellten süd-nördlichen Sprachbewegungen desselben Raumes. Die Karten des Deutschen Sprachatlas zeigen demgegenüber „keine überragende sprachliche Bedeutung" Frankfurts 9 3 trotz aller vielfältigen unmittelbaren stadtsprachlichen Ausstrahlung. Die in der historischen Entwicklung sich ändernden Verkehrsgemeinschaften werden an solchen sprachlichen Raumgliederungen sichtbar. Das Beispiel der Frankfurter H N kann verdeutlichen, welche Möglichkeiten eine syste88 87

Vgl. auch A. Bach, a. a. O. § 418. s. o. S. 34 f.

88

Deutsche Herkunftsnamen in sachlicher Auswertung; in: Rhein. Vjbll. 1 (1931), 358—377, nun auch in: A. Bach, Germanistisch-historische Studien. Gesammelte Abhandlungen, hrsg. v. H . M. Heinrichs u. R. Schützeichel, Bonn 1964, 375—392 (die folgenden Zitate sind hiernach gegeben); ferner Ders., Familiennamen und Kulturkreisforschung; in: Rhein. Vjbll. 5 (1935), 324—329, nun auch in: Germanist.-histor. Studien . . . (s.o.), 778—782; H . Dittmaier bei A.Bach, a . a . O . (Anm. 15) § 4 2 2 ; A.Bach a . a . O . (Anm. 5) II, 2, § 5 5 1 ; H. Grünert, a . a . O . 546, 550 ff. mit Karten; Ch. SchefFler-Erhard, a. a. O. 17; S. Hagström, a. a. O. 2.

89

A. Bach, Deutsche Herkunftsnamen . . . (Anm. 88) 376.

80

Vgl. dazu z . B . Ch. Scheffler-Erhard, a. a. O. 1 7 ; O. Leys, a . a . O . 51; a. a. O. 132.

61

Bachs Karten ( a . a . O . ) fußen für Frankfurt auf Material bis 1314 und von 1387 bzw. 1440, für Friedberg von 1 2 1 6 - 1 4 1 0 und für Wetzlar von 1 1 4 1 - 1 3 5 0 .

92

Sprachschranken, Sprachräume und Sprachbewegungen im Hessischen, hauptsächlich auf Grund der Karten und Sammlungen des Südhessischen Wörterbuches versuchsweise dargestellt; in: Hess. Bll. f. Vkde. 28 (1929), 43—109, auch als Sonderdruck 1930; vgl. auch Dens., a. a. O. (Anm. 3), bes. 57 ff.

93

F. Debus, Stadtsprachliche Ausstrahlung und Sprachbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dargestellt am mittleren Rhein- und unteren Maingebiet nach Karten des Deutschen Sprachatlas; in: Marburger Universitätsbund 2, Marburg 1963, 17—68, daraus 44.

W.Fleischer,

42

Friedhelm

Debus

matische Auswertung dieser F N in diachronisch-sprachgeographischer Hinsicht bieten — Möglichkeiten, die bisher wenig genutzt worden sind' 4 . R N wie FN bilden kleinräumige und großräumige Namenlandschaften. Die diachronische Betrachtung läßt die Wirksamkeit kultureller Kräfte erkennen, die sich in „Strahlungen", in der Ausbreitung bestimmter Namen äußern. Daß in dem einen Gebiet H N als F N überwiegen, im anderen dagegen BerN, Wohnstättennamen oder Übernamen und daß sich dieses Bild im historischen Ablauf ändert, ist nicht zuletzt in der soziologischen Struktur einer Landschaft begründet 95 . III. Die Toponymica sind, wie die Anthroponymica, nicht ohne die Anwendung soziologischer Gesichtspunkte zu deuten®6. Freilich ist das psychologische Verhältnis des namengebenden und namengebrauchenden Menschen zu den O r t s n a m e n (ON), den SN wie den F1N, anders als bei den PN. Die unmittelbare persönliche Bindung und innere Nähe, wie sie besonders den R N gegenüber in Erscheinung tritt, ist bei der Masse der O N sehr selten vorhanden 97 . Entsprechend gilt auch das in der Opposition Stadt: Land immer wieder feststellbare Prinzip des „Absinkens" bzw. Angleichens als soziologische Dimension für die Toponymica in weit geringerem Maße. Das liegt nicht zuletzt im Charakter der Namen selbst begründet, die den Kontakt zum vokabulären Bereich sehr bald nach ihrer Entstehung verlieren. Und dies trifft besonders für die durch eine lange Vergangenheit formal gefestigten Toponymica zu. Eine Bildung wie Stadt Allendorf, die für das in der jüngeren Gegenwart zur Stadt gewordene Allendorf im Kreis Marburg offiziell geprägt wurde, zeigt das in aller Klarheit 98 . Die Ausrichtung nach dem städtischen Vorbild wird bei den O N am ehesten in der FIN-Gebung sichtbar, besonders innerhalb des eigentlichen Wohnbereichs: bei Straßennamen, Namen für Neusiedlungen, Gebäude, Einriditungen u. ä. Doch auch hierbei ist es oft nicht direkt der städtisch geprägte oder sozial höher geachtete Name, den man nachahmt. Wird in einem Dorf eine neu angelegte 94

Audi W. Scharf, a. a. O. 69 f. mit Fn. 4 und 140 ff. verzichtet vorläufig noch auf eine entsprechende Auswertung seines Materials.

95

Vgl. dazu ausführlicher A. Bach, a. a. O. (Anm. 15), 420 ff.; ferner z. B. H . Grünert, a. a. O. 535. 554 ff.

86

Vgl grundsätzlich z . B . H. Walther, Zur Namenforschung als Gesellschaftswissenschaft; in: Wiss. Zs. d. Karl-Marx-Universität Leipzig 14 (1965), Ges.- und Spradiwiss. Reihe, H. 1, 1 1 1 - 1 1 5 .

97

Dazu s. A. Badi, a. a. O. (Anm. 5) II, 2, § 718.

98

Nur selten wird ein bestehender Name in solchen Fällen abgeändert, wie es bei Ludwigsdorf südlich Saalfeld der Fall war, das 1377 in Ludwigstadt umbenannt wurde; vgl. H . Walther, Zur Auswertung namenkundlichen Materials für die Siedlungsgeschichte; in: Wiss. Zs. d. Karl-Marx-Universität Leipzig 11 (1962), Ges.- und Spradiwiss. Reihe, H . 2, 313—318, daraus 316 f.; s. ferner dazu F. Debus, a . a . O . (Anm. 9) 8.

Soziologische

Namengeographie

43

Straße einfach Neue Straße genannt, so nicht deshalb, weil es in der nahe gelegenen Stadt eine Neue Straße gibt, die dort das Gegenstück zur Alten Straße bildet in Analogie zur Neu- und Altstadt-, und wenn der Name Adenauerstraße, gewählt wird, so kann das unabhängig davon geschehen, daß in der Kreisstadt eine Straße gleichen Namens existiert. Hier zeigt sich der im allgemeinen weit fortgeschrittene und in der Gegenwart ständig wachsende Ausgleichsprozeß zwischen städtischen und ländlichen Eigenheiten. Die Namengebung wird eher schematisch, planmäßig, abstrakt, bürokratisch; sie wird politisiert. Solche Politisierungstendenzen treten vor allem dort hervor, wo möglichst alle Lebensbereiche einem bestimmten Gesellschaftsideal unterworfen werden. Ein aufschlußreiches Beispiel hierfür bietet Horst Naumann mit seiner Untersuchung der Namen für die nach 1952 entstandenen „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften" im Bezirk Leipzig". Hierbei treten „unbäuerliche" Elemente bestimmend in den Vordergrund; nicht weniger als 61 °/o der Namen sind „Begriffe des aktuellen politischen Wortschatzes, der aktuellen politischen Symbolik und einer neuen Einstellung zum Leben und zur Gesellschaft wie Einigkeit, Fortschritt/Friedenstaube, Roter Stern"10". Daneben stehen die nach bestimmten Personen ( 1 3 % ) , Daten ( 4 % ) und nach S N oder F l N (22%>) gewählten Namen. Staatlich gelenkte Namengebung hat es nicht erst in der jüngeren Geschichte, insbesondere im 19. und 20. Jh., gegeben 101 . Sie entwickelt sich, wo immer staatliche Organisation und Administration ein Gemeinwesen durchdringen. Es liegt auf der Hand, daß sich dadurch, vergleichbar der dynastisch-politisch beeinflußten RN-Gebung 102 , bestimmte Namenlandschaften herausbilden können, die um so deutlicher hervortreten, je tiefgreifender und andauernder die staatliche „Verwaltung" ist. Im deutschsprachigen Gebiet wird zuerst offenbar im fränkischen Herrschaftsbereich Namengebung von „oben" her im großen Stil üblich, so daß man von der „Frankisierung" oder „Frankonisierung des Namenschatzes" gesprochen hat 103 . Dabei geht es um die „echten" S i e d l u n g s n a m e n , also weder um Stellenbezeichnungen noch um Insassennamen, sondern um Namen, die auf die Siedlung selbst bezogen sind, -heim ist der exponierteste Typ dieser 99 1,0

H . Naumann, a. a. O. (Anm. 16). Ders., a. a. O. 389.

101

Vgl. dazu auch A. Bach, a. a. O. S 548.

102

s. o. S. 32.

103

Zur umfangreichen Lit. über diese Frage vgl. besonders: A.Bach, a . a . O . § 483. 578 ff.; Ders., Ortsbewohnernamen im Deutschen; in: Atti del congresso e memorie della sezione antroponimica (VII. Congresso Internazionale di Scienze Onomastiche, Firenze 4 - 8 Aprile 1961), Vol. III, Firenze 1963, 337—363; R. Schützeichel, Die Grundlagen des westlichen Mitteldeutschen. Studien zur historischen Sprachgeographie. Tübingen 1961; grundsätzlich auch W.Schlesinger, Die Franken im Gebiet östlich des mittleren Rheins. Skizze eines Forschungsprogramms; in: Hess. Jb. f. L. 15 (1965), 1—22 und zuletzt F. Debus, Zur Gliederung und Schichtung nordhessischer Ortsnamen; demnächst in: Hess. Jb. f. L.

44

Friedhelm

Debus

Gruppe, und darunter bilden wiederum die schematisch-orientierten v o m sogenannten B e t h g e - T y p (Ost-,

West-, Nord-,

Süd-, Berg-, Tal-,

Namen Stockheim

usw.) eine charakteristische Sondergruppe 1 0 4 . Demgegenüber lassen sich auf die Siedler b z w . Insassen gerichtete N a m e n , deren H a u p t t y p die - ¿ » g e « - S N darstellen, als Ausdruck „volkstümlicher" N a m e n g e b u n g qualifizieren. „ D a s V o l k sieht

stärker

Siedlung

auf

selbst;

die

siedelnden

Menschen

als

auf

die

jene sind ihm wichtiger als diese" 105 . — Bedeutet dies

nun, daß die geographische Lagerung der S N durch diese soziologischen Faktoren bedingt ist? O d e r vereinfachend formuliert: repräsentieren -heim-Namen

z. B.

die

das Einflußgebiet fränkischer Staatsgewalt und die -¿wgew-Namen

demgegenüber die Landschaft mit volksnaher Eigenständigkeit? D i e Forschung hat gezeigt, d a ß die Ausbildung v o n

Namenlandschaften

durch K r ä f t e getragen wird, die mit soziologisch relevanten Begriffen w i e „Verkehrsgemeinschaft", „Kulturraum", „Strahlung" umschrieben werden 1 0 6 . Diese letztlich „sozialpsychologischen Kräfte" 1 0 7 äußern sich bei der N a m e n g e b u n g in ausgesprochenen N a m e n m o d e n 1 0 8 . Diese betreffen s o w o h l die Benennung v o n neuen Siedlungen, H ö f e n , Straßen, Flurstücken u. dgl. als auch die U m b e n e n nung v o n vorhandenen Namenträgern. E d w a r d Schröder u n d andere haben nachdrücklich auf die N a m e n m o d e n hingewiesen, mit denen z u allen Zeiten, auch schon in der frühen Siedlungsgeschichte, z u rechnen ist 1 0 9 . In bestimmten Epochen und Gebieten sind allerdings N a m e n m o d e n besonders wirksam gew o r d e n . Typische Grundwörter, z. B. -heim,

-hausen,

-dorf,

-hain

usw. sind

104

O. Bethge, Fränkische Siedelungen in Deutschland auf Grund von Ortsnamen festgestellt; in: WuS 6 (1914/15), 5 8 - 8 9 ; dazu weiter F. Debus, a . a . O .

105

A. Bach, Ortsbewohnernamen . . . (Anm. 103) 360; dazu Dens., a. a. O. (Anm. 5) II, 2, § 673.

106

s. o. S. 28 f.

107

„Die E n t w i c k l u n g eines r e l a t i v e i n h e i t l i c h e n Namenbild e s in einer Verkehrsgemeinschaft wird gerade wie die wortgeographische Entwicklung l e t z t l i c h d u r c h s o z i a l p s y c h o l o g i s c h e K r ä f t e g e s t e u e r t , die von den äußeren Klammern der Verkehrsgemeinschaft, d. h. politischen, wirtschaftlichen, geographischen und andern Mächten . . ., ausgelöst werden"; A.Bach, a . a . O . (Anm. 5) 11,2, § 663; vgl. ferner das. § 652. 690 f. 769 und B. Boesch, Zur Frage der Ortsnamenstrahlung am Beispiel der alemannischen Weilerorte; in: Atti del congresso e memorie della sezione antroponimica (VII. Congresso Internazionale di Scienze Onomastiche, Firenze 4—8 Aprile 1961), Vol. I, Firenze 1962, 217—223.

108

Vgl. o. S. 30 ff. zu den P N . E. Schröder, Die deutschen Burgennamen; in: Ders., Deutsche Namenkunde. Gesammelte Aufsätze zur Kunde deutscher Personen- und Ortsnamen, 2. Aufl. besorgt v. L. Wolff, Göttingen 1944, 200—211, darin 200: „Ich wage heute nur das schon früher von mir gebrauchte Wort Namenmoden, denn ich halte daran fest, daß wir mit diesem Begriff schon für sehr frühe Zeiten der Siedlungsgeschichte operieren dürfen und bei seiner richtigen Anwendung vor voreiliger historischer Deutung der Einzelnamen als Urkunden bewahrt bleiben." Vgl. ferner bes. A. Bach, a. a. O. § 654 ff. 682. 728 und Dens., Ortsbewohnernamen . . . (Anm. 103) 352. 361.

109

Soziologische Namengeographie

45

dabei als „Leitmotive" 1 1 0 hervorgetreten. Gute Beispiele f ü r Moden in der Namengebung bilden vor allem die soziologisch bedeutsamen Burg- und Klosternamen, die in der Ritterzeit bzw. in der Periode der Mystik ihre Hauptblüte erlebten und dann als Gruppe bis in die Gegenwart lebendig geblieben sind 111 . Sowohl bei den Burg- als auch bei den Klosternamen läßt sich eine älteste Schicht aussondern, die aus den jeweils vorhandenen Stellenbezeichnungen besteht (Typ Weißenstein, Fulda). Im 12. und 13. Jh. mehren sich dann die Namen, deren Herkunft aus der spezifisch ritterlichen bzw. klösterlichen Sphäre deutlich erkennbar ist. Die Burgen tragen nun Namen nach dem Erbauer (Typ Ludwigseck), einer Standesbezeichnung (Typ Fürstenstein, Frauenfels), einem Wappentier (Typ Greifenstein) oder nach bestimmten ritterlichen Idealen (Typ Stolzenberg); dazu kommen Namen nach Vorbildern aus dem Heiligen Land (z.B. Montabaur nach Möns Tabor) oder — als besonders kennzeichnend für die kulturelle Abhängigkeit dieses Standes — die französisch geprägten N a m e n (z. B. Pyrmont, Montfort)112. Bei einigen dieser mit typischen Grundwörtern gebildeten Namen lassen sich bestimmte Verbreitungsgebiete abgrenzen. So hat sich -eck vom Rhein aus im Elsaß, in Baden, Hessen, Franken und auch in Österreich verbreitet. Das in den niederländischen Provinzen Nordholland, Utrecht und Südholland (nördl. d. Lek) als Appellativum unbekannte stein ist als Burgnamen-Grundglied „ongetwijfeld in adellijke kringen overgenomen van de Bovenrijnse kasteelnamen" 1 1 3 , und auch -hörst dürfte sich in diesem Gebiet als Modename nach dem 1186 gebauten bischöflichen Schloß Horst bei Rhenen in Adelskreisen eingebürgert haben 114 . — Entsprechend finden wir Klosternamen nach dem Gründer (Typ Fürstenzell), vor allem aber nach Klosterheiligen (Typ St. Emmeram, Marienstatt) oder nach religiösen Idealen und Glaubensvorstellungen (Typ Bleidenstatt)n5; die letzteren entstehen zahlreich unter dem Einfluß 110

Zu diesem Begriff vgl. B. Boesch, Die Schichtung der Ortsnamen in der Schweiz im Frühmittelalter; in: Jb. f. f r k . L. 20 ( = Fs. E. Sdiwarz I), 1960, 2 0 3 - 2 1 4 , daraus 212.

111

Hierzu ist bes. zu vergleichen: E.Schröder, a . a . O . ; Ders., P y r m o n t und die f r a n zösischen Burgennamen auf deutschem Boden; das. 212—215; Ders., Burg und ,Tal'; das. 216—224; s. zusammenfassend mit weiterer Lit. A.Bach, a . a . O . (Anm. 5) II, 2, § 5 1 8 f. 521 f. 719. 725. Für die Niederlande vgl. J. A. Huisman, Burgnamenforschung in den Niederlanden, Vortrag, gehalten auf der 25. Arbeitstagung des Instituts f. geschichtl. Landeskunde d. Rheinlande a. d. Univ. Bonn, März 1967; demnächst in: B z N .

112

Starkenburg ist wahrscheinlich Lehnübersetzung von Montfort. — Von diesen N a m e n ist die in der Neuzeit entstandene Gruppe vom T y p Sanssouci zu unterscheiden.

1,3

D. P. Blok, Naamsveranderingen en modeverschijnselen in de middeleeuwse plaatsnaamgeving in Utrecht en H o l l a n d benoorden de Lek; in: Meded. V. N . 33 (1957), 1 7 - 2 6 , Zitat 25.

114

Vgl. D. P. Blok, a. a. O . 25 f.; dazu J. A. Huisman, a. a. O.

115

Dieser N a m e des im 9. Jh. gestifteten Klosters d ü r f t e zu mhd. bilde ,froh, sittsam' zu stellen sein; vgl. A.Bach, a . a . O . (Anm. 5) II, 2, § 5 2 1 , 1.

46

Friedhelm

Debus

der Mystik (z. B. Himmelskron, Gnadenbrunn, Seligenporten, Heiligenthal)11". Audi unter den Klosternamen gibt es solche nach fremdem Vorbild (Typ Bethlehem). Neben dem dynastisch-politischen und religiös-kirchlichen Bereich ließen sich bei der RN-Gebung auch literarische Muster als wichtig herausstellen 117 . Ähnliches gilt für die ON-Gebung. Es ist wieder vor allem Dietrich von Bern (Theoderich der Große), der dabei eine bedeutende Rolle spielt. Sowohl einzelne Vorkommen als auch Gruppierungen mehrerer Namen können das beweisen118. Wolfgang Jungandreas hat z. B. auf die sehr merkwürdige Häufung von sieben Orten in Nordhannover hingewiesen, deren Namen nach seiner Meinung der Dietrich-Sage entnommen sind: Egestorf (1306 Egestorpe), Wetzen (1293 Weddesen), Raven (1231 Ravena), Heinsen (1261 Heynsen), Barnstedt (1230 Bernstede), Amelinghausen (1348 Amelinghusen), Diersbüttel (1332 Thiderikesbutle)11*. Ein letztgültiger Nachweis dieser Annahme wird sich kaum erbringen lassen. Dennoch ist der Hypothese weitgehende Wahrscheinlichkeit zuzubilligen. Ein Zufall erscheint bei diesem Namenfeld ausgeschlossen, und man wird bei der Beantwortung der Frage, ob es sich dabei um „oberschichtliche" oder „grundschichtliche" Namen handelt 120 , eher an systematische Namengebung von „oben" denken als an „volkstümliche" 121 . Die genannten Bereiche sind auch bei den F l u r n a m e n vertreten. So leben etwa in einigen F1N Erinnerungen an die Ritterzeit fort. Während das für einen Namen wie Ritterspiel einleuchtet, kann Entsprechendes für den in diesem Zusammenhang vielerörterten Namen Vogelsang nicht oder doch nicht generell behauptet werden 122 . Sehr viel zahlreicher und daher kulturhistorisch bzw. soziologisch bedeutsamer sind dagegen die religiös-kirchlich bestimmten FlN. Die mit heilig zusammengesetzten Namen sind in dieser Hinsicht besonders zu nennen, obgleich nicht alle auf kirchlichen (klösterlichen) Besitz hinweisen, wie behauptet worden ist123. Wenn etwa in Heimarshausen/Kr. Fritzlar die FlN Heiligenland, Klosterland, Mönchesacker, Pfaffen-Berg vorkommen, so ist damit im protestantischen Gebiet noch heute offenbar auf Besitzverhältnisse des ehe116 Ygj d a z u bes. A. Mitterwieser, Bayerische Klosternamen und Mystik; in: Z O N F 13 (1937), 9 3 - 9 6 . 117

s. o. S. 35 f.

118

Vgl. etwa J. A. Huisman, a. a. O. (Anm. 53) 29 ff.

118

W. Jungandreas, Lebte die Dietridisage auch in Nordhannover?; in: Z O N F 5 (1928), 60-61.

120

Vgl. H . Moser, Namenfelder; in: D U 9 (1957), 5 1 - 7 2 , daraus 58.

121

Vgl. auch W. Kaspers, Entgegnung, in: B z N 2 (1950/51), 1 1 0 - 1 1 2 , bes. 112; A.Bach, a . a . O . § 698; J. A . Huisman, a . a . O . 29; „Wij moeten hier zeker bewuste naamgeving van boven af aannemen, omdat de betreffende ontginningen een grondheerlijk karakter dragen."

122

Vgl. die Lit. bei A. Bach, a. a. O. § 520.

123

D a z u vgl. weiter F. Debus, a. a. O.

Soziologische

Namengeographie

47

maligen Klosters Fritzlar hingewiesen124. Das heißt nicht, daß sich in den protestantisch gewordenen Regionen eine religiös bestimmte Namengebung überhaupt nicht entwickelt hätte. Es lassen sich vielmehr in einer gewissen Parallelität zu den PN 1 2 5 konfessionell bedingte namengeographische Unterschiede konstatieren. Die vornehmlich pietistischer Haltung entstammenden Namen wie Herrnhut, Gnadau oder Gewissenruh geben den zahlreichen Sankt-Namen oder Bildungen wie Franziskus, Canisius u. a. gegenüber deutliche konfessionell-geographische Anhaltspunkte 126 . Soziologisch betrachtet sind die F1N in ihrer großen Mehrzahl nicht Produkte der Oberschicht, sondern der Unterschicht, insbesondere des landsässigen Bauernstandes127. Diese Namen sind konkret, sachbezogen, beschreibend-kennzeichnend, sinnlich-anschaulich128; hierzu gehören auch die aus Stellenbezeichnungen hervorgegangenen SN. Nicht selten haben sich aus der zugrundeliegenden Haltung heraus neben den offiziellen, meist von „oben" gegebenen Namen andere „volkstümliche" in der sprachlichen Grundschicht entwickelt oder sie sind von Anfang an neben den amtlichen vorhanden gewesen129. Solche frühen soziologischen Unterschiede sind für die P N wenigstens gebietsweise wahrscheinlich130, sie lassen sich aber auch an O N verdeutlichen. Ein Beispiel hierfür bilden die etwa in bestimmten Teilen Hessens gehäuft vorkommenden elliptischen SN im Genitiv vom Typ Hilders, Motten™1. Die der Zeit des mittelalterlichen Landesausbaus entstammenden SN, die durch die darin enthaltenen P N die grundherrliche Kolonisation andeuten, sind offenbar in der Alltagssprache ohne das „amtlichoffizielle" Grundglied verwendet worden. Diese Kurzform hat sich dann durchgesetzt1®2. Die Frage nach der soziologischen Ebene bei SN und FlN bzw. die Frage nach deren soziologischer Wertigkeit im Blick auf die Namengeographie ist bisher wenig untersucht; es gibt darüber keine systematischen Darstellungen 133 . 124

Zu den Belegen s. F. Debus, a. a. O. s. o. S. 34 f. 126 Vgl. dazu A. Bach, a. a. O. § 531. 127 Zur Terminologie vgl. H. Walther, a . a . O . (Anm. 96), 112 f. 128 Zum Grundsätzlichen s. vor allem A. Bach, a. a. O. $ 741 ff. 129 Vgl. z. B. H . Walther, a. a. O. 113 oder A. Badi, a. a. O. § 703. 130 s. o. S. 37. ISI YGJ Verbreitung in Hessen bei F. Debus-B. Haarberg, Siedlungsnamen-Typen II, Karte Nr. 28 b, in: Geschichtlicher Atlas von Hessen, begr. von E. E. Stengel, bearb. von F. Uhlhorn. Marburg 1960 ff. 131 Nicht alle entsprechenden Namen werden auf eine Vollform zurückgehen; ein Teil unter ihnen ist sicher in Analogie zu Kurzformen entstanden. Vgl. zur Sache mit einschlägiger Lit. zuletzt H. Kaufmann, Genetivische Ortsnamen ( = Grundfragen der Namenkunde 3), Tübingen 1961, 150 ff. 133 Wenngleich auf die Problematik in jüngster Zeit öfters hingewiesen wurde; vgl. bes. E. Kranzmayer, Die bäuerliche Landschaftsauffassung in unserer Namengebung; in: Atti del congresso e memorie della sezione toponomastica (VII. Congresso Internazionale di Scienze Onomastiche, Firenze 4—8 Aprile 1961), Vol. II, Firenze 1963, 2 0 1 - 2 0 3 , bes. 202; H. Walther, a . a . O .

125

48

Friedhelm Debus

D e r damit v e r k n ü p f t e K o m p l e x des „gesunkenen Kulturgutes" 1 3 4 stellt zudem besondere methodologische Probleme. Das hat der verunglückte Versuch des Naumann-Schülers K . G . W. Best f ü r die F1N hinreichend gezeigt 135 . D e r Mangel an einer ausreichenden synchronischen u n d diachronischen A u f a r b e i t u n g des Materials, vor allem des reichen FlN-Bestandes, stellt f ü r eine umfassende Untersuchung ein besonderes Hindernis dar. A n t h r o p o n y m i c a u n d Toponymica bieten f ü r eine sprachgeographischsoziologische Betrachtung große Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten, die hier in wichtigen Bereichen aufgezeigt werden sollten, können erst besser ausgeschöpft werden, wenn die N o m i n a p r o p r i a durch gesicherte breite Materialbasis einer detaillierten statistisch-kartographischen Bearbeitung zugänglich sind. D a n n wird die Namengeographie als Teil der Sprachgeographie wichtige Ergebnisse im R a h m e n einer eingehenden Kulturraumforschung bereitstellen — einer Forschung, in deren Mitte der Mensch steht, nach H e r k u n f t , Anlage u n d Bildung verschieden, in G r u p p e n , Schichten u n d Verkehrsgemeinschaften geteilt. Einen Beitrag zur Erkenntnis dieser Mitte u n d ihrer U m w e l t zu liefern ist die Aufgabe der soziologischen Namengeographie. 134 135

s.o. S. 31. K. G. W. Best, Flurnamenforsdiung im Rahmen der modernen Volkskunde; in: Hess. Bll. für Vkde. 28 (1929), 1—40; dazu vgl. die kritischen Anmerkungen bei A.Bach, a. a. O. § 699. 750.

GILBERT

DE

S M ET

Alte Lexikographie und moderne Wortgeographie 1 Die schnell fortschreitende Veröffentlichung des D W A hat zu einer Erneuerung der deutschen Wortforschung geführt, die neue Aufgaben entdeckt und neue Interpretationsmethoden erarbeitet hat. Die jüngsten Marburger Arbeiten 2 zeigen deutlich, daß dort ernsthaft nach dem geeigneten Weg gesucht wird, dem eigentümlichen Charakter jeder Wortkarte, die jeweils eine eigene Problematik enthält, gerecht zu werden und dem vielseitigen und vielschichtigen Sprachstoff neue besondere und allgemeine Erkenntnisse abzugewinnen. Die Probleme von Wortreichtum und Wortarmut beschäftigen die Interpretatoren ebenso wie die Fragen der Etymologie und der Motivierung der Bezeichnungen. Die Rolle des Affekts, die Bedeutung der Deformation isolierter und zersprochener Ausdrücke sowie deren Neumotivierung sind Gegenstand wichtiger und interessanter Untersuchungen geworden, während andere Arbeiten den Spieltrieb der Sprache und die Bedeutung der kindlichen Phantasie herausstellen konnten. Die Aufmerksamkeit wurde auf die Mehrschichtigkeit des regionalen und örtlichen Wortschatzes gelenkt, indem man auf den Mundartkarten die Vertreter einer sprachlichen Mittelschicht erkannte; das Nebeneinander und Miteinander der sogenannten Normalausdrücke und der sie umkreisenden unregulierten oder affektgeladenen Bezeichnungen trat deutlich hervor. Man ist den zahlreichen und vielschichtigen Aspekten des Kultur- und Wirtschaftslebens und der Entwicklung und Entfaltung des Wortschatzes nachgegangen; die Wortkarte ist zu einer bedeutsamen Erkenntnisquelle der Siedlungsgeschichte in ältester und in neuerer Zeit geworden. Sie hat geholfen, Eigentümlichkeiten und Besonderheiten der sprachlichen Zwischenwelt herauszuarbeiten. Der Wortatlas ist aber vor allem das wichtigste Forschungsinstrument der deutschen Wortgeographie, die sich nicht nur um die Darstellung und Verbreitung der heutigen Bezeichnungen zu bekümmern hat, sondern auch versuchen

4

1

D i e s e m Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, den der Verfasser im Sommer 1965 im Forschungsinstitut für deutsche Sprache — D S A / M a r b u r g und später in Leipzig, Salzburg, Innsbruck und Erlangen gehalten hat. D e r Wortlaut der letzten Fassung, welche die fränkische Wortforschung stärker berücksichtigte, wurde nur geringfügig geändert und erweitert.

2

Vgl. vor allem die v o m Jubilar herausgegebenen Sammelbände Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen (Gießen 1958 ff. = D W F ; vgl. unsere Besprechung der ersten z w e i Bände in W i W o 16/1966, S. 136—139) und die wortkundlichen Arbeiten in den Reihen Beiträge zur dt. Philologie und Marburger Beiträge zur Germanistik. M i t z k a , Wortgeographie

50

Gilbert de Smet

muß, die Frage nach dem Zustandekommen der heutigen Bezeichnungsflächen, nach den Wandlungen des geographischen Verbreitungsbildes und deren Ursachen, zu lösen 3 . Wie schwierig diese Aufgabe ist, hat B. Martins Untersuchung über die Kartoffelbezeichnungen gezeigt. Nach 30jähriger Beschäftigung mit der Geschichte und Onomasiologie dieser neuen Kulturpflanze muß er am Ende seiner tiefschürfenden Untersuchung auf die vielen ungelösten und halbgelösten Fragen hinweisen, und man kann ihm auch nicht den leisesten Vorwurf machen, daß er nicht alles verfügbare Material gesammelt und befragt hätte 4 . Die heroische und optimistische Zeit der Sprachgeographie, die aus den modernen Sprachatlanten die Sprachgeschichte vollständig rekonstruieren zu können glaubte, ist vorüber, wenn man auch nicht bestreiten kann, daß die expansiologische Methode, wie sie in der Germanistik von Th. Frings und K . Heeroma meisterhaft gehandhabt wird, zu glänzenden Ergebnissen geführt hat. Eine historische Wortgeographie, die systematisch und methodisch betrieben wird, tut not und muß unter Benutzung aller möglichen Hilfsquellen ausgebaut werden. A. L. Brockmans und K . Rein haben sich auf die Raumnamen gestützt, um eine historische Grundlage ihrer Forschungen zu erhalten 5 ; H . Höing hat wie W. Steinberg und E. von Künßberg die Urkunden in großer Anzahl herangezogen 6 , während W. Neubauer u. a. die Ausgaben der Bibel gelegentlich benutzt haben 7 . G. Ising ist durch eine Untersuchung der Tiernamen in den frühneudeutschen Bibeln zu schönen Ergebnissen gelangt 8 . Es muß versucht werden, zu historischen Querschnitten zu kommen. In diesem Beitrag soll auf eine mögliche Erkenntnisquelle hingewiesen werden, der man bisher skeptisch und kritisch gegenüberstand und die man bisher noch nie systematisch, d. h. im vergleichenden Verfahren, zu wortgeographischen Zwecken benutzt hat: d i e W ö r t e r b ü c h e r a u s d e n z w e i l e t z t e n D r i t t e l n d e s 16. J a h r h u n d e r t s, aus jener Zeit also, in der die neuhochdeutsche G e m e i n s p r a c h e » W. Mitzka, Zeitschrift für Mundartforschung ( = Z M F ) 14 (1938), S. 40—45; Stämme und Landschaften in deutscher Wortgeographie, in: Maurer-Stroh, Deutsche Wortgeschichte II (1959 2 ), S. 5 6 1 - 6 1 3 ; W i W o 1 ( 1 9 5 0 - 5 1 ) , S. 1 2 - 2 3 ; K. Bischoff, Über den D W A in: Das Institut für dt. Sprache und Literatur (Berlin 1954), S. 19—37. B. Martin, Die Namengebung einiger aus Amerika eingeführter Kulturpflanzen in den dt. Mundarten (Kartoffel, Topinambur, Mais, Tomate). Gießen 1963. • A. L. Brockmans, Untersuchungen zu den Haustiernamen des Rheinlandes. Bonn 1939; K. Rein, Die Bedeutung von Tierzucht und Affekt für die Haustierbenennung. D W F Bd. 1, S. 1 9 1 - 2 9 5 .

4

6

H . H ö i n g , Deutsche Getreidebezeichnungen in europ. Bezügen. D W F Bd. 1, S. 117— 190. W. Steinberg, Studien zum dt. Wortschatz im Bereich der Vermählung. Diss. Halle 1956; Beiträge zur historischen Wortgeographie. Wiss. Z. Univ. Halle. Ges.Sprachw. 8 (1959), S. 695—716. E . von Künßberg, Rechtspradigeographie. Heidelberger SB., Phil.-hist. Kl. 1 9 2 6 - 2 7 , Abt. 1, Heidelberg 1926. M. Asdahl-Holmberg, Studien zu den nd. Handwerkerbezeichnungen des Mittelalters. Lund 1950.

7

W . Neubauer, Deformation isolierter Bezeichnungen. ,Wiederkäuen' in dt. Wortgeographie. D W F Bd. 1, S. 2 9 5 - 5 2 1 .

8

G. Ising, Nd. Jb. 82 (1960), S. 4 1 - 5 8 ; F F 38 (1964), S. 2 4 0 - 2 4 3 ; N d . Wort 5 (1965), S. 1 - 2 0 .

Alte Lexikographie

und moderne

Wortgeographie

51

begründet wurde, ein gemeinsprachlicher Wortschatz sich allmählich über den Wortvorrat der Grundschicht schob und sich eine Vereinheitlichung im Bereich der mittleren und oberen Schichten vollzog unter dem Einfluß der Luthersprache, des Buchdrucks und des humanistischen Schulunterrichts9. Die Geschichte der deutschen Lexikographie ist ein interessantes, aber sehr vernachlässigtes Kapitel der deutschen Philologie, über das nur R. von Raumers Ausführungen in seiner Geschichte der germanischen Philologie und in den letzten 40 Jahren einige Aufsätze von A. Schirokauer zusammenfassende und schnell orientierende Auskunft bieten10. Es fehlen vor allem Monographien über die Wörterbücher und Wörterbuchfamilien, welche die Quellen ausreichend behandeln, die schwierigen Filiationen zwischen ihnen erörtern und eine Kritik des gelieferten Sprachstoffes enthalten. Wenn A. Schirokauer auch vor allem das Werden der Gemeinsprache unter dem Einfluß der Drucker und Setzer (ein Standpunkt, der sich mit dem Karl von Bahders deckt) im Auge hat und auch die Bedeutung der pädagogischen Bestrebungen der Zusammensteller nicht übersieht, so weist er doch mittelbar auf den Wert dieser Wörterbücher für die historische Wortgeographie, wenn er z. B. bei der Behandlung einiger Gefäßnamen bei Dasypodius das Nebeneinander von gemeinoberdeutsdi zuber und geschirr, von schweizerisch-thurgauisch brente aus der Heimat von Dasypodius und von straßburgisch orckel aus dem Druckort bzw. der Arbeitsstätte des gelehrten Schulmannes herausstellt. Dieses Beispiel zeigt zur Genüge, wieviel Vorsicht bei der Deutung der Wörterbuchbelege geboten ist. Das Quellenproblem ist zum größten Teil das der sogenannten lexikalischen Tradition oder des gegenseitigen Abschreibens, wobei es allerdings manchmal schwer hält, die benutzte Quelle ausfindig zu machen: woher hat Dasypodius die niederdeutschen Ausdrücke schornsteyn (Rauchfang) und tonne genommen? Warum hat er sich zur Aufnahme dieser Bezeichnungen und des oberdeutschen schaff (für Kübel) entschieden11? Die Haltung der Wörterbuchverfasser dem mundartlichen Wortschatz und der deutschen Sprache gegenüber, ihre Ansicht vom Deutschen, von dessen Wert und Funktion im Leben der Zeit, müssen mittelbar oder unmittelbar erkannt werden; außerdem ist die Frage nach den Absichten zu stellen, die sie mit ihrem Werk verfolgten. Mundartliches muß vom Umgangssprachlichen, Gemeinsprachlichen und bloß Literarischen oder Wissenschaftsjargon unterschieden werden! 9

K. von Bahder, Zur Wortwahl der frühnhd. Schriftsprache. Heidelberg 1925; A. Schirokauer, Die Anfänge der nhd. Lexikographie, M L Q 6 (1954), S. 71—75; Das Werden der Gemeinsprache im Wörterbuch des Dasypodius. GR. 18 (1943), S. 286— 303; Einige Gefäßnamen des Dasypodius, J E G P h . 44 (1945), S. 74—78; G.Ising, vgl. oben F F und N d . Wort.

10

R. von Raumer, Geschichte der german. Philologie, vorzugsweise in Deutschland. München 1870; H . P a u l , Geschichte der german. Philologie, in: Grundriß der germ. Phil. 1, Straßburg 1901 2 , S. 9—158; A. Schirokauer, vgl. oben 9; G.Ising, Die E r fassung der dt. Sprache des ausgehenden 17. Jhs. in den Wörterbüchern M. Kramers und K. Stielers, Berlin 1956; G. Powitz, Das deutsche Wörterbuch J. L. Frischs, Berlin 1959; Kl. Grubmüller, Vocabularius Exquo, München 1967.

11

A. Schirokauer, J E G P h . 44 (1945), 74, orca; GR. 18 (1943), 299—300, schornstein.



52

Gilbert de Smet

In Deutschland, wo das Interesse für den mundartlichen "Wortschatz auch vorhanden w a r (hier sei nur an Wolfgang Lazius, an Hunger und an die Ergebnisse der ersten Fernbefragung des leider noch immer nicht gebührend gewürdigten Polyhistors Conrad Gesner erinnert) 1 2 , fehlt ein Wörterbuch wie das Etymologicum des Korrektors Kiliaen 1 5 , der in der 2. und 3. Ausgabe seines Dictionariums nicht nur flämische, friesische, seeländische, holländische, sogar Genter, Löwener und Brügger Bezeichnungen namhaft macht, sondern auch sicambrische, d. h. niederrheinische, germanische oder hochdeutsche und sächsische oder niederdeutsche Vokabeln unterscheidet. Daß seine deutschen Angaben, deren Zuverlässigkeit durch eine gründliche Quellenkritik zu überprüfen ist, sogar in der deutschen Wortgeographie Beachtung verdienen, zeigt der in seinem Wörterbuch vorhandene deutsche Wortbestand für die Hebamme, der eine großmaschige und großräumige, sogar schon die Mehrschichtigkeit des Wortschatzes widerspiegelnde Einteilung des deutschen Sprachgebietes erkennen l ä ß t : neben niederdeutsch bademoeme und heve/hevel/moeder und niederrheinisch wijsel moeder kennt er auch den allgemeinen, sich durchsetzenden Ausdruck hef-amme, der z w a r vetus genannt, daneben aber als germ. sax. sie. d. h. gemeinsprachlidi erkannt wird. Die auf der Nebelkarte an der Ost- und Nordseeküste auftretende Bezeichnung däk gilt bei Kiliaen als friesisch und sächsisch ( d a e c k / d a k e ) 1 4 . In den deutschen Wörterbüchern sind mir solche Hinweise auf den mundartlichen Charakter der Wörter, die z. B. auch bei Junius anzutreffen sind und demnach fast als niederländische Eigentümlichkeit betrachtet werden können, nicht begegnet, wenn ich einige vereinzelte Angaben bei Erasmus Alberus aussondere 15 . 12

G. R a t h , K o n r a d Gesner ( 1 5 1 6 — 1 5 6 5 ) . Sonderbeilage zur Dezembernummer 1 9 6 5 der Schweizer Monatshefte, deren Kenntnis ich H e r r n Kollegen P r o f . D r . St. Sonderegger/Züridi verdanke. Eine eingehende und vollständige Darstellung und W ü r d i gung der Verdienste K . Gesners als Linguist steht leider noch aus. Sein Einfluß auf die deutsche und auf die niederländische Lexikographie scheint besonders nachhaltig gewesen zu sein. Vgl. G. De Smet, N d . Mitt. 2 2 ( 1 9 6 6 ) , S. 78 ff. Die zahlreichen M u n d a r t a n g a b e n in den ndl. Wörterbüchern des 1 6 . Jhs. aus der P l a n t i n - G r u p p e gehen vielleicht auf seine (mittelbaren) Anregungen zurück (Historiae A n i m a l i u m ) .

13

C. Kilianus, Etymologicum Teutonicae Linguae sive Dictionnarium teutonico-latinum. A n t v e r p i a e , M D X C I X . Vgl. u. a. G. De Smet, A l b u m E. Blanquaert, Tongeren 1 9 5 8 , S. 1 9 7 - 2 0 8 .

14

H e b a m m e : D W A V ; vgl. M . V i r k k u n e n , Die Bezeichnungen f ü r Hebamme in dt. Wortgeographie, nach Benennungsmotiven untersucht. Gießen 1 9 5 7 . Nebel: D W A II.

15

Erasmus A l b e r u s verzeichnet als sächsisch (saxonicum vocabulum, Saxonibus, -ones, S a x o n u m more) meyg (Reliquium), og (oculus), h a n r e y (qui lectum i. u x o r u m habet communem), w i k (sinum excurrens fluminis, stagni aut maris, nach A . A l t h a m e r ) , ein fibel (ein k l e y n e bibel oder der kleine Catechismus), ich dur (Duro. i. weer. Sic recte Saxones uocant), phaken (offt/Saepe); laß den becher einmal herumb gehen v p der rihe (Circumagamus calicem . . . Lacedaemoniorum et S a x o n u m more); es ist maltz und h o p f f e n v e r l o r e n (Ptisana et lupulus perijt . . . Saxoni p r o v e r b . de homine male frugi). Vgl. auch Gobius . . . Principium coene gobius esse solet. In der Marek heyst mans grundein/ und w a s w i r grundelin nennen/ heißen sie schmerlin.

Alte Lexikographie

und moderne

Wortgeographie

53

Die Aussagen der deutschen lexikographischen Werke der hier berücksichtigten Zeit erhalten ihren Wert für die Wortgeographie hauptsächlich aus gegenseitigem Vergleichen ihrer Angaben sowie aus der Berücksichtigung der Abhängigkeitsverhältnisse der Drucke und der Bearbeitungen. Die moderne deutsche Lexikographie1® setzt mit dem in Straßburg verlegten Dictionarium (Latinogermanicum) des Straßburger Lehrers Dasypodius aus Frauenfeld ein, dessen erster Teil im Jahre 1535 erschienen ist und das zwei Wörterbücher und als Anhang zwei Nomenklatores oder sachlich geordnete Glossarien enthält. Es bringt schweizerdeutsche Ausdrücke des Verfassers, Straßburger Vokabeln des Druck- und Schulortes sowie Wortmaterial aus der ostmitteldeutschen und oberdeutschen Gemeinsprache, dessen Sonderung nicht immer eine leichte Aufgabe ist 17 . Mit diesem Straßburger-Schweizer Wörterbuch läßt sich nun das vereinfachte Schulwörterbuch vergleichen, das der im fränkischen Roßberg gestorbene, in Lehrberg amtierende Pfarrer Joannes Serranus im Jahre 1539 bei Petreius in Nürnberg drucken ließ. Schirokauer meint zwar — und nicht ganz ohne Recht —, daß dieser Dasypodius wörtlich ausgeschrieben habe 18 ; Serranus' Wörterbuch enthält aber einige neue Lemmata und eine nicht geringe Anzahl größerer und kleinerer Abweichungen vom Wortlaut des Straßburger Wörterbuches, so daß die berechtigte Hoffnung besteht, der fränkische Mundartforscher werde hier Serranus' Eigenwortschatz aus Roßfeld, Lehrberg, Nürnberg oder Ansbach erkennen können. Die historische Auswertung dieses Vergleichs der beiden Wörterbücher muß dem Kenner der fränkischen Mundartverhältnisse überlassen bleiben; daß hier für die historische Wortgeographie gutes Material zu finden ist, dürfte nicht zu bezweifeln sein. Die Ergebnisse des Vergleichs für einige im DWA behandelte Begriffe und Sachen seien kurz aufgeführt: Serranus ersetzt küffer durch bütner/bytner, embde durch nachmat! grommat, pfnüsel/schnupffe(n) durch schnuppe!Strauche, (wider)kewen und mowen durch eindrucken, zackern durch ackern. Unter den neuen Interpretamenta, die er den bei Dasypodius vorhandenen hinzufügt, erscheinen mase für die Narbe, hecher für die Elster, kistler für den Schreiner, ayden für den Schwiegersohn, schweinsmuter und sucksaw für das Mutterschwein, das auch lose heißt, glüfle und sperle für Stecknadel, korn neben 18

Unsere historische Darstellung beginnt mit dem ersten .modernen' deutschen W ö r t e r buch, mit Dasypodius' Dictionarium. — W . Mitzka widmete im N d . J b . 82 ( 1 9 5 9 ) , S. 175—180 dem mundartlichen Wortschatz des Teuthonista von G. van der Schueren ( 1 4 7 7 ) einen klärenden Aufsatz. Die (handschriftlichen) Quellen dieses Klever W ö r t e r buchs sind noch nicht untersucht worden. Die Geschichte der frühen Wörterbücher, über die A . Schirokauer und D . H . S. Bellaard kurz berichten, ist noch zu schreiben.

17

Vgl. die Aufsätze von A . Schirokauer und die Akademie-Abhandlung von R. Verdeyen, P . Dasypodius en A . Schorns. Lüttich 1959.

18

A. Schirokauer, M L Q 6 ( 1 9 4 5 ) , S. 74. Diese wichtige Quelle wird in E . Straßners A u f satz Die Wortforschung in Franken seit dem 18. Jh., Jahrbuch für fränkische Landesforschung 2 5 ( 1 9 6 5 ) , S. 4 6 3 — 5 3 0 nicht erwähnt.

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Gilbert de Smet

weitzen! rocken für siligo, ahorn für den Ahorn. Bestimmten Ausdrücken geht er anscheinend bewußt aus dem Wege: kloß für den Kreisel, schär/schermauß für den Maulwurf, sparn für den Spatz, kachler für den Töpfer, reckholtervogel für Drossel, einpfropffung und sprossung für impfen, schornstein und kem(m)et (mit t) für den Rauchfang. Es kann weiter hingewiesen werden auf bStzig für „rejectamenta", auf die Tatsache, daß nur muck für „musca" erscheint, das bei Dasypodius auch durch fliege übersetzt wird, genauso wie schnock die einzige Übertragung für „culex" ist, das Dasypodius auch durch muck übersetzt. Wichtig ist auch, daß ancke ein Mehrinterpretament für „occiput (posterior pars capitis bzw. colli)" ist und daß das neue Lemma „buccula" durch ein iunge ku/kalbel oder zeit knie verdeutscht wird; die beiden letzten Ausdrücke sind auch Mehrglossierungen zu „juvenca", für das Dasypodius nur ein iunge dirn hat. Gerade dieser letzte Fall zeigt, wie Serranus' Wortschatz sich manchmal mit den Vorkommen auf den WA-Karten deckt. Es seien einige andere Fälle angeführt, die noch nicht mit dem WA verglichen werden konnten, die aber kennzeichnend sind für den Wortschatz von Serranus, der u. a. wohl stute schon normal gebraucht hat und eine besondere Vorliebe für pferd (equus), losnen (audire), behende (schnell), langwirig, glitzen (glänzen) und hlerren (brüllen) — alles Ausdrücke, die häufiger vorkommen — zu haben scheint. Andere ihm eigentümliche Vokabeln sind schonbrot (artologanus panis), rSselwurst und sewsack (apexabo: Das.: blutwurst/roßwurst), styglitz, beffzen (für bellen), maßgang (für Arschdarm), reeden (für sieben), wantzlaus (Wanze), gotßacker (Friedhof), kalter (für Kelter) neben trottldorgkel (torcula), ramlen (brünstig sein), pflugeysen (Pflugschar), drute (Hexe) sense (Sense: Das.: sagiß, meeg), hinnelen (wiehern), fatzen und jatzman (ludio und ludifico), miststaet und hewstadel, Weyher (Teich), eschelbaum (Esche), klepper (mit pp, für crepitaculum), zetzen (für lactare: seugen/anreitzen/zetzen/betriegen), gelung (für extra: Eingeweide), preßspindel (statt drottenspindel), bausch ringk (für den Ring, welchen die Frauen zum Tragen von Lasten auf dem Kopf haben, Das.: hurdel), styp/stypen (für Gewürz und würzen), trage, wefel und zetel für die Webinstrumente (liciatorium: Das.: gereyßholtz — Ser.: ein trage/ oder weberredlin! damit man den wefel durch den zetel scheist), erstockt blut (für stocken, gerinnen). Das ist alles nur eine Auswahl. Es ist nicht zu leugnen, daß die Quellenfrage mit Schirokauers Feststellung nicht endgültig gelöst ist und daß nach anderen Quellen noch geforscht werden muß (etwa in den beiden Nürnberger Wörterbüchern der vorhergehenden Jahrzehnte: Zeninger und Nomenclatura). Ich hoffe aber, gezeigt zu haben, daß die fränkische Wortforschung Serranus' Wörterbuch zu befragen hat und in diesem Wörterbuch einen nicht unbedeutenden Zeugen findet, der für die historische Wortforschung nicht übergangen werden darf. Neben Dasypodius steht das fast gleichaltrige Novum Dictionarii Genus des aus Bruchenbrücken/Wetterau gebürtigen Hessen Erasmus Alberus. Auf die Bedeutung dieses nach dem Wortauslaut geordneten Wörterbuches, das in Frank-

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furt 1540 gedruckt wurde, hat Mitzka 1 9 noch vor kurzem hingewiesen und erneutes Studium dieses wichtigen lexikographischen Werkes gefordert. Wenn es auch Einflüsse der in der hessischen Oberschicht geltenden Umgangs- und Gemeinsprache aufweist, scheint es doch f ü r die Erfassung des hessischen Wortschatzes (Sprendlingen oder Marburg!) durch seinen ziemlich selbständigen Charakter gute Dienste leisten zu können. Wichtig ist die Schweizer Gruppe aus Froschauers Züricher Officina, die an die französischen Wörterbücher des berühmten Humanisten und Druckers Stephanus (Estienne, Dictionarium seu latinae linguae Thesaurus, 1531 —, Dictionarium latinogallicum, 1538) anknüpft, und an deren Entstehung Gesner einen bedeutenden Anteil hatte. Nach Schirokauer kann Einfluß von Dasypodius nachgewiesen werden. 1451 übersetzten Joannes Frisius und Petrus Cholinus das französische Wörterbuch (1538) ins Deutsche, in die in „Deutschland allgemein übliche und den Schweizern und den Oberdeutschen gemeinsame Sprache". Im Jahre 1556 entsteht daraus das Dictionarium Latinogermanicum, das Frisius als alleinigen Verfasser nennt: der große Frisius, der großen Erfolg hatte. Frisius hatte schon 1548 ein dreisprachiges lat.-franz.-deutsches Dictionariolum verfaßt, eigentlich eine deutsche Übersetzung des lat.-franz. Dictionariolum puerorum des Stephanus. Im Jahre 1556 erschien dann sein N o v u m Dictionariolum puerorum latinogermanicum et e diverso germanicolatinum, ein Schulwörterbuch, das auf Stephanus' Dictionariolum fußt und dessen viel weniger umfangreicher deutsch-lateinischer Teil nicht von Frisius, sondern von einem fleißigen und sehr guten Freund aus dem lat.-deutschen Wörterbuch zusammengestellt worden war. Es enthält weiter, wie Dasypodius' Lexikon, zwei Nomenklatores als Anhang zu jedem Teil. Wichtig ist die Mitteilung, daß »non nostra sed communi teutonicae linguae dialecto usus esse", was sich allerdings vor allem auf die Durchführung der Diphthongierung von I, ü und iu zu beziehen scheint 20 . Als Abschluß und Krönung dieser Schweizer Gruppe hat Josua Maalers „Die Teütsch Spraach" aus dem Jahre 1561 zu gelten, das erste richtige deutsche Wörterbuch der Neueren Zeit, das wirklich vom Deutschen ausgeht. Eigentlich ist es eine Umkehrung des großen Wörterbuches von Frisius, der man deswegen auch wenig Originalität zuerkennt und mit welcher der Anreger, Conrad Gesner, nicht ganz zufrieden war. D a s Wörterbuch, das die bei den Hochdeutschen und 19

W. M i t z k a , 2 M F 29 (1962), S. 4 3 - 4 8 ; vgl. A D B 8, S. 1 0 5 - 1 0 7 .

20

In dem Wernher Steiner gewidmeten V o r w o r t der A u s g a b e v o n 1541 heißt es: sed etiam lingua in G e r m a n i a superiori usu m a x i m e recepta, et Helvetiis simul ac Germanis communissima; ita ut neutrius gentis idiomata, q u a n d o communis liber futurus esset, nimium addicti videremur. Im V o r w o r t des D i c t i o n a r i o l u m aus dem J a h r e 1556 w a r n t Frisius den Leser: H i c q u o q u e obiter pueros monendos censui, nos non nostra, sed communi teutonicae linguae dialecto usus esse. P r o V ergo simplici vocali aut diphthongus, p r o I vel y, ei vel ey diphthongi q u a e r e n d a e erunt . . . : quae enim v o c a b u l a in nostra dialecto a simplici vocali, ea communi G e r m a n i c a e linguae dialecto a diphthongo p l e r u m q u e inchoantur: ut cum in nostra dialecto dicimus V z f ü r e n / u f s t o n : communis dialectus habet auszffiren/aufston . . . ifer vel eyfer/ et iferen vel yferen . . . eifer vel eyfer . . .

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Schweizern gebräuchlichen Wörter enthält 2 1 , hat auf die Entstehung des ersten niederländischen Wörterbuches, des Thesaurus theutonicae linguae (1573) aus der Antwerpener Officina Plantiniana, großen Einfluß ausgeübt. Ein letzter Ausläufer der Schweizer Gruppe ist das 1586 bei Rihelius in Straßburg erschienene lat.-deutsch-griechische Lexikon trilingue ex Thesauro Roberti Stephani et Dictionario J. Frisii . . . collectum, an dem David Schellingius und der Wetterauer Helfricus Emmelius 22 mitgearbeitet haben. Die Straßburger betrachteten Frisius' Ausdrücke keineswegs als gemeindeutsch und behaupten von sich selbst, „Germanica olim a Frisio non sine causa ad Helveticum idioma . . . redacta: nos in puram usitatam, et ab omni peregrino dicendi scribendique genere liberam dialectum in communem usum omnium Germanicae linguae studiosorum transtulisse". Auch dieses Wörterbuch hat einen Index germanico-latinus. Es enthält Ausdrücke, die der wortgeographischen Deutung Schwierigkeiten bereiten. Maaler, Frisius und Dasypodius verzeichnen f ü r foenum cordum (Grummet) 2 3 den zu erwartenden südwestlichen Ausdruck embd(e), Alberus dagegen kennt das hessische grummet. Sprendlingen liegt gerade nördlich der heutigen ohmed-grummet-Grenze südlich von F r a n k f u r t ; möglich ist auch, daß er den normalhessischen Ausdruck gewählt hat, so daß der Befund nicht notwendigerweise zu dem Schluß führen muß, daß im 16. Jh. diese Grenze in der Frankfurter Gegend schon den gleichen Verlauf hatte wie heute. Rihels Straßburger Lexicon Trilingue aus dem obmd-Cebiet bucht auffälligerweise grumet (embd habe ich nicht gefunden)! Gehört dieser Ausdruck dem communis dialectus an, etwa der ostmitteldeutschen Schriftsprache oder der südöstlichen Ausformung der Reichssprache, falls der vorher zitierte lateinische Text des Vorworts überhaupt so gedeutet werden darf? Oder stammt er aus dem Mundartwortschatz des Emmelius, dessen Geburtsort Wombach und Schulort Alzenau grummet sagen? Für das M u t t e r s c h w e i n 2 4 kennen die südwestlichen Wörterbücher neben dem allgemeinen Ausdruck mutterschwein sowohl das oberdeutsche mor wie auch das in der Pfalz und in der Ostschweiz geläufige loos. Wenn nun das Lexicon trilingue neben den drei genannten Bezeichnungen auch die Bezeichnung mock nennt, die Alberus' einzige hessische Form ist, dann möchte man auf Einfluß von Emmelius schließen, wenn dieses Wort in dessen eigenem Nomenklator (vgl. unten) nicht gerade fehlte. D a dieses Wort kaum als gemeinsprachlich betrachtet werden kann, wird man wohl mit einem hessischen Einschlag in diesem Straßburger-Schweizer Wörterbuch zu rechnen haben. Ein anders geartetes Problem bildet eine Bezeichnung f ü r das G e n i e k 2 5 in den bisher behandelten Wörterbüchern. Dasypodius übersetzt cervix: Das Ge21 22

23 24 25

Germanicae linguae dictiones, a superioribus Germanis et Helvetiis usurpatae . . . Über H. Emmelius vgl. unten. David Sdhellingius haben wir nicht identifizieren können. D W A I; G. Ruppenthal, Der zweite Grasschnitt in deutscher Synonymik. Gießen 1950. D W A IV und VII. D W A IV; E. Knetschke, Genick und Knöchel in dt. Wortgeographie. Gießen 1956.

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nick / die schwärt / hintertheil des halß. Schwärt begegnet nicht nur im sog. kleinen Frisius, der die Vokabel aus dem Buch seines Vorgängers und Landsmannes haben dürfte, sondern auch bei Erasmus Alberus: die schwärt / das gnick. H a t er sich den Ausdruck bei Dasypodius geholt oder gehen beide auf die gleiche Quelle zurück? Der D W A (Bd. IV) kennt die Bezeichnung, die als sekundärer Name einmal größere Verbreitung gekannt haben muß, nur aus zwei Dörfern zwischen Apolda und Erfurt und aus der Umgebung von GroßStrelitz (bei Oppeln in Oberschlesien). Daß Albertus anke nicht verzeichnet, darf nebenbei vermerkt werden; Serranus kennt dieses Wort aber und bringt es als neues Interpretament. Der Wortvorrat des ebenfalls in der Schweiz veröffentlichten vielsprachigen Wörterbuchs von Calepinus, das erstmals auch deutsche Ubersetzungen enthält, ist bisher von den Germanisten und Lexikographen des Deutschen kaum beachtet worden. Im J a h r e 1568 gab der Baseler Drucker Heinrich Petri das Dictionarium Hexaglottum Ambrosii Calepini heraus, in dem die lateinischen Lemmata nicht nur durch griechische, italienische, französische und spanische, sondern auch durch deutsche Interpretamenta erklärt werden. Diese deutschen Entsprechungen hatte der Baseler Pfarrer und Professor Christian Wurstisen (Liestal 1544—Basel 1588), der Verfasser einer bekannten Baseler Chronik, beigesteuert ( G e r m a n o s Ulis iunxit Wurstisius)26. Er hatte sie nicht, wie man erwarten könnte, dem Antwerpener Pentaglottos (1545) entnommen, der buchstäblich Dasypodius'Wörterbuch ausgeplündert hatte; dieser südniederländische Calepinus w a r allerdings viel weniger umfangreich als die Baseler Folioausgabe und hatte nur einen Bruchteil der in der Baseler Ausgabe vorhandenen lateinischen Lemmata verdeutscht. Über die Quellen seiner deutschen Ubersetzungen schweigt sich Wurstisen aus. Sie stehen selbstverständlich dem Wortgebrauch der Züricher Wörterbuchgruppe aus Froschauers officina manchmal ziemlich nahe, weisen aber auch bedeutende Unterschiede auf, so daß eine Untersuchung nach ihrer Herkunft und nach ihrem Wert für die deutsche und schweizerische Wortforschung eine lohnende Aufgabe sein wird. Reicheres und geeigneteres Wortmaterial bietet eine andere Reihe von Wörterbüchern, die eigentlich im Dienste des lateinischen Sprachunterrichts und der Sprachrichtigkeit, der sog. copia verborum, stehen. Ihre Verbreitung und ihre Verwandtschaftsverhältnisse gestatten eine bessere und zuverlässigere Auskunft. Die Bedeutung der gemeinsprachlichen Bewegung ist für die Nomenciatores, die sachlich geordneten Vokabularien aus der 2. H ä l f t e des 16. Jahrhunderts, weniger groß als für die Wörterbücher, weil sie — für die Jugendlichen bestimmt — dem mundartlichen Normalwortschatz stärker Rechnung tragen mußten. Wo sie übrigens auf das Deutsche zu sprechen kommen, weisen die Autoren nicht auf den communis dialectus, sondern vielmehr auf den regionalen Sprachgebrauch hin. All diese Lexika, die hauptsächlich den Substantivbestand gliedern, hängen irgendwie mit dem berühmten Nomenciator omnium rerum des hollän28

G. De Smet, Nd. Mitt. 22 (1966), S. 75-77.

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dischen Humanisten Hadrianus Junius zusammen. Dieses Buch, das 1567 bei Plantin in Antwerpen erschien, enthält auch ein deutsches Wörterbuch; es ist vielleicht durch Gesners Vorwort in Maalers Wörterbuch angeregt worden, in dem dieser nun die Schaffung eines nach Sachgruppen gegliederten Wörterbuchs für notwendig erklärte. Junius, der Gesners zoologische Schriften gründlich herangezogen hat, ist den Wörterbüchern der Schweizer Gruppe stark verpflichtet. Sein Wörterbuch hatte in Deutschland großen Erfolg und wurde dort nicht nur nachgedruckt, sondern auch in zweisprachigen Ausgaben auf den M a r k t gebracht. Schon im J a h r e 1571 veröffentlichte der aus dem Erzgebirge

stammende

R e k t o r der Fürstenschule in Grimma, Adam Siber, der sich auch in Zwickau, Annaberg, H a l l e und Chemnitz aufgehalten hatte, einen deutschen Auszug. Manchmal hat er Junius' deutschen T e x t verändert: 1. indem er bestimmte Wörter nicht aufnahm, etwa bruntz Gelenk, hauptschüssel

und bruntzwasser

für Hirnschale, schwarte

für Urin, gleichlin

2. indem er Junius' Ausdrücke durch andere ersetzte wie krospel statt lippe statt lefftze, ziege statt geiss, ferckel statt ferlin, macher

statt wagenmacher.

für

für Genick, stutt für Mähre; knorpel,

blase statt blatter,

Stell-

Wichtiger ist es allerdings, daß sein Wörterbuch

eine ganze Anzahl mit einem Sternchen versehener Lemmata und Interpretationen enthält: von den deutschen heißt es „germanica vero ad dialecti nostrae rationem et consuetudinem sunt m u t a t a " , was eine Reihe obersächsischer Ausdrücke verspricht. Dazu gehören gaum, sawmutter,

bachsteltze, rosskefer,

tischer, butner,

tSpffer.

kniekehl,

molckendieb,

schaffrode,

ziege,

qualster, ohrling, astel,

sewigel, schnuppe,

Nach F. Ludin 2 7 , der diesem Wörterbuch seine Disser-

tation gewidmet hat, enthält die 2. Auflage noch mehr meißnisches Wortgut. Noch im gleichen J a h r erschien in Augsburg eine Bearbeitung von Matthias Schenckius, der in Konstanz geboren wurde und über Isny und Konstanz nach Augsburg gekommen war. D a er ausdrücklich darauf hinweist, daß es notwendig gewesen sei, „dialectum missnicam, qua est ille pro gentis suae more usus mutare in nostram suevicam", darf man die Abweichungen vom Wortgebrauch der V o r lage (Siber) als Augsburger (bzw. Konstanzer) Ausdrücke betrachten. U m den Eigenwortschatz dieses Nomenklators zu charakterisieren und um seine Bedeutung für die Kenntnis des Augsburger Wortschatzes um 1570 herauszustellen, seien hier aus ein paar Sachbereichen die wichtigsten Abweichungen verzeichnet. A u f dem Gebiet der T i e r namen geht aus dem Vergleich Siber — Schenckius hervor, daß gaiß und roß die Normalbezeichnungen sind; münch tritt an Stelle von reus (canterius), stut steht für merh ferckel, 27

während die Zusätze stellhengst

(Sib.: mehre),

neben springhengst

saugfegglin

für sug-

und los neben satt-

F. Ludin, Sibers Bearbeitung des Nomenciator H. Junii. Diss. Freiburg 1898. Ober das für die europäische Lexikographie so wichtige vielsprachige Wörterbuch des niederländischen Arztes fehlen grundlegende Untersuchungen. Vgl. F. Ludin, G. De Smet, Nd. Mitt. 22 (1966) und De Witt T. Starnes, Renaissance Dictionaries. Austin 1954.

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und moderne

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Wortgeographie

deutliche Auskunft geben. Aus dem Bereich der V o g e l n a m e n

die neuen Bezeichnungen

rotkrepflin,

waldrötelin,

kautz,

genannt, die alte ersetzen, ebenso wie die Mehrbezeichnungen stiglitz,

widewol,

Insekten selmling

speiren,

plochtaube,

und R e p t i l i e n

statt forehl,

spatz,

älster,

fallen froschlaich

pfiffholter

neben flieg, imme neben bin, sowie orenmitzel

wassersteltz,

zaunküniglin.

Bei

statt kaulkrotten,

und sommervogel

den

salmen

statt molckendieb,

und katkefer

seien

zaunschlüpfferlin

/

mugg

neben roßkäfer

auf.

Aus dem Bereich der L a n d w i r t s c h a f t ist manches zu verzeichnen, z. B. die Mehrglossierungen getraid

zu fruges, griisch neben kleyen,

speit, haiden neben fuchsschwantz

dinckel

neben

(panicum), gmus neben hülsenfrucht.

Ersatz-

interpretamente sind werben/das

Heu umbkehren

statt wenden,

statt trespe,

mies statt moß,

aber auch heuschober

mad statt schwade,

schock statt brechschober,

geitz

statt pflugstertz,

seges statt sense,

strigel und gaisel statt hu ff eisen, roß kämpf und peitzsche; geben

wird zu haber

beltzen

vnnd

gsod geben,

lülch/unkraut

habern und

oder

roßeisen, heckerling

während serere surculos (neu) durch

wiedergegeben wird und dem Interpretament wisen (pratum) nun auch

matten und anger zugefügt werden. Unter den K r a n k h e i t s bezeichnungen seien genannt: schretelein und nachtmenlin statt alp, schnuder und Sträuchen statt schnuppe, hesch statt schluck, das wolcken im hals statt kröte im halse; der tropff tritt neben schlag, ebenso wie rotschad neben rote rur, das gesegnet neben rotlauff (erysepilas) und schHatten neben striem. Was die P e r s o n e n bezeichnungen angeht, ist hinzuweisen auf statt kirchner/küster,

kistler statt tischer, wagner

scheffler statt butner,

hafner statt töpffer;

pfister neben brotbeck, schreiner

metzger

neben Zimmermann,

kieffer/

als zweite Bezeichnungen treten auf:

neben fleischhacker, nachrichter gastgeb neben wirt und pfarrherr

Selbstverständlich dürfen hier castron-

mesner

statt radt/Stellmacher,

für schSps-(fleisch),

neben

hencker,

neben

pastor.

aftermontag

dingstag nicht vergessen werden, während der Ersatz von schnür durch

statt

svnsfraw

ebenfalls interessantes Licht auf die Arbeitsweise des Augsburgers fallen läßt. D e r Zeugniswert der Kölner Bearbeitung, die aus der Officina des P . Horst im J a h r e 1588 hervorgegangen ist, ist nicht sehr groß, weil sie ganz kritiklos verfährt; sie druckt alle Glossen des Junius ab und nimmt fast alle meißnischen Wörter des Siber auf. Allerdings verdienen neue Ausdrücke Beachtung, u. a. augbremen

für die Wimpern, misch

für Mistkäfer, ramein

für Spatz, gudestag

für Mittwoch,

für brünstig sein, lad für Sarg, hennentäster

tränt

(curruca)

und patte. Solche Fälle sind aber leider nicht sehr zahlreich. Durch Junius angeregt und ihm auch stark verpflichtet ist das Onomasticon latino-germanicum,

das der Straßburger

Schulmann

Theophilus Golius

im

J a h r e 1579 verfaßte und bei Rihelius veröffentlichte 2 8 . Den Eigenwortschatz 28

E . Martin, Die dt. L e x i k o g r a p h i e im Elsaß. Straßburger Festschrift zur 4 6 . V e r s a m m lung dt. Philologen und Schulmänner. Straßburg 1 9 0 1 .

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Gilbert de Smet

des Verfassers, der Junius, aber auch die Schweizer Wörterbücher und Dasypodius gekannt hat, erfaßt man leicht durch einen Vergleich mit diesen Quellen. Das Straßburger Namenbuch wurde 1582 unter neuer Berücksichtigung des Juniusschen Nomenciators wieder zu einem Nomenklator, diesmal latino-saxonicus, umgearbeitet, und zwar von dem in der Pfalz geborenen Schwaben N a t h a n Chytraeus, der an der Rostocker Universität lehrte und sich in der Ostseestadt gut eingebürgert hatte 2 9 . Chytraeus schätzte nicht nur das Niederdeutsche, sondern er hat sich auch Mühe gegeben, Golius' Bezeichnungen durch die „propria et his nostris regionibus usitatissima vocabula" zu ersetzen. Hier seien ein paar der ihm eigentümlichen Vokabeln genannt: bulle (G.: stier/farr/ brummer), móder (G.: merr/stuth/gurr), thunkSninck (G.: kiiniglinlzaunschläp ff erlin/goldhänlin), schnitker und disscher (G.: Schreiner)-, er kennt f ü r saltuarius und typische nordostniederdeutsche Ausdrücke wie heydtryder hSlting f ü r arbustum/arboretum und eigentümlich movierte Feminina vom Typus weverscbe, mollersche, pypersche. Die Auflagen, die in Hamburg, Greifswald und Lübeck erschienen, verzeichnen nur ausnahmsweise neues Gut; die dritte aber, die 1590 in Lemgo veröffentlicht wurde, ist eine Fundgrube Lemgoer Wortgutes, weil der Bearbeiter trotz seines Bekenntnisses zur sächsischen Einheit im Bewußtsein der bestehenden Mundartunterschiede und aus Rücksicht auf die heimischen Schulen „vocabula germanica ad huius et vicinarum locorum usus" verzeichnet haben will. Einige alte Ausdrücke werden weggelassen, andere werden leicht umgewandelt und dem ostwestfälischen Sprachgewand angeglichen. Häufiger werden aber neue Übersetzungen hinzugefügt, während auch eine ganze Reihe neuer Lemmata aufgenommen wurde. Ausgelassen werden: heydtryder (saltuarius) wagenspeer (tympanum), wyhe (vultur). Verändert werden: pStter zu pStker, hoter zu hotker, tweseken zu tweeling, huckup zu sluckup, wagentrade zu wagentrane. Hinzugefügt werden: grepe f ü r Mistgabel, korffseisse f ü r seyse mit einem r e f f , schnate, schnatstein f ü r Rain/Ackerrain, brinck f ü r Hügel, mey f ü r Frühling, melcklSpen f ü r Milchkübel, water/tredde f ü r Ackerwalze, greuinck f ü r Dachs, schenckel f ü r Bein, flege/wympelse f ü r Schleier, weiter roßkam, varre, nettelenkSninck, sprein und hépper. Neue Lemmata und neue Verdeutschungen sind u. a. gerstenkorn im oge, lobben Hmme den halß, laterboem (longur), sochfickelen (Spanferkel), de soede (ardor stomachi), surdeig (fermentum). Obwohl Nicodemus Frischlin auf den Wortreichtum der deutschen Sprache Bezug nimmt, war es hauptsächlich die Überlegung „quod nihil enim est, quod cursum Latinitatis magis remoretur, quam ignorantia propriorum et idoneorum vocabulorum", die ihn zur Bearbeitung und Herstellung eines neuen Nomenclátor Trilinguis Graecolatinogermanicus im Jahre 1586 veranlaßte' 0 . Frischlin kannte Junius, den er sehr schätzte; sein Nomenklator hat aber eine 29

G. De Smet, ZMF 26 (1958), S. 1 7 2 - 1 8 5 ; N d . Jb. 83 (1960), S. 5 9 - 6 6 ; N d . Wort 1 (1960), S. 6 8 - 7 4 .

30

D. F. Strauß, Leben und Schriften des Dichters und Philologen N . F. Frankfurt 1856; G. Bebermeyer, Tübinger Dichterhumanisten. Tübingen 1927.

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Lexikographie

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andere A n o r d n u n g , u n d z w a r nach Aristoteles' Kategorien. Eine gründliche Quellenuntersuchung, die die Angaben des Vorwortes zu verwerten hat, tut n o t ; im großen u n d ganzen macht das Wörterbuch einen ziemlich selbständigen Eindruck. Frischlin w a r Schwabe, das V o r w o r t ist aber den hessischen L a n d grafen Wilhelm, Ludwig u n d Georg zugeeignet, die erste Ausgabe des dreisprachigen Wörterbuchs w u r d e bei Joannes Spies in F r a n k f u r t am Main gedruckt, w o auch die vierte Auflage, die anfänglich f ü r diesen Beitrag benutzt wurde, erschienen ist. Diese enthält auf der Titelseite den Hinweis „quarto iam, n o v a vocabulorum germanicorum hisce in regionibus usitatorum accessione recognitum". G r o ß sind die Unterschiede zwischen den beiden F r a n k f u r t e r Ausgaben gewiß nicht, aber ein p a a r Stichproben zeigen, d a ß ein ausführlicher Vergleich sich lohnen d ü r f t e . Von etwa 70 ausgewählten Fällen weisen nicht weniger als 11 zum Teil nicht unwichtige Unterschiede auf, d a r u n t e r zum Beispiel nun döpffer neben ha ff ner/offner, Sonnabend, neben sambstag {pfingstag neben donnerstag w i r d ausgelassen), schab neben malwurm (blatta), farcklin neben schweinlin, geyßlin neben kitze, johannskefer neben nachmúck, fewerkefer. Besonders interessant ist der Unterschied zwischen der ersten Ausgabe mit scrofa: tausch / mutterschwein / loß / mer u n d der neuen, die z w a r mer (wohl mor) aufgibt aber neben tausch / mutterschwein / looß n u n auch kosel / säckin / muck a u f n i m m t . Die Quellenuntersuchung w i r d nachzuweisen haben, w a r u m man in F r a n k f u r t diese 3 neuen Bezeichnungen aufgenommen h a t ; muck ist allerdings die hessische Form u n d auch mit döpffer, Sonnabend, }ärcklin u n d geißlin w i r d nördliches W o r t g u t in das Wörterbuch aufgenommen. Mit hessischen Einflüssen ist in dieser neuen Auflage gewiß zu rechnen. Kennzeichnend f ü r den Wortschatz von Frischlins W e r k sind u. a. hart f ü r glabretum, hewbarn f ü r foenile, ackerung f ü r aratio, sage u n d habernsege f ü r Sense, empten u n d vor allem be(l)tzen f ü r veredeln, schnür u n d sSnin f ü r Schwiegertochter, pfingstag (neben donnerstag), schnuder / schnuppe f ü r K a t a r r h . Frischlins Angaben gewinnen an W e r t u n d Aussagekraft durch die Tatsache, d a ß der schon im Zusammenhang mit dem Lexicón trilingüe genannte Hesse Elfricus Emmelius aus Wombach in der Wetterau, ein bedeutender Lexikograph, dessen Leistungen bislang zu wenig Beachtung gefunden haben, seinem 1592 erschienenen N o m e n c i a t o r quadrilinguis latinogermanicograecogallicus das W e r k des schwäbischen H u m a n i s t e n zugrunde gelegt hat. Emmel, der Schullehrer in Alzenau w a r u n d neben dem schon behandelten Wörterbuch aus der Züricher Überlieferung auch noch ein ausführliches Wörterbuch Sylva quinquelinguis (1592) veröffentlicht 3 1 , ließ den N o m e n k l a t o r wie seine übrigen lexikographischen Arbeiten bei Rihelius in Straßburg erscheinen. Z w a r läßt er weder über seine Sprache noch über sein Verhältnis zu Frischlin etwas verlauten, doch zeigt ein Vergleich, d a ß viele Fäden seinen N o m e n k l a t o r mit Frischlins W e r k verbinden. H a t er auch den Stoff etwas anders gegliedert u n d 31

E. Schwentner, Beitr. 50 (1927), S. 1 4 9 - 1 5 2 ; K. Helm, Beitr. 52 (1928), S. 151.

H . H e l d , Beitr. 51 (1927), S. 303;

Gilbert de Smet

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manchmal auch erweitert, die Reihenfolge der Kapitel, die Anordnung der Lemmata innerhalb der Kapitel und die Ubersetzungen verraten jedoch noch deutlich, wie stark er auf Frischlins W e r k fußt. Allerdings wird er auch noch andere Quellen, etwa Junius und Golius benutzt haben. E r meidet: stadel, zweyfalter, E r ersetzt: felbengestäud hewbun,

ackerung

binenstandt

durch bienstock,

durch sommervogel. zu häpe / pfalhäpe, Schnitter, foenaria:

(aratio)

muck (für Fliege), roßbrem

durch weidengestäud durch

zuckeren,

roßkeffer

und

weftz.

(salicetum), hewbarn

kragen

(fócale)

durch

durch mist- oder kaatkäfer,

E r fügt hinzu: geitze zu pflugsterz busen zu geer, meilanischer

durch collar,

zweyfalter

/ handhab,

käfer zu goltkeffer,

hagmesser erndter

zu

und bringt eine große Anzahl neuer Lemmata, darunter u. a. f a l x sense / segeisen;

acus

Cantharis rubea: Unser frawen

babylonica: kñhlin

Stichnadel,

esquille

a

piquer;

oder roter käfer\ volvolus: walholtz /

waltze. Durch vorsichtige Einbeziehung der Nomenklatoren läßt sich ein vorläufiger und grobmaschiger wortgeographischer Querschnitt für die zweite H ä l f t e des 16. Jahrhunderts gewinnen, dem eigentlich nur Angaben aus dem Nordwesten und dem Südosten des deutschen Sprachgebietes fehlen. D e r Süden und Südwesten sind vertreten durch die Schweiz, durch S t r a ß burg, durch Schwaben und Augsburg, durch Nürnberg und Ansbach; Mitteldeutschland durch Hessen (Sprendlingen, Frankfurt, Wombach), durch Meißen (Obersachsen) und in geringerem M a ß e auch durch K ö l n . Niederdeutschland schließlich ist durch Rostock und Lemgo vertreten. Gewiß ließen sich noch andere Wörterbücher heranziehen, so z. B . der Nürnberger Druck von Peypus' Nomenclatura aus dem J a h r e 1530. Noch eine dritte Quellengruppe, die den Nomenklatoren sehr ähnlich ist und ihnen gewiß vorgearbeitet hat, verdient die Aufmerksamkeit

der

Lexiko-

graphen: die Schulbücher, die sich weniger hohe Ziele gesteckt hatten als die späteren Nomenklatoren und gewiß noch mehr als diese auf den Grundwortschatz der jungen Schüler Bezug nehmen. Hier wäre z. B . die berühmte Pappa puerorum des in Münster und Deventer wirkenden Humanisten

Johannes

Murmellius zu nennen, deren erster Teil ein Nomenclátor war 3 2 . D e r W o r t schatz der Kölner Erstausgabe aus dem J a h r e 1513 ist bisher ebensowenig untersucht worden wie der Wortbestand der späteren Ausgaben, die in Lübeck, Mainz, Basel und anderen deutschen Druckerstädten veröffentlicht wurden und ohne Zweifel eigenes Wortmaterial enthalten. D e r Mainzer Druck (Scheffler 52

D. Reichling, Joh. Murmellius. Sein Leben und seine Werke. Freiburg 1880; A. Börner, Ausgewählte Werke des Münsterschen Humanisten J. Murmellius. Münster 1894. Die vergleichende Ausgabe der Pappa Puerorum (A. Börner, Heft 4) enthält leider nicht den Nomenklator. Reichling erwähnt nicht weniger als 32 vollständige Ausgaben mit erstem Teil. Börners (unvollständige) Ausgabe berücksichtigt 8 Drucke bis 1517 (Köln, Deventer, Lübeck, Basel). Wir benutzten die Mainzer Ausgabe in einem Exemplar der UB Gent (BL 735).

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Wortgeographie

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— 1537), der u. a. mor für Sau, münch für Wallach, widhopff oder kothan für upupa, heusprenckel oder heuschreck verzeichnet, enthält die für die Kenntnis der Getreidebezeichnungen interessante Bemerkung: Triticum: weitz oder rock; Tritici enim complura sunt genera, teste Columella. Siligo, weitz, tametsi vulgus rocken existimet (S. 84). Ähnlich verhält es sich mit dem 1552 im berühmten Druckerzentrum Antwerpen in niederländischer Sprache veröffentlichten Tyrocynium latinae linguae des aus dem Wageninger Gebiet stammenden Schulmannes Petrus Apherdianus33. Im Jahre 1575 erschien in Köln eine Ausgabe, die auf dem Titelblatt den Vermerk „accessit (nunc primum) dictionum et phrasium germanica interpretatio" trägt, dem in der Ausgabe vom Jahre 1579 der Hinweis ,per M. P.' hinzugefügt wurde. Diese deutsche Fassung des Wörterbuchs des Harderwijker Schulrektors, das auch der niederländischen Lexikographie unbekannt geblieben war, weist starke süddeutsche Einflüsse auf, die es zu einem geeigneten Gegenstand für Untersuchungen über die hochdeutsche Druckersprache in Köln machen. Veredeln heißt impffen / lössen / pfroffen; der Holunder heißt reck /oder wacholderbaum, die Biene bynle / ymble, der Töpfer haffner / kachler, was ohne Zweifel Einfluß der südwestdeutschen Wörterbücher verrät. Demgegenüber stehen aber geflutte milch statt roombde melk der niederländischen Vorlage; hoy / schotte / käßwasser für serum, wey\ lüchtenmacher für laternarius; godestag statt und neben mittwoch, metzer für Maurer, markolff neben heher, m&sch neben spatz, merrle neben amsel. Neben junge khu steht mahel, das in der niederländischen Ausgabe fehlt ebenso wie taubhorn neben kuter für die männliche Taube. Hier kann auf die Unterschiede zwischen den in Speyer, Gießen und Wesel erfolgten Ausgaben nicht eingegangen werden, es ist aber darauf hinzuweisen, daß gerade der letztgenannte Druck, der 1663 erschien, bei genauer und vorsichtiger Interpretation eine Menge wortgeograpisches Material hergeben wird wie schnuppe für Schnupfen, lichtdorn für Hühnerauge, schlucken und görpsen, gurgel, lobben, krag / lobben, watsack und rippert. Ganz besonders stark zeigt sich hier im niederrheinischen Wesel auch der Einfluß der hochdeutschen Gemeinsprache. Von einer vergleichenden Untersuchung solcher Schulbücher ist für die Wortgeographie des 16. Jahrhunderts viel zu erwarten 34 . Man hat bisher übersehen, daß sie kostbares Quellenmaterial zur deutschen Sprachgeschichte enthalten. In der Hannoverschen Landesbibliothek befindet sich ein Nürnberger Druck aus » G. D e Smet, N d . M i « . 22 ( 1 9 6 6 ) , S. 7 7 ; F . De Tollenaere, ZfdSpr. 21 ( 1 9 6 5 ) , S. 7 ff. Nach B. und M. E . de Graaf, H e t Boek 23 ( 1 9 5 9 ) , S. 129—154, die eine vollständige Bibliographie des niederländischen Schulmannes zusammenstellten, ist es unwahrscheinlich, daß es je eine niederländische oder deutsche Ausgabe aus dem J a h r e 1545 gegeben habe, wie eine unbestätigte Überlieferung will. Die erste, uns bekannte hochdeutsche Ausgabe ist der Kölner Druck aus dem J a h r e 1 5 7 5 . 3 4 Vgl. A . Börner, Die lateinischen Schülergespräche der Humanisten I und II. Berlin 1 8 9 7 — 1 8 9 9 ; J o h . Müller, Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachlichen Unterrichts bis zur Mitte des 16. Jhs. Gotha 1882. Neulich behandelte H . Henne ein schlesisches Schulbuch aus dem A n f a n g des 17. Jhs. in seinem schönen und aufschlußreichen Aufsatz Zum dt. Wortschatz des Frühbarock. Ein schlesisches Schulwörterbuch von 1620 in Z M F 33 ( 1 9 6 6 ) , S. 2 3 - 3 6 .

3

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Gilbert de Smet

dem Jahre 1589, „Colloquia sive exercitationes latinae lingue Johannis Ludovici Vivis Valentini Johannis Thomae Freigii notis . . . illustrata" 3 5 mit u. a. folgenden Ausdrücken: kirchweihe, molcken / rhurmilch (serosum), meerrettich oder kreen, gernist oder gunstrosen (ginista), schnack, schwebelsteck, kuffer / buttner, genick,metzg (macellum), kirchhof oder gottesacker, stral oder streim der sonnen, imbiß / anbiß . . . . nunc vulgo frühstück, glutpfann, ein roß umb ein sackpfeifi. Ob und wie das Material aus diesem Buch und aus anderen ähnlichen Schriften sich f ü r die Wortgeschichte des Nürnberg-Augsburger Raumes und f ü r andere Dialektgebiete verwenden läßt, muß den Mundartforschern überlassen werden. Bei ihrer Verwendung dürfen selbstverständlich die Quellenfrage (lexikalische Tradition!) und der Einfluß der sich ausbildenden Gemeinsprache nicht aus den Augen verloren werden. Manchmal bestätigt die vergleichende Betrachtung des Wortbestandes der Wörterbücher, der Nomenklatoren und Wortlisten das moderne Kartenbild des D W A und läßt zu, die wortgeographische Lage des 16. Jahrhunderts zu bestimmen, wenn sich auch manchmal Nebenfragen laut- und wortgeographischen Charakters anmelden. Für Ziege36 z. B. fehlen die vielen hauptsächlich mitteldeutschen affektischen Bezeichnungen; das beruht wohl auf dem normalsprachlichen Charakter des Wortschatzes dieser Wörterbücher, in denen übrigens die Wirkung des gemeinsprachlichen Ausgleichs nicht fehlt. Man erkennt aber deutlich die Zeige/Geiß-Linie aus ziege bei Siber und aus zige/gais bei Schenkkius in Augsburg, dem sich die Nürnberger und der Hesse Emmelius anschließen, sowie aus einmaligem zig neben normalem geiss bei Erasmus Alberus. Aber Zicklein bei Golius f ü r haedus und Emmels zige/kitzlin f ü r capella neben geyß f ü r das erwachsene Tier bezeugen nicht nur das frühere Vorhandensein der nur im Norden verbreiteten Bezeichnung auch im Süden des Westmitteldeutschen, sondern vor allem die ursprüngliche Bedeutung „Jungtier", die sich demnach im 16. Jahrhundert noch bei Emmel belegen läßt. Fiederbohm37 im Rostocker Wörterbuch von Chytraeus, allhorn in der Lemgoer Ausgabe und holderIholderbauml holderstaud in den übrigen Wörterverzeichnissen stimmen zu den Angaben des D W A . N u r fällt es auf, daß die Formen mit assimiliertem d (holler) in unseren Quellen nicht vertreten sind und daß auch Siber holder und nicht holunder oder holunger hat. Apherdianus hat neben flierbaum (in der niederländischen Vorlage flierboom) hollenderbaum und fügt damit die heutige Form des Kölner Kulturkreises (holengder, hulengder, hollander, holunder) der nordniederrheinischen Bezeichnung hinzu. Das polnische Lehnwort peitzsche3S steht ohne Konkurrenten beim Sachsen Siber und neben schwepe in Rostock und in Lemgo (pytsche), wo es heute zwar 35

Hannover LB IV 9 Ca alt.

36

Ziege: D W A V; K. Rein, Die Bedeutung von Tierzucht und Affekt für die Haustierbenennung. DWF 1 (1958); K. von Bahder, Wortwahl, S. 12 ff.

37

Holunder: D W A III.

38

Peitsche: D W A XII; R. Müller, Die Synonymik von ,Peitsche'. Semantische Vorgänge in einem Wortbereich. Marburg 1966; K. von Bahder, Wortwahl, S. 59.

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Wortgeographie

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nicht mehr belegt, aber in nächster Nähe zwischen Hameln und Holzminden verbreitet ist; war das auch 1590 schon der Fall oder hat der Verfasser Chytraeus' Angaben einfach übernommen? Auch bei Alberus tritt peitsch neben geyssel auf. Es wird sich hier wohl um ein erstes ostmitteldeutsches Einsprengsel handeln und noch nicht um eine in Hessen fest verankerte Form. Alle übrigen Wörterbücher, auch Emmel, der allerdings auf Straßburg Rücksicht nehmen mag, verzeichnen das süddeutsche geissei; nur Apherdianus weist mit schmycke statt sweepe der niederländischen Ausgaben darauf hin, daß dieses Wort schon im 16. Jahrhundert der rheinische Ausdrude war. Eine Abgrenzung des heutigen ohmd/embd-Gebietes f ü r Grummet39 erlaubt der Gegensatz zwischen emhd (in den schweizerdeutschen Wörterbüchern und Dasypodius) und Straßburger omat (bei Golius) einerseits und grummet bei Alberus (Sprendlingen) und Schenckius andererseits, der es seiner Vorlage, Sibers Nomenciator, entnommen haben dürfte; Augsburg liegt heute in nächster N ä h e der ohmad/groamat-Linie, so daß es selbstverständlich ist, daß Schenckius das obersächsische Wort beibehalten wollte. Auffällig ist hervesthow in Rostock und Lemgo, da dieser Ausdruck heute nur nördlich Regenwalde und südlich Xanten und verstreut an Oder und Warthe (als hochdeutsche Form!) auftritt. Hier zeigt sich die Bedeutung der lexikalischen Tradition: Golius hat foenum cordum mit omat/herhstthew übersetzt, wohl nach Dasypodius, der auf foenum cordum, embde sofort foenum secundarium, Herhsthow folgen läßt; Chytraeus hat den südwestlichen Ausdruck verschmäht, die zweite Übersetzung aber einfach verniederdeutscht. Ihr kommt im niederdeutschen Nomenklator keine wortgeographische Bedeutung zu, ebensowenig wie der schon früher genannten Bezeichnung grummet im Lexicón trilingüe, die auf Emmels Einfluß zurückgehen wird. Jedes einzelne Zeugnis muß also gesondert betrachtet und auf seinen Wert überprüft werden. Auch wagner in Rostock und Lemgo (wahrscheinlich aus Golius) und radt/oder wagenmacher40 bei Siber (wahrscheinlich aus Junius) ebenso wie scharnewever f ü r Mistkäfer 4 1 in Lemgo, wo man pawemmel sagt und in dessen weitestem Umkreis das nur noch in und um Rostode als N o r m a l bezeichnung auftretende scharnewever gar nicht vorkommt, werden so zu interpretieren sein. Auch die Verbreitung der heutigen SöifcAerbezeichnungen 42 lag im 16. Jahrhundert schon ziemlich fest. Lemgo und Rostock verzeichnen bSddeker, während der Obersachse Siber mit bütner die heute erst südlich von Zwickau auftretende Bezeichnung festhält. Diese findet sich auch in der Nürnberger Gegend, wo zwei Quellen (Serranus und Freigius) sie belegen. Es ist durchaus 39

Grummet — Zweiter Grasschnitt: D W A I; G. Ruppenthal, D e r zweite Grasschnitt in deutscher Synonymik. Gießen 1950.

40

Wagenmacher: D W A IX.

41

Mistkäfer: D W A V.

42

Böttcher: D W A I X ; R. van de Koolwijk, Wortgeographie der deutschen Terminologie des Küferhandwerks (Nimweger Examensarbeit 1962).

5

M i t z k a , Wortgeographie

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Gilbert de Smet

schwierig, auf Grund der modernen Wortkarten zu bestimmen, welchen Teil des obersächsischen Raums Sibers Nomenklator vertritt. Der Augsburger Schenckius ersetzt bütner und trifft mit scbeffler den oberschwäbisch-westbairischen Ausdruck, während kieffer, das er auch verzeichnet, im westlichen Teil des scheffler-Gebietes bis Augsburg vereinzelt zu belegen ist. Die südlichen Wörterbücher haben kieffer (Frischlin, Emmel, Dasypodius) oder küffer (Maaler, Golius, Dasypodius, Frisius); aber faßbinder und -bender, ersteres Wort bei Dasypodius, Maaler, Frisius und Serranus, letzteres bei Emmel und Frischlin, weisen darauf hin, daß dieser Ausdruck, der heutzutage dem bairisch-österreichischen Gebiet im Süden eignet, früher einmal weite Verbreitung hatte. Maalers kiibler (s. v. milchsienen), vielleicht die Bezeichnung eines spezialisierten Handwerkers, ist typisch Schweizerdeutsch. Apherdianus verzichtet diesmal auf das niederrheinische kuper, das auch in der Vorlage stand, und bringt die Kölner Bezeichnung faßbinder (vatbindercuyper). Hier können auch die Bezeichnungen für das Mutterschwein43 genannt werden, die im großen und ganzen zu der heutigen Karte stimmen und historischen Wert für saumutter in Obersachsen bei Siber (nun südlich von Chemnitz) sowie für sucksauw und schweinsmutter im Nürnberger Raum (bei Serranus) haben. Auffällig ist das Auftreten eines überlandschaftlichen, auf den modernen Wortkarten fehlenden Ausdrucks mutterschwein, der bei Frischlin und Emmel (als einziger Ausdruck) sowie bei den drei Schweizern (Frisius, Maaler, Dasypodius) begegnet und vielleicht den Versuch darstellt, einen gehobenen, weniger landschaftlich gebundenen Namen zu bilden. Merkwürdig ist der schon hervorgehobene Unterschied zwischen den beiden Ausgaben von Frischlins Nomenklator: während die erste mit mutterschwein, tausch, loß und mor vor allem die Ausdrücke des Südwestens verzeichnet, nicht aber das schwäbische kosel, verzichtet die besonders den Frankfurter Wortschatz beachtende Ausgabe zwar auf den südwestlichen Ausdruck mor, bringt aber nun das hessische muck und das schwäbische kosel sowie auch säckin, und enthält somit bis auf das westliche mor und das östliche schweinsmutter alle Bezeichnungen für das Mutterschwein zwischen Konstanz und Frankfurt. Auch dieses kleine Problem hat der Erforscher der alten Lexikographie zu lösen. Interessant sind jene Fälle, in denen Ausdrücke, die jetzt große Teile des deutschen Sprachgebietes überdecken und in den gemeinsprachlichen Wortschatz übergegangen sind, noch fehlen. Das gilt z. B. für Sargu, das in keinem der untersuchten Wörterbücher in der heute geltenden Bedeutung auftritt; an seiner Stelle scheint damals bare / baar / todenbare zu gelten, ein Ausdruck, der aber angesichts der schwierigen Geschichte der Bahr- und Sargbestattung nicht leicht deutbar ist. dodenbare / dodenbSr in Rostock läßt schon einiges über die frühe « Mutterschwein: D W A IV und VII. Vgl. die Sarg-Karte in der Nimweger Dissertation meines Schülers H. L. Cox, Die Bezeichnungen des Sargs im Kontinentalwestgermanischen (Assen 1967) und im ADV. NF. 49.

44

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Auflösung der alten Sargbezeichnungen im Ostniederdeutschen und im Ostmitteldeutschen, wo jetzt Sarg gilt, ahnen. Aber Sibers todtenkaste, Schenckius' {todtenkasten oder) truhen, Horstens lad (/todtenbar) und Alberus' leichkar geben deutlich den damals üblichen Sprachstand wieder, wie auch die baumZusammensetzungen (totenbaum: Dasypodius, Maaler, Frisius; seelbaum: Maaler) in den schweizerischen Wörterbüchern. Ob totenbaum bei Dasypodius und im Lexicón Trilingüe und baar bei Emmel und Frischlin als regional oder gemeinsprachlich betrachtet werden müssen, ist schwer zu entscheiden. Ein kleines Problem: J. Maaler hat auch todtenkasten, das wohl aus diesem Wörterbuch in Junius' Nomenciator Aufnahme fand; der letztere scheint sogar todtkast (Sarg) und todtenbaum / todtenbar (feretrum, orciniana sponda, sandapila) zu unterscheiden. H a t Siber Junius' alemannischen Ausdruck übernommen oder stimmt sein Zeugnis wirklich zu den noch heute in Obersachsen vorkommenden Kasten-Belegen? Auch Sahneis fehlt in unseren Sammlungen, wie übrigens zu erwarten war, weil dieses Wort noch von den niederländischen Siedlern stammen und seine Verwendung sich von der Mark und von Sachsen aus ausgedehnt haben soll. Die meisten Wörterbücher haben rohm oder räum und ramen, wie z. B. auch Adam Siber {ramen), der hier wohl den südsächsischen Wortschatz vertritt. Chytraeus/ Lemgo und Alberus haben schman{d)t, das südlich der schmandt-raum-Grenze in Hessen noch vereinzelt bis in die Höhe von Frankfurt belegt wird. Alberus' Beleg weist wohl auf eine früher weiter nach Süden greifende Ausdehnung. Auffällig ist neidel neben milchrom bei Schenckius in Augsburg. Weil dieser Ausdruck dort jetzt gänzlich fehlt und die Wörterbücher aus Augsburg nur einen Beleg anführen, wird man kaum fehlgehen mit der Annahme, daß Schenckius hier eine Vokabel aus seiner Bodenseeheimat aufgenommen hat. Milchnidel ist übrigens Maalers Übersetzung von crémor, die in Junius' Wörterbuch nyder (woher das r?) oder ramen lautet. Auf eine ältere geographische Lagerung weisen die Bezeichnungen für Ferkel46 hin. Zwar läßt sich aus socbfickeln in Chytraeus/Lemgo und saugfegglin neben bluthundt/fegglin bei Schenckius nachweisen, daß fickeln und feckla vor 300 Jahren wie heute in Lemgo und im Augsburgischen Geltung hatten, der Gegensatz zwischen ferkellferklin bei Golius, Frischlin, Emmel und Alberus, also bei den nördlichen Süddeutschen einerseits und ferlinlferie bei Dasypodius, Serranus, Golius, Frisius und Maaler läßt eine frühere Gliederung des süddeutschen Gebiets durchblicken, die wahrscheinlich erst in den letzten 300 Jahren durch die Ausdehnung von Säule zerstört wurde. Sewle begegnet sowohl bei Maaler als bei Dasypodius und Frisius, steht dort aber noch keineswegs an erster Stelle. 45 4

Sahne: D W A V ; N i l s Törnqvist, N d . Mitt. 5 (1949), S. 1 7 8 - 1 9 7 .

« Ferkel: D W A VII.

5*

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Gilbert de Smet

Zwischen 1530 u n d 1580 ist Frühling47 schon im ganzen südlichen Deutschland u n d im Ostmitteldeutschen verbreitet; n u r f ü r Alberus fehlt uns eine genaue Angabe. Neben der neuhochdeutschen Bezeichnung steht aber im Interpretament wie in erläuternden Wendungen noch immer der alte Ausdruck, der auch diesmal eine Teilung in N o r d - u n d Südhochdeutsch ahnen l ä ß t : lentz, das bei Alberus schwach ist, begegnet bei den beiden Hessen u n d beim Obersachsen Siber; das glentz/glants dagegen ist das W o r t aus Straßburg, N ü r n b e r g und Augsburg sowie aus dem Schweizer Gebiet. Glantz bei Apherdianus entstammt selbstverständlich einer oberdeutschen Quelle. Sein zweiter Ausdruck mayzeit, der an die Vorlage (die lenten oft meytyt) erinnert, k ö n n t e ebenfalls der lexikographischen T r a d i t i o n zugeschrieben werden, ist jedoch wohl an die vereinzelten mai-Belege zwischen Lippe u n d Berkel anzuschließen. In Lemgo, das jetzt in einer freutiet-Insel liegt, w a r mey anscheinend noch der reguläre Ausdruck. H e u t e reicht das oldenburgische Maitiet-Gebiet nur noch bis vor Minden. A n der Ostseeküste scheint auch das heute überall verbreitete F r ü h j a h r ziemlich jung zu sein u n d an die Stelle von vSrjahr, das Chytraeus' Rostocker Ausdruck ist u n d auf Fehmarn u n d vereinzelt zwischen Lübeck u n d Rostock noch begegnet, getreten zu sein. Die Wörterbücher vermitteln f ü r die Zeit von 1500 bis 1600 noch ein ganz anderes Bild als das heutige der Frühlingskarte. D a ß im Bereich der rase/bezeichnungen48 die kindliche Phantasie u n d der sprachliche Spieltrieb viele Veränderungen hervorgerufen haben werden, k a n n nicht wundernehmen. G r o ß e Beständigkeit zeigt der niederdeutsche R a u m , w o kusel auch jetzt noch in Rostock u n d Lemgo v o r h a n d e n ist. Alte Straßburger Kindersprache scheint die zweite Bezeichnung kloß bei Golius u n d Dasypodius wiederzuspiegeln. I m Straßburger Lexicon Trilingue steht sie sogar an erster Stelle. Die elsässische H a u p t s t a d t verwendet jetzt z w a r dopf, aber klos/isklos findet sich noch in einem kleinen Gebiet zwischen B a r r u n d Schlettstadt. Von Hessen bis in die Schweiz, von Straßburg bis Augsburg scheint sonst im 16. J a h r hundert topff/dopff gegolten zu haben. Schweizerdeutsch glotz bei Frisius (Ludin schreibt kloss), obersächsisch drehkugel u n d augsburgisch tribel (Schenkkius) sind aber nicht mehr auf der heutigen W o r t k a r t e vertreten, w ä h r e n d Kreisel in den damaligen Wörterbüchern noch ganz zu fehlen scheint. Aus dem Vergleich der Wörterbücher geht deutlich hervor, d a ß der Verfall der alten Bezeichnungen f ü r die Heiratsverwandtschaft*9 im niederdeutschen R a u m eingesetzt hat. W ä h r e n d alle südlichen Wörterbücher u n d N o m e n klatoren noch über 4 eigene Bezeichnungen verfügen, allenfalls den Ersatz von eidam durch tochterman u n d von schnür durch sonsfrauwlsonsweiblsonin be47

Frühling: D W A IV; Maria Tallen, Wortgeographie der Jahreszeitennamen in den germanischen Sprachen. D W F 2 (1963); K. von Bahder, Wortwahl, S. 59.

48

Kreisel: D W A I ; R. Hildebrandt, ZMF 31 (1964), S. 2 3 9 - 2 4 3 .

49

Vgl. F. Debus, Die deutschen Bezeichnungen für die Heiratsverwandtschaft. D W f . 1 (1958) und D W A VI (Schwiegervater, -mutter, -tochter, -söhn). K. von Bahder, Wortwahl, S. 154.

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Wortgeographie

legen, kennen die beiden niederdeutschen Nomenklatoren nur die Bezeichnungen myner frowen edder mannes vader, moder, myner dochter man, mynes sons frouwe, wie das auch im niederländischen Schulbuch von Apherdianus der Fall ist. Daß die neuen Bezeichnungen vom NW, wahrscheinlich sogar vom Rhein ausgegangen sind, beweist der Kölner Apherdianus mit schwägermutter neben schwägerherr, einem Beleg, der achtzehn Jahre älter ist als Debus' ältester Beleg bei Julius von Braunschweig im Jahre 1593 49 . Für eidam und für schnür, das sich länger behaupten konnte als sein männliches Gegenstück, scheinen im ganzen Süden einmal tochtermann und sonsfrauw, jedenfalls in der Umgangssprache oder in der überlandschaftlichen Gemeinsprache gegolten zu haben, bevor das heutige Verbreitungsbild sich gefestigt hat. Für eine Geschichte der frühneuhochdeutschen Lexikographie, wie sie der amerikanische Forscher De Witt Starnes in seinem grundlegenden Buch Renaissance Dictionaries (1954) für die frühneuenglische Periode geschrieben hat, ist die Zeit noch nicht reif. Es fehlen nicht nur Monographien über die wichtigsten Wörterbücher und Wörterbuchgruppen, deren Abhängigkeitsverhältnisse und Wert für die Wortforschung noch eingehend untersucht werden müssen, sondern nötig wäre vor allem auch eine vollständige Bestandsaufnahme der für die Lexikographie wichtigen Werke aus jenem für die deutsche Sprachentwicklung so bedeutsamen Zeitraum. Für die historische Wortgeographie, die zur Vertiefung der sprachgeographischen und sprachhistorischen Einsichten beitragen wird, können diese Wörterbücher und Wörterverzeichnisse auch jetzt schon gute Dienste leisten, wenn sie bei unserer vorläufigen Kenntnis der Art und Weise ihres Zustandekommens und der sprachlichen Auffassung ihrer Verfasser und Drucker mit Vorsicht und Umsicht befragt werden.

Dasypodius, Petrus, Dictionarium voces propemodum universas in autoribus Latinae linguae probatis ac vulgo receptis occurentes Germanice explicans . . . Straßburg, W . Rihelius, 1535 (Lat.-Hochdt.). Dictionarium Latinogermanicum . . . nunc autem revisum, castigatum et auctum. Straßburg, W . Rihelius, 1 5 3 6 (Lat.-Hochdt. und Hochd.-Lat.). Dictionarium Latinogermanicum et vice versa Germanicolatinum ex optimis Latinae linguae scriptoribus concinnatum. Straßburg, W . Rihelius, 1 5 3 7 ( L a t . - H o c h d t . ; Hochdt.-Lat.). Serranus, Joannes, Dictionarium Latinogermanicum, quo singulae voces Latinae, Germanice simpliciter interpretantur . . . Nürnberg, Jo. Petreius, 1539. Alberus, Erasmus, N o v u m Dictionarii Genus, in quo ultimis seu terminalibus Germanicarum vocum syllabis observatis, Latina vocabla cum suis quoque synonymis . . . protinus sese offerunt. Frankfurt, Chr. Egenolphus, 1540. Frisius, Joannes, Dictionarium Latinogermanicum interpretibus. Zürich, C. Froschouer, 1541.

Petro

Cholino

et

Joanne

Frisio

Dictionarium Latinogermanicum, Joanne Frisio interprete. Editio nova, postrema, et longe omnium absolutísima. Zürich, C . Froschouer, 1 5 5 6 . Dictionariolum puerorum tribus Unguis Latina, Gallica et Germanica conscriptum . . . Latinogallicum nuper ediderat Rob. Stephanus Parisijs, cui Germanicam

70

Gilbert de Smet interpredationem Joannes C. Frosdiouer, 1548.

Frisius

Tigurinus

nunc

primum

adiecit.

Zürich,

Novum Dictionariolum puerorum Latinogermanicum, et e diverso Germanicolatinum, Ioanne Frisio Tigurino interprete. Zürich, C. Frosdiouer, 1566. Maaler, Josua, Die Teütsch Spraadi. Alle wörter namen vñ arten zu reden in Hoditeütscher spraach dem ABC nadi ordentlich gestellt vnnd mit gutem Latein gantz fleissig vnnd eigentlich vertolmetscht dergleychen biszhar nie gesihen. — Dictionarium Germanicolatinum novum, Hoc est, Linguae Teutonicae, superioris praesertim, Thesaurus: . . . Züridi, C. Froschouer, 1561. Lexicon Trilingue, ex Thesauro Roberti Stephani et Dictionario Joannis Frisii summa fide ac diligentia collectum . . . Straßburg, Th. Rihelius, 1587. Dictionarium Hexaglottum Ambrosii Calepini . . . In quo (quod nunquam antehac factum est) respondent Latinis vocabulis: Graeca, Italica, Gallica, Hispanica, Germanica. Basel, H . Petreius, 1568. Junius, Hadrianus, Nomenciator omnium rerum propria nomina variis linguis explicata indicans. Antwerpen, C. Plantin, 1567. Siber, Adam, Nomenclatoris Hadriani Junii Medici Epitome recognita et aucta. Leipzig, 1571. Adami Siberi Gemma Gemmarum seu Nomenclatoris Had. Junii Epitome. Leipzig, 1579. Schenckius, Matthias, Nomenclátor Hadriani Junii Medici clarissimi . . . accomodatus. Augsburg, Michael Mangerus, 1571. Horst, Peter, Hadriani Junii Medici Nomenciator quo omnium rerum propria nomina, prius latine . . . designata, dein duabus aliis linguis Germanica superiori et Gallica explicantur. Köln, P.Horst, 1588. Golius, Theophilus, Onomasticon Latinogermanicum, in usum scholae Argentoratensis collectum. Straßburg, J. Rihelius, 1579. Chytraeus, Nathan, Nomenciator Latino-Saxonicus. Multo aliis locupletior. Rostock, S. Myliandrus (S. Mölleman), 1582. Nomenciator Latinosaxonicus, Multo aliis locupletior. Lemgo, Haeredes C. Grotheni, 1590. Frischlin, Nicodemus, Nicodemi Frischlini Nomenclátor Trilinguis, Graecolatinogermanicus, continens omnium rerum . . . appellationes, quarum aliquot millia nusquam sunt obvia. Frankfurt am Main, J. Spies, 1586. Nicodemi Frischlini Nomenclátor Trilinguis, Graecolatinogermanicus . . . Quarto iam, nova vocabulorum Germanicorum hisce in regionibus vsitatorum accessione, recognitum, atque a mendis omnibus diligentissime repurgatum. Frankfurt am Main, J. Spies, 1594. Emmelius M. Helfricus, Nomenclátor Quadrilinguis, Latinogermanicograecogallicus, in classes iiii distinctus. Straßburg, Th. Rihelius, 1592. Murmellius, Joannes, Pappa Puerorum. Mainz, I. Sdieffler, 1538 (UB. Gent: BL 735: Titelblatt fehlt). Apherdianus, Petrus, Tyrocinium Latinae linguae ex optimis quibusdam auctoribus collectum, et in capita digestum, in gratiam studiosae iuventutis. Köln, J. Gymnicus, 1575. Freigius, Joannes Thomas, Colloquia sive exercitationes latinae linguae Ludovici Vivis Valentini Johannis Thomae Freigii notis . . . illustrata. Nürnberg 1589.

Alte Lexikographie

und moderne

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Wortgeographie

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und moderne Wortgeographie

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75

Alte Lexikographie und moderne Wortgeographie



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Alte Lexikographie

und moderne

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Wortgeographie

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Frühling

Alte Lexikographie

und moderne

Wortgeographie

79

HELMUT

HENNE

Deutsche Lexikographie und Sprachnorm im 17. und 18. Jahrhundert I. Zum

Forschungsstand

Im Jahre 1745 sprechen Bodmer und Breitinger von „gantzen Banden [ . . . ] , welche die Sprache, die Grammatik und die Wörter, zur vornehmsten Absicht ihrer vereinigten Bemühungen genommen haben [. . . ] " 1 . Was diese „Banden" hervorgebracht haben, hat f ü r die Grammatik in Max H e r m a n n Jellineks „Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik von den Anfängen bis auf Adelung" 2 eine wissenschaftliche Aufbereitung gefunden. Mit dem Hinweis auf die Vortrefflichkeit dieses Buches wird oft verbunden, daß ein ähnliches Standardwerk f ü r die Lexikographie fehle. Das ist hier zu wiederholen. Als erster hatte Johann Leonhard Frisch deutsche Wörterbücher zum Gegenstand einer kleinen Monographie gemacht. Er handelte in einem Programm des (Berliner) »Grauen Klosters" von 1739 „De primis in Germania typis editis lexicis Germanicis" 3 . Hier beschrieb er einige gedruckte Glossare des späten 15. und des 16. Jahrhunderts mit Sachkenntnis: u. a. das Glossar von 1482 bei Zeninger in Nürnberg, das von Dasypodius, Erasmus Alberus und Josua Maaler (Pictorius). Der Vorgänger Jellineks in der Historiographie der Grammatik, Elias Caspar Reichard, gab seinem „Versuch einer Historie der deutschen Sprachkunst" von 1747 auch einen kurzen Abriß der Geschichte der deutschen Wörterbücher und Glossare bei 4 . Auch Gottsched bemühte sich, die historische Entwicklung der deutschen Lexikographie zu verfolgen. In den von ihm herausgegebenen Zeitschriften würdigte er frühere lexikographische Versuche 5 . Jacob Grimm gab dann 1854 in der Vorrede zum ersten Band seines „Deutschen Wörterbuchs" einen kurzen 1

In: Opitzens von Boberfeld Gedichte [. . .] Zürich 1745, S. 167.

2

2 Halbbde. Heidelberg 1913/14.

3

Berolini 1739. Herr Dr. Gerhardt Powitz, Frankfurt/M., hatte die Freundlichkeit, mir eine Xeroxgraphie seiner Photokopie des Originals aus der Bibliothek des Berliner Gynasiums zum „Grauen Kloster" zu überlassen.

4

Hamburg 1747, S. 293—299. Die Geschidite der deutschen Spradikunst, nach neuerem Sprachgebrauch: der Grammatik, wird im allgemeinen zu wenig beachtet. M. H. Jellinek bezeichnet Reichard ausdrücklich als seinen „Vorgänger". Vgl. Jellinek, l . H a l b d . , S. VII.

5

Vgl. Hans Lachmann, Gottscheds Bedeutung für die Geschichte der deutschen Philologie. Diss. Greifswald 1931. Der Ort der Publikation sind vor allem seine „Beyträge zur Critischen Historie Der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit". Leipzig 1732—1744. Siehe Lachmann, a. a. O., S. 86.

Deutsche

Lexikographie

und Sprachnorm

im 17. und 18. Jahrhundert

81

Bericht von der Arbeit seiner Vorgänger®, den Rudolf Hildebrand 1873 in der Vorrede zum 5. Band vertiefte: Die „Vorgeschichte von Grimms Wörterbuch im 17. und 18. jahrhundert" interessierte ihn 7 . Zuvor hatte Rudolf von Raumer 1870 einige Materialien zur historischen Lexikographie des Deutschen in seiner „Geschichte der germanischen Philologie, vorzugsweise in Deutschland" 8 , erarbeitet, und danach gab Matthias von Lexer in einer Würzburger Rektoratsrede von 1890 nochmals eine kurze historische Darstellung der neuhochdeutschen Lexikographie'. Damit ist die Liste der historischen A u f - und Abrisse schon erschöpft, sieht man von Monographien ab, die sich Spezialwörterbüchern zuwenden. So versuchte Adolf Scholz in einer Greifswalder Dissertation, eine „systematisch-historische" Geschichte der Mundartwörterbücher zu geben 10 . Auch Arbeiten, die unter speziellen Gesichtspunkten die Wörterbücher des Deutschen untersuchen, sind nicht eben häufig. Als Beispiel sei etwa Arthur Schmidts Versuch genannt, den „Fortschritt der etymologischen Erkenntnis" in den deutschen Wörterbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts zu verfolgen 1 1 . Entsprechend dem notwendigen Zug zur Spezialisierung und Aufbereitung des Materials hat jüngere und jüngste Forschung begonnen, das lexikographische Feld aufzuteilen. Auf die Bedeutung der frühneuhochdeutschen Glossare des 15. und 16. Jahrhunderts f ü r die deutsche Sprachgeschichte wies Arno Sdiirokauer in mehreren Aufsätzen hin. Nach ihm sind vor allem die Untersuchungen von Gilbert de Smet zu diesen Glossaren des Frühneuhochdeutschen grundlegend 1 2 . Jüngst hat Gerhardt Powitz auf deren Vorläufer, auf die spätmittelalterlichen Glossographen und deren Vokabularien, (wieder) hingewiesen 13 . Klaus Grubmüller drang „vom Stoff wie von der Form her in das Zentrum der zweisprachigen 6

Audi abgedruckt in: Kleinere Schriften. Bd. VIII, S. 302—386. Jetzt auch als Sonderausgabe der Wiss. Budigesellschaft Darmstadt 1961 (Libelli. 52). — Auf die Vorworte der früheren Wörterbücher, die teilweise — mit wechselndem Erfolg — die Arbeiten ihrer Vorgänger würdigen, kann hier nur pauschal verwiesen werden.

7

Diesen Titel (mit dem Zusatz „Zur") gab er der Vorrede bei dem Wiederabdruck in den „Gesammelten Aufsätzen und Vorträgen zur deutschen Philologie und zum deutschen Unterricht". Leipzig 1890, S. 19—40.

8

München 1870.

9

Zur Geschichte der neuhochdeutschen Lexikographie. Würzburg 1890. Deutsche Mundarten-Wörterbücher. Leipzig 1930 (Form und Geist. 20).

10 11

Zum Fortschritt der etymologischen Erkenntnis des Deutschen in den Wörterbüchern des 17. und 18. Jhs. Berlin 1927 (Germanische Studien. 49).

12

Zum Forschungsstand dieses Bereichs im einzelnen siehe Gilbert de Smet in dieser Festschrift S. 51 ff. In seinem Vorwort zu dem Nachdruck v o n : Simon Roths Fremdwörterbuch. Helsinki 1936 (Mémoires de la Société Néophilologique de Helsingfors. X I ) fordert Emil ö h m a n n schon damals Nachdrucke der frühnhd. Glossare, der „für die deutsche Wortforschung so ergiebigen Quellen".

13

Jacobus Albinus und Jacobus Tübinger. In: PBB (Halle) 82. 1961, S. 555—557. Zur Geschichte der Überlieferung des Engelhus-Glossars. In: N d . Jb. 86. 1963, S. 83—109. Zu dem Glossar des Straßburger Chronisten Fritsche Closener. In: Zs. für dt. Philologie 83. 1964, S. 321—339. Hubrilugus und Huwilogus. In: Zs. für dt. Altertum 93. 1964, S. 2 2 6 - 2 3 8 .

6

M i t z k a , Wortgeographie

Helmut Henne

82

Glossographie des Spätmittelalters" vor, indem er den „Vocabularius E x quo", das bekannteste und am besten überlieferte Wörterbuch dieser Zeit, untersuchte 14 . Gerhard Ising und wiederum Gerhardt Powitz haben in zwei Monographien die Aufmerksamkeit der Forschung auf die Wörterbücher des 17. und 18. J a h r hunderts gelenkt. Ising arbeitete über die Wörterbücher Kaspar Stielers ( 1 6 9 1 ) und Matthias Kramers ( 1 7 0 0 / 0 2 ) und Powitz über das J o h a n n Leonhard Frisdis ( 1 7 4 1 ) 1 5 . Ihre Untersuchungen haben u. a. gezeigt, wie wichtig diese Wörterbücher für das Verständnis der Sprache der Zeit und damit deren Literatur sind. Doch diese lexikographischen Produkte sind Hilfestellung nur — auch das haben Ising und Powitz deutlich gemacht —, wenn sie kritisch eingeschätzt werden: wenn man weiß, wo lexikalische Traditionen unbesehen übernommen sind, wo normative Tendenzen vorherrschen und wo deskriptive Wörterbucharbeit im Vordergrund steht. An Untersuchungen dazu mangelt es durchaus. A n älteren ist etwa M a x Müllers Studie über „Wortkritik und Sprachbereicherung in Adelungs Wörterbuch" zu nennen1®. Auch die bibliographische Aufarbeitung der Wörterbücher im weitesten Sinn steckt noch in den Anfängen 1 7 . Über seine Erfahrungen bei der bibliographischen Erfassung von Wörterbüchern, Wortverzeichnissen, Wortlisten (und N a m e n büchern, Namenverzeichnissen, Namenlisten) referiert Rudolf

Schützeichel 18 .

E r fordert in einer künftigen Bibliographie eine sprachsoziologische Gliederung bei der Anordnung des Materials.

II. Wörterbuch und Literatur „Den Adelung erbitte mir, wenn Sie ihn nicht mehr brauchen. Ich habe allerlei Fragen an dieses Orakel zu thun." So schreibt Schiller am 26. J a n u a r 1804 an Goethe. U n d zuvor, am 6. November 1788, hatte Goethe seinen V e r leger und Buchhändler Göschen zur Eile gemahnt: „Senden Sie mir doch baldigst von Adelungs Wörterbuch den letzten Band. Die vier ersten besitze ich." 14

Vocabularius E x Quo. Untersuchungen zu lateinisch-deutschen Vokabularien des Spätmittelalters. München 1967 (Münchener Texte und Untersuchungen zur dt. Literatur des Mittelalters. 17). Zitat S.VIII.

15

Gerhard Ising, Die Erfassung der deutschen Sprache des ausgehenden 17. Jhs. in den Wörterbüchern Matthias Kramers und Kaspar Stielers. Berlin 1956. Gerhardt Powitz, Das dt. Wörterbuch Johann Leonhard Frischs. Berlin 1959.

16

Berlin 1903. (Palaestra. 14).

17

Für die mittelalterlichen und spätmittelalterlichen Glossare sind hier die Arbeiten von Lorenz Diefenbach zu nennen: Glossarium Latino-Germanicum Mediae et Infimae Aetatis E Codicibus Manuscriptis Et Libris Impressis. Francofurti ad Moenum 1857.— Novum Glossarium Latino-Germanicum Mediae et Infimae Aetatis. Beiträge zur wissenschaftlichen Kunde der neulateinischen und germanischen Sprachen. Frankfurt am Main 1867.

18

Namenbücher und Wörterbücher des deutschen Sprachgebiets. In: Proceedings of the Eighth International Congress of Onomastic Sciences. The Hague 1966, S. 481—485.

Deutsche Lexikographie

und Sprachnorm

im 17. und 18. Jahrhundert

83

An welches lexikographische Orakel wendet sich Martin Luther, als er zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Bibel verdeutscht? Oder: Welches Wörterbuch geht Martin Opitz zu Beginn des 17. Jahrhunderts um Ratschlag an? Hätte ihm die nur bis zum Buchstaben G gediehene „Teutsche Sprach vnd Weisheit" des Augsburgers Georg Henisch Hilfe sein können? Da weder zu Luthers noch zu Opitzens Zeit ein Adelung weit und breit zu sehen ist, darf füglich weitergefragt werden: Wie steht es zu Beginn des 18. Jahrhunderts? Hätte sich z . B . Johann Christian Günther, hätte er nur gewollt, lexikalischen Beistandes versichern können? Dieser hätte immerhin zum „Teutschen Sprachschatz" Kaspar Stielers greifen können 19 , um seine literarischen Erzeugnisse mit denen einer lexikographischen Autorität zu vergleichen. Seit wann gibt es zumindest die Möglichkeit — und die Gewohnheit, solches zu tun, wie der Brief Schillers an Goethe zeigt, wenn auch schon kritische Distanz und amüsierte Ironie durchscheint: Orakel Adelung? Ihren „alphabetischen auftritt" 2 ' hatte die deutsche Sprache längst gehabt: Jacob Grimm setzte den Teuthonista von 1477 als erstes gedrucktes Glossar an, und Arno Schirokauer bezeichnete den Vocabularius teutonico-latinus von 1482 als erstes gedrucktes h o c h deutsches Glossar. Doch schon das handschriftliche Glossar des Fritsche Closener im 14. Jahrhundert (vor 1384) hat ein deutschlateinisches Wörterverzeichnis21. Im ausgehenden 15. und im 16. Jahrhundert entsteht dann eine lange Reihe solcher Glossare, die durch innere Abhängigkeit und lexikalische Traditionen eng miteinander verknüpft sind. Daß nicht nur humanistische Bemühung um die lateinische Gelehrtensprache, um die Aneignung der klassischen Latinität im besonderen, die Lexikographen leitete, sondern auch die Sorge um die Aus- und Fortbildung der Muttersprache, ist deutlich. Sie legten zugleich Zeugnis über den Fortschritt der Kultur der deutschen Sprache ab 22 . Der Weg dieses Prozesses der Förderung der Volkssprache geht vielfach über die Schule. Was den Verfassern dieser Glossare zumeist fehlt, ist die personale und geistige Verbindung zur deutschen Literatur, zu den Poeten und Literaten der Zeit, die deutsche Texte schreiben. Das ändert sich erst im 17. Jahrhundert, genauer: seit Martin Opitz, als nämlich die m a ß g e b e n d e n Literaten überhaupt erst anfangen, deutsche Texte zu verfassen und die Normen und Formen der westeuropäischen Kultursprachen und der neulateinischen Literatursprache als beispielhaft auch für die deutschsprachige Poesie anzusehen; als sie die Möglichkeiten der Dichtung zur Ausbildung einer Literatur- und Hochsprache erkennen. Wollte man ein exaktes Datum nennen, so müßte man das Jahr 1617 anführen. In diesem Jahr erscheint Opitzens „Aristarchus sive 19

Nürnberg 1691.

20

Jacob Grimm, Vorreden zum Deutschen Wörterbuch. Darmstadt 1961, S. 29.

21

S. dazu Gerhardt Powitz, Zu dem Glossar des Strassburger Chronisten Fritsche Closener. In: Zs. f. dt. Philologie 83. 1964, S. 322.

22

Johann Leonhard Frisch sagte es lateinisch. Als Untertitel zu seinem Schulprogramm (s. o. S. 80) formulierte er zu den Glossaren des 15. und 16. Jhs.: „De lexicis [ . . . ] quae de progressu culturae linguae Germanicae testantur."

6*

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Helmut

Henne

de contemptu linguae Teutonicae", und die „Fruchtbringende Gesellschaft" konstituiert sich zu Weimar, jene Korporation, in deren Reihen die Diskussion über ein zu schaffendes Wörterbuch beginnt. Diese Fürsten- und Gelehrtenakademie ist oft verlästert worden. Aber man lese nur ihren Briefwechsel bei Gottlieb Krause 2 ': dann wird einsichtig, was oben über die Verbindung von schöner Literatur einerseits und Sprachkunst (Grammatik) andererseits gesagt wurde. Neben grammatischen Problemen stehen die der Literatur zur Debatte, man schickt sich gegenseitig Manuskripte und Bücher zu und diskutiert über sie 24 . Die theoretischen Köpfe in Fragen der Lexikographie und Grammatik sind zugleich betriebsame und bedeutende Literaten. Schottel und Harsdörffer brillieren in beiden Sparten, die damals nicht als getrennt empfunden wurden. Zu diesem Zeitpunkt also wird die aus praktischen Bedürfnissen der Kanzlei und der Schule schon seit dem 15. Jahrhundert andauernde Diskussion, wie eine verpflichtende, Regeln setzende, d. h. normative Grammatik und ein ebensolches Wörterbuch auszusehen habe, auf einer höheren Ebene fortgesetzt. Die Diskussion wird im 17. und 18. Jahrhundert andauern. In dem Lebenswerk Adelungs kulminiert diese Entwicklung. Durch diese Zielsetzung wird zugleich die Richtung der Sprachforschung der zwei Jahrhunderte bestimmt: Sie ist synchronisch-normativ. Mit seinen weiterführenden Vorschlägen zur Erforschung der Mundarten, der Fachsprachen und der historischen Sprachschichten ist Leibniz seiner Zeit voraus, schafft aber in seinem Umkreis einen diese Thematik berücksichtigenden Gelehrtenkreis.

III. „Questione della lingua" Zu Beginn des 17. Jahrhunderts erreicht Deutschland die vor allem in Italien geführte Diskussion, wo das Vorbild für die Literatur in der Landessprache zu suchen sei, und dann weiter: wie ein solches Vorbild fortzuentwickeln sei, damit es den Ansprüchen einer auf Form und Würde bedachten hohen Literatur genüge. Das Bewußtsein der Trennung zwischen der hochentwickelten Kunstsprache, eben der Sprache der schönen Literatur, und der zweckmäßige Bedürfnisse erfüllenden Umgangssprache hatte in der lateinischen und romanischen Kultur eine lange Tradition. In Italien beherrschte die „questione della lingua, della toscanità o italianatà" die Diskussion, und zwar seit Dante in seinem Essay „De vulgari eloquentia" die Landessprache auch theoretisch hoffähig ge23

G [ o t t l i e b ] . K r a u s e ( H r s g . ) , D e r Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertzsdirein. Briefe, Devisen und anderweitige Schriftstücke. H r s g . nach den Originalien der H e r z o g l . Bibliothek zu C ö t h e n . Leipzig 1 8 5 5 .

24

Ich zähle die Titel einiger Bücher auf, die man sich zusendet und über die man disk u t i e r t : „ D o n Q u i x o t e " , du B a r t a s ' „ L a semaine", das Tobias H ü b n e r übersetzte, Tassos „Gerusalemme l i b e r a t a " in der Übersetzung v o n Diederich von dem W e r d e r (als das „Erlösete J e r u s a l e m " ) , Opitzens deutsche Psalmen, das von ihm edierte Annolied, Sidneys „ A r c a d i e " , Rists „Freudenspiel", Harsdörffers „Gesprächsspiele", den „Filander von S i t t e w a l d " , Buchners Poetik, Schottels Reimkunst ( 1 6 4 5 ) u. a.

Deutsche Lexikographie

und Sprachnorm im 17. und 18. Jahrhundert

85

macht hatte 25 . Dieselbe Diskussion wird sich in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert wiederholen: Ob nämlich das „beste Deutsch", die vorbildliche Literatursprache, das meißnische Sächsisch sei oder ob es die Summe des Sprachgebrauchs aller guten Schriftsteller darstelle, gleichsam ein Extrakt aus allen Mundarten sei. Die Frage lautete u. a.: „Welche unter allen Teutschen mundarten die naturmäßigste, reinlichste und zierlichste sey 2 6 ?" Die institutionelle Basis, auf der diese Diskussionen geführt werden, sind nicht die Universitäten, sondern Akademien, die sich z. T . heftig befehden, wie überhaupt die höhere Ebene, auf die die wissenschaftlichen Diskussionen gehoben werden, garantiert wird durch wissenschaftliche Vereinigungen, Akademien, die — von Italien ausgehend — im 16. und 17. Jahrhundert überall in Europa gegründet werden 27 . Nur solche mit linguistischer Betätigung stehen im folgenden zur Diskussion. Der im 16. Jahrhundert gegründeten „Accademia della Crusca" — nur die bekannteste unter vielen anderen italienischen —, die den Primat des Toskanischen verficht, folgt 1612 z . B . eine „Anticrusca". Fürst Ludwig von Sachsen-Anhalt war um 1600, während eines Aufenthalts in Italien, Mitglied der einflußreichen „Accademia della Crusca" geworden. Unter seiner geistigen Führung wurde 1617 in Weimar die „Fruchtbringende Gesellschaft" gegründet. Georg Neumark, der zweite Historiograph dieser Vereinigung 28 , berichtet, wie man am Tage der Gründung von den „Italiänischen Gesellschaften" gesprochen habe, „welche zu allerley Tugend-Reitzung der Jugend / Erhaltung gutes Vertrauens / zu Erbauung wolanständiger Sitten / und denn absonderlich zu nützlicher Ausübung jedes Volkes Landessprache / rühmlich aufgerichtet würden / [ . . . ] " 2 9 . Moralisch und linguistisch, um es kürzer zu sagen, wollten die Mitglieder arbeiten, wobei das „absonderlich" Georg Neumarks nicht überlesen werden darf. Dieser nor25

Dazu Robert A. Hall (Jr.), The Italian Questione Della Lingua. An Interpretative Essay. Chapel Hill 1942.

26

So schreibt Harsdörffer am 24. Nov. 1643 an Fürst Ludwig von Sachsen-Anhalt. In: G. Krause (Hrsg.), Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertzschrein. Leipzig 1855, S. 328. — Die sprachgeschichtliche Stellung Luthers wird von Friedrich Kluge für das 17. Jahrhundert überschätzt, wenn er resümiert: „Luthergrammatik und Lutherdeutsch — da ist die Losung im 17. Jahrhundert." In: Von Luther bis Lessing. Sprachgeschichtliche Aufsätze. Straßburg 1918, S. 229. Denn: der Verweis auf Luther als Vorbild im 17. Jahrhundert bedeutete nicht materiell die Übernahme seiner Grammatik und Lexik, sondern signalisierte nur die Forderung eines gehobenen Stils, einer über den Landschaften liegenden Hochsprache. Dazu Verf., Hochsprache und Mundart im sdilesisdien Barock. Köln, Graz 1966 (Mitteldeutsche Forschungen. 44), S. 31 f., 39.

27

Siehe dazu Baron Cay von Brockdorff, Gelehrte Gesellschaften im X V I I . Jahrhundert. Kiel 1940, S. 4 4 : „Den Akademien ist und war der Kampf um die Schaffung und Wahrung der Höhenlage für die Problembehandlung gemeinsam: in dieser Beziehung bilden sie sozusagen ein großes Ganzes."

28

Der erste war Carl Gustav von Hille: Der Ternsche Palmenbaum: Das ist / Lobschrift von der Hochlöblichen / Fruchtbringenden Gesellschaft [. . .] verfasset / durch den Vnverdrossenen. Nürnberg 1647.

29

Der Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum. Oder Ausführlicher Bericht / Von der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft [ . . .] Von dem Sprossenden [ . . . ] Nürnberg 1668, S. 12.

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Henne

mative, verbindliche sprachliche Regeln aufstellende Impetus ist so stark, daß noch in einer Ankündigung für das „Deutsche Wörterbuch" der Brüder Grimm in der „Leipziger Allgemeinen Zeitung" von 1838, die höchstwahrscheinlich von Jacob stammt, das „Vocabularo [sie!] della Crusca" als Muster vorschwebte 30 . Diese unter dem Einfluß Lachmanns entstandene Konzeption wurde aber bald verändert. Wilhelm Grimm faßte das Ergebnis dieser veränderten Konzeption 1846 entschieden zusammen: „ [ . . . ] wir wollen kein Gesetzbuch machen [ . . . ] 3 1 . " Genau das aber war die Intention der Grammatiker und Literaten des 17. Jahrhunderts, die im Umkreis der „Fruchtbringenden Gesellschaft" die Frage einer deutschen Grammatik und eines deutschen Wörterbuchs zu diskutieren begannen.

IV. Sprache und Norm In Deskription und Normierung teilen sich die Aufgaben der Grammatiker und Lexikographen im 17. und 18. Jahrhundert, wobei die sprachnormierenden Bemühungen in diesem Fall nicht die Suche nach einem naturwissenschaftlichen Mittelwert, dem statistisch zu ermittelnden Durchschnitt sind, sondern die nach einem — mehr oder weniger — fiktiven Ideal 3 2 . Die Soziologie hat hierfür den Begriff sozial-kultureller Leitbilder erarbeitet und auf deren Bedeutung für die Gesamtgesellschaft wie auch Teilgruppen hingewiesen. Hugo Steger unterscheidet zwischen „sprachlichen Gebrauchsnormen und vorbildlichen Normen, die zwar rein kaum verwirklicht werden, in denen sich aber die Leitbilder der Gesellschaften sprachlich repräsentieren [ . . . ] " 3 3 . D a ß die „leitbildbezogenen idealen Sprachnormen" 3 4 bei der Entwicklung und dem Ausbau des Deutschen zur Literaturund Hochsprache eine entscheidende Rolle spielen, liegt auf der Hand. Ein dynamischer Faktor eignet ihnen qua definitione. Der Begriff d i e s e r „präskriptiven" sprachlichen Norm 3 4 a erscheint deshalb im 17. und 18. Jahrhundert so zentral, weil aus dem sozial differenzierten Wortschatz und den geographi30

N r . 241 vom 2 8 . August 1838. Zitiert bei A r n o Schirokauer, Das Grimmsche W ö r t e r buch als Dokument der Romantik. I n : Philobiblon 1. 1957, S. 3 1 8 . Richtig ist „ V o c a bulario [ . . . ] " • Siehe auch Walter Boehlich, Ein Pyrrhussieg der Germanistik. Die Vollendung des „Deutschen Wörterbuchs" der Brüder Grimm. I n : Der Monat 13. 1961 (Heft 154), S. 39 ff.

31

In einer Rede auf der Frankfurter Germanistentagung. Zitiert bei A r n o Schirokauer, a. a. O .

32

A u f diesen Unterschied zwischen dem „naturwissenschaftlichen" und dem „geisteswissenschaftlichen" Normbegriff macht aufmerksam Walter Kuhlmann, V o m N o r m charakter der Sprache. I n : Zs. f. Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 16. 1963, S. 1 1 3 - 1 1 5 .

" Probleme der sprachlichen Kommunikation in der Industriegesellschaft. I n : Zwischen Sprache und Literatur. Drei Reden. Göttingen 1967, S. 11. Steger a. a. O . J 4 a So definiert es Dieter Nerius, Untersuchungen zur Herausbildung einer nationalen N o r m der deutschen Literatursprache. H a l l e 1967 (Linguistische Studien), S. 10. — Diese Arbeit konnte im ganzen für den vorliegenden Aufsatz nicht mehr herangezogen werden. 34

Deutsche Lexikographie

und Sprachnorm

im 17. und 18. Jahrhundert

87

sehen Varianten der deutschen Sprache, den Raum- und Sozialdialekten, eine einheitliche Hochsprache geformt werden soll. D a ß jede Sprachgemeinschaft das Bewußtsein einer sprachlichen Norm, von Gebrauchsnormen hat, denen sie sich unterwirft, ist von der neueren Linguistik längst erwiesen 35 . Doch hat sie auch bestätigt, daß die sprachliche Norm — vom Sprecher und Schreiber her gesehen: das Normbewußtsein — intensiver in der Literatur- und Hochsprache entwickelt ist, eben in der Form der leitbildbezogenen Norm. Die Intention der Grammatiker und Literaten im 17. Jahrhundert war nun, über die Sprache der Literatur eine einheitliche deutsche Hochsprache zu entwickeln, die Gesamtbesitz zumindest des gebildeten Teils der deutschen Nation werden sollte. Dabei entfaltete sich diese normative Sprachbetrachtung unter ganz bestimmten geistesgeschichtlichen und sozialen Prämissen. Das von Erich Trunz für das 17. Jahrhundert erarbeitete „Systemdenken"", das mit einem zeitgenössischen Begriff auch als das Vorherrschen des ordo in allen Bereichen des Lebens zu umschreiben ist, begünstigt die normative Sprachhaltung. Der rationale und intellektuelle Grundzug der Zeit, in der die großen philosophischen „Systeme" vorbereitet werden, führt Grammatiker und Lexikographen dazu, die Sprache gleichfalls ihrem Zugriff zu unterwerfen: „Aus dem Systemdenken, das auf die Analogie verschiedener Daseinsbereiche aufgebaut ist, läßt sich [ . . . ] das Ideal der Sprachrichtigkeit überzeugend herleiten"' 7 , „der Mikrokosmos muß Spiegel des Makrokosmos sein, dann verhält er sich richtig" 8 8 . Das folgende Jahrhundert, das Zeitalter der Aufklärung, übernimmt dieses Bewußtsein dahingehend, daß sich alles vernunftmäßig ordnen und bilden lasse. Die religiöse Fundierung der Ordnung weicht einer natur- und menschenrechtlichen. Konrad Burdach hat diesem philosophischen Rationalismus und ästhetischen Klassizismus einen „Zug zum Universalismus", den „Drang zum Weltverbindlichen, Absoluten" zugesprochen 39 . Kare Kaiser hat Burdachs Charakteristik in seiner Monographie über die Mundart und Schriftsprache in der Zeit zwischen Leibniz und Gottsched übernommen und ausgeführt, daß dieser „Drang zum Absoluten" sprachlich „zwei Auswirkungsfelder" habe: „Das eine [ . . . ] ist die Absolutierung der deutschen Sprache nach außen. Das andere [ . . ] ist jener typische Aufklärungsgedanke der Vereinheitlichung der deutschen

35

Bohuslav Havránek, Zum Problem der Norm in der heutigen Sprachwissenschaft. In: Actes du 4 e Congres International de Linguistes. Copenhague 1938, S. 152 ff. Wieder abgedruckt in: A Prague School Reader in Linguistics. Compiled by Josef Vachek. Bloomington 1964, S. 413—420.

36

Weltbild und Dichtung im deutschen Barock. In: Zs. f. Deutschkunde 1937, S. 14—29; überarbeiteter Abdruck in: Aus der Welt des Barock. Stuttgart 1957, S. 1—35.

37

Horst Nahler, Das Lehrgedicht bei Martin Opitz. Diss. Masch. Halle 1961, S. 18.

38

Erich Trunz, a. a. O. (1957), S. 6. Zitiert bei Nahler.

39

Universelle, nationale und landschaftliche Triebe der deutschen Schriftsprache im Zeitalter Gottscheds. In: Festschrift August Sauer. Stuttgart o. J. [ 1 9 2 5 ] , S. 19.

88

Helmut

Sprache, der sprache" 40 .

endgültigen

Henne

Konsolidierung

der

neuhochdeutschen

Einheits-

Neben diesem p h i l o s o p h i s c h e n Antrieb zur normativen Denkart gibt es einen i d e o l o g i s c h e n : Es ist die „kulturpatriotische Leitidee" 4 1 , die gleichfalls das Verhältnis der Literaten zur Sprache bestimmt. Uber die „kunstvoll" entwickelte Muttersprache versuchen sie, das nationale Bewußtsein zu stärken und am Wiederaufbau einer deutschen Nation mitzuwirken: „Die aus dem Risorgimento hervorgegangenen Nationalstaaten definieren und rechtfertigen sich als Staaten von Sprachvölkern. Sprachliche Homogenität ist im Denken der Epoche zur Voraussetzung des souveränen Nationalstaats geworden [ . . , ] " 4 2 . Da in Deutschland weder die staatliche Einigung noch die sprachliche Homogenität erreicht war, bedurfte es doppelter normierender Anstrengungen, d. h. normativer Eingriffe. Freilich begünstigte das Fehlen einer Zentralmacht rivalisierende Gruppen, anders als etwa in Frankreich. Deshalb gab es — wie in Italien — eine „questione della lingua". Die deutschen Grammatiker des 17. Jahrhunderts konstatieren zudem eine Diskrepanz zwischen allgemeiner kultureller Bedeutung der deutschen Nation und deren Sprache: „Alle Künste und Sprachen [ . . . ] sind von den Teutschen auffs sinnreichste und gründlichste hervorgezogen / aber jhrer eigenen Sprache und jhrer selbst ist von ihnen selbst fast vergessen worden" 4 3 . Auch hier erhält der „sprachpflegerische" Impuls neue Antriebe. Ferner ist eine s o z i o l o g i s c h e Voraussetzung anzuführen: Dieser Normierungsprozeß ist zugleich Ausdruck gesellschaftlicher Implikationen, er hat sprachsoziologische Relevanz. Die Grammatiker und Sprachtheoretiker gehören dem Stand der Gelehrten an, die seit dem 16. Jahrhundert das geistige Leben in Deutschland bestimmen 44 . Die auf soziale Behauptung bedachten Gelehrten müssen aber — sofern sie ihr Interesse der deutschen Sprache zuwenden — sich 40

M u n d a r t und Schriftsprache. Versuch einer Wesensbestimmung in der Zeit zwischen Leibniz und Gottsched. Leipzig 1 9 3 0 ( F o r m und Geist. 18), S. 3 0 f.

41

Dieser Begriff v o n B r u n o M a r k w a r d t , Geschichte der deutschen Poetik. Bd. I : Barock und F r ü h a u f k l ä r u n g . 2. Aufl. Berlin 1 9 5 8 , S. 2 7 . A u d i Burdach a. a. O . S. 2 0 spricht v o n dem „doppelten Impuls universalen Strebens und nationalen W e t t e i f e r s " , also einem universalistischen und partikularistisdien Antrieb.

42

Eugen Lemberg, Nationalismus.

I I . Soziologie und politische P ä d a g o g i k .

Reinbek

1 9 6 4 , S. 3 4 f. 43

Justi-Georgii Schotteiii / Einbeccensis, Teutsche Sprachkunst / [. . .] [ . . . ] 1 6 4 1 , Bl. X i j v .

Braunsdvweig

44

Vgl. dazu den grundlegenden A u f s a t z v o n Erich T r u n z , D e r deutsche Späthumanismus um 1 6 0 0 als Standeskultur. I n : Zs. für Geschichte der Erziehung und des U n t e r richts 2 1 . 1 9 3 1 , S. 17—53. W i e d e r abgedruckt bei Richard A l e w y n ( H r s g . ) , Deutsche Barockforschung. K ö l n 1 9 6 5 , S. 1 4 7 — 1 8 1 . — N o c h die anonymen „Wohlgemeinten Vorschläge Z u einer Allgemeinen und Regel-mäßigen Einrichtung und Verbesserung D e r Teütschen Sprache In dem Ober-sächsisdhen und Nieder-sächsisdien Kreise [ . . . ] " H a l b e r s t a d t , 1 7 3 2 [. . . ] formulieren eindeutig: „Es k o m m t hier allein auf die G e lehrten an. Die Ungelehrten bleiben in allen L ä n d e r n bey ihrer Schreib-Art [ . . . ] " (S. 2 8 f.).

Deutsche

Lexikographie

und Sprachnorm

im 17. und 18.

Jahrhundert

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von den aus ihrer Sicht sozial deklassierten Mundarten distanzieren. Gerade ihre im 17. Jahrhundert zumeist von eines Fürsten Gnaden abhängige Stellung erfordert, daß sie die Sprache des „Pöfel" in Verruf bringen, um somit die „würden der Poesie" — und damit ihre eigene — zu garantieren. Diese sozialen und ökonomischen Prämissen der auf rationaler und intellektueller Basis arbeitenden Sprachnormung müssen gleichfalls beachtet werden 45 . Schließlich ist noch eine t r a d i t i o n e l l - b i l d u n g s m ä ß i g e Voraussetzung zu nennen. Dieses auf Ordnung und einheitliche Formung der Sprache zielende Prinzip ist die Fortführung humanistischer, d. h. in diesem konkreten Fall: regelsetzender Praxis im 17. Jahrhundert, übertragen auf die deutsche Sprache: Es ist deutschsprachiger Humanismus4®. Der im 15. und 16. Jahrhundert vorbereitete „Aufstieg" der deutschen Sprache 47 findet in dieser regelsetzenden Tätigkeit eine konkrete Form. Regelsetzend meint hier, daß die Grammatiker ihre als hochsprachlich erkannten Normensysteme nunmehr in Form von Grammatiken und Wörterbüchern kodifizieren und als verbindliche Schrift- und Hochsprache vorstellen. Die Normensysteme der Mundarten (und Umgangssprachen) bleiben davon unberührt. Als mögliche Varianten für die Hochsprache aber sollten sie ausgeschieden werden. Drei Kriterien für die Norm der Hochsprache kann man pauschal aus den gelehrten Schriften erarbeiten: 1. Sie steht über den Mundarten und stimmt mit dem „guten" Gebrauch „guter" Schriftsteller überein; 2. sie ist ein grammatisches Kunstprodukt, das analog und damit richtig gebildet ist; 3. sie ist mit der Sprache der Gebildeten Obersachsens identisch 48 . Insgesamt fiel es schwer, diese Kriterien miteinander zu harmonisieren, vor allem Punkt eins und zwei mit Punkt drei. Welches Kriterium besaß die Priorität? Die Grammatiker neigten naturgemäß dazu, Punkt zwei und damit ihre normierende Tätigkeit in den Vordergrund zu stellen, zumal sie die Norm, die von ihnen dekretierte richtige Sprachform, als etwas Reales, als die wahre Natur der Sprache hinstellten, die zu finden Aufgabe des Grammatikers sei 4 '. 45

Diese auf

„rationale

Struktur"

zielende Entwicklung

und

den

„rationalistischen

Zeitgeist" arbeitet für diese Zeit (für den Obergang vom Mhd. zum Nhd.) auch Rudolf Hotzenköcherle heraus in: Entwicklungsgeschichtliche Grundzüge des Neuhochdeutschen. I n : Wirkendes W o r t 12. 1962, S. 3 2 1 - 3 3 1 , Zitat S. 330. 48

Verf., Hochsprache und Mundart im schlesisdhen Barock. Köln, G r a z 1966, S. 23 f.

47

Anna Daube, D e r Aufstieg der Muttersprache im deutschen Denken des 15. und 16. Jhs. Diss. Rostock 1939.

48

D a z u Rudolf Hildebrand, Sachsens Antheil an der Ausbildung der neuhochdeutschen Sprache. I n : Die Grenzboten 19. 1860, 1, S. 99—113. (Der Artikel erschien anonym.) H i e r Zitate und Quellen des 16. bis 18. Jahrhunderts, die für die Identität der Hochsprache und der Sprache der „Gebildeten" Obersachsens eintreten. Wieder abgedruckt in: Gesammelte Aufsätze und Vorträge zur deutschen Philologie und zum deutschen Unterricht. Leipzig 1890, S. 3 1 5 - 3 3 5 .

49

M. H . Jellinek, Geschichte der nhd. Grammatik. l . H a l b b d . Heidelberg 1913, S. 1 1 6 ; „Die bedeutendsten Grammatiker gehören der Schotteischen Richtung an [ . . . ] " , der, so könnte man fortfahren, vor allem Niederdeutsche und Süddeutsche zuneigen. Jellinek formuliert weiter: „Die Ostmitteldeutschen trugen ihre Grammatik in sich."

90

Helmut

Henne

Das Analogieprinzip Schottels und seiner Schule ist das maßgebende Konzept sprachlicher Veränderung und Normierung 50 . Dieses räsonierend-deduktive Prinzip gibt im 17. Jahrhundert der Grammatik einen neuen Impetus. Nicht mehr vom Seienden, vom guten Gebrauch guter Schriftsteller — etwa von dem Luthers — oder von der Sprache einer Landschaft gingen die Grammatiker in erster Linie aus, sondern sie setzten die Normen kraft ihrer sprachwissenschaftlichen und auf soziale Distanzierung und damit sprachliche Einigung zielenden Einsicht. Und ein weiteres Faktum ist neu im Barockzeitalter: daß der normativen Grammatik vorausgehen oder folgen sollte ein ebensolches Wörterbuch, das — wie die Grammatik die sprachlichen Formen — den Wortschatz aufbereiten sollte für die Erfordernisse der postulierten Literatur- und Hochsprache. Neben den normierenden Grammatiker trat der normierende Lexikograph. Diese zugunsten einer theoretisch statuierten Norm betriebene Sprachlenkung darf nicht nur unter negativen Aspekten als Sprachverarmung und -Verkümmerung beschrieben werden, wie das 19. Jahrhundert unter dem Einfluß der Ansichten der Brüder Grimm dies zumeist tat. Die in Richtung auf eine Einheitsund Hochsprache betriebene Sprachnormierung garantiert zugleich eine höhere Qualität der sprachlichen Kommunikation hinsichtlich rationaler und intellektueller Inhalte. Der Abstraktionsprozeß der Sprache wird damit weiter vorangetrieben, eine „hinrichtung der spräche nach dem geistigen begriff" 51 findet statt. Voraussetzung z. B. für die Schaffung der deutschen philosophischen Wissenschaftssprache ist u. a. dieser Normierungsprozeß 52 . Schottel w a r Niedersachse, Gottsched Ostpreuße, Adelung Pommer. Die großen grammatischen Theoretiker kamen nicht aus Obersachsen, wenn das auch in den beiden letzten Fällen ihre Wahlheimat — auch sprachlich — wurde. 50

Es stammt aus der griechischen G r a m m a t i k und gilt auch den Poetikern der Zeit als Maßstab f ü r die Richtigkeit poetischer Sprache: „Sondern es muß vor allen dingen gewisse Masse und Regel / welche die Griechen avaXoyiav nennen / beobachtet werden." August Büchners Anleitung Z u r Deutschen Poeterey [. . .] Wittenberg [ . . . ] 1665, S. 47. In der modernen Sprachwissenschaft hat sich die Terminologie geändert: »Als Bestandteil der N o r m der Schriftsprache werden jene neuen Elemente angesehen, die regelmäßig hinsichtlich der neuen Struktur sind." Alois Jedlicka, Zur Prager Theorie der Schriftsprache. I n : T r a v a u x Linguistiques de Prague. 1. Prague 1964, S. 49. — Zu den Ansichten der „Prager Schule" über „Kodifikation und grammatische N o r m " — Ergebnissen der strukturalen und funktionalen Sprachwissenschaft über diese Probleme — siehe Josef Vachek (avec collaboration de Josef Dubsky), Dictionnaire de Linguistique de l'École de Prague. Utrecht/Anvers o. J. unter den Stichwörtern „codification de la norme grammaticale", „interventions normatives dans la langue littéraire", „norme et codification d'une langue".

51

Jacob Grimm, Deutsche G r a m m a t i k . Zweite Ausgabe, l . T h e i l . Berlin 1870, S. 21.

61

Vgl. Paul Piur, Studien zur sprachlichen Würdigung Christian Wolffs. Halle 1903. — Für die Gegenwart hat die Bedeutung dieses Normierungsprozesses H u g o Steger a u f gegriffen. Vgl. Sprachnorm, G r a m m a t i k und technische Welt. I n : Sprache im technischen Zeitalter 3/1962, S. 183—198. Steger spricht hier auch von der „rationellen Einflußnahme" auf die Sprache im 17. J a h r h u n d e r t . U n d f ü r die Gegenwart: „Vieles spricht d a f ü r , d a ß sich die Hochsprache (und nur sie!) entweder den rationalen A n forderungen anbequemt, oder d a ß das höhere menschliche Denken vollständig in die konsequenten künstlichen Sprachen auswandert" (S. 197).

Deutsche Lexikographie und Sprachnorm im 17. und 18. Jahrhundert

V.

91

Wörterbuchprogramme

I m Umkreis der „Fruchtbringenden Gesellschaft" setzt die Diskussion ein, wie die (theoretische) Sprachforschung und die (praktische) Spracharbeit auszusehen habe. Georg Philipp Harsdörffer entwirft 1644 in der „Schutzschrift für die Teutsche Spracharbeit" ein Programm, in dem er verkündet, „daß die dickermelte Teutsche Spracharbeit nachfolgendes Absehen h a t " : I. D a ß die Hochteutsche Sprache in ihrem rechten Wesen und Stande / ohne Einmischung fremder ausländischer Wörter / auf das möglichste und thunlichste erhalten werde. I I . D a ß man sich zu solchem Ende der besten Aussprache im Reden und der zierlichsten gebunden- und ungebunden Schreib-arten befleissige. I I I . D a ß man die Sprache in ihre grundgewisse Richtigkeit bringe / und sich wegen einer Sprache und Reimkunst vergleiche / als welche gleichsam miteinander verbunden sind. I V . D a ß man alle Stammwörter in ein vollständiges Wortbuch samle / derselben Deutung / Ableitung / Verdopplungen / samt denen darvon üblichen Sprichwörtern / anfüge. V . D a ß man alle Kunstwörter von Bergwerken / Jagrechten / Schiffarten / Handwerkeren / u. d. g. ordentlich zusammentrage. V I . D a ß man alle in fremden Sprachen nützliche und lustige Bücher / ohne Einmischung fremder Flickwörter / übersetze / oder ja das beste daraus dolmetsche5®. Diesen Entwurf fand der geschäftige Harsdörffer selbst so gut, daß er ihn 1646 nochmals publizierte, nunmehr in lateinischer Sprache 5 4 . Die sprachlichen Bemühungen und Aktivitäten der Zeit fing dieses Programm recht präzis ein: M a n war auf der Suche nach dem „rechten Wesen und Stande" der hochdeutschen Sprache (I), sowohl der gesprochenen wie geschriebenen ( I I ) . Dieses „rechte Wesen" zu garantieren, ist Aufgabe der Grammatik, die die „grundgewisse Richtigkeit" zu verbürgen hat, wie auch der Poetik ( I I I ) : Beides gehörte zusammen, Schottel schrieb nacheinander eine „Sprachkunst" und eine „Reimkunst". Dazu ist aber gleichfalls ein „Wortbuch" vonnöten, das die Stammwörter „vollständig" sammelt, etymologisch deutet sowie die möglichen Ableitungen und Zusammensetzungen bringt ( I V ) . Nicht das Wörterbuch als Thesaurus steht auf dem Programm, sondern der sprachwissenschaftlich analysierte und fixierte Wortschatz in (vermeintlich) übersichtlicher Gliederung nach Wurzelwörtern. Auch das Wörterbuch steht im Dienst der Sprachrichtigkeit. Neben 58

54

Schutzschrift / für die Teutsdie Spradiarbeit / und Derselben Beflissene: Zu Einer Zugabe / den Gesprächspielen angefüget. durch den S P I E L E N D E N . In: F R A V E N ZIMMER G E S P R E C H S P I E L E / [ . . . ] Nürnberg [ . . . ] 1644. [Anhang], S. 18. In: Georgi Philippi Harsdorferi Specimen Philologicae Germanicae, Continens Disqisitiones X I I . De Linguae nostrae vernaculae Historia, Methodo, 8c Dignitate. [ . . . ] Norimbergae [ . . . ] M. DC. X L VI., S. 166.

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gemeinsprachlichem Wortschatz gehört hierzu auch der fachsprachliche (V). Hilfsmittel und nützliche Vorübung zur Vervollkommnung der deutschen Sprache ist die Übersetzung ausländischer Literatur (VI), „ohne Einmischung fremder Wörter", wie Harsdörffer schon in P u n k t I hervorgehoben und womit er didaktisch geschickt sein Programm eingeleitet hatte: Sprachpurismus als sprachlenkendes und -normierendes Mittel begreift auch der einfachere Sprachteilnehmer. Aus diesem umfassenden Programm sollen im folgenden die Konzeptionen näher untersucht werden, in denen präskriptive normative Funktionen des Wörterbuchs in den Vordergrund gestellt werden. Der Weg zum umfassenden deutschen Wörterbuch ist mit vielen Programmen gepflastert. Es wäre Aufgabe einer Akademie, einer wissenschaftlichen Korporation gewesen, dieses Werk zu schaffen, zumindest in ihre Obhut zu nehmen, wie in Frankreich oder Italien. Zwar wurden die theoretischen Voraussetzungen und die Programme in der Fruchtbringenden Gesellschaft und später in der Berliner Societät (nach 1700) diskutiert; doch die praktische Vollendung war das Werk einzelner. Dabei fehlte es den erfahrenen Lexikographen nicht an der Einsicht, daß diese Aufgabe die K r ä f t e eines einzelnen überstieg. Harsdörffer, der zu den Wörterbuchtheoretikern des 17. Jahrhunderts gehörte, regte an, daß sich sicher zwanzig Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft finden ließen, „deren ein ieder einen Buchstaben übernehmen, und noch dieses Jahr bey dem Ertzschrein einschicken sollte" 55 . Fürst Ludwig bezeichnete das als ein brauchbares Konzept 5 6 . Christoph Ernst Steinbach, einer der Wörterbuchmacher des 18. Jahrhunderts, meint noch 1724 in der Vorrede zu seiner Grammatik: „Denn vor einen ist es ein unmögliches Werck" 57 . In der Vorrede zur ersten Auflage seines Wörterbuchs (1725) sinnt er auf Abhilfe, die so unwirksam wie die Harsdörffers w a r : „Mir schiene es aber am besten, wenn sich einer mein Wörterbuch durchschiessen liesse, und bey iedem Worte gleich anmerckte, was er anzumercken hätte" 5 8 . Dieses Exemplar möge er dann mit Anmerkungen (bitte) zurückschicken oder dem H e r r n Verleger auf der Messe übergeben: Steinbach versuchte, aller Ehre wert, sich eine Privatakademie unter Beteiligung anderer Sprachforscher zu schaffen 59 . Doch nicht nur praktische Arbeitserfahrungen 55

Krause, Ertzschrein a. a. O., S. 392.

58

a. a. O, S. 397. An den „Suchenden" (Schottel) schreibt er 1645: „Wegen des Deutschen Wörterbuches were wol nötig die arbeit ausZutheilen [ . . .]" a. a. O., S. 297.

57

Christ. Ernst Steinbachs kurtze und gründliche Anweisung zur Deutschen Sprache. [ . . . ] Rostochii et Parchimi [. . .] 1724. Vorrede, Bl. a4 v — Diese Erkenntnis ist sehr weit verbreitet. Vgl. (im selben Jahr): Vorbote Eines Teutschen Lexici Etymologici, [. . .] von Christoph Thiebern, Breßlau, [. . .] 1724, S. 20 f.: „Man siehet wohl heraus, wie schwer diese Arbeit sey, und fast wegen der unsäglichen Kosten und Mühe einem eintzigen Privat-Manne unmöglich [. . .]."

58

Christoph Emst Steinbachs Deutsches Wörter-Buch [ . . . ] Breßlau, [ . . . ] 1725. (Vorrede).

" Einen hat sein Aufruf zumindest erreicht: Gotthold Ephraim Lessing. In seinem Nachlaß fand sich ein durchschossenes Exemplar von Steinbachs Deutschem Wörterbuch von 1725. Vgl. Arthur Hübner, Lessings Plan eines deutschen Wörterbuchs. In: Kleine Schriften zur deutschen Philologie. Berlin 1940, S. 237.

Deutsche Lexikographie

und Sprachnorm

im 17. und 18.

Jahrhundert

93

ließen diese Männer auf Abhilfe sinnen. Steinbach brachte auch seine Kenntnis der Geschichte um die lexikographische Zuversicht: „Man betrachte nur selber, wie viele zwar deutsche Lexica versprochen, aber wenig heraus kommen sind" 6 0 . Vom nur versprochenen bis zum fertiggestellten Wörterbuch gibt es viele Zwischenstufen, die man als „Programme und P r o b e n " zusammenfassen kann. Am uninteressantesten sind — naturgemäß — nur die versprochenen W e r k e : Von Paul Schede Melissus geht die Mär, er habe ein Wörterbuch geschrieben (und eine Einleitung in die deutsche Sprache)' 1 ; J o h a n n Bernhard Zinserling soll „eine vollständige Arbeit eines Teutschen Lexici vorgenommen" haben 6 2 . Auch bekanntere Namen stehen in dieser Reihe: Die Enttäuschung über das von Gottsched angekündigte, aber nur im Umfang eines Probebogens erschienene Wörterbuch war g r o ß " . Zur selben Zeit ( 1 7 5 9 ) ließ auch der Basler Professor der Beredsamkeit, J o h a n n J a c o b Spreng, einen Probebogen: „Vorschlag eines allgemeinen deutschen Glossarii" drucken, in dem er vor allem auf „Bereicherung unserer Sprache" durch ausgefallenen Wortschatz aus war 6 4 . I m Kreis der Fruchtbringenden Gesellschaft erhebt zuerst Christian Gueintz die Forderung nach einem „Wörterbuch" ( 1 6 4 0 ) u n d einem „Redensartbuch", also einem phraseologischen Lexikon 6 5 . E r gebraucht auch nach Comenius 6 6 den sich dann durchsetzenden Terminus „Wörterbuch" zum ersten Mal. Ihm folgt Justus Georg Schottel mit dem Entwurf eines Entwurfs: in seiner „Teutschen Sprachkunst" von 1641 kündigte er an, daß die zehnte Lobrede „de modo Sc methodo conficiendi Lexicon in lingua P a t r i a " handeln solle. Doch: „Manebit ei fortasse alius locus" 8 7 . Dieser „andere O r t " der Ausführung des Programms wurde dann die „andere Auflage" der „Sprachkunst" von 1651. Doch zuvor hatte er schon 1641 in der ersten Lobrede „Von der Uhralten Hauptsprache der Teutschen [ . . . ] " einen weiteren summarischen Hinweis auf die Notwendigkeit eines „vollstendigen Wörterbuchs der Teutschen" gegeben, „und zwar also / daß ein jedes W o r t zu seinem Stamme oder Wurtzel gebracht / und mit bey60

[ . . . ] Kurtze und gründliche Anweisung zur Deutschen Sprache [ . . . ] a. a. O.

61

Elias Caspar Reidiards Versuch einer Historie der deutschen Sprachkunst. Hamburg 1747, S. 151, der wiederum auf Harsdörffers Specimen Philologicae Germanicae (1646), neunte Untersuchung, verweist.

82

Daniel Georg Morhofen Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Poesie / deren Uhrsprung / Fortgang und Lehrsätzen. [. . .] Kiel / [. . .] 1682, S. 504.

63

Adelung druckt in der ersten Auflage seines Wörterbuchs, 1. Bd. 1774, S. III—V einen Auszug dieses Probebogens ab. Als Ersatz für das Wörterbuch gelten seine „Beobachtungen über den Gebrauch und Missbrauch vieler deutscher Wörter und Redensarten". Straßburg und Leipzig 1758. Neu hrsg. von Johannes H. Slangen. Utrecht 1955.

64

Adolf Socin, Schriftsprache und Dialekte im Deutschen nach Zeugnissen alter und neuer Zeit. Heilbronn 1888, S. 395 f. Eugen Frühe, Untersuchungen über den Wortschatz schweizerischer Schriftsteller des 18. und 19. Jhs. Diss. Freiburg/Br. 1913, S. 4.

65

Krause Ertzschrein a. a. O., S. 245.

66

Vgl. Kluge-Mitzka, Etymologisches Wb. der dt. Sprache. Berlin 1963, S. 870.

67

Justi-Georgii Schotteiii / Einbeccensis, Teutsche Sprachkunst / [. . . ] Braunschweig [ . . . ] 1641, S. 172.

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gefügten guten Exempeln auß allerhand Authoren erkäret würde" 6 8 . Doch vorher sei eine Grammatik vonnöten. Diesen Ankündigungen folgte in der zweiten Auflage von 1651, „wie ein völliges Lexicon in Teutscher Sprache zuverfertigen" sei 69 . Zwischen diesen beiden Jahreszahlen, 1640 (Gueintz) und 1651 (Schottel), liegt die erste intensive Diskussion deutscher Gelehrter, wie ein Wörterbuch in der Muttersprache am zweckmäßigsten einzurichten und am schnellsten zu verfassen sei. Den Verlauf dieser Diskussion haben Jellinek 7 0 und Powitz 7 1 nach dem urkundlichen Material Gottlieb Krauses beschrieben. An dieser Diskussion sind vor allem Schottel, Harsdörffer, Gueintz und Fürst Ludwig beteiligt. Harsdörffer unterbreitet 1648 als erster einen in sich geschlossenen Plan eines deutschen Wörterbuchs. E r geht so vor, daß er in seinem Entwurf den ausführlichen Titel des projektierten Wörterbuchs (s. Abbildung 1) Wort für Wort kommentiert: Titel sind zu dieser Zeit graphisch gestaltete Inhaltsangaben. Entkleidet man Titel und Kommentar des plakativen und demonstrativen Charakters, so kann man vier Hauptgesichtspunkte des Programms erarbeiten: 1. Das Wörterbuch soll möglichst vollständig sein; 2. es soll (vorwiegend) auf literarischen Quellen ruhen; 3. es soll „kunstfüglich", d. h. „methodice", d. h. „lehrrichtig" sein, im heutigen Deutsch: Die einzelnen Wortartikel sollen systematisch nach grammatischen Prinzipien eingerichtet werden; 4. es soll die Wörter auch im Kontext, nämlich „redarten, phrases" bringen. Punkt eins garantiert den säkularen Charakter des Unternehmens und grenzt es gegen frühere deutsche Wörterbücher ab. Genannt werden „Heinisch" und „Pictorius" 7 2 . Punkt zwei und drei sollen den wissenschaftlichen Anspruch des Unternehmens rechtfertigen. Sie sind noch weiter zu differenzieren. Als Quellen werden genannt: die „Reichsabschiede", „Goldast", „D. Luther" und „die Poeten" 7 3 . Hier stehen nebeneinander Kanzleisprache, biblische und literarische Sprache. Daneben werden die älteren Wörterbücher als Hilfe für die Sammlung der Stammwörter genannt. Dieses aus schriftlichen Quellen exzerpierte Material soll nun „nach ihrer [der Sprache] angebornen Eigenschafften" eingerichtet werden. Diesen dunklen Spruch des Titels erläutert Harsdörffer im Kommentar: Diese „Eigenschafften" würden bestimmt durch den „Gebrauch" und die „Analogia". Man muß sich also vorstellen, daß das (vollständige) Wörterbuch aus 68

a. a. O., S. 9.

•• Justi-Georgii J. V. D. Teutsche Sprachkunst / [ . . . ] Braunschweig [ . . . ] 1651, S. 293. 70

Geschichte der nhd. Grammatik, 1. Halbbd., S. 182—184.

71

Das dt. Wörterbuch J. L. Frisdis, S. 1 4 - 1 7 .

72

Gemeint ist Georg Henisch, Teütsche Sprach vnd Weißheit. [ . . . ] Augustae Vindelicorum [. . . ] M. D. C. X V I . — Henisch ist der im Umkreis der Fruchtbringenden Gesellschaft mit der größten Hochachtung genannte Vorgänger. Pictorius ist Latinisierung von (Josua) Maaler.

73

Krause, Ertzschrein a. a. O., S. 388. Alle folgenden Zitate aus Harsdörffers Entwurf a. a. O., S. 388.

Deutsche

Lexikographie

und Sprachnorm

im 17. und 18.

Jahrhundert

95

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Lexikographie

und Sprachnorm

im 17. und 18. Jahrhundert

109

angesehen wurde —das lexikographische Verfahren als solches ist älter 122 —, wurde natürlich auch von den Praktikern an das gesammelte Material herangetragen, wenn auch in unterschiedlicher Konsequenz und z. T. unterschiedlicher Intention. Ein Vergleich etwa der Behandlung des „Stammwortes" Adel, seiner Zusammensetzungen und Ableitungen (edel) kann das zeigen. Am konsequentesten verfährt hier Kaspar Stieler, der erste normierende Wörterbuchschreiber. Er ordnet alle möglichen Zusammensetzungen, etwa Amtsadel, Blutadel, Erbadel, Landadel, Stadtadel-, wie auch die Ableitungen adlich und edel ohne Rücksicht auf das Alphabet dem Stammwort unter. Zu edel bemerkt er: „nonnulli Aedel per ä scribunt, cum ab Adel descendat." Dennoch möchte er der üblichen Aussprache und dem vorherrschenden Gebrauch den Vorzug geben, was ihn veranlaßt, das Lemma edel anzusetzen, aber gegen den Gebrauch nicht unter dem Buchstaben e. Die auf schnelle Auffindbarkeit eines Wortes drängenden Benutzer entschädigte er durch ein beigegebenes alphabetisches Register. Dieser Versuchung, die Sprachwirklichkeit auch im Ansatz des Stichwortes widerzuspiegeln, verfällt schon sein Nachfolger Christoph Ernst Steinbach. Zwar ordnet er die Zusammensetzungen Erbadel, Landadel und Stadtadel — Amtsadel und Blutadel fehlen, haben auch kein eigenes Stichwort — sowie die Ableitung adelig dem Lemma Adel unter; es erscheint auch Aedel, das „hodie plerumque scribitur cum simplici e". Dann aber kommt die Überraschung: „vide suo loco". Damit war schon der erste Schritt zur Auflösung dieses etymologisch-deduktiven Prinzips der Lemmatisierung getan. Die Nachfolger setzten das konsequent fort. Adelung brachte zwar unter dem Stichwort Adel die Zusammensetzungen Reichsadel, Landadel, Stadtadel, aber nur zur Illustration seiner zweiten Bedeutung von Adel: „Mehrere mit der adeligen Würde begabte Personen." Dieselben Wörter erschienen an der entsprechenden Stelle des Alphabets als selbständige Lemmata. Das alphabetische Wörterbuch, auf einem rein medianischen Prinzip aufbauend, war damit wieder zu Ehren gelangt. Im gleichen Sinne wie Adelung verfuhr sein Antipode Campe. Sonderfälle stellen die Wörterbücher von Kramer (1700—1702) und Frisch (1741) dar. Jener bejahte für sein auch dem Fremdsprachenunterricht dienendes „Teutsch-Italiänisches Dictionarium" ausdrücklich das Stammwortprinzip der Lemmatisierung, und er ist hierin „dem unvergleichlichen Schottelio [ . . . ] nach Möglichkeit gefolget" 123 . Er glaubte, daß durch solche „K u n s t - s t ü c k e [ . . . ] die Sprach desto leichtlidierdaraus könne erlernet werden" 124 . Seine lexikographische Praxis bietet aber einen Kompromiß. Zwar ordnet er unter Adel auch Reichs-adel125 und Stadt-adel unter, aber er setzt diese Stichwörter unter R und S 122 Ygi f Starnes de Witt, Renaissance Dictionaries. English-Latin and Latin-English. Austin and Edinburgh 1954, S. 343: „In the sixteenth Century three methods of arranging words in the Dictionary were in vogue: the topical, in which the words are collected under general headings [ . . . ] ; the etymological, in which the primitive or root word is placed first and the derivates after and the alphebetical [ . . . ] Order of arrangement. 12S „Hochnöthiger Vor-Bericht", Bl. bl*. 124

a. a. O., Bl. d2*. Sperrung v o n mir. H . H .

125

Kramer macht die Wortbildung jeweils durch „Scheidstrichlein" (Bl. d3 v ) deutlich.

110

Helmut Henne

nochmals neu an. Land-adel und Reichs-adel bringt er nur an der entsprechenden alphabetischen Stelle. Die Ableitung adelich bringt er unter Adel, verweist aber hier nur auf edel unter e. Diesen z. T. zweifachen Ansatz eines Stichworts rechtfertigt er durch den zweifachen Zweck seines Wörterbuchs als „Lern- und Studir-" sowie „Aufschlag-Buch"126. Außerdem verheißt er als Abhilfe des „kleinen Beschwernüs" partieller etymologischer Lemmatisierung ein Register, das aber nicht erschien. Auf den gleichen Kompromiß steuert Frisch in seinem Wörterbuch zu. Er rechtfertigt das im „Vorbericht" ausdrücklich gegen Steinbach im Hinblick auf die „Jugend" und „die Ausländer". So hat er, über Kramer hinausgehend, auch die Präpositionen (an der entsprechenden alphabetischen Stelle) „vor ihren Wörtern in der Composition gelassen". Für Henisch kann hier das Urteil seiner Nachfolger teilweise bestätigt werden: Zwar setzt er jeweils ein Stammwort als Lemma an, bringt aber „allemal dessen gleichgültige Wörter (Synonyma), die abgeleiteten Wörter (deriuata), die Beywörter (Epitheta), die gebräuchlichsten Redensarten und Wortfügungen (Phrases), die Sprüchwörter (Proverbia) und denn endlich die bey den alten und neuern Deutschen übliche kluge Denksprüche (Sententiae) [ . . . ] , weswegen er denn auch diesem Buche selbst die Aufschrift: Teutsche Sprache und Weisheit gegeben" 117 . So bot er unter dem Lemma Adel auch den Namen Alheit ( = Adelheid) und die Übersetzung von Adel in neun Sprachen. Steinbach merkte zu seinem Vorgänger Henisch charakteristischerweise an („Vorrede" Bl. ** 3 r ): „die wahren Grundwörter sind nicht richtig beobachtet und die daher abstammenden Worte ordentlich beygesetzt worden; denn wenn solches wäre, wie können die Worte beteuben, bethewren [ . . . ] u. s. w. in den Buchstaben B, Gesund, Getrost, Gevögel in den Buchstaben G [ . . . ] gesetzt werden?" Doch schon Frisch hatte sich sieben Jahre nach Steinbach dieselbe Freiheit wiederum herausgenommen. Immerhin zielte Henisch — wie der Titel andeutet — auf einen deutschen Thesaurus. Die Kunst der „Composition" und „Derivation" war für ihn kein konstitutiver Faktor der Lexikographie, sie war Zugabe. So zeigt sich, daß das strenge Prinzip der Stammwortlemmatisierung erst durch Schottel eingeführt und nach ihm allmählich wieder aufgegeben wurde. Die Lexikographen schlössen Kompromisse mit dem alphabetischen Prinzip. Am Ende, bei Adelung und Campe, stand das alphabetische Wörterbuch. Die Möglichkeit, mit Hilfe der etymologischen Anordnung des Wortmaterials sprachnormierend in die Entwicklung einzugreifen, hatte sich als gering erwiesen. Schon bald wurde Kaspar Stieler, der strengste Verfechter dieser Methode, wegen seiner neuerfundenen Wörter getadelt, die er nichtsdestoweniger grammatisch, d. h. wortbildnerisch korrekt, bildete. Um bei dem angezogenen Beispiel 1S

« a. a. O., Bl. d4*.

117

Gottsched in: Beyträge Zur Critisdien Historie Der Deutschen Sprache [ . . . ] Viertes Stüde [ . . . ] Leipzig [ . . . ] 1733, S. 585. — Zu dieser Würdigung des Wörterbuchs von Henisch durch Gottsched a. a. O. S. 571—592 muß man greifen, um sich zu informieren.

Deutsche Lexikographie

und Sprachnorm

zu bleiben: Solche Wörter wie an-adeln,

Jahrhundert

111

gehorchen zwar

den

im 17. und 18. Mut-adel128

postulierten Gesetzen der Wortbildung, blieben aber dennoch Gebilde aus der Retorte. Es mußten andere „Kunststücke" hinzukommen, um die beabsichtigte sprachnormierende Wirkung zu erzielen. In diesem Zusammenhang spricht der am Ende unserer Reihe normativer Wörterbücher stehende Joachim Heinrich Campe in der Vorrede zu seinem W e r k von einem gewissen „ K u n s t g r i f f , die Würdigung der Wörter nach dem Grade ihrer Sprachrichtigkeit oder Verwerflichkeit, ihres Alters oder ihrer Neuheit, ihrer allgemeinen oder beschränkten Gangbarkeit in einzelnen Landschaften, ihrer größeren oder geringeren Würde oder ihrer Brauchbarkeit für die höhere oder niedrigere, für die ernste oder scherzende Schreibart, nicht durch Worte, sondern durch kleine, den Wörtern vorzusetzende Zeichen anzudeuten [ . . . ] " 1 2 9 . Dieser „Kunstgriff", durch vorgesetzte Sternchen und Kreuzchen und andere phantasievolle Zeichen sprachlenkend und sprachnormierend auf den deutschen Wortschatz einzuwirken, ist nicht, wie es scheinen könnte, Campes Erfindung. Wohl aber muß ihm die konsequenteste Ausweitung dieses Prinzips zugesprochen werden. Den normativen Lexikographen ist es zumindest seit Steinbach ( 1 7 3 4 ) bekannt, dessen lateinische „ P r a e f a t i o " eine Legende von fünf Zeichen enthält: + vocem non ubique usitatam, +

vocem obsoletam,

* * vocem ratione derivationis solum annotatam, ^ vocem plebejam, quae in scriptis non adhibetur, * vocem corruptam 1 3 0 . Nach ihm nahm Frisch ( 1 7 4 1 ) nur ein „Sternlein" in Anspruch, um veralteten Wortschatz zu bezeichnen 131 . Adelung verzichtete in der ersten Auflage seines Wörterbuchs auf differenzierende Zeichen und arbeitete mit verbaler Charakteristik in einem Schema, das er in der Vorrede gab: „Ich habe zu dem Ende fünf Classen angenommen; 1. die höhere oder erhabene Schreibart; 2. die edle; 3. die Sprechart des gemeinen Lebens und vertraulichen Umgangs; 4. die niedrige, und 5. die ganz pöbelhafte [ . . . ] (die) [ . . . ] tief unter dem Horizonte des Sprachforschers, daher man sie hier nicht suchen darf, außer wenn einige besondere U m stände eine Ausnahme nöthig machten" 1 3 2 . In der zweiten Auflage tauchen dann plötzlich ein Sternchen (*) und ein Kreuzchen ( + ) auf, die aber nicht erklärt wer128

Das Grimmsche DWb. verweist Bd. V, 2794 unter Mutadel nur auf Stieler. Anadeln ist überhaupt nicht nachzuweisen. Schon Steinbach kritisierte („Vorrede" Bl. **4 r ), daß Stieler „Worte nach eigenem Belieben hinsetzt, die man doch nicht weder in gemeinen Reden noch Schriften braucht, als: einen bangen, [. . .] neben billigen, [...] an alten [...]".

129

1. Bd. 1807, S.V. Sperrung von mir. H . H .

130

1. Bd. 1734 Bl. 6'.

131

„Vorbericht" Bl.)( 3*.

132

1. Aufl. 1. Bd. 1774, S.XIV.

112

Helmut

Henne

den und eigentlich auch hier überflüssig sind, weil Adelung seine verbale Charakteristik beibehält. Das Kreuz dient zur Markierung von Wortschatz des gemeinen Lebens und fachsprachlicher Terminologie und der Stern zur Bezeichnung lokalen und veralteten Wortschatzes. Campe bot dann am Ende eine Liste von vierzehn Zeichen und einen Zusatz: „Wörter, die allgemein üblich sind, und für jede Schreibart passen, haben gar kein Zeichen" 133 . Dies schien die Ausnahme zu sein. Ein Zeichen sprach für seine Aufrichtigkeit: O „Dergleichen Wörter, die von Campe herrühren [ . . .]" 1 3 4 . Man sieht, die Sternchensetzung war durchaus individuell und nicht in sich gleichwertig. Eine wesentliche Aufgabe bestand darin, die drei Stilebenen zu bezeichnen. Adelung formulierte das in seinem allerdings verbalen Schema am klarsten. Auch Campe unterschied durch seine Zeichen die „niedrige" und die „höhere Schreibart", die er dann noch weiter differenzierte: „Niedrige, aber deswegen noch nicht verwerfliche Wörter"; „Niedrige Wörter, die ans Pöbelhafte grenzen." Steinbach bezeichnete hiervon nur die unterste Ebene: „Vocem plebejam". Ferner wurden durch solche „Kunstgriffe" „veraltete" und „landschaftliche" Wörter gezeichnet 1 ' 5 . Daß Stieler sie in seinem Wörterbuch noch nicht führte, besagt nicht, daß er auf deren Wirkung verzichtete: Er ersetzte sie durch verbale Zusätze: „zumal in diesem Wörterbuche allezeit beygesetzet worden / welches Wort und welche Redart unhöflich / unzüchtig und gotteslästerlich sey"13®. Kramer hingegen pochte im „Hodinöthigen Vor-Bericht" auf seine lexikographische Freiheit, da er nicht eine „Ethica oder Sittenlehre" zu schreiben gedenke, sondern „ein vollständiges Teutsch-Italiänisch Wörter-Buch", das „einige gantz natürliche Dinge andeutende Stammwörter / it. die etwa dahin gehörige Redarten" nicht auslassen könne 137 . Immerhin räumte er ein: „Hab ich allzeit die Censur der Unehrbarkeit darzu gesetzt" 138 . Auch Henisch betonte, daß er kein „vulgare dictionarium" schreibe, doch seine Energie richtete sich gleichfalls auf anderes. Sein Ziel war ein „opus omnibus ceteris lexicis plenius & perfectius" 139 . In seinem Bestreben nach Vollständigkeit ist „er viel weiter gegangen, und hat nebst den bekannten Wörter und Redens-Arten mit vieler Sorgfalt gesammelt, die man in jenen [den Glossaren des 16. Jahrhunderts] ganz vergebens suchet" 140 . 133

1. Bd. 1 8 0 7 , S . X X I .

131

a. a. O .

135

138

Auch kleinere Wörterbücher des 18. J a h r h u n d e r t s übernehmen die kunstvollen Zeichen. Benedikt Friederich Nieremberger schreibt in seinem „Deutschlateinisches Wörterbuch [. . .]" Regensburg 1 7 5 3 im V o r w o r t ( B l . ) ( 3 r ) : „ D a es aber billig w a r , diese v o n seinen guten und durchaus verständlichen W ö r t e r n zu unterscheiden, so sind die beiden ersten Gattungen [veraltet und Provinzialismus] mit einem (*), die letzere [ F r e m d w ö r t e r ] aber mit einem ( + ) bemerket worden." „Vorrede" Bl. )( )( )( IV^.

137

„Hochnöthiger Vor-Bericht" Bl. (e) 3 r .

138

a.a.O.

139

„Praefatio" )( 4'.

140

Gottsched in: Beyträge Zur Critischen Historie D e r Deutschen Sprache [ . . .] Viertes Stück. Leipzig 1 7 3 3 , S. 584.

Deutsche Lexikographie

und Sprachnorm im 17. und 18. Jahrhundert

113

Auszeichnungen in Gestalt der „Kunstgriffe" oder verbale Zensuren fehlen bei ihm. So zeigt sich, daß sowohl der frühe Versuch von Henisch (1616) als auch die Wörterbücher von Kramer (1700/02) und Frisch unter anderen Vorzeichen stehen. Diesen Wörterbuchschreibern geht es um Vollständigkeit (Henisch), wodurch zugleich ein getreues Spiegelbild der Sprachrealität gegeben werden soll (Kramer), die aber zugleich historische Dimensionen und den Fachwortschatz miteinbegreift (Frisch). Stieler, Steinbach, Adelung und Campe glaubten strengere Maßstäbe zu haben, vor allem für sozial und geographisch differenzierten Wortschatz: Die „Kunstgriffe" und der verbale Ersatz beweisen es. Stieler erklärt zudem in seiner „Zuschrift", daß „die Richtschnur der Hochteutschen Sprache [ . . . ] das prächtige Dreßden / das heilige Wittenberg / und das Süßeste aller Städte / Leipzig / (sei) welches auch von ihrem Sprachen Zucker / dem sonst salzichten Halle solch eine milde Beysteuer verehret" 1 4 1 . Mit einem W o r t : Die Städte Obersachsens haben die richtige Sprache. Hiervon ist natürlich der „gemeine Pöfel" ausgenommen, wie weiter oben ausdrücklich betont wird 142 . Steinbach unterstreicht zwar immer wieder, daß die „Richtigkeit einer Sprache" durch die „Grundwörter" garantiert werde 143 . Allein, auch er fügt hinzu, daß er von seinen Landsleuten, den schlesischen Poeten, angeregt sei: „Ich würde oft nimmermehr auf diß oder jenes Wort, hätte mir Günther oder der Herr von Hofmannswaldau, nicht dazu Gelegenheit gegeben, gedacht haben [ . . . ] " 1 4 4 . Zuvor hatte er erklärt, er habe „was weniges von Schlesischen Gedichten bey gefüget" 145 und noch weiter vorn fällt die Wendung: „ [ . . . ] bey uns in Schlesien [ . . .]" 1 4 6 . Diese Sprachlandschaft, seine Heimat, galt i h m offensichtlich als „Richtschnur". Die schlesischen Poeten des 17. Jahrhunderts entfalteten eine späte Wirkung im normativen Wörterbuch. Bei Adelung steht das Wesentliche gleich im Titel und in der Zueignung zur zweiten Auflage. E r schreibt ein „Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart [ . . . ] " . Die Widmung „Seiner Churfürstlichen Durchlaucht von Sachsen [ . . . ] " erläutert, wo die hochdeutsche Mundart zu finden sei: „Ew. Churfürstl. Durchlaucht beherrschen diejenigen glücklichen Staaten, in welchen die hochdeutsche Mundart gebildet und ausgebildet worden, und aus welchen sich selbige als die höhere Schriftsprache über das ganze aufgeklärte Deutschland i4!

B1

142

„Vorrede"

143

„Geneigter und Deutsdiliebender L e s e r " Bl. * , : ' v .

. ) ( i i j v und folgende. Bl.)()()(v.

144

„ V o r r e d e " Bl. *»7v.

145

a. a. O .

146

a . a . O . — Gottsched stellte später fest: „Steinbach will alles nach der schlesischen M u n d a r t einrichten [. . . ] " s. S. 102. D e r Basler Professor J o h a n n J a c o b Spreng polemisierte 1 7 4 3 gegen beide, gegen den „ [ . . . ] eklen Schlesier oder Sadhsen, der seine M u n d a r t A n d e r n zur Richtschnur aufdrängen will [ . . . ] . " Zitiert bei A d o l f Socin, Schriftsprache und Dialekte im Deutschen nach Zeugnissen alter und neuer Zeit. H e i l b r o n n 1 8 8 8 , S. 3 9 5 .

8

Mitzka, Wortgeographie

114

Helmut

Henne

verbreitet hat" 147 . In der Vorrede zum „Umständlichen Lehrgebäude der Deutschen Sprache [ . . .]" 148 spezifizierte er weiter, daß das „gute und richtige Hochdeutsch" sich aus dem „Hochdeutschen Sprachgebrauche" ableiten müsse, „d. i. aus dem Sprachgebrauche der südlichen Chursächsischen Lande, welche das Vaterland der Hochdeutschen Mundart sind, wo sie (verstehet sich von selbst unter den obern Classen,) noch so rein gesprochen wird [ . . .]" 149 . Der eingeklammerte Satz ist in diesem Fall der weiterführende: Er schränkt die vorbildliche Sprache soziologisch ein. Eine Entschuldigung dafür, daß „provinzieller" und „niedriger" Wortschatz in seinem Wörterbuch dennoch auftaucht, gibt Adelung in der Vorrede zur zweiten Auflage (1793): „Manche provinzielle oder unrichtig gebildete Wörter kommen bey sonst guten Schriftstellern vor, und konnten daher nicht übergangen werden, wäre es auch nur, ihre Mängel zu zeigen. Eine große Menge sonst niedriger Wörter ist für die niedrig-komische Schreibart brauchbar, und hatte also ein gegründetes Recht gleichfalls aufgeführet zu werden" 150 — doch nur unter der Voraussetzung, daß diese Wörter als solche gezeichnet würden, ist zu ergänzen. Campe setzte die Akzente in einem Punkte anders. Die „allgemeine Deutsche Sprache" ist für ihn ein „Aushub aus a l l e n Mundarten"; ausgeschlossen wird das, was den „Ähnlichkeitsregeln der gemeindeutschen Sprache widerstrebt, sammt Allem, was pöbelhaft ist" 151 . Im Sinne des Niederdeutschen Schottel ist die Hochsprache für den Niederdeutschen Campe ein über den Mundarten stehender Extrakt im Munde der „Gebildeten". Man sieht: Die „Vorreden" gehen über die grammatische Stammworttheorie und das Analogieprizip hinaus. Die praktische Arbeit erforderte jeweils eine konkrete Entscheidung. Die normativen Praktiker lehnten sich zumeist an eine von ihnen als vorbildlich erkannte Sprachlandschaft an, die für die Mehrzahl Obersachsen hieß. Erst am Ende verfocht Campe das von den Theoretikern Harsdörffer, Schottel und Bödiker vertretene Prinzip „über allen Mundarten". Der dazugehörige Grundsatz: „im Munde der Gebildeten" war für alle normativen Lexikographen conditio sine qua non. Hinsichtlich der geographischen Varianz und der sozialen Schichtung des deutschen Wortschatzes suchten sie klare Entscheidungen zu treffen. Zu den „Kunststücken" traten die „Kunstgriffe", die durch negative Auslese und Markierung eine gewisse Invarianz des hochsprachlichen Wortschatzes garantieren sollten. 147

Bl. a4 r . Länger ausgeführt mit dem Versuch einer historischen Herleitung ist das in der Vorrede zur 1. Auflage, l . B d . 1774, S. V I I I - X I I ; z . B . S. I X : „Die heutige obersädisisdie Mundart, welche der Grund der hochdeutschen ist [ . . . ] . "

148

f . . . ] zur Erläuterung der Deutschen Sprachlehre für Schulen. Leipzig 1782.

149

Zitiert nach M. H . Jellinek, Geschichte d. nhd. Grammatik, l . H a l b b d . , S. 361 f. D a ß Adelung sidi gelegentlich widerspricht und die Hochsprache als ein Extrakt aus allen Provinzen hinstellt, legt Jellinek a. a. O. S. 363 dar.

1S

» „Vorrede" S. IV.

151

.Vorrede" S. VIII.

KLAAS

HEEROMA

Mundartwörterbücher im Königreich der Niederlande

Die Nederlandistik — ich stelle das keineswegs zu ihrer Ehre, noch zu meiner Freude fest — hat in der Vergangenheit allzusehr die Neigung gehabt, sich selbst ausschließlich als eine nationale Wissenschaft anzusehen, und sie spürte allzuwenig das Bedürfnis, den ihr zukommenden Platz im größeren Verband der internationalen Germanistik einzunehmen. Man kann allerdings auch sagen, daß die internationale Germanistik ebenfalls über viele Jahre hinweg allzuwenig Interesse an den Resultaten der Nederlandistik zeigte. Was hierbei Ursache und was Folge war, möchte ich im Moment nicht erörtern; ich konstatiere nur, daß es am gegenseitigen Kontakt gefehlt und daß dies sowohl der Nederlandistik als auch der Germanistik geschadet hat. Der Rückstand ist noch immer nicht ganz ausgeglichen, aber glücklicherweise wird in der Gegenwart hart daran gearbeitet. Daß man nach dem Zweiten Weltkrieg neue niederländische Lehrstühle an deutschen Universitäten einrichtete, ist eine hoffnungsvolle Erscheinung, der man nicht genug Beifall spenden kann. Das größere Interesse, das man gegenwärtig von deutscher Seite in der Tat der Nederlandistik entgegenzubringen scheint, hat zweifelsohne verschiedene Ursachen, aber ich denke sagen zu dürfen, daß es sicher nicht zuletzt durch die Dialektgeographen der Marburger Schule vorbereitet wurde. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Namen Th. Frings, W. Mitzka und L. E. Schmitt. Historisch gesehen allerdings muß ich vor Marburg noch Bonn erwähnen, an dessen Universität einmal J . Franck dozierte: der Begründer des Rheinischen Wörterbuchs, aber auch ein Nederlandist von großem Format. Die durch Franck ins Leben gerufene deutsche Nederlandistik wurde zuerst durch Frings in Bonn weiterentwickelt und darauf nach Leipzig verpflanzt, wo u. a. Schmitt mit ihm zusammenarbeitete. In der jüngsten Zeit wurde die Nederlandistik auch im Rheinland wieder zu neuem Leben erweckt; an der Universität von Köln, wo der erste ordentliche Lehrstuhl für Niederländische Philologie seinen Platz fand — besetzt durch den aus Niederländisch-Limburg stammenden P. J . H . Vermeeren —, und auch an der von Bonn, wo R. Schützeichel die Tradition von Franck und Frings fortgesetzt hat. Neben der rheinischen Linie der deutschen Nederlandistik ist als anderer Zweig der ostfriesische zu nennen, verkörpert vor allem durch den Hamburger Germanisten C. Borchling und den Münsteraner W. Foerste; beide haben sie an ihren Universitäten viel für das Niederländische getan. Sowohl das Rheinland als auch Ostfriesland hatten von alters her lebendige kulturelle Beziehungen

116

Klaas

Heeroma

zu den Niederlanden, und so ist es kein Wunder, daß man in diesen Grenzgebieten müheloser als anderswo auch den Weg zur wissenschaftlichen Nederlandistik hat finden können. Wie aber muß man sich das Interesse der Marburger Dialektgeographen erklären? Sicher, man kann daran erinnern, daß G. Wenker, der Begründer des Deutschen Sprachatlasses, von Geburt ein Rheinländer war, und daß er seine so ins Monumentale gewachsene Forschung im Rheinland begann. Aber es lag auch im Wesen der Dialektgeographie selbst begründet, daß man die zu ihr gehörenden Untersuchungen nicht vor Staatsoder Kultursprachengrenzen abbrach. Die Problematik der durch die deutsche Dialektgeographie konstatierten Klang-, Form- und Wortgrenzen zwang sie ganz einfach dazu, über die nationalen Grenzen hinwegzusehen. Die niederländische Dialektgeographie — ein Kind übrigens vor allem der Marburger — mußte ihrerseits dasselbe tun. Niederländische Dialektgeographen wurden durch die Art ihrer Untersuchungen gezwungen, nach Marburg, der „Mutterstadt" ihrer Forschungsmethode zu reisen, um von dort aus ihre niederländische Problematik besser verstehen zu können. Der Deutsche Sprachatlas wurde für sie — ich spreche von mir selber, weiß aber, daß ich auch für viele andere spreche — eine Quelle der Inspiration, an die sie sich dankbar erinnerten. Für Außenstehende mag es paradox erscheinen, aber es ist trotzdem eine Tatsache: die Dialektologie, der linguistische Spezialismus, der auf den ersten Blick wohl am meisten dem Regionalen, ja Lokalen zugewandt erscheint, die Dialektologie hat dennoch den internationalen Kontakt zwischen Germanisten und Nederlandisten fördern können und das ihre dazu beigetragen, die Nederlandistik aus ihrer Isolierung zu befreien. Und ein anderes Paradoxon: Im Streit gegen das populäre Mißverständnis, das Niederländische sei „ein Dialekt des Deutschen", ein Mißverständnis, das so viele Deutsche daran gehindert hat, ein wesentliches Interesse an der niederländischen Kultursprache zu hegen, in diesem Streit erwies sich gerade der wissenschaftliche Gebrauch der Dialektologie als eine ausgezeichnete Waffe. Es war mir ein Bedürfnis, dies alles zu schreiben, auch wenn man es in Fachkreisen als bekannt voraussetzen darf. Ich wollte nämlich deutlich machen, mit welcher Freude ich meinen niederländischen Beitrag für dieses Marburger Sammelwerk liefere, das auf die Initiative des emeritierten Direktors des Sprachatlasses, Mitzka, unternommen wurde und eine Huldigung sein soll für den fungierenden Leiter Schmitt. Dieser Beitrag möge in Marburg, das ich neben Leiden als meine wissenschaftliche „Mutterstadt" betrachte, als ein Schuldbeweis meiner Dankbarkeit angenommen werden! Das will allerdings nicht sagen, daß mich das Zustandekommen dieses Artikels keine Mühe gekostet hat. Mühe hatte ich schon mit dem Titel. Ich habe „Mundartwörterbücher im Königreich der Niederlande" an den Anfang gesetzt, nicht „Niederländische Mundartwörterbücher". Letzteres wäre nämlich als Überschrift zu umfassend gewesen, da die Wörterbücher der niederländischen Mundarten in Belgien meiner Meinung nach ebenfalls „Niederländische Mundartwörterbücher" genannt werden müssen. Ich muß mich an dieser Stelle auf denjenigen Teil des nieder-

Mundartwörterbücher im Königreich der Niederlande

117

ländischen Sprachraums beschränken, der mit dem Staatsgebiet des Königreichs der Niederlande identisch ist; denn der Teil, der innerhalb der Grenzen des Königreichs der Belgier liegt, wird durch meinen Löwener Kollegen J. Goossens besprochen. Es ist sicherlich nicht völlig überflüssig, die Begrenzung meines Stoffes, so wie ich es tat, zu verdeutlichen, denn man begegnet in Deutschland — selbstverständlich nicht in Fachkreisen und wohl am allerwenigsten in Marburg! — schon manchmal der Auffassung, es gäbe einen sprachkundlich anwendbaren Gegensatz zwischen ,flämischen Mundarten' und holländischen Mundarten'. Natürlich gibt es Dialekte, die man zu Recht als ,flämische' bezeichnen kann; in den belgischen Provinzen Oost- und Westvlaanderen nämlich, wie auch in dem südlich der Scheide gelegenen Teil der niederländischen Provinz Zeeland. So gibt es auch „holländische Mundarten", nämlich in den niederländischen Provinzen N o o r d - und Zuidholland. Die Mundarten aber in den belgischen Provinzen Brabant, Antwerpen und Limburg kann man ebensowenig im eigentlichen Sinne ,flämisch' nennen wie die der niederländischen Provinzen Groningen, Drente, Overijssel, Gelderland, Utrecht, N o o r d b r a b a n t u n d Limburg .holländisch'. Man kann bei unseren niederländischen Mundarten zwar eine nördliche und eine südliche Gruppe unterscheiden, die Grenze aber zwischen N o r d und Süd wird nicht durch die belgisch-niederländische Staatsgrenze gezogen, sondern liegt eher in der Gegend des Rheins. Wie wichtig der Gegensatz zwischen der nördlichen und der südlichen Gruppe sprachwissenschaftlich übrigens auch sein mag, von wenig geringerer Wichtigkeit ist der zwischen einer westlichen und einer östlichen Gruppe, mit einer Grenze, die, von N o r d nach Süd verlaufend, die belgisch-niederländische Staatsgrenze durchschneidet. Die .holländischen' Mundarten im eigentlichen Sinne und die .flämischen' Mundarten im eigentlichen Sinne bilden zusammen die westliche Gruppe: sprachgeschichtlich verwandt mit der niederländischen Kultursprache — wenn auch sprachsoziologisch selbstverständlich scharf davon zu unterscheiden. Die östliche Gruppe der niederländischen Mundarten bildet einen Ubergang zwischen der westlichen Gruppe einerseits und den niederdeutschen und rheinischen Mundarten andererseits. Die niederdeutschen und die .flämischen' M u n d arten — auch dies sage ich noch einmal, um ein vor allem in Niederdeutschland gängiges Mißverständnis zu bekämpfen — sind sprachgeschichtlich miteinander keineswegs enger verwandt als die niederdeutschen und die holländischen', im Gegenteil. Dies alles zur Verdeutlichung der Schwierigkeiten, die ich mit dem Titel hatte. Es war allerdings nicht die einzige Schwierigkeit. Ich mußte, um den Gegenstand auf verantwortliche Weise abgrenzen zu können, mich nicht nur fragen, was unter .Niederländisch', sondern auch, was unter ,Mundartwörterbücher' zu verstehen sei. Auf keinen Fall konnte ich dazu das Friesch Woordenboek von W. Dijkstra rechnen, das zwischen 1900 und 1911 in vier Teilen erschienen ist, und noch weniger die verschiedenen friesisch-niederländischen und niederländisch-friesischen Ubersetzungswörterbücher, die darauf folgten. Das Friesisch der niederländischen Provinz Friesland — . w e s t f r i e s i s c h ' in der deutschen

118

Klaas Heeroma

Terminologie — ist ja keine Mundart, sondern eine selbständige, komplette K u l t u r s p r a c h e . Zwar bestehen neben der friesischen Kultursprache auch friesische Mundarten, die z. T. lexikographisch inventarisiert sind — z. B. das Hindeloopens in T. van der Kooy Dz., De taal van Hindeloopen (1937) —, aber solche Bestandsaufnahmen, die ohne Zweifel ,Mundartwörterbücher' und sogar .Mundartwörterbücher in den Niederlanden' genannt werden müssen, meine ich doch, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, aus meiner Übersicht fortlassen zu können. Die Grenze des friesischen Sprachgebietes sowie der sprachkundliche Gegensatz zwischen dem N i e d e r l ä n d i s c h e n und F r i e s i s c h e n sind scharf und deutlich und müssen daher auch den Gegenstand meines Artikels scharf und deutlich begrenzen. Ein Problem jedoch, das mir mehr Mühe machte, und das ich denn auch nicht ohne eine gewisse Willkür habe lösen können, war: welche Formen der Bestandsaufnahme von Mundartwörtern fallen überhaupt unter die Rubrik ,Wörterbuch'? Das absichtsvolle Sammeln von Mundartwörtern beginnt in den Niederlanden um 1770. Seitdem sind zahllose Listen veröffentlicht worden, von größerem oder kleinerem Umfang, als Zeitschriftenbeitrag oder in besonderen Ausgaben. Verdienen sie alle genannt zu werden, und wenn nein, welche wohl und welche nicht, warum die eine nennen und die andere nicht? Es gibt eine fast vollständige Bibliografie der dialekten van Nederland, 1800—1950, aus der Hand von P. J. Meertens und B. Wander (1958). Kann ich bezüglich aller Wörterbücher und -listen, die vor, sagen wir 1880, erschienen sind, und die, obgleich sie als Materialsammlung natürlich ihren Wert behalten, methodisch jedoch nur noch eine historische Bedeutung haben, nicht auf die genannte und allgemein bekannte Bibliographie verweisen? Es sind aber auch nach 1880, nachdem also die Dialektologie eine universitär betriebene Fachwissenschaft geworden war, von Liebhabern noch eine ganze Anzahl solcher Wörterbüchlein und -listen veröffentlicht worden, die sich in der M e t h o d e nicht von den vorhergehenden unterschieden, ja, jeden Tag können noch neue hinzukommen. Und ist es andererseits nicht unbillig, alles das, was vor 1880 publiziert wurde, als Liebhabereiwerk beiseite zu schieben? J. H. Halbertsma, der im Overijsselsche Almanak von 1836 ein Wöordenboekje van het Overijsselsch veröffentlichen ließ, war, obschon vom Fach her ein Theologe, ein begabter Linguist und voll auf der Höhe der Sprachwissenschaft seiner Zeit. H . Molema, der 1887 mit seinem Woordenboek der Groningsche volkstaal ein Pendant zum Wörterbuch der ostfriesischen Sprache von J. ten Doornkaat Koolman schrieb, war ein Groninger Volksschullehrer, aber dennoch ein außerordentlicher Lexikograph und geschickt im Umgang mit der Technik des Etymologisierens, wenn auch wohl ohne die Originalität seines ostfriesischen Kollegen. Wenn Ende des 19. Jahrhunderts die universitär inspirierte Dialektologie beginnt, stoßen wir noch auf ein weiteres Begrenzungsproblem. Es erscheint dann eine ganze Reihe von Dissertationen, ,Ortsgrammatiken', die manchmal mit einer W ö r t e r l i s t e , manchmal allein mit einem Wortregister versehen sind, selten haben sie überhaupt kein R e g i s t e r . Die letzteren nun sind auf keinen Fall Wörterbücher, so kann man wohl sagen. Aber

Mundartwörterbücher

im Königreich

der

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gehört eine ,Ortsgrammatik' durch das einfache Hinzufügen eines Wortregisters wohl schon dazu? Nein, würde man darauf antworten können. Wortregister sind sicherlich keine Wörterbücher; Wörterlisten aber, die das lokale Idiom inventarisieren, wohl. Sind sie es auch, wenn sie nur sehr kurzgefaßt sind, oder allein dann, wenn sie als Idiotikon eine gewisse Vollständigkeit anstreben? Und noch bin ich nicht mit meinen Problemen am Ende, denn es gibt noch eine andere Form der lexikalen Bestandsaufnahme als die a l p h a b e t i s c h e ; die s y s t e m a t i s c h e nämlich. Ich nenne zwei Beispiele, J . Daan, Wieringer land en leven in de taal (1950) und das umfangreiche, zweiteilige Werk von J. van Ginneken, Drie Waterlandse dialecten (1954). Dem ersten ist ein alphabetisches Wortregister beigefügt, dem zweiten nicht. Muß ich solche systematischen Bestandsaufnahmen, obschon sie nach Vollständigkeit streben, nicht als Wörterbücher ansehen, und die alphabetischen Idiotika, wie unvollständig sie auch sein mögen, wohl? Oder ist das Werk von Daan, seines alphabetischen Registers wegen, wohl ein Wörterbuch, und das von Van Ginneken, weil dieses Orientierungsmittel dort fehlt, nicht? Sehe ich mir an, was mein Vorgänger M. C. van den Toorn getan hat, der in Niederdeutsches Wort 1,40 ein Verzeichnis der niederländischen und flämischen ( ! ) Mundartwörterbücher veröffentlicht hat, so stelle ich fest, daß für ihn unverkennbar das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein eines Registers das entscheidende Kriterium gewesen ist. Er nennt Daan z. B. wohl, Van Ginneken dagegen nicht, und er zählt alle ,Ortsgrammatiken' beim Namen auf, auch wenn sie dem Idiom nicht die leiseste Aufmerksamkeit schenken, Hauptsache, sie haben ein einfaches Wörterregister. Hinsichtlich der lexikographischen Aktivität früherer oder späterer Liebhaber-Amateure scheint er das rein formale Kriterium in Anwendung gebracht zu haben, daß Nennung verdient, was uns in Form einer mehr oder weniger selbständigen Ausgabe angeboten wurde, wie unwichtig der Inhalt ferner auch sein mochte, und daß trotz einer manchmal hohen Qualität weggelassen werden konnte, was nicht selbständig erschienen war. Ich bezweifle, ob die Germanistik von einer solchen Aufklärungsweise Nutzen haben kann, muß aber zugleich gestehen, daß es besonders schwierig ist, ein vollkommen befriedigendes Kriterium zu finden. Der Begriff , M u n d a r t w ö r t e r b u c h ' ist kaum zu begrenzen. Ich werde in der folgenden Übersicht nicht den Versuch machen, vollständig zu sein. Die Auswahl der Titel kann ebenso willkürlich erscheinen wie die von Van den Toorn, aber ich habe mich von der Absicht leiten lassen, dem an der niederländischen Dialektologie interessierten Germanisten einen gewissen Einblick in die Entwicklung unserer lexikographischen Tätigkeit zu geben — wenn dialektologisch von einiger Wichtigkeit. Die Vokabularia des 15. Jahrhunderts, die zum größten Teil im Rhein- und IJsselgebiet entstanden sind — das bekannteste ist der Teuthonista (1475/77) von Gerard van der Schueren aus Kleve —, sind wegen ihres stark regional gefärbten Wortschatzes von großer Wichtigkeit für die historische Dialektologie, können aber niemals Mundartwörterbücher genannt werden, weil sie keinen anderen Zweck hatten, als die normale K u l t u r und S c h r i f t s p r a c h e ihrer Gegend zu inventarisieren. Die Inventarisie-

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rungen des 16. Jahrhunderts, alphabetische oder systematische, die zum größten Teil aus Flandern oder Brabant stammen, stehen gleichfalls, obschon sie dem Aufbau der Kultursprache dienen wollen, auf einer erkennbar regionalen Basis. Man könnte, wie ich in Iets over oude woordenboeken (in Album Rene Verdeyen, 1943) aufgezeigt habe, auf Grund ihrer Daten eine Reihe globaler Wortkarten aus dem südniederländischen Sprachgebiet des 16. Jahrhunderts zeichnen. Bei einigen Lexikographen des 16. Jahrhunderts scheint es fast so, als hätten sie selbst auch schon ein gewisses dialektologisches Interesse. Der Holländer H . Junius macht in seinem Nomenciator (1567) ständig Unterschiede wie ,Flandris', ,Hollandis', ,Brabantis', einige wenige Male auch ,Frisiis'. Hier aber von Dialektologie zu sprechen, wäre doch wohl ein Anachronismus. Junius strebte ohne Zweifel schon eine ü b e r r e g i o n a l e K u l t u r s p r a c h e a n und wollte bei Wörtern, die seinem Urteil nach regional waren — wenn auch deshalb doch in der Kultursprache vielleicht brauchbar —, seine Leser warnen; ungefähr so, wie der moderne Autor eines Handwörterbuchs bei einige Wörtern ,prov.' oder ,dialekt' notiert. Der wichtigste niederländische Lexikograph des 16. Jahrhunderts, C. Kilianus, der in seinem Etymologicum (1588/1599) gleichsam das Werk all seiner Vorgänger zusammenfaßt, geht bei der ,Lokalisierung' der Wörter noch ein ganzes Stück weiter als Junius, wollte aber gewiß wie dieser nichts anderes als einen Beitrag liefern zum Aufbau einer a l l g e m e i n e n n i e d e r l ä n d i s c h e n K u l t u r s p r a c h e . Er tat dies im Dienste des großen Antwerpener Verlegers C. Plantijn und auf der Basis der damals in Brabant benutzten S c h r i f t s p r a c h e , einfach deshalb, weil diese Basis für ihn auf der Hand lag. Er konnte unmöglich ahnen, daß gerade in seiner Zeit der kulturelle Schwerpunkt der Niederlande sich von Süd nach Nord, von Brabant nach Holland zu verschieben begann, und daß das für die weitere Entwicklung der niederländischen Kultursprache äußerst weitreichende Folgen haben würde. In den Ausgaben seines Werkes im 17. Jahrhundert werden die Lokalisierungen' fortgelassen, und man könnte daraus den Eindruck gewinnen, daß alle regionalen Wörter, bei denen man im 16. Jahrhundert noch ein Warnzeichen gegeben hatte, nun ohne weiteres in die allgemeine n i e d e r l ä n d i s c h e K u l t u r s p r a c h e aufgenommen waren. Zu Unrecht jedoch, denn aus dem Wortschatz der Wörterbücher um 1700 geht deutlich hervor, daß die Kultursprache sich in eine ganz andere Richtung entwickelt hat. Infolge der politischen Trennung von Nord und Süd hätten sich in den Niederlanden sehr gut zwei verschiedene Kultursprachen bilden können, eine nördliche und eine südliche. Dies wurde verhindert, weil seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die leitenden Köpfe des Südens das Lexikon des Nordens sehr bewußt als normgebend auch für den Süden haben gelten lassen. Im 18. Jahrhundert wurden im Kreis der Maatschappij der Nederlandsche Letterkunde (gegr. 1766) die ersten Pläne zu einem großen beschreibenden Wörterbuch der niederländischen Sprache ausgearbeitet, Pläne, die schließlich, beinahe ein Jahrhundert später, zum Unternehmen von M. de Vries und L. A. te Winkel führten, zum Woordenboek der Nederlandsche Taal (fortlaufend seit

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1864), dem niederländischen Pendant zum Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm. Die Mitglieder der jungen Maatschappij glaubten wie zwei Jahrhunderte zuvor Kilianus, daß die Mundarten einen Beitrag zum Aufbau der niederländischen K u l t u r s p r a c h e liefern könnten. Es gab zu der Zeit noch keine universitäre Nederlandistik — der erste Lehrstuhl für vaterländische Sprache und Geschichte wurde erst 1797 in Leiden eingerichtet —, alle Mitglieder der Maatschappij waren daher gelehrte ,Amateure', die im übrigen aber die sprachkundliche Literatur ihrer Zeit vollkommen beherrschten und das alte Wörterbuch des Kilianus fleißig lasen und mit Notizen versahen. ,Amateure' waren auch ihre Freunde in der ,Provinz' — zumeist Theologen oder Juristen —, die dazu angehalten wurden, Listen solcher regionalen Wörter anzulegen, die vielleicht von Wichtigkeit für das Wörterbuch sein konnten. Von einer vollständigen Sammlung eines provinziellen oder lokalen Wortschatzes konnte hierbei keine Rede sein; man suchte nur nach dem Besonderen, dem Abweichenden, nach Wörtern, die wegen ihres spezifischen Ausdrucksvermögens das Interesse der Sprachbeobachter und Sprachnormer verdienten. Das auf diese Weise gesammelte Mundartmaterial ist größtenteils über Zettelkästen in den Apparat des im 19. Jahrhundert geschaffenen Wörterbuchs von De Vries und Te Winkel gelangt; die ursprünglichen Listen sind in der Bibliothek der Maatschappij aufbewahrt worden und wurden erst in unseren Tagen, und auch nur zum Teil, publiziert. H. L. Bezoen fügte ein paar overijsselsche Listen zu dem Bändchen Het Dumbar handschrifl (1952) zusammen und nannte das Ganze ein „Idioticon van het Overijsels in het einde der 18de eeuw". Andere Listen findet man in verschiedenen Jahrgängen der Driemaandelijkse Bladen, im 5. Jg. eine overijsselsche und eine groningsche, im 12. Jg. eine veluw-drentsche, im 19. Jg. noch eine groningsche. Weil wegen des Fehlens einer wissenschaftlichen Landbauliteratur die typischen , B a u e r n w ö r t e r ' in der damaligen Kultursprache noch kaum einen Platz hatten, erregten im allgemeinen gerade diese Wörter die Aufmerksamkeit der Sammler. Manche Listen —beispielsweise die veluwsche aus der Hand des Predigers A. van den Berg — ergeben denn auch ein hübsches, wenn auch notgedrungen fragmentarisches Bild vom damaligen Bauernleben, wie es eben zum Ausdruck kam in der ,Bauernsprache'. Ungewollt hat die Maatschappij mit ihrem — sehr viel später und auf wesentlich andere Weise ausgeführten — Wörterbuchplan die niederländische Dialektologie in Gang gesetzt. Der älteste uns bekannte niederländische Mundarttext, ein groninger, stammt aus dem Jahre 1793; der Strom der Dialektliteratur beginnt erst nach 1820 zu fließen. Der älteste Beitrag einer Universität zur Dialektologie ist der lateinisch geschriebene Aufsatz von J . Sonius Swaagman über die Groninger Mundart (1824). Während des ganzen 19. Jahrhunderts hat man Mundartwörterlisten angelegt, die sich methodisch in nichts von den oben genannten des 18. Jahrhunderts unterscheiden. Man sammelt besondere Wörter und gibt dem manchmal einen wissenschaftlichen Kommentar bei. So tat es der Gelehrte Halbertsma, dessen overijsselsches Wörterbuch ich schon nannte, und der, wie es scheint, der erste gewesen ist, der die ostniederländischen Mundarten als ,saksisch'

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bezeichnet hat; so tat es auch J . H. Hoeufft in seiner Proeve van Bredaasch taaleigen (1836). Auch wenn es nun tatsächlich an allen niederländischen Universitäten Lehrstühle für das Niederländische gab, und auch wenn man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Tat von einer modernen wissenschaftlichen Nederlandistik sprechen kann: die Zahl spezialisierter Nederlandisten blieb bis etwa 1880 nur klein. Die sprachkundlichen Zeitschriften, die bis zu dieser Zeit erschienen, wurden in der Hauptsache von mehr oder weniger gelehrten Amateuren' gefüllt, von Theologen, Juristen oder Lehrern. Die dialektologischen Beiträge jener Zeitschriften sind fast die einzigen, die man sich heute noch manchmal anschaut; des Wortmaterials wegen, das sie enthalten. Um 1880 beginnt die niederländische Dialektologie bedeutender zu werden, sowohl durch die Zahl als auch durch den Gehalt der Veröffentlichungen. Ab 1882 erscheint unter der Leitung von T. H. de Beer die Zeitschrift Onze Volkstaal, die übrigens nur drei Jahrgänge erlebt und noch zum größten Teil mit den Wörterlisten der überkommenen Weise gefüllt wird. An der Universität von Utrecht läßt sich der aus Vörden, Geldersche Achterhoek, stammende J . H. Gallee als erster Professor der Germanistik nieder, und ebenfalls als erster versucht er es, eine vollständige wissenschaftliche Bestandsaufnahme der Mundart seiner Jugend zu schaffen, sei es auch ohne deutliche Abgrenzungen und unter einem viel zu umfassend formulierten Titel. Im ersten Jahrgang von Onze Volkstaal publiziert er eine Wöordenlijst van de taal, welke in de Saksische streken van Nederland gesproken wordt, im Jahre 1895 ein breiter angelegtes Woordenboek van het Geldersch-Overijselsch dialect. Trotz des vielversprechenden Titels ist auch das letztere nur ein dünnes Bändchen, in dem die Mundartwörter meist nur mit einer Bedeutungserklärung und recht selten mit einem Kontext versehen sind. Die 'körte beschrijving der klanken en taalvormen' aber, die Gallie seiner lexikalen Bestandsaufnahme beigibt, ist wissenschaftlich auf der Höhe der Zeit. Als Wörterbuch viel reicher von Inhalt ist das hier schon erwähnte Werk von H. Molema, das 1887 unter dem Patronat des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung erschien. Es ist das erste Mundartwörterbuch in den Niederlanden, das voll und ganz diese Bezeichnung verdient. Molema bietet viel groninger Idiom in passendem Kontext dar, vernachlässigt aber auch die übrigen Wörter' keineswegs. Er hat also das altertümliche Idiotikon weit hinter sich gelassen. Er hat auch aus der sprachkundlichen Literatur ausführlich exzerpiert und vergleicht sooft wie möglich mit den niederdeutschen Mundartwörterbüchern. Man hat den Eindruck, daß er mehr von deutscher als von niederländischer Seite inspiriert wurde. Welches Verdienst das Werk des Groningers Molema auch haben mag, die Ehre, das d i a l e k t o l o g i s c h e M e i s t e r w e r k der Zeit vor 1900 geliefert zu haben, kommt dennoch dem Nordholländer und Zaankanter G. J . Boekenoogen zu. Es ist in gewisser Weise paradox, daß man ihm diese Ehre zuerkennen muß, da doch sein Buch De Zaansche volkstaal (1897) vom Gesichtspunkt einer lexikalen Bestandsaufnahme her im Wesen altertümlich im Aufbau war. Es ist nämlich ein Idiotikon. Aber es ist ein Idiotikon von einer solchen Breite und

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Tiefe, daß man einfach vergißt, was fehlt. Es fehlen eigentlich allein diejenigen Wörter, bei denen Klangform wie auch Bedeutung mit denen der niederländischen Kultursprache übereinstimmen. Alles aber, woran auch nur ein wenig Besonderes war, hat Boekenoogen notiert. Er war ein besessener Sammler, nicht allein auf dialektologischem, sondern auch auf namen- und volkskundlichem Gebiet, und er hatte das Bedürfnis, alles in historischer Perspektive zu sehen. Letzteres gab bei ihm den Anstoß, auch aus allen erreichbaren nordholländischen Texten, gedruckten oder ungedruckten, zu exzerpieren; einige mittelalterliche waren dabei, vor allem aber solche des 17. und 18. Jahrhunderts. Man erhält bei Boekenoogen ein besonders vollständiges und lebendiges Bild von der zaanländischen Volkssprache zu Ende des 19. Jahrhunderts, ein Bild, bei dem kein einziger Aspekt vernachlässigt ist — denn sein volkskundliches Interesse ließ ihn alle Sach- und Fachgebiete beachten —, man bekommt alle lebenden Wörter in ihrem natürlichen Kontext geboten, und man hat zugleich in gut ausgewählten, philologisch vertrauenswürdigen Zitaten alles das zur Hand, was Archivalien und literarische Texte an Hintergrund zu bieten hatten. Obgleich De Zaanscbe Volkstaal ein Frühwerk ist — die sprach- und namenkundliche Einleitung hatte dem Verfasser 1896 als Dissertation gedient —, zeugt die Darstellung von einer sehr durchdachten lexikographischen Technik. Dies Buch ist innerhalb der niederländischen dialektologischen Literatur in seiner Art unerreicht geblieben. Ich erwähnte oben das Genre der mit einer mehr oder weniger ausführlichen Wörterliste versehenen ,Ortsgrammatik'. In gewisser Weise könnte man das Werk von Boekenoogen auch dazu rechnen, aber es ist doch richtiger, es als ein ganz eigen-artiges Wörterbuch — ich meine „Idiotikon" — mit einer ganz eigenartigen Einleitung anzusehen. Von den echten ,Ortsgrammatiken' mit Wörterlisten will ich nur einige nennen. Die älteste ist die von A. Opprel, Het dialect van Oud-Beierland (1896); eine der jüngsten und besten die von H . C. Landheer, Het dialect van Overflakkee (1955). Die durch diese beiden Autoren beschriebenen Mundarten liegen geographisch dicht beieinander — beide auf den südholländischen Inseln —, der schulmäßige Aufbau beider Bücher ist ebenfalls der gleiche, aber aus dem ersten tritt uns die Mundart nur wie ein mit Kleidern versehenes Skelett entgegen, aus dem zweiten dagegen, vor allem auf Grund des ausführlichen Vokabulariums, wie ein lebender Körper. Schülerhaft und mittelmäßig ist der grammatikalisch beschreibende Teil aus Het dialect van Drechterland (1931) von G.Karsten, besser dessen lexikographischer Teil, in dem der Autor mehr oder weniger der Methode Boekenoogens folgt, ohne allerdings dessen Niveau zu erreichen. Das Drechterland liegt wie das Zaanland in Nordholland, und die Mundarten dieser beiden Gebiete sind miteinander aufs engste verwandt. Man kann Karsten also als eine, etwas ärmliche, Ergänzung zu Boekenoogen ansehen. Ganz Wörterbuch, auch in dem Sinne, daß es den örtlichen Wortschatz im Prinzip vollständig registrieren will, ist S. Keyser, Het Tessels (1951), die dritte lexikale Inventaraufnahme einer nordholländischen Mundart. Die Gewährsleute werden hier namentlich genannt, und der Autor

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geht, um das Relative der von ihm angestrebten Vollständigkeit zu unterstreichen, selbst so weit, daß er sein Buch auch als 'vocabulaire van zeven Tesselse families' würde bezeichnen wollen! Ausschließlich auf die lexikale Bestandsaufnahme einer südholländischen Mundart gerichtet ist G. S. Overdiep, Woordenboek van de volkstaal van Katwijk aan Zee (1949). K a t w i j k aan Zee ist ein Fischerdorf, eine in sich geschlossene Gemeinschaft mit einer konservativen Mundart. Overdiep hat der G r u p p e n s p r a c h e d e r F i s c h e r daher auch besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Eine zweite Fischermundart, der eine derartige Beschreibung gewidmet wurde, ist die von Urk in P. J. Meertens/ L.Kaiser, Het eiland Urk (1942). Alle Wörterlisten und Wörterbücher aus der Zeit nach 1880, die ich bisher genannt habe, stammen aus der H a n d universitär geschulter Dialektologen. Zum größten Teil haben sie die von ihnen beschriebene Mundart von innenher gekannt, in ihrer Jugend nämlich selbst gesprochen; in einzelnen Fällen waren sie von außen kommende Forscher, die sich aus den Mitgliedern der Mundartgemeinschaft vertrauenswürdige Gewährsleute heraussuchen mußten, um diese dann systematisch auszufragen. Es liegt auf der H a n d , daß ein Mundartbeschreiber, der zu den Eingesessenen gehört, weniger von einer Systematik abhängig ist als ein von außen kommender Forscher. Wer die Mundart von innenher kennt und auf gleicher Ebene mit den anderen Mundartsprechern verkehren kann, wird seine Arbeit damit beginnen, alles das zu notieren, was sein Gedächtnis bewahrt hat, und wird dies anfüllen mit dem, was er zufällig in Gesprächen hört. Er kann hin und wieder ein Gespräch auch mit Absicht auf dieses oder jenes Thema bringen, um seinen Wortschatz bewußt zu kontrollieren und zu erweitern. Der von außen kommende Untersucher dagegen wird sich von vornherein über die Dinge und Begriffe im klaren sein müssen, die seine Versuchspersonen vermutlich benennen können, dazu über ihre Denkweise, ihr ,lexikales System', und über die ,Struktur ihres Wortschatzes'. Er wird in Vorbereitung seiner Untersuchung die linguistische Literatur einsehen, die es über ,Wortfelder' u. dgl. gibt, und wird eines der in dieser Literatur dargestellten Schemata, angepaßt oder nicht an die besonderen Gegebenheiten seiner Untersuchungen, zum Ausgangspunkt seiner eigenen systematischen Befragung wählen. Wenn er von der Richtigkeit des von ihm gewählten Systems völlig überzeugt ist, wird er dazu neigen, das Ergebnis seiner Untersuchung auch systematisch geordnet zu publizieren. Das traditionelle, alphabetisch geordnete Mundartwörterbuch ist dann f ü r ihn eine veraltete, unwissenschaftlich gewordene Art der Darbietung. Der 1945 verstorbene Nimwegener Prof. J. van Ginneken war dieser Überzeugung. Er hat in den Jahren 1942/43 drei nordholländische M u n d arten, die der Fischerinsel Marken, des Fischerdorfes Volendam und des Städtchens Monnikendam, auf ihre grammatikalische, phonologische und auch lexikale Struktur hin untersucht; 1954, nach seinem Tode, ist das Ergebnis als sein letztes opus magnum von seinen Schülern veröffentlicht worden. Ich sagte schon, daß in diesem Drie Waterlandse dialecten kein alphabetisches Register vorhanden ist und daß es also schon recht schwierig wird, ein Kriterium zu ersinnen, dem-

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zufolge man dieses Werk noch zu den Wörterbüchern rechnen kann. Aber, Wörterbuch oder nicht, es ist ein so markanter Vertreter einer bestimmten Methode lexikaler Untersuchung, daß ich es in dieser Übersicht auf keinen Fall übergehen konnte. Weit weniger markant, aber zugleich auch viel zugänglicher und — wegen des Registers — auch einfacher den Wörterbüchern zuzurechnen, ist die andere von mir schon genannte systematisch aufgebaute Bestandsaufnahme: Wieringer land en leven in de taal, von J . Daan. Die M u n d a r t w ö r t e r werden hier in einer beschreibenden E r z ä h l u n g dargeboten, also nicht isoliert, sondern innerhalb eines natürlichen Kontextes, der allerdings der Deutlichkeit wegen nicht in der Mundart, sondern in der allgemeinen Kultursprache erscheint. Daan hat ein ähnliches volks- und namenkundliches Interesse wie Boekenoogen, und das gibt ihrem Buch eine ähnliche Lebensfülle wie dem Boekenoogens. Der Dialekt von Wieringen ist wie der von Zaanland, Drechterland, Tessel, Marken, Volendam und Monnikendam eine nordholländische Mundart. Nordholland hat also schon recht viel lexikologisches Interesse auf sich gezogen, auch wenn dort niemals, wie in Groningen und Zeeland, ein provinziales Mundartwörterbuch zustande kam. Das wäre an sich, für den Teil der Provinz jedenfalls, der nördlich der Linie Amsterdam—Haarlem liegt, nicht unmöglich gewesen, denn die nordholländischen Mundarten nördlich des I J bilden eine miteinander stark verwandte Gruppe. Neben den universitär inspirierten und durch moderne Methoden bestimmten Mundartwörterbüchern sind nach 1880 auch noch einige andere erschienen, in denen .Amateure' einfach alles das sammelten, was sie zu sammeln fanden. Dem lokalen Lexikon des Prof. Gallee trat 1948, mehr als ein halbes Jahrhundert später, ein konventionellerer Artgenosse zur Seite: das Buch des Lehrers G. H. Wanink, in dem in der Hauptsache Materialien aus Markelo in Overijssel — dorther stammte der Autor — dargeboten wurden, unter dem auch diesmal wieder zuviel versprechenden Titel Twents-Achterhoeks woordenboek. Naiver in der Bearbeitung, als Wörterbuch aber doch sehr vollständig, vor allem aber nicht mehr versprechend als es bieten konnte, war das Beknopt Heerder woordenboek von L. Bosch (1940). So kann ich auch noch K. D. Schönfeld Wichers Woordenboek van het Rijssens dialect (1959) nennen; schlicht, kurz, nicht mehr als ein kleines Idiotikon, aber doch mit einer bestimmten Art von Authentizität, ganz und gar die Haltung dessen widerspiegelnd, der von innenher wahrnimmt. Die letzte und ausführlichste Arbeit dieser Art ist A. P. M. Lafeber/ L. B. Korstanje, Het dialect van Gouda (1967), die erste Inventarisierung einer südholländischen Stadtmundart. Methodisch bringen solche Bücher natürlich niemals etwas Neues, ihr Wert jedoch liegt, abgesehen von ihrem Material, in ihrem Charakter. Auf einem ganz anderen außeruniversitären Niveau, am wenigsten aber konventionell oder naiv, sondern im Gegenteil überraschend durch seine praktische Stoffbeherrschung, seine eigene Formgebung, kurzum, sein sehr persönliches Talent für diese Art Arbeiten, ist K. ter Laan in seinem Nieuw Groninger woordenboek (1929). Obschon kein echter Gelehrter, konnte er doch gut mit den

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Resultaten der Wissenschaft umgehen, auch mit denen der Sprachwissenschaft, soweit er sie für das Sammeln und Darbieten seiner Mundartwörter nötig hatte. Sicherlich wurde seine Phantasie von all den Facetten des Groninger Volkslebens angeregt, er war auch, wie Boekenoogen, ein volkskundlicher Sammler. Vor allem aber spürte er den Drang nach eigenem vielseitigen und sachlichen Wissen, gepaart mit dem Bedürfnis, diese enzyklopädische Kenntnis seiner Heimatprovinz wohlgeordnet weiterzureichen. So wurden nicht nur seine Wörterbuchartikel durch einen Reichtum an v o l k s k u n d l i c h e n Details verlebendigt, sein Mundartlexikon selbst wurde zugleich eine große E n z y k l o p ä d i e . Er exzerpierte eifrig aus der Groninger Mundartliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, aber er gab diese Zitate in seiner eigenen Orthographie wieder; er war kein auf Distanz gehender Philologe. Die die Mundarten vergleichende Gelehrtheit seines Vorgängers Molema ging ihm in seiner praktischen und direkten Haltung gegenüber der Sprachwirklichkeit manchmal zwar ab; was aber die Vollständigkeit und Vertrauenswürdigkeit seines Materials und die Treffsicherheit seiner Bedeutungserklärungen betrifft, so entsprach er sicher allen Forderungen der Wissenschaft. Ter Laan war bei uns auch der erste, der einem Wörterbuch passende Illustrationen beigab, weniger bestimmt durch theoretische Uberlegungen als durch praktische Einsicht. Er wußte, daß eine einfache kleine Zeichnung manchmal mehr aussagen konnte als eine lange Bedeutungserklärung. Aber nicht alle seine Illustrationen haben eine lexikalische Funktion, so, wie bei seinen enzyklopädischen Besonderheiten eine ganze Reihe vom WörterbuchStandpunkt aus auch nur Beiwerk genannt werden kann. Alles ist Ausdruck seiner Persönlichkeit, des Forschers Ter Laan. Man kann ein so breit angelegtes Werk, das die Mundarten einer ganzen Provinz derart vollständig inventarisiert, unmöglich ohne einen Kreis treuer Mitarbeiter zustande bringen. Dieser Kreis stand Ter Laan denn auch zur Verfügung, und er hat ihn gut zu nutzen gewußt, ohne allerdings jemals eine feste Organisation daraus zu machen. Eine solche feste Organisation stand jedoch hinter dem Woordenboek der Zeeuwse dialecten (1964), das auf dem Titelblatt sogar angibt, es sei „bijeengebracht door de Zeeuwse Vereniging voor Dialectonderzoek",und in dem die Autorin, H.C.M.Ghijsen, sich nur 'redacteur' nennt. Der durch das praktische Leben und die Gesellschaft geformte Ter Laan hatte das Zeug dazu, Leiter einer von ihm ausgehenden regionalen Sprachbewegung zu sein; Ghijsen, universitär geschulte Philologin, zeigt sich dagegen als die wissenschaftliche Dienerin einer provinzialen Organisation von Mundartliebhabern. Sowohl das Zeeuwsche Wörterbuch aber, als auch die dahinter stehende Organisation sind nichtsdestoweniger allein das Werk der Ghijsen gewesen. Sie hat über viele Jahre hinweg die Fragebögen zusammengestellt, die von sorgfältig ausgewählten Mitarbeitern aus allen Teilen des zeeuwschen Mundartgebietes beantwortet wurden; sie hat die eintreffenden Unterlagen, wie auch das schon früher gesammelte und z. T. publizierte Material, lexikographisch bearbeitet. Das Zeeuwsche Wörterbuch, dem Umfang nach mit dem Groninger Lexikon von Ter Laan zu vergleichen, unterscheidet sich von allen anderen

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bisher in den Niederlanden erschienenen derartigen Büchern durch seine genauen Lokalisierungen. Es ist ein Wörterbuch, kein Wortatlas, aber die dialektgeographische Einordnung der Daten ist ein wesentlicher Bestandteil der lexikographisdien Technik. In den Text wurden keine Karten eingefügt. Jeder aber, sofern er will, kann auf Grund der dortigen Mitteilungen selbst zu zeichnen beginnen. Das volkskundliche Interesse hat Ghijsen mit Ter Laan gemein, und auch die funktionellen Illustrationen. Letztere sind im Zeeuwschen Wörterbuch rarer, wurden aber mit mehr Sorgfalt ausgewählt und alle ausschließlich für den einen Zweck gezeichnet. Illustratives Beiwerk fehlt ebenso wie enzyklopädisches. Sachlich-wissenschaftlich gesehen muß man das Zeeuwsche Wörterbuch also über das Groninger stellen, es ist aber u. a. durch seine ausführlichen und für sich genommen wertvollen Lokalisierungen — sie ergeben für den Leser tote Stellen im Text — auch weniger suggestiv. Das Verfassen eines guten Mundartwörterbuchs ist nicht allein eine Frage der Technik, sondern auch Kunst. Das Groninger Wörterbuch inventarisiert den Wortschatz einer ganzen Provinz, deren Mundarten größtenteils miteinander eng verwandt sind. Das Zeeuwsche Wörterbuch tut noch mehr: Es respektiert einerseits die administrativen Grenzen, indem es auch ganz Zeeuws-Vlaanderen, dessen Dialekte man eher flämisch als zeeuwsch nennen kann, in seine Untersuchung miteinbezieht; es respektiert andererseits die sprachkundlichen Grenzen, indem es auch die Insel Goeree-Overflakkee, die administrativ zur Provinz Südholland gehört, in seine Übersicht aufnimmt. Ein drittes provinziales Mundartwörterbuch, das drentsche, wurde zu Beginn unseres Jahrhunderts von J . Bergsma begonnen — wissenschaftlich begonnen, was u. a. aus den auffallend genauen Ortsbestimmungen hervorgeht —; es ist aber über eine erste Lieferung nicht hinausgekommen ( W o o r d e n b o e k bevattende Drentsche woorden en spreekwijzen, 1906). In Provinzen, in denen von innen heraus ein provinziales Mundartwörterbuch entstehen kann, muß ein starkes provinziales Zusammengehörigkeitsgefühl herrschen. Für Overijssel z. B., das in zwei, ziemlich konträre Regionen zerfällt, Twente und Salland, ist ein provinziales Wörterbuch undenkbar; schon gar nicht für Gelderland mit seinen 'drie kwartieren': Achterhoek, Veluwe und dem Gebiet längs der Flüsse (rivierengebied). Auch die Provinz Limburg ist keine Einheit. Von innen heraus konnten hier allein lokale Mundartwörterbücher entstehen. Es ist kein Zufall, daß die beste und vollständigste Bestandsaufnahme die der Mundart der Provinzhauptstadt Maastricht ist: H . J . E. Endepols, Woordenboek of diksjenaer van 't Mestreechs (1955). In dieser Stadt, in der die allgemeine niederländische Kultursprache lange Zeit als eine fremde, angelernte Sprache angesehen wurde, und der lokale Dialekt, wenn auch in der Hauptsache im m ü n d l i c h e n Verkehr, als eine Art s e k u n d ä r e r K u l t u r s p r a c h e funktioniert hat, in einer solchen Stadt mußte einfach der Wunsch nach einem mehr oder weniger monumental dargebotenen Lexikon entstehen. Endepols ist ein wissenschaftlich geformter Philologe und ein geschulter Lexikograph, vor allem aber Maastrichter unter Maastrichtern. Sein Buch zeugt davon. Auch hier findet man die funktionelle Illustration verwendet

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weit weniger sachlich aber als im Zeeuwschen Wörterbuch. Die Illustration gibt Auskunft, schafft vor allem aber Atmosphäre, ruft gewissermaßen ein Lächeln des Erkennens hervor und versetzt den Leser unwillkürlich in die gute alte Zeit, als Maastricht noch Maastricht war. Endepols ist wissenschaftlich für den, der die Wissenschaft sucht, er drängt seine Wissenschaft aber nirgendwo auf. Eine bemerkenswerte Übergangsform zwischen lokalem und regionalem Dialektwörterbuch ist das ,Vokabularium' van A. P. de Bont, Dialect van Kempenland (1958/60). Der Autor, ein aus dem nordbrabantischen Dorf Oerie gebürtiger Lehrer, hat sich — in der Hauptsache durch Selbststudium, wenn auch nicht ganz ohne die Universität — zu einem wissenschaftlichen Dialektologen von besonderer Qualität zu entwickeln gewußt und, teils um der Verbundenheit mit seiner Heimat Ausdruck zu geben, teils um seinem wissenschaftlichen Untersuchungsdrang ein Ziel zu setzen, eine Bestandsaufnahme von der Mundart seiner Jugend in Angriff genommen. Dabei hat er nicht allein den Wortschatz seines Geburtsdorfes wirklich erschöpfend zusammengetragen, sondern um dieses Dorf auch noch einen Kreis gezogen, der rund 30 weitere Dörfer erfaßte, und dieses Gebiet ganz persönlich durch mündliche Befragungen dialektgeographisch untersucht. Wo ihn die dialektgeographischen Probleme aus den von ihm ,Kempenland' genannten Kreis hinausführten, hat er sich nicht gescheut, seine Untersuchungen so weit auszudehnen, bis er einen befriedigenden Eindruck von der Situation hatte. Eine große Anzahl von Karten, die er dem Text seines Wörterbuches beigegeben hat, legt hiervon Zeugnis ab, so wie der Text selbst von seiner außerordentlichen Belesenheit zeugt und von seinem Verlangen, nichts Erklärbares unerklärt zu lassen. Das Wörterbuch von De Bont ist nicht allein ungewöhnlich vollständig als Sammlung, sondern auch in der Verarbeitung des Dialektmaterials. Selbstverständlich benutzte auch er die Technik der funktionellen Illustration, nüchterner als Endepols, aber doch nicht ohne lokale Atmosphäre. Es ist ein sehr imposantes Ein-Mann-Werk, dieses Wörterbuch, ein wissenschaftliches wie menschliches Lebenswerk. Wenn ich am Schluß meiner Übersicht über die Mundartwörterbücher in den Niederlanden noch einen Blick in die Zukunft werfen darf, so muß ich die Vermutung aussprechen, daß großangelegte Einzelunternehmungen wie die von De Bont der Vergangenheit angehören und daß die lexikalische Bestandsaufnahme immer weniger eine persönliche und stets mehr eine institutionelle Angelegenheit werden wird. Wir haben in den Niederlanden als zentrales und nationales Institut für Dialektforschung das 'Dialectenbureau van de Koninklijke Akademie van Wetenschappen' in Amsterdam. Leitendes Organ dieses Dialectenbureau ist eine repräsentative Dialektkommission, die außer einer eigenen Publikationsreihe zusammen mit den dialektologischen Instituten im belgischen Teil der Niederlande auch eine dialektologische Zeitschrift herausgibt: Taal en tongval (seit 1949). Das Amsterdamer Mundartenbureau beschäftigt sich nicht speziell mit der Lexikographie; es tun dies die beiden, in der Dialektkommission vertretenen, Universitätsinstitute in Groningen — das Nedersaksisch Instituut, das unter meiner Leitung steht — und in Nimwegen — die

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Nijmeegse centrale voor dialect- en naamkunde, unter dem Direktorat von A. Weijnen. Aus letzterem sind die wichtigsten Veröffentlichungen zu erwarten, nämlich ein Woordenboek van de Brabantse dialecten, bearbeitet von J . van Bakel (1. Lieferung und ,voorlopige inleiding' sind schon 1967 erschienen), und ein Woordenboek van de Limburgse dialecten, bearbeitet von P. Goossens. Das Untersuchungsgebiet des ersten Werkes besteht aus der niederländischen Provinz Noordbrabant und den belgischen Provinzen Brabant und Antwerpen; das zweite Untersuchungsgebiet ist die niederländische und belgische Provinz Limburg. Beide Wörterbücher sind systematisch geordnet — Weijnen ist ein Van Ginneken-Schüler — und streben eine geographische Darbietung des Materials an, d. h. sooft möglich mittels Wortkarten samt eines vollständigen Belegs der örtlichen Formen. Man könnte diese Wörterbücher also auch r e g i o n a l e W o r t a t l a n t e n nennen, dann aber Wortatlanten, die nicht selektiv zu Werke gehen, sondern eine lexikographische Geschlossenheit anstreben. Als Abschluß wird den beiden Wörterbüchern ein alphabetisches Wortregister folgen, das das bearbeitete Material auch den traditionellen Wörterbuchbenutzern zugänglich macht. Das Sammeln des Materials erfolgt, wie beim Zeeuwschen Wörterbuch, zum großen Teil mittels Fragebögen, die einem festen Kreis von Mitarbeitern zugeschickt werden, die sich über das ganze Untersuchungsgebiet verteilen. Die beiden Mundartwörterbücher, die man in Nimwegen vorbereitet, sind deutlich nicht provinzial, sondern interprovinzial; sie verdanken ihr Entstehen daher auch nicht einem provinzialen Bewußtsein, das, von innen heraus, nach einer dialektologischen Formgebung fragt, sondern einem von außen kommenden rein wissenschaftlichen Untersuchungswillen. Die durch das Groninger Institut vorbereiteten Mundartwörterbücher sind demgegenüber viel bescheidener und auch prinzipiell anders in der Anlage; sie liegen mehr auf traditioneller Linie. Dort geht man aus von schon handschriftlich vorhandenen, lokalen Wörtersammlungen von ,Amateuren', Sammlungen, die durch eingehendere Untersuchungen am Ort und unter Mitwirkung eines Gesprächskreises von Mundartsprechern wissenschaftlich zu echten Mundartwörterbüchern vervollständigt werden. Als erstes dieser Groninger Reihe erscheint ein Woordenboek van het Winterswijks, bearbeitet von H. Entjes. Ausgangspunkt dieses Wörterbuchs ist ein wenig umfangreiches Idiotikon, das der Lehrer G. H. Deunk vor ungefähr 30 Jahren von der Mundart seines in der gelderländischen Achterhoek gelegenen Geburtsortes angelegt hat. Selbstverständlich kommen für die wissenschaftliche Vervollständigung und Bearbeitung zu allererst die Idiotika in Anmerkung, die merkwürdige, von der Umgebung abweichende Mundarten beschreiben. Die Mundart von Winterswijk ist davon das eine, die des overijsselschen Dorfs Vriezenveen ein anderes Beispiel. Als zweite Nummer der Reihe steht denn auch ein Woordenboek van het Vriezenveens an, ebenfalls von H. Entjes bearbeitet. Zum lexikographischen Programm des Groninger Instituts gehört als größtes Unternehmen auch ein provinzielles Wörterbuch, nämlich das von Drente, was dann die Krönung des wissenschaftlichen Lebenswerkes des im Jahre 1963 verstorbenen Drenter Dialektologen J. Naarding sein würde. Naarding hat über viele Jahre

9

M i t z k a , Wortgeographie

130

Klaas

Heeroma

in Drente ein vielseitiges Material gesammelt, hat aber wie sein Vorgänger Bergsma das Werk nicht vollenden dürfen. Hiermit, sehr verehrter Kollege Schmitt, biete ich Ihnen meine Übersicht über die Mundartwörterbücher in den Niederlanden an, und in Ihnen der ganzen deutschen Germanistik. Methodisch werden sich unsere Dialektwörterbücher nicht allzu sehr von denen bei Ihnen in Deutschland unterscheiden, und Sie haben, denke ich mir, während der Lektüre dieses Artikels denn wohl auch allerlei deutsche Namen still vor sich hin gesagt, Namen, die ich nicht nannte, an die ich aber dennoch still gedacht habe. Die Dialektologie, ich wies schon zu Beginn darauf hin, ist nun einmal eine recht internationale Wissenschaft. Sie bewegt sich zwar auf sehr verschiedenen Qualitätsebenen, läßt aber doch auf all diesen Ebenen in den verschiedenen Ländern ziemlich parallele Erscheinungen sichtbar werden. Auch hinter methodisch vielleicht nicht so besonders interessanten Mundartbeschreibungen stehen oft besondere Mundarten und besondere Autoren, die die Mühe der Kenntnisnahme wert sind, die Mühe einer menschlichen Begegnung über nationale Grenzen hinweg!

JAN

GOOSSENS

Niederländische Mundartwörterbücher in Belgien l I m 1830 gegründeten belgischen Staat w a r das K l i m a f ü r das Studium der niederländischen Sprache, namentlich f ü r die Mundartforschung, besonders ungünstig. Die einzige offizielle Sprache im neuen Königreich w a r das Französische. Das höhere Schulwesen in Flandern w u r d e erst im 20. J a h r h u n d e r t niederländisiert. Was die Universität betrifft, so ist die Umschaltung v o m Französischen auf das Niederländische auch jetzt noch nicht völlig durchgeführt. Erst in den neunziger J a h r e n w u r d e n in den philosophischen Fakultäten der belgischen Hochschulen Abteilungen der germanischen Philologie, d. h. f ü r das Studium der niederländischen, deutschen u n d englischen Sprache u n d Literatur begründet. Die ersten wissenschaftlich ausgebildeten Niederlandisten — die auf französisch studiert hatten — verließen also die Universität gerade vor der J a h r h u n d e r t wende. In dieser antiniederländischen Stimmung der Zeit nach 1830 entfaltete sich die flämische Bewegung. I h r e ersten Führer waren Männer, die in der kurzen Epoche der Wiedervereinigung der nördlichen u n d südlichen N i e d e r l a n d e ganz oder teilweise ihre Ausbildung erhalten hatten. Die meisten von ihnen w a r e n philologisch interessiert: J . F . W i l l e m s , J . B . D a v i d , J. P. Bormans, C . P. Serrure, der geborene Wallone V. Delecourt, der u n t e r dem Decknamen V. H . V a n d e n h o v e schrieb, F. Snellaert, Ph. Blommaert, K . Stallaert u. a. I h r Interesse k a m vor allem dem Studium der mittelniederländischen Literatur zugute, zu der sie zahlreiche Texte veröffentlichten. N e b e n literarhistorischen hatten die Führer der flämischen Bewegung auch dialektologische Interessen. Diese waren teilweise durch die erstgenannten bedingt. I n der Einleitung zu einer der ältesten Wortlisten einer flämischen M u n d art 1844 wies Snellaert darauf hin, d a ß die Kenntnis der Dialekte u n d ihres Wortschatzes tot beteren

verstände

der oude schryvers

sehr nützlich ist: Bei

Texterklärungen können durch das Wissen um Wörter, die in der Schriftsprache verschwunden sind, aber in den M u n d a r t e n weiterleben, schwere I r r t ü m e r vermieden werden. Für das Studium mittelniederländischer Texte braucht man also M u n d a r t Wörterbücher. A u ß e r d e m waren einige F l a m e n ,

die das N i e d e r -

ländische in ihrem L a n d in den R a n g einer Hoch- u n d Schriftsprache erheben 9''

132

Jan Goossens

wollten, nicht dazu bereit, die K u l t u r s p r a c h e in der Form, wie sie in Holland lebte, ohne Änderungen einzuführen: Het wäre eene doodende dwingelandy indien aen enkele gewesten het regt wierde toegekend, alleen datgene wat hun eigen is voor bruikbaar in geschrift, of in deftige kringen to doen aennemen1. Die Frage nach f l ä m i s c h e n M u n d a r t w ö r t e r b ü c h e r n wurde akut, als 1849 die alten Pläne eines großen niederländischen Wörterbuchs wiederaufgenommen wurden und sich bald herausstellte, daß sie sich diesmal verwirklichen ließen. Die Flamen fürchteten, daß das Woordenboek der Nederlandsche Taal er te Hollandsch zou uitzien: een verkeerde opvatting van het wezen en de ontwikkeling der taal bracht ze tot de meening dat het Woordenboek den woordenschat, de uitspraak, de normen en de syntaxis van het beschaafd Nederlandsch voor goed zou vastleggen; zij hoorden in Zuid-Nederland duizende woorden gebruiken, die aan de Noord-Nederlanders onbekend waren; deze woorden lagen hun des te nauwer aan het hart, daar ze door hun Fransche opvoeding als vreemdelingen stonden tegenover het Algemeen Beschaafd2. Von den Pionieren der flämischen Bewegung haben die meisten sich auch um die Mundartforschung verdient gemacht. Willems und David nahmen in ihre Zeitschriften „Belgisch Museum" und „De Middelaer" Dialekttexte und Wortlisten auf; Serrure, Snellaert, Bormans und Delecourt-Stallaert veröffentlichten die ersten Ansätze von Idiotika 3 . Die Zahl der Stichwörter in drei dieser vier Listen ist äußerst beschränkt: 40 bei Serrure, 68 bei Bormans und 20 bei Delecourt-Stallaert. Außerdem versehen Serrure, Snellaert und Delecourt-Stallaert ihre Besprechungen der aufgenommenen Wörter mit weitläufigen „sprachwissenschaftlichen" Erläuterungen, die deutlich zeigen, wie mangelhaft ihre philologische Schulung war. 1859 schrieb der Studentenverein „Met Tijd en Vlijt" der Löwener Universität eine Preisfrage aus für Listen von Dialektwörtern und -ausdrücken, in Flämisch-Belgien und Niederländisch-Limburg im Gebrauch, welke in de bestaende woordenboeken niet opgenomen zyn. Es war die Absicht, aus den eingesandten Listen ein g e s a m t f l ä m i s c h e s I d i o t i k o n aufzubauen. Etwa zwanzig Sammler überließen dem Verein ihre Arbeiten. David, der Präsident von „Met Tijd en Vlijt", der vorgehabt hatte, das Wörterbuch selbst zu schreiben, mußte wegen anderer Beschäftigungen darauf verzichten. Der Bearbeiter wurde schließlich der Dorfpfarrer Schuermans, der im Wettbewerb eine „ehrenvolle 1

Snellaert in Belgisch Museum 8 (1844), S. 156.

2

L. Grootaers, Geschiedenis van het Zuid-Nederlandsdi dialectonderzoek. In: L. Grootaers — G. G. Kloeke, Handleiding bij het Noord- en Zuid-Nederlandsch dialectonderzoek. 's-Gravenhage 1926, S. 27—56. Zitat S. 30.

3

C . P. Serrure, Proeve van een Leuvensch idioticon. De Middelaer 2 (1841), S. 286—299. F. Snellaert, Bydrage tot de kennis van den tongval en het taalelgen van Kortryk. Belgisch Museum 8 (1844), S. 156—201. S. H . Bormans, Lijst van woorden en spreekwoorden uit het Truiersch (Limburgsch) dialect. Archief voor Nederlandsche taalkunde 2 (1849—50), 360—367. V. H . Vandenhove — K. Stallaert, Proeve van een Brabandsch idioticon. Ardiief voor Nederlandsche taalkunde 3 (1851—52), 82—94.

Niederländische

Mundartwörterbiicher

in Belgien

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Erwähnung" bekommen hatte. Das gesamtflämische Idiotikon von Schuermans4 erschien in Einzellieferungen von 1865 bis 1870. Es enthält nicht nur das Material, das für die Preisfrage von „Met Tijd en Vlijt" eingesandt worden war. Während der Veröffentlichung erhielt der Verfasser von flämischen Sprachliebhabern bijna wekelijks pakjes ... vol van gewestwoorden, eigenaardige zegswijzen of aantekeningen op het reeds gedrukte5. Dies neue Material wurde noch teilweise in das Wörterbuch aufgenommen; es umfaßt gut zwei Fünftel des Stoffes 5 . Den Rest veröffentlichte Schuermans mit der Ernte der nächsten Jahre in einem stattlichen Ergänzungsband 6 . Die Wörterbücher von Schuermans haben auffällige Mängel. Das aufgenommene Wortmaterial ist recht unvollständig. Schuld daran ist erstens der partikularistische Standpunkt: Nur die Wörter schienen den Ausschreibern der Preisfrage, den Einsendern und dem Bearbeiter von Bedeutung, die in der n i e d e r l ä n d i s c h e n S c h r i f t s p r a c h e n i c h t vorkamen, oder wenigstens eine andere Bedeutung als in der Hochsprache hatten. Zweitens verfügte Schuermans für einige Gegenden über sehr wenig Material. Die örtliche Beschränkung der Ausdrücke ist oft nicht genau genug7. Die Dialektwörter sind nur in einer ,niederländisierten' Form abgedruckt; es ist kein Versuch einer Wiedergabe der Aussprache unternommen worden. Das eigentliche Idiotikon wird durch überreichliche ,sprachkundliche', vor allem etymologische Erklärungen verunstaltet, durch einen Bearbeiter, dem die Kompetenz dazu fehlte. Der Ergänzungsband ist sachlicher. Trotz ihrer Mängel tun die Wörterbücher von Schuermans bis heute wichtige Dienste, vor allen Dingen für die Untersuchung von Gebieten, für die später kein Idiotikon erschienen ist, darunter die Gegend des Bearbeiters selbst, den Bereich zwischen Löwen und Mecheln. 2 Nach dem Vorbild von „Met Tijd en Vlijt" sammelte der Priester L. de Bo Material für ein w e s t f l ä m i s c h e s Wörterbuch. Zahlreiche Westflamen ließen ihm ihre Mitwirkung zuteil werden. Das westflämische Idiotikon erschien 1873®. 4

Algemeen Vlaamsch idioticon, uitgegeven, op last van het taal- en letterlievend genootschap Met Tijd en Vlijt, en bewerkt door L. W. Schuermans, met behulp van verscheidene taalminnaars van Zuid-Nederland. Leuven 1865 ( X X V I I + 902 S.). Weitere Einzelheiten über das Zustandekommen dieses Wörterbuchs findet man im Voorwoord und Ander voorwoord von Schuermans, im Voorwoord seines Bijvoegsel (s. Anm. 6) und bei Grootaers a . a . O . , S. 31— 32.

5

Bijvoegsel (s. Anm. 6), S. X V I .

6

Bijvoegsel aan het Algemeen Vlaamsch idioticon, uitgegeven in 1865—1870, wederom bewerkt door L. W. Schuermans. Loven 1883 ( X I X + 405 S.).

7

So wird beispielsweise von zahlreichen Wörtern angegeben, daß sie limburgisch seien, während sie tatsächlich nur in einem kleineren oder größeren Teil von Limburg vorkommen.

8

Westvlaamsch idioticon, bewerkt door L . - L . De Bo. Brügge 1873 ( X X + 1488 S.). In der Einleitung erwähnt De Bo die Namen der Einsender von 19 Sammlungen.

nu

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Jan

Goossens

Es ist sachlicher als die Arbeit von Schuermans, enthält sehr viel Material, aber hat einen großen Mangel: De Bo behandelt das Westflämische als einen undifferenzierten und unveränderlichen Dialekt. Er gibt sehr wenig Andeutungen über die Verbreitung der Ausdrücke und hat außerdem historisches Wortmaterial in seinem Wörterbuch verarbeitet, das in der zweiten H ä l f t e des vorigen Jahrhunderts nicht mehr lebte. Man kann dem erläuternden Text bei einem Lemma nicht entnehmen, ob das betreffende Wort aus der lebenden Volkssprache oder aus einem toten Text aufgezeichnet wurde. Typisch f ü r die damaligen Sprachzustände in Flandern und f ü r die Auffassung des Autors, daß ein Mundartwörterbuch zur Aufgabe habe, Baustoffe f ü r die Schriftsprache zu liefern, ist eine alphabetische Liste französischer Wörter mit den möglichen Ubersetzungen ins Westflämische im Anhang. Ein niederländisches Wortregister fehlt jedoch. 1892 erschien eine zweite Auflage des westflämischen Idiotikons, besorgt von einem andern Priester, J. Samyn 9 . Wortlisten wie die der Idiotika von Schuermans und De Bo wurden immer wieder angelegt, bis in unsere Zeit. Zahlreiche regionale historische und volkskundliche Zeitschriften haben derartige kleinere Sammlungen veröffentlicht. Wir können hier nicht darauf eingehen 10 . Eine Ausnahme machen wir f ü r die Zeitschrift 'Loquela' (1881—1895), deren Begründer und Schriftleiter der Dichter G. Gezelle war. In dieser Zeitschrift sind Tausende von Wörtern und Wortbedeutungen aus — hauptsächlich w e s t f l ä m i s c h e n — Mundarten aufgezeichnet und von Gezelle besprochen worden. Sie bilden eine wichtige Ergänzung zu De Bo. Gezelle war sprachwissenschaftlich ungeschult, so daß der linguistische Wert seiner Kommentare gering ist. Anderseits enthalten sie oft interessante Beschreibungen von V o l k s b r ä u c h e n . Einen Schritt vorwärts im Vergleich mit dem Werk von De Bo und teilweise auch dem von Schuermans bedeutet die genaue Angabe der Orte, wo die Wörter aufgezeichnet wurden. J. Craeynest arbeitete 1907 die Listen aus den fünfzehn Jahrgängen zu einem alphabetischen Wörterbuch um 11 . Ein Neudruck („derde druk") erschien von 1943 bis 1946 12 . Die 1870 gegründete „Zuidnederlandsche Maatschappij van Taalkunde" schrieb 1874 eine Preisfrage f ü r Sammlungen von Idiotismen aus. Der erste Preis wurde einem s ü d o s t b r a b a n t i s c h e n Volksschullehrer, J. F. Tuerlinckx, zuteil, dessen hageländisches Idiotikon 1886 erschien 15 . Dies ist f ü r die damalige Zeit ein ausgezeichnetes Wörterbuch. Es behandelt den Wortschatz der » Gent 1892 ( X I I I + 1335 S.). 10

Eine Übersicht findet man bei Grootaers, a. a. O. Nebenbei möchte ich noch eine westflämische Liste erwähnen, die v o n Samyn in der zweiten Auflage von D e Bo nicht verarbeitet wurde: K. Deflou, Woorden en vaktermen uit West-Viaanderen. Onze Volkstaal 3 (1890), 1 - 4 0 .

11

Amsterdam 1907 (IV + 668 S.).

12

Tielt o. J. (VI + 668 S.).

13

J. F. Tuerlinckx, Bijdrage tot een Hagelandsch idioticon. Gent 1886 ( X X V I I I 4 758 S.).

Niederländische

Mundartwörterbücher

in

Belgien

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Gegend zwischen Diest, Tienen und Aarschot, insoweit er nicht auch der niederländischen Schriftsprache angehört. Was in dem Idiotikon von Schuermans als hageländisch bezeichnet wurde, ist jedoch weggelassen. Tuerlinckx gibt als erster die Aussprache der Wörter in einer von ihm selbst entworfenen Schreibung. Obwohl er keine phonetische Ausbildung bekommen hatte, ist es dem heutigen Gebraucher seines Wörterbuchs mit etwas Anstrengung möglich, die Dialektwörter annähernd richtig zu lesen. Tuerlinckx hat nach dem Erscheinen seines Idiotikons bis zu seinem Tode im Jahre 1900 fleißig weiter gesammelt. Sein Freund und Heimatgenosse D. Claes publizierte 1904 einen ausführlichen Ergänzungsband14, in dem das Material, das Tuerlinckx nach 1884 gesammelt hatte, die hageländischen Wörter aus dem Idiotikon von Schuermans und eine eigene Sammlung verarbeitet worden sind. Es überstieg offenbar seine Kräfte, von den Wörtern aus den letzten beiden Quellen die dialektische Aussprache wiederzugeben. Ein paar Jahre früher hatte Claes eine Lijst van bij Kiliaan geboekte en in Zuid-Nederland voortlevende woorden, die in de hedendaagsche woordenboeken niet opgenomen o} onvolledig verklaard zijn veröffentlicht15. Die ,südniederländischen' Wörter dieser Liste sind ebenfalls hageländisch, hauptsächlich aus Claes' Heimatort Neerlinter. Sie sind größtenteils, aber nicht alle, auch in Tuerlinckx' Bijdrage oder in Claes' Bijvoegsel wiederzufinden. Der Volksschullehrer A. Rutten hatte sich 1859 um den Preis des Vereins „Met Tijd en Vlijt" beworben und mit einer Liste über d i e s ü d o s t b r a b a n t i s c h e Gegend zwischen St.-Truiden und Tienen eine „ehrenvolle Erwähnung" bekommen. Rutten sandte eine neue Liste ein, als die „ZuidnederlandscheMaatschappij" ihre Preisfrage ausgeschrieben hatte, und bekam den dritten Preis. Diese überarbeitete und ergänzte Liste wurde als Beitrag zu einem haspengauischen Idiotikon veröffentlicht18. Das von Rutten bearbeitete Gebiet liegt zwischen dem von Tuerlinckx und Claes einerseits und der Sprachgrenze anderseits. Die haspengauischen Wörter, die von Schuermans „richtig angegeben" sind, wurden nicht in das haspengauische Idiotikon aufgenommen. Bei den Wörtern, die auch in Tuerlinckx vorkommen, begnügt sich Rutten mit einem Verweis. Er hat sich nicht dazu entschließen können, die Aussprache der Dialektwörter wiederzugeben. 1886 schrieb die Abteilung St.-Niklaas des ,Davidsfonds' eine Preisfrage für Sammlungen von Idiotismen im Land van Waas aus, d. h. im Nordosten der Provinz O s t f l a n d e r n . Der Priester A. Joos bearbeitete die eingereichten Listen zusammen mit seinem eigenen Material in einem waasländischen Idiotikon 17 . In der ausführlichen Einleitung gibt er neben einer Beschreibung der 14

Bijvoegsel aan de Bijdrage tot een Hagelandsch idioticon, gedeeltelijk volgens onuitgegeven aantekeningen van J.-F. Tuerlinckx, door D. Claes. Gent 1904 ( X X I I I + 298 S.).

15

Gent 1902 (80 S.).

16

A. Rutten, Bijdrage tot een Haspengouwsch idioticon. Antwerpen 1890 ( X V I + 318 S.).

17

A. Joos, Waasch idioticon. Gent -

St.-Niklaas 1900 (841 S.).

136

]an Goossens

Selbst- u n d Mitlaute eine Skizze einer G r a m m a t i k des betreffenden Gebietes. A n seiner Beschreibung zeigt sich, d a ß Joos ein gutes O h r f ü r geographische Unterschiede in der Aussprache h a t t e ; zu einer lautgeographischen Synthese ist er jedoch nicht gekommen. E r gibt weiter sehr viele Sprichwörter u n d Redensarten u n d teilt zahlreiche Besonderheiten über V o l k s b r ä u c h e in seiner Gegend mit. 3 Ein U n i k u m zwischen den flämischen M u n d a r t w ö r t e r b ü c h e r n ist das Lexikon der f l ä m i s c h e n P f l a n z e n n a m e n des Jesuitenpaters E. Paque 1 8 . Auch dies W e r k v e r d a n k t sein Entstehen einer Preisfrage, u n d z w a r des belgischen Botanikerverbandes im J a h r e 1887. D e r Verein beabsichtigte, mit H i l f e der eingesandten Listen von mundartlichen Bezeichnungen f ü r Pflanzen ein „Idioticon raisonné" zusammenzustellen, „des noms populaires néerlandais de plantes qui sont actuellement usités en Belgique, dans les provinces limitrophes du r o y a u m e des Pays-Bas et dans le département du N o r d " . Von den sieben Mitbewerbern bekam P a q u e den ersten Preis. E r w u r d e selbst mit der Bearbeitung der Material f ü r 271 O r t e ergebenden Listen b e a u f t r a g t . Bei jedem Ausdruck gibt er genau die O r t e an, f ü r die Meldungen vorlagen. Für einige Pflanzen ist das Material reichhaltig genug, u m W o r t k a r t e n zu zeichnen. D a s Buch ist mit zahlreichen Abbildungen illustriert. D e m eigentlichen Dialektwörterbuch folgt ein Register mit den französischen Bezeichnungen (es ist wieder kennzeichnend f ü r die flämischen Sprachverhältnisse, d a ß ein niederländisches Register fehlt!) u n d eins mit den wissenschaftlichen lateinischen Termini. Jedem lateinischen Ausdruck folgt eine A u f z ä h l u n g der korrespondierenden D i a l e k t w ö r t e r u n d gegebenenfalls eine Bemerkung über die heilkräftigen Eigenschaften der Pflanze. 1912 veröffentlichte P a q u e einen Ergänzungsband, ohne Register 1 9 .

4 I m J a h r e 1896, k u r z nachdem in Belgien das Studium der germanischen Philologie eingerichtet worden w a r , begründete Ph. Colinet an der Löwener Universität die „Leuvensche Bijdragen". In den ersten J a h r g ä n g e n erschienen vier ausführliche Dialektmonographien, von Colinet selbst u n d von einigen seiner Schüler. Die ersten drei enthalten alphabetische Wortregister, die so ausführlich sind, d a ß m a n sie als kleine Wörterbücher betrachten k a n n : Es sind die v o n Colinet über Aalst 2 0 , Goemans über Löwen 2 1 u n d Grootaers über Tongern 2 2 . 18

E. Paque, De Vlaamsche volksnamen der planten van Belgie, Fransch-Viaanderen en Zuid-Nederland. Namen 1896 (568 S.).

19

Brüssel 1912 (156 S.).

20

Leuvensche Bijdragen 1 (1896), S. 2 5 5 - 3 0 1 .

" Leuvensche Bijdragen 2 (1897), S. 2 7 0 - 3 2 1 . a

Leuvensche Bijdragen 9 (1910—11), S. 121-178.

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in

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Auch eine spätere Monographie der Löwener Schule, die Abhandlung von J . L. Pauwels über den Dialekt von Aarschot23, enthält ein Wortregister. In diesen Listen wird jeweils zuerst das Dialektwort in einer ,niederländisierten' Schreibung gegeben, dann kommt die phonetische Transkription des Wortes und ein Verweis auf die Stelle(n) in der Laut- oder Formenlehre, wo das Wort behandelt ist. In der Regel werden im Register keine lexikologischen Auslegungen geboten. 5 Im Jahre 1886 war die „Koninklijke Vlaamsche Academie voor Taal- en Letterkunde" gegründet worden. Diese hat von Anfang an bis heute den größten Teil der lexikographischen Tätigkeit in Flandern organisiert. 1890 rief sie zum Einsenden fachsprachlicher Wortlisten auf 24 . Sie beabsichtigte, mit Hilfe der eingesandten Wortlisten ein „Allgemeines Kunst- und Fachwörterbuch" zusammenzustellen. Das sollte mit Rücksicht auf die Zustände in Flämisch-Belgien geschehen, wo jeder wissenschaftliche Unterricht derzeit noch auf französisch erteilt wurde. Die Akademie befürchtete nicht zu Unrecht, daß sich bei den neuen Berufen k e i n e n i e d e r l ä n d i s c h e T e r m i n o l o g i e entwickeln25 und bei herkömmlichen Berufen infolge der französischen Ausbildung viel einheimisches Wortgut verloren gehen würde. Sie beabsichtigte nicht, Listen von Dialektwörtern zu sammeln und zu veröffentlichen, aber betonte trotzdem, daß auch solche Ausdrücke aufgenommen werden durften, wenn sie nur zuivere echt Nederlandsche of Dietsche vakwoorden en uitdrukkingen, m. a. W. keine (französischen) Fremdwörter waren. Zu einem allgemeinen Fachwörterbuch ist das Unternehmen nie gediehen, aber trotzdem sind durch die Vermittlung der Akademie mehrere ziemlich ausführliche Wörterbücher von F a c h s p r a c h e n erschienen. Die ersten sechs bilden eine Reihe: „Vak- en Kunstwoorden" 26 . Die pädagogische Absicht zeigt sich in den letzten vier Werken dieser Reihe: Sie enthalten ein alphabetisches französisches Register, das es dem Französisch kennenden Benutzer ermöglicht, leicht die korrespondierenden niederländischen Termini zu finden. Alle sechs Wörterbücher sind ziemlich reich illustriert. Sie 25

J . L. Pauwels, Het dialect van Aaarsdiot en omstreken. Tongeren 1958. Register auf S. 4 7 9 - 5 3 8 .

24

Der Aufruf ist abgedruckt in: Verslagen en Mededeelingen der Koninklijke Vlaamsche Academie (VMKVA) 1890, S. 2 8 1 - 2 8 5 .

25

Die vollständige Fachterminologie fast aller flämischen Fahrrad- und Automechaniker ist französischen Ursprungs. Weil die Fachwörter in flämische Mundarten integriert sind, stellt ihre Sprache ein merkwürdiges Gemisch dar.

26

Koninklijke Vlaamsche Academie voor Taal- en Letterkunde: Vak- en Kunstwoorden: Nr. 1: Th. Coopman, Steenbakkerij. Gent 1894 ( X + 9 3 S.). Nr. 2: J. Vuylsteke, Ambacht van den smid. Gent 1895 (VIII + 176 S.). N r . 3: J . en V. van Keirsbilck, Ambacht van den timmerman. Gent 1898 ( X + 547 S.). Nr. 4: A. van Houcke en J . Sleypen, Ambacht van den metselaar. Gent 1897 ( I X + 486 S.). Nr. 5: J. en V. van Keirsbilck, Ambacht van den metselaar. Gent 1899 ( X + 406 S.). Nr. 6 : A. van Houcke, Ambadit van den loodgieter en zinkbewerker. Gent 1901 (985 S.).

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Jan Goossens

enthalten auch alle verhältnismäßig viel Dialektmaterial. Trotzdem ist das Wörterbuch von Vuylsteke über die F a c h s p r a c h e d e s S c h m i e d e s für den Sprachgeographen wenig brauchbar, weil jede Lokalisierung der Ausdrücke fehlt. In vier der fünf anderen Fälle sind die geographischen Andeutungen selten. Nur im ersten Wörterbuch dieser Reihe, zugleich dem kürzesten, dem von Coopman über die Z i e g e 1 e i , sind sie verhältnismäßig zahlreich, vor allem für das Kerngebiet dieses Industriezweiges, die ,Rupelstreek'. Die Fachlexika der Akademie haben im gewissen Sinne einen Vorläufer gehabt im Wörterbuch des R o t w e l s c h e n , von Is. Teirlinck, aus dem Jahre 1886 27 . Dieser hatte eine Reihe von gedruckten Quellen exzerpiert, deren Material zum guten Teil genau lokalisierbar ist. Einige Jahre später besorgte H. de Seyn-Verhougstraete eine Ergänzung, Het Bargoensch van Roeselare28, also eine Liste des Rotwelschen in einer einzigen Stadt. Die Veröffentlichung von Fachwörterbüchern der Akademie war mit den sechs Bänden der Reihe „Vak- en Kunstwoorden" nicht beendet. Später publizierte diese Gelehrtenvereinigung noch einige andere Fachlexika, von denen noch zwei im Geist der früheren Reihe angelegt sind. Das Wörterbuch der B r a u e r s p r a c h e von A. Quicke29 ist illustriert, enthält Dialektwörter, die jedoch nur zum kleinen Teil lokalisiert sind und bietet am Schluß ein ausführliches französisches Register, das es dem gebildeten flämischen Gebraucher ermöglicht, eine niederländische Fachsprache zu studieren. Das Wörterbuch der S e e f i s c h e r e i von F. Bly 30 enthält naturgemäß viel nordniederländisches Material. Abbildungen und ein französisches Register fehlen. F. Bly hatte sich schon früher mit einer Arbeit über die S e g e l f i s c h e r b a r k e n an der belgischen Küste verdient gemacht. Diese wurde von der Akademie gekrönt und veröffentlicht. Das Buch, das drei Auflagen erlebte31, besteht aus zwei Teilen. Der erste ist eine bebilderte Beschreibung der Segelfischerbarke in — der Reihe nach — Ostende, Blankenberge und De Panne, der zweite eine alphabetische Liste der Fachtermini. Wenn ein Ausdrude nur in einem oder zwei der untersuchten Orte vorkommt, ist das immer vermerkt. Bei den meisten Wörtern steht die französische, die englische und die deutsche Übersetzung. In der zweiten Auflage hat Bly die Untersuchung über vier andere 27

Is. Teirlinck, Woordenboek van Bargoensch (Dieventaal). Roeselare 1886 ( X L V I I + 81 S.).

88

H . de Seyn-Verhougstraete, Het Bargoensch van Roeselare. Roeselare 1890 (19 S.).

29

A. Quicke, Verklärend Nederlandsch woordenboek van het brouwersvak, Gent 1926 (396 S.).

30

F. Bly, Verklärende vakwoordenlijst van de zee-visscherij, omgewerkt door G. Bly. Leuven 1931 (298 S.)

31

F. Bly, Onze zeil-vischsloepen. Beschrijving van de zeil-visdisloep, zooals die te Oostende, te Blankenberge en op de Panne in gebruik is. Gent 1902 (145 S.). Tweede verbeterde en vermeerderde uitgave, Gent 1910 (268 S.). Derde vermeerderde uitgave, Antwerpen 1920 (237 S.).

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flämische Küstenorte ausgedehnt: Heist, Nieuwpoort, Koksijde und Oostduinkerke. Die geographischen Andeutungen im Wörterverzeichnis sind jedoch nicht f ü r diese Orte erweitert worden. In dieser zweiten Auflage hält die Photographie ihren Einzug als Illustration in das flämische Dialektwörterbuch. 1928 veröffentlichte die Akademie das Fachwörterbuch des H o p f e n b a u s von Lindemans-de Jaegher-Lindemans 3 2 . Es gibt in Flämisch-Belgien zwei Gebiete, wo seit Jahrhunderten H o p f e n angebaut wird: die Umgebung von Poperinge in Südwestflandern und einen westbrabantischen Bereich zwischen Brüssel und Aalst. Das Wörterbuch ist das Ergebnis einer glücklichen Zusammenarbeit. Zwei Sachkundige, ein westbrabantischer Landwirtschaftsingenieur und der Sekretär des Poperinger Hopfenverbands, sammelten, jeder in seinem Gebiet, Material, das — zum ersten Mal in der Geschichte der flämischen Mundartlexikographie! — von einem geschulten Sprachwissenschaftler, Jan Lindemans, zu einem Wörterbuch verarbeitet wurde. Wenn ein Terminus nur in einem der beiden Gebiete vorkommt, ist der Bezirk immer angegeben. Für den brabantischen Bereich ist die Lokalisierung oft noch genauer. Durch Verweise lernt man immer das korrespondierende Wort im anderen Gebiet kennen. Die Arbeit ist jedoch kein reines Dialektwörterbuch. Die Absicht, einen Kodex einer niederländischen Fachsprache zu schaffen, die auch in der Reihe „Vak- en Kunstwoorden" vorgelegen hatte, hat auch bei der Bearbeitung dieses Wörterbuchs eine Rolle gespielt. Deshalb hat J. Lindemans auch eine ziemlich große Anzahl von Wörtern aus gedruckten (auch nordniederländischen) Quellen exzerpiert und in das Lexikon aufgenommen. Darum folgt am Ende auch ein Register der französischen, eins der englischen und eins der deutschen Fachwörter mit Ubersetzung. Bei den Dialektwörtern fehlt die phonetische Transkription. Die flämische Akademie hatte 1903 im Rahmen ihrer Preisfragen über F a c h s p r a c h e n einen Preis ausgeschrieben f ü r eine »Vak- en kunstwoordenlijst over het landbouwbedrijf". Die Arbeit von J. Goossenaerts wurde 1909 preisgekrönt. Dies Wörterbuch wich grundsätzlich von allen Fachwörterbüchern ab, die die Akademie bisher veröffentlicht hatte: Es behandelte den d i a l e k t i s c h e n F a c h w o r t s c h a t z einer einzigen Gemeinde, Kalmthout in den Antwerpener Kempen. Der Verfasser, der mit seinem eingesandten und gekrönten Entwurf selbst nicht zufrieden war, hat ein ganzes Menschenleben weiter daran gearbeitet. Von 1956 bis 1958 erschien das monumentale Wörterbuch von Goossenaerts über die Sprache der L a n d w i r t s c h a f t im Nordwesten der Kempen 3 3 . In der ausführlichen Einleitung, einem Band f ü r sich, gibt der Verfasser hauptsächlich eine historische Übersicht der Landwirtschaft in seinem Gebiet. Dies ist größer als im Entwurf von 1909: Es u m f a ß t die Gegend zwischen der niederländischen Reichsgrenze, dem Scheidepolder und der Grote Aa. Das eigentliche 32

J. Lindemans, A. de Jaegher, P. Lindemans, Vakwoordenlijst der hopteelt. Wetteren 1928 (195 S.).

" J. Goossenaerts, D e taal van en om het landbouwbedrijf in het noordwesten van de Kempen. Gent 1 9 5 6 - 5 8 (CII + 1094 S.).

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Wörterbuch ist alphabetisch eingerichtet. In seiner A r t ist es so gut wie vollständig. Ausgangspunkt f ü r die Beantwortung der Frage, welche W ö r t e r a u f genommen werden mußten, w a r „die Kenntnis des g e b i l d e t e n B a u e r n " aus der betreffenden Gegend. Auch Redensarten, Sprichwörter u n d bildliche Ausdrücke, die dem landwirtschaftlichen Betrieb entnommen sind, O r t s n a m e n u n d die Folklore des Bauernlebens gehören dazu. D a s W e r k ist nicht n u r ein synchronisches, sondern auch ein historisches Wörterbuch. D a f ü r hat Goossenaerts das Archiv seines Gebietes gründlich untersucht. Die Besprechungen einiger W ö r t e r sind zu kleinen kulturhistorischen Aufsätzen ausgewachsen. Die meisten Stichwörter sind in einer ,niederländisierten* F o r m abgedruckt, aber in einem Anhang, v o m Philologen D . Fagot v e r f a ß t , sind r u n d 1400 Termini phonetisch transkribiert. Das Buch enthält zahlreiche Abbildungen, die in der Mehrzahl v o n einem Spezialisten der materiellen Volkskunde, J. Weyns, gezeichnet w o r d e n sind. Das letzte Wörterbuch einer Fachsprache, das v o n der Akademie preisgekrönt und veröffentlicht w u r d e , ist die Arbeit von L. Maerevoet über die Terminologie der S c h e i d e f i s c h e r e i zu Mariekerke 3 4 . Ein Philologe, F. de Bondt, überarbeitete das alphabetisch eingerichtete Wörterbuch des linguistisch nicht ausgebildeten Verfassers, indem er u. a. jedes L e m m a mit phonetischer T r a n s k r i p tion versah. Durch diese Arbeit ist ein wichtiger Teil einer Fachsprache gerettet worden, die heute nahezu ausgestorben ist. Durch die Verschmutzung der Scheide infolge des A u f k o m m e n s der Industrie an ihren U f e r n ist ja die Fischerei auf diesem Fluß völlig verschwunden. Zurückblickend auf die Geschichte der Fachwörterbücher der flämischen Akademie können wir sagen, d a ß ihr wissenschaftlicher W e r t allmählich gestiegen ist. Diese Verbesserung läuft parallel mit der immer größeren K o n zentration der A u t o r e n auf den d i a l e k t i s c h e n Wortschatz u n d mit dem allmählichen Verlassen des ursprünglichen Standpunktes der Akademie, d a ß es ihre A u f g a b e sei, Beiträge zu einem allgemeinen niederländischen Fachwörterbuch zu liefern. Es ist aber inzwischen auch deutlich geworden, d a ß eine I n ventarisierung des gesamten Fachwortschatzes der flämischen M u n d a r t e n ein unerreichbares Ziel ist. W i r werden uns mit unvollständigen Sammlungen zufrieden stellen müssen, die entweder nur einen kleinen Teil des südniederländischen Dialektraums umfassen, oder nur einen kleinen Teil eines Fachwortinventars enthalten werden. 6 Auch die Veröffentlichung von Idiotika im 20. J a h r h u n d e r t ist hauptsächlich eine Angelegenheit der flämischen Akademie gewesen. Einigen Mitgliedern schwebte seit der G r ü n d u n g die Idee eines neuen gesamtflämischen Dialekt34

L. Maerevoet, Bijdrage tot de Studie van de woordensdiat van de Sdieldevissers te Mariekerke (met de medewerking van F. de Bondt). Gent 1961 (221 S.).

Niederländische

Mundartwörterbücher

in Belgien

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Wörterbuchs vor, das das unvollständige und mangelhafte Idiotikon von Schuermans ersetzen würde. 1888 wurde beschlossen, einen „festen Ausschuß mit der Erwägung der Maßnahmen zu beauftragen, die für die Bearbeitung eines allgemeinen südniederländischen Idiotikons notwendig sind, und später, wenn möglich, diese Arbeit über die anderen niederländischen Mundarten auszudehnen" 35 . 1892 schrieb die Akademie eine Preisfrage für ein Idiotikon der Stadt A n t w e r p e n und der Antwerpener Kempen aus. Preisgekrönt wurde das Wörterbuch von Cornelissen und Vervliet, das von 1899 bis 1903 erschien36. Es enthält wie das Idiotikon von Joos im Anfang eine grammatische Beschreibung der untersuchten Mundarten (S. 1—94), die jedoch, weil die Verfasser keine ausgebildeten Philologen waren, den modernen Benutzer nicht befriedigt. Das eigentliche Wörterbuch ist sehr verdienstvoll eingerichtet, bis auf das Fehlen einer systematischen Wiedergabe der Aussprache. Cornelissen und Vervliet sind die ersten flämischen Mundartlexikographen gewesen, die versucht haben, für ihr Gebiet eine vollständige Inventarisierung des Wortschatzes zu erreichen. Zu diesem Zweck nahmen sie Wörter, die auch der S c h r i f t s p r a c h e angehören, in ihre Sammlung auf und sammelten immer weiter. 1906 ersdiien ein Ergänzungsband 36 , der in sich wieder ein Supplement enthält 37 . Von 1936 bis 1938 besorgte Cornelissen einen dreibändigen Nachtrag 38 , der seinerseits wieder eine Nachlese enthält 3 *! Um zu wissen, was über ein bestimmtes Wort in Cornelissen-Vervliet ausgesagt wird, ist man also gezwungen, fünf verschiedene Stellen nachzuschlagen. Im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts schrieb die Akademie noch verschiedene andere Preisfragen aus. Nur drei Antworten wurden preisgekrönt: das s ü d o s t f l ä m i s c h e Idiotikon von Teirlinck (1903), das L ö w e n e r von Goemans (1904) und das G e n t e r von Lievevrouw-Coopman (erst 1924). Das südostflämische Wörterbuch 40 war nicht der lexikographische Erstling von Is. Teirlinck. 1886 hatte er ja schon ein Wörterbuch des R o t w e l s c h in den Niederlanden veröffentlicht. Er hat, wie Cornelissen-Vervliet, Vollständigkeit angestrebt, aber das Ergebnis ist, dank seiner größeren Routine, viel 35

VMKVA 1888, S. 194. Vgl. dort audi S. 1 2 4 - 1 2 5 und 193 und Grootaers, a . a . O . , S. 36.

36

P. J. Cornelissen — J. B. Vervliet, Idioticon van het Antwerpsch dialect (stad Antwerpen en Antwerpsche Kempen). Gent 1899—1903 (X + 1514 S.). Id., Aanhangsel. Gent 1906 (S. 1515-2272).

37

S. 2 1 8 5 - 2 2 7 2 .

38

J. Cornelissen, Idioticon van het Antwerpsch dialect. Bijvoegsel lste deel (Buchstaben A - H ; Turnhout 1936; 310 S.), 2e deel ( I - R ; Turnhout 1938; 316 S.), 3e deel ( S - Z + Nalezing; Turnhout 1938; 256 S.).

sa

Band 3, S. 2 3 3 - 2 5 4 .

40

Is.Teirlinck, Zuid-Oostvlaandersdi idioticon. Band 1 ( A - G ; Gent 1908—1910; 523 S.), 2 ( H - Q ; Gent 1910-1921; 423 S.), 3 ( R - Z und Anhang; Gent 1922; 395 S.) und 4 (Klank- en vormleer van het Zuid-Oostvlaandersdi dialect; Gent 1924; 220 S.).

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harmonischer. Er hat seine Sammlung erweitert, indem er systematisch mit einem Wörterbuch der niederländischen Schriftsprache (Van Dale) laufend verglichen hat. Diese Arbeitsweise ergab erstens eine neue Reihe von Wörtern, die der südostflämischen Mundart und der Hochsprache gemeinsam sind; zweitens eine Sammlung von nur mundartlichen Ausdrücken, die sich als ,Ubersetzung' der entsprechenden niederländischen bei der Lektüre erwiesen, und drittens eine Liste schriftsprachlicher Vokabeln, die in seiner Mundart nicht vorkamen. Auch letztere hat Teirlinck in sein Wörterbuch aufgenommen, und zwar mit der Erwähnung: „nicht im Gebrauch". Durch dies Verfahren bildet das südostflämische Idiotikon einen schroffen Gegensatz zu den Mundartwörterbüchern des 19. Jahrhunderts. Der vierte Band enthält eine ausführliche Grammatik, die auch jetzt noch gute Dienste tut. Die drei letzten südniederländischen Idiotika betreffen S t a d t m u n d a r t e n . Den Kern der von der Akademie 1904 preisgekrönten Arbeit über den Dialekt von L ö w e n bildete schon das Wortregister von Goemans in der oben erwähnten Monographie. Erst 1936 erschien der erste Band des Wörterbuchs 41 . L. de Man bereitete in Zusammenarbeit mit dem Autor den zweiten Teil für den Druck vor 4 2 . Goemans hat das Erscheinen dieses Bandes nicht mehr erlebt 4 3 . Die Arbeit zeigt im Vergleich zu den früheren flämischen Mundartwörterbüchern, welche Eigenschaften ein Idiotikon in den Händen eines Fachmannes bekommen kann. Die Ordnung des Materials bei den einzelnen Stichwörtern ist vorbildlich. Von jedem Lemma ist die phonetische Transkription gegeben. Trotzdem scheint mir das Wortinventar ziemlich lückenhaft zu sein, was von Goemans selbst für die Fachterminologien in der Einleitung zugegeben wird. Vollständiger ist zweifellos das G e n t e r Wörterbuch von L. LievevrouwCoopman 4 4 . Diese Lebensarbeit eines verbissen-fleißigen, aber ungeschulten Einzelgängers hat eine rührende Vorgeschichte. Als die Akademie 1908 ihre Preisfrage ausschrieb, hatte Lievevrouw-Coopman schon mit einer Wörtersammlung begonnen, die sich immer mehr ausdehnte. Die Preisfrage wurde von 1908 auf 1912 und nachher auf 1918 und 1924 verschoben. In diesem Jahr war Lievevrouw-Coopman gezwungen, seine Karteikarten bei der Akademie einzureichen, weil ein Mitbewerber eine Genter Wörtersammlung eingesandt hatte. Von den 70 000 Zetteln von Lievevrouw-Coopman „war kein einziger ordentlich redigiert; sie enthielten nur flüchtige, unvollständige Notizen, Verweise auf konsultierte Werke, Tausende von Exzerpten und Hunderte von Fragezeichen" 45 . Die unfertige Arbeit wurde gekrönt, aber erst zwei Jahrzehnte später, nach wiederholter Überarbeitung, konnte an eine Drucklegung gedacht werden. Das Wörter11

L. Goemans, Leuvensch Taaleigen — Woordenboek. Deel ( X V + 209 S.).

42

Id., Deel II (G—Z). Tongeren 1954 (Seitenzahlen durchnumeriert bis 483).

4

I (A—F). Brüssel

1936

' Die Titelseite trägt als Erscheinungsjahr 1954. Tatsächlich erschien der zweite Band kurz nach dem Tod des Verfassers am 2. Januar 1955.

44

L. Lievevrouw-Coopman, Gents woordenboek. Gent 1950—1951 (zwei Bände, 1843 S.).

45

ebda. S. 6.

Niederländische

Mundartwörterbücber

in

Belgien

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buch, das auch viel historisches Material enthält, erschien von 1950 bis 1955. In der Einleitung haben die Linguisten E. Blancquaert und C. Tavernier-Vereecke eine phonetische Beschreibung der Genter Mundart abdrucken lassen, die das Fehlen einer Transkription bei den einzelnen Stichwörtern teilweise gutmacht. Trotzdem zeigt die Arbeit noch zahlreiche Spuren der mangelnden Ausbildung ihres Verfassers 4 '. Der Journalist L. Qui^vreux veröffentlichte 1951 ein kleines Wörterbuch der B r ü s s e l e r Mundart 4 7 . Der wissenschaftliche Wert dieser heterogenen Sammlung ist nur gering. Von den in Zeitschriften des 20. Jahrhunderts veröffentlichten Wortlisten möchten wir eine hervorheben. In „Eigen Schoon en De Brabander" erscheinen seit 1951 regelmäßig unter dem Titel „Brabantse woorden" Besprechungen von südbrabantischen Ausdrücken mit wertvollen etymologischen und wort- und sachgeschichtlichen Hinweisen. Der Leiter dieser Rubrik war anfangs J . Lindemans, sein Nachfolger ist seit 1958 L. de Man. 7 Die flämische Mundartlexikographie war im 19., und zum guten Teil auch noch im 20. Jahrhundert in den Händen von begeisterten, aber leider ungeschulten Dialektfreunden. Das Bedürfnis nach Wörterbüchern, die höher gestellte wissenschaftliche Ansprüche befriedigen konnten, wurde in dem Augenblick dringlich, als die ersten ausgebildeten Dialektgeographen ans Werk gingen. Der in den achtziger Jahren in der flämischen Akademie geäußerte Wunsch nach einem neuen g e s a m t f l ä m i s c h e n I d i o t i k o n , wurde im Anfang des 20. Jahrhunderts noch einige Male wiederholt 48 . Grootaers wollte sich dies große Wörterbuch zur Lebensaufgabe machen 49 . Von 1922 bis 1954 versandte er 49 Fragebögen, in denen die Bezeichnungen für weit über 4000 Begriffe gefragt wurden. Die Zahl der ausgefüllten Listen schwankt zwischen 138 und 948. Von Studenten ließ er in den vierziger Jahren zwei Hefte ausfüllen, von denen das erste (184 ausgefüllte Exemplare) 453 und das zweite (108 ausgefüllte Exemplare) 540 Wortfragen enthält. Weiter leitete er fast hundert Doktor- und Lizenzarbeiten, für die die Daten mündlich gesammelt wurden. D a er für die Bearbeitung des riesigen Materials fast völlig allein einstehen mußte, hat er seinen Plan leider nicht verwirklichen können. Audi sein späteres, 46

Vgl. dafür die Besprechungen von J. L. Pauwels in Leuvense Bijdragen, Bijblad 43 (1953), 1 1 6 - 1 1 7 und 45 (1955), 8 6 - 8 7 .

47

L. Quievreux, Dictionnaire du dialecte bruxellois. Bruxelles 1951 (201 S.).

48

Vgl. Grootaers, a. a. O., S. 4 0 - 4 1 .

4

* Einzelheiten in: 1. Grootaers, a . a . O . , S. 42—48; 2. L. Grootaers, Het dialectonderzoek te Leuven sedert den oorlog. Leuvensche Bijdragen, Bijblad 27 (1935), S. 61—69; 3. L. Grootaers, De voorbereiding van een Zuidnederlandsch dialectwoordenboek. V M K V A 1942, S. 3 5 9 - 3 6 8 ; 4. V. Versiegen, Prof. Grootaers en de Zuidnederlandse Dialectcentrale. Album Grootaers, Leuven 1950, S. 31—52.

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bescheideneres Vorhaben, aus einem Teil des Materials ein L i m b u r g i s c h e s Wörterbuch zu verfassen, ist nicht verwirklicht worden 5 0 . Das Schaffen von Grootaers ist jedoch nicht umsonst gewesen. Ein großer Teil des Materials, das er in mühseliger Arbeit in mehr als dreißig Jahren sammelte, wird zur Zeit von der Nimwegener Dialektzentrale unter der Leitung von A. Weijnen für das b r a b a n t i s c h e und das l i m b u r g i s c h e Wörterbuch bearbeitet. Das Gebiet des ersten wird ja nicht nur die nordniederländische Provinz Nordbrabant, sondern auch die belgischen Provinzen A n t w e r p e n und ( F l ä m i s c h - ) B r a b a n t umfassen. Im Limburgischen Wörterbuch wird der Wortschatz der beiden Provinzen Limburg und des Nordostens der Provinz Lüttich geboten werden. Der südniederländischen Mundartlexikographie gilt also noch eine große Aufgabe, für die sich bis jetzt noch niemand gefunden hat: Es muß noch ein Wörterbuch der Mundarten der alten Grafschaft Flandern, das heißt im großen und ganzen von Ost-, West- und Französisch-Flandern geschrieben werden. 8 Zum Schluß möchte ich eine Aufzählung der unveröffentlichten Wortschatzsammlungen aus südniederländischen Mundarten bringen, die als Lizenzabhandlungen an belgischen Universitäten verfaßt wurden. Diese Arbeiten sind meistens nur in einem oder ein paar hand- oder maschinengeschriebenen Exemplaren in den betreffenden Universitäts- oder Institutsbibliotheken vorhanden. Alljährlich erscheint eine Aufzählung der an den belgischen philosophischen Fakultäten eingereichten Doktor- oder Lizenzarbeiten im »Revue beige de philologie et d'histoire — Belgisch tijdschrifl voor filologie en geschiedenis", die es den Fachleuten ermöglicht, die hier gebotene Liste zu ergänzen.

IDIOTIKA H. Henckens, Idioticon van het dialect van Geistingen (Ophoven). Löwen 1958. P. de Wolf, Inventarisering van de woordensdiat van het dialect van Wieze. Löwen 1958. J. Bourgois, Actualiteitscontrole van de woordensdiat verzameld in het „Westvlaamsdi idioticon" en een aanvulling erop. Löwen 1962. J. Bernaerts, Idioticon van het dialect van Hamont. Löwen 1963. J . Janssen, Idioticon van het dialect van Meeswijk. Löwen 1964. J . Kelditermans, Idioticon van het dialect van Meeuwen. Löwen 1964. P. Peeters, Idioticon van het dialect van Hombeek. Löwen 1965. R. Remans, Idioticon van het dialect van Zonhoven. Löwen 1965. J. Jansen, Idioticon van het dialect van Lommel. Löwen 1966. W. Smets, Idioticon van het dialect van Niel-bij-St.-Truiden. Löwen 1966. 50

J. L. Pauwels, Ludovic Grootaers. Jaarboek van de Koninklijke Vlaamse Academie voor Taal- en Letterkunde 1958, S. 194—195.

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Mundartwörterbücher

in Belgien

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FACHWORTSCHATZ-INVENTARE J. Derwa, De dialectische landbouwtermen in het landbouwbedrijf te Genoels-Elderen. Lüttich 1941. A. van Hülle, Proeve eener dialectgeographische verhandeling Over landbouw-termen in het Noord-Oosten van West-Viaanderen. Löwen 1944. M. Michiels, De taal van de Oostendsche visschers. Löwen 1947. L. van Hoof, Proeve van een dialectgeographische verhandeling over landbouwtermen in het Zuid-Oosten van de Antwerpse Kempen en het strodekkersbedrijf te Mol. Löwen 1949. A. Janssen, Bijdrage tot de landbouw-woordenschat van de Voerstreek. Lüttich 1949. L. C. Persoone, Visserstermen en visserstaal in Vlaanderen's Westhoek (De Panne, Koksijde, Oostduinkerke, Nieuwpoort). Löwen 1950. R. Fourie, De landbouwterminologie in Outgaarden en omgeving. Löwen 1954. J. Goossens, Studie over landbouwtermen opgetekend te Genk en omgeving. Löwen 1955 (51). C. Mortier, Bijdrage tot de folklore en de taal van de Vlaamse zeevisser. Gent 1956. G. Schrevens, Bijdrage tot de Studie van de Kesselse boerenwoordensdiat (Kessel-Lo). Brüssel 1956. E. Eylenbosch, Bijdrage tot de kennis van de vaktaal van het landbouwbedrijf te Elingen, met een taalgeografisch onderzoek in de omliggende plaatsen. Gent 1957 (52). W. Schmitz, Die Eupener Weberei: Ein Beitrag zum Wortschatz mit einleitender historischer Lautlehre der Eupener Mundart. Lüttich 1957. C. Vanwonterghem, De mijnwerkerstaal in Belgisch-Limburg. Löwen 1958. F. de Bondt, Bijdrage tot de Studie van de woordensdiat van de Schelde-vissers te Mariekerke. Löwen 1959. L. Huygens, Taalkundige en folkloristische aantekeningen betreffende de kantnijverheid te Turnhout. Löwen 1959. J. Lhoest, Bijdrage tot de bijenteeltwoordensdiat van de Turnhoutse Streek. Lüttich 1959. N . Samijn, Bijdrage tot de weversterminologie te Moorsele. Gent 1959. N. Schepers, Van taup tot wiek. Onderzoek naar de vaktaal der windmolenaars tussen Maastricht en Roermond. Zentrale Prüfungskommission 1960. R. Vanvaerenberg, Vaktaal van de druiventeelt onder glas in Vlaams-Brabant. Löwen 1963. L. Derwael, Uit de woordenschat van de landbouw in enkele Vlaamse gemeenten: De veestapel. Gent 1964. 51

51

10

Die Sammlung wurde später auf die ganze belgische Provinz Limburg ausgedehnt. Einige Abschnitte wurden veröffentlicht in: J. Goossens, Semantische vraagstukken uit de taal van het landbouwbedrijf in Belgisch-Limburg. Antwerpen 1963. Das vollständige Material wird in das Limburgische Wörterbuch von Weijnen verarbeitet. Der dialektgeographische Teil wurde veröffentlicht in: E. Eylenbosch, Woordgeografisdie studies in verband met de taal van het landbouwbedrijf in West-Brabant en aangrenzend Oost-Viaanderen. Leuven 1962. Mitzka, Wortgeographie

ZWEITES KAPITEL

Worträume und Wortschichten Reiner H i l d e b r a n d t : Der Deutsche Wortatlas soziologie

als Forschungsmittel der

Sprach149

Rudolf Freudenberg: Alemannisch

170

Walther M i t z k a : Bairisch

185

H a n s Friebertshäuser: Westmitteldeutsch

211

Walther M i t z k a : Ostmitteldeutsch

248

Walther M i t z k a : Niederdeutsch

282

10»

REINER

HILDEBRANDT

Der Deutsche Wortatlas als Forschungsmittel der Sprachsoziologie I. Die Sprachkarte als Grundlage dialektgeographisch-historischer

Forschung

Drei Generationen sind intensiv am Deutschen Sprachatlas, dem von Georg Wenker 1879 begründeten Laut- und Formenatlas des Deutschen Reiches 1 , tätig gewesen. Die in mühsamer Kleinarbeit gezeichneten Karten bildeten ein wichtiges Ausgangsmaterial für die weittragenden Erkenntnisse deutscher Sprachwissenschaft und Dialektologie in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts l a . Das optisch synchrone Bild des deutschen Sprachgebiets liegt in Hunderten von Einzelkarten beispielhaft vor. Alle deutschen Dialektlandschaften konnten durch eine große Zahl zusammengeschauter Einzelkarten in ihrer Eigenständigkeit aufgezeigt werden. Die historisch so markanten Lautwandlungen wie die hochdeutsche Lautverschiebung, die neuhochdeutsche Diphthongierung und Monophthongierung, wie auch die vielen mehr regional begrenzten Lautentwicklungen lagen im synchronen Schnitt vor Augen. Wichtig war aber nicht nur die Optik an sich, ebenso entscheidend war auch clie Präzision: Die extrem große Belegdichte gab Rechenschaft über fast alle größeren Wohngemeinschaften. Aus 80—90°/o aller Orte mit einer Volksschule wurden die durch einen Lehrer dieser Schule als Repräsentanten für die Mundart des betreffenden Ortes ausgefüllten Fragebogen ausgewertet. Das so erreichte engmaschige, wenn auch nicht ganz lückenlose Belegnetz hatte methodische Konsequenzen: Auf der einzelnen Karte, die immer nur ein bis drei Lauterscheinungen — meist im Zusammenhang einer Silbe — darstellte, wurden die Orte mit jeweils der gleichen Aussprachegewohnheit durch eine Linie zusammengefaßt, für die sich — freilich erst sehr spät — 1

Sprachatlas des Deutschen Reichs, begr. von G. Wenker; handschriftlich im Forschungsinstitut für deutsche Sprache, Universität Marburg, z . T . gedruckt als: Deutscher Sprachatlas, auf Grund des von G. Wenker begründeten Sprachatlas des Deutschen Reichs . . . begonnen von F. Wrede, fortgesetzt von W. Mitzka und B. Martin, Marburg 1927 ff. — Dazu W. Mitzka, Handbuch zum Deutschen Sprachatlas. Marburg 1952. Eine anregende Studie zum neuesten Forschungsstand bietet mit gelegentlichen Parallelen zum vorliegenden Thema: G. Hard, Zur Mundartgeographie — Ergebnisse, Methoden, Perspektiven ( = Beiheft 17 zur Zeitschrift .Wirkendes Wort'). Düsseldorf 1966.

150

Reiner

Hildebrandt

die Bezeichnung Isoglosse einbürgerte 2 . Jede K a r t e ist somit aufgegliedert in größere oder kleinere Teilbereiche, ist überzogen von einem netzartigen Isoglossengewirr. I n d e m m a n jeweils die f ü r bestimmte lautliche Erscheinungen zusammenstimmenden K a r t e n aufeinanderprojizierte, erhielt m a n sog. K e r n landschaften, u m die sich die mehr oder weniger eng gebündelten Isoglossen (,Linienbündel') legten. Die Schwingungsbreite solcher Linienbündel w a r sodann charakteristisch f ü r die sog. Übergangslandschaften, die als Vermittlungszonen zwischen verschiedenen Kernlandschaften zu gelten hatten. D a m a n solche K e r n landschaften bis heute gern in ethnologisch-politische Verbindung brachte u n d terminologisch an die im Volksbewußtsein durch die Vermittlung der nachmittelalterlichen Kleinstaaten noch teilweise vorhandenen germanischen Stammesb z w . nachmittelalterlichen Territorialbezeichnungen a n k n ü p f t e , k a m m a n dazu, die deutschen Dialekte nach vorwissenschaftlicher Gepflogenheit weiterhin als bairisch, schwäbisch, thüringisch, schlesisch usw. zu bezeichnen. I m einzelnen m u ß t e die Sprachwissenschaft allerdings f ü r ihre Zwecke auch umdeuten u n d präzisieren 3 . So beinhaltet f ü r sie z. B. der Begriff ,fränkisch' viel mehr als das, was m a n heute gemeinhin als M u n d a r t des Frankenlandes bezeichnen w ü r d e . D a s heutige F r a n k e n ist f ü r den Dialektologen ostfränkisches Mundartgebiet, also n u r ein Teilbereich des Fränkischen, das sich f ü r ihn bis in die N i e d e r l a n d e u n d Belgien erstreckt. M a n h a t t e ein heuristisches P r i n z i p in A n w e n d u n g gebracht. Einer v o r gegebenen N o m e n k l a t u r w u r d e der wissenschaftliche B e f u n d angepaßt. F. W r e d e vereinfachte auf seiner Einteilungskarte 4 dieses P r i n z i p sogar so weit, d a ß er als Grenze f ü r die einzelnen Dialektlandschaften jeweils nur eine Isoglosse als charakteristisch auswählte. So sprechen wir bis heute z. B. von der makenl machen-Linie u n d meinen damit die Scheidung in den gesamtniederdeutschen u n d den mitteldeutschen Sprachbereich u n d v o n der Appell Apfel- Linie als Scheide zwischen dem mitteldeutschen u n d dem oberdeutschen Bereich. Diese Dreiteilung geht der weiteren Aufteilung in die einzelnen Mundartgebiete noch voraus, f ü r die W r e d e jeweils weitere Standardlinien auswählte. H i n t e r diesem P r i n z i p der Auswahl des jeweils Passenden steht zweifellos ein legitimes Klassifikationsbestreben, das vor allem der diachronen, also historischen I n t e r p r e t a t i o n der K a r t e n wertvolle Dienste leistet. So sind sie denn auch das beste A n schauungsmaterial f ü r die sog. Wellentheorie geworden. Die Isoglossen konnten als konzentrische Kreise einer von einem M i t t e l p u n k t (Kernlandschaft) ausgehenden dynamischen Sprachwandlung interpretiert werden. D e r sog. r h e i nische Fächer' 5 galt lange als ein Musterfall solcher im synchronen Schnitt er2

3 4 5

R. Freudenberg, Isoglosse: Prägung und Problematik eines sprachwissenschaftlichen Terminus. In: ZMF 33 (1966), 219-232. Zum folgenden W. Mitzka, a. a. O., 91 f. Deutscher Sprachatlas, Karte 56. Th. Frings, Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache. Halle 3 1957, 86 (Karte 2). — Ders., Sprache und Geschichte I und II. Halle 1956 ( = Mitteldeutsche Studien 16 und 17, hrsg. Th. Frings und K. Bischoff), I, 108 (Karte 2); II, 143 (Karte 35).

Der Deutsche

Wortatlas

als Forschungsmittel

der Sprachsoziologie

151

starrten Wellenbewegung. Wenn man in jüngster Zeit die Wellentheorie ergänzte oder auch einschränkte durch die sog. Entfaltungstheorie 6 , so geht es im Grunde nur um Korrekturen im einzelnen. Statt eines wellenerzeugenden Zentrums im Bezug auf eine bestimmte lautliche Veränderung werden jetzt unter Umständen deren mehrere angenommen, die sich entweder beim Gegeneinanderlaufen brechen oder sich in gleicher Richtung laufend vereinigen und verstärken. Beiden Anschauungen bleibt eins gemeinsam: Sie haben immer nur Einzelphänomene aus dem Sprachganzen im Auge, und das sind, von anderer Warte aus gesehen, die in Bewegung geratenen Teile der phonologischen Systeme der jeweiligen Dialekte. Verfolgt man das Problem konsequent zu Ende und faßt dabei die Vielfalt des Sprachganzen ins Auge, so sind die deutschen Dialektlandschaften — um im Bilde zu bleiben — wie eine bewegte Wasseroberfläche, bei der einzelne Wellenkreise gar nicht erkennbar sind, weil sie allseitig durcheinanderlaufen und jeder O r t im einen Fall Zentrum, im andern Peripherie sein kann. F. Wrede hat mit einem anderen methodischen Ansatz auch diesen Sachverhalt kartographisch anschaulich zu machen vermocht. Die von seinen Schülern in der Reihe „Deutsche Dialektgeographie" 7 veröffentlichten kleinlandschaftlichen Untersuchungen bringen jeweils als Quintessenz ihrer O r t - f ü r - O r t erhebungen eine sog. Wabenkarte, aus der der Grad der sprachlichen Unterschiede von O r t zu Ort, wie auch der Grad der Gemeinsamkeiten anschaulich hervorgeht. Diese Karten zeigen einerseits, daß kein einziger Ort mit seinem Nachbarort sprachlich ganz konform geht, andererseits, daß bemerkenswert große Unterschiede immer zugleich gekoppelt sind mit außersprachlichen Gegebenheiten. Man spricht dann von Dialektscheiden, die entweder auf geographische Hemmstellen (Flüsse, Gebirge, Wälder) zurückzuführen sind, oder aber auf einen Mangel an Kommunikation (Verkehr), der bedingt ist durch noch bestehende oder früher einmal vorhandene politische oder konfessionelle Grenzen. Das sprachliche Nachwirken solcher einstigen, längst aufgegebenen Grenzen wird in dem seinerzeit ausgebildeten und dann traditionsverhafteten Gruppenbewußtsein gesehen. II. Die Sprachkarte als Grundlage sprachsoziologischer

Forschung

Die große Belegdichte ist wichtigstes Kennzeichen der Laut- und Formenkarten des Deutschen Sprachatlasses wie auch des späteren Deutschen Wortatlasses. Sie schafft die Voraussetzung für die exakte Sprachraumgliederung durch Isoglossen. Erreichbar war sie aber nur durch die indirekte Aufnahme• O. Höfler, Stammbaumtheorie, Wellentheorie, Entfaltungstheorie, in: Beitr. zur Gesch. der dt. Sprache und Lit. 77/78, Tübingen 1955/56. — R. Sdiützeidiel exemplifiziert die Entfaltungstheorie am ,Rheinischen Fächer' in: Die Grundlagen des westlichen Mitteldeutschen. Tübingen 1961. 7

Deutsche Dialektgeographie. Bd. 1—70. Marburg 1908—1967, in der Folge hrsg. von F. Wrede, W. Mitzka, B. Martin und L. E. Schmitt.

152

Reiner

Hildebrandt

methode 8 . Die Volksschullehrer waren zur Zeit der Befragungen die besten und kundigsten Kenner der Sprachzustände des Ortes, für den sie repräsentativ sein sollten. Sie gaben sich größte Mühe das niederzuschreiben, was sie für richtig hielten. Diese ,Sprachrichtigkeit' ist allerdings damit als eine subjektiv gesetzte Norm gekennzeichnet, mit der der Linguist nicht unreflektiert operieren kann. Mindestens 60 Prozent der Gewährsleute mögen weitgehend sicher gewesen sein, wirklich ortsmundartliche Angaben gemacht zu haben — das ist schon allein aus der Stimmigkeit der Sprachkarten zu folgern —, die übrigen aber haben bewußt oder unbewußt auch außer- oder überörtliche, Umgangs- oder hochsprachliche Einzelheiten einfließen lassen. Und das meist nicht aus Unkenntnis des ortsüblichen Zustandes, sondern gerade in Widerspiegelung der realen Verhältnisse. Nur unter diesen Aspekten sind die Sprachkarten letztlich verständlich und interpretierbar. Denn es sind nicht die Isoglossen allein, die auf den Karten in Erscheinung treten. Sie sind nur Grenzen von Laut- und Wortflächen, die auf ausgezählten Mehrheitsverhältnissen beruhen. Immer ist aber auch eine Minderheit von andersartigen Formen vertreten. Das sind nur zu einem Bruchteil Schreibfehler und Irrtümer von Seiten der Gewährspersonen, im übrigen aber legitime Angaben von relevanten Sprachzuständen. Sie treten uns auf den Sprachkarten als Einzelzeichen oder kleinere Flächenkomplexe entgegen und stellen die Abweichungen innerhalb der sie umgebenden regelhaften Flächen dar. Wie sind diese Einzelzeichen, die Symbole von Lautungen sind, die in der jeder Karte beigegebenen Legende entschlüsselt werden, zu interpretieren? Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, deren jede aus Sachkenntnis heraus Zeichen für Zeichen entschieden werden muß: 1. Das Zeichen stellt nur eine zusätzliche ungewöhnliche Schreibvariante zu der im umliegenden Gebiet üblichen Lautung dar. Ganz sicher ist das aber oft aus einer mehrdeutigen Schreibung nicht zu folgern. Hier offenbart sich ein Nachteil der indirekten Methode. 2. Die Lautung stellt eine singuläre, nur für die eine Ortsmundart übliche Form dar. 3. Das Zeichen befindet sich an der Peripherie eines Gebietes. Im Nachbargebiet ist, die betreffende Lautung die Regel. Zwei Folgerungen sprachdynamischer Art sind dann möglich. Entweder stellt der Ort mit diesem speziellen sprachlichen Merkmal einen Vorposten dar, die Lautung des Nachbargebietes ist expansiv und hat bereits auf diesen Ort übergegriffen, oder die Lautung ist in diesem Ort ein Relikt, die Nachbarorte haben schon die neuere Lautung, die ,Rückzugsfront', die betreffende Isoglosse also, ist schon von diesem Ort weiter abgerückt. 4. Die Lautung, die das Zeichen symbolisiert, ist nicht mundartlich, sondern vertritt eine umgangssprachliche oder hochsprachliche Sprecherschicht. 8

Dazu R. Hildebrandt, Deutscher Wortatlas: Probleme der Kartentechnik und Interpretation. In: 2 M F 34 (1967), 4 4 - 5 4 .

Der Deutsche Wortatlas als Forschungsmittel

der

Sprachsoziologie

153

Mit dieser im Punkt 4 gemachten Feststellung wird die sprachliche Flächendimension der Karten verlassen. Indem auf eine bereits schon fiktive einheitliche Grundschicht der Mundarten eine weitere umgangssprachliche Schicht (die in sich auch wieder keine einheitliche Größe darstellt) und schließlich noch eine dritte — hochsprachliche — gesetzt wird, verlieren die K a r t e n für den Betrachter ihren Flächencharakter, er sieht sie dreidimensional. So sind sie letztlich Zeugnisse von Zuständen, die der sprachsoziologischen

Interpretation

bedürfen.

Nirgends wird besseres Anschauungsmaterial geboten für die theoretisch viel diskutierte Drei-Schichtentheorie: Hochsprache — Umgangssprache — Mundart. N u r muß von vornherein klargestellt werden: Die Sprachkarten stellen in ihrer Topographie nur eine sprachliche Grobstruktur dar. Jeder beteiligte Volksschullehrer verkörpert als Gewährsperson die Einwohner eines ganzen Ortes als einheitliche sprachsoziologische Gruppe. D e r Lehrer hat nach bestem Wissen möglichst viel der mundartlichen Grundschicht, die evtl. nur noch bei den älteren Einwohnern zu hören war, mitgeteilt. Mundartliches, wenn auch nur noch resthaft vorhanden, hatte also den Vorzug. N u r so ist das Prinzip sprachgeographischer Karten

überhaupt

durchführbar

gewesen. Jegliche

sprachsoziologische

InfraSchichtung — also eine solche innerhalb des Einzelortes selbst —, wie sie z. B . von E . Hoffmann untersucht worden ist®, bleibt außer acht. W i r haben es also hier wie bei jeglichen Sprachatlanten mit einem in zweifacher Hinsicht aufs Beispielhafte reduzierten Ausleseverfahren zu tun: 1. Die Auskünfte einer Gewährsperson stehen stellvertretend für das ganze D o r f und meist auch die ganze Stadt (in vielen Fällen haben sich jedoch mehrere Schulen einer Stadt an der Befragung beteiligt). 2. Die Sprachkarten geben Auskunft über ein isoliertes sprachliches Einzelfaktum, nie über einen komplexen Sprachzustand. Die Möglichkeiten sprachsoziologischer Interpretation sind also beim Deutschen Sprachatlas wie auch — wie unten darzulegen ist — beim Deutschen Wortatlas vorrangig unter dem Aspekt einer Polarität Stadt-Land, die uns immer nur am Einzelbeispiel f a ß b a r ist, zu sehen. Denn die Sprachkarten sind analytische Produkte; sie bringen das sprachliche Einzelelement zur Anschauung. Erst eine Synthese aus mehreren Karten in synoptischer Form, also ein Übereinanderprojizieren von Karten oder Kartenausschnitten führt zu gültigen Aussagen über sprachdynamische und sprachsoziologische Zustände. In dieser Hinsicht stehen wir aber bei der Auswertung der Karten des Deutschen Sprachatlasses erst am Anfang, da sich die bisherige Forschung immer nur mit diachronen Fragestellungen beschäftigte. Dabei waren die schon berührten Regelfälle — das Kartenbild im großen — maßgebend. Für die synchrone soziologische Ausdeutung der K a r t e n sind aber gerade die Ausnahmefälle von Bedeutung. Dabei ist nicht nur an die in den Kartenlegenden erläuterten Einzelzeichen gedacht, 9

Else Hofmann, Sprachsoziologische Untersuchung über den Einfluß der Stadtsprache auf mundartsprechende Arbeiter. In: Marburger Universitätsbund. Jahrbuch 1963,

201-281.

154

Reiner

Hildebrandt

sondern auch an die meist um Großstädte gelagerten kleinen und größeren Flächen, die vergleichbar sind mit Flicken auf einem Kleid. Sie verdecken eine dünn gewordene Stelle oder ein Loch im ursprünglichen Gewebe. Der Gegensatz Mundart — Umgangssprache ist in dem Gegensatz Land — Stadt offensichtlich. Das ist aber soziologisch gesehen der Gegensatz zwischen bäuerlichem und bürgerlichem Lebensbereich. Weitere sprachlich relevante soziologische Schichtungen, wie sie gerade das 19. und 20. Jahrhundert hervorgebracht haben, sind mit der geographischen Methode schwerlich faßbar. Ihrer Strukturen muß der Linguist auf statistischem Wege habhaft werden. Als erster hat F. Debus in zwei Aufsätzen Karten des Deutschen Sprachatlasses exemplarisch auf den sprachlichen Gegensatz Stadt — Land hin untersucht10. Sein neuer methodischer Ansatz und dessen theoretische Begründung in Auseinandersetzung mit dem bisherigen Schrifttum kann hier als wegweisend vorausgesetzt werden. Als typisch für derartige Untersuchungen erweist sich das kleinräumige Vorgehen. Nur ein kleiner Kartenausschnitt — eine Großstadt mit ihrer Umgebung — wird ausgewählt. Schon allein um des größeren Maßstabs willen, aber auch zur genaueren Fixierung der Einzelbelege mußte Debus seine Anschauungskarten neu aus dem Material erarbeiten. Darüber hinaus hat er sie auch mit regionalen Einzeluntersuchungen in einen fruchtbaren Vergleich gebracht. Daraus mag deutlich werden, daß die deutsche Sprachwissenschaft nicht sobald an dem archivierten Material des Sprachatlasses vorbeigehen kann. Es zeigt sich daran, daß eine neue Methode gerade dann besonders ertragreich sein kann, wenn ihr Begründer über das Ausmaß ihrer Anwendbarkeit selbst keine erschöpfende Vorstellung hat. Georg Wenker widmete sein ganzes Leben dem Sprachatlas, ohne doch die Tragweite seines Unternehmens annähernd erkannt zu haben. Die Probleme des Deutschen Sprachatlasses als Laut- und Formenatlas sind in vielfacher Hinsicht die gleichen wie die des von Walther Mitzka begründeten und jetzt mit Ludwig Erich Schmitt gemeinsam herausgegebenen Deutschen Wortatlasses 11 . Die Erhebungen zum Deutschen Wortatlas liegen etwa ein halbes Jahrhundert später als die des Sprachatlasses. Diese, für vergleichende diachrone Sprachuntersuchungen doch recht kurze Zeitspanne kann dennoch vielfach zu beobachtende sprachdynamische Entwicklungen deutlich werden lassen. Da die Wortkarten zwar als Synonymenkarten gedacht sind, aber die lautliche Seite des Wortgutes doch weitgehend mit berücksichtigen, ergeben sich zahlreiche Vergleichsmöglichkeiten, die bisher noch wenig genutzt wurden. Ganz deutlich läßt sich z. B. das Vordringen der hochdeutschen Lautverschiebungs10

F. Debus, Zwischen M u n d a r t und Hochsprache. Ein Beitrag zur Stadtspradie — S t a d t m u n d a r t und Umgangssprache. I n : Z M F 2 9 ( 1 9 6 2 ) , 1—43. — Ders., Stadtsprachliche Ausstrahlung und Sprachbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts, dargestellt am mittleren Rhein- und unteren Maingebiet nach K a r t e n des Deutschen Sprachatlas. I n : Marburger Universitätsbund. Jahrbuch 1 9 6 3 , 17—68.

11

Deutscher W o r t a t l a s . Bisher Bd. 1—4 v o n W . Mitzka, Bd. 5—16 v o n W . M i t z k a und L. R. Schmitt. Gießen 1 9 5 1 - 1 9 6 7 .

Der Deutsche

Wortatlas

als Forschungsmittel

der Sprachsoziologie

155

und der neuhochdeutschen Diphthongierungsformen im weiten Umkreis um Berlin aufzeigen oder auch die Expansion der ra-Apokope im Mittelrheingebiet. Diese Beispiele ließen sich zahlreich vermehren und kartographisch demonstrieren. Ein anderer Vergleich der beiden so gut aufeinander abgestimmten Kartenwerke kann aber auch das hier zu behandelnde sprachsoziologische Thema unmittelbar beleuchten: Für den Band 16 des Deutschen Wortatlasses wurden ausnahmsweise drei Wortkarten aus dem Sprachatlasmaterial von Wenker verarbeitet. Die am Wortatlasmaterial geschulten Bearbeiter dieser Karten konnten immer wieder feststellen, daß sich die kartographische Raumgliederung, die Herausarbeitung der Isoglossenverläufe, beim Sprachatlasmaterial wesentlich leichter gestaltete. Die sprachlichen Gegensätze lagen räumlich viel klarer zutage. Das besagt, daß die mundartliche Grundschicht der deutschen Sprachlandschaft am Ende des vorigen Jahrhunderts noch wesentlich intakter war als 50 Jahre später zur Zeit der Wortatlasbefragungen. Die Karten des Deutschen Wortatlasses enthalten somit bereits einen wesentlich stärkeren sprachsoziologischen Niederschlag. Er ist z. T. so stark, daß das kartographische Bild in oft erheblichem Maße verwirrt wird. Diese Karten dürften damit — abgesehen von der inzwischen bereits historisch gewordenen Einbeziehung des deutschen Ostens — letztmögliche Ausgestaltungen einer in dieser Form nicht mehr wiederholbaren methodischen Konzeption sein. Die mundartlichen Flächen werden immer mehr abgelöst von den sprachsoziologischen Schichten. III. Differenzierter

soziologischer Gruppenwert

der

Begriffe

Nun ist aber die sprachsoziologische Problematik bei den Wortkarten noch wesentlich komplexer als bei den Laut-und Formenkarten. Die Polarität Stadt — Land ist hier nur mittelbar relevant. Nicht nur die phonetisch-phonologische Struktur der Sprachlandschaften und ihre Bedrohung durch den sprachlichen Gruppenmehrwert der Großstädte ist hier maßgebend, sondern in erster Linie das Wort als Bedeutungsträger und Kommunikationsmittel in den verschiedenen sprachsoziologischen Schichten. In welchen soziologischen Gruppen gehört ein konkretes Einzelwort zum mehr aktiven oder mehr passiven Wortschatz? — Hinter dieser Fragestellung verbirgt sich ein wesentliches Interpretationsmoment der Wortkarten. Aus der jeweiligen Feststellung, ob die Sache, die durch das Wort ausgedrückt wird, im bürgerlichen, bäuerlichen, kindlichen oder berufsfachlichen Bereich mehr oder weniger relevant ist, ergibt sich zwangsläufig die Groß- und Kleinräumigkeit der Wortverbreitungsgebiete auf den Karten. Ehe im folgenden eine Reihe von Wortkarten unter diesem Aspekt betrachtet werden soll, ist noch einmal ein Blick auf den Sprachatlas angebracht, bei dem in Einzelfällen diese Gesichtspunkte auch bereits auftauchten. Der Sprachatlas birgt drei Beispiele, die in ihrer interessanten Verknüpfung von lautlich-struktureller Systemhaftigkeit und wortbedeutungstragender Funktion die anzugehende Problematik exemplarisch beleuchten. Es handelt sich um drei der in der deutschen Sprache nicht sehr zahlreichen Wörter mit der Laut-

156

Reiner

Hildebrandt

Verbindung germ. -hs-: sechs, Ochsen, wachsen. Wie die historische Dialektforschung festgestellt hat 12 , ist germ. -hs- zunächst im niederdeutschen Sprachbereich vom 9. Jahrhundert an zu -ss- assimiliert worden (sess, ossen, wassen) und tritt in dieser Form dann auch im ganzen hochdeutschen Sprachgebiet auf, im deutschen Südwesten bis ins Alemannische deutlich faßbar, aber auch im Bairischen von E. Kranzmayer 1 3 nachgewiesen. Vom Bairischen ausgehend, setzt dann aber eine gegenläufige Bewegung ein, die die Aussprache -ks- nach Nordwesten voranbringt und -ss- im hochdeutschen Sprachbereich wieder zurückdrängt. Aber solche, im Rückblick als lautgesetzliche Wandlungen erscheinende Entwicklungen offenbaren sich — wie an unsern Beispielen deutlich wird — zunächst nur als wortimmanente Einzelschritte. Die Lautverbindung -ss- oder -feiwird nicht in einem systemhaften Ganzen vorangetragen, sondern jeweils nur im konkreten Einzelwort. Da es sich hier aber nur um relativ wenige Einzelwörter handelt, bildet sich ein sonst systemförderndes Übergewicht erst gar nicht aus. Die Wörter geraten lautlich in eine Isolation und können aus dem schwachen Systemzusammenhalt herausfallen. So kann es geschehen — wie die Karten des Sprachatlasses demonstrieren —, daß man im Schwarzwald teilweise seks, oksen aber wassen sagt, auf dem Hunsrück seks, aber Ossen und wassen. Man hat diesen Tatbestand schon immer ansatzweise sprachsoziologisch zu interpretieren versucht; man sprach vom Bauern wort wachsen, Marktwort Ochsen und vom Handels- und Verkehrswort sechs. In sprachlichen Reliktgebieten wie hier z. B. dem Schwarzwald und Hunsrück sollen sich ,Reliktwörter' — in unserm Falle sogar nur dementsprechend ,Reliktlautungen' — besonders lange halten. Wieder ist hier nur diachron gedacht. Man muß aber in gleichem Maße auch synchron, das heißt in diesem Zusammenhang aber sprachsoziologisch interpretieren: die Lautung wassen im Schwarzwald, die die diachrone Forschung als relikthaft erweist, ist heute als Eigenwort noch üblich, weil der damit bezeichnete Naturvorgang im bäuerlichen Bereich eine wichtige Rolle spielt, wassen also demnach kontinuierlich zum aktiven Wortschatz des Bauern gehört. Das von einer höheren Sprachschicht angebotene waksen wird abgelehnt. Anders bei Ochsen-, auch das ist eine bäuerlichen Bereichen angehörende Bezeichnung, aber es war vor allem in den früheren Jahrhunderten auch ein wichtiges Markt- und Verkehrswort, griff also auch stark in eine überregionale Verkehrssprache über — der allgemeine Gebrauch als Schimpfwort beweist es! Zudem läßt sich beobachten, daß das Wort in der engsten bäuerlichen Sphäre schon als zu abstrakt empfunden wird. Die Tiere bekommen individuellere Namen, die z. T. dann wieder allgemeinere Geltung erlangten. So gilt in Hessen verbreitet Hans als Bezeichnung für den Ochsen 14 . Der umgangssprachliche Gebrauchswert des Wortes hat also hier die 12

K . W a g n e r , Deutsche Sprachlandschaften ( = Deutsche Dialektgeographie 2 3 ) . M a r burg 1 9 2 7 , 3 9 . — Ders. im einzelnen: Die Geschichte eines L a u t w a n d e l s — kss. I n : Teuthonista 2 ( 1 9 2 6 ) , 3 0 - 4 6 ; 9 ( 1 9 3 3 ) , 3 3 - 4 7 .

13

E . K r a n z m a y e r , Historische Wien 1 9 5 6 , § 3 3 e . l .

14

A . F . C . Vilmar, Idiotikon von Kurhessen. M a r b u r g und Leipzig 1 8 6 8 ,

Lautgeographie

des

gesamtbairisdien

Dialektraumes. 148.

Der Deutsche Wortatlas

als Forschungsmittel

der Sprachsoziologie

157

hochsprachliche Lautung stärker durchgesetzt als bei wachsen, weil es nicht unbedingt zum aktiven Wortschatz des Bauern gehört. Nur im Reliktgebiet des Hunsrück gilt noch Ossen, nicht fern von der jenseits der Mosel verlaufenden Isoglosse Ossen/Oksen. Beim Zahlwort sechs endlich ist der Mehrwert in der Hoch- und Umgangssprache deutlich genug, um die bis ins Niederdeutsche zurückgewichene -55-Lautung zu erklären. Diese Beispiele aus dem Deutschen Sprachatlas könnten vielfach aus anderem Material ergänzt werden. So bringt der Deutsche Wortatlas im Band 8 ein weiteres -c^s-Wort: Deichsel. Es verwundert nicht, daß dieses reine Bauernwort in weiten Teilen des Schwäbischen, weiter noch als wassert, die s-Lautung aufweist, ferner auf hochdeutschem Gebiet neben der allgemeinen Verbreitung im Rheinfränkischen sogar auch im Nordbairischen. Dazu sei E. Kranzmayer zitiert: „ . . . im Bauernwort Deichsel und in den schriftsprachefernen Wörtern Leuchse und Dachsen sind . . . Reste mit -ss- ... innerhalb des Bairischen weit verbreitet" 15 . Das Rheinische Wörterbuch bringt im Falle von Fuks/Fus einen interessanten Befund, der zeigt, daß auch bei eigentlicher und übertragener Bedeutung die ältere und die jüngere Lautung desselben Wortes nebeneinander bestehen können, weil die sprachsoziologische Relevanz unterschiedlich ist: Im Moselfränkischen ist die ältere Form Fus gegenüber der aus dem Nhd. eindringenden Form Fuks zurückgewichen, doch für die übertragene Bedeutung .rothaariger Mensch' hält sich Fus16. Aus diesen Beispielen, die sich auch im Bezug auf andere Lautkriterien mannigfach vermehren ließen, wird deutlich, daß wir es bis ins hohe Mittelalter mit einer mehr oder weniger soziologisch einschichtigen Sprachstruktur zu tun hatten. Deshalb konnten so viele Lautwandlungen Systemcharakter erlangen, ,lautgesetzlich' werden. Spätestens seit dem ausgehenden Mittelalter, also im Zusammenhang mit der bürgerlich-städtischen Kulturentfaltung und der Herausbildung einer normativen, die Kleinterritorien übergreifenden Hochsprache, geraten alle außerhalb (unterhalb) der Hochsprache oder der von der Hochsprache bestimmten Umgangssprache vorhandenen Wörter oder Wortlautungen in Existenzbedrohung. Maßgebend für ihr Fortleben ist jetzt die Zugehörigkeit zum Eigenwortschatz einer sozialen Schicht mit Gruppen- bzw. Sprachsonderbewußtsein. Es gibt auch heute noch in gewissem Maße einen Austausch von Wörtern der einen Mundart in die andere, also eine Verschiebung auf gleicher unterer soziologischer Sprachebene — dabei sind die sog. Puffergebiete ein weiter unten zu behandelndes Sonderproblem —, entscheidend sind aber heute die aus der bei allen Mundartsprechern vorauszusetzenden Zweisprachigkeit erwachsenden Übergänge auf Grund des sprachsoziologischen Mehrwertes. Mundartlicher Wortschatz wird dann erhalten bleiben, wenn die Sache, die das konkrete Einzelwort bezeichnet, nur auf dem Lande vorkommt oder aber im ländlichen Bereich eine wichtigere Rolle spielt als im städtischen. 15

E. Kranzmayer,

18

Rheinisches Wörterbuch, Bd. 2, 8 5 6 .

a.a.O.,

§33e.4.

158

Reiner

Hildebrandt

Formelhaft: Ein mundartliches Wort bleibt erhalten, wenn es einen sprachlichen Mehrwert gegenüber dem Wort der Hochsprache besitzt. Dieser Mehrwert ist gegeben: 1. wenn das Mundartwort zum aktiven Wortschatz der mundartlichen Sprechergruppe gehört, das entsprechende hochsprachige Wort aber zu einem weniger aktiven bis passiven Wortschatz der betreffenden Sprachschicht; 2. wenn das Mundartwort zum mehr passiven Wortschatz der mundartlichen Sprechergruppe gehört, das hochsprachliche Wort aber noch stärker passivem Gebrauch unterliegt; 3. wenn das Mundartwort passiven Charakter hat, ein entsprechendes Wort aber in der Hochsprache auch rein passivem Wortschatz angehört oder gar nicht existiert. Die unterschiedlichen Lebens- und Sachgruppenbereiche der verschiedenen sozialen Schichten haben also auch ihre sprachlichen Korrelate. A. Bach formulierte diesen Sachverhalt umfassend, aber noch ohne die Bedeutung des soziologisch abgestuften Gebrauchswertes der Wörter zu berücksichtigen: „Bezeichnend für die Wortgeographie ist der starke Unterschied zwischen großräumiger und kleinräumiger Verbreitung einzelner Ausdrücke. E r ist in ihrer Bedeutung begründet. W o r t a r m u t und damit Großräumigkeit gilt dort, wo lebenswichtige, alltägliche, vielgebrauchte, oft beachtete Dinge und Vorstellungen gemeint sind. N a m e n für das Allgemeine, Umfassende sind weiter verbreitet als die für das Einzelne, die der Gattungsbegriffe weiter als die der Artbegriffe. Wortreichtum und damit Kleinräumigkeit kennzeichnen die N a m e n von Dingen, mit denen sidi die Volksphantasie stark beschäftigt, zu denen der Mensch ein gefühlsbetontes Verhältnis hat, die aber für die Allgemeinheit und den allgemeinen Verkehr von untergeordneter Bedeutung bleiben" 1 7 .

E. Schräder hat erstmalig konsequent Karten des Deutschen Wortatlasses unter sprachsoziologischen Aspekten zu deuten versucht18. Sie nimmt, wie schon F. Debus beim Sprachatlas, einen kleinen Kartenausschnitt, eine mundartliche Kleinlandschaft — das Ries — heraus und kann den bemerkenswerten Eigenwortschatz dieses Gebietes in umsichtiger synchron-diachroner Durchdringung analysieren. Ihre sprachsoziologischen Überlegungen treffen sich weitgehend mit dem hier dargebotenen Ansatz. Nur sieht die Verfasserin die Verankerung des Eigenwortschatzes der Landschaft zu eng an die kleinste soziale Gruppe der Familie gebunden. Es handelt sich bei den erörterten Beispielen Backtrog, Schwengel, Ferkel, Mohrrübe, Erdbeere, Margerite, Elster und Kaulquappe doch nicht um familiären Intimwortschatz, sondern um Wörter des ländlichen Lebensbereichs.

IV. Dominierend

aktiver Wortschatz der bäuerlichen

Sphäre

Mitzkas Auswahl der Stichwörter zum Deutschen Wortatlas ist eine glückliche Mischung aus verschiedenen Sachbereichen und unterschiedlicher sprachsoziologischer Relevanz. Die Interpretation jeder einzelnen Wortkarte sollte 17

A . B a c h , Deutsche Mundartforschung. Heidelberg 1950, 1 7 0 (§ 132).

18

E d d a Schräder, Sprachsoziologische Aspekte der deutschen Wortgeographie. In: Z M F 34 ( 1 9 6 7 ) , 1 2 4 - 1 3 6 .

Der Deutsche

Wortatlas

als Forschungsmittel

der Sprachsoziologie

159

bei der synchronen Auswertung tunlichst von den dargelegten sprachsoziologischen Erörterungen ausgehen. Im folgenden sei das an einigen Beispielen ansatzweise versucht: Im Band 14 sind Bezeichnungen aus der Landwirtschaft enthalten. Damit haben wir in diesem Band pauschal mit aktivem Wortschatz der bäuerlichen Sprachschicht, aber passivem der städtisch-hochsprachlichen zu rechnen; daher sind differenzierte Kartenbilder zu erwarten. N a c h h a r k e (Band 14,8) ist ein Wort der rein bäuerlichen Sphäre. Das von Mitzka angesetzte hochsprachliche Stichwort, bei dem der charakterisierende Zusatz ,großer Rechen, um das Getreide zusammenzuholen' gemacht wurde, zeigt schon die Schwierigkeit, das Gemeinte überhaupt richtig auszudrücken. Harke ist ein genuin niederdeutsches Wort und wäre auf hochdeutschem Gebiet ohne den Zusatz Rechen weitgehend unverständlich geblieben. Es existiert also kein hochsprachliches Wort f ü r das spezielle landwirtschaftliche Gerät. Die Frage war aber auch gerade mit dem Zusatz noch unklar, wenn nicht widersprüchlich formuliert, ließ aber damit der Beantwortung ungewollt den nötigen Raum, denn vielerorts wird — wie die Karte deutlich macht — nur die Nachlese mit einem speziellen Rechen vorgenommen, die Haupternte aber nicht eigens mit einem solchen zusammengebracht. Die Arbeitsweise mag in den einzelnen Landschaften verschieden sein, ein spezielles Gerät ist aber offensichtlich in vielen Gegenden d a f ü r bekannt. N u r wo die Karte in westmitteldeutschen und oberdeutschen Bereichen das Simplex Rechen zeigt, dürfen wir wohl den Gebrauch eines eigenen Gerätes verneinen. Dadurch wird die Karte gerade im südwestlichen Deutschland etwas aufgelockert, sonst aber zeigt sie eine bunte Fülle von Bezeichnungen mit meist festumrissener und daher mundarteigener Verbreitung. Neben einer Reihe von Simplicia wie Toage, Köter, Rommel, Hans und Streifer steht eine Fülle von Komposita, die entweder den Erntevorgang näher charakterisieren wie Schlepprechen, -harke, Zugrechen, Streif rechen, Ernterechen, Stoppelrechen, Ährenrechen, Getreiderechen, Halmrechen, oder aber offensichtlich die besondere Bedeutung dieses Erntevorgangs in Notzeiten hervorhebt, daher im Niederdeutschen die verbreiteten Bezeichnungen Hungerharke und Schmachtharke, die sich ins Nordhessische als Hungerrechen und Schmachtrechen fortsetzen. Auf der Karte n a c h h a r k e n (Band 14,9) sind die verbalen Ausdrücke für den gleichen Arbeitsvorgang dargestellt. Einerseits gibt es die von den Substantiven abgeleiteten einfachen Verben wie toagen, kötern, rommein, hansen, streifen, schleppen, hungern, schmachten, andererseits aber zu den nominalen Komposita die entsprechenden verbalen wie nachharken, -rechen, hungerharken, schmachtharken, stoppelrechen. Die Tatsache, daß zur Bezeichnung des Arbeitsvorgangs und des dazu notwendigen Gerätes so viele Komposita gebräuchlich sind, deutet darauf hin, daß diese Art der Getreidenachlese nicht sehr weit in die Vergangenheit zurückweicht. Eine Nachlese größeren Ausmaßes wird erst im bäuerlichen Großbetrieb notwendig. Die Nachharke ist in den meisten Fällen

160

Reiner

Hildebrandt

ein von einem Zugtier gezogenes Gerät. Der Pohle im Bodenseegebiet hat seinen Namen vom Fabrikanten und erweist sich damit als ein neuzeitliches Instrument. Ebenfalls neuzeitliche Bezeichnungsverhältnisse liegen uns in den Termini des Kartoffelanbaus vor. Kartoffeln als Nahrungsmittel werden erst seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland heimisch. Im Band 14 finden sich die Wortkarten f ü r K a r t o f f e l n e r n t e n und K a r t o f f e l n h ä u f e l n . Wieder sind die Kartenbilder über ganz Deutschland hin von reicher Synonymenvielfalt. Das hochdeutsche ernten spielt dabei in den Mundarten kaum eine Rolle, vielmehr gibt es wieder eine ganze Reihe einfacher Verben wie buddeln, klauben, racken, hacken, graben, lesen, austen, fexnen neben präpositional zusammengesetzten Funktionsverben, was wiederum auf sehr junge Wortbildung schließen läßt: ausmachen, austun, ausnehmen, aufnehmen, auskriegen, ausholen, rauslangen. Die Karte K a r t o f f e l n h ä u f e l n ist schier undurchdringlich in der Fülle der Bezeichnungen 19 . Einerseits liegt das an den beiden Möglichkeiten, entweder mit der Handhacke zu häufeln, oder die Arbeit mit dem von einem Zugtier gezogenen Häufelpflug vorzunehmen, andererseits aber werden die vielen gebräuchlichen einfachen Verben mit Vorliebe noch präfigiert, um das Aufwölben der Erde noch besser zu charakterisieren. So gibt es neben einfachem ackern auch anackern, auf ackern, hinackern, neben häufeln auch anhäufeln, behäufeln, aufhäufeln und das so fort bei den zahlreichen weiteren Synonymen wie bauen, becken, dämmen, furchen, hacken, hüpen, rainen, scherren und streichen.

V. Unterschiedliches

sprachsoziologisches einzelner Begriffe

Relevanzgefälle

Wie verhält es sich nun aber mit den Bezeichnungen f ü r die K a r t o f f e l selbst? Darüber gibt die Karte im Band 11 Auskunft. Sie ist f ü r die sprachsoziologische Interpretation ein besonders interessantes Beispiel, weil im Wortgebrauch ein Relevanzgefälle zwischen den einzelnen sozialen Schichten kaum vorhanden ist. ,Kartoffel' gehört zum besonders aktiven Wortschatz der bäuerlichen Sprachschicht, ist aber auch auf der städtisch-umgangssprachlichen Ebene ein häufig gebrauchtes Wort. Die Karte ist dafür ein sprechendes Zeugnis. Hochsprachlich Kartoffel zeigt zwar ausgedehnte Verbreitungszonen, ebenso auffällig sind aber auch die großen Gebiete, die den bäuerlichen Eigenwortschatz vertreten. D a sich aber die Synonymik erst vor zwei bis drei Jahrhunderten ausgebildet hat, zeigt sie sich im ganzen großflächiger und ist nicht, wie in vielen anderen Fällen, ein getreues Abbild der kleinstaatlichen Territorien der vorhergehenden Jahrhunderte. Neben Kartoffel haben die Synonyme Erdapfel, Grund19

D a z u im einzelnen: E. Seidelmann, Studien zur Wortkarte .(Kartoffeln) häufeln'. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, hrsg. L. E. Schmitt, Bd. 5 (1968).

Der Deutsche Wortatlas als Forschungsmittel der

Sprachsoziologie

161

birne und Erdbirne — z. T. typisch mundartlich deformiert — weite Verbreitung, aber auch Knolle, Nudel und Tüjfel haben ihre fest umrissenen Gebiete 20 . Nun ist solch großlandschaftliche Synonymik allerdings auch auf Karten mit älterem Bezeichnungsgefüge anzutreffen. Man ist dann geneigt, nicht mehr vom reinen Mundartwort, sondern von einem Wort der regionalen Umgangssprache zu sprechen. P. Kretschmer nannte seine Sammlung derartiger Wörter bekanntlich ,Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache' 21 . Das Ringen um eine gültige Definition des Terminus .Umgangssprache' dauert bis heute an 22 , wird aber kaum zu einem Ziel kommen, da es immer nur Ausformungen verschiedener Umgangssprachen als regionale Synthesen der beiden Antithesen ,Mundart' und Hochsprache' geben kann. Die Umgangssprache orientiert sich einerseits an der Hochsprache, schöpft aber andererseits immer zugleich auch aus den Mundarten. Diese letzte Aussage läßt sich mit dem hier gewonnenen sprachsoziologischen Ansatz näher in den Griff bekommen: Hat ein aktives Wort der bäuerlichen Sprachschicht zugleich Relevanz auf der städtisch-bürgerlichen Ebene, so kann es auch in deren Wortschatz eingehen und umgangssprachlich werden. Im Wechsel dazu wirkt es dann wiederum von dieser Sprachschicht her vereinheitlichend auf die Mundarten. So entstehen dann Wortflächen, die in ihrer Ausdehnung größer sind als die rein mundartlichen Wortverbreitungen. Die größeren Wortflächen auf der Karte .Kartoffel' könnten daher auch unter diesem Aspekt gesehen werden. Er ist auf vielen anderen Karten ausschlaggebend. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Die Karte i r d e n e r T o p f im Band 8 zeigt hochsprachlich Topf nur im Ostmitteldeutschen; die übrigen Sprachlandschaften zeigen in eindrucksvoll klarer Gliederung die Hauptsynonyme Pott, Düppen und Hafen!Hefen23. Die Sache, die das Wort vertritt, gehört zum täglichen Bedarf des bäuerlichen wie des bürgerlichen Haushalts. Aktiver Wortgebrauch deshalb in beiden sprachsoziologischen Schichten, Eingehen des ursprünglichen Mundartwortes daher auch in die regionalen Umgangssprachen, kein merkliches Eindringen des hochsprachlichen Wortes in die Mundartlandschaften. Zum passiven Wortschatz der städtisch-bürgerlichen Schicht gehören dagegen — ähnlich den Bezeichnungen des Kartoffelanbaus — auch die beiden folgenden Beispiele, allerdings mögen sie auf der ländlich-bäuerlichen Ebene auch nur 20

Dazu im einzelnen: B. Martin, Die Namengebung einiger aus Amerika eingeführter Kulturpflanzen in den deutschen Mundarten. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, hrsg. L . E . S c h m i t t , Bd. 2 (1963), 2—112.

21

P. Kretschmer, Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache. Göttingen 1918.

25

Dazu jüngst: G. Cordes, Zur Terminologie des Begriffs .Umgangssprache'. In: Festgabe für Ulrich Pretzel, Berlin 1963, 3 3 8 - 3 5 8 .

23

Dazu im einzelnen: R. Hildebrandt, Ton und Topf. Zur Wortgeographie der Töpferware im Deutschen. In: Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, hrsg. L . E . S c h m i t t , Bd. 3 (1963), 2 9 7 - 4 4 1 .

11

M i t z k a , Wortgeographie

162

Reiner

Hildebrandt

einem weniger aktiven Wortschatz zuzurechnen sein. Das Relevanzgefälle genügt aber dennoch, um die Synonymenvielfalt zu erklären: Das W e r k z e u g z u m D u r c h s t e c h e n d e s L e d e r s (Band 12) ist zwar in erster Linie ein Spezialwerkzeug des Schusters und Sattlers, wird aber sicher auch im bäuerlichen Betrieb für verschiedene Zwecke Anwendung finden. Die Hochsprache schwankt in der Bezeichnung zwischen Pfriem, Pfriemen und Ahle und zeigt damit ihr Desinteresse an dem Gegenstand. Die Wortkarte ist überzogen von einem Netz verschiedener, meist als sehr alt erwiesener Bezeichnungen. Pfriem, Ahle, Seule und Ort nehmen in mannigfachen Umformungen in bunter Mischung das ganze Kartenbild ein 24 . Wenn einige größere Wortflächen auf einen mehr umgangssprachlichen Charakter hinweisen, so dürfte es sich um einen Niederschlag handwerklicher Fachsprache handeln, da der Schuhmacherberuf immer recht populär war. In ganz andere Richtung weist die Karte E i c h e l h ä h e r (Band 15). Im Gegensatz zu fast allen anderen Vogelbezeichnungen des betreffenden Bandes haben wir hier eine Karte von typisch mundartlicher Dichte. Dieser Vogel ist als Waldbewohner der städtisch-bürgerlichen Schicht völlig unbekannt, das Wort gehört also dort zum weitgehend passiven Wortschatz. Dadurch konnten sich die mundartlichen Bezeichnungen bis heute in bunter Fülle entfalten. Bemerkenswert ist dabei die durch die Jahrhunderte sich vollziehende Deformation eines ursprünglich literarischen, der mittelalterlichen Spruch- und Ependichtung angehörenden Wortes Markolf. Eine höhere soziale Schicht des Mittelalters — das Rittertum — verfiel und ging in unteren Schichten auf. Am Wort Markolf offenbart sich somit eindrucksvoll das Phänomen des gesunkenen Kulturgutes'. Markolf, die literarische Gestalt des Spötters, geht nach einem gesellschaftlichen Strukturwandel als Bezeichnung des Eichelhähers in die Mundarten ein. Von den niederfränkischen bis in die rheinfränkischen Mundarten finden wir bis heute teilweise völlig entstellte Nachkommen dieses Wortes 25 . Der Eichelhäher verschafft sich durch seine aufreizende Stimme von selbst in der ländlichen Bevölkerung Beachtung und beschäftigt ihre Phantasie. Dadurch ist die Zugehörigkeit zum aktiven Wortschatz dieser Schicht gewährleistet. Ähnlich ist es bei der Karte E l s t e r im Band 15. Auch dieser Vogel findet Beachtung bei den Landbewohnern, als ,diebische Elster' ist das Tier aber auch hochsprachlichen Sprechergruppen geläufig, also eine gewisse Aktivität des Wortgebrauchs auch in höheren sozialen Schichten. Die Wortkarte läßt das sofort erkennen: in allen Landschaften sind mehr oder weniger große Überlagerungsgebiete mit der hochsprachlichen Bezeichnung und Lautung Elster festzustellen. Wieder anders bei den beiden Vögeln L e r c h e und S c h w a l b e im gleichen Wortatlasband. Beide Vögel mögen im ländlichen Bereich zwar auch eine ge24

D a z u im einzelnen: O l l y Schulz, Die S y n o n y m i k der Werkzeugbezeichnung ,Pfriem' in deutscher Mundartgeographie. Diss. (Masch.), M a r b u r g 1 9 5 2 .

25

D a z u : Erika S d i ö n b r u n n - K ö l b , . M a r k o l f ' in den mittelalterlichen Salomondichtungen und in deutscher Wortgeographie. In: Z M F 25 ( 1 9 5 7 ) , 9 2 - 1 2 2 . 1 2 9 - 1 7 4 .

Der Deutsche Wortatlas als Forschungsmittel der

Sprachsoziologie

163

wisse Beachtung finden, für den Sprachgebrauch wesentlicher scheint aber ihr Eingehen in eine von bürgerlichen Schichten getragene pseudoländliche volksliedhafte Idylle zu sein. So wurden in weiten Gebieten die hochdeutschen Wörter angegeben. Daneben bleiben aber doch auch typisch mundartliche Kleingebiete übrig, die zwar nirgends echte Synonyme aufweisen — worin sich auch für die ältere Zeit ein Mangel an aktivem Wortgebrauch zeigt —, wohl aber sind die Wörter Lerche und Schwalbe jeweils mit typisch landschaftlichen Suffixen und Eigenlautungen versehen, so daß in diesen Gebieten doch aktiverer Gebrauch der Wörter auch in der Landbevölkerung anzunehmen ist. Als äußerstes Extrem eines passiven Wortes auf mundartlicher Ebene kann die Karte T o m a t e (Band 11) gelten. Die Tomate als Gartenfrucht ist praktisch erst im 20. Jahrhundert in Deutschland heimisch geworden 28 . Konservative Bauern essen sie bis heute nicht. Die Wortkarte bietet keinerlei mundartliche Gliederung. Lediglich das österreichische Staatsgebiet zeigt das Synonym Paradeiser, das man geradezu als Schlüsselwort einer eigenen österreichischen Hochsprache ansehen könnte. Ganz wenige Paradiesäpfel und Liebesäpfel auf deutschem Staatsgebiet sind allenfalls umgangssprachlich. Für die Zukunft könnte sich ein Fortbestand der Mundarten exemplarisch darin erweisen, ob neue Bezeichnungen für die Tomate gebräuchlich werden, da die Frucht inzwischen überall in den Gärten angepflanzt wird und daher zu aktiverem Sprachgebrauch auch in der Landbevölkerung gelangen könnte.

VI. Eigenwertigkeit

kindersprachlicher

Wörter

Innerhalb der mundartlichen Sprachgrundschicht spielt der Kinderwortschatz eine nicht unwesentliche Rolle. Ausschließlich in der Kindersprache aktiver Wortschatz tritt uns vor allem bei Spielzeugbezeichnungen und solchen für gewisse Kleinlebewesen entgegen. Der Wortatlas bietet im Band 12 die Karte K r e i s e l . Der Sachbezug bleibt dabei außer acht, ob nämlich der Kreisel in allen deutschen Landschaften ein von einer Peitsche in drehende Bewegung versetzter Holzkegel ist, oder ob er auch andere Formen haben kann, und die Umdrehungen auch auf andere Weise erzeugt werden können. Erstaunlich ist die Vielfalt der Bezeichnungen, von denen einige schon aus althochdeutscher Zeit belegt sind 27 . Ihre heutige räumliche Verteilung ist ganz unterschiedlich; mehrere haben ganz offensichtlich umgangssprachliche Geltung erlangt — bei Stadtkindern ist das Kreiselspiel mindestens ebenso beliebt wie auf dem Lande—, ja auch die Hochsprache hat, sicherlich mit dem kommerziellen Vertrieb, ihr Wort Kreisel in verschiedenen Landschaften bereits durchgesetzt, möglicherweise aber nur deshalb, weil das Kreiselspiel dort weniger bekannt ist, also mund26

D a z u B.

27

D a z u im einzelnen: Ottilie H e n k , Deutscher W o r t a t l a s , D e r Kreisel. Diss. (Masch.), M a r b u r g 1 9 4 4 . — R . H i l d e b r a n d t , Z u r E t y m o l o g i e des Kreisels. I n : Z M F 31 ( 1 9 6 4 ) , 239-243.

11*

Martin, a . a . O . ,

139-146.

164

Reiner

Hildebrandt

artlich passiver Wortgebrauch vorliegt. Daß die Hochsprache selbst in Großstädten nichts ausrichten konnte, wenn das Spiel beliebt war, zeigt der Kartenausschnitt von Berlin und Umgebung. Hier hat ein eigenes Wort Triesel unbestrittene Geltung. Man kann in diesem Fall mit voller Berechtigung von einem stadtmundartlichen Wort sprechen. Unter den zum Wortatlas erfragten Bezeichnungen für Kleinlebewesen haben vor allem die Antworten für die K a u l q u a p p e (Band V) und die L i b e l l e (Band II) erstaunliche Ergebnisse gebracht. Der Lebensbereich beider Tiere sind stehende Gewässer, wie sie in dörflicher Umgebung zumindest früher oft anzutreffen waren. Diese Tatsache allein erklärt aber noch nicht die Synonymenvielfalt und damit den aktiven Wortgebrauch auf der ländlichen Sprachebene. Die Tiere sind für die erwachsene ländliche Bevölkerung völlig bedeutungslos, nicht aber für die Jugend, für die sie interessante Beobachtungs- und Fangobjekte darstellen. So gehören bei völlig passivem Wortgebrauch in der städtischbürgerlichen Sprachschicht diese Wörter in den Mundarten dank der Kindersprache doch zum aktiven Wortschatz. Die Karte K ä f e r (allgemein) im Band 13 erbringt dagegen sehr wenig mundartlichen Eigenwortschatz. Abstrakte Ordnungsbezeichnungen sind dem ländlichen Sprecher wenig geläufig. Die Karte weist mit wenigen Ausnahmen nur das hochdeutsche Wort Käfer auf. Die Frage nach einer besonderen Käferart, z. B. dem Mistkäfer (Band V) hat dagegen eine reiche Synonymik erbracht. Vielgestaltige Karten wären auch bei Bezeichnungen für den Mai- oder Marienkäfer zu erwarten gewesen, da es sich in beiden Fällen wieder um Tiere handelt, die im kindlichen Lebensbereich eine Rolle spielen.

VII. Wortpassivität

auf mundartlicher

Sprachebene

Die Karte K ä f e r (allgemein) weist den Weg zu der großen Zahl jener Wortkarten, die mehr oder weniger stark vom hochsprachlichen Wort bestimmt sind. Während wir bisher aktives Wortgut auf der bäuerlich-ländlichen Sprachebene in den Vordergrund gestellt hatten, dem ein passiver Wortgebrauch auf höherer Sprachebene gegenüberstand, finden wir in überwiegender Zahl auch Fälle, bei denen die größere Wortaktivität in den höheren sozialen Sprachschichten maßgebend ist. Der Grad der Wortpassivität auf der mundartlichen Ebene läßt sich dann an der Ausdehnung des Geltungsbereichs des hochsprachlichen Wortes ablesen. Dort, wo sich mundartlicher Eigenwortschatz noch erhält, werden konservative, beharrsame Mundartlandschaften augenfällig. Sie lassen auf ein noch festgefügtes soziales Gruppenbewußtsein der ländlichen Bevölkerung schließen. Wo dagegen hochsprachlicher Wortschatz oder hochsprachliche Lautungen in bestimmte Landschaften vordringen, dort ist auch das Sondergruppenbewußtsein im Schwinden. Während wir bisher die Bedeutung der Umgangssprache darin sahen, aktives mundartliches Wortgut überregional zur Geltung zu bringen, erweist sich die Umgangssprache jetzt genauso als Wegbereiterin hochsprachlicher Nivellierungen. Ich habe am Beispiel Zaunkönig

Der Deutsche Wortatlas als Forschungsmittel

der

Sprachsoziologie

165

(Band 15) bereits aufgezeigt, daß bei bestimmten Isoglossen, deren Verlauf sich äußerst unruhig und verschlungen darstellt (Mäanderlinien), mit sprachsoziologischen Auseinandersetzungen gerechnet werden muß 2 8 . Bei solchen Linien steht auf der einen Seite immer eine an der Hochsprache orientierte Form, deren geographisches Vorrücken gekoppelt ist mit sprachsoziologischem Mehrwert. Der eingangs bereits erörterte Einfluß der Großstädte auf ihre umliegenden Gebiete ist hier von entscheidender Bedeutung.

VIII. Karten zu sprachsoziologisch indifferenten

Begriffen

Was im folgenden nur andeutungsweise in pauschalen Einblicken geboten wird — es kann hier nur auf Grundzüge ankommen —, wurde von P. v. Polenz an der Karte v o r i g e s J a h r (Band 16) erstmalig im einzelnen exemplifiziert 2 9 . P. v. Polenz hat mit überraschendem Erfolg versucht, die Wortflächen der Karte umzusetzen in eine sprachsoziologisch-geographische Schichtendarstellung. Das Beispiel ,voriges J a h r ' war denkbar glücklich gewählt: aus der einen Wortkarte ließen sich zwei Schichtenkarten herausfiltern, eine für die Unterschicht mit verbreitetem Eigenwortschatz und eine für die Mittel- und Oberschicht, wobei als besonders bemerkenswert für einige Gebiete ein Sonderwortschatz der Mittelschicht — also der umgangssprachlichen Ebene — herauskam. O b sich eine solch klassische Dreiteilung auch bei anderen Wortkarten verwirklichen läßt, müßten erst eingehende Untersuchungen noch erweisen. Von unserer Warte aus gesehen sind diese Verhältnisse aber wiederum deutbar: Eine Zeitbezeichnung wie ,voriges J a h r ' hat in keiner sozialen Schicht einen sprachlichen Mehrwert, die Frage nach einem mehr aktiven oder mehr passiven Sprachgebrauch in den einzelnen Gruppen erübrigt sich also. Vielmehr läßt sich sagen, daß die Zeitbezeichnung ,voriges Jahr' generell nicht allzu häufig im Sprachgebraudi vorkommt, also in allen Schichten gleichmäßig zum weniger aktiven Wortschatz gehört. Das begünstigt das Beibehalten mancherlei altererbten Wortgutes in den Mundarten. Die Karte zeigt dementsprechend ein verwirrendes Bild. Es gibt keine klar gegliederten eindeutigen Worträume. Erst durch das Verfahren der Schichtenabhebung, wie sie P. v. Polenz auf seinen Karten versucht hat, wird das Bild optisch erträglich. Bei andern Karten aus dem Band 16 des Deutschen Wortatlasses, der ausschließlich Zeitbezeichnungen enthält, haben wir es dagegen offensichtlich mit Wortschatz zu tun, der generell aktiverem Sprachgebrauch unterliegt. In solchen Fällen ist mundartliches Wortgut bereits stärker im Nachteil. Drei Beispiele mögen das verdeutlichen: 28

Siehe Fußnote 8.

29

P. von Polenz, Mundart, Umgangssprache und Hochsprache am Beispiel der mehrschichtigen Wortkarte ,voriges Jahr'. In: Hessische Blätter für Volkskunde 51/52 (i960), 2 2 4 - 2 3 4 .

166

Reiner

Hildebrandt

Die Karte N a c h m i t t a g 3 0 bringt das alte germanische Wort Untern nur noch in vier eng begrenzten Dialektgebieten, die sich damit als typische Reliktlandschaften erweisen: Münsterland, Westerwald/Vogelsberg, Odenwald/Spessart und Pinzgau in den Alpen. Auch treten noch einige Gebiete hervor, in denen ein eigener Zeitbegriff zwischen Mittag und Abend fehlt. Dort wird dann entweder Mittag oder Abend für den Nachmittag angegeben. Im übrigen herrscht allgemein Nachmittag, jedoch zeigt das Wort in lautlicher Hinsicht weitgehend umgangssprachliche, wenn nicht oft auch mundartliche Behandlung. Umgangssprachlich ist z. B. in weiten Teilen die Vereinfachung der Doppelkonsonanz: Nachmittag > Namittag. Mehr oder weniger mundartlich sind dagegen weitere Umformungen, die das Wort auf Grund unterschiedlicher Betonungsverhältnisse in verschiedener Weise weiter verändern. Je nach der Betonung auf der ersten oder auch zweiten Silbe kann entweder einer der beiden Folgesilbevokale synkopiert (Namittag > Namtag, Namittach > Namittch) oder aber die letzte Silbe reduziert werden (Namittag > Namitte). Liegt die Betonung auf der zweiten Silbe, so kann aber auch die Vorsilbe reduziert werden (Namittag > Numittag). Der Wandel von a > u ist aber verschiedentlich auch in betonter Silbe möglich, neben Namtag steht auch Numtag. Sprachsoziologische Schichten in kartographischer Darstellung wie bei P. v. Polenz lassen sich schwerlich aus dieser Karte abstrahieren; das Ineinander ist zu komplex. Auf der Karte S a m s t a g haben wir wie bei allen Wochentagen Bezeichnungen vor uns, die von Anfang an stark von einer sprachlich exklusiven Sonderschicht (heidnisch-kultischer Gebrauch, christliche Mission und Tradition) getragen worden sind. So waren die drei konkurrierenden Bezeichnungen Satertag (< saturni dies als vorchristliches Lehnwort), Samstag (aus frühchristlich-arianischer Vermittlung) und Sonnabend (aus angelsächsischer Mission) seit frühester Zeit überregional-umgangssprachliche Wörter und wurden mundartlich nur den jeweiligen Aussprachegewohnheiten angepaßt. Eine Ausnahme bildeten nur die sudetenschlesischen Mundarten, die Sonnabend zu Simt, Sömt, Sennewet und Semmot deformiert und damit zum mundarteigenen Wort gemacht haben. Bezeichnend für den frühen überregionalen Charakter ist die Tatsache, daß die Konkurrenz der beiden Wörter Samstag und Sonnabend bis in die Gegenwart auch in die Hochsprache hineingetragen wurde. Erst in allerjüngster Zeit scheint Samstag zumindest in Westdeutschland die Vorherrschaft zu gewinnen. Während noch vor einem Jahrzehnt in den meisten Kalendern Samstag!Sonnabend gleichberechtigt nebeneinander standen, finden wir heute Samstag bereits allein. Vermutlich ist für diese Verschiebung bereits das Fehlen der sprachlichen Stütze Berlins und Sachsens verantwortlich. Die Karte W e r k t a g schließlich bietet eine vierfache Synonymenkonkurrenz auf umgangssprachlicher Ebene: Werktag/Werkeltag, Wochentag, Alltag und 30

D a z u im einzelnen: D . Wünschmann, D i e Tageszeiten — Ihre Bezeichnung im D e u t schen. Marburg 1966 ( = Marburger Beiträge zur Germanistik 16, hrsg. J . K u n z u. L. E. Schmitt).

Der Deutsche Wortatlas als Forschungsmittel der Sprachsoziologie

167

Arbeitstag, aber gleichzeitig ist — vornehmlich bei Werktag — eine starke mundartliche Eigenständigkeit durch starke Umbildung des Wortes offensichtlich. Dies ist um so erstaunlicher, als heute gerade Werktag von der Hochsprache bevorzugt wird, wenngleich es im Ostmitteldeutschen als der Wiege der neuhochdeutschen Schriftsprache keinerlei Grundlage hat. Dort gilt ausschließlich Wochentag. Aber auch da, wo auf andern Karten immer wieder das hochsprachliche Wort gemeldet wurde, weil alteingesessene Mundarten nicht existieren, also im äußersten Norden des Ostpreußischen und in den deutschbesiedelten polnischen Gebieten, erscheint das Synonym Alltag bzw. gehen alle vier Bezeichnungen so durcheinander, als hätten sich hier kleine eigenständige Mundartgebiete in der Neuzeit ausgeprägt. Auch Berlin und Umgebung zeigt merkwürdige Verhältnisse. Während sonst der sog. Berliner Trichter ostmitteldeutsche Formen im weiten Umkreis um Berlin aufweist, ist hier ostmitteldeutsch Wochentag nur ganz eng auf Berlin und wenige Vororte beschränkt, während sonst das im Niederdeutschen herrschende Alltag gilt. Alltag wiederum, das in hochdeutschen Sprachlandschaften eigentlich ohne Geltung ist, tritt dort doch gerade in wenigen kleinen Gebieten auf, die als typische Reliktlandschaften zu gelten haben: im hinteren Hunsrüdk, im Ries, im Südegerländischen, im Böhmerwald und schließlich auch noch sehr zahlreich in der östlichen Randzone Österreichs. Arbeitstag endlich ist, wie die Karte zeigt, heute ein Wort ohne mundartliche Verbreitung. Wenn es aber gerade ein Teil der konservativen Sprachinsel des Schönhengst in geschlossener Fläche aufwies, so ist zu fragen, ob es nicht früher doch weiter verbreiteten mundartlichen Charakter hatte. Die vielen Streubelege im Ostmitteldeutschen und in Österreich, also in heutigen Wockenfaggebieten, könnten dafür sprechen.

IX. Zusammenfassung:

Diachronie

Reliktlandschaft,

und Synchronie

Puffergebiet,

in

Wechselbeziehung;

Deformationen

Aus der Karte W e r k t a g geht eindringlich hervor, wie auch die sprachsoziologisch-synchrone Fragestellung ohne die diachrone wortgeschichtliche Interpretation nicht auskommt. Die Karte harrt dringend einer historischen Erhellung. Erst dann sind die offensichtlich im Widerstreit liegenden regionalumgangssprachlichen Bezeichnungen und deren konkurrierende Geltung in der Hochsprache zu verstehen. Die Zeitbezeichnungen waren typische Beispiele für eine sprachsoziologische Indifferenz der Begriffe und nahmen darin eine Mittelstellung zwischen den Karten mit bäuerlich aktivem, aber hochsprachlich passivem Wortschatz einerseits und bäuerlich weniger aktivem bis passivem Wortschatz andererseits ein. So zeigen Beispiele wie die Karten K ä f e r (allgemein) und Z a u n k ö n i g wegen wenig aktiven Sprachgebrauchs auf der bäuerlichen Ebene eindeutig die Vorherrschaft des hochsprachlichen Wortes, das sich also auch die regionalen Umgangssprachen weitgehend zu eigen gemacht haben. Jede einzelne dieser

168

Reiner

Hildebrandt

K a r t e n h a t aber in der Ausdehnung des hochsprachlichen Wortes u n d in der Zahl u n d G r ö ß e der noch vorhandenen Gebiete mit Eigenwortschatz ihr ganz spezielles Bild. Jedes W o r t f ü h r t somit historisch u n d sprachsoziologisch gesehen sein Eigenleben. Typische Reliktlandschaften lassen sich, wie E. Schräder gezeigt hat, bei einem Vergleich mehrerer W o r t k a r t e n erkennen. Die Auflösung von Reliktlandschaften tritt auf den K a r t e n immer d o r t zutage, w o solche Gebiete bereits stark von Einzelbelegen des hochsprachlich-umgangssprachlichen Wortes durchsetzt sind oder aber v o n den R ä n d e r n her von ihnen b e d r ä n g t werden, was sich in dem unruhigen, mäandrischen Isoglossenverlauf manifestiert. D e r Terminus ,Reliktlandschaft' ist von der historischen Betrachtungsweise her geprägt. Ein Reliktgebiet hält historisch gesehen an alten Sprachzuständen fest, soziologisch gesehen haben wir mit einer ländlich-bodenständigen, k o n servativen Bevölkerungsgruppe zu rechnen. D a s v o r h a n d e n e G r u p p e n b e w u ß t sein braucht sich jedoch in sprachlicher Hinsicht nicht nur im Beibehalten älterer Sprachzustände zu erschöpfen. In dieser Beziehung ist der Begriff ,Reliktlandschaft' zu einseitig historisch gesehen u n d stellt zu sehr die Abkapselung der Sprechergruppe in den V o r d e r g r u n d . Genauso entscheidend f ü r die Eigenständigkeit heutiger M u n d a r t l a n d s c h a f t e n ist aber auch die sprachliche Auseinandersetzung mit den Nachbarlandschaften. Sie ist oft die treibende K r a f t f ü r neue dialektale Unterschiede. D a m i t erweitert sich auch der Begriff ,Dialekt', sofern er wiederum historisch gesehen allzu stark an ethnographische Gegebenheiten geknüpft w o r d e n ist, u n d beinhaltet stärker das P h ä n o m e n einer sich immer wieder neu ausdifferenzierenden, landschaftlich eng begrenzten eigenständigen Sprachstruktur, die bedingt w i r d sowohl durch eine soziologisch gleichbleibende, als auch durch eine sich w a n d e l n d e Bevölkerungsstruktur. So erklären sich z. B. auf den K a r t e n Wortgebiete, die deutlich zwischen zwei Sprachlandschaften ihre Eigenständigkeit w a h r e n u n d sprachlich durchzusetzen bestrebt sind. Für solche Fälle h a t sich der Terminus ,PufTergebiet' eingebürgert. H i e r w i r d nicht nur konservativ an alten Sprachzuständen festgehalten, sondern es w e r d e n progressiv auch neue Sprachformen eingeführt u n d durchgesetzt. Die sog. K o n t a m i n a t i o n e n als Mischformen sind die am besten f a ß b a r e n Fälle solchen sprachlich sich darstellenden Sondergruppenbewußtseins. Die K a r t e W e r k t a g bringt im bairischen Dialektgebiet ein typisches Beispiel d a f ü r : I n N i e d e r b a y e r n ist Werda (< Werktag durch Konsonantenerleichterung u n d A b f a l l des E n dungs-g) die allgemeine, schon umgangssprachlich zu nennende Form. I n der O b e r p f a l z gilt dagegen Werchatoch. In der Berührungszone beider Formen, nämlich zwischen Burglengenfeld u n d C h a m , w u r d e als K o m p r o m i ß zwischen beiden Formen die K o n t a m i n a t i o n Werdatocb eingeführt u n d damit sprachlich eine Sonderstellung des Gebietes dokumentiert. Dasselbe zeigt sich auch noch auf der böhmischen Seite des Böhmerwaldes bei Winterberg. Zwischen Werta u n d Wertog entstand ein Gebiet mit Wertatog. Eine K a r t e mit reicher dialektaler Ausdifferenzierung einerseits, aber auch umgangssprachlich ausgleichenden Ansätzen andererseits wie das S p i n n -

Der Deutsche Wortatlas

als Forschungsmittel

der Sprachsoziologie

169

g e w e b e (Band 13) soll die abschließenden Überlegungen noch einmal verdeutlichen: Die Karte dokumentiert ein geringes sprachsoziologisches Relevanzgefälle bei mehr oder weniger aktivem Wortgebrauch auf der ländlich-bäuerlichen Ebene. Die ungeheuer vielen kleinen und kleinsten Wortverbreitungsflächen sind ein kaum zu entwirrendes Gemisch aus altererbtem Wortgut, das teils nur noch in Reliktlandschaften existiert (z. B. Grenngewäbbe um Siegen, Graggengespinnst in Osttirol um St. Jakob und in Kärnten zwischen Kötschach und Spittal), teils aber auch zu regional-umgangssprachlicher Geltung gelangt ist (z. B. Kankergespinnst in Thüringen, Spinnlappe in Osthessen, Spinnhuddel zwischen Karlsruhe und Freiburg, Spinnahaut in Niederösterreich), sodann aber auch aus den verschiedensten Kompromißformen, Deformationen und volksetymologischen Umdeutungen der als Komposita sehr vielfältig zu variierenden Wörter. Wo hier die historisch-etymologische Interpretation versagt, hilft das Kartenbild oft doch insofern weiter, als es auf Grund der geographischen Nachbarschaftsverhältnisse Stufen der Deformation deutlich werden lassen kann. Dabei ist im besten Falle aber nur die Aufstellung relativer Chronologien möglich; in den wenigsten Fällen wird eine genaue Entstehungsdatierung einzelner Mundartwörter an Hand von historischen Zeugnissen möglich sein. W. Neubauer hat bei der Karte w i e d e r k ä u e n solche relativen Chronologien durch Stemmata verdeutlicht und damit erstmalig konkret Einblick gegeben in das vielfältige sprachliche Sonderleben kleinster Mundartgruppen 31 . Die Karte ,Spinngewebe' macht das in noch stärkerem Maße augenfällig. Hier dokumentiert sich bis in unsere Tage besonders eindrucksvoll eine lebendige soziologische Grundschicht aktiver ländlich-bäuerlicher Sprachträger.

31

W. Neubauer, Deformation isolierter Bezeichnungen — ,wiederkäuen' in deutscher Wortgeographie. I n : Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, hrsg. L. E. Schmitt, Bd. 1 (1958), 2 9 7 - 5 2 1 .

RUDOLF

FREUDENBERG

Alemannisch 1. Linguistik

und

Soziologie

Die Sprachsoziologie steht im Schnittpunkt von Sprach- und Gesellschaftswissenschaft. Ihren Stellenwert innerhalb der Linguistik bezieht sie unmittelbar aus dem Wesen des Phänomens „Sprache" selbst: Sprache als überindividuelle Verhaltensweise bleibt stets an Formen menschlicher Vergesellschaftung gebunden 1 , besitzt also neben einem lautphysiologischen, einem informationstheoretischen, einem psychologischen usw. auch einen soziologischen Aspekt 2 . Dieser Aspekt kann zurücktreten, solange bzw. insoweit sprachlich homogene Verhältnisse vorliegen. Er ist jedoch stets mit einzubeziehen, wenn es erforderlich wird, konkurrierende Formen sprachlichen Verhaltens zu registrieren und zu interpretieren. Voraussetzung ist dabei, daß dieses Sprachverhalten überindividuelle Merkmale aufweist und damit soziologisch relevant wird. Sprachsoziologie hat es also mit der überindividuellen, gesellschaftsgebundenen Form von Sprache als sozialem Gebilde (langue) zu tun, nicht mit der individuellen Ausformung durch den einzelnen Sprecher („Idiolekt") und noch weniger mit der momentanen Realisierung im jeweiligen Sprechakt (parole) 3 ; sprachsoziologische Analysen eines einmaligen Sprechvorgangs (Tonbandaufzeichnungen!) sind demnach nur insoweit möglich, als der Bearbeiter Vergleiche mit vorgegebenen Normen anstellen kann 4 . 1

2

3

4

Eine derartige sprachlich relevante Form der Vergesellschaftung kann im Extremfall aus nicht mehr als zwei Individuen bestehen. Vgl. hierzu die Beispiele autochthoner Sprachschöpfung bei isoliert aufwachsenden Kinderpaaren, wie sie O. Jespersen (Language. Its Nature, Development and Origin. London 1954 10 , S. 180—188) aus älterer Literatur zusammengestellt hat. Zur wissenschaftssystematischen Einordnung der Sprachsoziologie vgl. L.E.Schmitt: Sprache und Geschichte. In: Hess. Jb. f. Landesgesch. 7 (1957), S. 259—282, insbes. S. 279 f. Schon 1939 hat R. Jakobson darauf hingewiesen, daß die Antinomie languefparole mehrdeutig ist, da sie nicht nur den Gegensatz zwischen sprachlicher Norm und sprachlicher Äußerung, sondern auch den zwischen der Sprache als überindividuellem, sozialem Gut und der Sprache als individuellem, privatem Eigentum faßt (Zur Struktur des Phonems. In: R.Jakobson: Selected Writings I. 's-Gravenhage 1962, S. 2 8 0 - 3 1 0 , insbes. S. 284 f.). Eine derartige Untersuchungssituation spielt innerhalb der Reihe „Lautbibliothek der deutschen Mundarten" (Hrsg. vom Deutschen Spracharchiv. Heft 3 ff. Göttingen 1958 ff.) eine ganz besondere Rolle.

171

Alemannisch

Indem die Sprachwissenschaft von „ Sprach-/Sprecher-Gemeinschaften" bzw. „Sprach-ZSprecher-Gruppen" ausgeht, trägt sie mit derartigen Formulierungen der Abhängigkeit sprachlicher Strukturen von Formen menschlicher Vergesellschaftung (Gemeinschaften, Gruppen) Rechnung. Die Soziologie ihrerseits übt seit Jahrzehnten wachsende Zurückhaltung gegenüber dem mehrdeutigen und schwer faßbaren Begriff „Gemeinschaft" 5 , der in der Vergangenheit „eine verhängnisvolle Rolle" gespielt hat 6 , und setzt statt dessen zunächst lieber bei Teilstrukturen, sog. „Gruppen", ein 7 . Eine Aufgliederung in „Primärgruppen" (mit persönlicher Interaktion und emotionaler Bindung ihrer Mitglieder) und „Sekundärgruppen" (bis hin zur nur noch statistischen Gruppe) erwies sich dabei als fruchtbar 8 . Hier wird auch die Sprachwissenschaft einzusetzen haben, indem sie von übergeordneten „Sprach-ZSprecher-Gemeinschaften" 9 aus kleinere „Sprach-ZSprecherGruppen" und deren spezifische „Gruppensprache" zu bestimmen sucht 10 . Dabei wird auf induktivem Wege das vorgefundene Sprachmaterial im Hinblick auf Sprecher und Sprechsituation so zu analysieren sein, daß die gruppenbestimmenden Merkmale zutage treten; das umgekehrte Verfahren, nämlich das Ausgehen von einem bereits vorgegebenen Merkmalskatalog, wäre methodisch verfehlt.

2. Sprachsoziologie und

Gruppenmerkmale

Die außersprachliche Wirklichkeit unterwirft den einzelnen Sprecher einem Netzwerk von Merkmalen, die seine soziale Stellung, d. h. den Katalog der von ihm besetzten Gruppen, bestimmen. Wenngleich die relevanten Merkmalskategorien von Fall zu Fall neu zu ermitteln sind, lassen sich doch schon jetzt Parameter aufstellen, die p o t e n t i e l l sprachprägend wirken: 5

Vgl. R . K ö n i g ( H r s g . ) : Soziologie. Umgearb. und erw. Neuausg. Frankfurt/M. 1967 (Fischer-Lexikon. 10), s. v. .Gemeinschaft'.

« Ebd., S. 92. 7

Z u r Gruppensoziologie vgl. etwa G. Weippert: Die Bildung sozialer Gruppen. München 1 9 5 0 ( = Schriftenreihe der Hochschule f. polit. Wiss. München) und G. C. H o m a n s : Theorie der sozialen Gruppe. Köln/Opladen 1 9 6 6 2 . Zusammenfassend R . König, a. a. O., s. v. .Gruppe' (mit weiterführender Literatur vor allem aus dem angelsächsischen R a u m ) .

8

Eine Durchsicht des einschlägigen Schrifttums läßt erkennen, daß es vornehmlich die Klein- oder Primärgruppen sind, die das Interesse des Soziologen gefunden haben. Vgl. R . König, a. a. O .

9

Zu dem Versuch, sprachliche „Gemeinschaften" unter das Kriterium der Einheitlichkeit im sprachlichen Verhalten zu stellen, vgl. R . K ö n i g , a . a . O . , S. 3 1 4 : „. . . ist es doch angesichts der außerordentlichen Differenziertheit des Sprachphänomens als solchem höchst fragwürdig, wie man den Begriff der sprachlichen Einheit überhaupt definieren will."

10

Einen ersten, überzeugenden Versuch bietet am Beispiel einer deutschsprachigen Primärgruppe H . Steger: Gruppensprachen. Ein methodisches Problem der inhaltsbezogenen Sprachbetrachtung. I n : Zeitschr. f. Mundartforschg. 31 ( 1 9 6 4 ) , S. 125—138.

172

Rudolf

Freudenberg

a) Soziale Herkunft

f) Geographische Herkunft

b) Konfession und religiöses Verhalten

g) Wohnsitz

c) Geschlecht

h) Ausbildung i) Beruf

d) Alter

k) Einkommen

e) Familienstand

Diese (und andere) Kategorien enthalten Gruppenmerkmale, die gebündelt den sozialen Status eines Sprechers ausmachen 11 , ohne daß jeweils vorhersagbar wäre, welche Koppelungen zu sprachsoziologischen Differenzierungen führen. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, daß die genannten Parameter selbst wieder Funktionen voneinander bilden können (man denke an den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Ausbildung, desgleichen zwischen Ausbildung und Beruf sowie zwischen Beruf und Einkommen!). Solange die Linguistik diesen Bereich nicht durch sozialempirische Untersuchungen größeren Umfangs erforscht hat 1 2 , müssen sprachsoziologische Zusammenfassungen, wie sie im folgenden für das Alemannische versucht werden, notgedrungen unbefriedigend bleiben — sachlich wie terminologisch.

3. Das Alemannische und die

Wortgeographie

Wer heute in sprachgeographischer Sicht nach „dem" Alemannischen fragt, fragt nach einer fiktiven G r ö ß e : Es gibt keine sprachliche Einheit im Südwesten des Kontinentalgermanischen. „Alemannische Kriterien . . . gelten entweder zugleich auch für weitere Bezirke, etwa das Bayrische, oder sie gelten bei scharfen Außengrenzen nach Norden und Osten nicht für das gesamte Alemannische" 1 3 . Auch ein

allenfalls

heranzuziehendes

„Zusammengehörigkeitsgefühl"

fehlt:

Augsburg und Straßburg, Stuttgart und Zürich fühlen sich ganz verschiedenen Landschaften zugehörig. So hatte es bis vor kurzem den Anschein, als würde auch für das Alemannische gelten, was Luise Berthold (Teuth. 2, 2 0 4 ) über das Wesen eines Dialekts gesagt hat, daß er nämlich „viel weniger durch eine Reihe nur ihm eigener 11

R . K ö n i g , a . a . O . , S. 2 6 6 : „ F a ß t m a n jeweils die Personen zusammen, die im H i n blick a u f ein bestimmtes, sozial relevantes M e r k m a l gleich oder ähnlich sind, so erscheinen die Gesellschaftsmitglieder nach diesem M e r k m a l gegliedert". In diesem Z u sammenhang spricht die Soziologie von „Schichten". O b bereits ein einzelnes sozial relevantes M e r k m a l eine Schicht konstituiert oder ob erst ein Merkmalbündel zur Schicht führt, ist noch kontrovers (vgl. R . König, a. a. O . , s. v. Schichtung').

12

U n t e r L . E . Schmitt ist zu diesen F r a g e n eine methodisch wichtige Arbeit entstanden, die den Einfluß der Stadtsprache von W e t z l a r a u f die mundartsprechenden Arbeiter des nahegelegenen N a u b o r n untersucht ( E . H o f m a n n : D e r Einfluß der Stadtsprache auf mundartsprechende Arbeiter. E i n e sprachsoziologische Untersuchung. M a r b u r g , Phil. Diss. 1 9 6 4 ) .

13

F . M a u r e r : Z u r Sprachgeschichte des deutschen Südwestens. I n : Oberrheiner, Schwaben, Südalemannen. H r s g . von F. M a u r e r . S t r a ß b u r g 1942, S. 1 6 7 — 3 3 6 ( Z i t a t S. 1 8 7 ) .

173

Alemannisch

Sonderheiten bestimmt wird als durch eine eigentümliche Konstellation von Kriterien, deren Geltungsräume im übrigen nach allen Seiten über ihn hinausgreifen können". Um so größere Bedeutung kommt der Entdeckung alemannischer Kennformen zu, die W. Mitzka auf der Grundlage des „Deutschen Wortatlas" 14 geglückt ist. Gesamtalemannisch sind danach Ahmabd ,Grummet' (DWA 1 u. 14), Lande ,Gabeldeichsel' (DWA 8) und daien .wiederkäuen* (DWA 2) 15 . Wir ergänzen hierzu: ,männliche Taube', das nach Ausweis von DWA 7 gemeinalemannisch Formen aufweist, die einheitlich eine Wurzel mhd. küt-, kiut- reflektieren16. Nur im Wortschatz also läßt sich die alemannische Einheit fassen17, sei es als Relikt stammeszeitlich-frühterritorialer Verhältnisse, sei es als altes Ausbreitungsphänomen aus der Zeit gemeinalemannischen „Zusammengehörigkeitsgefühls". Im folgenden werden wir zu fragen haben, in welcher Weise auch heute noch alemannischer Wortschatz außersprachliche Verhältnisse widerspiegelt und damit zum Seismographen sozialer Veränderungen wird. 4. Das Schweizer

deutsche

Bunt und vielgestaltig, komplex und reichhaltig, in vielfacher Hinsicht anderen Bedingungen unterworfen als in der übrigen Germania und eigenen Gesetzen gehorchend sind die sprach-, insbesondere wortsoziologischen Verhältnisse in der deutschsprachigen Schweiz. Die Darstellung dieser Verhältnisse hat denn auch immer wieder Fachgelehrte wie Publizisten auf den Plan gerufen18. a) Die hochdeutsche

Schriftsprache

in der

Schweiz

Nicht nur lautliche Eigenheiten heben das „hohe" Schweizerdeutsch unverkennbar vom übrigen deutschen Sprachraum ab (stimmlose gutturale Spirans, 14

Hrsg. von W. Mitzka (u. L. E. Schmitt). Gießen 1951 ff.

15

W. Mitzka: Hochdeutsche Mundarten. In: Deutsche Philologie im Aufriß. Hrsg. von W.Stammler. I 2 . Berlin 1966, Sp. 1599—1728, insbes. Sp. 1608; ders.: Stämme und Landschaften in deutscher Wortgeographie. In: Deutsche Wortgeschichte. Hrsg. von F. Maurer u. F. Stroh. II 2 . Berlin 1959, S. 5 6 1 - 6 1 3 , insbes. S. 598.

16

H. Suolahti: Die deutschen Vogelnamen. Eine wortgeschichtliche Untersuchung. Straßburg 1909, S. 211 f. stellt hierzu einen Schweizer Glossenbeleg „tub kuto".

17

Zu den Vorschlägen, seht für st ebenfalls in diese Zusammenhänge zu stellen und damit zu einem alemannischen Laut-Schibboleth zu kommen, vgl. die Einwände von R. Freudenberg: Opposition und Distribution von oberdt. st Ist in diachronischer Sicht. Zur Entwicklungsgeschichte von deutschmundartlich fest ,fest'. In: Proc. V. Intern. Congr. of Phonetic Sciences. Basel—New York 1965, S. 300—305.

18

Einen mustergültigen Uberblick über die erschienene Literatur bietet St. Sonderegger: Die schweizerdeutsche Mundartforschung 1800—1959. Bibliographisches Handbuch mit Inhaltsangaben. Frauenfeld 1962 ( = BSM 12). Einschlägig ist das letzte Kapitel „Schriftsprache und Mundarten in der deutschen Schweiz der Gegenwart" (S. 283 bis 309). Aufschlußreich für den Außenstehenden sind auch die Veröffentlichungen des vom Deutsch-schweizerischen Sprachverein herausgegebenen „Sprachspiegel".

Rudolf

174

Freudenberg

Konsonantenquantität, Wort- und Satzakzent), sondern auch auffällige Abweichungen im schriftsprachlichen Wortschatz. Zwar belehrt uns schon ein kurzer Blick in P. Kretschmers „Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache" (Göttingen 1918), daß auch außerhalb der Schweiz eine Fülle von Begriffen durch regionalen Sonderwortschatz gedeckt wird, ohne daß ein einheitlicher übergreifender Ausdruck diese Ausdifferenzierung in Synonyme auffangen könnte (wie auch die anerkannte normative Instanz des Deutschen, der „Duden", landschaftlichen Wortgebrauch bucht). Was das Lexikon der schweizerdeutschen Schriftsprache von dem anderer deutscher Sprachräume unterscheidet, ist einerseits (quantitativ) das Ausmaß der Abweichungen, andererseits (qualitativ) das Übergreifen dieses Sonderwortschatzes auf semantische Bereiche, die im Deutschen ansonsten synonymenfrei sind (hier sei an die Sprache der Verwaltung erinnert) 19 . Um bei den folgenden Beispielen den hoch- und schriftsprachlichen Charakter zu sichern, wurden die Wortformen des „Duden" zugrunde gelegt, und zwar nach einer von A. Müller-Marzohl 20 veröffentlichten Zusammenstellung. .klären, Klarheit über etwas verschaffen'21

abklären

,Beschreibung'; vgl. auch Verschrieb

Beschrieb

bung', Unterbruch Abdankung dahinfallen gefreut

,Verschreibung, Fehlschrei-

,Unterbrechung', Untersuch

Untersuchung'

,Trauerfeier' 22 ,als erledigt, als überflüssig wegfallen, entfallen' 23

,erfreulich'

innert innerhalb, binnen' inskünftig

,zukünftig, für die Zukunft, fortan'

lismen ,stricken' 24 parkieren

,parken'

19

Die im R a h m e n der „ D u d e n - B e i t r ä g e " von H . Moser herausgegebene Sonderreihe „Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache im A u s l a n d " bereitet ein Heft über die Verhältnisse in der deutschen Schweiz v o r . P . Kretschmers Angaben mußten lückenhaft bleiben, da im R a h m e n seines wortvergleichenden Prinzips die schweizerdeutschen „Sprachverhältnisse . . . wiederum denen des übrigen deutschen Sprachgebiets zu wenig gleichartig [ w a r e n ] , als d a ß auch hier geographische Vollständigkeit erforderlich schien" (a. a. O . , S. 14).

20

D a s schweizerische W o r t g u t im Jubiläums-Duden. I n : Sprachspiegel 17 ( 1 9 6 1 ) , S. 9 7 - 1 0 3 . 1 2 9 - 1 3 2 . 1 6 2 - 1 7 0 . 18 ( 1 9 6 2 ) , S. 1 6 - 1 8 . Vgl. auch schon v o r h e r A . Steiger: Schweizerisches W o r t g u t im Duden. I n : J ä h r l . Rundschau des Schweizerdt. Sprachvereins 1 9 4 1 , S. 6 2 - 8 8 .

21

N a c h eigenen Beobachtungen auch okkasionell im Gegenwartsdeutsch (Einfluß Schweizer Publizisten?).

22

Sb. [ = W . Seibicke]: ( 1 9 6 4 ) , S. 5 f.

23

N e u e Zürcher Zeitung, 4. N o v . 1 9 5 1 , S. 6 : „Mit der A n n a h m e dieses Verfassungsartikels fallen Ziffern 1 und 2 . . . dahin."

24

Zu diesem Stichwort s. künftig den „Deutschen W o r t a t l a s " .

V o n . A b d a n k u n g ' bis .verdanken'.

I n : D e r Sprachdienst

8

Alemannisch Photo

175

(Feminin)

Schulsack

,Schulranzen'

Tochter ,Mädchen, Fräulein, Angestellte'; dazu Ladentochter Saaltochter verdanken verunfallen weiterfahren

,Kellnerin im Speisesall', Serviertochter

.Verkäuferin',

,Kellnerin'

,Dank abstatten' 25 .verunglücken, durch Unfall zu Schaden kommen' ,fortfahren, z. B. in seiner Rede'

traf .treffend' Diese Auswahl ließe sich beliebig erweitern, und zwar ohne Berücksichtigung jener Wörter, die das Schweizerdeutsche mit seinen Nachbarn im Norden und Osten gemeinsam hat (z. B. heuer ,dies Jahr'). Wann und wo wird dieses Hochdeutsch nun gesprochen? J . Winteler konnte für seine Zeit (1895) angeben: „Auf der Kanzel, in der Schule, auf den Lehrstühlen, in der Presse, den Ratsälen, auf der Festbühne, in der ernsteren Dichtung und Literatur und in der familiären Korrespondenz herrscht die Sprache der Kanzleien, Luthers und der deutschen Klassiker unumschränkt 26 ." E. Tappolet ergänzt diese Feststellungen, indem er ausführt, daß das Hochdeutsche in der Predigt, im Gespräch mit Ausländern sowie in den eidgenössischen Versammlungen wie Bundesrat und Nationalrat Verwendung findet27. Vor Gericht und im Großen Rat wird in Basel hochdeutsch, in Bern hingegen Mundart gesprochen28. Bei dem regen Interesse der schweizerdeutschen Öffentlichkeit an Sprachfragen verwundert es nicht, daß auch die Amts- und Predigtsprache diskutiert wurde 29 . Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein „Bericht des Bureaus des Großen Rates über den Antrag Dr. A. Wieser betreffend Abänderung des § 9 der Geschäftsordnung des Großen Rates (Amtssprache). Dem Großen Rate des Kantons Basel-Stadt vorgelegt am 13. März 1958" 3 0 . Dieser Bericht beschäftigt sich mit einem Antrag zur Einführung der Mundart als Amtssprache (der der Ablehnung verfällt). 25

Dazu W. Seibicke, a. a. O., S. 6.

26

Über Volkslied und Mundart. Ein W o r t an die aargauische Lehrerschaft anläßlich der Kantonalkonferenz am 12. September 1895. Brugg 1895.

27

Über den Stand der Mundarten in der deutschen und französischen Schweiz. Zürich 1901 ( = Mitt. der Ges. f. dt. Sprache in Zürich. 6), S. 36. Vgl. hierzu auch Zimmerli, Idg. Anz. 16 (1904), S. 36 f.

28

Ebd.

29

E. Blocher u. K. Fischer: Geistliches Verhandlungsdeutsch. Ein Briefwechsel zwischen löblidien Vororten Schweizerischer Eidgenossenschaft. In: Mitt. des Deutschschweizerischen Sprachvereins 14 (1930), N r . 3 / 4 ; G. Nachfahr u. A. Steiger: Mundart im Ratssaal. In: Sprachspiegel 8 (1952), S. 71— 7 5 ; A.Steiger: Unser Versammlungsdeutsch. In: Mitt. des Deutschschweizerischen Sprachvereins 6 (1922), N r . 3/4. — Zur Predigtsprache siehe Sonderegger, a. a. O., N r . 2036—2038.

80

Basel 1959. Zitiert nach Sonderegger, a. a. O., Nr. 2039.

176

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Freudenberg

Derartige Versuche, die Hochsprache auch im amtlichen Gebrauch zurückzudrängen und durch eine „schweizerdeutsche Schriftsprache" zu ersetzen, konnten in der Zeit des Dritten Reichs auf besonders fruchtbaren Boden fallen 81 ; heute geht die Forderung allgemein auf zweisprachiges Verhalten der Sprachträger hin. b) Das

„Großratsdeutsch"

Die hochdeutsche Schriftsprache vor allem in ihrer dialektfreien Lautung erlernt der Deutschschweizer für gewöhnlich erst im Schulunterricht — quasi als „Fremdsprache" 32 . Diese eigenartige Sprachsituation bringt es mit sich, daß die zwischen Mundart und Schriftsprache liegende Zwischenschicht besondere Bedeutung im öffentlichen Leben erlangt. In diesem sog. Kantonrats- oder Großratsdeutsch wird ein hochdeutsches Satzgebilde in schweizerdeutsche Lautung umgesetzt, so daß der Mediziner von „wyße Bluetchörperli" und der Germanist von der „erschte Lutverschiebig" spricht. Sprachpfleger und Sprachkritiker werden nicht müde, vor diesen hybriden Sprachformen zu warnen — offenbar ohne nennenswerten Erfolg, denn tagtäglich hört oder liest man Wendungen wie: „Das rnues e sehr schöns und intyms Gfühl sy" „Die ehemaaligi Kantonsbibliothek" „An der Gränze des Erträgliche" „Arbaite, die kainerlai Vorberaitige bedürfe" 3 3 . Mögen sprachästhetische Gefühle insbesondere der um ihre Ausdrucksmittel besorgten Deutschschweizer von derartigen Formen der „Sprachverhunzung" 34 verletzt werden — das Großratsdeutsch ist die letzte Konsequenz einer sprachsoziologischen Situation, die von allen Sprachträgern Zweisprachigkeit verlangt und die es dem einzelnen verbietet, selbst dort die schriftsprachliche Ausdrucksweise zu wählen, wo der (überwiegend bäuerlich bestimmte) Mundartwortschatz als Instrument der Verständigung nicht ausreicht. c) Stadt-

und

Standessprachen

Allenthalben im schweizerdeutschen Sprachraum bestehen Unterschiede zwischen Stadt- und Landdialekt, die jede kantonale Sprachbeschreibung zu berücksichtigen hat 35 . Zwar ist die Existenz stadtsprachlicher Sonderformen auch 31

32

33

34 35

Hier ist besonders das vieldiskutierte Buch v o n E. Baer: Alemannisch. D i e Rettung der eidgenössischen Seele. Zürich 1936 zu nennen. H . Hasler: Muttersprache-Hochdeutsch. In: Schweizerische Lehrerzeitung 79 (1934), S. 610—612. Anders A . S t e i g e r in einer Replik u. d. T.: Schriftdeutsch, eine Fremdsprache? In: Mitt. des Deutschschweizerischen Sprachvereins 19 (1935), Nr. 1/2. Diese Beispiele nach R. Suter: Totes und lebendiges Baseldeutsch. In: Basier Nachrichten, 13. Jan. 1952. Ebd. D a z u etwa R. Schläpfer: Baselbieterdeutsch. In: Schweizer Dialekte. Hrsg von R. B. Christ. Basel-Stuttgart 1965, S. 68—75, insbes. S. 69: „Basler Mundart und Baselbieterdeutsch sind aus der N ä h e nicht zu verwechseln."

Alemannisch

177

andernorts bekannt, ja sogar die Regel; was die Ausdrucksmittel der Schweizer Städte jedoch besonders auszeichnet, ist ihre Tradition. Was hier gesprochen wird, geht (zumindest teilweise) auf lokale Schriftsprachen („gesprochene Kanzleisprachen") zurück, die zeitlich vor der Einführung der neuhochdeutschen Schriftsprache liegen und die, soweit sie alte Verhältnisse fortsetzen, gelegentlich sogar archaischer sein können als die Sprache der bäuerlichen Umgegend 3 '. Dazu kommt naturgemäß auch in der Schweiz der Einfluß jener bereits genannten „höheren" Sprachschichten, die von der neuhochdeutschen Schriftsprache gespeist werden. Berücksichtigt man letztlich noch die soziale Gruppierung der Stadtbevölkerung, so ergibt sich ein überaus komplexes Bild der schweizerdeutschen Stadtsprache im ganzen wie in ihren regionalen Einzelformen. B a s e l . Basel gehört zu jenen Städten, denen einmal (nächst Zürich) ein Aussterben des Schweizerdeutschen bis zum Ende dieses Jahrhunderts prophezeit worden war 37 . In der Tat hat sich diese Stadt nicht nur mit dem „Demonstrationsdialekt" (H. Bausinger) des Großratsdeutsch auseinanderzusetzen, sondern auch umgekehrt mit dem Versuch, ein überregionales Hochdeutsch zu produzieren. Lautstand und Wortschatz derartiger Bemühungen sind in Parodien charakterisiert worden: „Ich fuhr in einer Kautsche in eine Veiseite und hatte ein großes Papeir in der Hand, wir mußten aber änen duren fahren wegen einem Bau, und wo wir ankamen, war dänen der Tisch schon gedeckt gewesen und ein Herr wartete mit Schokoladentäfelein auf. Dann giengen wir aben zum Zimmisessen und nach dem Immisessen wieder auffen, und da erzählte man Geschichten, das wurde anfangen langweilig und wir haben endlich Thee getrunken, der Kaffee wäre mir lieber gewesen, und ich mußte noch dazu auf einem Bank sitzen statt auf einem Sessel oder auf dem Kanapee. Beim Heimgehen ist es ziemlich kalt gewesen, und wir mußten uns einmummeln, damit wir uns nicht verkälteten; aber wir bekamen bald wieder warm, wir giengen eben einen Berg hinauf. Daheim war ich ein wenig angegriffen. Wenn ich als an einer Festivität gewesen bin, bekomme ich als das Kopfweh. Morgen aber muß ich schon wieder naimen anen" 38 . Aber auch auf der dialektalen Ebene nimmt Basel innerhalb der schweizerdeutschen Städte eine Sonderstellung ein, so daß in diesem Zusammenhang nachgerade von einer niederalemannischen Sprachinsel gesprochen wurde 39 . 38

Ein Beispiel für Bern nennt S. Singer: Schweizerdeutsch. Frauenfeld-Leipzig 1928, S. 19.

37

R.B.Christ: Nidit ein eintöniger Schlag Schweizer . . S. 7 - 1 5 , insbes. S. 10.

38

A.Brenner: Baslerische Kinder- und Volksreime. Basel 1902 2 , S. 85 (Zitiert nach Singer, a. a. O., S. 10 f.).

39

Zu diesen Fragen, die vornehmlich auf den Lautstand gehen, vgl. W. Bruckner: Sprachliche Spannungen zwischen Stadt und Land. Ein Beitrag zur Geschichte der Basler Mundart. In: Zeitschr. f. Mundartforschung 18 (1942), S. 30—48.

12

Mitzka, Wortgeographie

In: Schweizer Dialekte . . .,

178

Rudolf

Frendenberg

Für die Frage nach der sprachsoziologischen Schichtung der Stadtsprache bedeutsamer ist aber der Basler Großstadt-Jargon, die sog. H ö s c h - S p r ä c h e 4 0 . R . Suter hat versucht, den Anfang des Grimmschen Märchens „Sechse kommen durch die ganze W e l t " einmal in herkömmlichem Baseldeutsch und dann im Hösch-Jargon wiederzugeben: „Es isch emolen e geschiggte M a gsi, dä het as dichtige soldat emene Keenig dient. W o derno der Grieg fertig gsi isch, het en der Keenig furtgschiggt und em nummen a bar Santym as Loon gää. D o het dä Soldat dänggt: ,Wart numme, wenn ych die rächte L y t find, derno muesch mer alli dyni Schetz, G o l d und Silber und Edelstai gää, ob de witt oder nit.' Ganz voller Daibi isch er derno in e W a l d koo und het dert en andere M a a gsee, wo juscht e bar diggi Baim uusgrupft het, as wäres Mattebliemli." Wiedergabe im Hösch-Jargon: „ E glatte Siech het emol bymene Chönig Milydärdienscht chlopft. W o der Grieg beändet gsi isch, het er chönnen abschtingge und as Zapfe het er nur einige chlaini Aengländer zooge. D o het sich dä Soldat im Ghaime gsait: , D ä Chöönig macht mich jo nit staubig. V o däm ööde Sogge loss ych mich nicht uff d Rolle schiebe. Wenn ych no Cholleege uffryss, denn mus dä Nepper der letscht Meeter zu Sagg usrolle.' Mit sym Rochus isch er in e W a l d choo und het döt en andere Chnulleri droffe, wo grad meereri Bäum usgrisse het, wie der Jack Lämmli, wo mit de Raffle e Mööbelwaage ussem Gaggoo zooge het, verschtoosch . . . " 4 l . Wie leicht zu erkennen ist, zeigt die Basler Höschsprache grundsätzlich ähnliche Merkmale wie der Großstadtjargon anderwärts. Auch die Reaktion der Sprachkritiker kommt nicht überraschend: „Sarkastische K r i t i k , unfroher Zynismus und .Vernytigung' reißen alles nieder; nichts ist mehr heilig" 4 2 . B e r n . Bekannter geworden und auch in mehreren Untersuchungen ausführlich dargestellt ist der Berner Stadtjargon des Mattenquartiers (ursprünglich der Mattenenge an der Aare), das sog. „M a t t e n e n g l i s c h " 4 S . I m Gegensatz zur Basler Höschsprache gilt das Mattenenglisch als altertümliche Sondersprache, die heute im Aussterben begriffen ist. Die „ M a t t e " (ursprünglich ein Wiesengrund entlang der Aare) gilt als das älteste Industriegebiet Berns, ursprünglich für jene Berufe, die des Flußwassers bedurften (Müller, Schiffer, Flößer). Flö40

R. Suter: Die Basler Hösdi-Sprache und ihre Hintergründe. In: Schweizer Spiegel, Mai 1952, S. 30—40; ders.: Totes und lebendiges Baseldeutsch, a. a. O.

41

R. Suter: Totes und lebendiges Baseldeutsch . . .

41

Ebd. — Um so überraschender folgt wenig später das Zugeständnis: „Bei alledem wollen wir anerkennen, daß in diesem Jargon auch gewisse sprach s c h ö p f e r i s c h e Kräfte am Werk sind . . Literaturangaben bei Sonderegger, a. a. O., S. 45 f. Die folgenden Ausführungen nach A. Rollier: Berner Mattenenglisch. In: Zeitschr. f. dt. Wortforschung 2 (1902), S. 51—57 und O. von Greyerz: Berner Mattenenglisch. In: O. von Greyerz: Sprache, Dichtung, Heimat. Bern 1933, S. 306—314.

43

Alemannisch

179

ßerei und Schiffahrt werden auch jene fremden Elemente in die Sprache des im ganzen 19. Jahrhundert ein wenig verrufenen Stadtteils gebracht haben, bei denen das Rotwelsch eine besondere Rolle spielt: Kluft ,Kleid'; Lehm ,Brot'; toof ,schön, gut'; schinegle ,arbeiten'; nobis ,nein, nicht'. Auch französische Entlehnungen finden sich in größerer Zahl: Fiß ,Sohn' (frz. fils); Schigg ,Kautabak' (frz. chique); Päng ,Brot' (frz. pain); Wänter ,20 Rappen' (frz. vingt); Disser ,10 Rappen' (frz. dix). Anderer, z. T. unklarer Herkunft sind: Ramu

,Bauer'; Giel .Knabe'; Chemp

,Stein'; deebere ,schelten'; stut ,stark'.

Dazu kommt letztlich noch ein bei Gruppensprachen nicht seltenes Entstellungsverfahren, durch das der Lautkörper geheimsprachlich kaschiert wird. Das Ergebnis ist bemerkenswert: Hochsprachlich: „Kommt ihr mit auf die Landern, in die Aare baden und schwimmen zu gehen?" Schweizerdeutsch: „Chömet-er mit uf d'Landere i d'Irel ga baaje u schwööble?" Mattenenglisch: „Imeterchee itmee ifhee d'Inderelee i d'Iruhee gaa ijebee u iibleschwee?" Das eigentliche Berndeutsch wird gemeinhin 44 dreifach gegliedert: in das Patrizierdeutsch, das der Mittelklasse und das der unteren Stände. Bezeichnend für das oberschichtliche Berndeutsch ist die überdurchschnittliche Rezeption französischer Lehnwörter — eine Erscheinung, die allerdings in letzter Zeit stark zurückgegangen ist 45 . Als bekanntester Vertreter des Berner Patrizierdeutsch gilt der Mundartschriftsteller Rudolf von Tavel 4 6 . L u z e r n. Im Gegensatz zu Basel und Bern tritt Luzern sprachsoziologisch weit weniger hervor. Zwar hat es auch hier, wie schon Brandstetter gezeigt hat, einstmals eine „gesprochene Kanzleisprache" gegeben47, aber andererseits war 44

Singer, a . a . O . , S. 2 0 f.; H . B a u m g a r t n e r : S t a d t m u n d a r t . S t a d t - und L a n d m u n d a r t . Beiträge zur bernischen Mundartgeographie. B e r n 1 9 4 0 , S. 34 f.

45

Baumgartner,

a.a.O.,

S. 3 0 :

„Das

zierlich-vornehme

Durchflechten

der

deutschen

R e d e mit französischen W ö r t e r n , Satzteilen und Sätzen hat entschieden etwas Spielerisches an sich. E s beschränkt sich zudem auf einen recht abgeschlossenen Gesellschaftskreis, und beides p a ß t nicht mehr in unsere Zeit. M a n sieht darin denn auch heute in den andern Bevölkerungsschichten etwas Altertümelndes, Museumsreifes, und bereits berührt es der S p o t t . " — Die Übereinstimmung der hier beschriebenen Sprachhaltung mit der des Mattenenglisch

(Sprachspiel, Konvertlkelbildung!)

ist

unver-

kennbar. 4

* Einen kommentierten Ausschnitt aus seinem „Ring i der C h e t t i " bringt R . E . K e l l e r : G e r m a n Dialects. P h o n o l o g y and M o r p h o l o g y . W i t h selected T e x t s . Manchester U n i v . Press 1 9 6 1 , S. 1 0 5 - 1 1 1 .

47

Prolegomena 1890.

zu einer urkundlichen Geschichte der Luzerner M u n d a r t .

Einsiedeln

180

Rudolf

Freudenberg

das Luzerndeutsch „bis in unser Jahrhundert hinein überwiegend Bauernsprache" 48 . Auch die (standes- bzw. generationsbedingte) Innenschichtung der Stadtsprache tritt weit weniger in Erscheinung als in den vorher genannten Städten. Nach Brandstetter 49 beschränken sich die stadtsprachlichen Besonderheiten vornehmlich auf die stärkere Rezeption lexikalischer Elemente aus der hochdeutschen Schriftsprache. Z ü r i c h . Das weltläufige Zürich ist wohl diejenige Schweizer Stadt, deren Sprache dem Hochdeutschen am stärksten ausgesetzt ist. Jene bereits zitierte Prognose auf den Tod des Schweizerdeutschen noch in diesem Jahrhundert glaubte im Zusammenhang damit prophezeien zu können: „Zürich wird die erste hochdeutsche Stadt sein" 50 . Inzwischen ist auch hier der Widerstand gegen das Schriftdeutsch gewachsen, und gerade in Zürich wurde der „Bund Schwyzertütsch" gegründet. Audi das Zürichdeutsch kennt sprachliche Schichtungen, wobei die starke Zuwanderung aus anderen Kantonen eine nicht unerhebliche Rolle spielt, so daß eigenständige Formen untergehen. J . M. Bächtold 51 vergleicht den zürichdeutschen Satz „I ha mängsmaal mit em z tue gha. Wart nu na en Augeblick" mit heute oft zu hörendem „I ha mängisch mit em z tue gha. Wart numen en Augeblick!" Letztlich spielt auch das Verhältnis der Stadt zur ländlichen Umgebung eine Rolle. So wie einerseits die Stadt als Strahlungszentrum in den Kanton hinein wirkt, stehen andererseits die „unteren" Schichten der Stadtbevölkerung dem Landvolk sprachlich näher 52 .

5. Das

Elsässische

Mit der deutschsprachigen Schweiz gemeinsam ist dem Elsaß die Absonderung aus dem deutschen Staatsverband, die nicht ohne Folgen für die sprachsoziologischen Verhältnisse bleiben konnte. Gleichwohl sind tiefgreifende Unterschiede unverkennbar: Spätestens seit der Französischen Revolution begann eine kulturelle Integrierung in den französischen Staatsverband, die ihren sprachlichen Niederschlag vor allem in der Oberschicht finden mußte 53 . Daß gerade die Landeshauptstadt Straßburg Brennpunkt sprachlicher Auseinandersetzungen wurde, 48

H . K u r m a n n : L u z e r n e r M u n d a r t . I n : Schweizer Dialekte . . S . 5 1 — 6 0 (Zitat S. 5 6 ) .

« A . a. O . , S. 13 ff. 50

Schweizer Dialekte . . ., S. 10.

51

Zürich und seine Sprache. I n : Schweizer Dialekte . . ., S. 16—22, insbes. S. 16 f.

52

Singer, a. a. O., S. 2 5 bringt hierfür Beispiele aus dem Bereich der Lautlehre.

53

H i e r z u im einzelnen A . Socin: Schriftsprache und Dialekte im Deutschen nach Zeugnissen alter und neuer Zeit. Heilbronn 1 8 8 8 , S. 5 1 0 — 5 1 9 .

Alemannisch

181

versteht sich. Hier ist einerseits in besonderem Maße mit Doppelsprachigkeit zu rechnen, andererseits stehen gerade hier Stadt- und Landdialekt auffällig gegeneinander. Ein aufschlußreiches Abbild sprachlicher Verhältnisse im 19. Jahrhundert geben die sog. „Fraubasengespräche" — satirische Dialoge in Mundart, die, von anonymen Verfassern stammend, meist als Flugblätter in Umlauf kamen. F. W. Bergmann hat einige dieser Volksgespräche nicht nur herausgegeben, sondern auch kommentiert 54 . Auffällig ist dabei der Wechsel im Sprachgebrauch, „je nachdem . . . (die Mundart) von personen des höhern bürgerstandes, oder vom niedrigeren volke gesprochen wird" 5 5 . Da steht kenich ,König' gegen kinni, dawack ,Tabak' gegen dtiwack, gleichermaßen bis gegen bitz sowie war Ii gegen wertzig58. Auch das Französische findet seinen Niederschlag in diesen Volksgesprächen. Wir notieren: g'bermedirt (frz. permettre-, S. 24); k'horsamschd oblijtrt (frz. bien obligé; S. 36); bièsel (frz. piécette; S. 62); bermeddiren (s. oben; S. 9 8 ) ; cäs (frz. cas; S. 100); dür (frz. tour; S. 115); schalii (frz. jalouse; S. 118) 5 7 . Audi die heutige Schriftsprache zeigt im Elsaß wesentliche Besonderheiten, unter denen der lexikalische Einfluß des Französischen besonders hervorragt 58 . Naturgemäß überwiegen dabei die Bezeichnungen für staatliche Einrichtungen: Journal officiel .Amtsblatt'; Député ,Abgeordneter'; Décret ,Verordnung'; Carte d'identité ,Kennkarte' (daneben: Identitätskarte); Maire Bürgermeister' (so auch mundartlich); Office ,Amt, Stelle'; Parquet Staatsanwalt'; Percepteur

,Steuereinnehmer'.

54

S t r a ß b u r g e r Volksgespräche, in ihrer M u n d a r t vorgetragen und in sprachlicher, literarischer und sittengesdiichtlicher Hinsicht erläutert. S t r a ß b u r g 1873.

55

E b d . , S. 7.

56

E b d . , S. 8.

57

D i e Seitenangaben nach der Ausgabe Bergmanns. Übrigens demonstriert der Herausgeber gelegentlich ungewollt selbst die Sprachform der gebildeten Schicht am Ende des 19. Jahrhunderts, so etwa S. 141 f., wo er von der Restaurationszeit spricht: „Die ultratheokratische partei suchte, durch das missions- und schulwesen der Peres de la F o i , die o c t r o y i r t e constitutionelle Verfassung zu untergraben. D i e terreur blanche in Südfrankreich erzeugte gräuelscenen, wie sie zur zeit der dragonaden v o r g e k o m men waren. M a n strebte darnach die coursprevotales beizubehalten, und die m a i n m o r t e dem klerus wieder zu vindiciren."

58

D a z u die Zusammenstellung bei H . M o s e r : N e u e r e und neueste Zeit. V o n den 80er J a h r e n des 19. Jahrhunderts zur Gegenwart. I n : Deutsche Wortgeschichte. H r s g . von F . M a u r e r u. F . S t r o h . I I 2 . Berlin 1 9 5 9 , S. 4 4 5 - 5 6 0 , insbes. S. 5 3 6 - 5 3 8 ( „ E l s a ß und D e u t s d i - L o t h r i n g e n " ) . H i e r z u nunmehr zusammenfassend D . M a g e n a u : D i e Besonderheiten der deutschen Schriftsprache im E l s a ß und in Lothringen. M a n n h e i m 1962 ( = D u d e n - B e i t r ä g e . Sonderreihe: D i e Besonderheiten der deutschen Schriftsprache im Ausland. H r s g . von H . Moser. 7.).

182

Rudolf

Freudenberg

Nicht minder aufschlußreich sind die Lehnübersetzungen: Gelegenheitsbücherei (librairie d'occasion); Kriegsverstümmelte (mutilés de guerre); Mutter Vaterland (mère patrie); Vertrauenshaus (maison de confiance); Blumengarbe ,Blumenstrauß' (gerbe de fleurs). Die Isolierung vom deutschen Sprachraum hat aber andererseits auch dazu geführt, daß archaische binnendeutsche Wörter lebendig geblieben sind bzw. schriftsprachlichen Charakter angenommen haben: Rebmann ,Weingärtner'; Tagner ,Taglöhner'; Getüch ,Tuch'; stube; Hochmesse ,Hochamt'; Spezerei- ,Kolonialwaren-'.

Ausschank-

So einleuchtend die Ursachen f ü r eine derartige Konservierung archaischer deutschsprachiger Bezeichnungen sind — bei den Entlehnungen ist im Einzelfall nicht immer ohne weiteres zu entscheiden, ob der Wanderweg über die Oberschicht gegangen ist, ob verbreitete Zweisprachigkeit hier ihren Niederschlag gefunden hat oder ob das Wort Zug um Zug über die Sprachgrenze gewandert ist.

6. Das

Schwäbische

Das Schwäbische — jedenfalls soweit es sich in seiner räumlichen Ausdehnung mit dem einstigen Großherzogtum Württemberg deckt 39 — verfügt über eine Vielzahl sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten, nicht nur in „horizontal"-dialektgeographischer Sicht 60 , sondern auch „vertikal", also sprachsoziologisch. In wie viele „Schichten" dieses Kontinuum von sprachlichen Äußerungen gegliedert wird, hängt weitgehend davon ab, wie viele überindividuelle Sprachformen im Sinne von langue sich empirisch ermitteln lassen, wobei die Bezeichnungen dieser Schichten eine cura posterior darstellen. In jüngster Zeit hat F. Rahn 6 1 59

D e r bayrische A n t e i l des A l e m a n n i s c h e n (Bayrisch-Schwaben) bleibe i m f o l g e n d e n a u s g e k l a m m e r t . Zur Stadtsprache v o n A u g s b u r g : A . Birlinger: D i e A u g s b u r g e r M u n d art. G r u ß an die G e r m a n i s t e n bei der X X I . V e r s a m m l u n g deutscher P h i l o l o g e n z u A u g s b u r g . A u g s b u r g 1862, insbes. S. I I : D i e alte, „ächte" M u n d a r t ist in der p r o testantischen J a k o b e r v o r s t a d t , u n d z w a r v o r n e h m l i c h bei den M e t z g e r n z u H a u s e , w o g e g e n die untere S t a d t , in der die W e b e r ihren S i t z haben, merklich v o m sog. „ S t a u d e n g e b i e t " b e e i n f l u ß t ist. Leider arbeitet Birlinger w e d e r diese U n t e r s c h i e d e noch d e n G e g e n s a t z S t a d t / L a n d heraus. Er k l a m m e r t sogar die mittlere S t a d t aus, w e i l es ihr an „ R e i n h e i t des Blutes" fehle, u n d beschränkt sich ausdrücklich (S. III) auf „die M u n d a r t v o r a l l e m der M e t z g e r " .

" H . Fischer: G e o g r a p h i e der schwäbischen M u n d a r t . M i t e i n e m A t l a s v o n 28 K a r t e n . T ü b i n g e n 1895. D i e k l e i n r ä u m i g e n U n t e r s u c h u n g e n bucht K. B o h n e n b e r g e r : D i e alemannische M u n d a r t . U m g r e n z u n g , I n n e n g l i e d e r u n g u n d K e n n z e i c h n u n g . T ü b i n g e n 1953, S. V I I — X I X , w o z u die E r g ä n z u n g e n in der Bespr. v o n W . H e n z e n (Zeitschr. f. M u n d a r t f o r s c h u n g 2 2 , 1 9 5 4 , S. 235—243) z u stellen sind. 61

D e r schwäbische Mensch u n d seine M u n d a r t . B e i t r ä g e z u m schwäbischen Stuttgart 1 9 6 2 , S. 8.

Problem

Alemannisch

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für das Schwäbische unterhalb der mundartfreien Bühnen- oder Hochsprache fünf Sprachschichten postuliert: I. Grundschicht: Bauernsprache I I . Obere Grundschicht: provinzielle Umgangssprache I I I . Mittlere städtische Sprachschicht: württembergische Umgangssprache I V . Obere städtische Sprachschicht: früher „Honoratiorenschwäbisch" genannt V. Einheitssprache: schwäbisch getöntes Hoch- oder Schriftdeutsch. Aufgabe der Regionalforschung ist es, derartige Schichten gegeneinander abzuheben; für den vorliegenden Zweck mag es genügen, auf den Unterschied zwischen Grundschicht (regionaler Bauerndialekt) und jener für das schwäbische Württemberg so charakteristischen Mittelschicht hinzuweisen. Besonderes Interesse findet dabei eine Stellungnahme H . Fischers, die um so größere Aufmerksamkeit verdient, als sie nicht in die eigentliche Fachliteratur zum Schwäbischen eingegangen ist, sondern nur als briefliche Äußerung von P . Kretschmer veröffentlicht wurde: „Die schwäbische Koiné deckt sich mit keiner der Lokalmundarten. Wenn sie sich am ehesten in dem Westrand, etwa Calw-Pforzheim-MaulbronnHeuchelberg wiederfinden läßt, so ist das nur Zufall. Vielmehr ist die Koiné entstanden (und zwar gewiß schon früh) aus einem Kompromiß zwischen der Schriftsprache und der Mundart der Hauptstadt. Daher früher eine altwürttembergische Koiné, von der sich eine solche der Oberländer und eine der Franken etwa unterscheiden ließ. Die Unterschiede sind heute so ziemlich ausgeglichen, gesiegt hat natürlich die altwürttembergische . . . Die Koiné ist nichts Einheitliches; sie schwankt nach Bildung und Stand, aber auch beim nemlichen Individuum nach Stimmung und Gelegenheit . . . Schriftsprachlich ist: 1. die Tendenz, den geschriebenen Vokalismus wiederzugeben, was aber immerhin durch die mundartliche Färbung tangiert ist; 2. die W a h l s c h r i f t d e u t s c h e r A u s d r ü c k e besonders für höhere und moderne Begriffe. In bezug auf 2 dürfte im ganzen Land Einheit sein . . ." 6 2 . D a ß sprachsoziologische „Zwischenschichten" auch in früheren Jahrhunderten eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben, ist wohl unbestritten 63 ; fraglich bleibt nur, ob gerade das Honoratiorenschwäbisch i n s e i n e r h e u t i g e n G e s t a l t alt ist 64 . 82

P . Kretschmer: Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache. Göttingen 1918, S. 12. Ebd. (S. 12 f.) auch eine ergänzende Stellungnahme von F. Veit (Tübingen), in der ebenfalls auf die lexikalische Einheitlichkeit des Honoratiorenschwäbisch hingewiesen wird.

63

Von solchen landschaftlichen Schriftsprachen weiß die Textphilologie überzeugende Belege beizubringen.

64

Immerhin will V. M. Schirmunski (Deutsche Mundartkunde. Berlin 1962, S. 5 9 1 ) nicht über das 19. Jahrhundert zurückgehen.

184

Rudolf

Freudenberg

Was gegen einen erst in jüngster Zeit eingetretenen Kompromiß zwischen Mundart und Schriftsprache und f ü r eine eigenständig gewachsene Sprachform spricht, sind diejenigen Beispiele (vornehmlich aus dem lexikalischen Bereich), in denen das Honoratiorenschwäbisch g e g e n Mundart wie Schriftsprache steht. P. Kretschmer hat nach Hinweisen H. Fischers einige Fälle dieser Art zusammengestellt 65 : Gebildetensprache

Mundart und Schriftsprache

Schmetterling

Falter

Dreck

Kot

lernen (,docere')

lehren

herunter, hinunter

herab, hinab

Februar

Hornung

schimpfen

schelten.

Fügt man noch entsprechende Lauterscheinungen hinzu 66 , so erweist sich das Honoratiorenschwäbisch als eine Sprachform sui generis, die einer „sekundären Gruppe" im oben umschriebenen Sinn angehört und die somit zwar ihrer sozialen Schichtung, nicht aber ihrer sozialen Struktur nach von Jargonformen wie dem Hösch oder dem Mattenenglisch zu trennen ist. Wer Mundart und Hochsprache einer Landschaft kennt, kennt also nicht zwangsläufig die Sprache a l l e r sozialen Sekundärgruppen. Hierin liegt die innere Berechtigung von Atlanten der Umgangssprache, wie sie in letzter Zeit geplant wurden.

65

P . Kretsdimer, a. a. O . , S. 3 6 u. 6 0 6 .

•• V e r f . glaubt ( P r o c . V . Intern. C o n g r . . . ., S. 3 0 5 u. K a r t e 4 ) , auch die schwäbische Entsprechung seht für mhd. ? + t e t w a in Samstag, Obst und feißt ,fett' als mittelschichtliche Sonderentwicklung g e g e n M u n d a r t wie Schriftsprache ansprechen zu können. — Aus dem Bereich der Wortbildung sei noch an die F o r m a l - D i m i n u t i v a erinnert; soweit sich überblicken läßt, überlassen M u n d a r t wie Schriftsprache diese „schwäbischen H e r z t ö n e " der halbmundartlichen Zwischenschicht.

WALTHER

MITZKA

Bairisch (Bayerisch-Österreichisch) I. Der Staat und die

Wortgeographie

Das Bairische ist das Sprachgebiet mit München, Nürnberg und Wien. Bayerisch gilt vom Staate Bayern, altbayerisch ist die Sprache von Ober- und Niederbayern. Die Einteilung des Bairischen erfolgte zunächst lange Zeit und von vornherein mit lautgeographischer Motivierung. Die Wortgeographie galt im gesamtdeutschen Gebiet zunächst als ungeeignet für solche Untergliederung. Doch bestärkt sie sehr oft das Unternehmen lautgeographischer Gliederung. Auch zur Feststellung von Siedelbewegung in alter und neuer Zeit erweist sie sich vielfach als grundlegend. Auch für unser besonderes Anliegen der Wortsoziologie erscheint sie vielfach und weitgehend als zuverlässiges philologisches Forschungsmittel. Das Bairische gliedert sich lautgeographisch in Nordbairisch (Oberpfalz, nördliches Niederbayern); Mittelbairisch (Ober- und Niederbayern, Ober- und Niederösterreich, Burgenland). Diese breite Mitte ist gesellschaftlich durch alle Schichten hindurch die fortschrittlichste Sprachlandschaft. Das Südbairische reicht vom Nordrand im Lande Salzburg, in Tirol und in der Steiermark bis an die Südgrenze überhaupt. Das Mittelbairische wird auch noch in eine Nord- und Südhälfte, die jeweils den Übergang zum Nord- oder zum Südflügel bedeuten können, geteilt. Das Mittelbairische nimmt das Flachland der Mitte an der Isar-Donaustraße ein. In der Sprachgeschichte folgt das Nordbairische jener neuerungsfreudigen Mitte meistens willig nach, das Südbairische zögernd oder in der Schutzlage der Alpen oft gar nicht. Dort liegen altertümliche Tallandschaften, aber besonders konservativ und auch für unsere Frage interessant sind die der geschlossenen Sprachfläche nach Süden vorgelagerten hochaltertümlichen Inseln aus der Zeit vom 11. bis 13. Jh.: Von den Sieben Gemeinden, den Dreizehn Gemeinden über Pladen, Zahre, Zarz bis zur Gottschee. Für die staatlichen oder sonstigen landschaftlichen Flächen können wir manche entsprechende Wortflächen aus letzter Forschung nennen. Den Staat Bayern und den Staat Österreich füllt das Wort pelzen mit seinen Varianten aus1. Es stammt aus mittellat. *(im)peltare 1

Deutscher Wortatlas (WA), Bd. 14, dazu Hilde Schuchardt, Die Wanderbahnen in der deutschen Synonymik von „veredeln". Diss. (masch.). Marburg 1948; dieselbe, Wanderbahnen in der Wortgeographie von „veredeln". In: ZMF 20, 1952, S. 8—23.

186

Walther Mitzka

zu pelta ,Schild', hier also der schildförmige Ausschnitt aus der Rinde mit der Veredlungsknospe. Es reicht an den Rändern etwas hinunter bis ins Schwäbische bis vor Ellwangen, so auch ins Vogtland bis dicht vor Plauen. Die schwäbischfränkische Grenzzone ist bayerisches Staatsgebiet. Es ist also ein Berufswort, hervorgegangen aus der Fachsprache der Gärtner, ehedem der Mönche als Klostergärtner. Österreich als Habsburger Land vor 1918 wird ausgefüllt, und zwar haarscharf bis zur Landesgrenze gegen Bayern, überhaupt das Deutsche Reich, im Norden also auf dem K a m m des Erzgebirges und weiter der Sudeten durch ein sehr junges Wort mit sehr junger, erst in unserer älteren lebenden Generation vertraut gewordener Sache, nämlich Paradeisapfel, Paradeiser, abgekürzt Paradeis und gegen das schriftdeutsche und weithin umgangssprachliche Indianerwort Tomate 2 . Das sind Marktwörter, zuerst in der Oberschicht mitsamt der aus südlicheren Strichen eingeführten Frucht. In Bayern, Österreich, teilweise Württemberg ist man 130 Jahre vorher mit der Frucht, in engerer Nachbarschaft zu Italien, bekanntgeworden. Aber in der botanischen Literatur ist nur davon die Rede, daß man sie in Welschland genießt, mit Pfeffer, ö l und Essig. Sonst wird sie als Zierpflanze in Garten und Haus gezüchtet, allerdings werden die Früchte f ü r schädlich und giftig gehalten, jedenfalls habe die ganze Pflanze einen widerlichen Geruch. Noch 1841 stellt Oken in seiner „Allgemeinen N a t u r geschichte" fest: bei uns nur als Zierpflanze. In rohem Zustand hat jene Oberschicht, wie wir es miterlebten, allerdings zögernd, auch dortzulande nun den Verzehr gewagt. Von weit außerhalb berichten wir hierzu beiläufig aus den Antworten zum Deutschen Wortatlas von 1939, daß sich die Knechte damit bewarfen, aber die Tomaten nicht aßen. Zum Erstaunen der Gärtner und von uns allen überhaupt erwies sich der Anbau dieser ehedem nur in außerdeutscher Südlandschaft kultivierten Tomate auf deutscher Sprachfläche überall f ü r nicht nur möglich, er wird heute sogar vom Schrebergärtner überall gern betrieben. Die Wortbildungen mit Paradies meinen zunächst rotbäckige Apfelsorten, so in der Schweiz. Für den Anfang des 19. Jahrhunderts ist das Wort Tomate in Österreich nicht nur unüblich, sondern oft unverständlich 3 . Gebräuchlich sind Paradeisapfel, Paradeis, Paradeiser. Außerhalb ist Paradiesäpfel verstreut bezeugt, nur gelegentlich in Flächen, wie die Wortatlaskarte f ü r 1939 bezeugt. Bayern und Österreich nennen unter Mitwirkung polizeilicher Vorschriften alter und neuer Zeit den Schornstein (niederdeutscher Herkunft), zugleich im Zuge von Steinbau und oberschichtlicher Technik: Kamin in Bayern und Rauch fang in Österreich, was in das vor 1763 österreichische Preußisch-Schlesien hineinreicht. Rauchfang erscheint offenbar mit der Erfindung des steinernen Rauchabzugs im 13. Jahrhundert, und zwar wohl von Wien her, wo er schon ;

W A 1 1 ; B . M a r t i n , Die Namengebung einiger aus Amerika eingeführter K u l t u r pflanzen (Kartoffel, Topinambur, Mais, Tomate). I n : D t . Wortforschung in europäischen Bezügen Bd. 2, hrsg. von L. E. Schmitt. Gießen 1963, S. 139 ff. 1 P. Kretschmer, Wortgeographie der deutschen Umgangssprache, S. 531.

Bairisch

187

1373 genannt wird 4 . Er hat die Lie, die im Salzburger Rauchstubengebiet galt und im Stadthaus Kärntens noch im 14. Jahrhundert urkundlich bezeugt ist, und den vorher in ganz Österreich urkundlichen Kamin verdrängt, was sich bis heute verstreut dort noch gehalten hat. Für das Bauernhaus ist er seit dem 15. Jahrhundert nachgewiesen. Zur bayerischen Grenze schließt Dübel (Diwö) ,Beule' von der breiten Mitte mit Wien auf; gegen bayerisches Bingel, das in Österreich nur am N o r d r a n d e bis vor Budweis und im Süden in der Steiermark jenen Dübelformen begegnet. Eine lange Reihe von bairischen Leitwörtern solcher Art f ü h r t E. Kranzmayer, Die bairischen Kennwörter und ihre Geschichte, Wien 1960, auf. Er teilt sie in drei Altersgruppen ein. Bei den ältesten ist der Verlust, verglichen mit historischen Belegen seit althochdeutscher Zeit, am stärksten, da f ü r diese Gruppe die überlandschaftliche Vereinheitlichung am längsten wirkt. D a ist doch erstaunlich, wie bisher solche Wochentagsnamen wie Ergetag ,Dienstag' mitsamt seinen Lautformen und der ebenfalls aus dem Griechischen über die Mission der Völkerwanderungszeit hereingeholte Pfinztag, daraus Pfingsttag und noch andere Variationen für den Donnerstag durchgehalten haben. Der Ergetag ist zunächst der Tag des Ares, dann im Arianismus auf den später zum Ketzer erklärten Arius umgedeutet. Pfinztag gehört zur Zahl Fünf im Griechischen, ist der 5. Tag der Woche. So alt ist auch das bair. tengg ,links'. Kranzmayer erklärt die Etymologie: Es ist verwandt mit ,Dank, denken', vorauszusetzen ist langobard. *thanku\ bezeugt ist altnord. thekkr, ,angenehm, lieblich'. In verschiedenen indogermanischen Sprachen ist altheidnisch die linke Seite = die gute. In Rom wird sie nach orientalischem und dann nach christlichem Vorbild die schlechte. Unter Hinweis auf venezian. zanco ,links' entscheidet sich Kranzmayer f ü r langobardischen Import. Diesen setzt er überhaupt f ü r die schon lange erörterten kirchlichen Lehnwörter aus dem Griechischen wie jene beiden Wochentage gegenüber der Forschung, die einen Einzug über die Mission der Donau-Achse von Ost nach West erörtert, voraus. Auch f ü r das österreichische amtliche, also seit ältester Zeit oberschichtliche Wort (eigentlich nur Lautform) f ü r den Zoll Maut, f ü r dessen unverschobene Form (alem. Mueße) an eine gotische Zollstation an der Donau gedacht war. Benachbartes italienisches müde f ü h r t K. in ansprechender Weise als Beweis f ü r die Herkunft aus dem Langobardischen an. Für solch altes Lehngut ist die Alpenstraße von Aquileia über Salzburg, wenn man alemannische Gemeinsamkeit, also alemannisch-bairische Kennwörter oder nur alemannische wie Schoß ,Schürze' einrechnet, dann noch die Straße Mailand—Pavia—Konstanz zu nennen. Die ehemaligen Duale eß ,ihr', enk ,eudi' sind jetzt gesamtbairische Kennwörter, doch ist der Übergang von ,ihr' und ,euch' zu diesen wohl zuerst in Wien als Plurale behandelten am Außenrand in den altertümlichen Sprachinseln nicht erfolgt. Sie erhalten also den alten Zustand. Auch meldet der Sprachatlas 4

G. Schilling, Die Bezeichnung f ü r den Rauchabzug im deutschen Sprachgebiet. Beiträge zur dt. Philologie 31. Gießen 1963, S. 40 ff.

5

WA 5; Reiffenstein S. 75, ygl. Anm. 7.

188

Walther Mitzka

diese Duale ausgerechnet im Ruhrgebiet, gewiß in bäuerlicher Alterssprache gesichert auf der Karte .euch* (1877) und unverschoben it ,ihr', beide ebenfalls als Plurale gebraucht, auch in Grammatiken von dort. Diese bairischen Kennwörter stammen also nicht aus ältester Zeit. Alt ist offenbar Pjait ,Hemd', was wohl auch zu den kirchlichen Lehnwörtern, denken wir an das Priestergewand, gehört; aus got. paida (ags. päd, as. peda, altnordisches Lehnwort in finn. paita). In solcher Weise junges Lehnwort ist auch Kirchtag f ü r die .Kirchweih' und Fasching (aus Fasten + Gang, altnord. fastugangr). Kranzmayer ordnet diese Volkswörter in die Gruppe „Kulturwörter" in die Wortsoziologie ein (S. 10. „wie ich sie nennen möchte"), überhaupt Wortbiologie 8 . E r nennt noch, aber wegen zu wenig bezeugter Belege außerhalb von Bayern, nicht weiter als Kennwort beansprucht: bair. Bercht ,weibliche Brauchtumsgestalt um Weihnachten'; hussen .küssen'; Buss, Busslein ,Kuß' und rechnet überhaupt mit ungefähr 80 Kennwörtern. N u n gehören manche in die Gruppe von Reliktwörtern und Reliktflächen, hier also bairische Reliktlandschaft erst, nachdem sie aus einer sehr viel weiteren, womöglich gesamtdeutschen Wortfläche allmählich in einem Rückzugsgebiet, hier der so oft konservativen bairischen Sprachlandschaft aufgenommen und erhalten sind. Das ist einmal Obse ,luftige Laube, Hausflur', im Gotischen bezeugt und in Salzburger Mundart in Lautvarianten wie Ose, in Oberösterreich mit angrenzendem Niederösterreich Öse erhalten, allerdings mit der Sonderbedeutung Heustapel = Heubansen. Das andere ist, allerdings auch im Alemannischen vorkommende Lie, Lee ,windgeschützte Stelle, Rauchluke'. Es ist gesamtdeutsch aus der niederdeutschen Seemannssprache als Lee ,windgeschützte Seite des Schiffes oder der Insel' wohlvertraut. Einen aufregenden Wortroman bietet Kranzmayer mit Göti ,Pate', Gote ,Patin'. Die an den R a n d gedrängten, wohl zunächst kindersprachlichen Toti und Tote sind von schweizerischem Göti und Gote (zu kirchlichem Gottvater = pater in deo), die er dem aus der Schweiz nach Wien (1278) übersiedelnden Rudolf von Habsburg und seinem H o f e zuschreibt. Vorher hielt der Böhmenkönig O t t o k a r in Wien H o f . Im Wiener Transportwesen gibt es um 1300 Ainzwägen, Ainzschlitten, f ü r ,Wagen' und ,Schlitten'. Dies wiederum wird diesem H e r r scher slawischer H e r k u n f t zugeschrieben: die Gabeldeichsel, mundartlich Stange, wird von Ainetze, Änze, Anze (aus dem Tschechischen), also wieder von Wien aus verbreitet. Das beharrsame ö t z t a l hat zu jenem Vorgänger Stange noch das Kollektiv Gestenge. Der T y p Anze meist verstreut und nur hier und da in 6

Ilse Schultmayer, Die Mundart von St. Leonhard am Hornwald im westlichen Waldviertel (N. ö . ) . Diss. Wien (masch.) 1961: Die Sprachbiologie der Wiener Schule unter E. Kranzmayer untersucht die Triebkräfte für die Veränderungen einer Mundart im Generationswechsel und innerhalb verschiedener Räume und Gesellschaftsschichten.

7

E. Kranzmayer, Die südostdeutschen Namen des Hausflurs. In: Bayerisch-südostdeutsche Hefte für Volkskunde 13. 1940, S. 67; I. Reiffenstein, Salzburgische Dialektgeographie. Die südmittelbairisdien Mundarten zwischen Inn und Enns. Gießen 1955, S. 77 = Beiträge zur dt. Philologie 4.

Bairisch

189

Fläche für .Gabeldeichsel' reicht als Enze nach Nordschwaben hinüber, als Ampze u. ä. nach Tirol. Es läuft bei Olmütz aus mit dim. Ansl%. Wie schon Maut ein Rechtswort ist, so auch altbayer.-salzb. Dult (der staatlich angeordnete und beaufsichtigte) J a h r m a r k t ' , was aber im Mittelalter gemeinbairisch gewesen sein muß und auch alemannisch. Stammen diese zwei Rechtswörter aus der Oberschicht, so ist das wie Dult ehemals und zuletzt wortgeographisch gelagerte Wagens Pflugschar' bäuerlich, doch kann da wieder die vom Staate gerade dem Nährstand empfohlene und von ihm subventionierte neue Technik die soziologische Herkunft bezeichnen. Nur in der Osthälfte des österreichischen Alpenlandes gibt es die Einrichtung der privilegierten Wehrbauern, wofür der Rechtsausdruck Edling mit seinen Mundartformen gilt. Da dort ehemals Ostgermanen wohnten, wird wie zu jenen ältesten Lehnwörtern überhaupt von der Forschung an ostgermanische Herkunft gedacht, wogegen wir mit Kranzmayer an langobardische Ausgangslandschaft denken. Zu einer neuen Hypothese anderer, daß Lehnwörter, die auch der skandinavische Norden bewahrt hat, wie ost ,(Ziegen-)Käse', anord. öst = nur in den ältesten südbairischen Sprachinseln als ista(r)-Käse ,ungesalzener Käse' erhalten, auf der Nord-Südstraße nach Süden getragen seien und dort im Süden im Gotischen die Ausstrahlungsfläche gefunden hatten, erklärt Kranzmayer: höchstens umgekehrt können einige gotische Kirchenwörter den Norden über diese Straße wie Göti, Pfait, Kirche erreicht haben. Vom langobardischen Kulturkreis ist ja schon das erste deutsche Buch, der Abrogans von c. 765 in Freising, durch den in Mais bei Bozen geborenen Erzbischof angeregt worden. Kranzmayer kehrt auch gegen die Hypothese, daß die bayerische Urheimat nicht in Böhmen, sondern weiter östlich gelegen hätte, auf Grund gerade der Geographie und Geschichte der bairischen Kennwörter zu der bewährten These von der böhmischen Urheimat zurück: dies Markomannenland heißt Baihaimium, und die Baiern sind als westgermanische "'Baiawari das Volk aus Böhmen. Bairische Form zeigt Anterer ,männliche Ente' 9 , das den gesamten bairischen Sprachraum beherrscht, ausgenommen die Ränder, die aber auf bayerischem Gebiet Anterer aufweisen. Es reicht bis in den Osten des Ostfränkischen, das bei der Bildung des Nordbairischen beteiligt ist. An den Rändern hat sich Anter gehalten, daraus das bair. Anterer mit typisch bayerischem Suffix 10 . Ebenso verhält sich Katerer .männliche Katze' 1 1 . Der Frosch kann Begera, Brozera, Heppera genannt sein 11 . 8

Ursula Hütte, Wortgeographie v o n Deichsel und Gabeldeichsel. Diss. (masch.). M a r burg 1 9 4 7 .

9

Reinhildis Wiepen, Die siedlungsgeschichtlichen Grundlagen der S y n o n y m i k der männlichen Ente. Diss. (masch.) M a r b u r g 1 9 5 2 .

10

W . H e n z e n , Deutsche W o r t b i l d u n g § 9 8 : Wuchersuffix.

11

Ursula Wiepen, D e r Frosch. Diss. (masch.) M a r b u r g 1 9 4 5 .

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Walther

Mitzka

Umstritten ist die Wortgeschichte des bairischen Typs Kranewit ,Wacholder' mit seinen ungeheuerlich verformten Varianten 1 2 . Uber die Jägersprache ist Krammtsvogel ins Gesamtdeutsche und von da aus ins Skandinavische gelangt. Das ist oberschichtliche Wortgeographie, indem die Jägersprache mitsamt der Jägerei Herrensprache und Sache reicher Leute geworden ist. Zu verwerfen sind die Versuche, den Kranich als Liebhaber der Wacholderbeeren zu beanspruchen: er ist ja dort nicht heimisch. U n d zur Krähe paßt keine Lautform; f ü r ein hypothetisches Wort Kran ,ein Kollektiv für gewisse Nadelhölzer' mitsamt den Tiroler Ortsnamen Kronberg, Kranberg vermißt die Kritik Belege aller Zeiten. Schon der Formenreichtum in althochdeutscher Zeit ist groß, alle Belege gehören ins Bairische. Der T y p Kranewit grenzt zum Alemannischen sehr stark ab. In der Sprachinsel Iglau ist aus dem Nordbairischen der T y p Kronewit(n) hereingeholt worden. In Mähren treffen sich bairische Siedlung bis in das Altvatergebirge und das Gesenke mit schlesisch-sudetenschlesisch Kron(d)elbeer, im Schönhengst Kru(n)delpeer (dort gegen ostfränk. Wochtbaum). Nach 1918 ist der Osten des Nordbairischen und der N o r d e n des Mittelbairischen durch eine Staatsgrenze abgetrennt. Uber sie reicht die bairische Wortgeographie hinüber, wie aus der amtlichen Forstsprache Föhre gegen Kiefer, dort auch schriftsprachlich Stadel gegen Scheune13 hervorgeht. Zwischen Mundart und Hochsprache zeigt die Umgangssprache einen Wortschatz aus beiden Sprachkreisen 14 . Die Oberschicht vertreten in Böhmen-Mähren Advokat; in Österreich Advokat, Rechtsanwalt-, im Reichsgebiet Rechtsanwalt. Trafik ,Tabaksladen' war von Österreich amtlich privilegiert und auch in Böhmen-Mähren gültig, ist also wortgeographisch wie Paradeis usw. vom Habsburger deutschsprachigen Bereich bis zum ersten Weltkrieg bestimmt. Die Umgangssprache und ihre Wortgeographie beansprucht typischerweise große Flächen. Oberdeutsch-mitteldeutschen Gegensatz vertreten alle Sprachschichten. Germ: Hefe, Pferd der sudetendeutschen Umgangssprache (Beranek 1967, Karte 4) füllt den ganzen Raum dort aus. Dies gehört mitsamt der Hochsprache zu dem dortigen Gebrauch des Wortes f ü r herrschaftliche Pferde in Stadt und Land. Der kleine Mann nennt es Roß, vor allem der Bauer spricht von und zu seinen Rössern. U n d dies ehemals gesamtdeutche Wort hat sich nach Ausweis des Deutschen Sprachatlasses auf oberdeutsches Gebiet zurüdkgezogen, vor allem in der M u n d a r t bewahrt. So verteilt sind auch im gesamtdeutschen Raum nördliches Treppe, südliches Stiege(n), schmoren gegen dünsten. In ganz Böhmen und Mähren steht mit Eichkatzel gegen obersächs.-schriftdeutsches Eichhörnchen, das in Preußisch-Schlesien aus der österreichischen Zeit mitsamt der 12

Lotte Medenwald, Die Worttypen von Wacholder in ihren Verhältnissen zur deutschen Mundartgliederung. Diss. (masch.) Marburg 1942.

13

E. Schwarz, Sudetendeutscher Sprachatlas, Bd. 1—3. München 1954—1958.

14

F. J. Beranek, Sudetendeutsche Umgangssprache. In: Stifter-Jahrbuch IV. München 1955; ders. Die sudetendeutsche Umgangssprache. In: Verhandlungen des II. Internationalen Dialektologenkongresses in Marburg, Bd. I, S. 71 f. Wiesbaden 1967.

Bairisch

191

dorthin hereingeholten Verkleinerungsendung -el zu Eichhörnel geworden ist; das ganze Bairische mit Lungenbraten gegen bayerische Lende, obersächs. Lende(nbraten), schles. Filet(braten); aus der Schule die Buchstabennamen Je, Que gegen Jot, Ku; Parte(nzettel) gegen altreichsländisch Todesanzeigen-, aus der Kinder- und Bäckersprache Indianerkrapfen gegen Mohrenkopf. Keine reichsländischen Entsprechungen haben mitsamt den höchstens dorthin ausgeführten Dingen der Quargel, die Buchtel, österr. Wuchtel und die Nockerln. Der Quargel ist österreichisch-sudetenländische Spezialität, und zwar eine zunächst im mährischen Olmütz erzeugte würzige Käsesorte. Zum Indianerkrapfen haben im Nordrand Böhmens gewiß wieder die Kinder die Mischform Mohrenkrapfen gebildet. Sonst suchen wir den Ausgang, so für Parte(nzettel) und jene Buchstabennamen in Wien. Die Nockerln sind wahrscheinlich von da aus auch bayerisch geworden. Als mährisches Sprachgut wurde sogar die Schinke von Wien gegenüber sonstigem Schinken übernommen (Beranek 1955, Karte 23). Übrigens ist auch der Nudelwalger eine Wiener Erfindung, also die Holzwalze für solche Teigwaren 15 . Komplizierter ist die Wortgeographie zu obersächs. Drehorgel: Nordhälfte mit Schlesien Leierkasten, sudetenschles. mit Schönhengst auch Leier, bayerisch Drehorgel-, Südhälfte Werkel. Der Wirsingkohl heißt in der Westhälfte Kapuste, in der Osthälfte Kohl, bayer. Wirsching, obersächs. Wirsching, Welschkraut, Kohl-, schles. Welschkraut, Kohl.

II. Worträume 1. Die strömende Mitte: Das

und

Lautgeographie

Mittelbairische

Der donau-bairische Sprachraum zeigt schon lautgeographisch an der Achse des großen Stromes eine hin und her pulsierende Bewegung, die seitlich nach Norden bis nach Böhmen hinein und südlich bis weit in das Gebirge ausgreifen kann. Vorgeschoben als Reste von ehemals größeren Flächen16 sind die Bauernsiedlungen um Brünn und Wischau. Um dieselbe Zeit, nämlich im 13. Jahrhundert, wird in Nordungarn die Sprachinsel von Deutsch-Pilsen gegründet. Sie ist besonders altertümlich, da hier in allen Zeiten ein städtischer Ausstrahlungspunkt fehlt. Von Bayern bis nach Österreich bis an die ungarische Grenze rückt die Lautgeographie, und wie wir hier wieder nur an wenigen Beispielen belegen können, der Wortschatz mit altem Erbe oder neuen Schöpfungen in den breiten Ufersäumen von Isar und Donau hin und her. Vor allem ist es die Dynamik von Wien, die zunächst den donau-bairischen Sprachraum bestimmt17. Von dieser alten Residenz und Handelsmetropole her kommen dort Dienstag und Donnerstag für die aus dem Griechischen stammenden Kirchen15

Kranzmayer, Kennwörter S. 14.

16

E. Schwarz, Sudetendeutscher Wortatlas I—III, München 1954—58.

17

F. Freitag, M u n d a r t und Volkstum in Niederdonau. 1954.

192

Walther Mitzka

Wörter Ergetag und Pfinztag zur Geltung. Das alte Erbwort Har weicht vor Flachs zurück. Am weitesten nach Osten über die untere Enns reicht nachher im Sinne von ,dann'. Von Osten her reicht bis dorthin das alte Wort aft, aften. Wie so oft in der Lautgeographie, so zeigt sich hier in der Grenzzone, die an der Enns nach Westen Altsiedelgebiet, nach Osten hin das allerdings schon seit 800 nach dem Siege Karls des Großen über die Awaren deutsch besiedelte Neuland, trennt ein Mischgebiet mit aften danach. Da läuft ja auch keine Staatsgrenze, die für einheitliche Entmischung hüben und drüben sorgen würde. Die Umgangssprache zeigt auf der Wortkarte Mädchen eine Bedeutungsverschlechterung von Mensch18 von der Oberschicht her. Das hd. heiser drängt kriglig von Wien her zurück18. In dieser Stoßrichtung verteilen sich in der Bauernsprache misten: tungen (= düngen ohne Umlaut). Im donau-bairischen Kernland Oberösterreichs sitzt in fruchtbarer Gegend im Weinviertel, auf dem Marchfeld und im Wiener Becken ein wirtschaftlich stolzes Bauernvolk. Diese Gruppe geht natürlich als erste und am intensivsten zur neuen Technik über. So ist nach der Wortkarte der alte Häufelpflug, der Arl mit zwei Moltbrettern: Ol, Odl ist in den entlegeneren und ärmeren Norden abgedrängt; so Odl und Orl in den Süden. Das Ackerunkraut, die Schafgarbe, heißt im Norden Gachelkraut, im Süden Gochl. Die Preißelbeere ist ja eine beliebte Marktware. Sie ist von München her mit diesem nun hochdeutsch gewordenen Namen bekanntgeworden. Im Waldviertel und Zwettl gilt noch der alte Name Grankerl, mit der alten Wiener Endung20. Der Nordrand von Oberösterreich mit dem Landl und seinem Landlerischen21 hat nur wenige und kleine Städte, ist überhaupt von der Verkehrssprache kaum beeinflußt. Nur der Osten schließt sich mundartlich dem modernen Niederösterreich an. Die Forschung stellt lautgeographisch einen oberösterreichisch-salzburgischen Beharrungsstreifen fest. Aus der breiten Mitte übernimmt über das Salzburger Land die bayerische Nachbarschaft bis zum Chiemsee Sonnwendkäferl ,Glühwürmchen'22. 2. Der beharrende

Norden:

Das

Nordbairische

Lautgeographisch ist es das Land nördlich der Donau bis in die Gegend von Nürnberg, Egerland und Vogtland. In das Innere Böhmens vorgeschoben ist die Sprachinsel Iglau, auch von Bergleuten schon im 12. Jahrhundert gegründet worden. Diese ringsum seither isolierte Sprachinsel hat manch eigentümliches 18

F. Freitag, a. a. O., S. 4 4 ; im gesamtdeutschen Raum W A 4.

19

F. Freitag, a. a. O., S. 2 5 ; W A 20.

20

B. Peters, Onomasiologie u. Semasiologie der Preißelbeere. Marburg 1967 = Marburger Beiträge zur Germanistik 10, hrsg. J . K u n z u. L . E . S c h m i t t , S. 64, eigene Etymologie.

21

Maria Hornung und F. Roitinger, Unsere Mundarten. Eine dialektgeographische Wanderung durch Österreich. Wien 1950.

22

W A 3 ; Paula Ahlemeyer, Deutscher Wortatlas: Das Glühwürmdien. Diss, (masch.) Marburg 1943.

Bairisch

193

Wort 23 : Rebenbeerlein ,Brombeere', Nuscbe ,Buckelkorb', Nurpel ,Eber', Gelber ,Pfifferling', Sauerlond ,Sauerampfer', By ,Stier', altes Haupt ,Kopf' in Hauptwehtag ,Kopfweh'. Für das Egerland meldet das österreichische Wörterbuch I S. 225 der Arte ,Großvater', was in den Mundarten auf das Egerland beschränkt ist gegen sonstiges der Änel, Enel, Eni, Enk24. Das schriftsprachliche Wort Stirn ist der österreichischen Mundart größtenteils fremd 25 . Dafür gilt Hirn, das nur im Egerland in der Bedeutung ,Stirn' unbekannt ist. Stirn wird an den großen Eisenbahnstrecken oder von Industrieorten her in die ländliche Umgebung übernommen. Im Westen und von da aus in der alten südbairischen Sprachinsel Zarz 26 ist aus germanischem Wortschatz das Enne erhalten, aus ahd. andi, endi ,Stirn' urverwandt mit lat. antiae ,Stirnhaare'. Das Nordbairische läuft im Oberpfälzischen, wo es sich mit dem Ostfränkischen trifft, in der Weise aus, daß manche bairische Merkmale nicht mehr dorthin gelangt sind. Wo im Bezirksamt Cham das Oberpfälzische mit Moidl .Mädchen' angrenzt, fängt in Katzbach das bair. Deanl an. Im Streit um die Wertung der Mundarten gilt bei den Leuten im Amte Cham wie im angrenzenden Böhmen das Bairische für feiner. Es wird bis herab zu den Heuselleuten (Häusler) gesprochen. Der Gemeindearme geht in die Umzäich, d. h. er ißt jeden Tag bei einem anderen Bauern; er wohnt im Leiddumshäusl, das anscheinend amtlich mit Ausnahmshaus erklärt wird 27 . Im Böhmerwalde grenzen im einfachen Haushalt oberpfälzisch Dipfl und bairisch Hefa, also md. ,Topf': obd. ,Hafen' 28 . Die .Stecknadel' ist dort aus einem großen Hinterlande die Glufe29. Das Nordbairische zeigt vielfach ostfränkisches Erbe. In diese Gemeinschaft, dazu aber auch ins Bairische bis nach Wien, führt der erste Mundartgeograph Konrad von Megenberg, der mit Wortbelegen die Sprachunterschiede landauf, landab aus eigenem Erleben in der ersten deutschen Naturkunde, seinem „Buch der Natur" nennt. Er nennt offenbar für bayerisches Publikum Ausdrücke anderer Landschaften. Der 1309 geborene Verfasser stammt aus dem heutigen Mäbenberg südlich von Nürnberg 30 . Konrad studierte in Erfurt, dann in Paris. 23

F. Debus, D i e deutschen Bezeichnungen für die Heiratsverwandtschaft. Gießen 1958, Karte 18.

24

E. Schwarz, Sudetendeutscher Wortatlas a. a. O.; W A 3 K o p f w e h ; W A 10 Rembierla; Lotte Wienesen, D i e Brombeere. Untersuchungen zum Deutschen Wortatlas. Gießen 1952, S. 64 = Gießener Beiträge zur deutschen Philologie 98.

25

A. Pfalz, Dialektgeographische Proben. In: X I I . Bericht der Akademie der Wissenschaften in Wien 1924, S. 18.

26

Vgl. Anm. 73.

27

J. Brunner, Heimatbuch des bayerischen Bezirksamtes Cham, München o. J., S. 133 ff. Heimatstudien, Sonderbeigaben z. d. Bayerischen H e f t e n f. Volkskunde II.

28

W A 8.

29

Karte ,Stecknadel' W A 4.

30

H . Steger, Konrad v o n Megenberg und die Sprache des Nürnberger Raumes im 14. Jahrhundert (mit Karten in: Z. dt. Ph. 82. 1963, S. 63 f.). Nicht nach älterer Meinung (so Mitzka) aus Mainberg bei Schweinfurt.

13

M i t z k a , Wortgeographie

194

Walther

Mitzka

Er lebte dann jahrelang in Wien u n d zuletzt in Regensburg. Sein Buch schrieb er um 1340. Sein Wortschatz mischt nordbairisches, ostfränkisches u n d schwäbisches Gut, was zur Gegend südlich von N ü r n b e r g stimmen k a n n . Er nennt den W a cholder einmal kranewitpoum u n d dreimal ostfränkisch wechalter. Das erste stimmt mit bairisch kranewit zu seinen Aufenthaltsorten Regensburg u n d Wien. Den Maulwurf nennt er scher u n d maulwerj. Das erste ist heute oberdeutsches K e n n w o r t überhaupt 3 1 . D a s ebenfalls weithin geltende idrucken ,wiederkäuen'® 2 f ü h r t in die Regensburger Gegend mit K o n r a d s hindrucken. D o r t ist auch sein haberschreck ,Heuschrecke' zu Hause, das er neben häuschreck a n f ü h r t . Zu Mäbenberg passen auch die großen oberdeutschen Flächen mit Wehtag ,Schmerz' u n d Holler , H o l u n d e r ' , was er neben dem großflächig benachbarten Holder a n f ü h r t . D a s Bauern- u n d V i e h h ä n d l e r w o r t varchmuoter = värhermuoter p a ß t in der W o r t b i l d u n g zu einer kleinen Fläche um Mäbenberg 3 3 mit Schweinemutter. Das ,Kinn' ist im Südosten der Steiermark u n d im anschließenden Süden des Burgenlandes das Mindel, u r v e r w a n d t mit lat. mentum ,Kinn'. Sonst gilt das alte, allerdings auch zurückweichende W o r t die Keue34. I m bayerisch-tirolischen G r e n z r a u m dringt das Salzburgische 35 gegen das meist überlegene Bayerische bis zum Chiemsee und weiter vor, wie das A d v e r b fredi ,geradewegs, unversehens' = ,frisch'; so auch das Brauchtumswort ehren in der Bedeutung ,Hochzeitsgeschenke übergeben'. Salzburgisch-tirolische Gemeinsamkeiten werden durch M u n d a r t g r e n z e n als rein bäuerliche „ K u l t u r l a n d schaft" mitsamt der Brauchtumsgeographie umrissen. Ein tirolisch-bayerisches W o r t ist Rem .Heuboden, Scheune, Bühne', von H a l l in Tirol bis Wasserburg am I n n u n d in den Pinzgau reichend. Von N o r d o s t t i r o l reicht das W o r t Hindling ,Bohrer' bis in den Chiemgau. In besonderer Lautentwicklung entstehen im bayerisch-tirolischen I n n t a l Juchtn ,Molke = Jutte', Schichtum ,Totenläuten' = Schiedung. Das L a n d Salzburg hat mit Oberösterreich manches altertümliche W o r t gemeinsam. Von den salzburgischen Tälern im Gebirge, nämlich Pongau, Pinzgau, Lungau sind die südbayerischen hochaltertümlichen A l t m u n d a r t e n der Sprachinseln des Südens ausgegangen. Ü b e r h a u p t zeigt das Salzburgische auch als beharrsame M u n d a r t Züge des Südbairischen. Salzburg ist ehemals das in 31

WA 3; Hildegard Köhler, Der Maulwurf (Deutscher Wortatlas). Diss. (masch.) Marburg 1944.

32

Walter Neubauer, Deformation isolierter Bezeichnungen. .Wiederkäuen' in deutscher Wortgeographie. In: Dt. Wortgeschichte Bd. 1, hrsg. L.E.Schmitt. Gießen 1958, S. 321. WA 7; H.-J. Schwab, Identität und Differenzierung der mundartlichen Benennungsmotive für ,Mutterschwein' und ,Ferkel'. Diss. (masch.) Marburg 1955.

33

34

E. Kranzmayer, Die Synonyma für Kinn und Stirne in den Mundarten Altbayerns. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hist.-phil. Klasse 1927, 4. Abhandlung.

33

I. Reiffenstein, Salzburg und Bayern. In: Mitt. d. Ges. f. Salzburger Landeskunde. Salzburg 1960, S. 471.

Bairisch

195

die Alpen hinein missionierende Erzbistum ältester Zeit. In der Gegenwartsmundart ist es wortgeographisch vielfach der Brückenkopf f ü r die in der Forschung sogenannte „Oberösterreichische Beharrungsbrücke". Die Wortkarte Frühling zeigt neben dem jüngeren T y p Auswärt(s) die alte Formen zu Lenz: Langeß, Lanzing, Lanssing in Rückzugsstellung. In Tirol stellt die Forschung lautgeographisch eine Innsbrucker Verkehrssprache fest 37 . Das Tirolische bewahrt solch altes Wortgut wie And .Unlust, Ekel', Tot ,Patin', Anwald .Vorstand der Gemeinde'. Die Tiroler Hochtäler 3ii bewahren besonders alten Sprachzustand. D o r t ist die Mundart des ö t z t a l s die altertümlichste. Sie hat oft den lautlichen Zustand aus der Zeit vor 1100, vor allem im Mitterötztal 3 9 : Wergemüet .Wermut', daniedn .drunten', nacht .gestern', Eweza .Hausflur', Lie .Rauchfang' (wie in den Sprachinseln Zahre und Pladen). Die alemannische Überlagerung Westtirols spiegelt sich wortgeographisch auch in den von Westtirol aus gegründeten zimbrischen Sprachinseln in Oberitalien. So entspricht in den Sieben und Dreizehn Gemeinden und von da aus in Lusern einem westtirolischen gotßka .gackern' (WA 15) die Form katßigen und einem gluntßka .dumpf klingen von fließendem Wasser', kluntßigen. Beiderseits des spracheinheitlichen Vorarlbergs haben sich das Bairische und das Alemannische auseinanderentwickelt. Zwischen dem österreichischen Land Vorarlberg und dem übrigen Österreich läuft die allerstärkste Mundartgrenze auf der alten politischen. In Westtirol bis ins ö t z t a l begegnen sich alemannische (schwäbische) Grundherrschaften mit bairischen (tirolischen). D a dringen entweder alemannische oder bairische im Rüdsstoß vor. Der Kärtner Dialekt 4 0 gehört mit Tirol und Steiermark zu den südbairischen Hochgebirgsmundarten. Er hebt sich von dem der Nachbarländer in der Steiermark, im Lande Salzburg und in Tirol lautgeographisch ab, wir suchen nach Wortgeographie. Der Nachbar weiß es und spielt auf das Kärntner lei lääsn statt glei läässn an. Über Kärnten greift lei .nur, eben' hinaus, aber beides zusammen ergibt mit der Kärntner Dehnung jenen nachbarlichen Spott. Die Talschaften sind alte geschichtliche Verwaltungsbezirke. Aus allgemein geographi36

W A 4 u. 16.

37

I. Reiffenstein, D i e Stellung der Mundarten v o n Nordosttirol. Ein Beitrag zur A b grenzung des Südbairischen v o m Mittelbairischen. In: Innsbrucker Beitr. z. Kulturwiss. 3. 1955 = Festschrift Karl Jax.

38

B. Schöpf, Über die dt. Volksmundart in Tirol. In: Progr. Bozen 1852/53; Maria H o r n u n g , Mundartkunde Osttirols. Eine dialektgeograph. Darstellung mit volkskundlichen Einblicken in die altbäuerliche Lebenswelt. Wien 1964 = Studien zur österreidiisdi-bairischen Dialektkunde.

39

E. Kranzmayer, D i e Mundart des ö t z t a l e s . In: ö t z t a l e r Buch = S. 79 ff.

40

E. Kranzmayer, D e r Kärntner Dialekt. In: Kärntner Almanach 1958 (Klagenfurt, S. 260 ff.).

13*

Schlern-Schriften,

196

Walther Mitzka

sehen und dann auch aus solchen politischen Gründen können Besonderheiten hergeleitet werden. Die Städte haben auch hierzulande viel Wienerisches angenommen, also auch glei. Überall in seinem Lande sagt aber der Kärntner Knaul .Knäuel' und Geifn ,Hündin'. Beides kommt nicht so häufig wie jenes in der Alltagsrede vor. Die alten Duale eß und enk sind zuerst an der Donau Duale geworden und sind dann von der Steiermark und Kärnten, großenteils auch von Tirol übernommen worden. Ein altes Kärtner Wort ist lisnan h o r chen', was urverwandt ist mit engl, listen. In der Mundart halten sich und werden Hunderte von Kosewörtern neu geschaffen, vor allem Schimpfwörter. Das gelehrte Schrifttum zählt sie in langen Reihen mitsamt der manchmal recht undurchsichtigen Etymologie auf. Wichtig ist für die Mundarteinteilung das alte Städtedreieck Klagenfurt—Villach—St. Veit mit dem verkehrsreichen Drautal. Der Osten holt, als Verkehrslandschaft stark mit Wien verbunden, manches von dort herein. Der Norden und Süden besteht oft aus schwer zugänglichen Tälern. Wir betonen: der Fremdenverkehr mit seiner ganz andersartigen Sprache stört auch hier nicht. Am stärksten isoliert ist Mittelkärnten. Da zeigt sich reinstes Kärntnerisch, aber auch dort können bäuerliche Ausdrücke kleinlandschaftlich stark variieren wie die Ausdrücke für ,Käslab' oder die Z a u n lücke'. Entlegen ist der Rand vom Neusiedler See in den Osten der Steiermark mit dem Ausdruck für den Schwiegervater: Schweher*1. Modernisierung rückt nach dem Westen und Norden vor: Die Kaufleute, die Beamten und Angestellten sprechen städtisch, so sagen sie Großvater, Großmutter, Onkel und Tante für Enggö, Anga, Aadla und Lautformen zu Vetter und Muhme-, und solche zu Dienstag, Mittwoch und Donnerstag statt Irtö(g), Mittö(g), Pfinztö(g). Am altertümlichsten sind die dem Südbairischen vorgelagerten Sprachinseln.

III. Gesellschaft und 1.

Wortgeographie

Oberschicht

In der Bauernsprache vermißt die Forschung durchgehend den Mangel an Abstrakten. Nun ist es so, daß sie solche oberschichtlichen Begriffe wie Sehnsucht, Heimweh oder Unbehagen sehr wohl benennt, wenn auch nicht mit Substantiven, sondern mit verbalen Wörtern und Redewendungen. Doch finden sich auch jene wie z. B. im Inn- und Hausruckviertel die Ämßige .Emsigkeit' oder die Synonyme Dral, (Ge)schäftige u.a.m. 4 2 Das österreichische Wörterbuch bringt eben schon mit seinen ersten, den uns zunächst hier vorliegenden Lieferungen auch noch (I, 252) die Ante in der Bedeutung ,Heimweh, Sehnsucht', zu ahd. anta (Ahd. Wb. I, 534), und zwar aus den Dreizehn Gemeinden und Lusern, Kärnten, Steiermark und sogar ganz im Norden aus dem Egerland, für Niederösterreich wird die Bedeutung ,Unbehagen' gebucht. Dort gibt es noch 41

Debus a. a. O.

42

österreichisches Wörterbuch I, S. 189.

Baltisch

197

die Synonyme Amer43 ,Verlangen, Begierde' als alte Nebenform zu ]ammer\ Ämerigkeit. Überhaupt ist zu jenem Substantiv Adj. Adv. ante, ant als .ungewohnt, schmerzlich' in den Mundarten durchaus noch lebendig. Jene gesamtbairischen Merkmale eß, enk, dazu noch enker ,euer' erscheinen im Schrifttum zuerst bei dem Österreicher Enikel um 1285, dann ein Vierteljahrhundert später beim Steiermärker Chronisten Ottokar 44 . Nach lautgeographischen Kennzeichen, vor allem in den Reimen, bleibt für Ottokars Sprache im Vergleich mit der steirischen Stadt- und Verkehrsmundart mit der Achse Isar-Donau, mit dem Wiener Hof und, da Ottokar auch in Prag geweilt hat, mit Prager Einflüssen das Ergebnis, daß er durch und durch Österreicher, und zwar Steierer ist. An Wortgut gebraucht Ottokar das alte, seltsamerweise von der Lautverschiebung verschonte germanische Wort mute, zu dem noch heute die österreichische AfdMtgebühr bis zur Gegenwart stimmt; der Pate ist bei Ottokar noch wie einst gemeinbairisch der tote, doch von seiner Zeit an vom Wiener Hof durch Göti bis nach Tirol hinein verdrängt und fast nur noch in den älteren südbairischen Außenmundarten erhalten. Alte Mundart ist bei Ottokar auch noch haberschrecke ,Heuschrecke'. Gesellschaftliche Wortunterschiede zeigen die Grußformeln 45 . Aus wertbetonter Sprache kann eine soziale Schichtung, überhaupt eine Rangordnung, in dem süddeutschen Gruß Grüß (dich) Gott deutlich werden: Im Osten von Österreich bis nach Mähren und ins Erzgebirge, in Wien, in der Steiermark und in Kärnten wird der Gruß nur mit den Fürwörtern dich oder euch gebraucht. Er geht auf kirchliche Formeln des Mittelalters zurück. Diesen volkstümlichen und zugleich vertraulichen Gruß wendet der Gebildete nur an, wenn er sich mit dem andern duzt. Es gibt kein Sie dabei. Ausschließlich jenen Gruß verwenden die Bauern. Sie können auch Ihnen sagen. Ohne Fürwort wurde diese Grußformel als kirchliche Formel schon im Mittelalter gebraucht, sie ist durch die katholische Geistlichkeit und durch die Schule durchgeführt worden. Guten Tag sagt man in Österreich zu Fremden, etwa im Kaufladen (österreichisch und südlich bairisch Budel oder Pudel, was ehemals ein langes Brett = Ladentisch bedeutete). Gegen Höhergestellte klingt er zu kühl und geschäftsmäßig. Grußformeln können gesellschaftlich überhaupt zu unpersönlichen Kurz- oder Normgrüßen versachlicht werden. Gebildete sagen zu Gleich- oder Höhergestellten Hab die Ehre, vor allem in Wien sagen Kinder, Dienstboten und „Kleine Leute" zu Herrschaften Küß die Hand-, Herren zu Damen führen dies wirklich oder scheinbar aus. Gruß und die Gestik dazu gingen in Wien als spanisches Zere43

a. a. O. S. 176.

44

E. Kranzmayer, Die steirische Reimchronik Ottokars und ihre Sprache. In: Sitzungsbericht der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. 226, 4. Abhandlung. Wien 1950.

45

P. Kretschmer, Wortgeographie, S. 76 ff., 600; Zur mittelalterlichen Vorstufe: H. Lentz, Gruß- und Anredeformeln im reichsdeutschen Südwesten. Grundsätzlicher Beitrag zur Erforschung von Sprachgemeinschaften u. Sprachschichten. Diss. Heidelberg 1934, S. 27.

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Walther Mitzka

monieil vom Hofe und dann vom Adel aus. Heute sind prächtiges spanisches Erbe die Lipizzaner Pferde. Der Abschiedsgruß Behüt (dich) Gott gehört zur ländlichen Mundart (Pfiat Gott), er fehlt in Wien. Offiziere und Studenten gebrauchten bei Ankunft und Abschied das lat. Servus, also ,Ihr Diener*. Zur Oberschicht gehört die österreichische K a n z l e i s p r a c h e 4 5 a . Da ist die Professur die Lehrkanzel. Man unterschreibt mit Gefertigter oder Endesgefertigter. Dorthin gehören meritorisch = sachlich, über Veranlassung (Antrag, Anregung usw.); abstrafen = bestrafen, einlangen = vermischt aus eintreffen und anlangen, einbegleiten = einleiten, in Verstoß geraten = verlorengehen, das Anlassen finden = auskommen, zurücklegen = niederlegen; jemanden klagen = verklagen. Der Straßeneinräumer räumt die Radspuren ein, indem er Schotter einfüllt, er heißt also anderswo amtlich Chausseewärter. Allgemein üblich ist im Schriftdeutschen überhaupt heute das zur österreichischen Kanzleisprache zu rechnende entfallen = wegfallen geworden. Durch alle Schichten reicht im österreichischen der Wiener Ausdruck Nachtmahl für Abendessen. In Tirol ist Nachtmahl in der Oberschicht durch Abendessen ersetzt, im Norddeutschen neben Abendbrot, das sehr weit nach Süden vorgedrungen ist. In Norddeutschland ist dabei das Butterbrot die Hauptsache, aber der Süden schätzt mit Österreich warme Speisen. In allen Schichten ist das altbairische Kirchenwort (nach seiner Lautung aus dem Fränkischen stammend) Techand kirchlicher Dekan' als Titelwort vertraut 48 . Zur oberschichtlichen Rechtsprache ist der Vormund mit seinen bairischen Entsprechungen zu rechnen (Kranzmayer). Die V e r k e h r s - und zugleich S c h r i f t s p r a c h e ersetzt also von der Oberschicht her weithin alte Ausdrücke auch in entlegener Bauernmundart, wie im Traisental 47 : Apfalter durch Apfelbaum, Augenhaare durch Wimpern, Augenflügel durch Lid, Fußschaufel durch Fußrücken, Gasöl durch Petroleum, Gatter durch Almgitter, Haussteuer durch Aussteuer, Madame durch Hebamme, Salsdese durch Salzdose, Saupech durch Kolophonium, Scherkrebs durch Krebs, Worb durch Sensenstiel, Färchleinsau durch Muttersau. Aus der Landwirtschaftsschule wird Getreide statt Troad stammen. Große Wirkung übt die S c h u l b i l d u n g aus. Da werden Ertag und Pfingstag ersetzt; das Baumhäckelein ist der Specht, die Brutbiene heißt Drohne, Hänsel am Weg ist der Spitzwegerich. Faltrian wird zu Maiglöckchen, Krautwurm ist die Raupe des Kohlweißlings, und dieser ist der Krautwurmzüchter gewesen. In der Schule wird vor der giftigen Tollkirsche gewarnt, die Kinder nannten es dort abschätzig, wenn auch harmlos Hundsbeere. Der Wortatlas (4) meldet in Niederösterreich weithin Buschwindrösel. Das ist gelehrte Übersetzung aus Anemone für den Wind und nemorosa für den Busch. 45 4

"

* Kretschmer, S. 2 6 .

* E . K r a n z m a y e r , Lautgeographie des Gesamtbairischen § 30. R . Stadlmann, Die M u n d a r t des Traisentales. Diss. (masdi.) Wien 1 9 5 7 , S. 7 5 . Das ist südlich von St. Pölten.

Bairisch

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Das amtliche Rechtschreibebuch für die österreichischen Schulen48 bewahrt zahlreiche allgemein verwendete Wörter der österreichischen Hochsprache, die auch zur Umgangssprache und zur Mundart gehören können. Da ist der Blumenkohl der Karfiol. Auf den Wiener Gemüsemärkten haben ihn die Standlerinnen, wie auch Weinheber die Gemüsefrau nennt. Die Pflasterer, die die Straßen aufreißen, de stiem mirs heulig aa\ stieren ist ,zuwider sein' (mhd. stiiren ,stochern, stöbern', das heute viel gebrauchte heulig ist ein bekräftigendes Umstandswort, aus ,heilig' 49 ). Weltstadthumor zeigt sich, wenn die ,kleinen Quarkkäslein' Kellerenten genannt werden, was auf den muffigen (miachtelnden) Geruch geht. Die Knallhütte wird ein baufälliges Haus, das auseinanderzukrachen droht, genannt. Früher war es die Pulverhütte. Der Kreditfetzn ist der Schleier der feinen Damen. Den duftenden Strauß kauft man beim Lavendelweib. Die Kartoffeln werden auch mal, doch in der Ober- und Mittelschicht am ehesten, böhmische Weinbeeren genannt. Aus der Amtssprache stammt das österreichische Salar für das Gehalt der Beamten. Die militärische Amtssprache wird wegen ihrer Schwerfälligkeit Knödeldeutsch genannt. Der gutmütige Koch in der Kaserne ist der Kochlöffelkroate (Kolöffelkrawat). Solch Wortschatz ist in der seit zweieinhalb Jahrhunderten schmunzelnd gepflegten Lokaldichtung mit Originalen aller Gesellschaftsschichten beisammen, von wo es die gelehrte Forschung für ihre Zwecke heraussucht50. Eine Zentralfigur ist der Wiener Fiaker, mit dem Wasserer, wie der Mann amtlich heißt, der den Fiakerwagen säubert. Eine andere ist, wie jener auf Bildern in dieser Lokalliteratur vorgestellt, der Mistbauer, der in der Großstadt vor ihrer Sanierung eine unentbehrliche öffentliche Rolle spielte. Mit dem Friseur hatten beide nicht so oft zu tun: sie können ihn Schaf- und Geißhaxlbalvierer genannt haben 51 . Da ist also ihr unrasiertes Kinn jenen rauhhaarigen Viehzeughacksen ähnlich. Es gibt ingrimmige Sprachreiniger in Bayern, die aber nicht gewähltes Hochdeutsch, sondern die bayerischen Ausdrücke, die man dort zu Lande hat und die der Fremde kennenlernen soll und muß, als dort allein gültig verteidigen. Da gibt es eine Denkschrift über die sprachliche Säuberung der oberbayerischen Speisenkarte 52 : ein Westfale wird als Feriengast schon wissen, was ein Blaukraut ist. Aber es schmeckt dem Norddeutschen besser, wenn ihm auf der Speisenkarte (nicht Speisekarte, denn es sind doch viele Speisen drauf!) statt eines Kasseler 48

Maria Hornung-Jechl. I n : Muttersprache (Wien) 68. 1958, S. 143, 156.

49

Elisabeth Melber, Die Wiener Mundart bei Josef Weinheber und ihre Stellung zu den Altersschichten im Wienerischen. Diss. (masch.) Wien 1953 (zitiert nach H o r n u n g Jechl a. a. O.).

50

W . Steinhauser, 250 J a h r e Wienerisch. Zur Geschichte einer Stadtmundart. I n : Z M F 21. 1953, S. 159 ff.

51

Die genannten Scherzwörter und viele andere sammelt Mauriz Schuster, A l t Wienerisdi. Ein Wörterbuch veralteter Wiener Ausdrücke und Redensarten der letzten sieben Jahrzehnte. Wien ( 1 9 5 1 ) . Seine Etymologien dazu gehen uns hier nichts an.

52

Heimatpflege von Oberbayern. Volkstümliche VeröfFentlidiungen. Heft 3. Sdiongau 1955 (Hektograph). Hrsg. von Universitätsprofessor M a x Dingler.

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Rippspeers ein Gselchtes Ripperl, statt Klößen echte bayerische Knödel, statt der Brötchen resche Semmeln geboten werden. Falsch sind Rinderbraten, Schweinebraten, Schweinefleisch, Kälberfuß. Denn nicht nur der Bayer weiß genau, daß der Braten nur an einem Rind, das Stück Fleisch nur von einem Schwein und der Fuß nur von einem Kalb stammt: also besser sind die alten Rinds-, Schweinsbraten und Kalbshackse. Dazu wird der Norddeutsche gewiß sagen: davon verstehe ich wirklich das meiste. Knifflig wird die Kritik der Denkschrift an der Röstkartoffel: zum Rösten dient die Pfanne oder der Herd und nicht die Kartoffel. Der „bayerische Sprachinstinkt" sagt Geröstete (Kartoffeln). Pellkartoffel ist hier unmöglich, da die Pelle unbekannt ist: also Ganze Kartoffel, Kartoffel in der Schale, oder scherzhaft in der Montur. Da muß der Fremde allerdings wissen, daß dies dort Militär- oder Polizeiuniform ist. Entschieden wird abgelehnt Backpflaumen für Gedörrte Pflaumen. Als unwürdige Nachäffung wird Rotkohl statt Blaukraut gekennzeichnet. Der Gipfel der Geschmacklosigkeit sei erreicht, wenn auf der weißblauumrahmten Speisenkarte der Rahmtopfen als Sahnequark angeboten wird. So geht es weiter: Eis statt Gefrorenes, Pfannkuchen statt Krapfen (aber Pfannenkuchen ist bayerisch ein ganz anderes Stammgericht): Schlachtschüssel (dient doch nicht zum Schlachten!) statt Metzelsuppe, Rühreier statt Eierspeise, Spiegeleier statt Ochsenaugen, Apfelsinen statt Orange oder Pomeranze, Kalte Platte (fade Unansehnlichkeit!) statt Aufschnitt, Sülze statt Sulz (Aspik), Möhren (Karotten) statt Gelbe Rüben, Pfifferlinge statt Rehlinge, Reherl; Mohrenköpfe (Schlotfeger) statt Wiener Krapfen, Dickmilch oder Sauermilch statt Gestöckelte (gestockte, saure) Milch, Heidelbeere statt Taubeere, Blaubeere-, Sauerkirsche statt Weichsel, Pulle statt Flasche, Tüte statt Stranitze (Düte). Nicht verschwinden sollten Boeuf a la mode (mundartlich Biflamott), Bickelsteier, Einbrenn, Panadelsuppe, Brokoli, Brockerl (neben Rosenkohl), Nisselsalat, Eierweckerl, Fitzerl, Rasperl und andere örtliche Gebäcke. — Eine Erklärung ersparen wir uns hier und überlassen sie mitsamt den Etymologien den bairischen Wörterbüchern gelehrter Observanz und verlassen hiermit diese allen einheimischen Schichten klare Speisenkarte. 2.

Bürgersprache

Als Umgangssprache verwendet sie auch die Oberschicht. Die überragende Sprachgestaltung von München und von Wien ist lautgeographisch in vielfältiger Erforschung gesichert. Nach diesen hauptstädtischen Mundarten richtet sich noch in den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die bayerische und die österreichische Lese- und Verkehrssprache53. Lautliches Vorbild, also gute Aussprache nicht nach der hochdeutschen Bühnensprache, sondern nach der gern lautlich getönten Großlandschaftssprache, waren bisher das soweit dialektfreie Prager und das Laibacher Deutsch. Diese deutschen Stadtsprachinseln waren von umgebenden Bauernmundarten unabhängig. Die deutschen 53

E. Kranzmayer, Historische Lautgeographie des gesamtbairischen Dialektraumes, Einleitung 4 f.

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Stadtbürger ergänzten sich dort auch aus der Zuwanderung von weither. Dort entstand aus solcher ausgleichenden Sprachmischung ein überlandschaftliches, österreichisches Hochdeutsch. In Wien war noch nach 1900 die oberschichtliche Vortrags- und Unterrichtssprache das Hof ratsdeutsch, in Altbayern gilt dies bei älteren Leuten noch heute. Als Erbe der Rittersprache des Mittelalters der Fürstenhöfe richtete sich die von der Bauernmundart immer stärker unterschiedene Herrensprache vor allem nach dem Wiener Herzogs- und Kaiserhof. Schon im 15. Jahrhundert übernimmt die Stadtsprache von Nieder- und Oberösterreich, der Steiermark und von Kärnten ein mittelhochdeutsches 5 in offener Form und sichert es aus der Verkehrssprache der Bundesländer. Seit einem Jahrhundert schafft in den Vororten Wiens das sogenannte Plattendeutsch immer neue Ausdrücke. Sein zynischer und sartirischeer Humor will auch von den Wienern als Urwienertum gewertet werden. Er rückt aber absichtlich vom Wiener Dialekt ab. Die Plattenbrüder heißen auch Strizzi, Bieze, Galeristen. Dieser Wiener Jargon wird immer weiter auch mit lautlichen Übertreibungen in Österreich innerhalb gewisser Gesellschaftsschichten übernommen. In Altbayern entspricht ihm die Sprache der Lucky aus Münchener Vororten. Wiener Import höfischer Sprache der Ritter und von da aus wohl schon im Spätmittelalter strömt in das Bürgertum der südbairischen Verkehrslandschaft bis in den Süden Kärntens und Tirols 54 . Der Hof mit der Oberschicht in Bayern und in Österreich leistet nicht solchen Widerstand gegen auswärtiges Sprachgut wie das Schwyzer Tiitsch und das Honoratioren-Schwäbisch. Dienstag und Donnerstag erscheinen im österreichischen Schriftwesen erst um 1650, und zwar in den Briefen der kaiserlichen Familie. Dienstag war allerdings in die Oberpfalz schon seit 1500, aus übermächtiger ostfränkischer und obersächsischer Nähe übernommen worden. In der Hochsprache hielt das österreichische Schrifttum an Ergetag und Pfinztag bis ins 17. Jahrhundert fest55. Erchtag stand noch im 18. Jahrhundert auf den Programmen des Burgtheaters56. In Wien und von da aus mit Streuung bis nach Klagenfurt hin wird die ,Hebamme' Madame genannt57. Den Beruf der Hebamme üben heute durchaus auch Frauen hoher Kreise aus. Darauf könnte diese noble Bezeichnung für den alle Schichten angehenden, ausnahmslos weiblichen Beruf zurückgehen. Dies französische Lehnwort des 16. Jahrhunderts hat in den Mundarten weithin ironischen Sinn für die feinen Damen dort oben. Aber in jenem Wiener Umkreis ist dies ernsthaft gebrauchte Wort auf die Bedeutung .Hebamme' eingeschränkt. Bei den Namen für diesen Beruf schwingt oft eine 54

Kranzmayer, a . a . O . , § 3 e 1, f l ; Sprechweise".

Z M F 2. 1953, S. 2 0 5 : die Prager als „schönste

55

E. Kranzmayer, Die Wochentage in den Mundarten von Bayern und Österreich. Wien und München 1929, S. 69 f.

54

H . Schikola. In: „Muttersprache" (Wien) 68. 1958, S. 129.

57

Dazu nach der Wortatlaskarte die Finnin Mirja Virkunen, Bezeichnungen für Hebamme in deutscher Wortgeographie nach Benennungsmotiven untersucht. Gießen 1967, S. 54 = Beiträge zur deutschen Philologie 12.

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stille Verehrung aller Kreise mit. Alter Volksglauben schuf so die Namen Bachtfrau im Kreise Altötting, Perchtlmutter im Kreise Bruck an der Mur. Kulturgeschichtlich interessant ist die Wortgeschichte für die ,Mütze'. Weithin bringt die Wortatlaskarte Haube™. Mhd. hübe ist ursprünglich nur vereinzelt bis zum 14. Jahrhundert Frauenkopfbedeckung, sonst Männertracht aller Schichten. Jener Übergang zum weiblichen Trachtenstück vollzieht sich seit dem 14. Jahrhundert, als die Männer einen Hut zu tragen anfingen. Die Frauenmütze ist aus dem enganliegenden Kopftuch entwickelt. In Niederösterreich heißen alle Mützenarten der Männer, am weitesten nach Norden bis ins südliche Egerland Haube. Andere Sprachatlaskarten zeigen Neuerungen aus besonderen Gesellschaftskreisen: die Peitsche im Goaßelgebiet geht von Wien mit seinen herrschaftlichen Fuhrwerken aus, aus der Kindersprache wiederum auf der Kreiselkarte das Drahdiwaberl. Ein Marktwort aus bäuerlicher Umgebung ist dort Murke für die Mohrrübe, die alemannisch-altbayer. Gelbe Rübe heißt. Von München geht wieder in die nächste Umgebung das schriftdeutsche gackern aus (DWA 20), sonst gilt der lautlich stark variierende altbayer.-österreichische Typ gagatzen. Von Wien aus möchten wir wegen des Suffixes das freundliche Marktwort Ganserl für junge Gans herleiten, das auf der Wortkarte bis nach München und ins südliche Nordbairische reicht. Noch nicht ist das Land Salzburg mit der oberbayerischen Nachbarschaft, auch nicht Tirol dabei. Seltsam ist die wortgeographische Lagerung von München am Rande oder gar auf einer Wortgrenze, so Glüf ,Stecknadel': Sperlnadel, das von Linz an nach Osten als Spennodel auftritt; Moser ,Narbe' in und um München gegen altbayerische Mosn, Mösl; Det: ,Pate' am Rande des riesigen Gebietes mit Göd des Mittelbairischen. „Im Dialektland Bayern ist München eine Landstadt, und wer es Dorf nennt, sei daran erinnert, daß Bayern ein Bauernland ist und seine Städte Bauernstädte sind, wo der biedere alte bayerische Hausl (Hausknecht) der Portier ist, und wo der Wirt, ehe er noch dich begrüßt, deinen Hund streichelt Zamperl; und dazu etwa sagt, gel, möcht er a Wasser und was zu Fress'n, der geht er mit in Küchel"59. Schon die Bedeutung kann eine andere sein: das hochdeutsche sprechen bedeutet dortzulande ,großsprechen'. Nach der Karte des Sprachatlasses gilt dort und weithin darüber hinaus in der Alltagssprache sowie in der Mundart der Typ reden. Von der H a n d w e r k e r s p r a c h e bis hinauf zur Amtssprache können die Berufsnamen an der bayerisch-österreichischen Staatsgrenze scharf abgetrennt auf der Wortkarte erscheinen. Zu hd. Tischler (DWA 9) hält sich Bayern mit dem 58

H . - F . Foltin, Die Kopfbedeckung und ihre Bezeichnungen im Deutschen. I n : Deutsche Wortforschung 3, S. 1 ff.

59

J . M. L u t z , Bayrisch. W a s nicht im Wörterbuch steht. München ( 1 9 6 2 ) , S . l l . Im U n t e r t i t e l ist gewiß die unterste Stufe des Sprechens gemeint, doch gelangen auch die soziologisch schlimmen W ö r t e r eher als in solche für hochdeutsche Leser bestimmte fröhliche Bücher in unsere hochgelehrten Wörterbücher, wobei auch w i r bei noch so ernster Darstellung schmunzeln würden. Übrigens sind im W o r t s c h a t z jene Publikumsbücher viel zahmer.

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Alemannischen und Westmitteldeutschen zur Großlandschaft mit Schreiner, Österreich aber zu jener bis an die Küste reichenden Fläche. Ähnlich sind Fleischer und wo davon unterschieden Schlächter, bayerisch der Metzger, österreichisch wieder mit Böhmen und Mähren der FleischhackerM. Merkwürdig ist die Wortgeographie zum hd. Böttcher (WA 9): Österreich-bayerisches Gebiet mit Binder, Faß-, Faßl-. Aber München und Umgebung hat Schäffler, mundartlich Schaffler; Bayern sonst Küfer. Wir denken an den Schäfflertanz und das Münchener Rathaus. In diese Fläche um München-Augsburg paßt auch Laus ,Mutterschwein' 61 , möglicherweise vom Münchener Großmarkt her und dort von den Bauern, Fleischern und Viehhändlern ringsum gebraucht. In München®2 sind Gebildete Gewappelte oder Großkopferte. Der Leib besteht aus der Haut, dem Fleisch, der Fetten und an der Stelle der Knochen aus Beinern. Und die Beine heißen dort die Haxen, was die Preußen aus Kalbshaxe gelernt haben müßten. Bei der Rauferei kann einem das Biß eingeschlagen werden. Für den Kopf sagt die Mundart weithin Schädel. Meistens mit Kritik verbunden sind dafür die städtischen Bähli und Deetschi. Der Mund ist das Maul ohne groben oder gar schlechten Sinn. Anders ist es bei Dreckschleuder, was bis ins Schlesische reicht. Liebenswürdig ist die Goschen oder das Goscherl. Die Studenten-, Schüler- und ¿«^/spräche hatten das Wienerische Servus übernommen. Wieder ist die Reihe der Scherz- und der Schimpfwörter sehr lang. Ein lustiger Kerl, der viele Spasseetln und Gschpaß weiß, ist halt ein Vihch. Je nach Lage kritisierend, komisch oder anerkennend sind Trohpf, Lump, Hodalump, Bazi, Gauna, Luada, Spitzhua, Spitzbuanheiptling; abscheilicha, schlechta, miserabliga, elendiga, augschamta. Beleidigend sind (für grobe Menschen): Kerl, Lack, Hammi, Pfundhammi (zu Hammel wie das folgende), Gschehrter Rammi; mangelnder Geist: Däpp, Schäps, Schohf bei da Nacht, Rindvihch, damischa Ritta; kommt Unmännlichkeit hinzu, dann: Lapp, Dahdirl; unfreundlich sind Hanswurst, Spritzt; damischa, deppata, windiga, stinkata, nixiga. Das stärkste Schimpfwort ist Sauhund, vareckta. Kinder werden, ob freundlich oder nicht, genannt: Buben = Mistbua, Rotzbua, Saubua; Saufratz, vor allem zu Mädchen. Nur mit Vorsicht zu gebrauchen ist der Ausdruck Schlawiner, eigentlich ,Slowene'. Er ist ein verdächtiger Mann, unter Freunden aber auch anerkennend wie Batzi, vadächtiga. Weibsbilder sind alte Trummel, Scharteke oder Schraube, wie auch anderswo. Bei den jungen unterscheidet man fade Wachtel vom Gegenstück: die Flitschn, das Flitscherl, wegwerfend Feetzn; mundartlich Schlampen oder Mistamsel. In der Stadt ist gschpahssi nicht nur ,spaßig*, sondern zu einem mißgünstigen Ausdrude der sozial Tieferstehenden gegen alle Bessergestellten geworden: sonderbar, eigenartig'. Aus der Kirchen60

A . Schönfeldt, Räumliche und historische Bezeichnungssdiichten

in der

deutschen

S y n o n y m i k des Schlächters und Fleischers. Diss. Marburg 1965. 11

W A 7.

62

J. Lachner, 999 Worte Bayrisch. Eine kleine Sprachlehre für Zugereiste, Fremde und Ausländer. München 1930. 1955 2 .

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spräche über den Fluch ist mentisch ,groß' entstanden, aus sakramentisch-, a mentischa Zorn, Umgekehrt kann die Stadtsprache die alte Bedeutung gegen die im Hochdeutschen verschlechterte bewahren: tohrat ist nicht unser ,töridit', sondern von der alten Bedeutung ,der nicht hören will' zu ,der nicht hören kann, schwerhörig, taub' geworden. Zärtlich wird auch die Stadtmundart zu wehrlosen Wesen, Mensch und Tier. Besondere F a c h s p r a c h e n können wir hier nur streifen, wie den Wortschatz zum S a l z b e r g b a u im Salzkammergut mitsamt den großen alten Transportern, den Traunern, als Lastschiffen, die ehemals bis nach Wien fuhren, um dort auseinandergeschlagen zu werden. Auch von den B e r g m a n n s s i e d l u n g e n und ihrer Sprache, ob am Goldbergbau im Gasteiner Land oder im Eisenland 63 wäre manches zu nennen. In Bayern und Österreich ist als Lastschiff die aus dem Magyarischen stammende Bezeichnung Zille üblich; das größere Fischerboot ist die Fischerzille. In einer solchen, mit einem Dach auf vier Holzwänden, dazu einem Fenster f ü r das vom Fischer von innen her zu handhabende Senknetz, sitzt dieser, nachdem er sie am Ufer festgemacht hat. Das mit dem H a n d r u d e r auch von einem einzelnen bediente Schinakl ist ebenfalls dort zu Hause, dazu in Böhmen und Schlesien. Das Wort stammt aus dem Tschechischen. Hierzu wie zu der in den Alpenländern bisher eifrig betriebenen Flößerei gibt es sehr viel Wortschatz 6 4 . Der W a l d a r b e i t e r braucht viele Fachwörter 6 5 , so entrindet er die Bäume mit dem Schepzer (zu mhd. schabezen ,schaben') oder dem Stripfn (zu streifen). Aber privater ist das Zunftwort Holz hacker, das nicht nur den Beruf bezeichnet, sondern auch das gekürzte Rosenkranzgebet, das die müden Holzhacker nach verrichteter Arbeit mit ihren Familien des Abends daheim beten. 3. Der konservative

Bauernwortschatz

Er ist von Haus und H o f , in Stall, Wiese und Bauernwald, in der Viehzucht sehr stark fachsprachlich. Diese bäuerliche Berufssprache nimmt ja überhaupt in der gesamtdeutschen Fläche weitaus den größten Raum aller besonderen Spracharten zur Arbeit, ihren Geräten und ihren Gebrauchssitten ein. Nunmehr ist gerade diese weiträumigste Fachsprache in stärkstem Umbruch auf dem Wege zur landwirtschaftlichen Technik aller Art begriffen. Konservativ bleiben allerdings sehr viele Wörter gerade aus landschaftlicher Eigenart der Bauernwirt63

H. Grau, Mundart u. Kultur im Eisenland, Ober- und Niederdonaus. Eine kulturmorphologische Untersuchung. Linz 1942. Wörterbücher zum Bergbau verzeichnet die Zs. f. österr. Volkskunde 1967.

64

W. Mitzka, Deutsche Bauern- und Fischerboote. Heidelberg 1933; Deutsche Fischervolkskunde. Neumünster 1944: Beide auch mit Bildern von der Donau, der Fischerzille von Wien, eine andersgebaute von Linz, vom Neusiedler See und den Alpenseen. Bayerische Boote. In: Bayerische Heimatschau 26. 1930, S. 45 ff.

65

Egon Kühebacher, Dialektgeographie des oberen Pustertales. Diss. (masch.) Innsbruck. 1958, S. 348.

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schaft wie der Almwirtschaft. Sie bleibt auch beharrsam, wo alte Sachen vom Haus bis zum Pflug und Zuggeschirr aus Armut oder mindestens Verkehrsentlegenheit noch erhalten geblieben sind. Die Forschung hat gerade zur Bauernsprache in überreicher Fülle solchen Wortschatz geborgen. Auch hier können wir zu unserem besonderen Anliegen nur für einige Dinge und Begriffe uns grundsätzlich wichtiges oder mindestens bezeichnendes Wortgut zitieren, wie zunächst von einer entlegenen Mundart des Waldviertels in Niederösterreich66. Der Wortschatz ist da derzeit im starken Wandel für die aus der Stadt eingeholten Haushaltsgeräte und Kleidung. Aber auch aus der Verkehrssprache der Großlandschaft wird der Wandel für allgemeinere Ausdrücke deutlich: Garten für Baumstatt-, Brunnen für Geschepf; Misthaufen für Raumhaujen, die bäuerliche Kegelbahn für Scheibstatt. Aber konservativ bleiben Lorwand = Bretterwand, Barnbaum im Stall = Pflock zum Anbinden der Tiere, Grand = Wassertrog zum Trinken. Vom Lockruf her bleibt der Schweinetrog Nusch. Am Bauernhaus und am Hof werden die alten, womöglich noch hölzernen Schlösser (Reiher) durch Torschlösser auch in der Sprache ersetzt. Vom Arzt lernt man zwar die neuen Krankheitsnamen, aber nicht nur mancher Landdoktor ist für Heilkräuter oder alte Hausmittel zu haben. Gegen Fingerwurm, hochdeutsch Umlauf ,eitriger Finger', hilft Heißwasserstoßen. Das Hineinstoßen in heißes Wasser ist ein durchaus probates Mittel, auch anderswo vom Arzt empfohlen. Gebräuchlich sind noch die Wörter Gefrörballen Frostbeule', Werre ,Gerstenkorn'. Doch Podagra wird schon durch Rheumatismus verdrängt, was auch Reminiszenz aus der Soldatenzeit sein kann. Alte und allerdings von den Jungen bevorzugte Wörter stehen nebeneinander: Bräune neben Diphtherie, Auszehrende .Tuberkulose' neben lungenkrank. Mit dem Brauchtum kommen nun auch Wörter ab, so für das alte Kirchenwort Bete aus der Verkehrssprache Rosenkranz. Kindelmahl als Haustaufe kommt mit dieser ab, aber in Hochzeitsbräuchen ist manches erhalten wie vorziehen ,Seil spannen'. Anderes ist vergessen wie Bescheidessen ,zu Bekannten, die nicht teilnahmen, getragene Speisen', was z. B. in Schlesien erhalten ist (Schlesisches Wörterbuch). Gepflegt wird noch der Leonhardritt am 6. November, wobei der Pfarrer einer Prozession voranreitet. Den Antlaßpfinztag nennen die Jüngeren Gründonnerstag. Dienstboten wie Knechte und Mägde werden rar. Es klingt der Gesindetermin Pünkerltag, nach den von ihnen zum Umzug gepackten Bündel benannt, aus. Aberglauben wird in allen Schichten zwar für alle Fälle irgendwie bedacht, aber nicht ernst genommen, so auch nicht bei unseren Bauern hier die Abwehrbuchstaben über der Stall- oder Haustür, die Trutenhäckse, oder bei stürmischem Nachtwetter das Wilde Geleite ,Wilde Jagd'. Einen sehr großen Wortreichtum nehmen auch gerade im bäuerlichen Leben, das auf eine oft lebenslange enge, gar zu enge Nachbarschaft und vielgegliederte ortsansässige Verwandtschaft angewiesen ist, Gefühls- und Empfindungsäußerungen ein. Wir können uns hier 66

Ilse Schultmayer, Die Mundart von St. Leonhard am Hornerwald im südwestlichen Waldviertel (N.-ö.). Diss. (masdi.) Wien 1961.

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wieder nicht mit der Etymologie der Bauernwörter für ,spotten* aufhalten und überlassen dies wieder den Wörterbüchern: schienken, ausfiensen, auszannen, .weinen' (auch WA): trentschen, zannen, raunzen, flennen, honen; .schimpfen' (auch WA und Schrifttum dazu): zusammenburren, keuern, knaufen, greinen, nämeln, gronen, bummeln. ,sich ärgern' ist hier grimmen oder härben, derkreuzigen ,sich wundern, sich sorgen', dazu dersegnen ,sich wundern'; kreuzgramatanten ,fluchen'. Sehr konservativ sind auch die Eigenschaftswörter zur Charakterkunde: tatschen ,ungeschickt', dorstig ,aufgedunsen, stolz', pfänzig ,stolz', regalisch ,aufgeregt', belangig .genäschig', gefürchtig ,furchtsam', gestrittig streitsüchtig', zerlechsend .müde', gespindelecht .sehr schwach', rügelsam .flink'. Manche Schimpfwörter werden naiverweise sogar von Heiligennamen hergeleitet: Stallseff .häßliche Frau' zu Josefine: Nella .dumme Frau' zu Petronella, Walpelein .dummes Mädchen' zu Walpurga; Schurl .dummer Bursche' zu Georg. Der Krenbeutel eingebildeter Modenarr', trägt die Nase hoch, wie man es beim Riechen des Meerrettichs tut 67 . Der Zuwiderling ist ein übelgelaunter Mensch. Zu dem Ubergang von Lefze zu Lippe meint die Verfasserin: zunehmendes Interesse am Lippenstift bei der weiblichen Jugend. Aber von Körperteilen bleiben konservativ Keue .Kinn', Kruspel .Ohrläppchen', Gefriß .Gesicht'. Pflanze und Wildtiere benennt der Bauer utilitaristisch. Er nennt jeden Tagesraubvogel, trotzdem seiner Frau der Verlust des im Sturzflugs geraubten Geflügels nicht gleichgültig sein kann, Stößer. Und von den Pflanzen interessieren ihn nur die nützlichen und die schädlichen, oder gar die seinem Vieh schadenden, die giftigen. Die Unkräuter sind weithin Peier ,Quecke', Turd ,Trespe', Kleber .Klette', in feuchtem Land Wauke .Wollgras'. An den Obstbäumen sind ihm natürlich die Pflanzenkrankheiten wichtig. Der Dürrling ist ,dürrer Baum', Flade ,verwachsener', Frette ,verletzter'. In der Volksbotanik haben ganz verschiedene Pflanzen, die sich gar nicht ähnlich zu sehen brauchen, oft denselben Namen 68 . Im Großglocknergebiet und im Südtiroler Ultental sind Zetten oder Zündern die Alpenrosen, in den Ostalpen aber die Latschen oder das Krummholz. Diese Holzpflanzen bilden in der Landschaft ähnliche Bestände, aber als Einzelpflanzen sehen sie sich völlig anders an. Büchernamen sind den Alpenbewohnern unbekannt wie Alpenbärentraube, Bergbaldrian, Rundblättriger Steinbrech als Übersetzungen der lateinischen Wissenschaftsnamen. Die alpine Volksbotanik benennt nach Wuchs, Form der Blätter und Blüten, Farbe, Blütezeit, Standort, lästig, schädlich, giftig. Allerdings können gelehrte Namen volkstümlich werden, wie in der Volksmedizin Enzian aus lat. Gentiana, bair. Enziga. Da hilft auch der daraus gebraute Schnaps mit. Das Edelweiß ist wohl Volksbenennung, aber es wird erst 1785 (Naturhistorische Briefe über Österreich. Salzburg) erwähnt. Älter sind Jagerbleaml (im Salzburgischen), gewiß 87

W. Steinhauser, in: Z M F 2 1 . 1953, S. 137.

88

H. Marzell, Gamsbleaml und Petersbart. Eine Betrachtung über die Volksnamen der alten Pflanzen. In: Jahrbuch 1957 des Vereins zum Schutze der Alpenpflanzen und -tiere. München.

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weil diese Hochalpenblume von Gamsjägern an den H u t gesteckt wird. Sie ist aber auch Arzneipflanze: Bauchwehblume. In der etymologischen Forschung ist der N a m e Almrausch immer noch umstritten, älter Alprausch f ü r die Alpenrose. Rausch kann nicht auf Trunkenheit gehen, es mag ein Wort mit der Bedeutung .Immergrünes Buschwerk' sein. Speik (Spik, Spieke) wird f ü r ein gutes Dutzend verschiedener N a m e n angewandt, besonders f ü r aromatische Arten wie Lavendel, Baldrian und Primel. Das Wort wird aus lat. spica ,Ähre' abgeleitet, was uns f ü r jene Duftpflanzen nicht zu passen scheint. Speik ist ein beliebter Kuhname; auch Edelweiß, Nagerl (Nelke), Veigl. Dies Vieharoma mag dem Großstädter selbst auf der romantischen Alm nicht so blumig vorkommen, aber dem Bauern gewiß behagen, wie übrigens uns städtischen Gartenbesitzern auch. Die schöne, großblütige Alpennelke (Dianthus alpinus) der österreichischen Almen heißt anschaulich, aber nicht gerade fein: Kuhdrecknagerl. Wie freuen wir uns über den Feldenzian, den Schnee-Enzian und den Frühlingsboten, den Krokus: Kälberschiß. Das Lauskraut oder Lauswurz aber schätzt er sehr. Damit wäscht er sein verlaustes Vieh. Der Älpler benennt manche Alpenblume nach der Gemse: Gamsbleamel die Gemskresse, und auch die Aurikel. Auch andere haben N a m e n f ü r ganz verschiedene zugleich: Gamswurz, Gamsblüh. Der bartähnliche Fruchtstand der Alpenanemone schmückt den Jägerhut: Wilder Jager in Kärnten, Zoderda (zottiger) Jager in Niederösterreich; in Österreich und der Steiermark aber f ü r den übelgelaunten Jäger: Grantiger Jager. Alte Zeiten kommen in die Erinnerung, wenn wir dort oben den uns aus unsern Gärten wohlvertrauten Sturmhut als Wolfswurz oder Fuchswurz benannt hören. Dies Aconitum napellus ist sehr giftig und mag um die Sennhütten zum Schutz (Zauber) gegen dies Raubzeug gepflanzt sein. Vielgliedrig ist der bäuerliche Wortschatz f ü r die Haustiere jung und alt, weiblich und männlich usw.: Hudel ,Ziege', Zaumer ,Ochse', Jodel .Stier'. Hienz ,junger Stier', Nugerl ,kleines Schwein', Grille .zurückgebliebenes Schwein', zäpfig .tuberkulös'. Wenn die H ü h n e r der Bauersfrau einlegen, dann wälzen sie sich im Schmutz; und wenn sie dienen, dann legen sie Eier. Wichtig ist im bäuerlichen Lebenskreis das Wetter mit seinen Regeln: das Wetter ist lieb ,schön', es wird grau ,es dämmert', schlimm ist schauern .hageln', das mitsamt schauern wieder einmal (WA 5) altbayerisch-österreichisches Kennwort ist, nicht nordbairisch. Das Gewitter kann aufstocken ,auf steigen', von Gewitterwolken = aufkräulen, gronen ,grollen' 69 , wie vorhin das Grunzen der Schweine. Im H a u s kommen Wörter mit der Rockenstube ,Spinnstube' ab. Die Stubenkammer wird durch verkehrssprachliches Kabinett ersetzt. Gegen Wind und Schnee schützen die heute veralteten Windheften, Saumlatten, Schneehölzer. Die Schüsselkar in der Stube wird jetzt durch die Stellage für Topfe in der abgetrennten Küche der neuen Zeit ersetzt. Der hölzerne Boden ist auch dort im Bauernhaus durch die Zimmerleute aus Wien als Plafond benannt. Die Lie war auch hier die Rauch•• Die w i r in den kommenden Bänden des österreichischen Wörterbuchs e r w a r t e n .

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luke über dem offenen Herdfeuer. Hernach wird so jede Nische benannt, und heute ist es die Stelle am Keller, wo die Kartoffeln eingeschüttet werden. Es brauchen nicht immer hochsprachliche Wörter alle Namen der Haushaltsgeräte oder der Taschen mitsamt den Handtaschen der Frauen schon jetzt verdrängt zu haben. Noch gelten Trachter ,Trichter', Stahel ,Bolzen im Bügeleisen', Reiter ,Sieb' (bis nach Schlesien); Muser aber ist von Kochlöffel ersetzt. An Taschen sind nur in Erinnerung Bräsch, Krenze (Bäckerkorb), Tätschker (das im Schlesischen noch durchaus lebendig ist). Ganz allgemein gebräuchlich blieb Zeger ,Tasche', Senkel ,Tasche aus einem Tuch gebunden'. Verkehrssprachliches Toschn wird auch von der jüngeren Generation nur vereinzelt gebraucht. An Nahrungsmitteln blieben beliebt die Abendmilchsuppe: Stosuppe, Wasserschnalze ,Wassersuppe', Baudechsen (Art Germteigkuchen, zu Germ ,Hefe'). Die sind allerdings Gerichte des Dorfes geblieben. Aber aus der Verkehrssprache stammen die städtische Torte und die Gefüllte Paprika. An Kleidung kennt zur selbstgewonnenen Leinwand (härwene, zu Har ,Flachs')) auch die ältere Generation kaum etwas mehr. Schon sie kaufte Linzerzeig ,Blaudruck'. Veraltet mit der Tracht ist der Wortschatz dazu, wie die Stützelein ,Pulswärmer'. Aber im Haus werden noch die Holzschuhe mit dem Hinterstößel aus Leder angefertigt. Der bayerische Brauch der Totenbretter reicht bis in die Oberpfalz, sie werden gewiß noch eine Zeitlang an der Scheunenwand angenagelt bleiben und an Wegkreuzungen aufgestellt sein. Die hölzerne Türschwelle, die als Drischübel70 (zu dreschen ,mit den Füßen treten, [hier] eintreten'), im Oberdeutschen gilt gegenüber niederdeutsch-mittelfränkisch Dörpel, und das in der Hochsprache siegende ostmd. (Tür-)Schwelle, kommt als Wort mit der Sache ab. Es wird noch in altertümlichen Reliktlandschaften, wie in Südmähren, von westlich Linz bis ins Zillertal, in der Steiermark und in Kärnten gebraucht. In Innsbruck und in Salzburg mögen die Handwerker unter dem Einfluß der Hochsprache den alten, nunmehr nur resthaft bäuerlichen Ausspruch früher vermieden haben als in Altbayern, wo möglicherweise Drischübel noch länger hof- und gesellschaftsfähig geblieben sein könnte. Beim Abkommen von Wörtern spielt die gesellschaftliche Gewohnheit, auch als Sitte oder Konvention bezeichnet, eine Rolle. Wörter klingen nobler und erscheinen soziologisch höherwertig, wo Höflichkeit gepflegt wird. Das ist auch in einfachen Kreisen in der Anrede der Fall 71 . Daher veralten auch in bäuerlicher Sphäre die Bezeichnungen für Verwandte. Nicht mehr salonfähig ist, was man möglicherweise schon in der Schule gesagt bekommt oder mindestens von der Mutter, die ihre Kinder zu Anstand und besserem Benehmen anhält: scharretzen ,im Schlaf mit den Zähnen knirschen', schnödem ,durch verschnupfte Nase sprechen'. Moderne Kosmetik kann auch in der Kreiszeitung angepriesen werden: der 70

E. Kranzmayer, Die Ausdrücke für die Türschwelle in den Mundarten. In: Heimat und Volkstum 16. 1938, S. 33 ff.

südostoberdeutschen

71

O. Pausch, Die „wäldlerische" Mundart von Kirchbadi, Gerichtsbezirk Tulln, Niederösterreich. Diss. (masch.) Wien 1964, S. 114 ff.

Bairisch

209

alte Ausdruck Gefalterede geht auf geschrumpfte Gegenstände, auch verkümmerte Frucht, ein zerknittertes Kleid, aber insbesondere auf die Runzeln im Gesicht. Z w a r kommt bregeln ,aufschlucken' ab und wird durch das Substantiv mit seinem mildernden Suffix Schnäckerl ersetzt. Das ist insofern nicht erstaunlich, als dies Wort in Wien, woher es stammt, und zwar aus sehr gehobener Sprachschicht, die doch überall Menschlich-Körperliches tarnt oder verschweigt, umgangssprachlich ist. Der Begriff selbst wird aber gemieden, Schluckauf ist in Österreich Literaturwort. Das alte Wort Strauche, Stränke, Schnupfen' (DWA 2) wird auch im Wälderischen nicht mehr vom Menschen gesagt, nur noch vom Tier. Der Nipf war früher allgemein eine Munderkrankung. Jetzt ist es dort eine Hühnerkrankheit. Rotlauf und Wildes Feuer (Milzbrand) haben nurmehr die Schweine. Vom hochsprachlichen husten wird hüllen ersetzt, aber beim Tier hält es sich noch: Brüllen des Viehs im Stall. Solche Herabsetzung ursprünglich auf Mensch und Tier bezogener Ausdrücke durch Einschränkung auf Tiere zeigen weiterhin Hirn und Kinn (in der Form Keue) bei Rind und Pferd. Werden alte Ausdrücke beibehalten, so wird die Bedeutung bei der Anwendung auf den Menschen verschlechtert: die Lefze ist die Hängelippe, Keue .spitzes Kinn', Goder ,Doppelkinn'. Auch im Wortschatz sind die altertümlichsten Zeugen die nach Italien und Jugoslawien vorgelagerten südbairischen Bauernsprachinseln, von denen oben die Rede war. Ihre mutterländische Ausgangslandschaft ist auch der noch heute an Wortschatz sehr altertümliche Osten von Tirol. Seine Erforschung und der Vergleich mit den noch heute lebenden Inselmundarten von Pladen und Zahre hat jüngste Forschung unternommen und manche alte Gleichung als durchaus noch lebendig beobachtet 72 . Solche Gleichungen sind Tätte ,Vater", Görre ,Mutterschaf', Kese ,Getreideharfe' f ü r Pladen und Zahre; auch Wiesbaum, wobei die im zweiten Weltkrieg in die Südsteiermark umgesiedelten Gottscheer anzuschließen sind. In Zahre ist der ,Föhn' ein Jauchwind, wozu in der Stammheimat Jauch stimmt. Für die Gottscheer und ihre Stammlandschaft sind als Gleichungen zu nennen: Amme ,Mutter', Frisching ,Mutterschaf', Line (zu Li'e, Lee, die wir in sehr verschiedenen Bedeutungen oben öfters antrafen) ist hier die ,Öffnung der Heuschupfe', Stadelline ist das ,oberste Stadelfenster'. Zu nennen sind noch vormaßen ,frühstücken', Raifstuol ,Schnitzbank', sonst weithin Heinzelbank. Zu Zarz ( Lessiak-Kranzmayer) stimmt die Wortgleichung mit der Urheimat im Pustertal, in Tirol westlich von Lienz, z. B. in häse ,heiser' oder Käseluppe f ü r ,Käselab'. D a ß das bairische Merkmal der alten Duale eß, enk relativ jung ist, bezeugen sie zum Teil mit der NichtÜbernahme. Die Beheimatung 72

14

Maria H o r n u n g , M u n d a r t k u n d e Osttirols. Eine dialektgeographische Darstellung mit volkskundlichen Einblicken in die altbäuerliche Lebenswelt. Wien 1964. — Vorbereitet wird Wortgeographie in weiteren Bänden zum: Tiroler Sprachatlas, hrsg. v. K. K. Klein u. L. E. Schmitt. Unter Berücksichtigung der Vorarbeiten f Bruno Schweizers bearbeitet von Egon Kühebacher. l . B d . Vokalismus. Marburg 1965. D a r i n S. 1 K a r t e : Deutsche Siedlungen südlich der Sprachgrenze bei Salurn. Mitzka, Wortgeographie

210

Walther Miizka

im geschlossenen südbairischen Gebiet ist vor allem lautgeographisch erfolgt 7 3 . Das konservativste Mundartgebiet ist also das Tirolische auch innerhalb des geschlossenen Gebietes. Der H a u p t o r t jener südlich von Tirol gelegenen „Dreizehn Gemeinden" Giazza hat in seiner Mundart Gareida ,Sprache', eigentlich ,das Gerede'; hantig (hantag) ,bitter', das germanische Erbwort Eiß (Oas) ,Furunkel'; klieben (klijban) ,Holz spalten'; aus der Kindersprache hajarn ,sich kindisch betragen' (heia — machen). Das eben erscheinende österreichische Wörterbuch beginnt unter seinen Stichwörtern auch Kennwörter zu nennen, wie S. 94 Afel (Äfel, Aufel, Afelt, Gafel) ,Erreger von Entzündungen, Geschwülsten und anderen Krankheiten, Eiter'. Es gehört zu altnordisch afl ,Kraft, Macht', ist also urverwandt mit lat. opus ,Werk'. Afel ist also im Bairischen zunächst ,arbeitende Kraft in einer Wunde', es ist ein Mundartwort, das im Althochdeutschen, aber nicht mehr im Mittelhochdeutschen belegt ist. Der Arl ,einfacher Holzpflug' wird in Niederösterreich (Waldviertel), Kärnten, Steiermark und Teilen von Tirol immer wieder in entlegenen Bauernlandschaften gekannt und genannt. Wieder zeigt sich die Gleichung im hohen Norden mit anord. ardr ,Pflug', urverwandt mit lat. aratrum. Allein in den ältesten aller dieser Sprachinseln, in den um 1100 gegründeten Sieben Gemeinden ist das noch zum heutigen Nordgermanischen stimmende Wort f ü r den ungesalzenen Käse erhalten: 1 stakäse.

73

E. Kranzmayer, Laut- und Flexionslehre der deutschen zimbrischen Mundart, das sind die Mundarten in den sieben vicentinischen Gemeinden, den dreizehn Veroneser Gemeinden und den deutschen Orten im Trentinisdien (mit Ausnahme des Fersentales und Vensberges). Diss. (handschr.) Wien 1925. Ausgestorben ist die Mundart in Zarz und Deutschruth: E. Schwarz, D i e letzte deutsche Mundart in Krain (Zarz). In: Z M F 2 1 . 1952, S. 34 ff.

HANS

FRIEBERTSHÄUSER

Westmitteldeutsch Sprach-, Berufs- und Sozialschichten im Spiegel westmitteldeutscher Wortgeographie Einleitung „Der modernste Zweig vergleichender Mundartbetrachtung ist in Deutschland heute die Wortgeographie, bei der es sich d a r u m handelt, die mundartliche Verbreitung der W o r t s y n o n y m a festzustellen 1 ." Die Erforschung des geographisch gestaffelten Wortschatzes hat umfassende Erkenntnisse über die Gesellschaft, die soziale Schichtung der Gemeinschaft, die Berufssprachen, die sprachlichen Folgen der gesellschaftlichen S t r u k t u r w a n d l u n g e n , die sprachlichen u n d sachlichen U n t e r schiede zwischen S t a d t u n d Land u. v. a. erbracht. Wir können in diesem Beitrag aus der Fülle linguistischer Probleme, die im Zuge der soziologisch orientierten wortgeographischen Forschungsarbeiten erwachsen sind, nur einige herausgreifen. Es ist in diesem Zusammenhang unmöglich, die vielschichtigen sprachsoziologischen Untersuchungen u n d ihre Ergebnisse in zusammenfassendem Uberblick darzustellen. So müssen wir z. B. darauf verzichten, auf die Beziehungen zwischen M u n d a r t , landschaftlicher Umgangssprache u n d Hochsprache einzugehen, auch manche andere ganz besonders interessante Forschungsergebnisse (wie z. B. die von R. Bruch über das Luxemburgische) können nicht berücksichtigt werden, wenn sie von unserer Fragestellung abweichen 2 . Im folgenden sollen aus dem umfassenden Problemkreis folgende Themen herausgegriffen w e r d e n : S p r a c h s t r ö m u n g e n , A l t e r s s t u f e n , B e r u f s - u n d S o z i a l s c h i c h t e n . Die beiden ersten Sachgebiete, die wir nur k u r z behandeln, sind zwei Aspekte der komplexen Sprachschichtung. Wir fassen sie zu einem Kapitel („Sprachschichten") zusammen, obwohl sie — darauf 1

E. Schwarz: Die deutschen Mundarten, Göttingen 1950, S. 133. Vgl. A. Bach: Deutsche Mundartforschung, Heidelberg 1950 2 , §§ 46, 48, 126 ff.; B . M a r t i n : Die deutschen Mundarten, Marburg 1959 2 , § 142 f. (mit Schrifttum); P. v. Polenz: Arbeiten zum Deutschen Wortatlas (Bibliographie), Marburg 1963 (Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, hrsg. von L.E.Schmitt, Bd. 2), S. 525 ff.; L. Berthold: Das wortgeographische Prinzip in den deutschen Mundartwörterbüchern, in: Orbis, Bulletin International de Documentation Linguistique, Tome IV, N ° 2, 1955, S. 415 ff. u. v. a.

2

Über das wichtigste Schrifttum bis 1959 vgl. B. Martin, a. a. O., S. 163 ff.

212

Hans

Friebertshäuser

sei ausdrücklich hingewiesen — nur einen Ausschnitt aus einem vielschichtigen Sachgebiet darstellen. I m M i t t e l p u n k t

der Untersuchung steht die Frage,

wie B e r u f s - und S o z i a l s t r u k t u r e n

sich in westmitteldeutscher W o r t -

geographie spiegeln. D a m i t berühren wir Probleme, die in der sprachsoziologischen Forschung, soweit wir sehen, bisher nur am Rande behandelt worden sind: hier eröffnet sich in der Zukunft für den soziologisch interessierten Linguisten noch ein weites Forschungsgebiet. Als Quellen benutzen wir das im Druck vorliegende Material

folgender

großer landschaftlicher Wörterbücher: des Rheinischen 3 (abgekürzt Rhein.), des Hessen-Nassauischen 4 (abgek. Hess.-Nass.), des Luxemburgischen 5 (abgek. Lux.), des Südhessischen 6 (abgek. Südhess.) und des Pfälzischen 7 (abgek. P f a l z . ) ; außerdem ungedruckte Belege des Hessen-Nassauischen Wörterbuches (der Verfasser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von Frau P r o f . Berthold, der Leiterin

des

Wörterbuches). Weiterhin lieferten der Deutsche Wortatlas 8 und manche der im Marburger Forschungsinstitut für deutsche Sprache, Deutscher Sprachatlas, erwachsenen Monographien Material für die Darstellung. Schließlich

konnten

Werke der Heimat- und Dialektdichtung und auch volkskundlich oder sprachlich ausgerichtete heimatkundliche Literatur benutzt werden. Wir glauben, daß die zeitlichen Differenzen, die zwischen den einzelnen Aufnahmen bestehen, für die Behandlung der von uns aufgeworfenen Fragen keine Hinderungsgründe sind. I m ganzen repräsentiert unser Material, das scheint uns allerdings von Bedeutung zu sein, nicht in allen Fällen die Gegenwartssituation; das gilt vor allem für die Wörterbuchbelege, die z.T. schon vor einigen Jahrzehnten gesammelt worden sind. U m einige wichtige Aussagen zu verdeutlichen, haben wir mehrere Beispiele aus niederdeutschen Grenzlandschaften des Westmitteldeutschen benutzt. Belege aus dem Ostfränkischen sind öfter berücksichtigt worden. Natürlich haben wir auch die Mundarten des Siebenbürgischen und der Zips behandelt; leider konnte das in diesem Zusammenhang nicht in der Ausführlichkeit geschehen, wie man das vielleicht wünschen möchte. Es sei daher auf die Forschungsarbeiten von E. Schwarz und anderer Gelehrter hingewiesen. Schwarz hat u. a. die Herkunft 8

Rheinisches Wörterbuch, bearbeitet von J. Müller, Bd. 1 ff. (ab Bd. 9 bearb. von H. Dittmaier), Bonn und Berlin 1928 ff.

4

Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch, bearbeitet von Luise Berthold, Bd. 2, Marburg 1943 und Bd. 3, Marburg 1967.

5

Luxemburgisches Wörterbuch, Bd. 1 f., Luxemburg 1950 ff. Vgl. auch: Wörterbuch der Luxemburgischen Mundart, Luxemburg 1906.

6

Südhessisches Wörterbuch, bearbeitet von R. Mulch, Lieferung 1 (A—Azynthe), Marburg 1965 und Lieferung 2 (Axt-Bock I), Marburg 1966.

7

Pfälzisches Wörterbuch, bearbeitet von J . Krämer, Lieferung 1—4, Wiesbaden 1965 f.

8

Deutscher Wortatlas, Bd. 1—4 hrsg. von W. Mitzka, Bd. 5 ff. hrsg. von W. Mitzka und L. E. Schmitt, Marburg 1951 ff.

Westmitteldeutsch

213

der Siebenbürger und Zipser Sachsen untersucht 9 ; interessant sind dabei die Vergleiche von siebenbürgischen und oberzipsern lautlichen und wortgeographischen Erscheinungen (S. 15 ff.) mit mittelfränkischen Belegen, außerdem die Darstellung über die Wanderwege der Siedler aus dem Westmitteldeutschen (S. 148 ff.) u. a. Schließlich müssen wir noch darauf hinweisen, daß der wortgeographische Gesichtspunkt in der zweiten Hälfte nicht so stark im Mittelpunkt steht wie in der ersten; er fehlt jedoch nicht. Es ist in diesem Teil nach dem vorliegenden Material nicht immer möglich, die einzelnen Synonyma räumlich klar voneinander abzugrenzen.

I. Sprachschichten Sprachströmungen Man hat in der Forschung den Vorgang der Wortbewegungen immer wieder untersucht 10 . Wenn wir an Saussures Einteilung der Sprachwissenschaft denken 11 , spielt die diachronische Frage bei den Arbeiten über Sprachströmungen eine große Rolle. Eine solche „evolutive Linguistik studiert verschiedene, zeitlich oder räumlich auseinanderliegende Sprachzustände, indem sie dieselben miteinander vergleicht" 12 . Dabei ist es u. a. von großer Bedeutung, worin die Ursachen für die Veränderungen zu suchen sind. Oft erfolgen „Verdrängungen . . . , wenn andere Wörter irgendwie stärker werden, sei es als schriftsprachliche Formen oder der überlegenen Verkehrssprache . . . Am wenigsten werden solchen Bewegungen Wörter von geringerem Verkehrswert ausgesetzt sein" 1 3 . Wir können in diesem Zusammenhang die vielen vorliegenden Probleme natürlich nicht aufzeigen, sondern wollen in skizzenhafter Darstellung nur wenige Beispiele für Wortbewegungen aus dem westmitteldeutschen Raum anführen und z. T. nach ihren Ursachen fragen. 9

Die Herkunft der Siebenbürger und Zipser Sachsen. Siebenbürger und Zipser Sachsen, Ostmitteldeutsche, Rheinländer im Spiegel der M u n d a r t e n . München 1 9 5 7 . Vgl. auch E . S c h w a r z : P r o b l e m e der siebenbürgisch-sächsischen Fernsiedlung, in: Südostdeutsche:. Archiv, hrsg. von Th. M a y e r , V I I I . Bd., S. 1 ff., München 1 9 6 5 .

10

Vgl. d a z u A . Bach, a. a. O . , § § 62, 95 ff., 1 0 9 ff.; F. M a u r e r : Sprachschranken, Sprachr s u m e und Sprachbewegungen im Hessischen, in: Hessische B l ä t t e r für Volkskunde 2 8 , 1 9 2 9 , S. 4 3 ff.; E . C h r i s t m a n n : Sprachbewegungen in der P f a l z , Speyer 1 9 3 1 ; H . Aubin, Th. Frings, J . M ü l l e r : Kulturströmungen und K u l t u r p r o v i n z e n in den R h e i n landen, Bonn 1 9 2 6 ; F . Debus: Spiachbewegung am Beispiel wortgeographischer E r scheinung, in: Zeitschrift für Mundartforschung ( = Z M F ) 3 0 , 1 9 6 3 / 6 4 , hrsg. v o n L . E . Schmitt, S. 3 3 5 ff. u. v. a.

11

E r unterteilt in einen dynamischen (oder historischen oder diachronischen) und in einen statistischen (oder deskriptiven oder synchronischen) T e i l ; vgl. W . v . W a r t b u r g : E i n f ü h r u n g in P r o b l e m a t i k und Methodik der Sprachwissenschaft,Tübingen 1 9 6 2 , S . 9 .

12

W . v. W a r t b u r g , a. a. O . , S 8.

13

E . S c h w a r z : Die deutschen M u n d a r t e n , Göttingen 1 9 5 0 , S. 143.

214

Hans

Friebertshäuser

Edda Schräder 14 hat vor kurzem die räumlichen und historischen Schichten in der Synonymik für M o h r r ü b e untersucht. Sie zeigt u. a., daß Gelberübe sich im Rheintal gegen altes Möhre durchgesetzt und von hier aus über den Taunus ins Mitteldeutsche verbreitet hat; nur das „altertümliche und beharrsame Gebiet Althessen blieb bezeichnenderweise dem germ. Erbwort Möhre erhalten, während das verkehrsoffene Land der Wetterau dagegen die Neuerung bereitwillig aufnahm" (S. 386). Von hier aus ist Gelberübe u. a. bis an die Grenze des Niederdeutschen vorgedrungen. Die Dynamik dieses Vorrückens und die mit ihr verbundene Großflächigkeit der Synonymik ist in dem Streben des Marktwortes nach a l l g e m e i n e r V e r s t ä n d l i c h k e i t z u suchen, ..die Bedeutung der Möhre als Kulturpflanze, als Nahrungsmittel und Handelsobjekt, bedingt für ihre Bezeichnung die Tendenz zur Einheitlichkeit. Dieses der Verkehrs- und Umgangssprache eigene Streben wirkt der Neigung der Mundarten zur Bezeichnungsbreite entgegen" (S. 458). Von Bedeutung für die Veränderung der historischen Schichtung ist auch die Tatsache, daß Gelberübe gegenüber dem Typ Möhre als inhaltsstärker zu gelten hat (S. 459). Daß auch Wortbewegungen zwischen rein mundartlichen Wortflächen stattfinden können, zeigt ein Beispiel aus dem Rheinland, auf das E. Schwarz 15 besonders hingewiesen hat. Die Formen mit Molt-werf für M a u l w u r f haben von Süden nach Norden das einst im Ripuarischen und Niederfränkischen geltende Moll zurückgedrängt. Für uns ist die Interpretation des Kartenbildes durch Schwarz deshalb von besonderem Interesse, weil der Vergleich der rheinischen mit der siebenbürgischen Sprachlandschaft zeigt, daß mittelfränkische Worte in Nord- und Südsiebenbürgen vorhanden sind, daß außerdem Moll im Siebenbürgischen nicht auftaucht; es muß also schon im 12. Jahrhundert im mittelfränkischen Herkunftsgebiet der Kolonisten zurückgedrängt worden sein u. v. a. (vgl. dazu ausführlicher S. 144 a. a. O.). Iris Nordstrandh 16 , die den deutschen Wortschatz für Brennessel und Quecke untersucht hat, konnte nachweisen, daß die Wortlandschaft von Agriopyruus repeus durch vielfältige Wortbewegungen beeinflußt worden ist, die „heutige Verteilung im Raum muß als Ergebnis der Entwicklung in der Zeit aufgefaßt werden" (S. 58). Ein interessantes Beispiel für eine deutsche Binnensiedlung liefert die ostfränkische Qaaiie-Fläche. Nordstrandh konnte durch eine genaue Interpretation des Kartenbildes (DWA 2) beweisen, daß Siedler aus dem Südripuarischen in das ostfränkische Gebiet geholt worden sind (S. 87), und zwar müssen zahlreiche Angehörige der bäuerlichen Kolonistenschicht bei dieser Siedelbewegung beteiligt gewesen sein: Quecke ist nämlich ein altes Bauernwort, bei dem Einflußnahme durch die sozialen Oberschichten kaum vorhanden gewesen 14

I n : Deutsche Wortforschung in europäischen Bezügen, B d . 4, S. 355 ff.

15

D i e deutschen M u n d a r t e n , a. a. O . , S. 143 f.; vgl. Rheinisches Wörterbuch 5, 1251 ff. und W o r t k a r t e V , 2 6 ; Sp. 1245 f.

16

Brennessel und Quecke. Studien zur deutschen W o r t - und Lautgeographie, Lunder Germanistische Forschungen 2 8 , hrsg. von E . R o o t h , Lund und Kopenhagen 1954.

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215

ist; darauf weisen die verschiedenen Benennungsmotive (vgl. auch S. 62 ff.). Jedenfalls k a n n durch das A u f t r e t e n der ripuarischen Quecke-Formen im O s t fränkischen das „Problem der Frankisierung des bis dahin allemannisch-thüringischen Raumes u m W ü r z b u r g " (S. 88) als gelöst betrachtet werden. Auf Sprachbewegungen im Gebiet des Hessen-Nassauischen Wörterbuches haben wir selbst vor einiger Zeit hingewiesen 1 7 , u n d z w a r konnten wir g r o ß r ä u m i g e Sprachströmungen von k l e i n f l ä c h i g e n L a u t - u n d W o r t bewegungen unterscheiden. Lexikalische Verschiebungen auf kleinem R a u m lassen sich u. a. im Gebiet des Kreises Biedenkopf, der Landschaft westlich von Marburg, erkennen: H i e r sind immer wieder wortgeographische Neuerungen von Osten nach Westen vorgedrungen (S. 51 ff.). Wir haben versucht, die G r ü n d e f ü r diese dynamischen Bewegungen zu finden und glaubten, sie in „dem Ausdehnungswillen des Marburger Raumes", aber auch in der „Aufnahmebereitschaft der westlichen Anschlußlandschaft" sehen zu können (S. 55). D e r Westen hat das „psychologische Übergewicht" 1 8 der östlichen Formen also b e w u ß t empf u n d e n u n d sie daher übernommen. W i r möchten zur ergänzenden Deutung unserer a . a . O . gegebenen Analyse h i n z u f ü g e n : D e r industrielle Arbeitnehmer f ü h l t e sich zwischen den zwei Weltkriegen in der Untersuchungslandschaft dem selbständigen Bauern meist noch unterlegen. Selbst die relativ gut verdienenden Former genossen noch nicht den Status des Mittelstandes. Die z. T . p a t r i a r chalischen O r d n u n g e n im Betrieb, die gelegentlich noch vorhandenen v o r i n d u striellen Produktionsbedingungen u. a. w a r e n damals noch Ursache f ü r eine weitverbreitete Unzufriedenheit der Arbeiter mit der eigenen sozialen Situation. In diesem R a u m gab es damals noch ein Arbeiterbewußtsein, das „zwei verschiedenartige Elemente" enthält, „die wir das Leistungs- u n d das Kollektivbewußtsein nennen" wollen 1 '. Es unterschied sich k a u m von dem Gesellschaftsbild, das P o p i t z u. a. nach genauen Untersuchungen in der H ü t t e n i n d u s t r i e d a r gelegt haben (S. 237 ff.). A u d i f ü r unsere Arbeiter w a r die Gesellschaft „dichotomisch" gegliedert; Aufstiegshoffnungen hatten sie f ü r sich selbst kaum. Sie wünschten nur, d a ß ihre K i n d e r einmal eine selbständige, freie Position erwerben könnten. Das Leitbild w a r f ü r viele von ihnen, gerade in der Arbeitslosenu n d Inflationszeit, die Selbständigkeit in Landwirtschaft oder H a n d w e r k . D a sie es selbst nicht verwirklichen konnten, wünschten sie ihren K i n d e r n die Einheirat in einen Betrieb, der durch die Familie als intakte u n d traditionelle Arbeitseinheit geprägt wurde. Die Einstellung der Jungen und der Alten zur Landarbeit als selbständige Bauern ließ v o r allem den Osten, den Bereich um Marburg, als eine Landschaft mit „psychologischem Übergewicht" erscheinen; hier besaßen die bäuerlichen Betriebe die erwünschte wirtschaftliche Ergiebigkeit, garantierten die Existenzsicherheit u n d boten einem strebsamen jungen Men17

H . Friebertshausen Sprachbewegungen im Gebiet des Hessen-Nassauisdien Wörterbuches, in: Z M F 29, 1962, S. 48 ff.

18

K . W a g n e r : Deutsche Sprachlandschaften, Marburg 1927, S. 56.

19

H . Popitz, H . P. Bahrdt, E. A. Jüres, H . Kesting: D a s Gesellschaftsbild des Arbeiters. Tübingen 1961.

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sehen die Möglichkeit zur Einheirat und damit zum sozialen Aufstieg. In solchen Kriterien liegen die Gründe f ü r die sprachliche Aufnahmebereitschaft des Raumes um Gladenbach, also f ü r die Wortbewegungen von Ost nach West. Altersstufen Zwischen den Generationen bestehen ohne Frage große sprachliche Unterschiede. So ist die K i n d h e i t als eine Mentalitätsstufe mit entwicklungsbedingten seelischen Regungen und Bedürfnissen durch Unterschiede des W o r t s c h a t z e s u. a. von den übrigen Altersgruppen geschieden. Die Wortgeographie hat u. a. die Bedeutung d e s k i n d l i c h e n S p i e l s und der S p i e l g e m e i n s c h a f t f ü r die Benennungsmotivik immer wieder herausgearbeitet, z. B.: „Nach dem Luxemburgischen Wb. 62 wird der Stempel der Schlüsselblume Dilemännche genannt. Diese Bezeichnung, die auf das Kinderspiel hinweist — Dillendapp ist ein als Kreisel dienender Knopf mit durchgestecktem Hölzchen —, wird auf die ganze Blume übertragen" 2 0 . Aus der Zips ist Potschesterchen überliefert 21 . Der N a m e läßt erkennen, daß die Schlüsselblume auch hier zum Kinderspiel benutzt worden ist; das Wort setzt sich zusammen aus mundartlichem quatschen = platzen (die Kinder bliesen die Blüten auf, schlugen sie dann gegen die Stirn, wo sie mit einem Knall aufplatzten) und schriftsprachlichem Schwesterchen (die Blüten wurden nur einzeln, als ob sie Schwestern seien, benutzt). Sehr umfangreich ist die Synonymik f ü r „im Spiel alle Klicker abnehmen"; das Südhessische Wörterbuch f ü h r t allein 132 Beispiele an (1,33). Wir müssen bei einem solchen gehäuften Vorkommen kindertümlicher Ausdrücke allerdings fragen, „ob sie nicht bereits zur Sprache der Erwachsenen gehören, die diese in ernsthaftem Gebrauch untereinander verwenden" 2 2 . Werden kindertümliche Bezeichnungen nur einzeln oder verstreut gemeldet, dann — darauf hat Mitzka 2 3 hingewiesen — scheinen sie vor allem oder ausschließlich zum Wortschatz der Kinder zu gehören. So dürfte Siebenblättchen, eine Bezeichnung in Oberhessen f ü r den Ahorn (vgl. Hess.-Nass. 3,593, 27 f.), nur bei den Heranwachsenden gültig sein. Ein weiteres Beispiel ist Nase f ü r die Ahornfrucht. Diese Frucht wird dem Kind nicht durch bloße Betrachtung interessant; erst wenn es sie aufnehmen, untersuchen und gar aufspalten kann, um sie auf die Nase zu setzen, ist es nicht nur f ü r dieses Spiel begeistert, sondern f ü r eine neue Wortschöpfung verantwortlich (vgl. Hess.-Nass. 2, 438,19 ff.). Weil dieses Spiel und die auf ihm beruhende Bezeichnung f ü r den Heranwachsenden besonders anschaulich ist, scheint auch Zwickerbam f ü r den Ahornbaum selbst eine reine kindersprachliche Bezeichnung zu sein (es wird bei Bamberg und noch in einigen anderen Streubelegen genannt) 2 4 . Wieder ist zur Deutung des Wortes auf die besondere 20

21 22 23 24

Elisabeth Diedrichs: D i e Schlüsselblume. Untersuchungen zum Deutschen Wortatlas, Gießen 1952 (Beiträge zur dt. Philologie 100), S. 74. s. E. Diedrichs, a. a. O., S. 74. W. Mitzka: Der Ahorn, Gießen 1950 (Beiträge zur dt. Philologie 91), S. 49. a. a. O., S. 49. W. Mitzka, a. a. O., S. 50 f.

Westmitteldeutsch

217

seelische Entwicklung von Jungen u n d Mädchen der Vorpubertätsphase hinzuweisen. Die Kinder suchen in dieser Entwicklungsperiode die U m w e l t nur von den eingenen Erfahrungen, d. h. sehr entscheidend von den Erlebnissen aus der Spielgemeinschaft her zu erfassen. Aus denselben G r ü n d e n ist auch Petzeklemmer (Bergstraße) f ü r den A h o r n der Kindersprache und nicht der Erwachsenensprache zuzurechnen (Mitzka: D e r Ahorn, a. a. O., S. 51 f.). Für das Ostfränkische hat vor kurzem H . Marzeil- 5 Pflanzennamen erwähnt, die „durch die Kindersprache geprägt" w o r d e n sind u n d sich „auf Kinderspiele" beziehen. Das Z i t t e r g r a s (Briza media) heißt im Fichtelgebirge Schlotterl {Schlotter = K i n d e r k l a p p e r ) ; der N a m e weist auf die dünnstieligen Ähren hin, die sich bei jedem Windhauch bewegen. Kna(r)zastöck (knarzen = knarren) werden die Pflanzen des K l a t s c h - M o h n s (Papaver rhoeas) genannt, weil die K i n d e r die Blütenblätter auf der Stirn oder den Handrücken zerschlagen. Auch die folgenden Beispiele zeigen deutlich, d a ß der Heranwachsende die Gegenstände der unmittelbaren U m w e l t nicht optisch-betrachtend, sondern gestaltend kennenlernt: D e r K l a t s c h - M o h n heißt Feuerdockeli (Docke = Puppe), Jungferli, Pfarrjüngferl oder Kornfräulein, weil die Mädchen Püppchen aus den beinahe ganz geöffneten Blütenknospen der Pflanze herstellen: Die Sache wird mit der Wortschöpfung zum lebendigen Besitz des Kindes (weitere Beispiele s. bei Marzeil a. a. O., S. 278). Auf andere kindersprachliche Bezeichnungen im ostfränkischen R a u m hat E. Straßner 2 6 hingewiesen. Eine reiche Synon y m i k zeigt z. B. die K a r t e M a r i e n k ä f e r (s. S. 196). D e r K ä f e r hat f ü r das Kinderspiel u n d damit auch f ü r die Kindersprache eine besonders große Bedeutung, so läßt z. B. eine Bezeichnung wie Herzenmockelein (zur Etymologie von mockelein vgl. a. a. O . S. 197) die starke Gefühlsverbundenheit des H e r a n wachsenden z u m M a r i e n k ä f e r erkennen (S. 198). Auch W. Wenzel 2 7 u n d W. Leinweber 2 8 haben die Bezeichnungen f ü r den M a r i e n k ä f e r (in den Gebieten um Wetzlar u n d Marburg) erfragt und eine große Zahl von Synonymen in ihren relativ kleinen Untersuchungslandschaften gef u n d e n . Auch sie f ü h r e n die Bezeichnungsbreite z. T. auf die Rolle zurück, die der K ä f e r f ü r das Kinderspiel hat. Den L ö w e n z a h n nennen die Jungen u n d Mädchen im Wetzlarer R a u m häufig Kettenkraut, Kettenblume, Kettenrose, Kettenbusch, Schlüsselblume u. a. (Wenzel a . a . O . , S. 80, vgl. Leinweber a . a . O . , S. 51): das eindrucksvollste M e r k m a l der Pflanze ist das, was man aus ihr herstellen k a n n . Auch die landschaftlichen Mundartwörterbücher weisen sehr häufig auf kindersprachliche Bezeichnungen hin; so das Pfälzische mit e Batschel gewwe „eine Hand geben" (1, 602, 53 f.), das Hessen-Nassauische mit Brief, Bote, Doktor, 25 26 27

28

Mundartliche Pflanzennamen im Ostfränkischen, in: ZMF 30, 1963/64, S. 277 f. Beiträge zur ostfränkischen Wortgeographie, in: ZMF 30, 1963/64, S. 193 ff. Wortatlas des Kreises Wetzlar und der umliegenden Gebiete, in: Deutsche Dialektgeographie ( = D D G ) 28, Marburg 1930, S. 79, Karte 92. Wortgeographie der Kreise Frankenberg, Kirchhain, Marburg. In: D D G 10, Marburg 1936, S. 53 f., Karte 61.

218

Hans

Friebertshäuser

Reiter u. a. f ü r die kleinen, viereckigen Pappstückchen, die am Bindfaden zwischen Kind und dem in der Luft schwebenden Drachen befestigt sind (App.) 29 u. v. a. Wir wollen von den vielen vorliegenden Benennungen der Wörterbücher keine mehr anführen, sondern uns mit den bisherigen Beispielen begnügen. Sie zeigen übereinstimmend: es ist nie ein a b s t r a k t e s R e f l e k t i e r e n , sondern immer die p e r s ö n l i c h e E r f a h r u n g — meist das gefühlsbetonte Erlebnis (im Spiel etwa) —, das dem Kind zur Kenntnis der Gegenstände verhilft und das damit auch Ursache f ü r die Wortschöpfung ist. Deshalb ist es auch einleuchtend, daß die „Träger des Sprichwortes" im allgemeinen nicht Kinder und Jugendliche, sondern die Alten sind. Mathilde H a i n hat die Altersschichtung einer südhessischen Gemeinde untersucht und die Gründe f ü r die verschiedene Verteilung des Sprichwortgutes dargestellt (Sprichwort und Volkssprache, Gießener Beiträge zur deutschen Philologie 95, Gießen 1951, S. 52 ff.). Für die Ausweitung des kindlichen Vorstellungslebens und f ü r die Einführung des Heranwachsenden in die geistige Welt ganz allgemein spielt die Schule eine große Rolle; namhafte Pädagogen und Psychologen haben immer wieder darauf hingewiesen. Nach dem Ende der realistischen Phase beginnt der Pubertierende, sich zum ersten Male f ü r andere Menschen zu interessieren und sein eigenes Ich zu entdecken. Der Erzieher muß sich mit diesen und anderen entwicklungsbedingten Eigenarten des kindlichen und des jugendlichen Weltbildes auskennen, um die Schüler auf richtige Weise bilden und erziehen zu können. Dieses Ziel vermag er nur zu erreichen, wenn er die Mundartsprecher an die Hochsprache heranführt. Es ist selbstverständlich, daß aus diesen und vielen anderen Gründen die Heranwachsenden im allgemeinen dem Schriftdeutschen näherstehen als die Alten. Die Wortgeographie konnte viele Beispiele f ü r diese Sprachschichtung zwischen j u n g und a 11 liefern. W. Wenzel z. B. hat im Wetzlarer Raum die Verteilung des Wortschatzes auf die einzelnen Altersstufen untersucht und drei bis vier Gruppen unterschieden (a. a. O., S. 124 f.). Die jungen Leute bis zwanzig Jahre gebrauchen vor allem moderne Bezeichnungen, die Sechzig- bis Siebzigjährigen dagegen bevorzugen viele alte Ausdrücke, die den jungen Leuten schon unbekannt sind oder von ihnen in pejorativer Bedeutung verwendet werden. Altes Eidam30 ,Schwiegersohn' hört man z. B. meist nur noch von den Alten, die neue Bezeichnung Schwiegersohn gehört weitgehend zum Wortschatz der Jugend (S. 60 f.). Zwischen den beiden Generationen stehen die Dreißig- bis Fünfzigjährigen; sie kennen und verwenden häufig modernes und auch altes Sprachgut. „Daß diese Einteilung nur grob ist und die persönliche Einstellung des Einzelnen zur städtischen Art berücksichtigt werden muß, ist selbstverständlich. Für die Wortwahl ist es auch von Bedeutung, ob der Sprechende mit einem Angehörigen derselben, einer jüngeren oder älteren Altersschicht redet, ob also 29

A b k ü r z u n g — auch im folgenden — f ü r „ A p p a r a t " (des Hessen-Nassauischen W ö r t e r buches).

30

Vgl. d a z u auch F. D e b u s : Die deutschen Bezeichnungen f ü r die H e i r a t s v e r w a n d t s c h a f t , Gießen 1958 (Deutsche W o r t f o r s c h u n g in europäischen Bezügen, Bd. 1), S. 1 ff.

Westmitteldeutsch

219

etwa ein Dreißigjähriger mit einem Gleichaltrigen, einem Kinde oder einem Alten spricht 31 ." Noch viele andere Darstellungen weisen auf eine ähnliche Schichtung des Wortgutes hin. Auch die großen Mundartwörterbücher zeigen den unterschiedlichen Anteil der Generationen am Sprachschatz. So können wir im Pfälzischen bei folgenden Beispielen zwischen alter und junger Wortschicht trennen 32 : bei B a h n h o f (Pfälz. 1,531, 29 f.) zwischen altem Station und jungem Bahnhof; bei B a h n s t e i g (1, 5 3 1 , 5 0 f.) zwischen Perron (1930 bei den Alten noch gültig) und Bahnsteig; bei R a d i o z e i t zwischen Bahnzeit (1, 531, 59 ff.) und Radiozeit; bei B a j a ß (1, 532, 31 ff.) zwischen Bajaß und Clown u . a . ; bei B a 1 b i e r e r ,Friseur1 (1, 534, 28 ff.) zwischen Balwiere(r), Bader und jüngerem Friseur; bei Pappel „der Baum Populus alba und nigra" (1,564, 49 ff.) zwischen Bell, Bellebaam (Belle, Beilenbaum) und jüngerem Pappel; bei P a r a p 1 ü ,Regenschirm' (1, 572, 42 ff.) zwischen Paraplü und jüngerem Regenschirm, Schirm; bei B a s e ,weibliche Seitenverwandte' (1, 588, 38 ff.) zwischen Base und Tante. Von Pasquill wußten 1930 nur noch die Alten, daß es „anonyme Schmähschrift" (1, 592, 38 ff.) bedeutet. Im Kreis Bingen war das schwache Verbum abworfen ,abwerfen' 1962 nur noch (selten) bei der älteren Generation in Erinnerung (z. B. Kannsd du de Wißbäm allä" abworfe; Südhess. 1, 119, 3 f.). A b t e i l im Gebiet des Südhessischen Wörterbuches liefert ein interessantes Beispiel für eine Kombination zwischen vertikaler und horizontaler Sprachschichtung (1, 109, 30 ff.): „Das eingebürgerte Fremdw. Kuppee und das nhd. Ersatzw. stehen 1930 noch nebeneinander. A. ist das Wort der Jugend, während die Älteren bei Kuppee bleiben. In Stadtnähe ist das Fremdw. schon weitgehend verdrängt; die Landleute bes. der verkehrsärmeren Landschaften halten noch fest daran. A. tritt meist in hd. Lautung auf; die Vorziehung des Akzents auf die erste Silbe und eingeläutete Formen bes. im Odw. erweisen die fortschreitende Eingliederung in die Mda." Mit Ohm redet der Erwachsene im Rheinischen den fremden, älteren Mann an (Rhein. 6, 361, 28 ff.), in der Kindersprache ist Ohm die Anrede für fremde Männer überhaupt (Rhein. 6, 361, 42 ff.). Ein weiteres bezeichnendes Beispiel für die Altersschichtung hat Edelgard Weber 33 aus dem südlichen Werra-Fuldaraum belegt: für f e r t i g gilt in der Großelterngeneration das Synonym roeid; in der Elterngeneration bedeutet roeid nur „den Stall roeid machen"; Kinder 31

W . W e n z e l , a. a. O . , S. 1 2 5 .

32

V g l . weitere interessante Beispiele in der D a r s t e l l u n g v o n F . S t r o h : P r o b l e m e neuerer M u n d a r t f o r s c h u n g , G i e ß e n 1 9 2 8 ( G i e ß e n e r B e i t r ä g e zur deutschen P h i l o l o g i e , 2 4 ) , S. 5 6 f . : „Besonders s t a r k ist die U m l a g e r u n g des Wortschatzes und seine generationelle Schichtung: hanspl f. (ahd. h a n t d w a h i l a ) — h a n t u x , H a n d t u c h ' . . . " usw.

33

B e i t r ä g e zur D i a l e k t g e o g r a p h i e des südlidien W e r r a - F u l d a R a u m e s , T ü b i n g e n 1 9 5 9 (Mitteldeutsche Forschungen, hrsg. v o n R . Olesch, W . Schlesinger, L . E . Schmitt, B d . 15), S. 1 0 6 f.

220

Hans

Friebcrtshäuser

und Jugendliche dagegen gebrauchen es überhaupt nicht; sie sagen nur

fertig

(vgl. auch a. a. O . , S. 107 die Generationenschichtung

und

zwischen bodoel

Flasche). I m übrigen ist in dieser Landschaft, wie auch wohl anderswo häufig, zwischen einer „ a k t i v e n " und einer „passiven Fremdberührung" ( a . a . O . , S. 132) zu trennen. V o n ihnen ist die passive, die vor allem in den dynamischen M o b i litätsvorgängen der letzten J a h r z e h n t e nach außen deutlich in Erscheinung tritt, viel intensiver als die aktive, die besonders als Bereitschaft der Jugend bezeichnet werden kann, sich auch sprachlich den Urbanen Einflüssen der Gegenwart anzupassen. Beide F a k t o r e n verändern das Gefüge der Mundarten, die Struktur der horizontalen Sprachschichtung, sie fördern vor allem die Ausbreitung der landschaftlichen Umgangssprache (S. 132).

II.

Berufsschichten

Es ist weithin bekannt, daß eine mehr oder weniger große

Korrelation

zwischen dem gesellschaftlichen Ansehen eines Menschen und seiner

Berufs-

position besteht. Zahlreiche Forscher im Ausland und auch in Deutschland haben sich mit dem Zusammenhang beider Faktoren beschäftigt. Nach der Meinung der Amerikaner E. L. und R . E. H a r t l e y 3 4 z. B . kann es in einer komplexen Gesellschaft „so viel Determinanten des Status geben, wie es Gruppen gibt, doch besitzen manche eine allgemeinere Gültigkeit. S o wie es in einer Gesellschaft allgemeine, grundlegende Rollen gibt, so gibt es auch allgemeine Statusdeterminanten,

unter denen in der amerikanischen

Gesell-

schaft vielleicht Einkommen und Beruf als die wichtigsten angesehen werden können." D i e große R o l l e des Berufes als prestigeprägender F a k t o r wurde in der amerikanischen Soziologie schon v o r J a h r z e h n t e n herausgearbeitet.

1925

z. B. sammelte G . S. Counts 3 5 ein umfangreiches Material über die gesellschaftliche Rangordnung von 45 typischen Berufen; er befragte Leute der verschiedenen Altersklassen und aus unterschiedlichem sozialem Milieu. Nach seiner Feststellung ordneten die Angehörigen der befragten Gruppen die vorgelegten Berufspositionen ziemlich einheitlich in eine gesamtgesellschaftliche

Rangskala

ein. „ E t w a zwanzig J a h r e später führten Deeg und Paterson . . . mit einer Auswahl von 25 Berufen aus Counts Liste eine teilweise Wiederholung

dieser

Untersuchung durch. D i e Ergebnisse waren denen der früheren Untersuchungen verblüffend ähnlich; es bestand eine Korrelation von 0 , 9 7 3 6 . " Auch andere ausländische

Forscher stellten

den Zusammenhang

zwischen

Beruf und Sozialprestige fest. Besonders aufschlußreich ist die Untersuchung von A . F. Davies 3 7 , die zu zahlreichen Darstellungen über Berufsbewertungen kritisch

Stellung

nimmt,

außerdem

die

Abhandlung

von

A . Inkeles

?A

Die Grundlagen der Sozialpsychologie, Berlin 1 9 5 5 , S. 3 8 6 .

35

Social Status of O c c u p a t i o n , in: School R e v i e w , Vol. 33, 1 9 2 5 .

36

E . L . und R . E . H a r t l e y , a. a. O . , S. 3 8 6 .

37

Prestige of Occupations, in: British J o u r n a l of Sociology, Vol. 3, 1 9 5 2 .

und

221

Westmitteldeutsch

P . Rossi 3 8 , die wichtige Ergebnisse ausländischer Prestigeuntersuchungen tabellenartig zusammenstellt. K . M . Bolte 3 9 , der 1 9 5 9 eine interessante deutsche Arbeit über Berufsprestige und Berufsmobilität vorgelegt hat, vermittelt einen aufschlußreichen Eindruck von dieser Darstellung 4 0 . W i r geben hier nur einen Auszug aus einer der bei Bolte angeführten Tabellen (Bolte S. 6 5 ) , in der 30 typische Berufe aus E n g l a n d nach dem Stand des Jahres 1 9 5 0 in eine R a n g skala des Prestiges eingruppiert worden sind. Die befragten englischen R e p r ä sentativpersonen gaben von den zur Einordnung vorgelegten Positionen den folgenden Berufen die ersten 10 P l ä t z e : Medical Officer, C o m p a n y Director, C o u n t r y Solicitor, Chartered Accountant, Civil Servant, Business

Manager,

W o r k s Manager, Nonconformist Minister, Farmer, Elementary School Teacher. I m letzten D r i t t e l zeigt die Prestigeskala folgende A n o r d n u n g : Shop Assistant, Bricklayer, T r a c t o r D r i v e r , C o a l H e w e r , R a i l r o a d P o r t e r , Agricultural

La-

bourer, C a r t e r , B a r m a n , Dock Labourer, R o a d Sweeper. Andere Untersuchungen in Neuseeland, Australien und den U S A 4 1

haben

ergeben, daß in diesen Ländern ähnliche Rangordnungen bestehen; wir können also „eine grundsätzliche Strukturgleichheit der S k a l e n " feststellen 4 2 . Vergleicht man Erkenntnisse, die in der Sowjetunion gewonnen worden sind, mit diesen Ergebnissen, so fallen zunächst einige wesentliche Unterschiede auf: 1 9 2 7 befragte J . D a v i s 4 3 Schüler aus der N ä h e Moskaus; auch sie sollten 45 Berufe nach der gesellschaftlichen Wertschätzung in eine Skala einordnen. Die folgenden Positionen wurden am höchsten eingestuft: Landmann, Flieger, Mitglied der Regierung, A r z t , Parteifunktionär, Ingenieur, Professor, Kommissar der R o t e n Armee, Mechaniker und Bergarbeiter. Ins letzte D r i t t e l der beruflichen Prestigehierarchie wurden eingeordnet: Hausmeister, Straßenfeger, Ladeninhaber, Kellner, Kutscher, kleine Kaufleute, B a n k i e r , Leiter einer F a b r i k , wohlhabende Geschäftsleute und P f a r r e r 4 4 . T r o t z

dieser

kleinen

auffälligen

Unterschiede bestehen im ganzen jedoch noch relativ hohe Übereinstimmungen. D a s bestätigen jüngere Untersuchungen aus der Sowjetunion. Diese Oberein38

N a t i o n a l Comparisons o f O c c u p a t i o n a l Prestige, in: T h e A m e r i c a n J o u r n a l of Socio-

39

Sozialer Aufstieg und Abstieg. Eine Untersuchung über Berufsprestige und Berufsmobilität. S t u t t g a r t 1 9 5 9 .

40

W i r verweisen in diesem Zusammenhang auf Boites 5. K a p i t e l über „Die Ergebnisse der Schleswig-Holstein/Hamburg-Studie im nationalen und internationalen Vergleich", S. 6 0 ff.

41

s. K . M. Bolte, a. a. O . , S. 65 f.

logy, J a n u a r 1 9 5 6 , S. 3 2 9 — 3 3 9 .

« K . M. Bolte, a. a. O . , S. 6 6 . 43

Testing the Social Attitudes o f Children in the G o v e r n m e n t a l Schools in Russia, in: A m e r i c a n J o u r n a l of Sociology, Vol. 32, 1 9 2 7 .

44

U m Mißverständnisse zu vermeiden, sei d a r a u f hingewiesen, daß bei allen diesen U n t e r Suchungen nur eine kleine Reihe typischer Berufe in eine Skala des gesellschaftlichen Prestiges eingestuft w o r d e n ist; viele Positionen aus den verschiedensten Bereichen der R a n g l a g e wird man in den erwähnten Tabellen also vergeblich suchen.

Hans

222

Friebertshäuser

Stimmungen sind wohl dadurch erklärbar, daß alle von Inkeles und Rossi behandelten Länder ( U d S S R , J a p a n , Großbritannien, Neuseeland, U S A , B R D ) „von der Industrialisierung e r f a ß t und ihre Berufssortimente und -strukturen durch diese geprägt worden sind. M i t der industriellen Technik

entstanden

überall grundsätzlich ähnliche Betriebsformen und Über- und Unterordnungsverhältnisse, j a , die allgemeinen Lebensbedingungen wurden überhaupt in gewissem Ausmaß nach den gleichen Prinzipien hin durchstrukturiert. Diese Ä h n lichkeit der Prestigeabstufungen

in den verschiedenen Ländern bestätigt

im

Grunde genommen . . . die Bedeutung der formellen Ü b e r - und Unterordnungsverhältnisse für die Formung der Prestigeabstufung 4 5 ." Aus D e u t s c h l a n d

liegen erst seit einigen J a h r e n Untersuchungen über

berufliche Prestigeskalen vor. Interessant ist z. B . der Vergleich zwischen der B R D und der D D R , den K . V . Müller 4 6 durchgeführt hat. F ü r uns sind die Arbeiten von K . M . B o k e 4 7 , R e n a t e M a y n t z 4 8 und G . Wurzbacher 4 9 v o n sonderer

Bedeutung.

be-

K . M . B o k e hat nach dem Kriege die erste um-

fassende Untersuchung über die Prestigedifferenzierung von Berufen für eine größere deutsche Landschaft vorgelegt. E r weist nach, daß es in der deutschen Gesellschaft — wie im Ausland — weitgehend h o h e gen

über

das soziale Ansehen

von

Übereinstimmun-

Berufspositionen

gibt.

Bolte

befragte

Schülerinnen und Schüler von Kieler und Hamburger Berufsschulen, Studenten der N a t i o n a l ö k o n o m i e an der Universität K i e l , Personen über 2 0 J a h r e aus K l e i n - und Großstädten Schleswig-Holsteins, M ä n n e r über 2 0 J a h r e aus drei typischen D ö r f e r n , Studenten der Berufsschulpädagogik

u. a. D i e schon

wähnte Feststellung der Untersuchung, daß bei allen Abfragepersonen

er-

recht

große Ubereinstimmungen über die Rangunterschiede der Berufe bestehen, ist überzeugend dargestellt. Nach dem Urteil der Studenten erhielten

folgende

Berufe die ersten zehn P l ä t z e in der Prestigeskala: Professor, F a b r i k d i r e k t o r , A r z t , Gutsbesitzer, Regierungsrat, Pfarrer, Studienrat, Elektroingenieur, O p e r n sänger, Volksschullehrer, M a j o r . A m unteren Ende der Skala stehen: Verkäufer, Kellner, Unteroffizier, Krankenpfleger, Schaffner, Seemann, H ä n d l e r ,

Land-

arbeiter, B o t e und ungelernter Arbeiter. D i e Tabellen, die R e n a t e M a y n t z aus dem K ö l n e r R a u m und G . Wurzbacher aus dem Westerwald vorgelegt haben, lassen eine verblüffend ähnliche Prestigeabstufung erkennen. D a m i t entstehen die Fragen nach den „Bestimmungsgründen" der Skalen. Nach welchen K r i terien also sind die Berufspositionen verschieden hoch oder tief auf einer vertikalen Achse eingruppiert? Bolte, Wurzbacher u. a. sind dieser Frage nach45

K . M . B o l t e : B e r u f s p r e s t i g e und soziale Schichtung, i n : S t u d i u m G e n e r a l e , 1 9 6 1 , S. 2 4 8 .

46

D i e P r e s t i g e o r d n u n g der B e r u f e als M a ß s t a b f ü r W a n d l u n g e n des sozialen bildes, i n : R e v u e I n t e r n a t i o n a l e de S o c i o l o g i e , 1, 1 9 5 9 .

Werk-

47

S o z i a l e r A u f s t i e g und A b s t i e g , a. a. O .

48

S o z i a l e Schichtung und sozialer W a n d e l in einer Industriegemeinde. E i n e soziologische Untersuchung der S t a d t Euskirchen, S t u t t g a r t 1 9 5 8 .

49

D a s D o r f im S p a n n u n g s f e l d industrieller E n t w i c k l u n g . Untersuchungen an den 4 5 D ö r f e r n und W e i l e r n einer westdeutschen ländlichen G e m e i n d e , S t u t t g a r t i 9 6 0 2 .

223

Westmitteldeutsch gegangen; sie haben mehr oder weniger ausführlich untersucht, worin

die

Gründe für diese Hierarchie der Berufsschichtung zu suchen sind. „Von primärer Bedeutung sind offensichtlich zunächst die formellen Überund Unterordnungsverhältnisse von Positionen", von denen oben bei der D a r stellung ausländischer Skalen schon kurz die Rede war. „Eine Position, die einer anderen formell übergeordnet ist, wie z. B . der M a j o r dem Unteroffizier, wird, sobald diese formelle Abstufung bekannt ist, im allgemeinen auch ein höheres Prestige zugeteilt erhalten. Entsprechendes gilt für sichtbar werdende Abstufungen der Vorbildungs- und Prüfungsanforderungen 5 0 ." Zu den weiteren Gründen, die die Prestige-Akzentuierung der Positionen prägen, gehören das Leistungsvermögen, das zur Ausübung der einzelnen Berufsarbeit nötig ist, der G r a d der Selbständigkeit bei der beruflichen Tätigkeit selbst, die detaillierten Arbeitsbedingungen u. a. Es ist z. B. verständlich, daß eine besonders schmutzige Tätigkeit

das soziale Ansehen

der entsprechenden

Position

negativ

beein-

flussen muß. Auch das Einkommen ist ein wichtiges Kriterium, das neben vielen anderen die soziale Bedeutung des Berufes mitprägt 5 1 . Wir müssen uns mit diesen wenigen Hinweisen begnügen. Es war nötig, sie anzuführen, weil es nach unserer Meinung erst nach diesem theoretischen Überblick gelingen kann zu zeigen, daß das Sozialprestige der Berufe sich häufig in westmitteldeutscher Wortgeographie spiegelt. Wir können aus dem umfangreichen Material natürlich nur wenige Positionen erwähnen. Zu ihnen gehört der P f a r r e r , dessen sozialer Status seit der Jahrhundertwende durch den Prozeß der „Entkirchlichung" und auch durch die Ausbreitung urbaner Lebensformen auf dem Lande negativ beeinflußt worden ist 5 2 . Immerhin zeigen die deutschen Untersuchungen zur Berufshierarchie, daß die Bevölkerung den Geistlichen selbst heute noch recht hoch einordnet. Sein mehr oder weniger großes Sozialprestige wird in der Wortgeographie klar sichtbar. So heißt der katholische Pfarrer im Moselfränkischen, aber auch in Teilen Hessens (hier nur in katholischen Gebieten: Hess.-Nass., App.) häufig H e r r ; daneben ist im Luxemburgischen für den Geistlichen beider Konfessionen H e r r liefert. Dieses W o r t ist in größeren Landschaften auch für „ G o t t " ,

über-

„Fürst",

„Mitglied irgendeiner Obrigkeit", „Dienstherr, Vorgesetzter" u . a . gültig (Rhein. 3, 5 5 0 ; vgl. auch Lux. 2, 1 3 6 ) ; es weist also auf eine besonders große religiöse oder gesellschaftliche Wertschätzung hin. Das hohe soziale Prestige des (meist) katholischen Geistlichen wird in vielen Aussagen, vor allem in Redensarten, deutlich: wenn

der Herr

et gesot hot (wenn der H e r r es gesagt hat), dann gibt

56

K . M . B o l t e : Berufsprestige und soziale Schichtung, a. a. O . , S. 2 4 5 .

51

Vgl. dazu weiter B o l t e : Sozialer Aufstieg und Abstieg, a. a. O . , S. 67 ff., und G. W u r z bacher, a. a. O . , S. 33 ff.

51

J . F r e y t a g : Die Kirdiengemeinde in soziologischer Sicht, H a m b u r g 1 9 5 9 , und v o r allem G. Wurzbacher, K . M . Bolte, Rosemarie K l a u s - R o e d e r und T . R e n d t o r f : D e r P f a r r e r in der modernen Gesellschaft. Soziologische Studien zur Berufssituation des evangelischen P f a r r e r s , H a m b u r g 1 9 6 0 , bes. S. 8 9 ff.

Hans

224

Friebertshäuser

es keinen Widerspruch mehr (Rhein. 3, 554, 43 f.). Wenn man einen Geistlichen beleidigt, hat man es mit vielen Widersachern zu tun: Wenn mer un enen stisst, dau ]uckeln

se ol bis Rum

sie alle bis R o m ; Rhein. 3, 555, 11 ff.) oder Wenn zibbelt,

hampelt

et bas no Rom

Herrn

(Wenn man an einen Herrn stößt, dann eilen mer

enen

Herrn

am

Rock

(Wenn man einen Herrn am Rock zupft, dann

pendelt es bis nach R o m ; Rhein. 3, 555, 15 f. und 1, 426, 45 ff.). H a t man keinen (einflußreichen) Pfarrer zum Onkel, soll man mit Unternehmungen, die Geld benötigen, möglichst vorsichtig sein: Wannste de Fanger

von

de Gessen

kein

Herrn

Ihm

host,

dan

loss

(wenn du keinen Herrn zum Onkel hast, dann laß

die Finger von den Ziegen; Rhein. 3, 555). Pastor

kommt für den katholischen Geistlichen recht häufig vor, es er-

scheint aber auch für den evangelischen Pfarrer (Pfalz. 1, 5 9 6 ; Rhein. 6, 550 ff.; Hess.-Nass. 2, 551 f.). Den positiven Ansichten über den Beruf stehen bei diesem Stichwort schon zahlreiche negative Urteile gegenüber. Zunächst erkennt man die gesellschaftlichen Leistungen des Pastors durchaus an: Ene Pastor mih

wie

hondert

Schandarme

darme; Rhein. 6, 5 5 0 ) ; die Pastöre, den deht meh für den Staat

mät

döckes

(ein Pastor leistet oft mehr als hundert Gendat sin de Himmelschandarmen,

wie zehn Schutzlü

ener

van

(die Pfarrer, das sind die H i m -

melsgendarme; einer von denen tut mehr für den Staat als zehn Schutzleute; Rhein. 6, 550). Die Hochschätzung g e i s t i g e r V o r z ü g e als Prestigefaktor wird deutlich in De Jong,

den ös so kluk

(der "Junge, der ist so

wie en Pastor

klug wie ein Pastor), außerdem wohl auch in Den

spreck

wie

(der

en Pastor

spricht wie ein Pastor; Rhein. 5, 552, 9 und 5, 552, 12). Daneben sind Vorstellungen vorhanden, nach denen nicht alle Pastoren ideale Vertreter ihres Berufes sind: De es en Pastor

wie de Deiwel

en Apostel

(der ist ein Pastor wie

der Teufel ein Apostel; Rhein. 6, 550, 46 f.). Andere negative Urteile erinnern an das Gewinnstreben des Geistlichen: (Der) ea Geld

Pastor

least geng zwei

Meisse

för

(der Pastor liest keine zwei Messen für ein Geld; also: doppelte Arbeit

kostet doppelten Lohn) und De Pastor

präk

mar ans, niet tweimol

för't

Geld

(Der Pastor predigt nur einmal, nicht zweimal, für's Geld; Rhein. 6, 551, 18 ff.). Wenn man bedenkt, daß der Pfarrer in seiner Gemeinde immer sozialer Wertung ausgesetzt ist und daß sein tatsächliches Verhalten gerade in ländlichen Bereichen, in denen man noch von einer „Überschaubarkeit der Beziehungen" sprechen kann, an dem von ihm erwarteten Verhalten gemessen wird, dann kann seine Stellung im Prestigeaufbau negativ sehr entscheidend beeinflußt werden durch Aussagen wie: Boren

gleichen

sech der P. un et Hohn

(worin gleichen sich

der Pfarrer und das H u h n ; A n t w o r t : die werden nie satt; Rhein. 6, 554, 41 f.). Gelegentlich ist auch die körperliche Erscheinung des Pfarrers von einiger Bedeutung für seine Stellung in der Gesellschaft; so sagt man im Kreis Zweibrücken in einer Redensart recht derb und abwartend: Er hat e Kopp sener

wie

e

ausfres-

P. (Pfälz. 1, 596, 54 f.), und im Ripuarischen heißt es negativ: Der

hat

ne Buch wie ene P. (der hat einen Bauch wie ein Pfarrer; Rhein. 6, 552, 15 f.). Eine Aussage wie De P. sine Jas sett noit van Pass (Der Rock des Pfarrers paßt nicht, d. h. jeder hat am Pfarrer zu mäkeln; Rhein. 6, 552, 38 ff.) scheint uns

Westmitteldeutsch

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eines der typischen Beispiele zu sein für „den Wandel . . . des ländlichen Sozialsystems", eines Systems, „das einst neben der innigen Integration der Arbeitsund Lebensgemeinschaften von Familie und Nachbarschaft vor allem auf dem bestimmenden Einfluß der Kirche ruhte. Galt doch das ,Wort des Pfarres' — kaum angezweifelt — für alle Lebensbereiche. Zur Gegenwart emanzipieren sich dagegen immer weitere Bezirke von diesem kirchlichen Einfluß 5 3 ." Die Kritik immer größer werdender Gruppen am Pfarrer ist die Folge. P f a f f e als Bezeichnung für den katholischen Geistlichen kommt mit verstreuten Meldungen in großen Teilen Hessens und in Waldeck, gelegentlich auch in Nassau und in Oberhessen vor (Hess.-Nass. 2, 574, 22 ff.), allerdings wird der katholische Pfarrer nur von der Bevölkerung aus rein evangelischen oder gemischten Orten in Hessen-Nassau so genannt. Neben diesem Hauptausdruck, der nur teilweise eine soziale Abwertung enthält, begegnen noch Nebenbezeichnungen für den katholischen u n d den evangelischen Geistlichen mit häufiger negativer Charakterisierung. So heißt es: Es gibt kein Pfaffe ein Opfer zurück und Ein Pfaffe gibt kein Opfer heraus (Die Kirche behält, was sie einmal hat; Hess.-Nass. 2, 574, 40 ff.). P f a f f e ist im Gebiet des Rheinischen Wörterbuches „bei der Achtung, die der Geistliche beim Volk genießt, heute in gewöhnlicher Rede ungebräuchlich; bei feindseliger Einstellung freilich, bes. in den Städten, hört man das Wort dann und wann . . . ; mehr auch kommt es vor, dass die eine Konfession den Geistlichen der anderen P. nennt" (Rhein. 6, 645, 11 ff.). Zu den prestigemindernden Formulierungen, die in diesen Gruppen und Gegenden zu hören sind, gehören Aussagen wie De P.a send net, wie se klafe (die Pfarrer sind nicht, wie sie schwätzen; Rhein. 645, 27 f.), De P.an on de Hell sind begerlik ohne Eng (die Pfarrer und die Hölle sind begehrlich ohne Ende; Rhein. 1, 645, 31), Wör mödden öm (dem Kalb) de Kruan (Tonsur) scheren, dann süppt et as en P. (Wir müssen ihm die Tonsur scheren, dann säuft es wie ein Pfarrer; von einem Kalb gesagt, das nicht recht trinken will; ebd. Sp. 37 ff.), För Geld danzen de Apen on tuten de P.an (für Geld tanzen die Affen und tuten die Pfaffen; ebd., Sp. 40 f.). Andere Aussagen beziehen sich wieder auf die übergroße Eßlust des Pfarrers: Weiss Riwe on Hammelfleisch es sisser als dat Himmelreich, hat de P. gesät (weiße Rüben und Hammelfleisch sind süßer als das Himmelreich, hat der Pfarrer gesagt) oder auf seinen vermeintlichen negativen Einfluß auf die Gesellschaft ganz allgemein: All et Onheil en de Welt es van Wiwer on P.an angestellt (alles Unheil in der Welt wird von Weibern und Pfaffen angestellt; Rhein. 6, 646, 48 ff.) u. a. P f a r r e r , P f a r r und P f ä r r n e r sind im Westmitteldeutschen weitverbreitete Ausdrücke für den evangelischen Geistlichen (Hess.-Nass. 2, 580 f. und Rhein. 6, 678 f.); sie erscheinen jedoch auch für den katholischen Pfarrer (Hess.-Nass., a. a. O.). Wenn es im Osthessischen heißt Hä schämt sech fer Pär un Scholmester net (Hess.-Nass. 2, 580, 46; außerdem in Oberhessen), dann weist das darauf hin, daß man sich dort eine bestimmte idealistische Ansicht 53

15

G. Wurzbacher, a. a. O., S. 37. M i t z k a , Wortgeographie

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vom Beruf des Geistlichen bewahrt hat: trotz aller Kritik genießt der Pfarrer noch ein solches Prestige, daß die Glieder der Gesellschaft nach vorherrschender Ansicht nicht alles, besonders nichts Obszönes, in seiner Gegenwart sagen dürfen. Auch bei den vorliegenden Synonymen ist das Kriterium des Könnens wieder anzuführen: Der kann redde wie e P. (der kann reden wie ein Pfarrer; Rhein. 6, 678, 40 f.). Eine deutliche kritische Haltung, die wohl auch geringe Einstufungswerte f ü r die Rangskala widerspiegelt, wird dagegen deutlich in Parre(r)scb Ken on Mihlersch Kih gerore selde orer nie (Pfarreskinder und Müllers Kühe geraten selten oder nie; Rhein. 6, 678, 44 f.) und in Der hot's noch besser wie Parrescb Katz, die brauch noch kä Meis ze fange (Der hat's noch besser als Pfarres Katze, die braucht noch keine Mäuse zu fangen: von jemand gesagt, der nicht zu arbeiten braucht; Rhein. 6, 678, 51 ff.). Die vorgelegten Beispiele über das gesellschaftliche Ansehen des Pfarrers bestätigen zunächst, daß die Position des Geistlichen — im Gegensatz etwa zur erwähnten Situation in Rußland — von vielen Menschen noch i n d i e S p i t z e n g r u p p e der Berufshierarchie eingruppiert wird. Die Pfarrer genießen also immer noch ein hohes Sozialprestige. Sie stellen bei vielen Gliedern der Gesellschaft, wie das auch soziologische Untersuchungen erwiesen haben, „in gewissem Sinne öffentliche Autoritäten dar" 5 4 und werden daher in einer Westerwaldgemeinde „bei der Gesamtheit der Befragten . . . relativ hoch eingeordnet" 5 5 . Freilich schwankt die Prestigelage der Geistlichen im gesamten doch stark: Das haben K. M. Boke5®, G. Wurzbacher 5 7 u. a. nachgewiesen; unsere sprachlichen Belege veranschaulichen es deutlich. Die Ursachen sind in modernen gesellschaftlichen Entwicklungsformen zu suchen. Große Teile der Bevölkerung gehören heute nur noch formell zur Kirche; das erweist sich deutlich im schwachen Gottesdienstbesuch. Zwar treten die Eltern durchweg f ü r eine kirchliche Unterweisung ihrer Kinder ein 58 , aber mit dem Eintritt ins Berufsleben zerreißt »die kirchliche Bindung . . . und die männliche Bevölkerung" scheidet sogar „weitgehend aus der Kirchengemeinde" aus 59 . Die meisten Gottesdienstbesucher sind heute Frauen und alte Leute, die „Emeritierung" der Kirdiengemeinden ist also stark fortgeschritten. Dadurch ist der soziale Status des Pfarres wesentlich, vor allem negativ beeinflußt worden, nach unsren sprachlichen Belegen in den evangelischen Gebieten stärker als in den katholischen. Unser Material, das im ganzen ein schwankendes soziales Ansehen des Pfarrers widerspiegelt, weist somit auf wichtige gesellschaftliche Strukturen unseres Jahrhunderts hin: in der l e i s t u n g s o r i e n t i e r t e n Gesellschaft ist es schwerer als früher, den Geistlichen einzuordnen. „Vor allem kann der Pfarrer die Bedeutung und das An54

R. Mayntz, a . a . O . , S. 114.

55

G. Wurzbacher, a. a. O., S. 36.

56

Sozialer Aufstieg und Abstieg, a. a. O., S. 30 ff.

57

Das Dorf im Spannungsfeld sozialer Entwicklung, a. a. O., S. 36 f.

58

Vgl. zu diesen Ausführungen die Darstellung von J. Freytag, a. a. O., S. 66 ff.

59

J. Freytag, a. a. O., S. 66.

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sehen seines Tuns und Wirkens in der Umwelt nicht mehr ohne weiteres von einer vorausgegebenen Geltung seines Amtes ableiten . . . " Er muß erkennen, wie sehr „seine Wirksamkeit davon abhängt, daß er dieses Amt durch persönliche Leistung ausfüllt . . . Das Amt definiert ihm einen sozialen Status, der als institutionelle Grundlage seiner Bestätigung und Anerkennung" nach der Meinung vieler Menschen „nicht mehr ausreicht. Der Pfarrer sieht sich darauf hingewiesen, das Amt als Chance f ü r sein persönliches Wirken zu ergreifen, um etwas daraus zu machen und es durch seine individuelle Wirksamkeit auszubauen 6 0 ." Gelingt ihm das nicht, meint er vielmehr, soziale Anerkennung allein durch die institutionelle Sicherheit des Amtes finden zu können — wie das früher vielleicht weitgehend möglich gewesen sein mag —, dann wird er heute in seiner Gemeinde scheitern: Negative, abwertende Urteile, wie sie z . T . in unseren Belegen deutlich werden, sind die Folge. Der L e h r e r wird im allgemeinen tiefer eingestuft als der Pfarrer (wir wollen diese Position nur ganz kurz anführen). G. Wurzbacher 6 1 berichtet z. B. aus seiner Westerwaldgemeinde, daß seine Repräsentativpersonen den Beruf in die obere Mittelgruppen einordneten. Im Rheinischen werden daher positive, aber auch viele negative Merkmale genannt, z. B. De L. sen de Hären em Dorp (Rhein. 5, 321, 49 f.); ene L. hat et beister wie ene Borgemester; wenn de Scholl us ös, dann hat e nüs mih ze dohn (ein Lehrer hat es besser als ein Bürgermeister; wenn die Schule aus ist, dann hat er nichts mehr zu tun; Rhein. 5, 321, 49 f.) und im Selfkant, also schon nördlich der Urdinger Linie Enne L. ..., dät es et Ärmste, wat ech wet (Ein Lehrer, das ist das Ärmste, was ich weiß; Rhein. 5, 321, 52 f.). Uber die „Rollenproblematik des Lehrerberufes" hat vor einiger Zeit J. Kob 6 2 gehandelt. Er zeigt u. a., daß die Lehrer heute „eine allgemeine Verunsicherung in ihrem gesellschaftlichen und beruflichen Selbstverständnis" erfahren (S. 98). Die Gründe liegen nach Kobs Ansicht in der Problematik des Erzieherischen selbst. Der Einfluß der Schule nehme im ganzen ab; das Schülersein sei „für die Eltern und mit zunehmendem Alter auch f ü r die Kinder selbst eine in einem Öffentlichkeitsraum gespielte Teilrolle mit genau definierten Rollenerwartungen" (S. 103). Die Funktionen des Lehrers seien nur unter diesem Teilaspekt zu sehen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Untersuchung von H . von Recum über „Volksschullehrerberuf und soziale Mobilität" 6 ®. Der Verfasser untersucht in dieser Arbeit u. a. den „PrestigeStellenwert" der Lehrerposition (S. 109 ff.), also die Einordnung in die berufliche Rangskala. Ein Beruf, dessen Einstufung sehr schwankt und in den letzten Jahrzehnten außerdem gesunken zu sein scheint, ist der des B a u e r n . Die Bewertungsgegensätze sind bei keiner anderen Position, auch bei der priesterlichen nicht, 60

G. Wurzbacher, K. M. B o k e , R. Klaus-Roeder, T. Rendtorf, a . a . O . , S. 90.

61

D a s D o r f im Spannungsfeld industrieller Entwicklung, a. a. O., S. 38 f.

62

In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 4 , 1 9 5 9 , S. 91 ff.

M

In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S. h. 4, 1959, S. 108 ff.

15*

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so groß wie bei ihm: sie differieren zeitlich, geographisch und auch innerhalb der sozialen Schichten. Wo der Bauer „den Ton abgibt", das erkennt K.M.Bolte 6 4 sehr richtig, „wo er der König ist, steht er auch in der Spitzengruppe der Prestigeskala . . . Einfluß und die Möglichkeit zur Verhaltenskontrolle erwächst" auf dem Land ja „weitgehend aus dem Grad der landwirtschaftlichen Produktionssteigerung, die eng mit dem Merkmal Verfügungsgewalt über Produktionsmittel, im allgemeinen in der Form von Landbesitz, verknüpft ist. In einigen Gegenden mögen sich auch noch die letzten Nachwirkungen der Grund- und Gutsherrschaft in der Prestigeabstufung widerspiegeln". Das Schwanken zwischen hoher und niedriger Einordnung des Bauern hängt im ganzen natürlich von seinem wirtschaftlichen und sozialen Status u. a. ab. Bevor wir im Zusammenhang einige wichtige Kriterien nennen, die das unterschiedliche soziale Ansehen begründen, legen wir einen kleinen Auszug aus dem wortgeographischen Material vor. Der s e l b s t ä n d i g e L a n d w i r t , der auf keinen Nebenverdienst angewiesen ist und meist „eine bestimmte Anzahl Pferde zu Acker gehen" hat(te) (Rhein. 1, 530), heißt häufig B a u e r oder H e r r . Sein hoher, oft aber auch niedriger Prestigewert wird in zahlreichen Sprachbelegen deutlich. In vielen Fällen wird der »große Bauer" durch ein Adjektiv vom „kleinen Bauern" (Kleinbauer, Nebenerwerbslandwirt) unterschieden. Im Rheinischen heißt er z. B. meist Dat es en decke, en grusse (schore, däftege, döchtege), en fette Bauer, um ihn auf diese Weise vom klenen (halve, ärme) Bauern oder Bürche abgrenzen zu können (Rhein. 6, 530, 5 ff.; vgl. auch Lux. 1, 76). Hohes soziales Ansehen wird deutlich in einer Aussage wie Nüs geht över fette B.a (Rhein. 6, 530, 8). Der Zusammenhang zwischen A n s e h e n und F l e i ß wird hervorgehoben in Bei engem gudde B. läit kee Steck brooch (Bei einem guten Bauern liegt kein Stück brach; Lux. 1, 76). Ein wichtiger prestigebildender Faktor ist weiterhin die g e s e l l s c h a f t l i c h e B e d e u t u n g der Position: De Bauer muß se all entern (Büdingen, Hess.-Nass.: App.) und Dä B. erniert Pastür un Häre (Der Bauer ernährt Pastor und Herren; Rheinhessen, Hess.-Nass.: App.). Die soziale Wertung des Berufes hängt für manche Mundartsprecher außerdem von der L e b e n s k l u g h e i t des Bauern ab, von seiner Fähigkeit, mit widrigen Umständen und Widersachern fertigzuwerden: Glabste, de kennnst en Bauer fange? (glaubst du, du könntest einen Bauern fangen? Höchst, Hess.Nass.: App.). Schließlich scheint uns ein hoher Rangwert auch vorzuliegen, wenn es vom reichen Landwirt heißt De Bauer es wäi e Mehlsack, wann mer drof kloppt, stäubt e immer noch e bißche (Der Bauer ist wie ein Mehlsack, wenn man darauf klopft, stäubt er immer noch ein bißchen; Kreis Usingen und Osthessen; Hess.-Nass.: App.). Wir wissen aus der soziologischen Fachliteratur ja seit langem, daß die soziale Wertschätzung eines Berufes nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch bei uns von Einkommen und Besitz abhängen kann (vgl. auch S. 238). Das gilt, auch wenn man diesen Faktor in Laienkreisen 64

Sozialer Aufstieg und Abstieg, a. a. O., S. 78.

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für deutsche Verhältnisse etwas überschätzen mag. Auf die wirtschaftliche Machtstellung des (großen) Bauern weist auch das Südhessische Wörterbuch hin: abfrönen z. B. (1, 29, 23 ff.) bedeutet, „eine Geldschuld gegenüber einem Bauern für Pacht, Lebensmittel, Fuhren u. dgl. nicht durch Bezahlung, sondern durch Arbeitsleistung, bes. Mithilfe bei der Ernte, abtragen" (vgl. auch Rhein. 1, 825) u. s. f. Mit H e r r redet das Gesinde im Hessen-Naussauischen öfter den bäuerlichen Dienstherrn an. Selbst die Ehefrau und die Altenteiler sagen, vor allem Knechten und Mägden, aber auch Fremden gegenüber: u n s e r H e r r (Kreise Alsfeld, Rotenburg, Ziegenhain, Marburg, Westerburg: App.). Die Prestigeabstufung zwischen Bauer und Knecht wird deutlich in einer Aussage wie Härm Befehl, Knächte Arbeit (Herren Befehl, Knechte Arbeit; Schwalm, Hessenland, Jg. 26, S. 132). Solche Redewendungen veranschaulichen eine „Hofgemeinschaft, die durchaus patriarchalischen Charakter trägt. Oberhaupt des Kreises ist der Bauer. Wenn das Gesinde von ihm spricht, so sagt es ,unser Herr'. Die Bäuerin ist für Knecht und Magd ,unser Fraa', wobei die Bezeichnung Frau ganz im alten Vollsinn des Wortes, Frau als Herrin, gemeint ist. Für Bauer und Bäuerin . . . haben Kinder und Gesinde die Anrede ,Ihr* und ,Euch'. Knecht und Magd sowie die Kinder . . . werden von allen mit Du und dem Vornamen angeredet 95 ." Diese Verhältnisse in Mardorf (Kreis Kirchhain; Hessen) spiegeln die Abstufungen des Ranges zwischen Großbauern und Gesinde deutlich wider. Solche sozialen Bewertungsunterschiede zwischen diesen beiden Berufsschichten sind durch die dynamische Industrieentwicklung der jüngsten Vergangenheit allerdings z. T. geschwunden, denn es gibt in vielen Gebieten keine Knechte und auch keine landwirtschaftlichen Lohnarbeiter mehr. Die berufliche Rangordnung wird, wie das Beispiel aus Mardorf lehrt, durch die M a c h t s t e l l u n g der jeweiligen Berufsposition entscheidend mit beeinflußt; deshalb ist es eine völlige Verkehrung der gesellschaftlichen Wertauffassung, bann de Härr orm wädd on de Knecht rieh (wenn der Herr arm wird und der Knecht reich), dann nämlich döje se allbeere nechts (taugen sie alle beide nichts; Schwalm, Hess.-Nass.: App.). Die Mundartsprecher grenzen die K l e i n b a u e r n und N e b e n e r w e r b s l a n d w i r t e (Ziegen-, Kuhbauern u. v. a.) sprachlich sehr scharf vom sozial höherstehenden G r o ß b a u e r n ( P f e r d e b a u e r u.a.) ab; allerdings ist beim Simplex, das ohne verdeutlichendes Adjektiv erscheint, der Unterschied dann meist nicht zu fassen, wenn der selbständige Landwirt in die negative Wertung mit einbezogen wird. Ironisch oder gar verächtlich werden die kleinen Bauern im Pfälzischen Gääße-, Gugucks-, Kottelbauern u. a. genannt (Pfälz. 1, 616, 22 ff.), im Luxemburgischen gilt Kräizerbaierchen, Uessebauer (Lux. 1,76), im Hessen-Nassauischen Küh-, Geiß-, Ziegenbauer u. a. (Hess.-Nass.; App.). Mit deutlichem Spott 85

Mathilde Hain, Das Lebensbild eines oberhessischen Trachtendorfes, Jena 1936, S. 37

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sagt man Heh ess en der Hetz wie en Kehbauer (Er ist in Aufregung wie ein Kuhbauer; d. h. im Gegensatz zum ruhigen, würdevollen Großbauern; Westerwald, Wetterau; Hess.-Nass.: App.). Den O c h s e n b a u e r (besonders verächtliche Bezeichnung) neckt man im Ripuarischen mit O., geff mej en Perdshor (Ochsenbauer, gib mir ein Pferdehaar; Rhein. 6, 336, 25 f.). Trotzdem sehen die Mundartsprecher den Vorzug des Ochsengespanns ganz klar: De Uasse deien de Hower op de Speicher, an de Perd schlafen se eröm erof (Die Ochsen tragen den H a f e r auf den Speicher, und die Pferde schleifen ihn wieder herunter, d. bed.: ein Ochsengespann stellt sich weniger kostspielig als ein Pferdegespann und rentiert sich besser; Rhein. 6 , 3 3 0 , 3 0 ff.). Aus der Rhön berichtet die Heimatdichtung 6 6 über die Abstufungen innerhalb des bäuerlichen Berufes: „Außer den H o f - oder Pferdebuern und den Zehntemanns- oder Ochsenbuern saßen im Vorderrhönhof noch die H ü t t n e r oder Geißbuern, die bei den H o f buern in Tagelohn gingen, nebenbei die Feldraine abgrasten (mit der Sichel abmähen: Erklärung des Dichters) und ihr eigenes steiniges, karges Äckerchen bauten." Gegensätze des Lebensstils und damit auch wesentliche Rangunterschiede werden hier deutlich. D a ß auch im nordhessischen Kreis Homberg der Z i e g e n b a u e r , also der kleine Nebenerwerbslandwirt, gesellschaftlich im Gegensatz zum Großbauern kein großes Ansehen genießt, beweist die Heimatdichtung' 7 : D'r ahle Hättsch .. . wor'n gerenger Mann, 'n Zeejenbiire, wie me hie rem so sprecht. Die vorgelegten sprachlichen Belege weisen auf eine deutliche Höherstufung des selbständigen Großbauern gegenüber dem kleinen Landwirt hin. Trotzdem gibt es neben den oben erwähnten positiven Äußerungen über den Großbauern viele abwertende Urteile; diese Kritik (unter dem Stichwort Bauer) gilt jedoch nicht ihm allein, sondern sämtlichen bäuerlichen Berufen, jedenfalls können wir nach unserem Material kaum Differenzen erkennen. Zu den vielen Äußerungen, die das g e r i n g e soziale Ansehen des Bauern allgemein widerspiegeln, gehören u. a. folgende Aussagen: 'n B. un e Stier is än Dier; e B. is e Gaul un e Gaul is e Stick Vieh (Ein Bauer und ein Stier sind ein Tier; ein Bauer ist ein Gaul, und ein Gaul ist ein Stück Vieh; Pfalz. 1, 617, 23 ff.). Weitere abwertende Urteile beziehen sich auf die vermeintliche g e r i n g e I n t e l l i g e n z und die g e r i n g e B i l d u n g des Bauern: Was gut riecht, schmackt ach gut, do hat de B. die Seef geß (Was gut riecht, schmeckt auch gut, da hat der Bauer die Seife gegessen; Pfalz. 1, 617, 26 ff.), Wenn der Bure zu gescheit wird, taugt's nichts mehr in der Welt (Kreis Melsungen, Hess.-Nass.: App.), Gescheider Bauer es de Pest im Land (Kreis Westerburg, Hess.-Nass.: App.), Der Bauer blitt en Bauer, on bann mer'n in en Staatsmotze steckt (Der Bauer bleibt ein Bauer und wenn man ihn in ein Staatskleid steckt; Kreis Gersfeld, Hess.-Nass.: App.). En richtiger (ein richtiger) Bauer ist nach der Meinung der Städter und der Bildungsschicht auf dem Dorf ein „ungebildeter Mensch" (Weilburg, Hess.-Nass.: App.). 96

H . Ruppel: Rhönbauern und andere Gesdiichten, Marburg 1919, S. 45 f.

• 7 H . Ruppel: Schnurrant aus Hessenland, Melsungen 1933, S. 80.

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Man sagt außerdem die growwe Burn, die schlehchde B., die domme B. (die groben B., die schlechten B., die dummen B.; Kreis Fritzlar, Hess.-Nass.: App.). Es heißt auch negativ Bur, das ess gar in growwer Buchstabe (Schwalm, Hessenland, Jg. 26, S. 24) und mit dem Ausdruck einer besonderen Minderschätzung und einer starken s o z i a l e n K r i t i k Die Meirerche on die Junge, das seng de Burn ähre Hunge (Die Mägde und die Knechte, das sind der Bauern Hunde (Hess.-Nass. 2, 212). Weitere negative Merkmale werden deutlich in den Aussagen Wenn der Bauer net moß, dann regt e weder Hand noch Foß (Wenn der Bauer nicht muß, dann regt er weder Hand noch Fuß; Kreise Oberwesterwald und Fulda, Hess.-Nass.: App.; Pfälz. 1, 617, 29 f.), — macht er keinen Finger krumm (Kreis Melsungen, Hess.-Nass.: App.); Die dicksten Bauern sind die geizigsten (Kreis Melsungen, Hess.-Nass.: App.); Der Bauer kann nie zeväl krigge (zuviel kriegen; Kreis Marburg, Hess.-Nass.: App.). Im Kreis Büdingen (Hess.-Nass.: App.) allerdings ist man etwas milder in der Beurteilung dieses Berufes und damit wohl auch mit seiner Einordnung in die gesellschaftliche Berufshierarchie. Man erkennt hier nämlich: De Bauer henkt's ganz Juohr vom Himmel oab (Der B. hängt das ganze Jahr vom Himmel ab), und er ist deshalb deß geploagst Stock Vieh (das geplagteste Stück Vieh); es gibt nix ährmersch wäi en Bauer (nichts Ärmeres als ein B.). Die schwankende Prestigezuordnung des bäuerlichen Berufes hat viele Gründe, von denen wir hier nur einige nennen können. Zunächst ist zwischen den verschiedenen Gruppen der bäuerlichen Bevölkerung mit ihren unterschiedlichen Rangpositionen zu unterscheiden: unsere Belege weisen auf wichtige Differenzen hin. In der Bundesrepublik können die bäuerlichen Betriebe in Erwerbslandwirtschaften, Nebenerwerbsbetriebe und in die Gruppe der Zwischenexistenzen getrennt werden. 1956 z. B. gab es mehr als 800 000 nebenberuflich bewirtschaftete Betriebe, die in sich wieder mannigfach differenziert waren 68 . Natürlich ist das soziale Ansehen des selbständigen Bauern größer als das des Nebenerwerbslandwirts: unsere Belege beweisen das eindeutig. Ein wichtiger, vielleicht vorherrschender Faktor, der den Status des „Erwerbslandwirts" prägt, ist die b e r u f l i c h e S e l b s t ä n d i g k e i t . Dazu zählen die wirtschaftliche Unabhängigkeit, verbunden mit einer relativ großen Krisensicherheit, außerdem Anordnungsbefugnis und auch Befehlsgewalt (über das Gesinde). Wegen der intakten sozialen Kontrolle gruppiert die Bevölkerung auf dem Dorfe den „Hofbesitzer" daher häufig in die obere Hälfte der sozialen Rangvorstellung. Das Urteil des S t ä d t e r s sieht oft anders aus: er erblickt im selbständigen Bauern und erst recht im Nebenerwerbslandwirt häufig einen u n g e b i l d e t e n , u n w i s s e n d e n Menschen und ordnet ihn daher recht tief ein. Dabei mag seine Vorstellung vom Dorf und dem ländlichen Leben, das er als langweilig und rückschrittlich gegenüber dem städtischen Lebensstil 68

G. Müller und H . K ö t t e r : Wirtschaftliche und soziale Bestimmungsgründe der L a g e der westdeutschen Landwirtschaft, in: Berichte über Landwirtschaft 34, H a m b u r g 1 9 5 6 , S. 3 9 8 .

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empfindet, das Urteil wesentlich mitprägen. Schließlich ist zu erwähnen, daß die Stellung des selbständigen Bauern seit einiger Zeit auch auf dem Dorfe von manchen Menschen schon n e g a t i v bewertet wird; das hängt mit der sozialen und beruflichen Benachteiligung dieser Position zusammen; dazu zählen die Arbeitsüberlastung (Knechte, Mägde, landwirtschaftliche Lohnarbeiter gibt es nur noch selten), fehlende Freizeit, verminderte Heiratsmöglichkeiten f ü r den Hoferben, z. T. eine schlechter gewordene wirtschaftliche Lage, auch Skepsis gegenüber den Auswirkungen der E W G usw. D a ß der Nebenerwerbslandwirt noch stärker der sozialen Kritik unterworfen ist — auch das veranschaulichen unsere Belege deutlich —, ist verständlich. Schon 1949 hat G. Teiwes 69 auf die Nachteile dieser Position hingewiesen. Teiwes, der an der bekannten Darmstadt-Studie 7 0 mitgewirkt hat, konnte u. a. aufzeigen, daß die erbrachte Leistung in der Nebenerwerbslandwirtschaft dem Arbeitseinsatz durchaus nicht entspricht. D a ß diese Nebentätigkeit von negativem Einfluß auf den Hauptberuf (kaum Aufstiegsmöglichkeiten u. a.), auf die Heiratschancen (nach unserer Meinung noch stärker als beim Erwerbslandwirt) u. v. a. ist, haben wir an anderer Stelle schon einmal erwähnt 7 1 . Diese und viele andere Gründe bewirkten nicht nur ein Gefühl der sozialen Deklassierung beim Nebenerwerbslandwirt, sondern sind auch verantwortlich f ü r seine relativ tiefe soziale Einstufung. Unsere Belege spiegeln die R a n g u n t e r s c h i e d e zwischen s e l b s t ä n d i g e m Bauern und u n s e l b s t ä n d i g e m Nebenerwerbslandwirt und die räumlich und zeitlich differierenden Statuslagen des Erwerbslandwirtes deutlich wider. Die in- und ausländischen Untersuchungen zur Berufshierarchie stufen den ungelernten Arbeiter, außerdem den Landarbeiter, zu dem wir auch den Knecht rechnen wollen, sehr tief ein (vgl. die Tabelle, die R. Dahrendorf 7 2 nach der Untersuchung K. M. Bokes 7 3 abgedruckt und kritisch kommentiert hat). Unsere wortgeographischen Belege zeigen, daß gerade beim Knecht, der auch Arbeiter u. a. heißt (vgl. z. B. Rhein. 4, 910, 5), meist nur negative Merkmale angegeben werden. Für die schlechte Beurteilung dieser Position ist im wesentlichen die fehlende Selbständigkeit, die Abhängigkeit von den Befehlen des bäuerlichen Dienstherren, verantwortlich: Beater ene klene H. als ene gruate Kn. (Besser 69

Der Nebenerwerbslandwirt und seine Familie im Schnittpunkt ländlicher und städtischer Lebensformen, Darmstadt 1952/54.

70

Vgl. dazu auch H. Kötter: Struktur und Funktion von Landgemeinden im Einflußbereich einer deutschen Mittelstadt, Darmstadt 1952/54; außerdem die Besprechung der Monographien von Ch. v. Ferber: Die Gemeindestudie des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung, Darmstadt, in: Soziologie der Gemeinde, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 1, Köln 1956.

71

H. Friebertshäuser: Die Frauentracht des alten Amtes Gladenbach, Marburg 1966, S. 102 ff. R.Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 97 f.

72 73

K. M. Bolte: Sozialer Aufstieg und Abstieg, a. a. O.

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233

ein kleiner Herr als ein großer Knecht; Rhein. 4, 911, 16), Heare Befeahl es Kn.a (Kn.s) Ärbet (Herren Befehl ist Knechte Arbeit; Rhein. 4, 911, 14 f.), H. os H., Kn. loss de Sei eraus (Herr ist Herr, Knecht, laß die Schweine heraus, d. h. der Herr hat zu befehlen; Rhein. 4, 911, 21 f.). Und der Herr soll wissen: We sech va sinne Kn. lett duze, kann sech die Stiavele selver butze (Wer sich von seinem Knecht duzen läßt, kann sich die Stiefel selbst putzen; Rhein. 4, 911, 48 ff.). Daneben fallen die oft prestigemindernden Aussagen über die starke Eßlust des Knechtes auf, neben der kaum andere Interessen vorhanden zu sein scheinen. So erzählt man sich in Wetterfeld (Kreis Schotten; Hess.-Nass.: App.) in einer kleinen Anekdote Der Knecht hat feerm Schlofegih (vor dem Schlafengehn) zou saim H. gesahd (gesagt): Herr, weckt mich, wann ich Hunger hu (habe). Do fregd (fragt) der Herr: Ai, wann hosde dann Hunger. Doh sahd (sagt) der Knecht: Ai, wann er (wenn Ihr) mich weckt! Und im Rheinischen heißt es Bei er steifer Zopp leift kam Bauer de Kn. fort (Bei einer dicken Suppe läuft keinem Bauern der Knecht fort; Rhein. 4, 911, 32). Die Wertvorstellungen über diese Position werden wohl auch negativ beeinflußt durch die Aussage, daß ein Knecht nach dem Kirchgang an einem halben Feiertag nicht mehr arbeiten will: Wenn de Kn.a un Made de Hellege gesinn han, dann git et nit vill met der Arbeit (Wenn die Knechte und die Mägde die Heiligen gesehen haben, dann gibt es nicht viel mit der Arbeit; Rhein. 4, 911, 37 ff.) usf. F a s s e n w i r z u s a m m e n : Alle vier von uns behandelten Berufe sind in ihrem gesellschaftlichen Ansehen dem s o z i a l e n W a n d e l unterworfen, d. h. sie unterliegen in ihrer Prestigezurechnung den Entwicklungstendenzen der modernen Leistungsgesellschaft. Vor allem Pfarrer, Lehrer und selbständiger Landwirt besitzen nicht mehr wie früher einen von allen anerkannten gesicherten, hohen Status; die Anschauungen der Mundartsprecher über das höhere oder niedrigere Sozialprestige dieser Positionen weichen voneinander ab. Im ganzen sind trotzdem, vergleicht man die Sprachbelege miteinander, deutliche Abstufungen vorhanden (den Lehrer klammern wir hier aus, da wir nur wenige Beispiele für diesen Beruf vorgelegt haben). Der Pfarrer wird immer noch am höchsten von den behandelten Positionen in die Berufsschichtung eingeordnet. Viele rechnen ihn zur Führungsgruppe (zur Bildungsoberschicht) in den Gemeinden, er besitzt für sie ein hohes gesellschaftliches Ansehen. Die Kritik am bäuerlichen Beruf ist sehr viel größer, die negativen Urteile sind gegenüber den zustimmenden Äußerungen recht zahlreich. Einige Gründe, die Ursache für die schwankenden Prestige-Akzentuierungen der bäuerlichen Positionen sind, haben wir herauszuarbeiten gesucht. Die Unterschiede in der Einstufung hängen mit der industriellen Entwicklung zusammen; dazu zählen u. a. die berufliche Mobilität der ungelernten Landarbeiter und Knechte, die dadurch bedingte vermehrte körperliche Arbeit des „Hofbesitzers" selbst, die unregelmäßige Arbeitszeit, die mangelhafte Freizeit u. v. a. Trotz der negativen Kritik ist für viele Menschen der Beruf des selbständigen Land-

Hans

234

Friebertshäuser

wirtes aber doch noch ein erstrebenswertes Leitbild: für sie sind die Selbständigkeit, die wirtschaftliche Unabhängigkeit u. a. von entscheidender Bedeutung. Es ist keine überraschende Feststellung unserer Untersuchung, daß die Position des Knechtes sehr geringe Rangwerte besitzt. Wegen der starken beruflichen Minderwertigkeitsvorstellung

sind Knechte und landwirtschaftliche

Arbeiter

heute beinahe kaum noch vorhanden, die Industrie erfüllte ihren Wunsch nach wirtschaftlichem und sozialem Aufstieg. I m gesamten, darauf sei abschließend noch einmal ausdrücklich verwiesen, bestätigen unsere Belege, daß in der Gesellschaft g l e i c h e oder

ähnliche

Ansichten über die Hierarchie der Berufsschichtung bestehen und daß selbst zwischen den priesterlichen und den bäuerlichen Positionen, die im Zuge der modernen Entwicklungstendenzen

starken Einordnungsschwankungen

unter-

worfen sind, doch deutliche Rangunterschiede festgestellt werden.

III. Die sozialen Schichten „Die Gesellschaft wird als vertikal geschichtet gesehen, so als ob Gruppen von Menschen, . . . die Angehörigen der sozialen Schichten, auf einer senkrecht stehenden Achse übereinander aufgereiht wären 7 4 ." Bei dieser Gliederung trennt man die einzelnen Gruppen nach dem Gesichtspunkt einer lichen

sozialen

Bewertung

unterschied-

voneinander; ein übergangsloses K o n t i -

nuum von verachteter Stellung ganz unten zur hohen Wertung ganz oben ist, stellt man solche Stufen erst einmal fest, nicht oder nur teilweise vorhanden. Neben dem wichtigen Kriterium der unterschiedlichen Wertschätzung spielen auch die G e g e n s ä t z e

der L e b e n s l a g e

für die Feststellung und die

Abgrenzung der Schichten eine große Rolle. D e r Forscher berücksichtigt meist s u b j e k t i v e und o b j e k t i v e Faktoren, um die einzelnen Gruppen identifizieren zu können, d. h. er untersucht die Selbsteinschätzung der Bevölkerung und benutzt ein eigenes „objektives" Modell. W i r haben gesehen, daß das Prestige des Berufes für das soziale Ansehen eines Menschen wesentlich sein kann; es muß aber nicht der einzige oder vorherrschende Indikator der Schichtzugehörigkeit sein. Für die Einordnung in die soziale Ranggruppe sind oft noch andere Faktoren von Bedeutung. Zahlreiche Forscher haben die verschiedenen Merkmale für die differenzierte Wertschätzung und damit für die Einordnung der Menschen in soziale Schichten gearbeitet. Oft prägt von den Kriterien E i n k o m m e n , B i l d u n g , Herkunft

herausBeruf,

u. a. eines stärker als alle anderen den sozialen Status, es be-

stimmt damit primär die soziale Schichtung und die mit ihr zusammenhängende Lebenslage; 74

wir nennen diesen vorherrschenden

Faktor im Sinne

Theodor

G. Kleining: Ü b e r soziale Images, in: K ö l n e r Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 5, 1 9 6 1 , S. 157.

235

Westmitteldeutsch

Geigers „ d o m i n a n t " . W e n n w i r an H . L i n d e s 7 5 Versuche denken, die ländlichen G e m e i n d e n in verschiedene G r u n d t y p e n festzulegen, d a n n ist es einleuchtend, d a ß der B e r u f in den A g r a r g e m e i n d e n m i t überwiegend selbständiger bäuerlicher B e v ö l k e r u n g nicht das entscheidende M e r k m a l f ü r die Schichtzugehörigkeit sein k a n n . H i e r entscheiden oft der B e s i t z , das individuelle V e r h a l t e n , die allen b e k a n n t e H e r k u n f t u. a. über den jeweiligen sozialen S t a t u s ; es h a n d e l t sich also dann u m eine

„mehrdimensionale"

Schichtung.

In

einem

mittelgroßen

I n d u s t r i e o r t dagegen, w i e in Rüsselsheim m i t einem G r o ß b e t r i e b , gibt es die „ Ü b e r s c h a u b a r k e i t der B e z i e h u n g e n " nicht m e h r ; hier w e r d e n die r a n g m ä ß i g e n D i f f e r e n z e n der B e r u f s p o s i t i o n e n , die der B e v ö l k e r u n g weitgehend b e k a n n t sind, die E i n o r d n u n g in die Sozialschichtung entscheidend beeinflussen. Wir

können

in

diesem Z u s a m m e n h a n g

nicht ausführlich

darstellen,

nach

welchen s u b j e k t i v e n und o b j e k t i v e n F a k t o r e n soziale Schichten im einzelnen identifiziert u n d v o n e i n a n d e r a b g e g r e n z t w e r d e n ; interessante

Ausführungen

d a r ü b e r u n d viele H i n w e i s e auf die vielschichtigen P r o b l e m e v e r m i t t e l n

die

A r b e i t e n v o n Bolte 7 ®, R e n a t e M a y n t z 7 7 , Scheuch 7 8 , K l e i n i n g 7 8 u. v. a. W i e g r o ß die

Zahl

der

deutschen

Untersuchungen

schon

1961

war,

zeigt

eine

von

H . D a h e i m 8 " zusammengestellte B i b l i o g r a p h i e . B e d e u t s a m scheint uns u. a. der Versuch B o l t e s 8 1 zu sein, einen K a t a l o g von F r a g e n zusammenzustellen, der eine E i n f ü h r u n g in die S c h i c h t p r o b l e m a t i k ermöglicht und a u f k o m p l e x e Forschungsp r o b l e m e hinweist. E s gibt zahlreiche Versuche, m i t H i l f e eines „ I n s t r u m e n t s " soziale Schichten festzustellen; w i r möchten hier n u r auf zwei A r b e i t e n hinweisen: auf die U n t e r suchungen v o n Scheuch 8 2 u n d R e n a t e M a y n t z 8 3 . Z u r Berechnung des S t a t u s i n d e x , unter

dem

man

die K o m b i n a t i o n

der

wichtigsten

Merkmale

versteht,

hat

Scheuch in der K u r z f a s s u n g seines I n s t r u m e n t s folgende K r i t e r i e n berücksichtigt: B e r u f des H a u p t e r n ä h r e r s 75

(der ungelernte A r b e i t e r b e k o m m t

1 Punkt,

der

H . L i n d e : Niedersachsen-Gemeindetypen. K a r t e 1 : 5 0 0 0 0 0 mit Erläuterungen. H a n nover 1952. Linde unterscheidet 1. Agrargemeinden: mindestens 50 */o der arbeitenden Bevölkerung sind in der L a n d - und Forstwirtschaft beschäftigt; in 2. ländlichen Gewerbegemeinden sind 20—50 °/» der arbeitenden Bevölkerung in L a n d - und Forstwirtschaft tätig; wenn weniger als 2 0 % der arbeitenden Bevölkerung in der L a n d und Forstwirtschaft beschäftigt sind, dann spricht Linde von 3. Gewerbegemeinden

7

* K . M. Bolte: Sozialer Aufstieg und Abstieg, a . a . O .

77 7

Renate M a y n t z : a. a. O.

' E . K . Scheuch: Sozialprestige und soziale Schichtung,

1961

(Kölner Zeitschrift

für

Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 5), S. 65 ff. 7

* G. Kleining: Ober soziale Images, a. a. O., S. 145 f. H . D a h e i m : Neuere deutsche Veröffentlichungen zum Problem der sozialen Schichtung, 1961 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 5), S. 135 ff.

80

81

K . M. Bolte: Einige Anmerkungen zur Problematik der Analyse von „Schichtungen" in sozialen Systemen, 1961 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 5), S. 2 9 ff.

88

a. a. O., S. 6 5 ff.

85

a. a. O.

Hans

236 Janowitz OM 4,6 °/ 0

Selbsteinschätzung nach Janowitz

Friebertshäuser Moore/Kleining

Scheuch (»Kölner Index«)

Ol"/.

O 2,6 »/„

Oberschicht 1,9

OM 9,9 »/„ MM 15°/„ UM 38,6 %

Mittelschicht

MM 18,9 »/„

UM 30 °/„

43,2 °/o

3

UM 23,3 °/„

-a

4

3 -O G

OU 13,3 »/„

5

OU 28 "lo

Arbeiterschicht 48,5 »/„ 3 -Ö c

UU 38,6 °/o

3 c

OU 33,6%

UU MU

unbekannt 4,9 %

Unterschicht 5,3 % Keine Angaben 1,1 %

SV 4 %

U U 0,6 "/, unbekannt 0,9 "/p

Schichtungsmodelle der deutschen Gesellschaft nach 1945

(O = Oberschicht, OM = Obere Mittelschicht, MM = Mittlere Mittelschicht, UM = Untere Mittelschicht, O U = Obere Unterschicht usw., SV = Verachtete).

Sozial

Westmitteldeutsch

237

leitende Beamte und der große Landwirt erhalten 23 Punkte u. a.), Einkommen des Haupternährers und Schulbildung des Befragten (S. 102 f.). Renate Mayntz hat für ihre Untersuchungsgemeinde Euskirchen neben diesen drei Faktoren noch die Wohnverhältnisse und die Haushaltsaustattung berücksichtigt (S. 132 ff.). Von entscheidender Bedeutung ist natürlich die Frage, wieviel Schichtungen sich in einer Gesellschaft abzeichnen. In den letzten Jahren sind einige Untersuchungen vorgelegt worden, die Modelle für solche soziale Rangabstufungen enthalten. Wir geben im folgenden einen kurzen Überblick über einige wichtige Schichtungsmodelle der deutschen Gesellschaft und benutzen dazu eine bei Dahrendorf84 abgedruckte Darstellung (vgl. unsere S. 236). Dahrendorf (S. 101 ff.) setzt sich kritisch mit diesen Modellen auseinander, da sie voneinander abweichen; er selbst möchte die Sozialschichtung der deutschen Gesellschaft etwas anders gegliedert sehen und berücksichtigt bei seinem Versuch die bekannte Studie Th. Geigers „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes", die schon 1932 erschienen ist. Wir können im folgenden zur interessanten Forschungsdiskussion nicht Stellung nehmen; wir wollen nur zeigen, daß sich soziale Schichten, deren E x i s t e n z niemand leugnen kann, im Spiegel der westmitteldeutschen Wortgeographie deutlich abzeichnen, daß wir also einige Gruppen voneinander trennen können, die sich nach den Kriterien der verschiedenen Wertschätzung und der Differenzierungen in der Lebenslage unterscheiden. Es kann keineswegs unsere Absicht sein zu untersuchen, wo die Grenzen zwischen den Schichten liegen und wie viele Gruppen überhaupt vorhanden sind. Unser Material, auch das ist von Bedeutung, repräsentiert nicht die Gegenwartssituation, sondern im wesentlichen die 20er und die 30er Jahre unseres Jahrhunderts. Aus den umfangreichen sprachlichen Belegen haben wir nur wenige Synonyme ausgewählt, die auf die sozialen O b e r - oder U n t e r s c h i c h t e n hinweisen. Eine umfassendere Untersuchung könnte natürlich genauer differenzieren, z. B. die umfangreichen Mittelgruppen herausstellen u. v. a. Die sozialen

Oberschichten

H e r r ist in weiten Teilen unseres Gebietes die Bezeichnung „für den Vornehmen, den sozial und kulturell Höherstehenden, für das Volk bes. kennbar durch bessere Kleidung, Nahrung, Geldausgabe u. hochdeutsche Sprechweise, im Gegens. zu kleinen Leuten" (Rhein. 3, 555, 49 ff.; ähnlich Lux. 2, 136 und Hess.-Nass.: App.). Wie en H. gekled sen (leven) (wie ein Herr gekleidet sein; Rhein. 3, 555, 55 f.) und wäi die H. abgezoche sai, mit Schlips ien Kroeche (wie die Herren angezogen sein, mit Schlips und Kragen; Biedenkopf, Hess.-Nass.: App.) gilt als wichtiges Symbol der Schichtzugehörigkeit. Pfarrer und Lehrer werden wohl oft in die soziale Oberschicht eingeordnet: Us Dorp hat och H.a, der Pastur ort der Lihrer (unser Dorf hat auch Herren, den Pastor und den 84

R. Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 100.

238

Hans

Friebertshäuser

Lehrer; Rhein. 3, 555, 58); das entscheidende Einstufungskriterium scheint uns für die zwei Berufe der B i l d u n g s g r a d zu sein; beide Positionen stellen außerdem — nach der Meinung vieler Menschen — öffentliche Autoritäten dar. Aber die Bewertung des beruflichen Status spielt im ganzen keine vorherrschende, häufig allerdings eine wichtige Rolle. Neben der Berufsposition ist die B i l d u n g ganz allgemein ein kennzeichnendes Merkmal der Schichtzugehörigkeit: möt de H.a kalle können (mit den Herren sprechen können; Rhein. 3, 555, 57 f.) heißt, sich gut benehmen können, und im Luxemburgischen sagt man bezeichnenderweise man Geld eleng as een nach keen H. (mit Geld allein ist einer noch kein Herr; d. h. auch Manieren und Bildung gehören dazu; Lux. 2, 136). Das Beispiel ist ein deutlicher Beweis dafür, daß nicht nur nach den empirisch gewonnenen Ergebnissen soziologischer Forschungen, sondern auch nach der Meinung der Mundartsprecher oft m e h r e r e Kriterien zusammengehören, die Grundlage einer Schichtbildung sind. Als weitere sprachliche Belege für eine solche Multidimensionalität können folgende Beispiele gelten: De H.a fahre met de Pere, de Ochse fahre met de Ochse (die Herren fahren mit den Pferden, die Ochsen fahren mit den Ochsen; Rhein. 3, 556, 20 f.); Hung un H.a mache kein Dör hinger sich zo (Hunde und Herren machen keine Tür hinter sich zu, d. h. wohl: können sich alles erlauben; Rhein. 3, 556, 28 f.), grusse (buh) H.a lossen op sech warde (Große, hohe Herren lassen auf sich warten; Rhein. 3, 556, 28 f.). Daß auch die ö k o n o m i s c h e M a c h t , d. h. der Besitz oder das Einkommen, oft die Einordnung in die Oberschicht wesentlich beeinflussen kann, wird deutlich in den ironischen Aussagen Hen so sott stolz wie'n groussen H., un hat blouss en Bedelsack (Er ist so stolz wie ein großer Herr und hat nur einen Bettelsack; Rhein. 3, 555 f.), Et es kaan gresser Schwert, als wann en Beadeler zoum H. wird (Es gibt kein größeres Schwert, als wenn ein Bettler zum Herrn wird; Rhein. 3, 556, 1 ff.). Man hat in der Forschung oft dargestellt, daß in den meisten Gesellschaftssystemen das Einkommen ein wichtiges Statusabzeichen ist. Das gilt auch für unsere westmitteldeutschen Verhältnisse, selbst für die Zeit, in der unsere Belege gesammelt worden sind. Allerdings scheint dieses Merkmal in Deutschland nicht die zentrale Funktion zu haben wie in den USA 85 . Wie sehr die Abstufung innerhalb der Sozialschichten allgemein durch den Besitz von M a c h t und E i n f l u ß bestimmt werden, wird noch in vielen Redensarten vermittelt, z . B . : Häre Gebot gäit iwer Gottes Gebot (Herren 85

In den Vereinigten Staaten wird das Sozialprestige eines Menschen oft in ganz entscheidendem M a ß e nach der H ö h e seines Einkommens beurteilt. P . R . H o f s t ä t t e r ( E i n führung in die Sozialpsychologie, S t u t t g a r t 1 9 5 8 , S. 4 0 6 ) z . B . berichtet: „Die B e rufung eines verdienstvollen Juristen z u m obersten Gerichtshof ist an sich eine E h r e , und sie könnte um ihrer selbst willen den Status eines Mannes bezeidinen. Als dieser F a l l sich aber v o r einiger Zeit ereignete, lauteten die Zeitungsüberschriften: , X X erhielt eine 2 5 0 0 0 - D o l l a r - S t e l l u n g beim Obersten Gerichtshof.' M a n ist in den U S A sehr dazu geneigt, das Ansehen eines Mannes nach der H ö h e seines Einkommens zu beurteilen, z. B. auch das von Universitätsprofessoren."

239

Westmitteldeutsch

Gebot geht über Gottes G e b o t ; Eitelborn; Hessen-Nass.: App.), De H.a machen alles (die H e r r e n machen alles, d . h . der Bauer hat nichts zu sagen; Rhein. 3, 556, 18 f.), Wäi de Man ies, so grire die loscht gebrore, de H. grid immer die grisde (wie der M a n n ist, so bekommt er die Wurst gebraten, der H e r r bekommt immer die größte; d . h . man will sich sein Wohlwollen erhalten; Biedenkopf; Hess.-Nass.: App.), De gmss H.a hon lang Uhren (die großen H e r r e n haben lange O h r e n , d. h.: sie e r f a h r e n alles; Rhein. 3, 556, 30 f.). Die große Bedeutung von R ü c k s i c h t n a h m e u n d T o l e r a n z zwischen den einzelnen Angehörigen der Schicht w i r d deutlich in die grussa H.a beissen sich net (die großen H e r r e n beißen sich nicht; Rhein. 3, 556, 36 f.). Diese Aussage scheint uns auf jenes sozialpsychologische Kriterium hinzuweisen, das Th. Geiger 8 6 als besonders wichtig f ü r die Soziallage a n f ü h r t , die S c h i c h t m e n t a l i t ä t nämlich: „Die Mentalität . . . ist geistig-seelische Disposition, ist unmittelbare Prägung des Menschen durch seine soziale Lebenswelt u n d die von ihr ausstrahlenden, an ihr gemachten Lebenserfahrung." Die Glieder der u n t e r e n Schichten meinen oft, d a ß man den H e r r e n gegenüber vorsichtig sein müsse; vor allem neuen H e r r e n gegenüber, denn die bringen meist neue U n r u h e : Nijje Hären, nijje Affären (neue H e r r e n , neue A f f ä r e n ; Waldeck, Hess.-Nass.: App.). A u ß e r d e m sagt m a n : Gruss H.an es schlecht borge (Großen H e r r e n ist schlecht borgen), grosse H.an un schöne Fraue ka mer denen, äver nit traue (großen H e r r e n u n d schönen Frauen k a n n m a n dienen, aber nicht t r a u e n ; Rhein. 3, 556, 38 ff.) u n d met de grussen H.an es net got Kirschen esse, se schmissen enen met de Sten (Mit den großen H e r r n ist nicht gut Kirschen essen, sie schmeißen einen mit den Steinen; Rhein. 3, 556, 44 f.). A b w e r t e n d u n d mit deutlicher sozialer K r i t i k heißt es aber auch v o m (meist mittellosen) Emporstrebenden: De well der H. makere un hat ken Bocks, die sing es (der will den großen H e r r n spielen u n d hat keine Hose, die ihm gehört; Rhein. 3, 556, 49 f.). K r i t i k u n d Spott gelten natürlich auch dem, der sich selbst zu wichtig n i m m t : Herr, wer seng ech, boass wehrn ech noch wehrn ( H e r r , was bin ich, was w e r d e ich noch werden; Hess.-Nass.: App.). Freilich lassen unsere Belege nicht erkennen, ob der Wunsch nach der sozialen Mobilität überhaupt oder nur einzelne Mobile v o n den Sprechern kritisch beurteilt werden. Die skeptische H a l t u n g gegenüber dem einzelnen ist in vielen Fällen verständlich, z. B. dann, w e n n ein Fremder in einer Gemeinde seiner W a h l Eingang in die soziale Oberschicht sucht u n d wenn sich sehr bald herausstellt, d a ß die Migration mit einem beruflichen Abstieg oder einer a n d e r n A r t der Mobilität nach unten korreliert. W i r wissen ja aus den Vereinigten Staaten schon seit einiger Zeit — was auch f ü r die deutschen Verhältnisse zutreffen mag —, »daß sowohl berufliche Versager als auch Personen, deren Ehrgeiz u n d Fähigkeiten die wirtschaftlichen Möglichkeiten ihres H e i m a t o r t e s übersteigen, eine Tendenz zur Migration aufweisen, u n d d a ß die W a n d e r u n g ein Risiko enthält, dessen Ü b e r n a h m e sich M

Die soziale Schichtung des deutschen Volkes, Stuttgart R. D a h r e n d o r f , a. a. O., S. 102.

1932, S. 77; zitiert

bei

240

Hans

Friebertshäuser

durch einen sozialen Aufstieg bezahlt machen kann, das aber auch zu einem beruflichen Abstieg führen kann" 8 7 . Ein weiteres Synonym, das wie H e r r die Zugehörigkeit zur sozialen Oberschicht ausdrückt, ist d e r R e i c h e (mit dem zugehörigen Adjektiv r e i c h ) . Auch der R e i c h e hebt sich in der gesamtgesellschaftlichen Bewertung von den unteren und mittleren Gruppen ab. Er ist nach sprachlichen Belegen aus dem Gebiet des Rheinischen Wörterbuches und auch nach dem Material aus den übrigen Landschaften zunächst natürlich v e r m ö g e n d (Rhein. 7, 272, 28 ff.; hier sind zahlreiche Beispiele angeführt, die wir nicht darstellen wollen; die Bedeutung des Geldes als wichtiges Statussymbol wird auch bei vielen anderen Stichworten deutlich: so heißt es im Kreis Fritzlar, Hess.-Nass., App.: Geld macht den Mann). Außerdem ist der Reiche e i n v r n e h m e r Mann (Rhein. 7, 275, 24 ff.). Schwätz net su reich heißt „Sprich nicht wie die Vornehmen" (Rhein. 7, 275, 28 f.). De Lii spreake reich bedeutet „die Leute sprechen hochdeutsch" (Rhein. 7, 275, 27). Wenn man von jemand sagt: De kiahrt emmer de r.a Mann erus (Der kehrt immer den reichen Mann heraus; Rhein. 7, 275, 26), dann wird damit auf deutliche Schichtdifferenzen hingewiesen. Der Gegensatz der Lebensverhältnisse zwischen den oberen und den unteren Gruppen wird in vielen Sprachbelegen deutlich: Der R.a weiss nit, wie't dem arme Mann zo Mot es (Der Reiche weiß nicht, wie es dem armen Manne zumute ist; Rhein. 7, 275, 35 f.), R. Leit kren ihr Sorgen in der Schees gefohren; arm L. missen se of em Buckel dröhn (Den reichen Leuten werden die Sorgen in der Kutsche gefahren; arme Leute müssen sie auf dem Rücken tragen; Rhein. 7, 275, 41 ff.), De Arme, de drinn ihr Lad, on de R.a fohren et ean de Schäss (Die Armen, die tragen ihr Leid, und die Reichen fahren es in der Kutsche; Rhein. 7, 275, 41 ff.), Wat r.a Lütt hant verschleten, hant arm L. gau terreten (Was reiche Leute verschlissen haben, haben arme Leute schnell verrissen; Rhein. 7, 275, 45 f.: Krefeld und Köln). Wie beim Synonym H e r r mahnen die Glieder der unteren Schichten zur Vorsicht gegenüber den oberen Prestigegruppen: Dem R.a wich on hal dech gereng, dat he dich net en Onglöck breng (Dem Reichen weiche u n d halte dich gering, damit er dich nicht ins Unglück bringe; Rhein. 7, 275, 54 f.). Freilich sieht man ganz klar, daß die Differenzierungen innerhalb der Stufen im Vergleich zu früher — im Zuge der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung — geringer geworden sind: Fruhger fuhren die Armen die R.an, un non fahren die R.an die Arman (Früher fuhren die Armen die Reichen, heute fahren die Reichen die Armen. Sinn: Früher fuhren die Hauderer die Reichen, und nun fährt die Eisenbahn auch die Armen; Rhein. 7, 275, 56 f.). Welche Rolle das Geld im menschlichen Zusammenleben spielt, welche Bedeutung es f ü r die Lebenschancen der Angehörigen verschiedener Schichten hat, zeigen auch die folgenden Aussagen noch einmal ganz klar: R.manns Fraulii un A.manns Kalver weren nü alt, — komme rasch an e Mann; R. Mädcher un Armleits Käs gihn am schwinnste 87

P. M. Blau und Otis Dudley Duncan: Mobilität in den Vereinigten Staaten, 1961 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsydiologie, Sonderheft 5), S. 177.

Westmitteldeutsch

241

af (Die Frauen des reichen Mannes und die Kälber des armen Mannes werden nie alt, — kommen rasch an den Mann; Reiche Mädchen und Armeleutskäse gehen am schnellsten weg; Rhein. 7, 276, 4 ff.). Zu den Vorteilen, die die Zugehörigkeit zu den oberen Prestigegruppen mit sich bringt, gehört für Mädchen die große Mitgift und damit die Möglichkeit zur frühen Heirat. Auch das ist (oder war) ein bedeutender Faktor der Höherbewertung. Ein wichtiger Einfluß auf die Lebenschancen und die Lebenserwartung scheint uns schließlich vorzuliegen, wenn dei R.manns Kränkd ort dei Ärmerleits Schold ... der Welt bekannt ist (wenn die Krankheit des reichen Mannes und die Schuld der armen Leute der Welt bekannt sind; Rhein. 7, 276, 17 ff.): unterschiedliche Tendenzen und Werthaltungen gegenüber zwei entgegengesetzten Schichten werden damit deutlich. Die sozialen

Unterschichten

Wir können auch für diese Gruppen aus dem umfangreichen Material nur wenige Synonyme herausgreifen. Die Belege veranschaulichen wieder komplexe und vielschichtige Haltungen der Mundartsprecher. Die Tendenz zur Abgrenzung der Schichten und zur Einordnung bestimmter Kategorien in die unteren Prestigestufen ist deutlich vorhanden. Zu diesen unteren Gruppen gehören u. a. die g e r i n g e n L e u t e , die a r m e n L e u t e und die k l e i n e n L e u t e . Sie werden durchweg tief eingestuft. Die w i r t s c h a f t l i c h e A r m u t bestimmt ihre Soziallage am entscheidendsten. Darauf weisen neben den vielen Wörterbuchbelegen die Heimatdichter immer wieder hin. So berichtet Heinrich Ruppel88 aus dem Bezirk Kassel von den Demütigungen eines geringen Mädchens, z.B.: In ihr „quoll ein Gefühl der Bitterkeit auf. Beim Tanz hatte man sich um sie gerissen, nun, nach dem Kehraus, ließ man sie stehen, war sie übrig, die sich noch der Schönsten an die Seite stellen konnte, übersah sie ihrer Armut wegen . . . " Dieses Merkmal der Armut d o m i n i e r t über alle anderen Faktoren. Allerdings können wir bei den unteren Stufen — wie bei den oberen Gruppen — einen besonders umfangreichen multiplen Index der Schichtung erkennen. Es läßt sich jedoch nicht feststellen, ob die einzelnen Faktoren miteinander konvergieren. Nach unserer Ansicht ist es wahrscheinlich, daß wenigstens für einige abgelegene Gebiete des Westmitteldeutschen Berufs-, Besitz-, Einkommens- und vielleicht audi Bildungsstrukturen z. T. kongruent gewesen sind. Ob das in diesen Landschaften allerdings noch für die Sozialschichtung der Gegenwart gilt und ob man bei der Multidimensionalität der Schichtung heute noch von der Existenz e i n e r Dominanten sprechen kann — wie unsere Belege sie aufweisen —, ist nach unserem Material nicht zu erkennen: es ist z . T . ja schon vor einigen Jahrzehnten gesammelt worden. 88

16

Mannsvolk und Weibsleut, Melsungen 1922, S. 130. M i t z k a , Wortgeographie

242

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Zu den g e r i n g e n Leuten zählt man nach dem Hessen-Nassauischen Wörterbuch die Nebenerwerbslandwirte, die „wenig Grundbesitz haben, nur Ziegen halten oder nur eine Kuh oder zwei Kühe" (Nordhessen; App.), die Kleinbauern (in der Schwalm; Hessenland 42, S. 271), die Arbeiter und Tagelöhner (Oberhessen und auch sonst noch; App.), die Arbeiter „mit wenig Geld" (Kreis Dillenburg; App.), Leut „mit wenig Besitz" (Kreis Frankenberg; App.; Mardorf: dazu Mathilde Hain, Das Lebensbild eines oberhessischen Trachtendorfes, S. 13, 46, 59, 77), „Leute ohne Vermögen" (öfter in Hessen-Nassau: App.). Bei den zwei anderen Synonymen, den a r m e n Leuten und den k l e i n e n Leuten, sind die Bezeichnungen gleich oder ähnlich. Auch die übrigen Wörterbücher berichten entsprechend, so heißt es im Rheinischen Wörterbuch (5, 823, 29 f.) der klene oder gerenge Mann ist ein Angehöriger der „ärmeren, unteren Volksklasse". Wirtschaftliche und soziale Unterschiede — also Stufungen innerhalb des Schichtgefüges — bestehen (bestanden) in den reichen Bauerngegenden meist zwischen den selbständigen Landwirten und den geringen Leuten. Im Marburger Raum machte sich der Gegensatz auch „in der Kleidung bemerkbar und wurde früher von den Bauern sehr genau beobachtet . . . Jetzt ist es aber umgekehrt geworden. Der geringe Mann, also in den meisten Fällen der Arbeiter, will dem Bauern nichts mehr nachgeben und seine Töchter sollen in der Kleidung nidit mehr gering erscheinen. Innerhalb der Tracht ließ sich das nur schwer bewerkstelligen. Also kleidete er sie in städtische Tracht um, an die der Bauer keinen Maßstab mehr legen konnte" 89 . Einen guten Eindruck von der unteren Sozialschicht vermittelt auch M. Hain 90 aus Mardorf in Oberhessen. Wir möchten jedoch betonen, daß es den Gliedern dieser unteren Sozialstufen in armen Westerwald- oder Eifeldörfern und auch anderswo wirtschaftlich schlechter ergangen ist als den geringen Leuten in dieser reichen Bauernlandschaft um Mardorf, also im Ebsdorfer Grund. M.Hain berichtet (S. 13): „Man darf es als Regel aufstellen, daß alle geringen Leute etwas Grund und Boden haben, so daß sie einige Kühe oder Ziegen halten können, ihren eigenen Bedarf an Kartoffeln und Gemüse pflanzen, vielfach auch ihr Jahresbrot selbst haben. So hat auch diese Sozialschicht teil am bäuerlichen Verhältnis zum Boden . . . Die Herrenschidit, die das Gepräge des Dorfes bestimmt, ist die nur-bäuerliche. Das Handwerk lebt vom Bauern, die Kinder der geringen Leut, besonders die Töchter, dienen beim Bauern . . . " Wie stark die Partnerwahl bei der Hochzeit durch die Existenz der Schichten bestimmt worden ist, konnten wir selbst im Kreis Biedenkopf nachweisen81 : Ehen zwischen reichen Bauernsöhnen und Mädchen der unteren Schichten sind kaum vorgekommen. Im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung haben sich die Heiratskreise jedoch grundlegend gewandelt. Heute gibt es in Gebieten, 89

Sigrid Ebert: Die Marburger Frauentracht, Marburg 1939, S. 81 f., vgl. Hess.-Nass. 2, 137, 39 ff. Das Lebensbild eines oberhessisdien Trachtendorfes, a. a. O., S. 13.

" H . Friebertshäuser: Die Frauentracht des alten Amtes Blankenstein, Marburg 1966, S. 74 f.

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in denen überhaupt noch Landarbeiter vorhanden sind, das „Internubium" zwischen ihnen und Bauerntöchtern sogar besonders häufig, z. B. im Kölner Raum 92 . Auf die Bedeutung der H e r k u n f t , die ein wichtiges Kriterium der Sdiichtzugehörigkeit sein kann, weist u. a. wieder die Heimatdichtung hin. So berichtet A. Bode93 über die geringen Leute aus dem Vogelsberg, daß es von ihnen „im Volk heißt, sie sind gering geboren und bleiben gering": von einer M o b i l i t ä t ist nach Bocks Darstellung also nichts zu erkennen. Es wäre interessant festzustellen, ob die Kinder, die in dieser Landschaft zu den untersten Gruppen der sozialen Hierarchie zählen, auch heute noch zu den Nicht-Mobilen gehören oder ob sie einen höheren Status anstreben, als ihre Väter ihn besitzen. Wir möchten annehmen, daß in der Gegenwart die meisten Söhne ungelernter Arbeiter einen gelernten Beruf zu erreichen sudien, vielleicht auch Angestellte oder Beamte werden wollen, also jedenfalls aufsteigend Mobile sind. Zu den negativen Merkmalen, die nach dem Rheinischen Wörterbuch die geringen Lebenschancen der unteren Stufen widerspiegeln, gehört u. a. die gelegentliche oder auch häufige s o z i a l e D e k l a s s i e r u n g und U n t e r d r ü c k u n g : den gerenge Mann mott ömmer onderstecke (Der geringe Mann muß immer einstecken, d. h. er wird unterdrückt; 5, 823, 50 ff.). Beim Synonym k l e i n heißt es prestigemindernd He dämpt, wie wenn en kl.ar Mann backt (Er raucht tüchtig Tabak, als ob ein kleiner Mann backt; Sinn: Der kleine Mann kann nur schlechtes, grünes Holz, das stark raucht, zum Backen verwenden; Rhein. 4, 698, 33 f. Wer Holz besitzt, also auch Raum zum Lagern hat, gilt nämlich als wohlhabend: Be veel ahl Holz eß, do eß veel ahlt Gäld; Schwalm, Hessenland XXVI, S. 289; vgl. auch Heßler, Hessische Landesund Volkskunde, Bd. 2, S. 335). Wer in Nassau klein anfangen muß, beginnt (in seinem Beruf z. B.) als armer Mann (Hess.-Nass.: App.). Gelegentlich, aber nur selten, lassen die Belege audi ein gewisses Selbstwertgefühl erkennen: Klein, aber rein, sagt man z.B. in Biebrich-Wiesbaden (Hess.-Nass.: App.); man will also lieber schuldenfrei in bescheidenen Verhältnissen leben, als im scheinbaren Wohlstand Angst vor dem wirtschaftlichen Ruin haben müssen. A r m bedeutet zunächst natürlich, wie g e r i n g und k l e i n : b e s i t z l o s (Hess.-Nass.: App.; Pfälz. 1, 329, 3 ff.; Südhess. 1, 336, 23 ff.; Rhein. 1, 336, 23 ff.). Dieses Kriterium spielt, wie die folgenden Beispiele erweisen, für die Bestimmung der Soziallage wieder eine d o m i n i e r e n d e Rolle: So oahm, daß mer gesahn kend, us Heagott eas deat net dehoim (So arm, daß man sagen könnte, unser Herrgott ist dort nicht zu Hause; Hess.-Nass.: Kreis Rotenburg: App.). 's Geld is's winnischt, was e aaTmeT Mann hot (Das Geld ist das wenigste, was ein armer Mann hat; Pfälz. 1, 329, 39 f.). Wer keine Aussicht hat, jemals Vermögen zu erwerben, der ist so arm wie Hiob (Wetterau: Hess. Blätter für " Renate Mayntz, a. a. O., S. 211. »» A. Bode: Der Oberwälder, Berlin 1913, S. 30. 16"

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Volkskunde 6, 47; ähnlich Südhess. 1, 336, 30; Pfalz. 1, 329, 4; Rhein. 1,246,28). Rauchen oder qualmen, wie wenn ein armer Mann backt ist im Gebiet des Hessen-Nassauischen Wörterbuches weit verbreitet (Erklärung wie bei klein; es kommt auch vor im Südhessischen Wörterbuch 1, 337, 7 f. und im Pfälzischen Wörterbuch 1, 329, 18 f.). Wie bescheiden die Lebensweise der armen Leute früher war, wird in einer Redensart und einer dem Hessen-Nassauischen Wörterbuch mitgeteilten Erklärung aus Weisel (Kreis St. Goarshausen) deutlich: Ein armer Bergmann hatte en Quetscbekuche (einen Zwetschenkuchen) in Kaub gekauft und wollte ihn am Sonntag mit seiner Familie essen. Nachts konnte der Mann wegen seiner Vorfreude auf den seltenen Genuß nicht schlafen. Er stieß seine schlafende Frau an und fragte sie, ob es noch nicht Tag werde. Sie wies ihn unwirsch ab; da klagte er Wenn e ahrmer Mann äbes Gures bot, will's goarned Dag wearn (Wenn ein armer Mann etwas Gutes hat, will's gar nidit Tag werden; ähnlich Südhess. 1, 336, 64 f.; Pfälz. 1, 329; Rhein. 1, 248, 21 f.). Ähnliche Belege stammen aus dem Kreis Dillenburg (Hess.-Nass.: App.): Wenn orme Leu wott gebacke hoh(n), will et net Dogk wem (Wenn arme Leute etwas gebacken haben, will es nicht Tag werden), aus dem Kreis Frankenberg: Wenn der arme Mann schlachten will, will's nicht Tag werden (mitgeteilt in: Else Wissenbach, Geschichte der Stadt Gemünden an der Wohra, Kassel 1953, S. 319). Helene Brehm berichtet aus dem Kreis Eschwege (Hessenland, Zeitschrift f ü r hessische Geschichte und Literatur, 24. Jg., Kassel 1910, S. 355): „Ist in einem Hause, worin f ü r gewöhnlich Schmalhans Küchenmeister ist, einmal ausnahmsweise am Sonnabend ein Kuchen f ü r den Sonntag gebacken, dann heißt es: Wenn arme Leute etwas haben, will's nicht Tag werden." Wer nach der D a r stellung des Südhessischen Wörterbuches nichts „erheiratet", bleibt sein Lebenlang besitzlos: Wer nix eTheierd unn nix irbd, der bleibd arm, bis daß er sti'bd (Wer nichts erheiratet und nichts erbt, der bleibt arm, bis er stirbt; 1, 336, 40 f.; ähnlich Rhein. 1, 247, 50 f.; Pfälz. 1, 329, 24 f.). Ironisch heißt es vom kleinen Schwein des armen Mannes: Em arme Baiser sein Saidoe iß beim Schloachde in Hensching geschlubbd (Dem armen Baiser sein Schwein ist beim Schlachten in den Handschuh geschlüpft; Südhess. 1, 336, 53 f.). Von der wirtschaftlichen N o t der Armen berichtet weiter das Pfälzische Wörterbudi recht eindrucksvoll: die aa'me Leit hun net mol Brot iwwer Nacht (Die armen Leute haben nicht mal Brot über Nacht; 1, 329, 17; ähnlich Rhein. 1, 246, 57). Auch im Rheinischen Wörterbuch kommen noch sehr viele andere sprachliche Belege vor, die uns das schichtspezifische Merkmal der Armut aufzeigen. Wir geben hier nur wenige Beispiele; sie genügen, um zu erkennen, wie stark auch im Rheinland die Soziallage der unteren Bevölkerungsgruppen durch dieses Kriterium bestimmt worden ist. Der höchste Grad der Armut wird durch folgende Beispiele deutlich: He es su arm, dat e net e Steck Brot hat fir e sei Maul (Er ist so arm, daß er nicht einmal ein Stück Brot f ü r seinen Mund hat; 1, 246, 42 f.); Bei so arman Löggen geht et neist ze reissen on ze beissen (Bei so armen Leuten gibt es meist nichts zu reißen und zu beißen; 1, 246, 55 f.), — steht och der Hunger an der Dihr Poste (steht auch der Hunger an der Türe Posten: 1,246, 58 f.);

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Suan arma Mann hat niks in de Brei ze bröckele (So ein armer Mann hat nichts in den Brei zu bröckeln; 1, 247, 1 f.), — hat och nicks ze nage (hat auch nichts zu nagen; 1, 247, 11). Nicht nur Armut oder Reichtum, sondern auch die d u r c h s c h n i t t l i c h e n K i n d e r z a h l e n bedingen Unterschiede zwischen den Schichten. Beide Kriterien sind nach dem sprachlichen Material als wichtige objektive Unterscheidungsfaktoren f ü r die Lebensweise der Stufen anzusehen. De reiche Mann hot e Stall voll scheene Rinner, die aa'm Fraa bricht's Haus voll klene Kinner (Der reiche Mann hat einen Stall voller schöner Rinder, die arme Frau kriegt das H a u s voller kleiner Kinder; Pfalz. 1, 329, 33 ff.), De ärmste Leut kriege de meste Kinder en de meste Progge (Die ärmsten Leute bekommeen die meisten Kinder und die meisten Brocken, d. i. Kummer; Rhein. 1, 248,54 f.). Die Kinderzahl korreliert in dem von uns behandelten Sozialsystem also n i c h t p o s i t i v mit dem persönlichen Status. Die niedrige Sozialstufe, f ü r die neben dem dominanten Merkmal der wirtschaftlichen Armut noch andere Kriterien bestimmend sind, wird auch in den folgenden Beispielen deutlich. Die Belege zeigen ganz klar, wie gering der Arme eingestuft wird und wie u n b e d e u t e n d sein gesellschaftlicher Einfluß ist: Arme Leut es Beddelvolk (Arme Leute sind Bettelvolk; Rhein. 1, 248, 11), Wenn der ä. Mann niks han soll (Onglöck häbbe sali), da fällt äm der Schnaps öm (Wenn der arme Mann nichts haben soll, Unglück haben soll, dann fällt ihm der Schnaps um; Rhein. 1, 248, 18 f.), Wen isem Herrgott en orma Mann schellig as, de moss him en liweren (Wer unserem Herrgott einen armen Mann schuldig ist, der muß ihm einen liefern; d. h. wer zur Armut geboren ist, der muß sie tragen; Rhein. 1, 248, 32 ff.; ähnlich Hess.-Nass.: Wetterau, Kreis Biedenkopf: App.). Nem arma Mann passt alles, nur ka Perdsgescherr (Einem armen Mann paßt alles, nur kein Pferdegeschirr; Rhein., 248, 44 f.), En arma Kerl kret ihter en Fra es en Koh (Ein armer Kerl bekommt eher eine Frau als eine K u h ; Rhein. 1, 248, 45 f.), Was geh ich auf dem armen Mann sein Zorn (Hess.-Nass.: Kreis Biedenkopf, Wetterau: App.). Bei den folgenden Beispielen wird deutlich, daß der soziale Status „immer nur ein Ausdruck f ü r die kombinierte soziale Stellung innerhalb verschiedener Teilstrukturen" ist, er „schließt keine Bewertung des Verhaltens oder gar Charakters eines Menschen ein" 84 . Denn zum Lob der Armen heißt es im Gebiet des Rheinischen Wörterbuches Ärma Lück mache riche Hellige (Arme Leute machen reiche Heilige, d. h. sind freigebig f ü r kirchliche Zwecke; 1, 249, 34 f.), Arm (sen) as ken Schann (Arm sein ist keine Schande; 1, 249, 37 f.), Arm äver ihrlech (brav) (Arm, aber ehrlich, brav; 1,249, 36 f.). Das gilt f ü r die oberen Schichten oft als sittliche Verpflichtung, die Armen nicht zu vergessen: De nen Ärma kann vergesse, verdent selve nit, sich satt ze esse (Wer einen Armen kann vergessen, verdient selbst nicht, sich satt zu essen; 1,249, 51 f.), Wen willeg get den Arman, des wird sech Gott erbarmen (Wer willig den Armen gibt, des84

Renate Mayntz, a. a. O., S. 132.

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sen wird sich Gott erbarmen; 1, 249, 56 f.) und Die let den Schmerz für arme Leut falle (Die ließe den Schmerz für arme Leute fallen, d. h. so mildtätig ist sie; 1, 249, 61 f.). Oft jedoch ist das Gegenteil der Fall: De Be'g nunner lefd de arme Leut ihr Fuhrwerk ganz ellän (Den Berg hinunter läuft der armen Leute Fuhrwerk ganz allein, d. h. niemand hilft, wenn sie in Not geraten; Südhess. 1, 337, 26 ff.). Außerdem findet der arme Mann Hilfe am ehesten bei seinesgleichen: Arm un Arm, deß häld sich woarm, Reich un Arm, daß Gott erbarm (Südhess. 1, 337, 30 f.). Und schließlich ist die Ansicht vorhanden, daß die Absonderung der Gruppen, die soziale Distanz zwischen den Stufen nötig seien: Wann der Her arm un der Knech rieh wed, duge ze alle heids niks (Wenn der Herr arm und der Knecht reich wird, taugen sie alle beide nichts; vgl. dazu auch S. 229) und Jederein sök singes Gliche, bei de Ärma un de Riehe (Jedermann sucht seinesgleichen, bei den Armen und den Reichen; 1, 250, 47 ff.). Der arme Mann ist im Rheinischen auch der g e m e i n e M a n n , der g e w ö h n l i c h e B ü r g e r (Rhein. 1, 251, 42 ff.). Er ist immer abhängig, moss der Puckel darhale beim Kriege (Rhein. 1, 251, 45 f.) und muß immer nur bezahlen: Do bauen se en neu Schull, un der arma Mann moss et bezahle (Rhein. 1, 251, 44 f.). F a s s e n w i r k u r z z u s a m m e n : Unsere sprachlichen Belege, die nur eine kleine Auswahl aus einem umfangreichen Material darstellen, haben bewiesen, daß sich verschiedene soziale Schichten im mundartl. Wortgut spiegeln. Die Analyse hat nicht nur allgemeine Differenzierungen im Gesellschaftsgefüge herausgestellt, sondern einige Gruppen aufgezeigt, mit denen die Mundartsprecher Wertungen verbinden und die von ihnen, wie auf einer vertikalen Achse angeordnet, als höher und tiefer liegende Schichten empfunden werden. Bei den unteren Stufen, den g e r i n g e n L e u t e n u.a., werden die Lebenslage und damit im Zusammenhang die Prestigezuordnung durch das d o m i n a n t e Kriterium der wirtschaftlichen Armut geprägt. Für die Zuordnung der oberen Gruppen, der H e r r e n , der R e i c h e n , gibt es einige wichtige Faktoren: Es zählen der Einkommens-, der Berufs-, der Bildungsstatus, der Besitz von ökonomischer Macht u. a. Wir konnten jedoch nicht erkennen — das wäre unserer Meinung nach nur bei einer detaillierten empirischen Untersuchung im kleineren Gebiet möglich gewesen—, ob die einzelnen Statuslagen eng miteinander korrelieren oder nicht, ob also eine „Status-Kristallisation" im Sinne E.Lenskis 95 oder multidimensionale Schichtungsformen vorliegen. Daß die Gesellschaft sich in mehr Schichten gliedert (in Mittelgruppen z. B., auf die wir nicht eingegangen sind), als wir darstellen konnten, ist selbstverständlich: in Gruppen, die in sich gleich und homogen sind im Vergleich zu anderen Stufen. Uns kam es nicht darauf an zu zeigen, wie vielschichtig und differenziert der Statusaufbau überhaupt ist, sondern wir wollten nur darstellen, daß soziale Schichten sich g r u n d s ä t z l i c h in westmitteldeutscher Wortgeographie spiegeln können. 95

Status Crystallisation: A Non-Vertical Dimension of Social Status, in: American Social Review, 1954.

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Als wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen den Stufen müssen, neben anderem, die verschiedenen Schichtungssymbole gelten; darauf sei noch einmal hingewiesen. So ist im Marburger Raum, wie w i r gesehen haben, die Tracht ein wichtiges Statussymbol gewesen: Sie w a r hier wie im westlich anschließenden Kreis Biedenkopf ein äußeres Kennzeichen der Schichtzugehörigkeit und trennte die Bildungsoberschicht von den übrigen Gruppen. Manchmal, aber nicht sehr oft, zeigten unsere Belege Spannungen zwischen den verschiedenen Statusstufen; diese Konflikte ergeben sich u. a. aus dem Gefühl der sozialen Deklassierung bei den unteren Klassen. Beim Angehörigen der sozialen Oberschicht wird, wenigstens für größere Teile des Westmitteldeutschen, eine besonders hohe Korrelation zwischen Yerhaltenserwartung und Status deutlich: er muß gut gekleidet sein, soll keine Mundart sprechen; es w a r möglich, noch einige andere gruppenspezifische Verhaltensweisen aufzuzeigen. Im ganzen konnten w i r somit einige wichtige Kriterien nennen, nach denen Menschen im Spiegel der Sprache verschiedenen sozialen Schichten zugeordnet werden. W i r haben dargestellt, welche M e r k m a l e , mit denen sich g e s e l l s c h a f t l i c h e W e r t u n g e n und D i f f e r e n z i e r u n g e n des Leb e n s s t i l s verbinden, den Mundartsprechern als besonders relevant erscheinen.

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Ostmitteldeutsch I. Sozialschicht — Sprachschicht Als größte und wichtigste soziale Gruppen schufen B ü r g e r und B a u e r n die ostmitteldeutsche Sprachfläche. Wieweit die heutige Schrift- und Hochsprache, das Neuhochdeutsche, aus der Sprache der einen oder mehr der anderen oder irgendwie beider entwickelt worden ist, fragt die Forschung weiter. Entwickelt: denn in normsetzender Grammatik und Lexikographie, in Vers und Prosa führt seit dem Durchbruch der Neuzeit das O s t m i t t e l d e u t s c h e . Im Erbe des klassischen Mittelhochdeutsch, alemannischen Ursprungs in der Dichtersprache des Hartmann von Aue werden in diese und in die Gebrauchsprosa der Zeit die Grundmerkmale der neuhochdeutschen Schriftsprache eingebaut und immer stärker durchgeführt: vom Südrande her die Diphthongierung von l, ü, in; vom Westmitteldeutschen her die Monophthongierung von ie, uo, üe; vom niederdeutschen Nordwesten her die Dehnung offener Silbe wie in leben zu leben. Das Mitteldeutsche der Mitte, Mittler zwischen Süd und Nord, führt wesentlich in seiner Osthälfte, dem Ostmitteldeutschen, zur heutigen Schrift- und Hochsprache über. Doch wissen wir noch zu wenig von der Leistung der westlichen Mitte zu dieser sprachlichen Kulturtat. Die Wortgeographie lenkt den forschenden Blick oft genug auf die Mutterlandschaften von Hessen und Ostfranken. Sie ist aber noch mehr als die historische lautgeographische Landschaft im Wortschatz weithin nur punktuell, noch dazu mit zeitlicher Fragwürdigkeit, belegt. Die Bürger dieses Sprachraumes schreiben und sprechen eine Geschäftssprache für den Gebrauch unter sich und nach außerhalb, am deutlichsten die ostmitteldeutschen in den weiten Osten. Dort ist ihre Sprache Geschäftssprache über Posen und Krakau hinaus. Ostmitteldeutsche Wörter bringt Luther, besonders durch die Übersetzung des Neuen Testaments von 1522, zu weitester schriftsprachlicher Geltung. Den Oberdeutschen müssen die Basler Nachdrucker manches durch dort heimische Umgangs- und Schriftsprachwörter erklären 1 . In Basel hängen Petri gleich 1523, im selben Jahr nach diesem Muster Wolf, eine lange Liste solcher wortgeographischer Gleichungen an ihre Testamentnachdrucke: bange erklären sie mit engisch, zwang, gedreng; beben : bidmen; Eintracht: einerlei Sinns; Graupe : geschälte 1

F. Kluge, Von Luther bis Lessing 1918 5 .

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Gerste, Gerstl, Rollgerstl; Hälfte : Halbteil-, lenken : umkehren, wenden-, Lippe : Lefze-, Pauke -.Trummen; Peitsche : Geißel; Pöbel: gemeines Volk-, prüfen-.bewähren, erkunden, läutern, probieren, versuchen; rügen : sehenden, Schand entdecken; Schleuder : Schlenker, Schlinge; tadeln : straf en, nachreden; tauchen-, tunken. Bei diesen und noch weiteren Beispielen des Schrifttums können wir die Herleitung aus dem ostmitteldeutschen Räume nur gelegentlich feststellen. Graupe, Peitsche sind slawischer Herkunft, so auch Grenze, das den Oberdeutschen durch Mark, Landmark, Gegend, Umkreis verdeutlicht wird. Wenn wir heute die Sinngleichen eines hochsprachlichen Wortes wie Ziege auf der Karte ortsdicht beisammen finden, so lockt die Ortung von Luthers Ziege, das jene mit Geiß erklären. Dies gilt weithin im Westmitteldeutschen und im Oberdeutschen. Und zwar in allen Sprachschichten, von der Mundart (in seiner besonderen Lautform wie Goaß) über die Umgangssprache, wo jene kleinlandschaftliche Lautung nicht überall zu erwarten ist, bis zu der schriftsprachlichen (Zeitungsannoncen, lokale Verordnungen), sogar bis zu der dortigen Hochsprache mit ihren landschaftlichen Worteigenheiten. Das Synonym Ziege haben die Franken im alten Westen aufgebracht2, noch nicht sinngleich. Das Wort meint in ältester Zeit das Weibchen kleinerer Haustiere. Soziologisch geht das neue Wort mit letzter, heutiger Bedeutung auf überlegene westlich-mittelmeerische Zucht zurück. Im Ostmitteldeutschen ist hochsprachlich Ziege in der Mundart (mit leichtem Affekt, den kleinen Leuten auf dem Lande aus Hof- und Hausgemeinschaft vertraut und kostbar) thüringisch Hepp, Hippe, Happe (also Vokalspiel der Sphäre der Kosenamen); Südbrandenburg mit dem nördlichen Sachsen Zicke; im übrigen Obersachsen wie bei Luther Ziege. Nicht bis zur Höhe der Hochsprache, auch nicht in die Schriftsprache geschäftlicher Art, gelangten alle sein, alle werden. Das Basler Bibelglossar übersetzt dies mit lär, öd, verzehret, schwach. Heute zeigt die Wortkarte ,leer' (DWA IV) alle, das auch umgangssprachlich sein kann, vom Rheinfränkischen über Thüringen-Obersachsen bis Schlesien. Diese Siedelbahn werden wir noch oft antreffen. Sie reicht weiter ins Mitteldeutsche Ost- und Westpreußens, ins Hochpreußische, wo neben wenigen alle vom Niederpreußischen her ledig herrscht. Außer Wortwahl können wir die häufige Bedeutungsänderung innerhalb des Ostmitteldeutschen wieder nur streifen. Mhd. alware hatte die Bedeutung ,gütig'. Luthers alber wird mit oberd. nerrisch, fantesteisch erklärt, -n fügt Gottsched hinzu. Wie Lippe ist auch Stoppel sowohl mittel- wie niederdeutsch, oberd. Stupfel. Niederdeutscher Herkunft sind Luthers sichten .sieben' gegen reitern, seihen, stottern (zu stoßen); Splitter gegen oberd. Spreiß; schüchter, das bei ihm ,scheu gemacht, von Tieren' bedeutet. Alte Bedeutung können gegen die Hochsprache Wörter der Mundart, also in der unteren Sozialschicht, bis zur Gegenwart bewahren, wie weil ,so lange als', 1

K. Rhein, Die Bedeutung von Tierzucht und Affekt bei Haustierbezeichnungen, untersucht an Capra domestica in: Dt. Wortforschung in europäischen Bezügen. Bd. I. Gießen 1958.

' K. v. Bahder, Zur Wortwahl in der frühneuhochdeutschen Schriftsprache 1925.

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oder eine andere angenommen haben. Dies zeigt vom Südrand des Ostmitteldeutschen die schlesische Mundart im Westen des Riesengebirges um Friedland 4 : zaudern bedeutet nicht ,zögern', sondern ,streiten'; für schirren nicht nur ,vor(an)schirren zum Abfahren'. Dieser Fuhrmannsausdruck, ähnlich wie angestrengt sein, beschlagen sein, wird verallgemeinert und bedeutet ,zubereiten'; langsam ,spät', dafür State (schtate) ,langsam'; zuhause ist ,zur Miete'. Angst ist nicht ,Furcht, seelische Beklemmung', sondern ,Schmerz'. Es ist also körperlich gemeint. Auf der Karte ,Zahnschmerzen' gilt -angst im Südwesten des Schlesischen, und zwar nur hier auf der deutschen Gesamtfläche, so auch Kopfangst ,Kopfweh', landschaftlich eingeschränkter Bauchangst ,Bauchweh'. Das Grundwort -schmerzen reicht in der Mundart von Nordhessen bis nach Schlesien: zwischen weh-, -wehtage, im Westen des Schlesischen mit -reißen. Vom Ostmitteldeutschen her ist Schmerz also bis heute hochsprachlich geworden. Im Mittelhochdeutschen steht Schmerz noch nicht den Dichtern des Minnesangs für den dort doch so naheliegenden Reim zu Herz zur Verfügung. Bis in die Oberschicht reicht von Süden her in den Rand von Vogtland-Ostthüringen-Obersachsen-Schlesien heuer ,dies Jahr'. Kleinlandschaftliche Eigenheiten im Wortschatz wird man in solchen v e r k e h r s e n t l e g e n e n Gegenden suchen. Die offenen, gar im Strahlungsgürtel von großen S t ä d t e n oder von I n d u s t r i e b a l l u n g e n liegenden Mundartflächen sind schriftsprachlichen Einflüssen zugänglicher. Geschlossene und selbstbewußte Sprachgemeinschaften, besser Sprechgenossenschaften, gibt es noch heute in Thüringen, im Gegensatz zu weiten Strichen Obersachsens. Das Neue zeigt sich am ehesten im Wortschatz®. Solchen Anschluß an die Schriftsprache, also Aufstieg zur höchsten Sprachschicht in Nordostböhmen zeigt um 1934 der Schönhengst7, in den das Ostfränkische ausklingt, bei den Verwandschaftsnamen: Ahnherr, Großel (wie schlesisch) werden ersetzt durch Großvater; die Baba, das Großlein (beide auch schlesisch) durch Großmutter; Base, Muhme durch Tante; Vetter durch Onkel. Im Alltag ringsum verkauft der Bäcker den Sauerdeisen als Sauerteig; auf dem Markt heißt das Geflätschel nun Geflügel. Der Kaufmann verkauft den Kittel als Hemd, den Spendling als Sicherheitsnadel, den Wischhader als Handtuch; das Tischtuch, statt der wie vorher bei den andern, selbstgefertigten Brottuch, Laugentuch, Tischkütz(lein), Aufbereitung: alles dies sind Marktwörter. In der Schule lernt man statt Molkendieb oder Molkenstehler, ohne daß das Naschen oder gar Verhexen der Milch im Eimer dem hochdeutschen Wort von allen abgelesen wird, den Schmetterling, von tschechisch smetana. Schmetten heißt die Sahne aus dieser Nachbarschaft im West4

H. Dittrich, in: Heimatkunde des Bezirkes Friedland in Böhmen, hg. Gierach u. Schubert II 1926.

5

W . Hoffmann, Schmerz, Pein und Weh. Studien zur Wortgeographie deutsch-mundartlicher Krankheitsnamen 1956.

6

H. Rosenkranz, in: Rosenkranz u. Spangenberg, Sprachsoziologische Studien in Thüringen. 1963, S. 9.

7

A. Kreller, Wortgeographie des Schönhengster Landes 1939.

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und Nordrand Böhmens (DWA V), Zeker (wie schlesisch), Kapsa heißt nun Schultasche. Aber Gewitter statt Wetter sagte man vorerst nur in der Stadt. Und Kaulquappe wie Froschlaich sagte man — diese interessierten ja nur die draußen in der Natur herumstreifenden Knaben — wenig. Übrigens haben Mundart und Umgangssprache das auch in der Schriftsprache dichterisch oder sonst gewählt klingende Wort Knabe nicht übernommen. Da gilt im Ostmitteldeutschen (und außerhalb nach Westen und Norden hin) Junge, südlich des Gebirges in der Mundart Kerl. Bube reicht vom Oberdeutschen her in den Nordwesten Böhmens (DWA IV). Die hochsprachliche Frage voriges Jahr zeigt sich durch die Sprachschichtung über Umgangssprache bis zur Grundstufe der Mundart 8 im schmalen Streifen entlang der nd.md. Grenze vom Rothaargebirge über das untere Fulda-Werra-Gebiet, Nordthüringen, Saalemündung bis in die südliche Mark Brandenburg. In diesem Streifen hat offenbar die sprachgrenzbedingte Unsicherheit und teilweise die südnördliche Übernahme der nhd. Schriftsprache die niederdeutschen wie die mitteldeutschen Mundartwörter beinahe ganz untergehen lassen. Es ragen da aus jener vergehenden Schicht vorm und verm Jahr hervor. Die Mittel- und die Oberschicht mit Umgangssprache bzw. Hochsprache haben brandenburgisch-schlesisches vergangenes) Jahr, im Hochpreußischen das ..., im ..., obersächs. jenes, in jenem Jahr, einige letzt(es) Jahr, im . . . Die Unterschicht mit ihrer Mundart zeigt thüring.-sächs. vorm, verm, schles. außer im Südrand auch ander(es) Jahr. Vom Vogtland über Egerland nach Nordböhmen reicht fern mit Varianten wie fert, fern(d)ig. Vom Mittelfränkischen bis Schlesien gilt für ,diese Nacht' hint, heint. In Opposition zu dies(es) Jahr ist ostmd. jenes Jahr entstanden. Zum Opponenten heuer steht fern mit seinen Formen: beide stimmen räumlich überein. Das südliche Schlesien hat zu Jahr aus westmitteldeutscher Siedlung. Sie läuft im Hochpreußischen aus: ze Johr. Zur Frage nach der örtlichen und landschaftlichen Wiedergabe von ,jemandem Geld leihen' sagt man oberschichtlich im ostmitteldeutschen Bereich leihen, aber borgen von Hessen bis zum Hochpreußischen in Umgangssprache und Mundart (DWA X X I ) . Burschikoser Herkunft, dorthin aus der Gaunersprache, dem Rotwelschen, ist pumpen, das die Umgangssprache vor allem als .entleihen', wobei das leicht peinliche Gefühl scherzhaft aufgehoben sein kann, gebraucht. Jene Frage wird vor allem im Brandenburgischen, gelegentlich auch in Thüringen und Schlesien mit pumpen beantwortet. Da möchten wir auf Berlin zurückschließen. O b e r s c h i c h t l i c h e n Ursprung aus dem Ostmitteldeutschen, diesmal aus ganz bestimmten Gesellschaftskreisen, nimmt die Forschung für mundartliches Komst ,Sauerkraut' 9 an. Die Wortkarte Sauerkraut zeigt dies Wort, das auch für Weißkohl gilt, in Thüringen und im Hochpreußischen, dazu in dessen 8

P. v. Polenz, Mundart, Umgangssprache und Hochsprache am Beispiel der mehrschichtigen Wortkarte voriges Jahr, in: Hess. Blätter für Volkskunde 51/52 (1960/61), 224; G. Stötzel, Die Bezeichnungen zeitlicher Nähe in der dt. Wortgeographie von dies Jahr und voriges Jahr. 1963.

9

Brunhilde Reitz, in: Dt. Wortforschung 4, S. 600.

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niederdeutscher Nachbarschaft. Im Westen hat es noch das Ostfränkische. Die klösterliche Gartenkultur übernimmt den Kohl aus Italien über Gallien nach Deutschland. Nach den Lehren des römischen Agrarschrifttums werden ganze Kohlköpfe oder geschnittene mit Gewürzen und Salz eingelegt (compositum). Bis in die zweite Hälfte des 16. Jhs. ist Komst mit seinen Lautvarianten als Bezeichnung für Sauerkraut verbreitet. In der Mundart erhalten ist es in Gebieten des Deutschen Ordens. In Thüringen liegt dessen älteste Bailei als Verwaltungsmittelpunkt mit Großgrundbesitz. Möglicherweise ist das Wort von Preußen mit Angehörigen des Ordens nach Thüringen und nach Ostfranken zurückgewandert. Es gibt aber davon unabhängige Gebiete in Westfalen und und in Ostpommern. Wann und wie das Wort mit der neuen Konservierung durch Gärung in zuletzt geschnittenem (gehobeltem) Zustand in Bürger- und Bauernsprache vertraut geworden und zumindest in der erstgenannten durch das Marktwort Sauerkraut verdrängt worden ist, bleibt zu fragen. Oberschidhtlich ist das Kompositum Mohrrübe in landwirtschaftlicher Fachsprache der ostdeutschen Gutswirtschaft aufgekommen10. Dort wird Möhre im Ostmitteldeutschen des 17. Jhs., offenbar für den feldmäßigen Anbau als hochwertiges Pferdefutter, durch -rübe verdeutlicht. Das Simplex Möhre wird in den Bereich der Umgangssprache und der Mundart verdrängt, hält sich als Zweitform mundartlich in Brandenburg und Niederschlesien. G e s e l l s c h a f t l i c h e s T a b u gilt für manche Wörter schon der Umgangssprache, vor allem für viele der gegenüber oberschichtlicher Prüderie und vorsichtiger Wortwahl von Schimpfwörtern unbefangenen Mundart. Der Wortschatz für gute und lobenswerte Eigenschaften von Mann und Frau nimmt von der Hochsprache zur Mundart sehr stark ab, der Tadel aber umgekehrt in Ernst und Spott besonders kräftig zu. Die Synonymenreihen im Schlesischen Wörterbuch kann man in guter Gesellschaft nicht ohne Aussparen von sehr „gewöhnlichen" Wörtern vorlesen. Kommt der Mann fidel angetrunken, so paßt dies letzte Wort nicht in feine Gesellschaft, Gardinenpredigt oben führt in Mundart zu ales Mistgewitter (S. 340); wenn der Mann auf dem Hof zu nahe am Düngerhaufen, so müßte in gehobener Sprache gesagt werden, vorbeischlich, dann kann sie (ale Unke, Gescheeche .Gespenst, Vogelscheuche') ihn mit Mistpfützenkrebs anreden (S. 843). Aber fragt sie, was im Kretscham (Wirtshaus) los war, da kann sie betuhlich (freundlich, verträglich) Neuschierla oder Schneegake (Schneeglöckchen, das sich neugierig aus dem Schnee hervorwagt) genannt sein. Die Wortgeographie von Mund ( D W A I V ) : „Junge, halt den Mund") bietet die meisten Ausdrücke in der Mundart. Das Schlesische (Wb. S. 882 mit Karte) hat da meist Fresse (Trasse). Ein Gewährsmann schreibt dazu: ordinär! In freundlicher Weise kann Gusche gebraucht werden, oberschichtlich ist Schnabel im Gespräch möglich. Aber für Umgangssprache im vertrauten Kreise, noch mehr in Mundart, kommen dort in Betracht: Flappe, Klabatsch(k)er, Loppe, Muppe, Pläpp, Popp, Schnotter. Von Thüringen bis nach Schlesien ist ein loses 10

Edda Schräder, in: Dt. Wortforschung 4, S. 373.

Ostmitteldeutscb

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Mundwerk und ihre Besitzerin halt eine Dreckschleuder. Ob der Mistkäfer überhaupt Unterhaltungsgegenstand ganz oben sein kann, hängt vom „Takt" ab. Im Vogtland (DWA V) ist er der Kühdreckskäfer oder nach realistischer Betrachtung eines Kuhfladens der Kühdrecksbohrer. So etwas kann der Umgangssprache nicht mehr zugetraut werden, aber schles. Scheißkawer schon gar nicht. Der Mundartsprecher geniert sich da nicht, am Zobten mildert er sogar mit der Verkleinerungsform (Hochsprache: Verniedlichung) Scheißkawerla. Wenn die Kinder aus den herrlich rotbäckigen Hagebutten das gelbe Fruchfleisch herausklauben, die Unerfahrenen aber die Fruchtkerne mit den beim Herunterschlucken noch harmlosen Widerhaken mitessen, führt dies zu den weit verbreitetem Arschkratz oder Kratzarsch. Harmloser klingt dazu umschrieben Juckpulver. Die Ameise ist am Nordrand des Ostmitteldeutschen vom Niederdeutschen her die Pissmiere. Verbreitet ist omd. Seechemse. Hochdeutsch zeigt Ameise im Lautbild nichts von der Wirkung der eingespritzen Ameisensäure. Bis in die Umgangssprache hinauf wird im Sächsischen und Schlesischen ärschlich, ärschlings gebraucht für ,rücklings, verkehrt, hinten, links; falsch, dumm, unordentlich'. Weinhold, Beiträge zu einem schles. Wb. 1855 erklärt S. 53: „im schlesischen Munde unbefangen gebraucht". W. ist Schlesier, er zitiert für 1728 ärschlich tun .schlechte Laune haben'; beim Stricken rechts und ärschlich-, Walzer ä. ,links herum'. Auch für das Sächsische erklärt Müller-Fraureuth Wb. S. 32: völlig harmlos gebraucht. Die Kinder wissen nichts von der Etymologie: sie fahren ärschlich Schlitten, nämlich bäuchlings, also gerade auf der anderen Körperseite. Das Substantiv dazu ist wie überall am ungestörtesten in der Mundart in Übung. Da klingt es nicht so schlimm. Aus dem Satzzusammenhang wird es wie anderswo, z. B. im Mitteldeutschen Ostpreußens zu Morsch, weniger grob ist dort Norsch. Die Umgangssprache sagt der Hintere, feiner der Allerwerteste, mehr privat die vier Buchstaben. Ganz oben sagt man das Gesäß. Aber da spricht man überhaupt nicht davon, höchstens beim Arzt. Den Philologen geht eine merkwürdige lexikalische Parallele zu den Prinzipien s y n t h e t i s c h e n und jünger a n a l y t i s c h e n Verfahrens der Grammatik an. Zwischen der obersten und der untersten Sprachschicht zeigt die Wortgeographie einen solchen i n n e r s p r a c h l i c h e n Unterschied: die Mundart kann vieles mit einem einzigen Wort sagen, was die Hochsprache mit mehreren umschreiben muß. Nordböhmisch ainlich wird mit einem substantivierten Infinitiv, der Stelle am Körper und der Ursache verhochdeutscht: das Stumpf sein der Zähne nach sauren Speisenn; vogtl.-sächs.-schles. (Wb. 232) eilig .stumpf (von Zähnen), stumpffühlig an den Zähnen von Weintrauben, Säuren, sauren Gurken, saurem Obst; Essig; bei quietschendem Geräusch, z . B . einer Feile*. Die Forschung stellt fest (Kluge Wb.): eilig ,stumpf' (von den Zähnen), zu frühnhd. ilgern .stumpf werden'; ahd. ilgi ,Hunger', litauisch dlkti .hungern'. Von solcher Gelehrsamkeit braucht der Laie nichts zu wissen, daher die von der Schriftsprache nicht kontrollierten Varianten. Beim Gleichklang von hd. eilig und 11

F. Hantsdiel, Heimatkunde des politischen Bezirks. Böhmisdi-Leipa S. 61.

254

Walther

Mitzka

unserm eilig kann auch die Volksetymologie bei den so sehr weit auseinanderklaffenden Bedeutungen nicht bemüht werden. Schlesisch variiert das Wort hilflos zwischen den schriftlichen Wiedergaben durch ainlich, einlig, allich, ainich, einich (wieder Gleichklang mit dem Schriftdeutschen) hin und her. In oberschichtlicher Gesellschaft wird man doch von diesem scheußlichen Gefühl erst gar nicht reden. Auch nicht ,mit zahnlosem Munde an etwas Festem herumkauen', wie nordböhmisch kneibeln und mit geräuschnachahmendem hätscheln umschrieben werden müssen. Da gehört sich schon ein zahnloser Mund bei Erwachsenen gar nicht, und der hochsprachige Wortbedarf für einen Säugling mag unerheblich sein. In der oberen Gesellschaft sagt man wählerisch im Essen, schlesisch in Umgangssprache und Mundart gabig = gäbsch, sächsisch käbsch. Die Umgangssprache kann örtlich oder kleinlandschaftlich im Kreise der Familiensprache leicht ein Wort für die unartikulierten Laute der kleinen Kinder aus der Mundart entleihen, wie nordböhmisch 12 kermeln. Die Hochschicht hat lallen zur Verfügung, aber dessen Bedeutungsbereich ist größer: auch der Betrunkene lallt. Wollen wir im Hochdeutschen reden in seinen Bedeutungen differenzieren, so setzen wir ein A d v e r b davor. Die Umgangssprache und noch mehr die Mundart haben dafür Zeitwörter ohne solch analytisches Hilfsmittel: in und um Reichenberg18 breechen oder praatschen ,viel reden', kaiken ,albern r.', labern ,einfältig r.\ sprächen (wie im Schlesischen ablautend zu sprechen) .hochtrabend r.', raatschen ,schnell r.', latschen oder maillern oder tuscheln oder natschern .undeutlich r.', talfern ,durch die Nase r.', nuscheln .durch die Nase r.'. Hier wird übrigens das hochsprachliche sprechen großlandschaftlich und dabei auch bis in die obersten Sprachkreise hinauf mit reden wiedergegeben. Der Dt. Sprachatlas belegt auf Karte 55 zum Satz „ihr müßt ein bißchen lauter sprechen" reden in ausschließlicher Geltung im Bayerisch-Österreichischen bis in den Südrand des Schlesischen hinein, neben sprechen im Ostmitteldeutschen, so auch im nördlich anschließenden Niederdeutschen. Ein affektbetontes Wort kann auch das hochsprachliche klagen sein. Seine Grade und seine Glaubwürdigkeit werden wieder durch Zusätze verdeutlicht. Die Mundart hat im Schlesischen abschätzig und mit spöttischem oder skeptischem Begleitgefühl bannen, hieken, katschen, keppeln, plärren, pludern, prosten, quatschen, schreien, wiehern. Den Regen und seine verschiedenen Arten differenzieren es schmeißt Tropfen, treitschen, pletzen, sieben, siefern, meitschen, mantschen, pantschen. Beim letzten denkt man in der Oberschicht an Wein pantschen.

II. Umgangssprache

und

Sozialschicht

Davon war schon vorhin bei der Wortwahl der Sprachschichten über und unter ihr die Rede. Der Ausdruck Umgangssprache ist gelehrten Ursprungs und ist in solcher Geltung eingeschränkt geblieben. Er ist ostmitteldeutscher 12 13

Hantschel a. a. O. H . Dittridi, Heimatkunde des Bez. Reichenberg in Böhmen 1931, S. 118.

255

Ostmitteldeutsch

Herkunft, für Leipzig 1725 literarisch nachgewiesen 14 . Wo die Mundart längst ausgestorben ist wie in den Großstädten oder ausklingt wie in den ländlichen Industriebezirken mit ihrer Überflutung der bäuerlichen Schicht durch Massen von einströmenden Arbeitern aus nah und fern, da übernimmt die großlandschaftliche neben lokaler oder sonst kleinräumiger Sonderart derselben die Funktion der sprachlichen Kommunikation der sozialen Grundschicht. Die Forschung hat gerade im Ostmitteldeutschen diese zur Hochsprache wie zur Mundart nur unscharf abzugrenzenden Sprach- oder besser S p r e c h f o r m erforscht. Aber dies geschah mittels laut- und formengeographischer Merkmale. Uns geht es hier um den Wortschatz. Die Umgangssprache ist also eigentlich nur an mündlichem Gebrauch zu beobachten. Als Dichtersprache, also auch in Schrift und Druck, kommt sie mit dem Naturalismus zu literarischer Geltung. Lebensvolle Bewahrung, noch mehr witzige, kritisch geladene Neubildung zeichnet vor allem den Wortreichtum des Berlinischen aus. Der Berliner Schusterjunge und der Eckensteher Nante von einst vertreten das Publikum der alten Residenz und seine gegenüber den Hochgeborenen despektierlichen Wortwitze und Schlagwörter. Dieser politische Brennpunkt der Welt sorgt weiter für rasdien Umsatz an Wörtern. Sprachliche Veränderungen sind kaum noch auf der Ebene der Mundart zu beobachten. Sie können aber im Wortschatz der Umgangssprache ein schnelles Tempo einschlagen. Diese hat aber nicht den ästhetischen oder politischen Mengen- und Differenzierungsbedarf der Mundart, auch nicht der Schriftsprache 15 . Großlandschaftliche Umgangssprache beherrscht im Obersächsischen mit seiner nördlichen Nachbarschaft, dem Osterländischen, zwei Industrieräume: Schwerindustrie im Räume Leipzig-Halle-Magdeburg und Textilindustrie im Vogtland und im Erzgebirge. Zur Zeit des Dt. Sprachatlas 1880 reichte Lautgeographie noch nicht weit. D a liegt Leipzig noch am Rande des osterländischen Sprachraumes, ohne nennenswerten Einfluß nach Süden. Seine Mittlerrolle hat diese Lautformen erst dann weit dorthin getragen. Jung sind auch die Neuerungen (wieder der Lautlehre) in Nordthüringen. Jetzt gibt die junge Generation in beschleunigtem Tempo, weithin auch in Thüringen die Mundart auf. Nun fehlt in Westthüringen eine sonst im Thüringisch-Obersächsischen aus mittelalterlicher Geschäfts- und bürgerlicher V e r k e h r s s p r a c h e entwickelte Umgangssprache. Wieder gehen solche Feststellungen der Forschung auf lautliche Merkmale. Wohl aber gibt es eine thüringische Umgangssprache aus der sozialen Nachbarschaft der dort noch lebenden Mundart im Süden hinter dem verkehrsgeographischen Schutzwall des Gebirges und im noch stark bäuerlichen Osten. Dort ist im Anhaltischen die Volkstracht der älteren Generation noch in Erinnerung. In Unterellen 16 westlich von Eisenach spotten die ,besser Sprechenden', über Dorfgenossen, die sich über eine Mischung von Mundart und „Hochdeutsch" 14

H . Becker, Sächsische Mundartenkunde 1939, S. 126.

"R.Grosse, 16

Die Meissnische Spradilandsdiaft

1955, S. 34, Abb. 1; Rosenkranz u.

Spangenberg a. a. O. Spangenberg über seinen Heimatort a. a. O., S. 72.

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nicht zu fehlerfreiem Hochdeutsch erheben können: er spricht halb Schubkarrn und halb Chaise, oder im Garten geht er nauf, im Höfchen kemmt er ronger. Hof, Höfchen sind in Nordwestthüringen die mundartlichen Bezeichnungen für Garten, Gärtchen, während der eigentliche, bäuerliche Hofraum Miste heißt. Den kleinsten soziologischen Gebrauchsradius hat jedenfalls auch da die Mundart. Die wenig gestörten R e l i k t g e b i e t e haben ihren festen, fast ausnahmslos gebrauchten Ausdruck 17 , wenn wir die großräumige Wortatlaskarte .sich beeilen'18 vergleichen. In der nordhessisch-westthüringischen R e l i k t l a n d s c h a f t herrscht sich tummeln, daneben sich beeilen-, im Vogtland von Bayern her sich schicken; in der Lausitz sich federn (aus fördern); in Brandenburg sich sputen; um Erfurt und im Nordthüringischen halten sich zwei Restgebiete der größeren osttühringisch-sächsischen Fläche mit hinmachen. Ostthüringen und Sachsen sind heute ein umgangssprachliches Sammelbecken mit 13 wirr durcheinander belegten Synonymen. Diese gelten nicht etwa in voneinander getrennten Kleinflächen oder an Punkten der Karte wie Dörfer oder sonstige Kleinsiedlungen. Sie sind zu mehreren sogar dem einzelnen Sprecher dieser von industrieller Mischungsbewegung bestimmten Großlandschaft zuzutrauen. Es brauchen da nicht Bedeutungsnuancen vorzuliegen: sich beeilen wird immer affekthaltig sein, von tadelndem bis zum freundlichen Zuruf. Und dies ist jenen Synonymen insgesamt zu unterstellen. Das wortgeographische Bild gibt den u m g a n g s s p r a c h l i c h e n A u f l ö s u n g s p r o z e ß wieder. Diese Vielfalt dringt vom Industriegebiet um Chemnitz-Zwickau ins Erzgebirge1®. Um Mansfeld blüht im 19. Jh. der Kupferbergbau. Bergleute und Industriearbeiter wandern von allen Seiten in Massen ein. Die fünf „Grunddörfer" zwischen Eisleben und Mansfeld wachsen bis 1900 zu einer Siedlung mit 9000 Wohnhäusern zusammen 20 . Sprachlich vollzieht sich ein Zusammenschluß aus fünf Schichten: die Mundart der eingeborenen Mansfelder; die von der Schriftsprache bestimmte Umgangssprache der Gebildeten; die Ausgleichssprache der zugewanderten Deutschen vom Harz (wohin im 16. Jh. vom Freiberger Bergbau Bergleute ihre obersächsische, noch heute in und um Claustal-Zellerfeld gesprochene Mundart mitbrachten), aus dem übrigen Thüringen und Sachsen, aber auch aus Österreich, besonders Tirol; gebrochene der zugewanderten Polen, Tschechen und Italiener, deren Nationalsprache als Haussprache. Der Ausgleichsprozeß setzt um 1900 ein. Die Kinder der Nichtdeutschen schließen sich der dritten Gruppe, der Ausgleichsumgangssprache der zugewanderten Deutschen an. Sie verstärken diese gegen die Mundart. Dies gilt auch von den Ehen zwischen Mansfeldern und der dritten Gruppe. Die Soldatenzeit hat wenig Einfluß, da nach Rückkehr die heimische Arbeitsgemeinschaft sprachliches Kraftfeld bleibt. G e h o b e n e U m g a n g s s p r a c h e können eher die Mädchen mit nach Hause nehmen, die in der Stadt dienen. Jene 17

Rosenkranz a. a. O., S. 24.

18

Ausschnitt bei Rosenkranz a. a. O.

19

Rosenkranz a. a. O., S. 24.

!0

H. Hennemann, Die Mundart der sog. Grunddörfer in der Grafschaft Mansfeld I. Lautlehre, in: Zs. f. hd. Mundarten 2. 1901, S. 176.

Ostmitteldeutsch

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Ausgleichssprache schlägt die Richtung auf die Umgangssprache der Gebildeten ein: beider Grundzug ist das Vermeiden des Auffälligen. Diese Beobachtungen fußen wieder auf lautlichen Merkmalen. Wir suchen nach solchen des Wortgebrauchs, und da werden wir grobe und derbe Ausdrücke der Mundart als auffällig werten. In der klassischen mittelhochdeutschen Dichtung und in der Prosa der frühen Neuzeit ging es nicht darum, sondern es sollten hoch- und umgangssprachliche Wörter von nur beschränkter Raumgeltung wie Oberdeutsch und zunächst Ostmitteldeutsch in der Bibelübersetzung überall verstanden werden. Im Mansfeldischen ist der Sieg der Umgangssprache um 1900 abgeschlossen. In der Stadt Mansfeld gibt es keine Mundart mehr 21 ; also nicht mehr jene erste Schicht. In dieser war Vetter der heutige Onkel, Muhme heute Tante-, der Tragkorb war damals noch die Butte, der Frühstückskorb damals der Fresskober (Frasskower); der Brunnen war der Born; der Kloß war ein Klunz. Die dritte Schicht der Zugewanderten glich zu Ongel, Dande, Brunn, Kloß aus. Von den eingewanderten Bergleuten wurde a. a. O. die Bezeichnung für die Schachtlampe als Kreisel übernommen. U m g a n g s s p r a c h e strahlt von Leipzig, Dresden, weniger von Chemnitz aus. Besonders aufnahmebereit sind die Landstriche jüngerer Deutschsiedlung des Mittelalters mit ihrer seither verkehrssprachlichen Tradition zwischen den Kernlandschaften 22 alter Siedlung, in Sachsen der Slawen. Eine überlandschaftliche V e r k e h r s s p r a c h e hatte sich bald im Neuland rechts der Saale ausgebildet, dazu die bürgerliche, weit über die bäuerliche Deutschsprachfläche hinaus verbreitete Geschäftssprache, also die der Kaufmannskorrespondenz. Die Besonderheit der Mansfelder Umgangssprache besteht also darin, daß sie keine bürgerliche Vorstufe hat, sondern sich aus der Mundart durch industrielle Siedlungsballung entwickelt hat. Die Landstädtchen Eisleben und Mansfeld von 1900 haben keine sprachraumbildende Autorität. Sonst entsteht i n d u s t r i e l l e U m g a n g s s p r a c h e der Arbeiterschaft in direktem Anschluß an städtische Umgangssprache. Industriezentren entstehen gewöhnlich in großen Städten oder in deren Nähe. Auch die Umgangssprache des Altenburger Braunkohlenreviers entwickelt sich gegen die städtische Sprache Altenburgs. Sie folgt auch nicht dem Vorbild Leipzigs. Ohne städtischen sprachmächtigen Mittelpunkt sind auch die Industriegebiete um Leuna und Schkopau, das Braunkohlenrevier des Geiseltales und die Kalireviere an Werra und Unstrut 23 . Die Umgangssprache dringt nach dem zweiten Weltkrieg in die Landschaft und örtlich vor 24 . Die Sprache begleitet den tiefen soziologischen Eingriff: Kriegsdienst der Männer und Gefangenschaft in andersartiger Sprechgemeinschaft oft über viele Jahre hin; viele Frauen lösen sich im Einsatz in der Kriegsindustrie von Herd und Familie. In die entlegensten Dörfer, gerade dorthin, 21

Rosenkranz a. a. O., S. 24.

12

Grosse, Meißnisch, S. 157.

23

Rosenkranz a. a. O., S. 33.

24

Rosenkranz a. a. O., S. 45.

17

Mitzka, Wortgeographie

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Walther Mitzka

werden die Frauen mit den Kindern, die Alten aus den zerbombten Großstädten verschickt. Mit der Mundart kommt man dort im Sprechverkehr untereinander nicht aus. Starke Auflösung der Mundart weist das Nordmeißnische auf 25 , im konservativen Altenburgischen erlischt sie nunmehr. Wo eine landschaftliche Umgangssprache aber nicht vorhanden war, wie in den bis zum Krieg durchaus mundartfesten Bauernlandschaften Westthüringens 29 , da ist der Wandel radikal. Dort wird die landschaftliche, lautlich lokalisierbare Schriftsprache übernommen. Gewiß wird dabei auch der Wortschatz dadurch mitbestimmt. Belege fehlen noch. Weither, möglicherweise auch von den überall sehr volkstümlichen Sportbeilagen oder gar selbständigen Sportblättern, gelangt Sportsprache zu den Fußball spielenden Jungen in Jena 2 7 : diese ihre Betätigung nennen sie Gammeln (also imponieren die langhaarigen, erst eben in der Welt bekanntgewordenen, alles verneinenden, aber doch harmlosen jungen Intellektuellen oder deren minderbegabte Nachahmer auch dort). Der Wortschatz zu jenem Spiel bietet weiter: klar ist das fech (,fein', wohl aus Wiener fesch); Kiewe ,Tor' (engl. keeper); hiev her ,wirf her' (aus der Seemannssprache); von irgendwoher: Knille ,Ball', läppe ,schlapp' fummeln ,ungeschickt spielen'; knallen ,schießen'; Kiste ,Tor'; ne Nutte .schlechter Spieler'; bolzen ,den Ball ungezielt schießen'; runksen ,unfair spielen'; so auch holzen. Wir nehmen dies nicht für ostmitteldeutsche Sprechsprache irgendeiner Schicht in Anspruch. Heimische Mundart könnte geliefert haben: halt die Fresse-, kriste (kriegst du) eene geplädert ,Ohrfeige' (omd. plädern tut der Platzregen); neinfledern ,ins Tor schießen'. Jedenfalls paßt zum jähen Sprechumbruch Westthüringens dieser sondersprachliche Ausschnitt der Umgangssprache der Mittelschicht Thüringens in Neuentlehnung aus der Ferne, aus der Sportliteratur und auch der Mundart. Der Raum Hof-Plauen-Zwickau-Chemnitz erlebt die Ausweitung von Hausweberei zur Textilindustrie, die von h a n d w e r k l i c h e r Grundlage aus in zahlreichen Mittel- und Kleinbetrieben über diese große Fläche verstreut ist. In die Städte dringt die Umgangssprache also recht spät ein. Von da aus ist wiederum die Ausstrahlung in die Landschaft erst wenige Jahrzehnte alt 28 . Auch hier liegen vorerst nur lautgeographische Belege vor: „Chemnitzer Stoß". Umgangssprachfläche in kleinem Umfange bis zur örtlichen Insellage ist überall möglich. In der Kleinsiedlung Burgk im Kreise Schleiz lebten 1935 nur Familien, die in der letzten Generation eingewandert waren. Ihre Umgangssprache ist von der Schriftsprache bestimmt. Damit hebt sich Burgk von der Mundart der Dörfer ringsum deutlich ab. Im Frankenwald an der mundartlichen „Dreiländerecke" zwischen dem Thüringischen um Gräfental, dem Mainfränkischen des Sonnenberger Landes und der sehr altertümlichen oberfränkischen Mundart von Teuschnitz liegt der Porzellanindustrieort Tettau mit den beiden Kleinsiedlungen 25

Grosse, Meißnisch; P. v. Polenz, Altenburgisch.

21

Spangenberg, in: Rosenkranz und Spangenberg, Sprachsoziologische Studien, S. 72; 83 f. a. a. O., S. 50. Grosse, S. 39 ff.; 58, Abb. 3.

27 28

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Ostmitteldeutsch

Schauberg und Sattelgrund. Alle sprechen 29 eine von den drei umliegenden Mundarten stark abweichende Umgangssprache. In Ebersdorf K r . Lobenstein, der ehemaligen Sommerresidenz der Geraer Fürsten, hat sich die Umgangssprache des Hofgesindes durchgesetzt. Am u n g e s t ö r t e s t e n

ist d i e M u n d a r t

am Südhang des Thüringer

Waldes geblieben. In den 1920er Jahren sprachen alle 7 7 0 Einwohner von Waldau bei Schleusingen außer Pfarrer und Lehrer Mundart. 1934 fanden viele dieser Dorfbewohner in der 20 km entfernten Industriestadt Suhl Arbeit. D o r t hin kamen auch sonst aus der nahen und weiten Nachbarschaft Arbeiter, und zwar mit sehr verschiedener Mundart. Doch stehen sich diese innerhalb Thüringer Gemeinsamkeiten sehr nahe und mit ihr der Schriftsprache sowieso nicht fern. So gebrauchen diese Arbeiter hier ihre Mundart auch am Suhler Arbeitsplatz weiter. Es fehlt eben hier eine überlandschaftliche Umgangssprache, sie müßte hier mainfränkisch bestimmt sein. Die mitteldeutsche Umgangssprache nach Osten und Norden hin hat einen zu großen Abstand zur Mundart in diesem Randgebiet. Hier also entscheidet der S p r a c h w i l l e ,

nämlich für

Beibehaltung der Mundart. Noch mehr: hier wollen die hochsprachlich erzogenen Kinder nicht ausgelacht werden, auch sie sprechen Mundart. Die Psychologie der Sprachlandschaften bis zu kleinen und punktuellen Größen ist gruppenindividuell. Bevölkerungsbewegung, Verkehr, ländlich-städtisch: solche statistische und gesellschaftliche Größen sind sprachgeographisch nicht gleichmäßig wirkende Faktoren im Wortsinne dieses Ausdruckes. Es bleibt R a u m für freie Entscheidung. Sie kann in Wort, Bedeutung, Neuschöpfung bis zum gefühlsbetonten Spiel beim Erwachsenen, uns besonders deutlich bei den Kindern unter sich, gesucht werden. Allerdings sind dies keine bloßen Rechenaufgaben, sondern eben sprachwissenschaftliche Werturteile. P o l i t i k und t e c h n i s c h e M e c h a n i s i e r u n g

stellen in der soziali-

stischen Umgestaltung der Landwirtschaft zur Produktionsgenossenschaft den einzelnen in einen weiteren Lebenskreis. D a m i t hört dort die Arbeitsgemeinschaft des Bauernhofes auf. Schulungen, Lehrgänge zur Meisterung der neuen Technik beseitigen die Isolierung kleiner Gruppen. D a m i t ist die Isolierung des Dorfes beendet 3 0 . Neuland entsteht damit auch sprachlich. D a ß mit der heutigen Ablösung alter bäuerlicher Arbeitsverfahren und Geräte der Wortschatz dieser Fachsprache ausstirbt und von der Mechanisierung durch andere Dinge und Wörter von der Technik her ersetzt wird, gilt ja für die ganze Sprachflädie überhaupt.

Mundart und Gesellschaft D a v o n war eben und überhaupt vorher bei der Abschätzung von Wortschatz, Wortwahl, sozialer Wertung des Wortes in Gemeinschaft oder in Gegensatz zur Hoch- und zur Umgangssprache des öfteren die Rede. Die Mundart ist insofern 29

Rosenkranz a. a. O., S. 43.

80

Rosenkranz a. a. O., S. 47.

17*

260

Walther

Mitzka

synonymenreich, als in der Fläche dicht nebeneinander verschiedene Ausdrücke auf der Wortkarte erscheinen können. Umgangssprache und noch mehr Schriftsprache sind darin viel weiträumiger. Diese erstrebt über großlandschaftliche Wörter hinaus als Hochsprache die Einheit, ohne unduldsam eine solche zu fordern. Dies allerdings tut sie in der Fachsprache des technischen Zeitalters durchaus. Die thüringische Mundart bietet 250 Ausdrücke für den bei klein und groß so beliebten Marienkäfer, für den die Fachsprache einen einzigen Ausdruck verwendet: Coccinella septempunctata. Für dies Tierchen wird zu jedem einzelnen Ort nur je ein Mundartname angesetzt 31 . Wir selber möchten aber hier doch mehrere für einen Ort zubilligen. Ob alt oder jung, eingeboren oder nicht, in solcher Sprechgemeinschaft kennt auch der einzelne leicht mehrere, verwendet sie womöglich gar selbst. Vergessen wir nicht, daß der einzelne gewöhnlich z w e i S p r a c h s c h i c h t e n vertritt und aus der Situation und je nach Gesprächspartner (Kind, Erwachsener differenzierter sozialer Einstufung, Alterssprache, Fremde), nämlich Umgangs- sowie Schriftsprache. Weithin wendet er je nachdem drei, also die Mundart mit an. Daher ist Wort und Wortvorrat individuell zu erweisen. Es können Sinngleiche sein oder affektisch getönte. Wie so einer den Marienkäfer, den Maikäfer oder das Maiglöckchen oder die Anemone in der jeweiligen Sprechgruppe benennt, hängt von seiner sprachschichtlichen augenblicklichen Einstellung, seinem psychologischen Griff in sein Fach der persönlichen Synonymik ab. Aber wenn für einen Ort wie hier das Schwein bezeichnet wird, da wird der Nichtbauer diesen in den zwei oder drei Schichten üblichen Ausdruck nennen. Der Bauer kann es ebenso tun, aber es sind nicht Synonyme, wenn er in Thüringen auch Läufer, Bork, Saubär oder Zuchtel aufzählt. Da ist die Bedeutung eingeschränkt nach der Berufssprache, hier nach Geschlecht und Alter unterschieden. Eine „Gossensprache" wie die Gauner- oder sonstige Geheimsprache, die oft mit eigenen Wörtern oder mindestens getarnter Bedeutung in der asozialen Unterschicht der Großstädte geformt und immer wieder umgesetzt wird, gehört nicht zur Mundart. Auch nicht, weil diese als anstößig verfemte Wörter ganz naiv, und wie wir oben erörterten, rein sachlich anwendet. Manche grobmundartlichen Wörter klingen nicht so schlimm wie in den Schichten weiter oben. Der Schnupfen wird im Ostmitteldeutschen (DWA II) „vulgär" mit seinen Begleiterscheinungen Rotz oder Schnöder bezeichnet. Manche Flächen mit Wörtern, die der Schriftsprache gänzlich fremd sind oder eine andere Bedeutung haben, sind auch nicht der Umgangssprache zuzurechnen, sondern nur der Mundart. Der Dt. Wortatlas fragt nach der örtlichen Wiedergabe des Satzes „er soll den Wagen ziehen". Da bietet das Ostmitteldeutsche neben dem Schriftwort noch dinsen (zu hd. gedunsen) vom Nd. her bis nach Schlesien zerren. Die vorhin genannten, in höhere Schichten aufsteigenden großflächigen Wörter wie Ziege: Geiß können in der Mundart durch kleinräumige Ausdrücke vertreten sein. Da spielt das Begleitgefühl der kleinen Leute als Züchter mit. 31

Rosenkranz, in: Rosenkranz u. Spangenberg a. a. O., S. 22.

Ostmitteldeutsch

261

Weiterhin brauchen sie Unterscheidungen nach Alter, Geschlecht, fruchtbar oder nicht. Soziale Wertung jenes dem Tierhalter 32 und seiner Familie materiell und zugleidi gemüthaft vertrauten Haustieres spiegeln solche Ausdrücke wider wie Kuh der Armen (so einmal im Wortatlas bei Bautzen), einmal oberschles. Arbeiterkuh, im Riesengebirge Weberschwein, in den Bergbaugebieten Bergmannskuh. Von Aachen bis Niederschlesien zeigt die Wortkarte einen Streifen mit Meck, Mick, Muck, zuletzt auch Busche; in der Mark Brandenburg Misse, in Sachsen Maus. Dort und in Thüringen herrschen die mundartlichen Zibbe, Zebbe-, in Schlesien Hoppe, Huppe. In der Wortbildung zeigt sich persönliche Nähe in Verkleinerungsformen, die aber auch den erwachsenen Tieren, also nun nicht im Wortsinne verkleinernd, zukommen ( H a p p e l , Hippel). Nach den dürren Beinen der Ziege ist die Kornblume in Thüringen und in Schlesien Ziegenblume genannt. Das Motiv der Benennung der Pflanze ist auf die dürren und gewinkelten Stengel bezogen. Bei Fulda heißt die Kornblume Geißbein. Dort liegt die Ausgangslandschaft, aus der die nadi Osten wandernden Hessen auch Ortsnamen wie in die Grafschaft Glatz Reinerz mitgebracht haben. Vor sieben Jahrhunderten müssen die hessischen Auswanderer in der Zwischenheimat in Thüringen die Kornblume wiedergesehen haben und mögen ihre Kinder als ihr, für uns so seltsam benanntes, Geißbein gepflückt haben. Aber dort verstand man Geiß nicht, einheimisch war Ziege. So hieß die blaue Blume nun Ziegenbein, und diesen Namen brachten die weiter nach Schlesien3® Wandernden dorthin mit. Die naturnahe, den höheren Sprachschichten nicht zuzutrauende S p r a c h s c h ö p f u n g ist innerhalb der west-ostmitteldeutschen Siedelbahn sprach- und landesgeschichtlich sowie soziologisch den Bauernkindern des Fuldaer Landes zuzutrauen. Ein Haustier der kleinen Leute, alter und junger Züchter der untersten Sprachschicht auch der Stadt ist das Kaninchen mit seinen Kosenamen. Von solchen Leuten und vor allem hier ihrer Kinder werden junge Brennesseln34 als Futter, das ja nichts kostet und an den Zäunen und auf den Schuttplätzen am Stadtrande leicht in den alten Sack zu rupfen ist, gesammelt: schles. Gänsefutter, Gänslegras, Futternessel15. Nur diese Leute sammeln Reisig und schnüren es zu Bündeln als Traglast: Reisbund. Die Wortkarte bietet, bezeichnenderweise für die unterste Sprachschicht, zahlreiche Kleinflächen, also Mundartwörter mit geringer Reichweite. Ein seltsamer Name ist für das Gerät des Bauern für die Nachharke, bis in den Südrand des Ostmitteldeutschen entsprechend der Verteilung von Harke-. Rechen; von Süden her Nachrechen, die Sausterbe im Anhaltischen3*. Das junge Massennahrungsmittel der Neuzeit ist die Kartoffel37. Die Wortschöpfung der Mundartausdrücke wie nahezu unkenntlich klingende Formen ®2 Rein a. a. O. 83 Barbara Braun, Wortgeographie Sdilesischer Pflanzennamen 1942. 34 Iris Nordstrandh, Brennessel und Quecke. Lund 1951, S. 16. 3 5 Mitzka, Schlesisches Wörterbuch S. 157. 36 A. Wirth, Anhaltische Volkskunde 1932. 57 B. Martin, in: Dt. Wortforschung 2, hg. v. L. E. Schmitt 1963.

262

Walther

Mitzka

zu Erdäpfel, Erdbirnen, Erdbohnen, z. B. schles. Arpein, Arbern, Ardbunn, geht von den Kleinbauern aus 38 . Die Verteilung der neuweltlichen Fruchtknolle ging von den Landesregierungen aus, in unserem Räume Ende des 17. Jh. zuerst im Vogtland. Mancherorts gilt sie als Armeleuteessen. G r u n d n a h r u n g war seither das Getreide gewesen. Die Brotscheibe heißt im Vogtland ein Stück Brot, im Südwesten das Weiche, im Nordwesten Fladen, obersächsisch Bemme, brandenburgisch Stulle-, schlesisch Schnitte wie auch in der Oberlausitz. Wo deutsche Mundart in breiter Fläche fehlt, wie im Sorbischen der Wendei oder in Oberschlesien, da haben die nichtdeutschen Nachbarmundarten über die deutsche Umgangssprache Lehnwörter, die diese aus der benachbarten Mundart bewahrte, geholt. Umgekehrt gibt es slawisch hochsprachliche, aber auch slawisch mundartliche Lehnwörter in den drei Sprachschichten des Ostmitteldeutschen 39 . Sozial unterste Schicht treffen wir bei N a m e n von Heilkräutern. Die echte Kamille heißt vom Sorbisch-Tschechischen her im ostmitteldeutschen oft Hermchen, Herman(ne)l mit Varianten wie schles. Hermel, ostböhm. Hermla, Harmchen, im Altenburgischen auf ,Halm' bezogen, oberlaus, nordböhm. Halml, im N o r d meißnischen Hälmerchen. Da fehlt f ü r die sozial und wirtschaftlich am tiefsten stehenden Dorfbewohner und ihre Kinder, unterhalb der nicht mit Nutzung der Kamille befaßten Bauernwirtschaft, ein schriftsprachliches Vorbild. Die soziale Grundschicht hat viel volkskundliches Gut in ihrem Wortschatz. Aberglauben gibt es bis oben hin, aber in der Mundart uralte Uberlieferung mit den oft nur dort verstandenen, vertrauten oder unheimlichen Wörtern. Der Aufhocker40 ist im Ostmitteldeutschen vom Vogtland, nach Osten häufig in Sachsen und Schlesien das Graumännel oder das graue Männel, im Coburger Land der Pöpel, Poppel, Pübel (Grundbedeutung ,Gespenst'); im Adlergebirge schles. Ufhuckmannel. Im Westerzgebirge, in Nordböhmen-Nordmähren übernimmt auch diese Albdruckrolle der Wassermann oder die Wassermännin, in Oberschlesien ist es der polnische utoplec zu Utopie .ertränken'. Vom Wasser her kommt als Aufhocker auch der Bornematz oder die Bornematzin östlich von Dresden vor. Sie ist die Klagemutter oder Winselmutter vom Fichtelgebirge bis ins westliche Erzgebirge und seinem nördlichen Vorlande. In protestantischer Gegend zwischen Vorderrhön an der Werra und Thüringer Wald ist es ein Mönch, mundartlich Mönnich, Münnich. Am l . M a i wurden östlich von Meißen bis Reichenberg, in Ostböhmen um Königinhof und im Adlergebirge Hexenfeuer abgebrannt 4 1 , wie sie schon in der Stammheimat Ostfranken heißen. Aus dem Wendischen stammt die Murre42 als Alb, dazu das Murredrücken, im Südosten 58

O . Reichenau, in: Zs. f. Agrargeschichte und Agrarsoziologie 1966, S. 37.

39

P. v. Polenz, Slavische Lehnwörter im Thüringisch-Obersächsischen nach dem Material des D t . Wortatlas, in: D t . Wortforschung 2, hg. v. L . E . S c h m i t t 1963, S. 274. D a z u Reichmann a. a. O . 1966, S. 35.

40

Deutscher Volkskundeatlas N . F. I V 1966, hg. v. M. Zender. Textheft.

41

H . Weinelt, Forschungen zur Volkstumsgeographie des südschlesischen Stammgebietes 1940, S. 103.

" H . Schönfeld, Slawische Lehnwörter, S. 42.

Ostmitteldeutsch

263

des Brandenburgischen die Muraue43; in Südbrandenburg ist solcher Herkunft die Kodicke als Hexe auch ,unordentliches Frauenzimmer, Schlampe' 44 . Von Korndämonen erzählt man den Kindern, um sie zu -warnen, ins Korn zu gehen und sich dort zu verirren und umzukommen. In Schlesien jagt sie der Kornwolf. östlich der Saale ist es die Kornmuhme, Kornmutter, Roggenmuhme, Kornengel. Bei den jüngeren Leuten werden sie abgelöst von Teufel, Kuckuck oder dem Kobold45. Dieser kleine, unruhige Hausgeist treibt in der südlichen Mark Brandenburg als Kobblick sein Wesen, in der Provinz Sachsen als Kobbolt, weiter südlich ist es das Kubblichen. So nennen die Kinder ihren Kreisel. Sie peitschen ihn wie auch den Mönch, wie der Kreisel auch heißen kann. Aus dem reichen Schrifttum zur ostmitteldeutschen Volkskunde 46 können wir zu unserer philologischen Aufgabe nur wenige Wortbeispiele aufzählen. Im Schlesischen werden die Kinder auch vor den Wassernixen = Wasserlissen gewarnt, im Walde vor den Buschweibeln. Zur Kinderarbeit — ehedem im Hause armer Leute — werden die Mädchen, die beim Spinnen faul sind, von der Spillaholle (Spille = Spindel) geholt. In den Zwölfnächten stürmt der Wilde Jäger durch die Luft, er heißt auch Nachtjäger oder Grenzjäger (unheimlich beim Schmuggel). Wie der Berggeist Rübezahl im Ä/eiengebirge, so haust der Katzenveit im Kohlenberg bei Zwickau. Ein fröhliches Kinderfest ist im Ostmitteldeutschen das Todaustragen. In Schlesien wurde am Sonntag vor Palmarum, es ist der Todsonntag = Totensonntag = Sommertag, in Brieg der Todaus, von den festlich gekleideten (Papierrosen, daher auch Rosensonntag) Kindern ein bändergeschmückter Tannenwipfel oder Maie durch Dorf unter Gesang, mit Versen dazu, getragen und so der Winter vertrieben. In Thüringen ist es wie anderwärts eine Strohpuppe, die zuletzt verbrannt wird. Solchen nur dieser Sprachschicht vertrauten Wortschatz bieten überhaupt die Volksbräuche in Scherz und Ernst. Die Kinder unternehmen, maskiert und Bettelverse aufsagend, im Dorfe von Advent bis Fastnacht Gänge von Haus zu Haus und sammeln in ihre Beutel Eier, Speck und Wurst. Im Brandenburgischen ist dies das Zempern (aus Schönbartlaufen, dem ehemaligen Maskentreiben der Erwachsenen). Der Zemper ist in Nordwestböhmen eine Gestalt im Weihnachtsbrauchtum. Im Hochpreußischen ist es wie überhaupt in Ostpreußen der Umzug mit dem Brummtopf, den die Jungen im Schulalter sich basteln und zu dessen Tönen sie ihre Bettelverse singen. Eigenen Wortschatz haben weiter die Volksbräuche zu den Jahresfesten bei der herangewachsenen Jugend wie Oster-, Johannis- und Pfingstfeuer-, die Rutenstreiche für die Mädchen am Pfingstmontag (das Schmeckostern); die Spinnabende (schles. Rockengang = Lichtenabend); das Federnschleißen, das im Ost43

H . Teuchert, Z M F 2 6 . 1 9 5 8 , S. 2 3 .

44

H . H . Bielfeld, 2 s . f. Slawistik, V I I , S. 3 4 1 .

45

Schönfeld, Fuhnegebiet, S. 1 8 4 .

48

W u t t k e , Sächsische Volkskunde und Volksglaube I—II, 1 9 0 3 - 0 6 ; W . Schremmer, Schlesisdie Volkskunde 1 9 2 8 ; E . R i e m a n n , Ostpreußisches Volkstum um die ermländische N o r d o s t g r e n z e 1 9 3 7 ; weiter die M u n d a r t w ö r t e r b ü c h e r .

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Walther Mkzka

saaleland mit einer Feier unter Nachbarn als Federschmaus abgeschlossen wird 47 . Das Maienholen der Pfingstburschen (Birken- oder Pappeläste) am Pfingstsonnabend mit dem Wagen und mit Musik ist auch solch fröhliches Dorffest. Zu den Familienfesten gibt es besondere F e s t g e r i c h t e mit ihren landschaftlichen Bezeichnungen wie die Thüringer Klöße, den sächsischen Weihnachtsstollen oder das Schlesische Himmelreich mit Birnenkren (Kren ist der Meerrettich). Sozial differenziert ist die Rolle des Hochzeitsbitters48. Wo kein Besitz vorhanden ist, fehlt das wesentliche Motiv für den Volksbrauch des Werbers. Freiersmann führt von Hessen nach Sachsen. Vom Mittelrhein (Makelsmann, Mäkelsmann) her hat das Schlesische bei Leobschütz Makler, Machler, auch Heiratsmakler, -mäkler. Dem Freimann um Neiße entspricht hochpreuß. Freismann um Heilsberg. Das südliche und östliche Brandenburg hat Freiswerber, einige Male Preiswerber. Für diese realistische Scherzwortbildung mag der Berliner Humor Pate gestanden haben. Schwierige Heiratsverhandlungen möchten wir für den thüringischen Möglich(s)macher voraussetzen. Im Ostmitteldeutschen sind Lautvarianten des Lehnwortes aus dem Slawischen Druschba, Druschmann verbreitet. Der Werber ist auch bei Hochzeiten der Spaßmacher, so noch bei Schlesiern in Westdeutschland, die 1945 aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Träger der Werbersitte sind M i t t e l - u n d G r o ß b a u e r n , weniger der Kleinbauer oder wo der Besitz an Land eine untergeordnete Rolle spielt, besonders wenn der Besitzer zur Fabrik geht. Dieser ländlichen Grundschicht liegt mehr an der Gesundheit und der Arbeitskraft der zukünftigen Hausfrau als an der Forderung nach Erhaltung des Familien- oder Sippenbesitzes. Neben diesem Hochzeitlader (schles. Huxtloader) = Züchtmann hilft die Züchtfrau der Braut schon beim Ankleiden. Manches besondere Wort kann zu den einzelnen Teilen der T r a c h t im Alltag oder zum Fest genannt werden, so für Nordböhmen das Bramsel ,Pelzeinfassung an Jacken und Mützen', in Schönwald49 Brasam; die gefütterte Winterjacke der Frauen ist die Faltenjacke oder der Faulenzer. Zur Haube 50 : Backenhaube ,Pelzhaube der Frauen' im Altenburgischen; Bandhaube Oberlausitz; Bänderhaupt (Bängerheid) = thüringische Brautheide ,Brautkrone'; Bärenmütze der Frau in Sachsen; Bartel = Pelzmütze für Mann und Frau in Thüringen-Sachsen (zu Bart, der Pelz umrahmt das Gesicht = schlesische Trachtenhaube; = thüring. obersächs. schles. Barthaube-, Büschelhaube der Frau in Thüringen-Sachsen. Scherzhaft klingt westthüring. Gäulskopf ,schutenförmiger Frauenhut aus Stroh'. Wie dies alles zu R e l i k t l a n d s c h a f t e n der Tracht als gesunkenes Kulturgut gehört, also zuerst in der Oberschicht entwickelt worden ist, lehrt der Spenzer, Spenser ,kurze Frauenjacke' im Ostmitteldeutschen, einst weithin modern. Der V o l k s t a n z wiederum kann den umgekehrten Weg 47

Schönfeld, Fuhnegebiet, S. 1 9 7 ; mancherorts bei den alten Leuten der Fauzenabend, die J u g e n d kennt keinen Ausdruck mehr dafür. Zu schles. Fauze ,Ohrfeige' (Wb. 2 6 4 ) .

48

K a r t e und E r l ä u t e r u n g s t e x t : D t . Volkskundeatlas I V , N . F., hg. M . Zender.

49

K . Gusinde, Eine vergessene deutsche Sprachinsel im polnisdien Oberschlesien M u n d a r t von Schönwald bei Gleiwitz), 1 9 1 1 , S. 1 4 9 .

50

H . - F . F o k i n , in: D t . Wortforschung 3, hg. L . E . Schmitt, S. 1 5 6 .

(die

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265

von unten nach oben eingeschlagen haben, wie ja im Ancien regime am französischen Hof die Hofgesellschaft im Sommer bei ihren Landschlössern die Volkstänze, besonders die neuen, zu studieren hatte, um sie bei Hoffesten (von den Derbheiten gesäubert) einzuführen. Ein schlesischer Volkstanz heißt nach den ersten Versen dazu Tanz ock mit der Muhme ,nur mit der Base'. Wir können den Wortreichtum zu den Liebesorakeln auch weiter nur streifen, wie schlesisch: das Mädchen rüttelt am Rainzaun-, Verse: woher das Hundebeil in der Nacht schallt, kommt der Bräutigam; oder ihr Latschenschmeißen-, der Pantoffel antwortet nach seiner Lage zur Tür; zu den E r n t e b r ä u c h e n : die letzte Binderin auf dem Felde (die Alte, die Grulamutter) ist schles. Popel, Kornpopel (vgl. oben ,Korndämon'), der letzte Knecht ist der Ultemann (eig. Altemann); vom alten B a u e r n h a u s : hochpreuß. Bollwerk für den Blockbau aus Baumstämmen, der ostmd. Bor-, Porstube im Obergeschoß für Gäste (zu Empore, empor)-, zur S c h n i t z k u n s t bei der erzgebirgischen Weihnachtspyramide oder dem Weihnachtsberg = Krippe. Lange Reihen von Volkswörtern, aus dem Sprachschatz der Grundschicht, könnten aus der V o l k s b o t a n i k einschließlich der Heilkräuter hier aufgezählt werden. Einen eigenständigen Wortschatz haben die volkstümlichen S p i e l e , mit Wortschöpfungen vor allem der Kinder. III. Die

Generationen

Die Mundartwörterbücher vermerken auch im Ostmitteldeutschen zu manchen Wörtern: „veraltend" oder „veraltet"; auch „nur bei den Alten". Innerhalb der drei lebenden Generationen wird also eine Zweiteilung angewandt, man kann ja solchen Gebrauch nicht von Person zu Person für landschaftliche Wortgeographie feststellen wollen. Die Angabe der Forschung: heuer sagen die Alten, dies Jahr die Jungen. In Hohenleuben in Thüringen 51 ist der Nachbarbesuch52 nicht mehr der Rockengang, sondern die Visite. Die Hündin wird in Ostsachsen und Nordböhmen53 Batze, Bätze genannt. Dies Wort wurde vor vier Generationen gebraucht: bei der Aufnahme des Wortes war es noch in der Erinnerung der Alten. Vom Osten her drang Debe, Dewe (zu obersorb. deba) vor, in Böhmen von Lusche, Lausche, die wir im Riesengebirge antreffen (Schles. Wb. S. 797). Ein halbes oder halber Liter setzt sich durch gegen Nößel, Quartel (gesprochen Kartei), Schoppen, Seidle54. Nur im Altenburgischen, als typischer Reliktland-

51

H. Marzell, Wörterbuch der dt. Pflanzennamen, Dt. Wortatlas, die M u n d a r t w ö r t e r bücher. Sdiönfeld, Fuhnegebiet, S. 1 2 1 .

52

Gerda Glück, Stadt und Land, in: ZMF 16. 1 9 4 0 , S. 1 1 .

53

G. Streitberg, Die wortgeographische Gliederung Ostsachsens und des angrenzenden Nordböhmens, 1937, S. 85.

54

Spangenberg, in: Rosenkranz u. Spangenberg, S. 79.

50a

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schafl, kennt m a n Nößel, aber „veraltet; selten". Ein W o r t kann noch durchaus in lebensvollem Gebrauch verwendet werden, auch wenn mit der Sache die A n w e n d u n g als Benennungsmotiv den Alten u n b e k a n n t geworden ist. Das Zinngeschirr gehörte z u m H a u s h a l t der Wohlhabenden. Z u reinigen u n d b l a n k putzen hatte es das Gesinde: das Dienstmädchen im Stadthaus, die M a g d beim G r o ß b a u e r n : d a r u m heißt der kieselhaltige Schachtelhalm, mit dem die Z i n n kannen u n d Zinnteller gescheuert w u r d e n , längst nach dem Verschwinden des Zinngeschirrs aus dem täglichen Gebrauch in Böhmen weithin Zinnkraut, auch Kannelkraut, Kannelgras, in Obersachsen Kannelwisch55. Solche Wortschöpfung u n d das Sammeln des Schachtelhalms draußen trauen wir in erster Linie den Dienstboten zu. U n d diese gibt es heute als Stand mit solchen wortschöpferischen Möglichkeiten nicht mehr. I n der weiten Landschaft schwindet nicht nur das Gesinde u n d seine Generation der Alten, im stürmischen Übergang zur Technisierung bleiben auch die jüngeren Brüder u n d Schwestern des Bauern nicht mehr auf dem H o f , w o sie unverheiratet blieben, sondern gründen als Arbeitnehmer sonstwo Familien. Nicht nur ihnen, auch auf dem modernen Bauernhofe können mit der Sache sehr bald die W ö r t e r f ü r die besonderen A r t e n der Schubkarre, v o m Stellmacher (der v o n Süden her in den ostmitteldeutschen R a n d hinein der Wagner ist5®) im D o r f gezimmert, vergessen sein: thüring. Radebere (zu Bahre), Treibbere, Schuttkarre(n), Hohlkarre, Laufkarren57 u. a.; Schles. W b . 1059 Boch-, Brett-, Gras-, Heide-, Heu-, Latten-, Lehn-, Leiter-, Mist-, SchiebKästelradber u n d noch eine Reihe weiterer. Diese fehlten als Sache u n d W ö r t e r dazu in der Hoch- u n d Umgangssprache, in der M u n d a r t werden sie von den Einheitstypen der Fabrik mitsamt ihren N a m e n v e r d r ä n g t sein. Verschwundene technische Stufen einer sehr jungen Sache zeigt die W o r t k a r t e f ü r Streichholz**. Nicht mehr die Alten der lebenden Generationen werden das Schwefelholz selber gekannt und gebraucht haben. Bis zuletzt hieß so das Streichholz heutiger Fertigung Schwefelhölzl u m Breslau. I m Schönhengst lebte so das Reibzündkerzchen als Kerzela f o r t , aber eben nicht als Sache. Übrigens hat sich im O s t mitteldeutschen das südlich d a v o n übliche H a n d e l s w o r t Zündholz gegen Streichholz nicht durchgesetzt. F a m i l i e n s p r a c h e möchten wir in der kleinräumigen Wortgeographie zu Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens zu H a u s e entdecken, wenn wir die zahlreichen Ausdrücke 5 9 f ü r das Salznäpfchen auf der K a r t e dicht beieinander antreffen. W i r werten also diesen Wortreichtum soziologisch. D a sitzen T a g f ü r T a g dreimal, viermal die drei, vier Generationen der Familie bei Tisch, u n d bei allem Wechsel der Gerichte stellen die M u t t e r oder die K i n d e r das Salz in einem kleinen, in der Grundschicht selbstgeschnitzten Behälter hin. Wie 55

Käthe Gleissner a. a. O.

58

D W A II.

57

Thüringischer Dialektatlas, 1961, Karten 33, 34, hg. v. H . Hucke.

58

D W A III.

59

Käthe Gleissner, in: Th. Frings, Mitteldeutsche Studien 18, S. 91.

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267

oft ertönt der Ruf der Großen: „Noch das Salz!" In der sächsischen Mundart herrschen Salznapf und Salzmeste (zu messen, Schles. Wb. S. 872). Nur vereinzelt zeigt die Karte: Salzbüchse, -ding, -dose, -fäßcben, -glasel, -irl, -irisch, -kacherl, -menage, -schurb, -stamper, -Streuer, -streubüchschen, -tasse, -tazel, -töpfchen. Jene Salznapf und Salzmeste werden bezeichnenderweise meist in Verkleinerungsformen gebraucht. In diesen obersächsischen Wörtern sind Benennungsmotive nach der Form der Salzgefäße erkennbar: Köpfchen zu Kopf ,Obertasse', wie diese selbst weithin im Sächsischen Fäßchen; Büchse-, Dose. Ob diese offene Behälter sind oder mit durchlöchertem Deckel versehen, ist nur an Streuer usw. zu erkennen. Keramik ist bei Schurb ( = Scherbe ,Tasse' Schles. Wb. S. 1186) und Kacherl gegeben. Stande ist ein Holzgefäß (Schles. Wb. S. 1315), Stamper ein Trinkglas (S. 1314). Keiner solcher Verschiedenheiten an Form und Stoff sieht man dem Ding an, was vor allem in der Provinz Sachsen üblich ist. Im Erzgebirge und im Vogtland ist lat. salsarium (der Mönche) in der Mundart gewiß durch Kindermund stark umgeformt und von da familiär und ortsüblich geworden. In seiner nicht nur den einfachen Leuten etymologisch undurchsichtigen Fremdwortgestalt zu Salzirl, -erl, -sirl, -zirel, -irschel, -nirle, -firich, -ririch, -hirchen, -örzchen geworden. Da hat die manchmal so kühne Volksetymologie es aufgegeben, etwas zu erklären. Das Bestimmungswort Salz- genügt. Aber wieder zeigen die Verkleinerungsendungen die Gemütswertung dieses unentbehrlichen und bei groß und klein geachteten und beliebten Kleingeräts der familiären Tischgemeinschaft. Bei der Musterung der Wörterreihe 60 fällt uns auf: sie haben allesamt einen bestimmten Ernst, es fehlt jedes Scherzwort. Die Männer bewahren, wie von der Jugend die Jungen, die älteren Sprachformen stärker als die Frauen und Mädchen, wird für die Sächsische Schweiz festgestellt, während die südliche Nachbarschaft in Böhmen keine Unterschiede hat 61 . Der Mann aus Sachsen kommt aus seinem Geburtsort mehr heraus als die Frau: Lehrzeit, Militärdienst, Krieg, Arbeitsstätte. Die psychologischen Gründe: Eitelkeit der Frau, Streben nach „Feinsein", Robustheit des Mannes. Nun führt der Beobachter (S. 36) in einem anderen Zusammenhang, nämlich bei der Feststellung, daß in einigen Orten nicht das Dresdnerische, sondern die Schriftsprache durchdringe, den Fremdenverkehr an. Da die Sommerfrischler zum großen Teil Berliner waren, wird nicht die Dresdener Mundart übernommen, weil sie ebenso wie der einheimische Dialekt weniger verständlich war und auch verspottet wurde. Der Beobachter beurteilt (S. 38) das Verhalten der Frauen zu den einzelnen Sprachstufen weiter: ein anderer Grund ist die stärkere Beschäftigung mit den Kindern. Häufig erklärten ihm die Frauen, daß sie früher den alten Dialekt gebraucht hätten, nunmehr aber nicht mehr könnten, weil's die Kinder dann so schreiben. Selbst die Großmutter ändert ihre Sprache aus Rücksicht auf die Rechtschreibung der Enkelin. Diese Beobachtungen gründen sich allerdings 60

I m Thüringischen Dialektatlas K a r t e 12, hg. v. H . Hucke finden sich diese und andere

61

E . R a w o l l e , M u n d a r t und Kolonisation in der sächsisch-böhmischen Schweiz 1 9 3 4 .

Synonymen v o r allem an den R ä n d e r n .

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Mitzka

wieder nur auf lautliche Dinge. Für das Gebiet östlich der Saale ist das Ergebnis der dialektgeographischen Untersuchung entgegengesetzt 62 . Es ist eine von Großstadt und Fremdenverkehr entferntere Landschaft. Die Frau ist in der dortigen sozial gefestigten Gesellschaft sprachlich beharrsam, also darin konservativ. Aber auch sonst: sie trug noch vor kurzem Tracht, wie im Altenburgischen länger als der Mann. Die Frauentracht ging in den 1930er Jahren zu Ende, wenig später klang die Mundart aus. Im Mansfeldischen durchsetzen in den Kupferbergbau zuziehende Industriearbeiter die einheimische bäuerliche Gemeinschaft 63 . D a wiederum ist die Frau fortschrittlich. Im Streben nach sozialem Aufstieg übernimmt sie die höher bewertete Ausgleichssprache. Dies ist auch im Meißnischen der Fall 64 . Von den nach dem zweiten Weltkrieg zugezogenen Ostdeutschen in einem westthüringischen Dorf halten sich nur die Mädchen der Ortsmundart fern. U n d von der einheimischen Jugend sind wieder die Jungen mundartfester als die Mädchen. D a sind alle einheimischen „Hochdeutsch"-Sprecher und Dreiviertel der Kinder jener Zugezogenen Mädchen. Allgemein f ü r Thüringen stellt der Beobachter (1963) fest: nach der Schulzeit kehren die Kinder mit zunehmendem Alter zur Mundart der Erwachsenen zurück. 1935 hatten in Südostthüringen die damals 70jährigen ältere Mundart, als sie selber 1879 bei der Beantwortung der Sprachatlassätze in ihrer Kindermundart angegeben hatten. Wieder geht es um lautliche Merkmale. Von der Schule her aber verdrängen manche Unterrichtswörter mundartliche Ausdrücke auch der nächsten Umwelt: Eidechse die heimischen Schießhexe, Otternjüngferlein, Viergebein. Der Lehrer, die Lehrerin haben in der N a t u r k u n d e gewiß auf die Harmlosigkeit und womögliche Nützlichkeit solcher abergläubisch verschrienen Tiere hingewiesen. Familien- bis kindersprachlich sind die Mundartwörter wieder für etwas, was die Schriftsprache mit mehreren Wörtern umschreiben muß: „Die Fettschicht auf der gekochten Milch." In gehobener Gesellschaft bekamen wir diese ja erst gar nicht zu sehen — sie störte im Milchkännchen und wurde in der Küche weggeschöpft —, ein hochoder umgangssprachlicher Wortbedarf lag da nicht vor. U n d wenn wir in der Küche heimlich im abgekühlten Milchtopf mit dem Zeigefinger sie herausfischten und diesen sauber ableckten, sagten wir doch kein Wort, auch und erst recht hinterher nicht. Im Obersächsischen 65 beiderseits des Gebirges hat diese Mundart südwestlich von Dresden Lamm oder Lämmle (so weich fühlt sich auch die Milchschicht wirklich an); ähnlich Maus im Meißnischen, und von da verbreitet im Schlesischen; örtlich von Coburg, in Masse um Dresden, mit Ausläufern im schlesischen Rand Branz oder Bramel (Schles. Wb. S. 150 .angebrannte Stelle an einer Speise', also zu brennen). Sehr gut getroffen ist Lappe 62

v. Polenz, Die Altenburgisdie Mundartlandsdiaft 1954.

63

Rosenkranz, in: Rosenkranz u. Spangenberg, Sprachsoziologische, S. 27.

" R. Grosse, Die Meißnische Sprachlandschaft 1955, S. 28. 64

« Rosenkranz a. a. O., S. 61.

65

Käthe Gleissner a . . O., S. 109.

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an Neiße und Oberelbe. Dasselbe Bild einer flachen Gestalt verwenden Platz wie in Schlesien und Böhmen (Schles. W. S. 1011 auch ,dünner Kuchen'). Nordschlesisch Pflaster führt auf die alte Siedelbahn ins Hochpreußische. Die Maus greift den Fuchs an, so heißt unsere (Milch-)Maus in Böhmen. Aber solche Motivierung ist hier pure Phantasie: sie ist wie so oft in den Wortgeschichten durch nichts zu beweisen. Wir wissen ja nicht und werden es niemals erfahren, wer zuerst dies Wort schuf, wo und wann die Wortschöpfung stattfand. Wir sehen nun zu, wie die K i n d e r spielen und was für geheimnisvolle Wörter sie dazu sagen und in Versen unter sich aufsagen. Die Abzählverse mit den bloßen Klangwörtern, ohne Wortsinn, aber mit vortrefflichen Reimen kennen wir ja selber aus unserer Kindheit: „gegenstandslose" Wortkunst, aber wie jugendfrisch in aller Vergangenheit und Zukunft. Als heranwachsender homo ludens hat das Kind seinen eigenen und der Kindergesellschaft gehörenden Wortschatz und seine Wortschöpfung dabei. Und zwar in Tradition durch den Lauf der Zeiten von einer Kindergeneration zur nächsten. Der mundartliche Wortschatz ist wesentlich Erbe der Spielgemeinschaft der Grundschicht des Volkes. Gewiß nehmen Mutter, Großmutter, die große Schwester manches davon beim Hätscheln des kleinsten Kindes auf, geben auch selbst manches aus Erinnerung oder aus eigener kindertümlicher Wortschöpfung hinzu. Die Pädagogik hat da vieles abgelauscht. Die Kinder der Gegenwart lernen Spiele und Namen dazu schon im Kindergarten, nachher in der Schule. Wir datieren dies seit Pestalozzi. Der Kreisel ist wohl einst vom Vater oder dem großen Bruder geschnitzt worden. Die Peitsche dazu können sich die Kinder selbst herrichten. Kindersprachliche Wortgeographie ist auch da wieder typisch kleinräumig. Aber sie muß verklingen, denn die Motorisierung verjagt Kind und Kreisel von der Straße, wie auch unser einstiges Treiben der schlanken Holzreifen. Das Ostmitteldeutsche bietet auf der Wortkarte in kleinen Flächen (DWA X I I ) unterhalb der schriftsprachlichen Form ,Kreisel', Kiesel, Brummkiesel, Dorl; um Meiningen Schnurrkauz, südlicher Schnorrgecks, weiter Zwirbel, Schnorrer, Tillatanz, Tulitanz, sächs. Tanzkate, schles. Brummbär, Springer, Titteltanz, Minich (Mönch), Pirdeltanz, Purdeltanz, am Südrand Tanzbär, Wolf, Drehnickel, Pommerwetz, im Schönhengst Drehwenzel. Die kindertümlichen Benennungsmotive sind nicht immer zu erkennen: lautmalend sind Brummer, Summer, Sumser, Surrer, Schnarl, Schnorrle, Schnorrer, Wimmer, Wimmerlich-, Tanz: Bärentanz, Tanzbär-, die Wirbelbewegung: Drebrich, Wirbel, Zwirbel-, nach dem Spinnrad: Wirtel; Antrieb mit der Peitsche: Treiberia, Treibskodel (Kordel ,Schnur'); Sautreibe, Knaller-, der Mönch wird wie schon vorhin als Dämon ebenfalls gepeitscht. Die Straße ist gemeint bei Gassenlaufer, Straßenhopser, Steinhopser (da ist die Tanzfläche doch zu schlecht). Vergleich mit Tieren, brummende: Bär, sonstige: Wolf, Möppel, Rollmops, Storch, Storchbeen (der Kreisel steht ja nur auf einem Bein). Von diesen ist manches nur einmal belegt. Diese kleinste Räumlichkeit solcher Motivierung, also die punktuelle, möglicherweise individuelle Wortschöpfung zeigen dazu noch Rotkehlchen (nach der roten Farbe), Geier ,Teufel' (wird hier also gepeitscht, in Nordmähren), Drehhansel, Drehkanickel,

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Drehkopp, Tanzbock, Tanzringel, nach der zum „Aufziehen" herumgelegten Schnur auch Tanzwickel, Drillertanz; wohl nach der schwankenden Drehbewegung des zuletzt müde werdenden Kreisels Torkel. Noch finden die Kinder in der Stadt weichen Boden zwischen dem Bürgersteig aus Steinplatten und der Häuserwand, auch im Dorf müssen sie sich vor Auto und Motorrad hüten. Da können sie ihre Spielkugeln mit ihrem über Staub und Dreck zielsicher die Marmeln (ehedem aus Marmor) ins Marmelloch (Schles. Wb. S. 849) schiebenden Zeigefinger lenken. Wir spielten so vor sieben Jahrzehnten mit bunten Bohnen, die wir im Leinwandbeutel in der Hosentasche trugen. Damit begann der Frühling der Kinder: die kleine gelbe Bohne war der Kanarienvogel, da gingen 12 auf die größte aller, den Türken, das war hochdeutsch die ,Feuerbohne'. Zu Sommeranfang wurden sie für das nächste Jahr aufbewahrt oder in den Garten gepflanzt. Wir spielten auch gern Klippe. Dazu spitzten wir mit dem Messer, wer so eins hatte, einen fingerlangen Stecken an beiden Enden zu, auf die mit einem Stock geschlagen wurde, um die Klippe ins mit dem Stock gezogene Viereck, in dem der Verteidiger stand, zu lenken. Blieb sie außerhalb liegen, dann schlug er dreimal zurück. Die Klippe krachte auch in Fensterscheiben, darum wurde unser Klippspiel verboten. Das Spiel war maskulin, wie heute der Fußball schon der Kleinen. Zum schlesischen Knepplaspiel: wir warfen statt Knöpfe unsere Soldatenknöpfe, lose in der Hosentasche, an die Hauswand oder den Bauzaun (Schles. Wb. S. 696). Die Mädchen begrüßen noch immer den Frühling, schon wie einst Walther von der Vogelweide sang, mit Ballkunststücken, die Ausdrücke kennen nur sie. Das Freimal, der Freiplatz beim Fangenspiel oder Versteckspiel kann sächsisch das Gefängnis sein, vom Niederdeutschen her die Luke, im Süden Kittchen, noch weiter südlich das Hundeloch. Sprachschichtung setzt mancherorts schon im Kindesalter ein. In der Sächsischen Schweiz und in der südlichen Nachbarschaft wird sie von der Herkunftsgesellschaft bestimmt. Die Kinder der Beamten und Angestellten sprechen anders als die Arbeiterkinder, diese wieder anders als die Bauernkinder 66 . Häufig lehnte die Schulklasse die Sprache der Beamtenkinder ab. Auf böhmischer Seite bestand bis 1924 in Tetschen eine von sächsischen Behörden unterhaltene Volksschule für die Kinder von Eisenbahn und Zoll. Dort grenzen Großräume von hochsprachlicher Wortgeographie aneinander. So wurden die in der böhmisch-österreichischen Umwelt übliche Grußformeln „Die Ehre"; „Diener, Diener"; „Grüß Gott" verdrängt durch die nördlichen: „GutenTag"; „Auf Wiedersehn"; „Mahlzeit". Die Landesgrenze ist weithin links und rechts der Elbe wortgeographische Trennlinie für sächs. zuendes (dsends) in dsends rim ,ganz herum bis an das Ende'; dsends naus ,bis ans Ende hinaus'; allenden ,an allen Enden, überall' (ollend), dausn ,draußen'. Die Phantasie der Kinder, zumal der kleinen, findet in der N a t u r ihr Spielzeug. Die Zapfen der Nadelbäume sind ihre Haustiere: Kuh, Schwein, Ziege, sie bekommen deren Kosenamen. Ein großes Gebiet um Coburg hat Küla für 86

Rawolle a. a. O., S. 37; 39; Karte 4.

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Kiefernzapfen, die großen wie die Tannenzapfen sind ohne Verkleinerung die Küh67. Wenn sie alt sind, trocknen die Zapfen auseinander, haben dann ihre Samen fliegen lassen. Das sind dann aufgekrallte Küla, wie eben nur Kinder beobachten und benennen können. Die Zapfen 6 8 der Tanne sind den Kindern die Mutsch ,Kuh' um Schandau, Rehböckel (sind so schön braun wie diese) linkselbische Sächsische Schweiz; die der Kiefer Schweinchen zwischen NeustadtHohenstein, Sebnitz, Zickel um Zittau und Ostritz. Von den Wildpflanzen ist die Margerite bei den Kindern beliebt, sie ist in Nordmähren Orakelblume genannt, was die heranwachsenden Mädchen angeht (DWA V). Wortschöpfung wiederum der kleineren Kinder bietet die Karte Ahorn*9, den sie nach den Flugfrüchten benennen: die halbierten, innen klebrigen Enden steckten wir uns auf die Nase: Nasenbaum, Nasenkleberbaum in Südbrandenburg um Dahme; Nasenreiterbaum in Gurkau-Niederlausitz; schles. Nasenstieberbaum in Sagan; südlich davon Nase; Nasenstieber in Glogau; schles. Hasenschnute bei Patschkau; Schafsnase bei Glatz, Zwergnase bei Strehlitz; in Ostpreußen im Hochpreußischen Nasenkneiper, Nasenkneifer, Nosequetscher. Ganz modern vergleichen die Kinder: Propellerbaum bei Leipzig, in Gleiwitz. Den Ahorn nennen sie auch Kuchenblätterbaum bei Hirschberg. Zu diesem Spielgedanken und Wort sehen wir die Mädchen Kuchenbacken spielen, die Kuchenform ist das schöne breite Ahornblatt vom Straßenrand in Stadt und Land. Eher den Dorfjungen trauen wir die Wortschöpfung für die den Mädchen doch grauslichen (Schles. W. 449) Kaulquappen: schlesisch Kaularsch (DWA V), Kaularschel von Kamenz bis Zittau, nordschles. Kaulurschel. Uberreich ist auch die kindertümliche Benennung der Heusdirecke (DWA IV). Neben Hopser, Hopsepferd, Huppiapferd, Springpferdchen und vielen andern zum Motiv des Hüpfens. Aus der Nähe gut beobachtet ist Heugeige südlich von Zittau. In Schlesien bei Gr. Strehlitz wissen die Schulkinder aus der biblischen Geschichte: Israeliten. Übrigens sind die Aufnahmen f ü r den Wortatlas von 1939 so zu verstehen, daß viele solcher Wörter gerade bei den Kindern von O r t zu Ort, von Kind zu Kind, ja beim selben Kind morgen, übermorgen noch andere, alte oder neue Wörter f ü r Tiere und Blumen, Spiele und Spielzeug dauernd wechseln können. Der Liebling der Kinder unter den Insekten ist noch vor dem Maikäfer der Marienkäfer. Die Vogelstimme ahmen die Kinder vor allem beim Sperling (Gassejunge, wie wir es einst selber waren) nach und nennen ihn (Wortatlas) im Ostmitteldeutschen Schilp, Tensch, Tulpsch u. a.m. D a ist der Reichtum an kindertümlichen Wörtern besonders groß. So auch zu den winterlichen Vergnügen des Schlittenfahrens, oder was wir auf dem Schulweg so gern taten, im Schnee lange Eisbahnen auf 67

Niederlöhner, Untersuchungen zur Sprachgeographie des Coburger Landes 1957, S. 85; E. Hartmann, Die Coburger Mundart, bearb. v. A. Siegel, S. 127, leitet Kula .Zapfen der kleineren Nadelbäume' von Kohle ab; tatsächlich dienen sie den armen Leuten als Brennmaterial; da können sehr wohl beide Ursprünge zusammengefallen sein; Unterschied der Generationen. • 8 Streitberg, Ostsadisen, S. 81. 69 Mitzka in: D W A I. 1951.

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den Fußwegen erst festtraten und dann mit den Sohlen, in vergnügtem Fall auch mit dem Hosenboden glattrutschten = schlidderten, so lautmalend auch Schindern, tschindern, schundern, schurschen, tschuscheln, kascheln, zuscheln und noch manches mehr. Auch dieser Spaß wird bleiben, es werden wie einst die „Großen" schimpfen und Asche draufstreuen und die Kinder eben dahinter eine neue Kaschelbahn (Schles. Wb. 625) auskascheln. Zur Spielfreude fröhliche Wortschöpfung: dies gilt für die Großstadtkinder wie für die Mittel- und Kleinstadt und das Dorf 70 . Dies natürliche Bedürfnis nach Betätigung ist mehr als Untermalung und Zeitvertreib. In Berlin, West und Ost, haben die Kinder draußen ihre Abzählverse, Kreisspiele (Wir fahren mit der Bimmelbahn), Hüpffiguren auf dem Bürgersteig oder daneben: mit Kreide ist da die Hopsekette aufgezeichnet; mit einem Bein wird dabei die Schurre von Feld zu Feld, mit dem Steinchen auf dem Schuh vorn, abgehüpft. Eine andere Figur ist die Mondhopse, dann die Wasserhopse, die Briefhopse, die Ballhopse. Die Mädchen singen beim Seilspringen ihre Verse: verflixtes Humpelbein. Haschespiele sind die Einkriege, der Wullewupp und der Klebemax. Ein Versteckspiel ist das Pfeilerversteck an einer Mauer oder an einer Hauswand: die Suchenden zeichnen Pfeile auf Straße oder an die Hauswände, die auf das Versteck hinweisen. Das Klimpern ist Münzenwerfen an Hauswand oder Rinnsteinkante (auf der wir selber einst gern saßen, uns aber nicht gern erwischen ließen). Die Ballgeschicklichkeitsspiele sind auch dort Sache der Mädchen: sechsmal Doppelbox (mit beiden Fäusten), Boxe rechts. Das Kreiselspiel heißt Trieseln, der Kreisel ist wie ringsherum so auch in Berlin der Triesel (DWA I). Dort gibt es doch noch Kullerreifen treiben. Beim Murmelspiel wird die Stelle der letzten Murmel in den einzelnen Stadtteilen verschieden gekennzeichnet: mit Kreuzer in Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg, Spandau; mit Kratzer in Steglitz; mit Steller in Moabit.

IV. Mundart

und Umgangssprache

im Raum

Der Altstamm des Ostmitteldeutschen ist der der Thüringer. Im Westen grenzen die Hessen. Nach Lautmerkmalen (p-: f : Pferd-. Ferd ,Pferd') läuft da die Mundartgrenze im Zuge der alten Stammesgrenze über den Hohen Meißner und die Rhön. Da treffen als Großflächen das Westmitteldeutsche vom Mittelund Rheinfränkischen her und das Ostmitteldeutsche, nämlich das Thüringische, das Obersächsische und das Schlesische mit seinem Ausläufer in Ostpreußen, dem Hochpreußischen, zusammen. Thüringer71 grenzen nach Norden im Eichsfeld und in östlicher Nachbarschaft mit den Sachsen (Niedersachsen) auf alter Stammesgrenze und heutiger Mundart. Dem Ostfränkischen haben sich die Thüringer in der Mundart bis an den Thüringer Wald (Kamm = Rennsteig) ,0

11

R. Peesch, Das Berliner Kinderspiel der Gegenwart. D t . A k . d. W . zu Berlin. V e r öffentlichungen des Instituts f ü r deutsche Volkskunde, Bd. 14, 1 9 5 7 . Aus dem Schrifttum (vgl. Stammler, A u f r i ß der dt. Philologie. H. Rosenkranz, Der Thüringische Sprachraum 1964).

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angeschlossen. Die stärkste Sprachgemeinschaft führt zum Obersächsischen72. Dorthin leitet die wichtigste Siedelbahn des Mittelalters hinüber, weiter ins Schlesische und Hochpreußische73. Thüringisch: niedersächsische (ostfälische) Wortgeographie74 Stachelbeere: Stickbeere-, Hefe: Gest; (P)friemert: Ort; .Bienenkorb' Korb: Stock; .wieder käuen' nädern: ahrkauen; .Holunder' Holler: Kisseken, Keitschken; kehren: utfegen; Warze: Leichdorn; .Gabeldeichsel' Schere: Klipp deich se; Schmerzen: Wehtage. Es gibt auch Gemeinsamkeiten, so kann nd. man gegen nur in Relikten bis zum Rennsteig reichen75. Hessisch: thüringisch = Scheuer: Scheune; Petter, Patte: Pape, Herrpate, Pate; Docke: Sau; Hibbel: Bil (Beule). Thüringisch: ostfränkisch (hennebergisch): Dorle: Schnurrkauz, Kreisel; Kaulquappe: Dickkopf; Waschbleue (Gestalt wie das Werkzeug dazu): der Klopfer; Grashüpfer: Heuschrecke, -hüpfer. Danach sind die U r s p r u n g s f l ä c h e n d e r H o c h s p r a c h e und ihrer wortgeographischen Ausgangslandschaft für diese (und viele andere) Wörter angeschnitten. Dazu gehört wiederkäuen (DWA II) um Weimar, Erfurt, Gotha. In der unteren Sprachschicht, der Mundart, gehört das südliche Thüringen zum Mainfränkischen, das vom Würzburger Raum aus bestimmt ist. Von Würzburg bis über das Erzgebirge und um Leipzig gilt kälen, köuweln. Die Nordwestgrenze des Mainfränkischen wird durch die mundartliche Rhönschranke als Siedlungseinschnitt gebildet: westlich schloßen: östlich kiesein .hageln'; Geißblume: Anemone; Keppel: Hickel ,Hügel'; Knöchel: Knorren; Petter: Dot, Döte ,Pate'; Muck, Ferkelsau: Dausch, Tragsau .Mutterschwein'; Säul: Nollen .Pfriemen' u. a. Thüringische Mundart setzt sich auch zum Bamberger Raum ab. Von da reicht urkäuen .wiederkäuen' bis zum Lobenstein76. Die mittelalterliche Siedlung erfolgt auch aus diesen Altlandschaften nicht in unmittelbar anschließender Siedelfläche, sondern in Rodebezirken als Inseln. Sie sind oft vorgelagerte Horste wie im böhmischen Raum. Da kann die deutsche Sprache mitsamt der Volksangehörigkeit innerhalb slawischer Nachbarschaft verloren gehen, oder diese schließt sich im Laufe friedlicher Landes- und Volkstumgeschichte an. Schriftquellen zu solcher Bauernsiedlung sind für das Mittelalter nicht zu erwarten, doch gibt es ein urkundliches Zeugnis: 1104 bittet Wiprecht von Groitsch als Siedelunternehmer für die Gegend von Lausick-Geithain im Obersächsischen seine Mutter, ihm von ihrem Besitz in Lenginveld Siedler zuzuschicken. Man hat seit langem an Lengfeld Kr. Würzburg gedacht, da von partes Franconiae die Rede ist. Eher 77 ist es Burglengenfeld in der Oberpfalz. Allerdings liegt dies im bairischen Nordgau. Das Bairische 72

Th. Frings u. a.. Mitteldeutsche Studien 18 ff.; — E. Schwarz, Sudetendeutsche Sprachräume 1935.

73

W. Mitzka, Grundzüge nordostdeutscher Sprachgeschichte 1959 2 .

74

Rosenkranz, S. 5.

75

K. Spangenberg, in: N d . Korresp.-Bl. 73 (1966), S. 21.

78

H. Meinel, Vogtländisdi und Nordbayrisdi 1932.

77

H . Steger, in: Jb. f. fränk. Landesforsdiung 22 (1962), S. 327.

18

M i t z k a , Wortgeographie

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bestimmt das historische Egerland. Das sächsische Vogtland bleibt in der Mundart vorwiegend, so wie Nordwestböhmen bis Brüx, beim Ostfränkischen. Ein sächsischer Keil stößt im Norden des Egerlandes78 vor: Schnürsenkel gegen Schuhbändel; Fleischer gegen Fleischhacker; Wacholder gegen Kranewitstaude u. a. Wieder lassen sich damit die Ausgangslandschaften für hochsprachliche Wörter nennen. Sozial und zugleich wortgeographisch konservativ sind im Thüringischen der Thüringer Wald, die Rhön, das Eichsfeld79, also der Westrand und der Süden. Da wirken auch Konfessionsunterschiede mit: der wortgeographisch konservative Rand ist katholisch. Neuerungen zugänglicher ist der Osten, besonders der Nordosten. Reliktgebiet ist auch das Altenburgische. In der ganzen Fläche verdrängen z. B. Schwiegertochter-, Schwiegersohn die Schnur, Sohnsfrau, Eidamtochter, unsre junge Frau; Eidam, Eidamssohn, Tochtermann. Verkehrsfern ist auch der Reliktraum zwischen Rhön und Thüringer Wald: Herria ,Großvater', Fräla ,Großmutter'. Obersächsische Mundart ist wieder am Südhang des Erzgebirges altertümlich: Schwäher gegen Schwiegervater sonst. Dieser Süd-Nordgegensatz gilt schon für den Südhang des Thüringer Waldes. Wieder trifft hier die Gleichung konservativ = katholisch zu. Das Kennwort des Obersächsischen Bemme .bestrichene Brotscheibe' (Wortatlas X I I ) reicht bis in die Umgangssprache hinauf. Ein Lieblingswort auch der Umgangssprache ist egal, in der Bedeutung ,einerlei' auf der zweiten Silbe, vom hochsprachlichen andauernd her auf der ersten betont 80 . Für ,meist' kann meerschtendeels in die Gesellschaft heraufreichen. Lautliche Eigenheiten können bis zur obersten Schicht im obersächsischen Raum, dem Sprecher selber nicht bewußt, gehört werden. Gerade an diesen Merkmalene, z. B. in und um die Groß- und Handelsstadt Leipzig herum wird anl. k zu g, hat die Sprachforschung diese Mitte des Ostmitteldeutschen erkundet. Der stark ins Ohr fallende Wort- und Satzakzent ist unerforscht. Auch hier ist es mit der Umgangssprache so, daß sie kleinräumige Mundartwörter vermeidet. Wer solche selber kennt und in der Grundschicht gebraucht, ersetzt sie im Gespräch mit dem Vertreter der Umgangssprache sofort, wenn er merkt, daß er nicht verstanden wird oder gar im Schwingungsfeld des sozialen und zugleich sprachsichtlichen Ansehens, in der Oberschicht Prestige genannt, belächelt werden könnte 81 . Den Dorfbewohnern, aber nur diesen geläufig sind Borschdwisch ,Handbesen', dsendsd ,entlang', (e)mend(e) ,vielleicht' aus ,am Ende'. Die Staatsgrenze ist im Süden wieder auch Konfessionsgrenze. Als K ü c h e n u n d M a r k t w o r t jüngster Herkunft hört dort wie weiter nach Osten im 78

H . Braun, Wortgeographie des historischen Egerlandes 1938, S. 166.

79

Spangenberg, in: Rosenkranz u. Spangenberg, Sprachsoziologische, S. 79.

80

H . Reimann, Sächsisch. Was nicht im Wörterbuch steht (1931), S. 54.

81

G. Bergmann, Das Vorerzgebirge. Mundart und Umgangssprache im Industriegebiet um Karl-Marx-Stadt-Zwickau 1965 = Mitteidt. Studien 27, S. 134: Gaml .Appetit',

Gwäle

.Handtuch' (nd. Dwele),

binde

.heute abend', sald ,da, dort, damals'.

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Schlesischen Tomate gegen Paradeis, Paradeisapfel von Österreich her auf (DWA X I ) . Amtlich bestimmt ist die Wortgeographie f ü r den Schornsteinfeger: obersächs. Essenkehrer, von Süden wieder bis an die alte Landesgrenze, so auch im österreichischen Schlesien Rauchfangkehrer. Südwestthüringen hat wie Ostfranken Schlotfeger. Obersächsisch ist der (Weihnachts)Sio//ew. Dies Wort ist heute mitsamt dem berühmten Gebäck in die Oberschicht der Schriftsprache übernommen worden. Merkwürdig, daß sogar Kinderwörter an der seit dem 13. Jahrhundert bestehenden Grenze des Dobrilugker Klosters, seit 1815 Landesgrenze, halt machen: schurschen, schurschein ,auf dem Eise gleiten' 82 . D a hat sich eine Kleinfläche alten Zusammenhangs a l s p s y c h o l o g i s c h e S p r a c h f l a c h e erhalten, wie wir solche im Gesamtsprachgebiet beobachten: dort können ganz neue Wörter am Grenzbündel alten Wortgutes haltmachen wie bei der Kartoffel oder dem Streichholz. In einem psychologischen Sprachraum solcher Art breitet sich z. B. Zigeunerbrot f ü r die Hagebutte im „Breslauischen" des Hochpreußischen aus (DWA X I ) . Diese Sprachinsel ist im Anfang des 14. Jahrhunderts entstanden, aber Zigeuner erscheinen in Deutschland erst seit 1417. Von Ostsachsen leitet das sorbische Sprachgebiet der Wendei mit deutscher Schriftsprache zum Schlesischen, dies schon stark in der Oberlausitz, hinüber. Schles. Schnitte reichte früher bis an die Elbe heran, wird im eingedeutschten wendischen Gebiet von sächs. Bemme nach Osten geschoben 83 . Die beiden Lausitzen kamen 1635 zu Sachsen. Im Wendengebiet herrscht die schriftdeutsche Form Eichelhäher, doch macht sächs. Eichelgabsch (gäbsch ,gierig') größere Fortschritte, wobei Bautzen und Löbau dies Mundartwort vermitteln. An der Landesgrenze bleibt es bis in die rechtselbische Sächsische Schweiz stehen, gegen das lautlich obersächsische Nordböhmen mit Nußhacker. Das Sorbische kennt kein anl. h-: aus ,Haus'; eis ,Eis'. Sauerampfer wird, gestützt durch diese schriftsprachliche Form in die Wendei als Sauerhampfer, Sauerhampf hereingeholt. I n d u s t r i e b a l l u n g und G r o ß s t a d t bringen bei Arbeit und Massenverkehr manches witzige Wort zutage. Berühmt ist der Berliner Witz 8 4 , den in wartender Menge der und jener in lautem Zuruf improvisiert. Das war schon so zu Zeiten des Schusterjungen in Lokalliteratur oder des Eckenstehers Nante. Jener sorgte f ü r witzige Überwindung des sozialen Unterschieds, dem Glanz der Oberen der Residenzstadt und dem kritischen Untertan, dieser f ü r ulkige Gelassenheit und alkoholhaltige Lebensphilosophie etwa vor Gericht. Als Scherzwort ist manches Synonym zu Streichholz zu werten: Streichbeene, -beenla häufig bei Berlin-Magdeburg-Halle-Senftenberg (Bergbaugebiet). Bezeichnend ist Übertreibung, Hyperbel in Berlin auf den Glühbolzen im Plätteisen bezogen: 82

O . Kieser, in: Teuthonista 4, 1927/28, S. 161.

83

G. Streitberg, Wortgeographische Gliederung Ostsachsens und des angrenzenden N o r d böhmens 1937.

84

Agathe Lasch, Berlinisch 1928.

18»

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Streichbolzen, obersächs. Streichboom. Sind Stände, Berufe in scherzhaften Vergleichen genannt, so braucht keine soziale Spannung vorzuliegen: ,die Fettschicht der gekochten Milch' = obersächs. 85 der Bäuerin ihr Hemde, der Milchfrau ihr Hemde, dem Pastor sein Hemde, das Kuhhemd. Diese reichen weit nach Nordwestdeutschland und sind nicht boshaft gemeint. Das brandenburgische Kennwort ist Stulle gegen sächsisch BemmeM und schlesisch Schnitte61. Wenn Stulle mitten in der Wendei gilt 88 , so erinnern wir uns des Straßenbildes in Berlins wohlhabenden Vierteln, wo die Wendinnen als Ammen in barocker Tracht mit dem geflügelten K o p f p u t z Kinderwagen der reichen Leute in den Tiergarten schoben. Niederländisches Wortgut des 12. Jahrhunderts 8 9 , besonders in landwirtschaftlicher Fachsprache und zum Wasserbau erhalten, ist mit Tochtersiedlung manchmal über den Rand des Brandenburgischen ausgebreitet worden. Ein besonders geflochtener H a n d k o r b f ü r Feldarbeiten ist der Bähnert. Aus dem Südrande des Brandenburgischen, dem Ostere n d e , reicht Sache und Wort über das Nordmeißnische und Altenburgische bis ins Erzgebirge: weit über das Siedlungsgebiet der Flamen (mit dem Flämischen Recht) der Halle-Leipziger Bucht hinaus. Dazu gehören noch Splint ,Splitter' und Kecke ,Kröte'90. In den Strich zwischen Saale und Mulde reichen z. B. die niederländischen Pede ,Quecke', Pissmiere ,Ameise', Micke ,Astgabel' 91 . Im südlichen Schlesischen taucht zwischen Freudental u n d Bärn Borstel ,Handbesen' auf, die Heimat ist Flandern. Von Flamenrecht ist auch da zu Anfang der Deutschsiedlung die Rede (Schles. Wb. 146). Ins Schlesische reichen mit der mittelalterlichen Siedlung ostfränkische Wörter 92 wie Urle ,Ahorn', hessische wie ursprünglich Geißbein ,Kornblume', das bei der Ostwanderung in Thüringen, das statt Geiß schon damals Ziege sagte, zu Ziegenbein wurde, und sodann in Schlesien. Aus Althessen sind auch die Bauernkinder-Wörter f ü r den Maulwurf nach Schlesien gelangt: Molkwurm, Mondwurf, Mondwolf. Damit führt die Dialektforschung zu grundsätzlicher Folgerung in Siedel- und Landesgeschichte: in Schlesien entsprechen Kleinbezirke von Wörtern solchen in Hessen. D a müssen vor sieben Jahrhunderten die hessischen Siedlergruppen in der neuen Heimat wie im 18./19. Jahrhundert die Deutschen, Schweden, Polen als Bauern in den USA und Kanada, beisammengeblieben sein. Das werden doch in allen Zeiten die auswandernden Verwandten, Nachbarn im Dorf und ringsum getan haben und tun. Hier also deutet ein Philologe die Wortkarte von 1939 f ü r die Siedel- und zugleich 85 86 87 89 89 90 91 92

K ä t h e Gleissner a. a. O., S. 108. F . P a n z e r , in: Festschrift Fr. Kluge 1926, 92: Wortbereich = K u r f ü r s t e n t u m Sachsen. Mitzka, Schlesisches Wörterbuch. Band 3, S. 1236. DWA XII. Wortatlas I. H . Teuchert, Niederl. Reste 1944. Grosse, Meißnisch, § 74. H . Schönfeld, Fuhnegebiet, S. 239. Wortatlas; Mitzka, in: Vierteljahrsschrift Schlesien 1957 E . S c h w a r z ebda. 1957 und 1966 (Sdiönwald).

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Wortgeographie um mehr als ein halbes Jahrtausend zurück. Nach Ortsnamen war schon vorher die Gleichung Fulda und Umland = Grafschaft Glatz mit drei Ortsnamen und einem Bachnamen geboten worden 93 . Zum Rheinland zurück führen die Wortatlaskarten ,Heckenrose' und .Hagebutte': Kippe dort und hier; die Quecke ist wieder aus dem Ripuarischen als Queche mitgebracht worden. Sehr altertümlich sind wortgeographisch die im Südrand des Schlesischen und diesem vorgelagerten Inseln, inmitten slawischer Umgebung, Schönwald bei Gleiwitz, Wilmesau, Bielitz mit Anhalt westlich von Krakau. Mehr ostfränkisch bestimmt als das Schlesische sind die Mundarten der südlich vorgelagerten großen Mundartinsel des Schönhengstes, da kommt noch bayrisches Sprachgut hinzu, ob nun aus der alten Heimat oder aus junger wie Paradeis(apfel). Im Anfang des 14. Jahrhunderts wanderten deutsche Bauern aus der zwischen böhmischer und brandenburgischer Herrschaft umkämpften Lausitz weiter nach Ostpreußen ins Ermland, dessen Bischof und Siedelherr aus Neiße stammt. Auf dem Wege dorthin, ins Oberland westlich davon, haben offenbar Siedelbeauftragte des Deutschen Ordens aus jener Bauernwandergruppe Bauern aus diesen durchziehenden Gruppen gewonnen. Jedenfalls stammt daher auf beiden Seiten der Passarge das Hochpreußische, links das Oberländische, rechts das irgendwann so genannte Breslauische. Dies blieb katholisch, jenes wurde protestantisch. Beide sind Agrarlandschaften mit kleinen Städten. Elbing blieb am Rande, mit einem industriellen Stadtteil (Schiffsbau) und oberländisch sprechender Arbeiterschaft. Es hat sonst mit der südlichen Nachbarschaft niederdeutsche Mundart. Im Hochpreußischen spiegelt sich jene Zweiteilung auch in Wortgeographie wider 94 : breslauisch Horde: oberländisch Herde-, kraufe ,kriechen': krauche-, Moltworm ,Maulwurf: Mondwurm-, Sagelgrütz ,Sägespäne': Sagelspäner. Das Oberländische weist in seinem Westteil Besonderheiten auf 95 , z. B. Bronne, sonst Borne .Brunnen'; truckne: treige .trocknen'; Wrats: Wartsei .Warze'; klen: klin. Diese Form von ,klein' und vorher Mondwurm führen ins Schlesische zurück und von da aus weiter in die Ausgangsmundarten ins Mittelfränkische bzw. ins Hessische. Das Hochpreußische hat manches aus dem benachbarten Niederdeutschen, dem Niederpreußischen, übernommen, so Keilpog: nd. Kielpog .Kaulquappe'. Aus dem Altpreußischen, das zur baltischen Sprachfamilie gehört, haben beide z. B. Kaddik ,Wacholder'. Soziologisch ist für den Anfang des 19. Jahrhunderts ein oberschichtliches Unternehmen von Mundartpflege merkwürdig. In Marienburg schließen junge Damen einen Bund, in dem sie feierlich beschwören, „die afectirte neumodische Art zu sprechen auf keine Weise anzunehmen, sondern fest und treu bei der edlen Sprechart der Vorfahren zu verharren". Der Berichterstatter ist 1798 dort geboren. Er schreibt 1849 9 8 : „DerMitzka, Grundzüge nordostdeutsdier Sprachgeschichte 1959 2 . W . Kuck, in Teuthonista 4, S. 278. 9 5 Kuck a. a. O., S. 152. " K. Schulte-Kemminghausen, Mundart und Hochsprache in Norddeutschland 1939, S. 40, nach Neue Preußische Provinzialblätter 1849, 174 und Ziesemers Auskunft, daß der Verfasser der Sohn des dort 1813 verstorbenen Superintendenten Heinel ist. 93 84

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selbe Dialekt, den man noch spätestens in Elbing sprach." Eine Probe: ein Schulknabe klagt seinem Lehrer, Kantor an der evangelischen Kirche: Herr Kanturcke, de Junges söge emmer, ech hob dem Matzing [Metzing] seine Kraih [Krähe] gestohle. „Indessen hatte dieser schöne Dialekt seine Liebhaber." Das ist jener Bund junger Damen. Dazu meinen wir selber: einmal ist es die erste schriftliche Probe des Hochpreußischen. U n d weiterhin: dieser seltsame Bund von jungen Damen, doch der Oberschicht, stimmt so recht zum Tugendbund der Zeit um und nach 1800. Elbing liegt, wie Marienburg, am Rande des Hochpreußischen. V. Die

Wortkunst

Ostmitteldeutsche Wortkunst übernimmt von der Bibelübersetzung bis zum Naturalismus die Führung. Nicht ernst genommen wird Dialektdichtung des Obersächsischen, das in der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts dem Schwäbischen die Rolle des gerade in seiner Sprache komischen unter den deutschen Stämmen abnimmt. Bei dem Schlesier Gryphius, der in den Niederlanden Dichtung mit bäurischem, aber innerhalb der natur- und wirklichkeitsfernen adligbürgerlichen Barockkultur realistisch getreuem Dialekt kennengelernt hatte, huldigt die geliebte Dornrose 1660 mit ihren treuherzigen Mitspielern einer Fürstin. Wie schon vorher der Braunschweiger Herzog plattsprechende Bauern in seinen Dramen auftreten ließ. Ohne jede gesellschaftliche Spannungen sind die Volkslieder, die das Zeitalter der Romantik entdeckt: J. G. Meinert, Alte teutsche Volkslieder in der Mundart des Kuhländchens 1817. Wer dort in dem Bauernvölkchen an der Oderquelle weitab von der Sprache der Gebildeten dichtet und singt, tut dies in der Mundart. Die Hirtenlieder, wie Weidt, ihr Kihlen zailewais (zeilenweise, im Brachfeld wird ein Beet nach dem andern abgeweidet), werden von den Hirten, Kindern der sogenannten kleinen Leute, gedichtet, die beim Bauern verdingt sind. So erklärt es Meinert. Der kleine H i r t e fängt sein Lied mit liebevollem Zuruf an: Weidt ock, weid ock braune Kuh. Das Lieblingswort der Schlesier, an dem sie sich auch heute in aller Welt als Landsleute erkennen, ist ock ,nur'. Ihr Lieblingsdichter ist Karl von Holtei und das Lieblingsgedicht (1830) ist sein Suste nischt ack heem! geblieben. So antwortet der arme Junge aus kinderreicher Familie unten aus dem Dorf, der von der Gutsherrin als Spielgefährte des blassen, stillen Söhnchens ins Schloß heraufgeholt wird. Der arme Junge wurde bald auch blaß und still, seine bekümmerten Eltern fragen ihn, was ihm fehle. Holtei verwendet einen gemeinschlesischen Dialekt, den er aus den verschiedenen zusammenholt. Sein heimisches ack lautet weithin ock, im Glätzischen och (Schles. Wb. 945). Wie schon längst im kirchlichen Drama, so gibt es im Adventsspiel des sächsisch-böhmischen Erzgebirges und des Riesengebirges, im Weihnachtsspiel Thüringens und Schlesiens97 Mundartpartien, so in den Hirtenszenen. Knecht Rupprecht tritt in Tetschen in Böhmen als kleiner Rumperus auf, in Thüringen als Ruppert im Harlekin97

F.Vogt, Die schlesischen Weihnachtsspiele 1901.

Ostmitteldeutsch

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kostüm: Riez raz Flederwisch, im Hause wird mer gar zu frisch. Das H a u s ist da der Hausflur. Das schlesische Kehrweibel oder Kehrmutterla f ü h r t als altes gebücktes Weib mit Kopftuch die heiligen Personen an, fegt vor ihnen die Stube. Dies ist mit den Krippelliedern Volksdichtung als Weiterbildung der ehemals in der sprachlichen Hochschicht der Geistlichen gedichteten S p i e l e . 1839 regte H o f f m a n n von Fallersleben in den Breslauer Zeitungen die Sammlung von Volksliedern an 98 . Er sammelte auch schlesische Mundartwörter 9 9 . Zu den eingebrachten Volksliedern bemerkt er: nur zwei von ihnen sind mundartlich, nämlich das sehr beliebte Weihnachtslied der H i r t e n aus jenen Spielen Freda über Freda und der Bruder Malcher. Audi dies Scherzlied von dem kleinen Jungen, der sich Sattel, Pferd und sonstige Dinge der großen Welt von seiner Mutter wünscht und nun eine Rute, ein Steckenpferd usw. bekommt. Die Mutter rtorn an alten Sack und gab's dem Malcher als Schaberack. Sonst werden die Volkslieder ja mitsamt dem Hochdeutsch wie anderswo auch, außer in entlegenen Winkeln, wo dies mehr oder weniger nicht zur H a n d ist, aus hoher, mindestens schriftsprachlicher Schicht herabgeholt. Doch tauchen beim Zersingen heimische Wörter auf: der Wassermann, aus der Breslauer Gegend das Rautendchen (Überschrift: Rautendelein), in der Vogelhochzeit der Oppelner Gegend der Wüstling ,Rotschwänzchen', das Rüttelweib ,Falke', der Schnarre ,Misteldrossel', Schneekönig = ,Zaunkönig'. Ursprünglich in Deutschland verbreitete Tanzlieder sind im Vogtland als Reliktgebiet gesammelt worden, mit lebhafter Entfaltung auch in Mundart: die Rundäs (vom Reimwort rundinella)100. Sie wurden dort vor allem als Vierzeilerliedchen gedichtet. In Sachsen ist das Runda das Tschumperliedel, Schamberliedel, Tschamperliedel, vgl. nach seinem Spott Schänderlied, in Schlesien Schenscherlied, Tschenscherlied ,jedes weltliche, lustige Lied' (Schles. Wb. 1186: aus f r z . chanson). Die große Masse der Mundartdichtung 1 0 1 besteht aus Anekdoten in Versen und Prosa. D a wird die Mundart meist mißbraucht, wenn dort nach schriftdeutschem Muster Witzwörter in Mundartlaute umgesetzt werden oder überhaupt falsche Mundart von Spaßmachern an „Gebildete" gerichtet wird. Auch da werden der Breitenwirkung wegen Wörter, die nur geringe Reichweite haben, nach klassischem Muster vermieden. Wenn in solchen harmlosen Schnurren Dorforiginale geschildert werden, so ist hingelaadert102 ist der dumme Lappsack aus der lächerlichen Situation zu verstehen. Aber dieser hingefallene Schnapsbruder ärgert sich über sein Sozialgefälle: Wenn oder de Grußn ihre Tofelei hoom un vr Besoffenheet nimmer stih känne, do hääß' neer, Se hom sich kästlich geamessirt! Einer von diesen Großen ist hoher Regierungsbeamter 98

H o f f m a n n v o n Fallersleben und E. Richter, Schlesische Volkslieder mit Melodien 1842. Beiträge zu einem Sdilesisdien Wörterbuch 1857. 100 H . Dunger, Rundäs 1876. 101 B. Martin, in: Aufriß der dt. Philologie III, hg. W. Stammler. 102 H . Köselitz, Schnurren. Schnozeln (später Schnürchen). Alte und neue Geschichten in erzgebirgischer Mundart. Nordhausen 1918. 99

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aus Drasde. Da ist bei weiter gestreutem Lesepublikum schon schwieriger: oder ist ,aber', neer ist ,nur', doch Tofelei und kästlich sind in der Mundart gar nicht heimisch. N u n haben manche ernsthaften Lokaldichter ihre Mundart in würdiger Hochachtung vor ihr solchen Grotesken oder Albernheiten entgegensetzen wollen. U n d doch kaufen sich, nun nicht die „kleinen Leute", sondern der große Bauer und der mittlere Bürger H e f t e und Büchelchen immer noch gern, wenn sie die gute alte Mundart noch aus der Kindheit kennen, mit den Nachbarn oder den vertriebenen Landsleuten gar noch sprechen 103 . Wir wollen es mit dieser immer noch blühenden Mundartliteratur nicht zu kritisch nehmen: f ü r dies schlichtliterarische Publikum klingt fröhliche Kindheit und auch ernste Erinnerung an vertraute Gesellschaft und Geselligkeit nach: im Zauber der Mundart. Wie im R u n d f u n k und Fernsehen heute die umgangssprachlichen Wörter mit mundartlicher Lautung in den Familiengesprächen der einzelnen Landschaften ihr breites Publikum haben, so war die kleinbürgerliche Gestalt von Bliemchen im Sächsischen das gemütliche Spiegelbild dortzulande und stammestümlicher T y p f ü r die andern draußen, die um nichts besser sprachen. Ohne Verfassernamen erschien in Leipzig (ohne Jahr) Familiengeschichten des Partikularisten Bliemchen aus Dresden104. Diese Bliemchenliteratur begründet G. Schumann 1851—97. Die Zeichnung auf dem Titelblatt zeigt diesen Rentner in sorgfältigem bürgerlichem Anzug, die Arme erwartungsvoll in die Seiten gestützt. Er blickt selbstzufrieden lächelnd auf den Betrachter mit aufgerissenen Augen. Ein Bild zeigt einen munteren Stammtisch. Die Sprache ist kleinbürgerliche Umgangssprache. Als Hausbesitzer, versteht sich, hat Bliemchen Hausordnungsbarregrafen. Barregraf 1: Preißen finden bei mir gee Untergomm'! Es dhut mer leid. Barregraf 2: Ähmdso desgleichen Hunde sein nich gerne gesehn, indem weil zwischen die eenzeln Loschiere frieher eftersch Beißerei vorgegomm' is. Der Verfasser beansprucht f ü r sein Werk anscheinend auch Ruhm, Gewinn und Verfasserschutz: Seit April 1883 sein meine ganzen Werke vor unbefugter Dramatesirung durch — „de gute Sitte" geschitzt. Bliemchen. Sein bolid'scher Verein hat es gegen die Tschechen und Magyaren, mit de Breißen aus eener Bichse geschmiert. Seinen Sohn erwischt er mit Eener an Arme, miserabliche Breißengesellschaft. Von seiner Tochter Emma sagt die Lehrerin in der f r a n zösischen Stunde: ist de Eenzige, die noch so abscheilich säkk'sch reden dhäte. Sein Lesepublikum ist auch in der Oberschicht zu suchen: sein Freund ist Dr. Knickebeen, er ist Wagnerverehrer und leistet sich Bayreuth, fährt in die Schweiz und nach Paris, was von den damals reisefreudigsten aller Deutschen, den Sachsen, nicht jeder konnte. Im Text finden wir von mundartnaher U m gangssprache fast nur lautlich komische Wörter allgemeinsprachlicher Geltung, kaum ein Wort aus der unteren und mittleren Schicht: Bemme kennt man dort bis oben hin; S. 13 geningelt,geweint' ergibt sich leicht aus dem Zusammenhang, 103

1931: Gedichte und Prosa-Geschichten in hallischer Mundart von R. Hoyer, auf Blättern zu 10 und 15 Pfennig zu haben in der Papierhandlung Karl Obstfeller. Halle, Alter Markt 24 = H. Reimann, Sächsisch, S. 101.

Ostmitteldeutsch

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was auch sonst die von manchen Vertretern solcher Literatur gebotenen Worterklärungen erspart: änne Hetze Ginder ,ein H a u f e n Kinder'; Brankelei ,Quälerei (in der Schule)'; Schniffel ,dummer Junge'; Sirupsbengel Ladenschwengel'; Dottrich ,Eidotter'; zusammenbamsen ,kochen' (abfällig); Gescheege ,Scheusal'; faule Strunze ,Frau'; Lahtsch ,dünner Kaifee' (in der Gegenwart kann man Bliemchenkaffee hören); Fengfuchser ,Pfennigfuchser, Geizhals'. Aber lange Strecken des Textes sind ohne solche sächsische Wortgeographie. Ausdrücklich gegen „die verlogenen, seichten, wertlosen Bliemchendichtungen" bringt B. Barthel, Im de Bastei rim (c. 1935), viele Anmerkungen als Worterklärungen. Es ist Prosa von Dorforiginalen, Märchen von der Buschmutter, Kinderfastnacht, Weihnachtslieder: nach der Bescherung öffnen die Kinder die Fenster: Ruperch, Ruperch, Fladerwisch, komm da rein und lader (verhaue) mich. Die erste wissenschaftliche Wertung ostmitteldeutschen Wortschatzes erlebt das Schlesische, und zwar der Hochliteratur, mit einer Wittenberger Dissertation von 1705: Christian Meissner, Dissertatio exhibens Silesiam loquentem (Schles. Wb. 8). Seit Opitz strebt die Dichtung über landschaftliche Wortgeographie hinaus 105 . Höchste literarische Würde gewinnt die Mundart durch die sprachlich revolutionäre Dichtung Gerhart Hauptmanns De Waber 1892. Der Naturalismus und sein Drama, Tragödie und Komödie, spricht in genialer Mundartdichtung die Sprache der Wirklichkeit und poetischen Wahrheit. Was der Vater, der wohlsituierte Hotelier in Hirschberg, von Großvaters Zeiten und dem Weberaufstand gegen die Industrialisierung vor und im Jahre 1848 erzählt, berichtet das D r a m a in Hirschberger Mundart, der Grundmundart dort ganz unten. Die Schauspieler und das Theaterpublikum in Berlin können nicht alles Wort f ü r Wort verstanden haben. H a u p t m a n n läßt De Waber von einem Gymnasiallehrer in Hirschberg in allgemeiner verständliches Schlesisch umsetzen. Noch im selben Jahre 1892 sind es dann Die Weber. Das von einem Intellektuellen 1848 gedichtete Weberlied aber war im Zuge der politischen und sozialen Revolution von damals von vorneherein hochdeutsch. Es sollte ja überall, auch weit draußen, verstanden werden, wie ja dann Fuhrmann Henschel, Rose Berndt, der Biberpelz, Schluck und Jau.

104

Rückseite der 3. Auflage. Dort folgen Anzeigen von weiteren Werken mit größerer Auflage: Bliemdien in der Schweiz 7. A ; in Paris 6. A.; in Bayreuth 9. A.

105

H . Henne, Hochsprache und Mundart im schlesischen Barock, Köln-Graz 1966.

WALTHER

MITZKA

Niederdeutsch I. Niederdeutsch

als

Hochsprache

Kennwort des Niederdeutschen ist Harke gegen mittel- und oberdeutsch Rechen. Sie sind B a u e r n w ö r t e r , uns in der aus diesem Beruf ererbten Urbeschäftigung bis in die Oberschicht bei Gartenarbeit jedem mit dem Gerät vertraut. Die mundartlichen und umgangssprachlichen Varianten von ,Harke' reichen ins Niederfränkische bis dicht an Köln heran 1 . Ein b ü r g e r l i c h e s Kennwort, rechtlich in der Oberschicht der urkundenden Landesherrschaft; gebraucht, ist das H a n d w e r k e r w o r t Gilde. Im mittel-oberdeutschen Räume gilt Zunft, das nach dem Ausklingen der niederdeutschen Hochsprache, des Mittelniederdeutschen, in die hochdeutsche Schriftsprache, über die allgemeine Rechtssprache, aufgenommen wird 2 . Andere niederdeutsche Kennwörter nennen wir weiter unten. Das Hochdeutsche des Mittelalters gewann seinen literarischen Ruhm mit der D i c h t e r s p r a c h e des ritterlichen Adels. Die Sprachlandschaft ist zunächst und zumeist durch die Burgen der Fürsten und ihrer ritterlichen Vasallen gesichert. Der unter dieser Hochschicht der Gesellschaft stehende Spielmann sah gewiß sehnsüchtig in den Burghof, jedenfalls herauf zu dieser ihm verschlossenen Welt der herren und vrouwen. Noch im Zeitalter jener staufischen Hochdichtung nach französisch-provenzalisdiem Vorbild gewinnt das Niederdeutsche den Höhenweg seiner Sprachgeltung und seinen eigenen R u h m : nicht in kultivierten Versen f ü r feinhörige Ohren, sondern in klarer P r o s a . D a ging es um das Recht von hoch und niedrig; so im Sachsenspiegel des nichtritterlichen Dienstmannes (Geistlichen) eines Grafen im Anhaltischen, also im noch niedersächsischen Ostfalen, Eikes von Repgow. Dies erste große Denkmal des Mittelniederdeutschen entsteht zwischen 1224—7 und leitet den Siegeszug dieser Hoch- und Schriftsprache Norddeutschlands, noch weiter ausgreifend als das Mittelhochdeutsche des Südens mit spärlicher Nachahmung im niederdeutschen Raum wie vom Fürsten Wizlav von Rügen, bis in die Residenzen und Kaufmannsstädte des nordischen Bereichs aus. Die erste deutsche Weltchronik in Prosa, also in der sach- und fachgemäßen Sprachform f ü r solch Anliegen, ist die Sächsische Weltchronik von 1230. Als Verfasser kommt sehr wohl der Sachsenspiegier in Betracht. 1 2

B. Martin, Teuth. 1 (1924), 186; D W A 14 Nadiharke. E. v. Künßberg, Rechtswortkarten 1. Gilde, 2. Zunft ZMF 11. 1935, S. 242.

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Das Mittelhochdeutsche des Südwestens wurde über das gleichzeitige Westmitteldeutsche seit dem Beginn der Neuzeit, der Renaissance und der Reformation im Ostmitteldeutschen zur neuhochdeutschen Hochsprache mitsamt ihrer Wortgeographie entwickelt. Das M i t t e l n i e d e r d e u t s c h e als H o c h und S c h r i f t s p r a c h e des Nordens erlebt auch eine Umlagerung aus dem ostfälischen Räume nach Lübeck: wie dort aus dem Altstamm in das Neustämmeland. Es wird das H a u p t der Hansa und des Mittelniederdeutschen, auf dem Rande zwischen alt- und neustammlichem Niedersächsisch. Es ist der große Auswandererhafen, von dem aus auch die Kaufleute aus West- und Ostfalen über See nach Osten und N o r d e n segeln. In jenen ostfälischen Anfängen der Sprachgeschichte verfaßt ein Geistlicher die erste mittelniederdeutsche Versdichtung: Eberhard von Gandersheim. Es ist eine seltsame, sogar einzigartige Poesie, mit der schon seit 1216 die ehrgeizige Äbtissin, auch mit eigener, zeitüblicher Urkundenfälschung, die siegreich durchgefochtene Behauptung von der Reichsunmittelbarkeit und kirchlicher Exemption in der Sprache der Laien verteidigen läßt. Es geht um Kaiser- und Herzogsgeschichte mitsamt den hochgeborenen Äbtissinnen 3 ; da fällt in diesem verwaschenen Chronikstil f ü r die Wortgeographie nichts ab. Aber im Wörterverzeichnis der kritischen Ausgabe des S a c h s e n s p i e g e l 4 lockt bei aller Vorsicht (es gibt 200 Handschriften) zunächst bigraft .Begräbnis' zu einem Vergleich mit der Wortatlaskarte der Gegenwart. D a bleibt bei aller Skepsis gegen den zeitlichen Abstand als wortgeographische Wirklichkeit (DWA 4): im Osten des Ostfälischen erstrecken sich nord- und südwestlich von Magdeburg Räume mit nd. bigraft, und zwar innerhalb der deutschen Gesamtfläche nur hier. Der Text ist eher ostfälisch (diktiert) als elbostfälisch wie Eikes Repkowe 5 . Zu harken vergleichen wir wieder jene Harke-FVi6\e\ zu ihr gehört immer noch das Elbostfälische. Das alte Synonym f ü r ,pflügen' eren zeigt sich im Ostfälischen nunmehr nur noch in einem Reliktgebiet um Göttingen ( D W A 14). Der Form söge entspricht Söge ,Mutterschwein' (DWA 7) in den für bigraft genannten ostfälischen Räumen. N u r niederdeutsch ist werder ,Insel' gegen südliches weri 6 . Mit hochdeutschem Anlaut ist im Niederdeutschen aus dem Fränkischen schon im frühen Mittelalter Ziege bezeugt gegen germ. gait, das sich im Emsland noch als get hält, hd. Geiss7. Neben dem T y p hat sich im Brandenburgischen mit dem östlichen Westfalen als niederfränkisches Lehnwort mit gefühlsbetonter Gemination und Vokalkürzung Zicke durchgesetzt. D a r u m sind die czege = zege, zickelin ,junge Ziege' des Sachsenspiegels nicht verwunderlich. In Ostfalen hat heute noch die Gegend um Göttingen zege. Bei Eike fehlt achter, aber hinder war in seiner Heimat schon damals möglich 8 . 3

4 5 8 7 8

L. Wolff, Eberhard von Gandersheim = Altdeutsche Textbibliothek 25; in: Verfasserlexikon 1, 470; Z f d A 64. 1927, S. 307. K. A. Eckardt, Sachsenspiegel. Lehnredbt 1956, dazu Glossar der Wortbedeutungen. E. Rooth, N d . Mitteilungen 11 (1955), 115. Mitzka, PBB 56. 1932, S. 354. K. Bischoff, in: Sachsen und Anhalt 16, 187. K. Rein, in: D t . Wortforschung 1, hg. L . E . S c h m i t t ; bes. S. 232.

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Walther Mitzka

In der zweiten H ä l f t e des 14. J a h r h u n d e r t s w i r d also Lübeck sprachliches Vorbild. H i e r w i r d die Richtung auf eine Einheitssprache hin f ü r R e c h t u n d H a n d e l , vor allem von der K a n z l e i her, verstärkt. Die Sprache der U r k u n d e n , der Hansetage ist Spiegel niederdeutschen Bürgertums, das in den großen Städten dann als Stadtadel sich dem Landadel ebenbürtig f ü h l t . Auch die Z ü n f t e u r k u n d e n in gutem Niederdeutsch. Diese Stände haben im baltendeutschen R a u m k e i n e B a u e r n m u n d a r t unter sich. D o r t w i r d das oberschichtige Mittelniederdeutsch noch bis in das 16. J a h r h u n d e r t hinein gleichermaßen von Landadel u n d Stadtbürger gesprochen. D a n n w i r d auch d o r t das Neuhochdeutsche M o d e u n d Muster. Doch hat gerade die U m g a n g s s p r a c h e von d o r t bis in die Gegenwart besonders zahlreich niederdeutsche Wörter b e w a h r t . Höchsten literarischen R a n g erreicht das Mittelniederdeutsche k u r z vor dem Ausklingen. Wieder ist es Lübeck, w o 1498 R e i n k e d e V o s erscheint, wenn auch nach mittelniederländischem Vorbild. Es geht u m K r i t i k der f ü h r e n d e n Stände. D e r Häher ist im deutschen Reinke der Markward. H e u t e gehört er der pommersdien Wortgeographie an ( D W A 3). Dieser ,Forstwart' sammelt zum Winter Eicheln, u n d im F r ü h j a h r vergißt er manchmal sein Versteck. Jedenfalls hat er damit f ü r jungen Eichenbestand gesorgt. Dieselbe Druckerei, die berühmte mit den drei M o h n k ö p f e n , besorgt ein J a h r später auch die niederdeutsche Ü b e r tragung von Sebastian Brants wiederum sozialkritischem Narrenschypp. Aber ein mittelniederdeutscher Till Eulenspiegel ist nicht erhalten. Überraschend schnell geht es mit dem Mittelniederdeutschen zusammen mit der H a n s a im Zeitalter der Entdeckungen zu Ende. A m längsten hält es sich in Übertragungen der Lutherbibel, nachdem der P o m m e r Bugenhagen zunächst das N e u e Testament in Wittenberg, so nahe a m Niederdeutschen in dysh Sassesche düdesch uth dem höchdüdeschen schlecht u n d recht, so d a ß das Ostmitteldeutsche überall durchscheint, umgesetzt. Die ganze Bibel ist d a n n an 15 Druckorten in 24 Drucken herausgekommen. Bis 1621 tut niederdeutscher Druck den Protestanten dieses Sprachkreises aller Stände mit Bibel, gewiß f ü r die einfachen Leute noch länger mit Predigten, Postillen u n d Gesangbuch, Genüge. Eine Bibel in purreiner Sassischer Sprake besorgte 1596 ein H a m b u r g e r Pastor. Zuerst gingen die s t ä d t i s c h e n K a n z l e i e n zum Neuhochdeutschen über. Diese „Rezeption" befolgten zuerst die S t a d t p a t r i z i e r , dann erst die H a n d w e r k e r . N u n fällt mit dem Aufgeben der niederdeutschen Hochund Schriftsprache die überlandschaftliche Sprachzucht f ü r alle Stände weg: das Plattdeutsch als O r t s - und Kleinlandschaftsidiom bestimmt n u n m e h r allein die etwas weiträumigere Umgangssprache. U n d diese individuell oder sozial variable G r ö ß e kann die Forschung auch in der Wortgeographie nur in vager Wahrscheinlichkeitswertung erfassen. Oberschichtliche Einschätzung des vornehmeren, überhaupt besseren Hochdeutsch vertritt in D o r t m u n d 1550 der Prediger J a k o b Schöpper, der hochdeutsche S y n o n y m e in einem Buch zusammenstellt®, z. B. informare = berichten, erinnern, verständigen, unterrichten, unterweisen. 9

H g . von K. Schulte-Kemminghausen. 1939.

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Das Mittelniederdeutsche ist die kulturelle Schöpfung der norddeutschen S t a d t 10 . In ihrer Hochform wird sie als hansische Geschäftssprache von Lübeck bestimmt. Aber soziologisch gesehen ist sie nicht die dortige V o l k s s p r a c h e , also Mundart mit ihrer Umgangssprache, sondern aus überlandschaftlicher Schrift- und Verhandlungssprache mit der bewußt gelenkten Tendenz zur Einheitssprache geformt. Schriftlich besorgt dies die L ü b e c k e r K a n z l e i . Eine wirkliche Einheit wird nicht erreicht. Dies hat ja auch die heutige Hochsprache nicht geschafft, wobei wir allerdings landschaftliche Wortwahl nicht nur als stilistische Variation begrüßen. Die hansischen Kaufleute wirtschaften in einem niederdeutsch-flandrischen Raum. Da spielt auch der große Handelsplatz ältester Tradition Köln eine gewichtige Rolle. Auch der westfälische Einfluß ist in der sprachlichen Oberschicht sichtbar, so tritt in H a m b u r g wodensdach f ü r M i t t woch' auf, zu westfäl. (euphemistisch umgesetztem) gödensdach. Diesen Weg nahm auch niederl. of ,oder* über Lübeck sogar bis nach Riga. Das hochsprachliche Mittelniederdeutsch mied, wie es seinerseits die klassische Hochstufe des Mittelhochdeutschen getan hat, die Wörter der n i e d e r e n Volkss c h i c h t e n . Manchmal haben, wie es der Fürst von Rügen Wizlaw mit der Verwendung mittelhochdeutscher Sprache in seinen Minneliedern wohl auf Anregung seiner Braunschweigischen Gemahlin tat, auch Kaufleute das musische Spiel jener höchsten Stände der südlichen Literaturlandschaft mitgemacht. Um 1280 sind de koplude, de dar ridderschop wolden oven, aus Goslar, Hildesheim, Quedlinburg, Halberstadt und Braunschweig mit seiner minnesingerischen H o f gesellschaft zum Gralsfest nach Magdeburg geritten. D a haben sie wie auf ihren Hansetagen gewiß nicht die Wörter des gemeinen mannes gesprochen, eher eine gesiebtere als es ihre gewöhnliche, auch schon gehobene Umgangssprache war. Die Magdeburger Mystikerin Mechtild sagt von festlicher Kirchensprache hovesprache, die man in dirre kuchin nit vernimet11. Hochdeutsch, also Ostmitteldeutsch, ist in Halle um 1477 die Umgangs- und die Geschäftssprache der höheren Stände, also vor allem der Kaufleute. Ein Ratsmitglied schreibt von der Vorladung der Bürger (gemeinheit) ins Rathaus (in die dörntzen), daß nicht der Bürgermeister, sondern derjenige von den Ratsherren das Wort führte, der wüste und künde wol reden uff sechsischl2, also niederdeutsch. Von heutiger Wortgeographie auf das Mittelniederdeutsche 1 ' mit der Wortatlaskarte .Enterich' zurückbezogen ist das älteste Synonym dräke (engl, drake), westfries. (j)erke, hd. Enterich aus anut ,Ente' + drake. Das gemein-westgermanische dräke ist heute wesentlich ostfälisch, in Nordwestfalen wie im angrenzenden Gebiet des Niederländischen durch mnd. wedik verdrängt. Dies hat, nach dem Mittelniederländischen zu urteilen, zunächst den wilden Enterich be10

L. E. Schmitt, PBB 66. 1942, S. 217.

11

K. Bischoff, in: Deutschunterricht 2. 1950, S. 75.

13

A . Socin, Schriftsprache und D i a l e k t e im Deutschen nach Zeugnissen alter und neuer Zeit. 1888, 176.

13

W. Foerste, A u f r i ß der deutschen Philologie, hg. W. Stammler, Bd. I 2 , Sp. 1796.

K. Bischoff, in: Deutschunterricht 2. 1950, S. 74.

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Mitzka

deutet. Heute reicht das Wort von Westfalen her bis zu einer Linie BremenBielefeld. Der Wortraum von der Südersee bis zur Weser ist schon für das 12. Jahrhundert anzusetzen, weil die westfälischen Siedler es damals nach Lauenburg und Mecklenburg mitgebracht haben. Dazu gehört Wennerk, Wendrich in der Altmark und östlich von Leipzig, wohin es Niederländer aus Limburg, Brabant und Utredit getragen haben. Das Nordniedersächsische hängt mit der niederländischen Küste zusammen: von Seeland bis Sylt ist Dräke durch Ward (Woord, Woerd) verdrängt worden. Es wird mit as. ward ,Herrscher' verglichen. Selber möchten wir es wie Dräke mit der (tiefen) Vogelstimme gleichsetzen. Nordniedersächsisch Wort reicht auf der Siedelbahn der niederdeutschen Ostbewegung an der Küste entlang bis östlich der Weichsel, in Pommern fast ausgestorben. Das Brandenburgische bezog im 12. Jahrhundert erpel aus Flandern mit seinen Bauernsiedlern, nach denen der Fläming benannt ist. Über Berlin gelangt Erpel ins Neuhochdeutsche. Wir selber meinen von Erlebnissen an und auf den Seen Ostdeutschlands und den Haffen mit ihrer ungeheuren Massen von Wildenten und den gesondert fliegenden Scharen der überzähligen männlichen Enten als begehrte Jagdbeute: aus der Jägersprache, also in O b e r s c h i c h t und in der sich zugesellenden M i t t e l s c h i c h t , im Typ allesamt wohlhabend.

II. Die

Privatisierung

Die Wortgeographie der Sprachbezeichnungen wird in gelehrter Sphäre geregelt. Der Ausdruck plattdeutsch löst den der mittelniederdeutschen Schriftsprache vertrauten sassisch ab. Dieser großlandschaftliche Begriff für das Niedersächsische des Mittelalters war insofern unscharf, als er Nordalbingien ein- oder ausschloß. Die gelehrten Verteidiger des auf Mundart und die darüberliegende Umgangssprache schrumpfenden Niederdeutsch verwenden gerade sassisch als Kernwort für die gute, alte Art des Sprechens, Denkens und stolzen Stammesgefühls gern. Platt kommt zuerst in der niederländischen Übersetzung des Neuen Testaments (Delft 1524) auf, im Sinne von vertrauter Sprache: in goede platten duytsche. Sonst hatte es ohne diesen Gemütswert den rationalen Sinn wie im Neuniederländischen von verständlich, deutlich'14. Im deutschen Bereich taucht platt seit 1656 in Pommern auf. Die Fachwissenschaft hat diesen Ausdruck nicht übernommen, auch ist er kaum literarisch h o c h d e u t s c h . Niederdeutsch:hochdeutsch erscheinen im 15. Jahrhundert: das letztere 1470 in Westfalen, dann in Straßburg. Niederdeutsch15 wird zuerst in einer Bremer Urkunde sichtbar: in vulgari Almannico basso. Noch ist das Deutsche in Nord, Mitte, Süd gleichwertig, in einem Exerzitium puerorum grammaticale: Teutonicum iterum diversificatur per altum, hassum et medium. Die Wortschöpfung geht vom Niederländischen aus. Die Vorrede eines holländischen Gebetbuches 11

Kluge-Mitzka, Etymologisches Wörterbuch, unter Plattdeutsch.

15

A. Socin, a. a. O., S. 173 ff.

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von 1457 erklärt: dese ghetoghen van den hoghen duutsche int nedcrduutsche16. Sprachwissenschaftliches F a c h w o r t wird niederdeutsch seit Schottel 1641. Der Ausdruck niederländisch auch für ,niedersächsisch' bleibt noch eine Weile, so 1519 in der Übertragung von Brants Narrenschiff: uth dem hochdutzschem in sassescbe effte nedderlendische sprake gesattet. Das Wort platt ist nunmehr in der Mundart heimisch; pladdietsch auch oder in Richtung Umgangssprache angehoben. Soziale Abstufung, eine M e h r s c h i c h t i g k e i t innerhalb auch des Niederdeutschen, die schon für das Mittelniederdeutsche vorauszusetzen ist, beobachtet im ostfälischen Raum der Magdeburger Pfarrer Torquatus an einer vielzitierten Stelle seiner Annalen um 1570 1 7 : sermo des vulgus, plebejorum et rusticorum sermo. Also das niedere Volk in der Stadt und die übliche Definition als Bauernsprache. Die Gelehrten und die Kaufleute, also die O b e r s c h i c h t , können nur noch mit größter Schwierigkeit sächsisch schreiben und reden, sowie diejenigen mit größter Verachtung anhören, die es öffentlich oder privat sprechen. In Halle wie in andern Städten hätte es schon früher aufgehört. Dazu kann das Datum für Halle angeführt werden: letztes niederdeutsches Schriftstück 1417. Torquatus beobachtet die Umgangssprache der Diözesen Magdeburg und Halberstadt: zwar werde dort das Niedersächsische angewandt, aber weniger barbarisch als im Norden und im Westen. In Magdeburg sei es literarisch gebraucht worden, in Halle gab es pure Saxonice loquentes. Dort führt T. den Einzug des Hochdeutschen auf die Erzbischöfe des 15. Jahrhunderts zurück. Sie hätten hochdeutsch redende Leute in Dienst genommen. Diese Hofleute seien Vorbild geworden, so habe man sich von der barbarischen Muttersprache abgewandt. Auch die Universitäten Wittenberg und Leipzig hätten die niederdeutschen Studenten umgestimmt. Sächsisch bedeutete 1607, im Frankfurter Stadtarchiv von einer Stadt mit ihrer gerechtigkeit gesagt, die zunächst und zumeist meißnisch, zuletzt obersächsisch genannte Schriftsprache18. Für das Niederdeutsche interessierte sich der aus der Pfalz nach Rostock eingewanderte Professor Chytraeus. Zu seinem Nomenciator Latino-Saxonicus stimmen noch heute im Vergleich mit dem Wortatlas u. a. scharnewewer ,Mistkäfer'; eempte ,Ameise', hegester ,Elster'; risen .veredeln' grenzt bei Rostock mit echtmaken19. Der in Rostock geborene Lauremberg geißelt in seinen Veer Schertzgedichten von 1652 die Nachäffung des Französischen. In jungen Jahren war er an der Universität seiner Heimatstadt Professor der Dichtkunst gewesen. Nun nennt er das Hochdeutsche läppisch und irreführend. Man wisse schier 18

Kluge-Mitzka unter niederdeutsch.

17

Ubersetzt von Anneliese Bretschneider, Heliandheimat 1934, 259 = Deutsche Dialektgeographie 30.

18

PBB 4. 1877, S. 11, A. 2.

19

G. de Smet, in: Z M F 26. 1958, S. 173.

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Walther Mitzka

nicht, ob es welsch oder deutsch sei20. In seinen Straff gedickten sagte er von seiner niederdeutschen Muttersprache: ick spreke alss mines groetvaders öldermöme sprach, also wie seines Großvaters Großmutter. Die Mundarten kennzeichnet er mit volkstümlicher Wortwahl de eine ruspert uth der gorgelstrate (dies Wort sieht aber doch nach persönlicher Wortschöpfung aus), de ander hermiimmelt und knüllet. U n d zum Unterschied von hoch- und niederdeutsch: ewre Mutter: unse Möme; ihr drincket auss dem Becher; wy drincken uth dem stoe; de plateisen (das sind bei ihm hochdeutsch die schmackhaften Schollen, aber diese Seefische kennt er aus seiner süddeutschen Heimat ja nicht) bi juw smecken alss unse Skullen. Sein Niederdeutsch braucht nicht so prüde wie das Hochdeutsche zu sein: ihr sitzet auff Arssbacken, wy sitten up de billen. Es ist immer wieder die Rostocker Universität, die sich des Niederdeutschen annimmt. 1704 legt ihr B. Raupach aus Tondern eine Abhandlung vor: Von unbilliger Verachtung der Plat-Teutschen Sprache. D a stellt er eine lange Reihe von niederdeutschen Wörtern solche des Hochdeutschen einander gegenüber: saxonice: misnice. Die ersteren solle man doch nicht in ihrer Kraft und Würde unterschätzen. D a erinnern wir uns, daß Leibniz 21 in niederdeutscher Umwelt in seinen Unvorgreiflichen Gedanken aufrief, die Landworte des gemeinen Mannes zu sammeln. Doch hat hernach der Pommer Adelung in seinem Wörterbuch des Hochdeutschen so manches „Provinzialwort" als pöbelhaft zensiert. U n d zum Thema „Wörter und Sachen": Hosenträger tragen nur gemeine Leute. In der Hochdichtung dieser Jahrhunderte, dem pompösen Barock der H o f kreise und der dorthinauf devot blickenden bürgerlichen Poeten, treten platt sprechende Bauern mit ihrem Gesinde und sozial tief stehende städtische Leute so wie biedere H a n d w e r k e r auf. Dabei ist n i c h t gleich an k o m i s c h e Wirkung gedacht. Die Schrift- und Hochsprache der obersten Klasse ist ungeschickt, wenn das einfache Leben und Denken der kleinen Leute da unten dargestellt werden soll. U n d wenn dann die lächerliche Rolle des Plattdeutschen immer mehr dort oben zur literarischen Mode wird, so können wir heute sagen, daß die Wortwahl uns recht witzlos vorkommen kann. Ein frühes Beispiel ansprechender Absicht ist vom kurfürstlichen H o f e in Berlin 1589 zu nennen. D a führen Prinzen und Prinzessinnen ein Weihnachtsspiel auf 2 2 . Die niederdeutschen Reden der Hirten sind gar nicht komisch. Anders ist es wenig später bei Ayrer, der ein lateinisches D r a m a von Frischlin ins Hochdeutsche überträgt, wo ein K a u f m a n n französisch parliert und ein anderer Mann seine fremde Herkunft mit niederdeutscher Rede verrät. Ähnlich läßt Heinrich Julius von Braunschweig in seinen Dramen Bauern aus dem Süden und aus seinem vertrauteren Norden auftreten. D a n n pflegt besonders die Hamburger Bühne das Niederdeutsche, zuletzt und heute in mundartlicher und umgangssprachlicher Komödie, aber auch 20

21

22

A. Socin, a . a . O . S. 311 K. Schulte-Kemminghausen, Mundart und Hochsprache in Norddeutschland 1939, 20. Kire Kaiser, Mundart und Schriftsprache. Versuch einer Wesensbestimmung in der Zeit zwischen Leibniz und Gottsched. 1930. O. Behaghel, Schriftsprache und Mundart 1896, 9.

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in hohem Stil e r n s t e r Dichtung. Die Wortwahl muß sich immer seither für breite Publikumswirkung selbstredend an hochsprachliche Nähe und möglichst gemeinsamen Besitz an "Wortschatz halten. Dies gilt auch für die Familiendichtung der Carmina nuptialia der Zeit bis ins 18. Jahrhundert mit dem niederdeutschen Juwel, der Anke van Thurau. Auch in den Gratulationsgedichten an Fürsten oder zur Verleihung der Magisterwürde, wie in Ostfalen 166223, stellen wir keine wortgeographischen Ansprüche. Nur kann diese Literatur die Wortgeographie überhaupt und sonst soziologisch werten helfen. Zur ernsthaften Anwendung des ostpreußischen Niederdeutsch für r e a l i s t i s c h e Verteidigung der gesellschaftlichen Wahrhaftigkeit im verfremdenden Pietismus des sowieso überstilisierten Rokoko: in dem zeitkritischen Lustspiel der G o t t s c h e d i n „Die Pietisterei im Fischbeinrock" von 1736 spricht eine Fischersfrau ein unverblümtes Platt. Den Magister Scheinfromm redet sie mit du verflookter Hund! an. Was sie auch sonst den Pietisten der feinen Gesellschaft da oben ins Gesicht sagt, hat seiner literarischen Gattin, der Arzttochter aus Danzig, nach Ausweis der dialektgeographischen Merkmale der große Verfechter des vornehmen Hochdeutsch, der aus Juditten bei Königsberg stammende Professor Gottsched, diktiert 24 . Das klassische Mittelniederdeutsch wollte in seinen Idyllen Joh. Heinrich Voß als Sittengemälde niedersächsischer Landleute erneuern. Das große Vorbild ist der Grieche Theokrit. Dies literarisch ernstgemeinte Plattdeutsch konstruierte V o s s nach altem Muster und den Mundarten ringsum. Diese Verse suchen die Liebe zum kleinen Dasein, das naive Gefühl in der Mundart. Da fehlt natürlich jedes derbe Wort. In der Mitte des 19. Jahrhunderts ist es dann K l a u s G r o t h , dessen Niederdeutsch bei den Zeitgenossen einen hohen Ruhm erlebt. Sein Quickborn bringt es unter seinen Augen zu 24 Auflagen. Sein Platt soll über der lokalen, von ihm heftig abgelehnten landessprak stehen. Der Lieblingsdichter des Bürgertums des literarischen Realismus ist F r i t z R e u t e r . Er will in seiner Prosa nicht unverfälschte Mundart idealisieren. Größten Publikumserfolg erreichte seine Mischsprache der kleinen Städte Mecklenburgs. Sein Unkel Braesig will hochdeutsch sprechen. Es ist die Umgangssprache Mecklenburgs, nämlich Missingsch, jenes mit Platt gemischte Hochdeutsch. Der Sprecher kann es durchaus für Hochdeutsch halten 25 . Dies Wort ist Weiterbildung von mißenscb ,meißnisch'. Diese Bezeichnung der ostmitteldeutsdien Literatursprache wurde zwar dann auch im niederdeutschen Bereich in bürgerlichen Kreisen verwendet, aber zunächst nur mit unzureichendem Erfolg als Mischsprache verwirklicht. Die Fürsprecher des Niederdeutschen verspotten diese Versuche und spielen an das Mischmetall Messing an. Zum Rektoratsantritt, wieder in Rostock, wird dem Professor Mantzel ein Gratulir-Gedicht in Messinger Sprache überreicht. Dieser 23

E. Rooth, in: Niederdeutsche Mitteilungen 1. 1945, S. 29.

24

Mitzka, Das Niederdeutsche Gottscheds und der Gottschedin. In: N d . Jb. 52. 1926, S. 56.

25

H. Teudiert. PBB (H) Sonderband für E. Karg-Gasterstädt 1961, 245; Mecklenburgisches Wörterbuch 4, 1212.

19

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erklärt sie später zur dritten Landessprache. Solche gemischten Umgangssprachen sind schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts für Ostfriesland, Magdeburg und Berlin nachgewiesen26. Wieder in Rostock, aber nun als leidenschaftlicher G e g n e r d e r M u n d a r t , tritt Dr. Ludolf Wienbarg in einem Vortrage auf: Uber die Unvollkommenheit der plattdeutschen Sprache und die zu wünschende Verbannung dieser Mundart, wenigstens aus den Cirkeln gebildet sein wollender Leute. Er fordert, das Plattdeutsch müsse auch als U m g a n g s s p r a c h e durch Hochdeutsch ersetzt werden, und zwar vom demokratischen Standpunkt aus. 1834 erscheint von ihm die Streitschrift Soll die plattdeutsche Sprache gepflegt oder ausgerottet werden? Gegen Ersteres und für Letzteres beantwortet. Nun, die gebildeten Leute lesen die heutigen Schnurren auch ohnedies nicht. Das Lesepublikum interessiert uns soziologisch. Es sind Kleinbürger, die sich die billigen Heftchen mit den Anekdoten von den lokalen komischen Originalen und andern Ulkgeschichten in Vers und Prosa kaufen. Wieweit im Raum und wieweit in sozialer Gliederung und Schichtung wird in d e r G e g e n w a r t d a s N i e d e r s ä c h s i s c h e ü b e r h a u p t n o c h g e s p r o c h e n ? Dieser Frage ging der Leiter des 1935 in Göttingen begründeten Niedersächsischen Wörterbuchs, H. Janßen 27 , vor dem zweiten Weltkriege mit einem Fragebogen nach, veröffentlicht: Leben und Macht in Niedersachsen (Gau Osthannover, Gau Südhannover, Braunschweig) 1943. Gesucht war der jeweilige Prozentsatz des Gebrauchs des Niedersächsischen im Jahre 1939 in der damaligen Provinz Hannover mit Ostfriesland, in den Ländern Braunschweig, Oldenburg, Bremen, Schaumburg-Lippe. Den stärksten Grad bis an 100°/o zeigt die größere Nordhälfte räumlich ziemlich geschlossen. Eingesprenkelt sind Landstreifen am Jadebusen, an der Niederweser von Bremen abwärts, siedlungsgemäß und soziographisch entsprechend an der Niederelbe von Harburg (also Hamburg) abwärts weisen die nächstniedrigere Stufe auf, bis zur Hälfte herab. Dazu stellen sich Einschlüsse um Oldenburg-Stadt, Cloppenburg, Ülzen und Osnabrück. Ein schmaler Gürtel dieses Grades trennt das Nordgebiet mit der stärksten und immer noch mehrheitlichen Intensität von dem auch recht geschlossenen Südosten schwächeren Grades in weiter Fläche mit den Städten Hannover, Braunschweig, Hameln, Göttingen, Goslar und Wolfsburg. Vergleichen wir mit diesen Flächennuancen die Verbreitungskarten der Wortgeographie, so können wir eine vertikale Wertung der Schichtung insofern nicht vornehmen, als die Gewährsleute sehr wohl ein Mundart- oder Umgangswort, das von der Hochsprache abweicht, melden, aber wie groß der Prozentsatz des Gebrauches jener unterschichtlichen Wörter jedesmal Ort für Ort ist, kommt dabei nicht heraus. Das zu erfragen, wenn auch nur durch Fragebogen, ist schon für einen Ort nur mit Repräsentativmethode problematisch. Der Aufwand ist doch utopisch. Die Wortkarte braucht aber für unsere Fragestellung nicht zu versagen, wie die 20

C . Borchling im 37. Beiheft zur Zsd. A. D t . Sprachvereins 1916.

27

Vorher Doktorand und Assistent am Deutschen Sprachatlas. E r ist im April gefallen.

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Forschung beweist. So gilt an der niederländischen Grenze von der Schriftsprache von drüben her van't Jahr gegen unterschichtliches und wortgeographisch angrenzendes mit Jahr2*. Als Ursachen der unterschiedlichen Sprachverhältnisse in jenem Großraum erörtert Janßen: äußere Kräfte, nämlich wirtschaftlich-soziale Lage, landwirtschaftliche Bevölkerung, familieneigene Arbeitskräfte, Großbetriebe, Verkehrslage. — Die inneren Beweggründe für den Sprachwandel: Vorrang des Hochdeutschen, Wille zum sozialen Aufstieg, der ländliche Rückständigkeitskomplex, Landflucht (auch in der Kultur), die Mode, Einheirat Mundartfremder. — Sprachbiologische Sonderfragen zu Mundart und Hochsprache: Stände, Bauerntum, Lößgebiete, Handwerker, Industriearbeiter. — Diese letzte Gruppe spielt seit langem eine wichtige Rolle, wo aber andrerseits die Mundart in weiten Strichen ein gesichertes Dasein aufweist 29 . Im Anschluß an das Ostniederdeutsche hat dies eine Reihe von s l a w i s c h e n L e h n w ö r t e r n übernommen, von da aus wie Grenze, Jauche, Kummet, Peitsche, Quark weiter ins Hochdeutsche überhaupt. Davon ist weiter unten zum Lehnwortaustausch mit den Nachbarn die Rede. Aus den baltischen Sprachen stammen niederpreuß. Kaddik (von daher auch baltendeutsch) .Wacholder' aus dem Altpreußischen; so auch Marjell ,Mädchen'; bei .wenigstens' 80 , Kujel ,Zuchteber', Zerm ,Totenmahl' 31 , Duck ,Iltis' (Wortatlas 13: Samland). Auch aus dem Litauischen bewahrt das Niederpreußische derartige Relikte 32 . Eine besondere Eigenart in Erhaltung niedersächsischen Wortgutes in der U m g a n g s s p r a c h e zeigt das B a l t e n d e u t s c h e . Und zwar stammt es aus wesentlich oberschichtlichem Niederdeutsch des Mittelalters, wie es in der Familie bis ins 18. Jahrhundert gesprochen wurde. Das letzte gedruckte Denkmal ist ein Hochzeitsgedicht von 1703. Die sprachliche Tradition dieser intensiv oberschichtlichen, über See vom Auswandererhafen der Zeit ausgehenden Siedelbewegung Lübeck ist mittelniederdeutsch, mit hochsprachlicher Tendenz. Der Bauer ist nicht dabei. Er wandert im Mittelalter mit Vieh und Wagen über Land bis Ostpreußen. Dahinter sperrt das noch lange heidnische Litauen den Landweg. Nach dem Übergang zum Neuhochdeutschen will man dort im mündlichen und schriftlichen Verkehr durchaus mustergültig sein. Der vertrauliche landsmannschaftliche Verkehrston in den beiden vom oberen her entschieden und scharf abgegrenzten Ständen des Adels und des Bürgers 28

G. Stötzel, Die Bezeichnungen zeitlicher Nähe in der deutschen Wortgeographie von ,dies Jahr' und ,voriges Jahr'. 1963, S. 59.

29

H . Janßen, Leben und Macht der Mundart in Niedersachsen. 1943 — 1963 ff. ergaben Nachforschungen für Hamburg, Fehmarn und Schleswig-Holstein (Kamp und Lindow, Das Plattdeutsche in Schleswig-Holstein 1967) rund 70 %> Plattdeutschsprecher, in sich verschieden stark gruppiert.

30

W . Ziesemer, Preußisches Wörterbuch. E. Riemann, in: N d . Jb. 88. 1965, S. 79.

31 32

19»

Riemann, S. 105.

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mitsamt dem „Literaten" rettete doch eine recht gemütliche Portion von guten alten Wörtern aus niedersächsischer Erbschaft. Der Bremer Bischof gründet 1202 die Kaufmannsstadt Riga. Niederdeutsche Bürger siedeln in dem damals dänischen Estland in Reval und Dorpat. Der Deutsche Schwertorden, hernach im Deutschen Orden aufgegangen, holt Ritter ins flache Land der späteren Kurland, Livland und Estland. Zur Wortgeographie der einheimischen Bezeichnungen für die Sprecharten dort: baltisches Deutsch, Baltendeutsch sind gelehrte Wörter, die die Germanistik von außen hereingetragen hat. Dort spricht man eben wie gesagt g u t e s D e u t s c h . Beim Zuhören ist es von besonderem Reiz, etwa bei den Mitauer Gymnasiasten, eine ältere, uns kostbare Stufe in landsch zu beobachten. Da fehlt auch wie nicht nur bei jenen Deutschbalten vom Lande, also von adliger Umgangssprache bestimmt, der Umlaut 35 . Dieser bleibt also auch sonst in dieser Schicht von Nichtganzoben weg, durchgehend aber ganz unten bei den dortzulande Kleindeutsche genannten Deutschen. Gewöhnlich sind es heruntergekommene Leute in der Stadt. Mit diesen Knoten gibt man sich nicht ab. Aber dem wißbegierigen Dialektgeographen waren sie großartige Partner: gerade sie bewahren in ihrem sozial wirklich abgesunkenen Deutsch oben längst ausgetilgtes Baltendeutsch, und dabei unser gesuchtes N i e d e r d e u t s c h . Aber kleindeutsch sind auch die braven Handwerker. 1918 gebrauchten solche Kleindeutschen in Libau im unbefangenen Gespräch mit dem Dialektfachmann aus dem Reich für Dachfirst Forst und ebensogut niederdeutsches Relikt für den Früstückskasten aus Holz Pudel. Dafür sagen Adel und Bürger verhochdeutscht Paudel. Aber die niederdeutsche Lautstufe kann mit dem Synonym selbst aus dem alten Niederdeutsch in allen Ständen bis oben hinauf u m g a n g s s p r a c h l i c h erhalten sein. Ausdrücklich aus dem Plattdeutschen leitet der aus Thüringen zugewanderte Hupel in seinem Idiotikon der deutschen Sprache von Lief- und Esthland 1795 Bumbeere ,Birne' ab. Allerdings als p ö b e l h a f t , also immerhin deutsch. Aus dem Estnischen übernimmt das Baltendeutsche u. a. Fe?wer(stange), mit verhochdeutschendem Vokalismus Fiemer(Stange) ,Gabeldeichsel'; Killo ,Sprotte = Strömling'; vom Exporthafen Reval im baltendeutschen Raum allgemein üblich: Halge .Holzscheit'; Kalzen ,Fetzen, Lumpen'; Ranken ,Kummethölzer'; Rispe ,Wimper'. Es gibt noch eine merkwürdige Quelle: die rheinpfälzische Bauernsiedlung des späten 18. Jahrhunderts südöstlich von Riga: Hirschenhof und Helfreichshof 36 . Diese Bauern übernehmen manches aus dem Baltendeutschen. Sie können sogar Wörter, die dort ober- und mittelschichtig aufgegeben sind, bewahren, so Denkelbuch ,Notizbuch', Feibel ,e. Pferdekrankheit'. Kubbel ,Bottich'. 33

Schuhe-Kemminghausen, a. a. O. S. 99.

34

Mitzka, Studien zum baltischen Deutsch. 1923 = Deutsche Dialektgeographie 17.

35

Höchste Oberschicht ist mit Umlaut ländisch in dem Kapitel über das Baltikum weiter unten (4. Kap.) von A. Schönfeldt aus Riga, dem Leiter der Sammlung zu einem Baltendeutschen Wörterbuch an der Universität Kiel.

36

Mitzka, in: ZfdMundarten 18 (1923) 53 =

Festschr. F. Wrede; Teuthonista 12, 127.

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Aus der langen Reihe von niederdeutschen Relikten der baltendeutschen Umgangssprache greifen wir noch weitere heraus 37 : Pinnagel ,Nietnagel', fliddricb ,unordentlich', schilpern (Wasser) .verschütten', wonach der Latrinenwärter in dortiger Wortschöpfung Schilprian heißt, Plpenstab ,Faßdaube', grienen ,weinen', beschwiemen ,ohnmächtig werden', Tiene ,Mehlfaß', Rietzchen ,Pilz' (nicht nur der Reizker), beschworken .bewölkt', Klunkermoos ,Mehlmus', Hubel ,Hobel', Teerpudel .Schmierfink', eig. ,Teerkübel', aber mit der mit der hölzernen Wagenachse abgekommenen Sache als Wort in dieser Bedeutung vergangen. Die Fachsprache der Bäcker zeigt nur gelegentlich niederdeutsche Lautstufe wie Kneder ,der Geselle', der dafür sorgt, daß der Teig nicht gärt. Mit kneten bezeichnet man dort nur das Bearbeiten des Wässerkringels. Zu solcher Wortgeographie ist zu bedenken, daß die Handwerksgesellen auch im Mutterland weit herumkommen. Von dem reichhaltigen Erbe niederdeutschen Wortgutes im Neuhochdeutschen wie Backe, Bank, Laken, fett, von der Küste und See her zu schweigen, brauchen wir auch hier nicht weiter zu handeln. Noch Adelung brandmarkt als niederdeutsch Ärger, beschwichtigen, binnen, blank, düster, flau, flott, prunken, sacht, schmuck, schnippisch, verblüffen u. a.m., d. i. mit jenem baltendeutschen Terminus der Oberschicht: kleindeutsch. Zehn Jahre vorher hatte der Pastor G. von Bergmann in seiner Sammlung Livländischer Provinzialwörter bumbeeren ohne weitere Bemerkung gebracht, also jedenfalls als in deutscher Sprache dortzulande lebendig. Der Rigaer Arzt W. von Gutzeit, Wörterschatz 1859, verweist auf diese beiden Vorgänger, sagt aber nicht, ob er es noch kennt. 1918 fand es sich nur in der untersten Schicht vor, bei zweisprachigen Kleindeutschen. Sie meinten aber, es sei lettisch und nannten dazu lett. bumbehri. Ob das Wort in deutscher Lautgestalt wirklich lebte, ist aus der Suggestivfrage des Beobachters nicht gesichert. Andern Wörtern hat solche Erhaltung in der nichtdeutschen Landessprache nicht geholfen. 1859 kennt Gutzeit Dwehle ,Handtuch' nicht mehr. Es komme, erklärte er zutreffend, nicht aus dem Lettischen, sondern aus dem Plattdeutschen. Er hat es bei Bergmann 1785 gelesen, Hupel hat es nicht mehr. Aus der, wie meist in unserer Erörterung von Grundsatzfragen, Fülle von Wortzeugnissen 39 nennen wir auch hier nur einige Beispiele. Kleindeutsch sind da weiter Keksche ,Köchin'; Renne ,Rinne', Säge ,Säge', Dacht,Docht'. Das Lettische hat solche niederdeutsche Vorstufe in seinen Lehnwörtern (wieder in der offiziellen Rechtschreibung wie vorhin bumbehri) Keksche; Renne-, Sahge; Gehbelis .Giebel'; Ruhts ,Fensterscheibe' = nd. rüte, hd. Raute; Leeste .Schusterleisten'; Speegelis .Spiegel'. Zweisprachigkeit trägt da gewiß zur Erhaltung alten baltendeutschen Wortgutes bei.

37

M i t z k a , Studien zum baltischen Deutsch a. a. O . , aber künftig nach abgeschlossener Sammlung aus literarischer Vergangenheit und mündlicher G e g e n w a r t A . Schönfeldt in Kiel, vgl. oben A n m . 3 5 .

38

O . Masing, Aus der Backstube. I n : Abhdlgen. d. Herdergesellschaft zu R i g a , Bd. 4, N r . 4 ( 1 9 3 1 ) , S. 2 3 .

38

V. K i p a r s k y , Fremdes im Baltendeutsch. Helsinki 1 9 3 6 , behandelt auch schwedische, polnische, russische, jiddische, holländische L e h n w ö r t e r .

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III. Natur und

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Raummotive

Siedlung

An die zu Anfang genannten niederdeutschen Kennwörter Harke und Gilde schließen wir auf der breiten Siedelbahn von den Altstämmen nach Osten weitere an. ledig ,leer' (DWA 4) hat im Hochdeutschen Bedeutungsverengung erfahren. Friesisch lös u. ä. hat das Nordfriesische und ist in Ostfriesland erhalten geblieben, wozu sich südliche Nachbarschaft angeschlossen hat. Ganter (DWA 7) ist mit seinen Lautformen ein niederdeutsches Kennwort. Flieder ,Holunder' als Erbe niederländischer (flämisch-brabantischer) Siedler siegt im großen Teil Westfalens und im gesamten Ostniederdeutschen. Sahne aus solcher niederländischer Siedlung ist Schriftdeutsch geworden. Die Wortkarte ,Elster' zeigt Heister, Häster vom Nordniedersächsischen her an der Küste entlang in breitem Streifen bis Ostpreußen; Häkster von Ostfriesland über die Gegend Cloppenburg-Vechta, dann in Ostpreußen vom Frischen Haff her nacli Süden. Von den Niederlanden-Westfalen reicht kakeln ,gackern* bis in den Westen des Niederpreußischen. Der Typ Gössel ,junge Gans' zeigt sich von HolsteinWestfalen bis Ostpreußen. Solche Bilder gibt es auch auf den Wortkarten (Heu) ,wenden' als kehren-, weden ,jäten'; Pogge ,Frosch'. Fast den ganzen Raum des Niederdeutschen nimmt das Bauernwort plögen ein. Als pflügen ist es Schriftdeutsch geworden. Die mittel- und oberdeutschen Mundarten gebrauchen ackern mit seinen Ableitungen. Der niederdeutsche Typ plögen beherrscht auch den in alter Zeit noch nicht dem Mitteldeutschen angeschlossenen Südrand: das in den Anfängen der deutschen Sprachgeschichte als niederdeutsch, genauer niederfränkisch anzusetzende Ripuarische und das Einbruchsgebiet im Ostfälischen. Doch am Westrand ragt vom Niederländischen bauen herein. Mit städtischer Siedlung, ihrem Recht und ihrer Kanzlei wird b ü r g e r l i c h e Sprache in örtlicher Ballung mit den beiden Ständen des Kaufmanns und der Handwerker in den Osten getragen. Dazu ist oben Gilde wortgeographisch gewertet. Die ländliche Siedlung setzt sich aus verstreuter Vereinzelung in G r o ß g r u n d b e s i t z der Vasallen, wie im Baltikum, und i n b r e i t e r F l ä c h e in geräumigen Horsten zwischen nichtdeutscher Bevölkerung, auf zu rodendem Waldland oder nach Eindeichung in schwerem Marschboden sowie in zu kultivierenden Sumpflandschaften aus B a u e r t u m mit seinem Gesinde zusammen. Solche Worthorste sind auf der Karte Anemone in Mecklenburg öschen und in Tochtersiedlung von dorther mit einer von schriftsprachlicher Kontrolle freien Diminution Etschken an der ostpommerschen Küste; am Frischen Haff Allore auf der Holunderkarte, ostfälische Siedler haben Brüsche .Beule' mitgebracht. Südlich eines großen Gebietes mit Woat ,Enterich' ist eine kleine mit Wedig eingelagert. Dies entspricht der Großgliederung im alten Westen: an der Küste weithin Wort, westfälisch Wedig, das von da auch in das südliche Mecklenburg mitgenommen wurde. Gelegentlich kann auch die S e e m a n n s s p r a c h e

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f ü r Worträume sorgen, aber da ist nicht an breiträumige Siedlung zu denken, wohl aber bürgerliche Sprache zur Schiffer- und Seilerfachsprache: Segelgarn ist ,Band' an der Elbmündung, im östlichen Ostfriesland am Jadebusen 4 0 ; ,Bindfaden' an der Weichselmündung 41 . Auf Sprache des Bauern, aber auch des einfachen Mannes in der Stadt mit unbestimmbarer Sozialhöhe drüber hinaus in der Vergangenheit kann auf der Wortkarte ,Knöchel* das Synonym Enkel bezogen werden. Es nimmt im gesamten Küstengebiet den Raum bis Leba ein, mit Horsten im Niederpreußischen bis ins Samland. Es ist also die N a t u r , der der Siedel- und damit der Sprachraum abgerungen wird. Als Grundherrschaften leiten solche Siedlergruppen die Landesherren, die Fürsten mitsamt den Bischöfen, im niederdeutschen Osten ist es dann der Deutsche Orden, in die dem Ackerbau zu erschließenden Räume. Wortgeographisch auf größter Fläche zeichnet sich auf den Karten die Bauernsiedlung der N i e d e r l ä n d e r des 12. Jahrhunderts im Brandenburgischen und von da im Mittelpommerschen ab. Im 16. Jahrhundert wandern wieder niederländische Bauern, es sind Mennoniten, ins Weichselland und schicken von da Tochtersiedlungen bis ins 18. Jahrhundert weiter flußaufwärts. Wieder ist es, wie gleich zu Anfang 1106 an der unteren Weser und an der Elbe gegenüber Hamburg, schwer zu kultivierender Marschenboden, der erfordert, daß die an Wasserbau geschulten Niederländer ins Land geholt werden. Auf bestem Ackerboden findet sich das schlimmste Unkraut, die Quecke, an. Sie heißt dort bei Hamburg immer noch wie auf riesiger Fläche vom Brandenburgischen bis weit nach Pommern hinein Pede (mit Laut Varianten), das auf der Wortatlaskarte auch an der heutigen Grenze der Niederlande ins dortige Niederdeutsche hinüberreicht. Die N a t u r bietet in alter Zeit auch im niederdeutschen Räume die beste Möglichkeit der Grenzziehung, in der Zeit der Stammesgliederung zugleich der Grenzsicherung. Dies f ü h r t in die p o l i t i s c h e Räumlichkeit. Die Sachsen, also Niedersachsen, grenzen immer noch mit den Franken, heute an der Mundart mitsamt auch der Wortgeographie erkennbar, auf der alten S t a m m e s s c h e i d e . Die dann linienhafte Provinzgrenze zwischen Westfalen und Rheinland, dann zu Hessen und Thüringen, läuft dort in der ehemaligen unbesiedelten breiten Wald- und Gebirgszone, beim Einzug junger Siedlung 42 in diese hinein und mit grundherrlicher Fläche auch hinüber und herüber. Im Südwesten wird manches aus dem Fränkischen über die rheinisch-westfälische Grenze hereingeholt in den Streifen zwischen Oberhausen und Wipperfürth. Dies geht auf mittelalterliche Frankonisierung zurück. So reichen über die sehr ausgeprägte 411

B.Martin, in: Teuthonista 1. 1924/25.

41

Riemann a. a. O. 97 ff.; 1781 bucht es auch Dähnert, pommersdi-rügisches Wörterbuch S. 420.

42

Mitzka, Stammesgrenzen, in: Kleine Schriften 1968; D . M ö h n , D i e Struktur der niederdeutsch-mitteldeutschen Sprachgrenze zwischen Siegerland und Eichsfeld 1962 = Deutsche Dialektgeographie 47 a und b.

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S t a m m e s - 4 3 u n d S p r a c h s c h e i d e = märkisch-bergische Grenze solche rheinische Wörter wie mer ,nur' (aus ahd. ni wäri) hinüber, gegen sonst westfälische men(t) = weithin nd. man (aus as. newan); mans ,unfruchtbar, von der Kuh' (aus dem Franz.); sik tauen ,sich beeilen' hat sich hier im Anschluß an rhein. sich zauen gehalten. Umgekehrt werden rhein.-niederländisches bukse ,Hose', rekel ,männlicher Hund' aus dem Niederdeutschen herübergeholt 44 . Jüngere Landesgrenzen: die niederländisch-deutsche Staatsgrenze bestimmt die Mundartgrenzen kaum, am ehesten zwischen Westerwolde und Südostdrente einerseits. Aber dort läuft eine starke Naturgrenze in Mooren. Solche spielen in der Wortgeographie Ostfrieslands gegen Geest und wie diese auch gegen Marsch eine naturgegebene Rolle, mitsamt der soziographischen Schichtung und Raumgewinnung der Siedlung45. Auf Naturgrenze läuft zwischen West- und Zentralmünsterland = Sandgebiet: Lößgebiet die Grenze der Bauernwörter trekmes: tochmes für ,das Zugmesser vor der Pflugschar'. Natur ist auch die I n s e l l ä g e von Fehmarn mit dem altertümlichen Wort dröm(t)sat für ,ein Flächenmaß von etwa 1 ha'; dann armwark ,Haus und Hof', punderböm ,Bindebaum auf der Ladung des Erntewagens'. Fehmarn ist soziographisch nicht der See mit Schiffahrt und Fischerei zugewandt, sondern eine durch schmalen Seewasserarm abgeschnittene Scholle guten Bauernlandes. In Mecklenburg läuft eine Wortgrenze naturhaft vorbestimmt zwischen dem Norden des Landes und Südmecklenburg mit Dörchleuchtings Land Strehlitz: N : Kütik/S: Harrik ,Hederich'; Tram/Sprat ,Leitersprosse', Träd/Lois ,Geleise d. i. Wagenspur', Arnbier /Auskost ,Erntefest mit Bier, im August'. Mit diesen Wörtern schweift der Blick über das Mittelniederdeutsch der Vasallen als Großagrarier mit ihren Dienstleuten (hernach mit mitgewanderten Bauern), Leibeigenen auf den in der Eiszeit nördlich der Endmoräne angeschütteten fruchtbaren Lehm und im Süden den Sand jener Urzeit, ausgewaschen und ausgeweht. Die Wortgeographie läßt Licht auf die Siedelbahn an der Küste entlang fallen, der Enterich hat uns schon oben mit Weding auf die Urheimat Westfalen zurückgewiesen. In der Industrielandschaft des Ruhrgebiets4® und der nördlichen Nachbarschaft südlich der Lippe spricht (1936) die jüngere und meist auch die mittlere Generation außer in der Lippegegend kein Niederdeutsch mehr. Das Platt ist dort also Alterssprache: chäpen ,gähnen'; vertelkes ,launige Geschichtchen'; die Bergmannskuh heißt Hippe ,Ziege'; Pöschen ,Ostern'; Teimen ,Zipfel'; die altsächsischen Dualformen it, git ,ihr', ink ,euch' sind nun Plurale geworden. Soziologisch ist es das Bauerntum, das solche Merkmale 1 8 7 9 / 8 0 im Sprachatlas und 43

Foerste, im Aufriß I 2 , Sp. 1848.

44

Th. Frings, in: Festschrift Behaghel 1924, 194.

45

H . Janßen, Die Gliederung der Mundarten Ostfrieslands und der angrenzenden Gebiete. 1937 = Deutsche Dialektgeographie 25.

45a 46

Foerste und Heeroma, a. a. O. S. 34. H . Hellberg, Studien zur Dialektgeographie im Ruhrgebiet und im Vest Recklinghausen. 1936 = Deutsche Dialektgeographie Bd. 37.

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zuletzt 1936 dem an Ort und Stelle abhörenden Dialektgeographen vorsprach. Er fand solche gesellschaftlichen Mundartrelikte nur noch auf den alten Bauernhöfen zwischen den weitläufigen Schachtanlagen und rauchenden Fabrikschloten. Aber auch da lehnte man das Platt dem Fremden gegenüber ab, auch wenn man es aus Bequemlichkeit im häuslichen Verkehr noch anwendete. In Mittelpommern liegt eine fruchtbare Lößebene, der mit seiner stolzen Bauerntracht berühmte Weizadker. Das erste von den pommerschen Herzögen begründete Kloster ist Kolbatz. Die Mundart weist in die Altmark zurück. In der neuen Heimat richten sich nun die Mundartgrenzen n i c h t nach der Natur, nach der S u m p f s p e r r e der Plöne-Madü-Niederung mit dem Madüsee. Das Kloster Kolbatz sicherte sich vom Weizacker die größere Südhälfte, dabei noch einen Streifen über die Plöne hinüber47. Die Wortgeographie kümmert sich nicht um diese ausgeprägte Natur = kirchliche, rechtliche und wirtschaftliche Grenze. Sie trennt schon in slawischer Zeit Land Stargard: Land Pyritz. Danach hatten sich dann Amtsgericht Stargard und Amtsgericht Pyritz gerichtet; anders aber Synode Werben : Synode Pyritz, und die Leute nördlich der Plöne fuhren nach Stargard zum Markt, südlich nach Pyritz, dem städtischen Mittelpunkt des Weizackers. Wortgeographische Eigenart des Kolbatzer Bereichs vertritt der Knappendräje, wie der Storch nach seinem vergnügten Klappern genannt wird, wobei er den Kopf und Schnabel nach hinten legt, hier also ,dreht'. Ein anderes Kennwort ist das Hiesserperd ,Marienkäfer' (Hiesser ist das Fohlen). Dies Kinderwort reicht nach Norden in den nächsten Landkreis hinein. Dort haben die Kinder es denen der reichen Weizackerbauern offenbar abgehört. Auch das erste sieht nach Kinderwortschöpfung aus. Es gefällt wiederum nach Süden hin in der Neumark. Da bestimmt in beiden Fällen der s o z i a l s t a r k e Weizacker als Kern und Vorbild gegen die Natur die Worträume. Die Grundherren haben nach Ausweis der Lautgeographie ihre Bauernsiedler aus recht verschiedenen Gegenden geholt: der Kolbatzer Abt aus der Bauernschaft des altmärkischen Mutterklosters; nördlich der Plöne setzte der Bischof von Kammin seine Weizackerleute an. Der Südzipfel des Kreises Pyritz mit seiner nach Mecklenburg zurückweisenden Mundart gehörte dem Kloster Gramzow in der Uckermark, mithin in mecklenburgischer Nachbarschaft. Der Kolbatzer Anteil im Süden hängt mit seinem Knappendräje mit der Neumark zusammen, und da sind Johanniter aus der Mark Brandenburg die Siedelherren. Sie lösen im Nachbarkreis Greifenhagen die Templer ab. Solche Siedelhorste sind für Pommern typisch. Im alten Westen wie in Westfalen sind die Zisterzienser von ihrer Ordensregel zur landwirtschaftlichen Arbeit verpflichtet. Sie kommen dem mit ihren Bauern und Dienstleuten nach. Sie haben dort aus dem Französischen ( d l n r e ,der Zehnte') das Wort Diemen ,Heu- oder Getreidehaufen' eingeführt 48 . 47

R. Holsten, in: Monatsblätter der Gesellschaft f ü r pommersche Geschichte und A l t e r tumskunde 29. 1 9 2 5 , 2 1 .

48

Th. Frings und L. E. Schmitt, in: PBB 72. 1 9 5 0 , S. 2 9 9 .

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In Altpreußen hielt sich in der Gründerzeit und lange hernach der Deutsche Orden andere Orden fern. Hier ist er also wie im Baltikum auf dem platten Lande Siedelherr auf breitester Fläche. Das Bistum Ermland ist exempt. Da besorgt der Bischof, und auf eigener Fläche das Domkapitel in Frauenburg, die Ansiedlung von Deutschen. Da wird die Siedeltätigkeit des Bischofs Eberhard von Neiße deutlicher. Er holt das Ostmitteldeutsche seiner schlesischen Heimat ins Land. Aus diesen Bauernschaften lockt der Deutschorden seine breslauisch redenden Siedler in die östliche Nachbarschaft. Sonst holt er sich niederdeutsche Bauern. Da sind nördlich ans Ermland anschließend fünf Siedelhorste auf der Mundartkarte noch sechs Jahrhunderte hernach abzulesen: von den Elbinger Waldhöhen bis ans Frische Haff. Da hat man jenen Ausdruck Allore für Holunder aus dem alten niedersächsischen Westen. Lautmerkmale südöstlich von jenen Horsten sind west- oder ostfälisch, so auch in Ostpommern in mehreren Kleinräumen. Ortsnamen versagen beim Suchen nach der Ausgangslandschaft im Westen. Das Städtchen Brandenburg am Haffufer hat seinen Namen vom Ordenskomtur dieses Beinamens bekommen. Und sonst werden Städte und Dörfer nach altpreußischer Vorstufe oder nach dem Bürgermeister und Schulzen als Gründer der neuen Siedlung benannt. Danzig, Graudenz und Elbing reichen über altpreußische und slawische Tradition aus gotischer Vorzeit in die deutsche Zeit und Sprache hinüber. Am Westrande von Masuren liegt unbesiedelte Waldwildnis als breiter Grenzschutz besonders zum heidnischen Litauen hin, mit ihren Sümpfen, Sandflächen und der langen Kette von Seen, da liegt mit niederpreußischer Mundart das Dorf Gr. Kölln am Flusse Rhein. Von rheinischen Siedlern berichtet ein Chronist später. Ob und wieweit staatliche Grenzführung vom Territorium weltlicher oder geistlicher Art des Mittelalters allein von sich aus, ohne die Gegebenheit der Natur, Mundartlinien bestimmt, ist höchstens an wenigen Strecken im niederdeutschen Großraum zu erwägen. Da genügt auch der Wortforschung4' für das Altland die statistische Feststellung: ostfries. emsländ. Bigge(n) : oldenb. Farken ,Ferkel'; Oldenburg : Nordhannover = Ganter: Ganner ,Gänserich', Mutte : Sau; dahin gehören wieder nach dem Wortatlas Gaffeltange ,Ohrwurm', Heuperd ,Heuschrecke', Moosimme ,Hummel'. Ostdeutsche Siedelherren holen sich, wie zu verstehen ist, nur für sich und ihr Land Siedler. Da gibt es im Westen seither ja Agenten, an die man sich wendet. Der sammelt dazu seine Ostwanderer zu Hause in der großen Geschäftsstadt, und wenn er mitgeht, können wir ihn unter den Dorfschulzen der neuen Heimat vermuten, wo er sich nach Recht und Brauch, wie die Handfeste urkundet, mit doppelter Hufenzahl abfinden läßt, und sich auch als privilegierter Krugwirt zur Ruhe setzt. Da geht der Blick zurück im Altland womöglich bis in die Völkerwanderzeit, im Niederpreußischen zu solchen Dorfnamen wie Konradswalde oder Ottenhagen (nd. Mottenhagen aus ehemaligem Im Ottenhagen). Im Samland bleibt das Dorf Dirschkeim beim altpreußischen Namen, auch als hernach der Dorfvorsteher 49

Foerste, im A u f r i ß I ! , Sp. 1 8 6 7 ff.

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mitsamt den andern Bauern den altpreußischen Lutherkatechismus nicht mehr brauchten. Altpreuß. keim ist unser Heim. Auf politische Grenze kann man die Unterschiede zwischen Schleswig-Holstein und (Nord) Hannover 5 0 beziehen, aber die allgemein-geographische Gestalt als Halbinsel zwischen zwei Meeren läßt desgleichen erwarten: holstein./nordhannov. = HardertHeire ,Hirte', Koppel!Weide; Klapp!Schof ,Bund Stroh'; Prückel, Bretpogg/Utz ,Kröte'. Anschluß In der Missionszeit werden von kirchlicher Behörde die im niederländischrheinischen Raum schon in römischer Zeit übersetzten Wochennamen in den neuen Gebieten an die jeweilige Diözese im Westen angeschlossen. Der dies Mercurii wird zum wodanesdag, im Kölner Erzbistum wie im westlichen Hinterland bis England ausweichend und euphemistisch zum gode(n)sdag. Der dies Saturni wird zum saterdag. Die Grenze gegen östlicheres siinnavend hat sich zuletzt im 18. Jahrhundert 5 1 nach den Grenzen der Grafschaft Oldenburg gegen Ostfriesland und das Niederstift ausgerichtet, also offenbar von oben her reguliert. Diese Wortgeographie geht in der niedersächsischen Großlandschaft vom Jadebusen bis zur Südkante im Rothaargebirge in die altsächsische Zeit zurück auf die Gliederung westfäl. Saterdag; ostfäl.-nordniedersächsisch Siinnavend. Darin spiegelt sich die kirchliche Organisation, dazu die wirtschaftliche Richtung nach West, Nord oder Ost 5 2 . Soweit Westfalen nach Köln gehört, ist opfern5' mit offern aus lat. offerre gültig, vom Niederrhein her wie im Niederländischen und in England. In Ostfalen wie im Paderbörnischen, die nach Mainz gehören, gilt oppern aus lat. operari. Auf den breiten Rand des niedersächsischen Altlandes ist im Laufe der Jahrhunderte Paschen zu Passah zurückgenommen worden, immer wieder wie die andern von der geistlichen und der weltlichen Kanzlei her und soziographisch bis zur Mundart herab. Aber als Relikte noch weitab in Ostfalen, wo längst das germanische Erbwort Ostern herrscht, erinnert das Kinderwort Päscheneier für Ostereier an die alte Zeit. Anschluß hinundher zeigt die niederländisch-westfälische Wortgeographie in sehr verschiedenem Ausgriff im Raum und in der gesellschaftlichen Abstufung. In g e l e h r t e m L e b e n s k r e i s , und das kann in ältester Zeit der allein schreibkundige Geistliche sein, dann auch noch lange in der weltlichen Kanzlei spielt sich die Geschichte der Wörter für die Tinte ab. Heute lesen wir das Endergebnis nicht mehr oben, sondern ganz unten auf der Mundartwortkarte ab 54 . Das westliche Westfalen geht da mit dem Rheinland und den Niederlanden, indem das west50

Foerste, a. a. O. Sp. 1869.

51

Ders., Sp. 1758.

52

DWA 16.

5a

Th. Frings, Germania Romana 1932, 112; Foerste, a . a . O . Sp. 1756.

54

K. Bischoff, in: Sachsen und Anhalt a . a . O . S. 175.

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fälische Kernland und das ehemalige Niederstift Münster mit Ostfriesland sich anschließt an nl.-rhein. Inket, im Südwesten auch Enket, das der romanischen Ausgangsform enkaustum als südwestfäl. Inkest, Inks(t) näher steht. Dies mag in der Missionszeit über Köln angeschlossen sein, nordwestfäl. Enket etwas später an das Geldrisch-Oberijsselsche. In das übrige Gebiet bringen angelsächsische Missionare Black, eine Lehnübersetzung in das germanische Wort für schwarz, lat. atramentum. Es wird nunmehr von dem in der Oberschicht hereingeholten Dinte ,Tinte' aus lat. tinctum verdrängt. Und zwar von Süden her, wo sich noch andere Wörter über die ungewöhnlich scharfe Grenze zum Rheinischen und Hessischen anschließen55 das sind md. Wiese/niedersächs. Wiske, Wische-, Geleise-Truoden (as. trada) ,Wagengeleise'; südwestfäl. geaden ,jäten': nordwestfäl. weden. Dies sind wieder Bauernwörter, wie weiter im Oberwesergebiet, in dieser Schicht durchaus allgemein, nicht etwa wie Gaul in der hochdeutschen Umgangssprache des nieder- und mitteldeutschen Großraumes in West und Ost abschätzig, Bezeichnung für das Pferd. Das große fränkischoberdeutsche Gebiet mit Gaul und mundartlichen Varianten taucht seinen Gipfel ein Stück über jene mitteldeutsche Nordgrenze hinein ins Niedersächsische. Dabei ist der Süden an sich konservativ, so in Muarn ,Möhre' im Sauerland und im Paderbörnischen; verdrängt im übrigen Westfalen von angeschlossenem nordniedersächs. Wortel. Schwächer grenzt sich das Westfälische innerhalb der niederdeutschen Großfläche nach Osten und Norden wortgeographisch ab. Besonders offen ist mit breit aufgefasertem Linienbündel der Übergang zum Ostniederländischen, wie wir oben schon beim Abschreiten der Staatsgrenze beobachteten. Die niederländische Forschung56 nennt jene ostniederländischen Mundarten mit ihrer westfälischen Gemeinsamkeit saksisch. Im Großen gesehen zeichnet sich auf den Wortkarten ein Übergangsgebiet zwischen dem niederfränkischen Niederländisch und dem Niedersächsischen bis östlich der Weser ab. Die Sprachbewegungen laufen hin und her. An das Niederfränkische als Westflügel des Niederdeutschen schließt sich wortgeographisch vielfältig das Emsland und Ostfriesland an. Das Saksische des Ostniederländischen ist durch westfälische Strömungen kultureller, wirtschaftlicher und damit sprachlicher Art bestimmt. Ein Bauernwort heutiger Wortkarte ist im westlichen Nordwestfalen anschließend auch an das Kleverland Katsione ,das Knallband am Ende der Peitschenschnur'. Handwerkerfachsprache kann bedeutungsgeographisch weiterreichen als die Mundart. In der Bedeutung .Bleistift' lebt Pottlot ( = niederl. potlood) nur im Südwesten Ostfrieslands. Das ist im allgemeinen der reformierte Teil. Aber in der Sonderbedeutung ,dicker Zimmermannsbleistift' reicht dies Wort weiter 55

58

Th. Frings, Germania Romana S. 172; Foerste und Heeroma, Westfaalse en Nederlandse expansie 1955 = Bijdragen en Medelimgen der Dialekten-Commissie, Kon. Nederlandse Akademie X V . Foerste und Heeroma a. a. O. S. 11. — Den Wortschatz des Zimmermanns behandelt J. Saß, Die Sprache des niederdeutschen Zimmermanns, dargestellt auf Grund der Mundart von Blankenese (Holstein) 1927.

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nach Ostfriesland hinein und in das südlich anschließende Emsland und die an sich sehr altertümliche Landschaft des Hümmling. Ein mindestens in der Ausübung fachmännisches Wort ist veredeln. Aus dem lateinischen Fachwort des Klostergartens imputare ist in der Mundart im 12. Jahrhundert im Brandenburgischen niederländ. entert heimisch geworden. Wohl jünger, etwa im Ausgang des Mittelalters oder gar später, wird es über jene Ostgrenze der Niederlande in einen heute recht scharf abgegrenzten Bezirk bis zu einer Linie Wilhelmshaven—Gelsenkirchen—Duisburg, doch gewiß nicht in breiter Fläche der Grundschicht der Mundart, sondern von Fachleuten, den Obstgärtnern, eingeführt. Es gehört auch das Niederfränkische um Kleve dazu. Ein anderes Wort des Gartenbaus ist Kabüs oder Büsköl für den Weißkohl. Sie gehören in jene Fläche der niederländischen Lehnwörter im Raum bis zur Unterweser, womöglich erst im 19. Jahrhundert als Handels- und Marktwort hereingeholt. Im Westmünsterland haben sie Raum an das rheinische Kappes verloren57. Das mittlere und östliche Südwestfalen hat das im nördlichen und östlichen Westfalen im 14./15. Jahrhundert vorhandene wagener ,Stellmacher' behalten. In dieser Reliktlandschaft gilt noch hem ,zuhause'. Altertümliche Eigenart zeigt mitten in der I n d u s t r i e l a n d s c h a f t mit ihrer ungeheuren Sprachmischung auch mit nichtdeutschen Bergarbeitergruppen das Märkische mit den ehemaligen Dualformen it und ink, die vor einer Generation nur noch bei den alten Bauern zu hören waren, auf ihren Höfen zwischen den Bergwerken und Fabriken. Wie die bairischen Kernwörter es und enk haben diese Wörter die Pluralbedeutung übernommen. An die nordniedersächsische Nachbarschaft58 schließt sich der Nordosten Westfalens an z. B. in den Ausdrücken für die Bienenwabe: Marte verdrängt altes Skuate. Südwestfalen und der Westrand hängen wiederum durch Patel, Pröte mit dem großen niederländisch-mitteldeutschen Rat-, Röße-Geb\tt zusammen. Aus der H a n d w e r k e r s p r a c h e ist Eis ,Pfriemen' von der Lübecker bis in die Bentheimer Gegend an der Ems verbreitet. Ins Germanische führen die Niederlande und England zurück, und das heutige Alemannische muß es aus der Urheimat an der Elbe mitgenommen haben. Das an sich in manchen Wörtern konservative Nordniedersächsische, in alter Zeit Nordalbingische, holt aus b ä u e r l i c h e r Sphäre aus östlicher Nachbarschaft herein: Bottermelk und Spinnrad, die ihrerseits Karnmelk und Spinnwel an die konservativste niedersächsische Landschaft überhaupt in Reliktlage drängen, das Emsland mit dem westfälischen Westrand, nach Norden hin in das an sich junge Ostfriesische, wo die Vorstufe des Niedersächsischen das wirklich Friesische ist. Noch eine wortgeographische Kostbarkeit aus dem Emsland: nur dort ist innerhalb des gesamten Kontinentalgermanischen Ler ,Backe' erhalten. Um 1300 kommt es im Sauerland als leire vor 59 . 57

H e e r o m a , in: H e e r o m a u. Foerste a . a . O . S. 1 8 3 5 .

58

Foerste, im A u f r i ß I 2 , Sp. 1 8 3 4 ff.

59

E . R o o t h , in: Niederdeutsche Mitteilungen 14. 1 9 5 8 , S. 85.

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Für Ostfriesland bietet die Karte ,Viehbremse' des Wortatlas 6 0 , aus bäuerlicher Sprache als friesisches Substrat Bau mit Varianten. Über die Landeskanzlei hatte Ostfriesland sehr bald das Mittelniederdeutsche, also in der Oberschicht übernommen 6 1 . Dieser Sprachanschluß wird im Laufe der Zeit bis in die Mundart durchgeführt. Das Friesische wird so vom 15.—19. Jahrhundert vom Groningerland im Westen, auch in der kalvinistischen Wanderströmung verstärkt, und im Oldenburgischen überschwemmt. Psychisch und in der stilistischen Wortwahl spricht die Hochschätzung, der Mehrwert des Mittelniederdeutschen mit. Weitere friesische Restwörter sind heute 62 u. a. ]ir Jauche', Tike ,Käfer', Flinnerk ,Schmetterling', Tun ,Garten', Jöpke ,Hagebutte' 6 3 , hör ,ihnen', Fön .Mädchen' im Jever- und Harlingerland, so auch lüken ,ziehen'. Das friesische O s t f r i e s i s c h sprachen zuletzt um die Jahrhundertwende auf den Inseln nur noch einige alte Frauen auf Wangeroog, spricht man heute noch im Binnenlande im S a t e r l a n d . Auf diesen Einschluß im Niederdeutschen kommen wir noch zurück. Von Süden her hat das niederdeutsche Ostfriesische wortgeographisch hereingeholt Saterdag ,Sonnabend', Pütt ,Brunnen', enten ,veredeln'. In die weite Küstenlandschaft eingebettet sind Wort ,Enterich', Trump ,Nabe', Schute .Schürze' und die schon in anderm Zusammenhang genannten Punderböm ,Bindebaum f ü r den Erntewagen', Le ,Sense', immer wieder soziographisch bevorzugt bäuerlich. Vom hochsprachlichen Niederländischen her stammt aus Konfessionsgeschichte und Siedlungsgeschichte im Einzug der dem spanischen Regime ausweichenden Religionsflüchtlinge eine Reihe von verschieden weit hereingeholten Wörtern. Niederländische Wörter sind im reformierten Südwesten, wo niederländische Schulsprache bis 1845 in den reformierten Gemeinden galt, in Emden sogar auch als Verwaltungssprache, sehr viel stärker ins niederdeutsche Ostfriesisch übernommen worden als in den lutherischen Landesteilen 64 . Niederländische Restwörter sind bilde ,froh', Frömoor ,Hebamme', kaazen ,werfen', künstich ,geschick', Schöfl ,Arbeitszeit', Schäve ,Hobel', toonen ,zeigen', Vörwarde ,Bedingung*. Niederländisch sind die Fachausdrücke f ü r den Bau von W i n d m ü h l e n , die zum Landschaftsbild Hollands gehören. Manches bietet die F i s c h e r e i und die S c h i f f a h r t . In manchen Wörtern hat sich im Osten auch das Jeverland bis an den Jadebusen angeschlossen, so Ür ,Stunde' mit niederländischer Lautung des ü. Mit Handwerkersprache reicht noch weiter Tengel ,Blauköpfchen' (Nägel), am weitesten Wel,Spinnweb', dem wir oben als Spinnwel auf südlicherer Westostbahn begegneten. Sogar das katholische Emsland hat sich jener Wortfläche angeschlossen, so mit nooit ,nie*. Im Gegensatz co

Bd. 5; gezeichnet v o n N . Arhammar, der diese D e u t u n g mitteilt.

61

L . H a h n , D i e Ausbreitung der neuhochdeutschen Schriftsprache in Ostfriesland. 1912.

62

Foerste, im A u f r i ß I 2 , Sp. 1861.

63

Ahd. hiopa

64

W. Foerste, D e r Einfluß des Niederländischen niederdeutschen Mundarten. 1938.

(bair. vor der Lautverschiebung, Braune-Mitzka, Ahd. Gram. § 82 A . 2). auf

den Wortschatz

der jüngeren

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zur großen Mehrheit der niederländischen Restwörter ist dies Wort in lebensvollem Gebrauch, prägnant und knapp. In östlicher Nachbarschaft hat man dafür sin Lewe oder hd. niemals. Die breite Berührungszone für den Wörteraustausch ist Emsland—Niederlande, aus denen herübergeholt sind u. a. Brüggebrett am Bauernwagen, Tüte ,Nabe', Heckel ,Sensenangel'. Das Bentheimsche hat innerhalb des Emsländischen direkte kirchliche neben wirtschaftlichen Bindungen mit drüben. Wortgeographische Gleichungen vertreten Möscb ,Sperling' (weithin im Kölner Raum), Glsel ,Rauhreif', Dürre ,Drohne'. Einen Generationsunterschied zeigt Keteer aus nl. kwartier ,Viertel', es reicht nach Osten fast soweit wie nooit, im Süden weniger. Von Osten her ist durch das junge Volk Vöddel bis an die Konfessionsgrenze vorgetrieben. Ziemlich genau hat sich Kors, meist im Plural Korsen ,Fieber' ans reformierte Gebiet gehalten. Im Süden läuft die Wortgrenze mit der katholisch-protestantischen Grenze, und diese mit der politischen. Wandernde S a i s o n a r b e i t e r können Wortgut von Ostfriesland ins Jeverland und in das oldenburgische Amt Varel, wohin sie jährlich zur Getreideernte gingen, weitergetragen haben 65 . Solche aus Ostfriesland und Westfalen können niederländisches Sprachgut weiter als gewöhnlich mit Sprachströmung getragen haben. Im allgemeinen ebbt diese im Osten des Westfälischen und mit Abstand westlich der Weser ab. Nur drok, druk (im Satz In der Ernte haben wir es eilig) reicht weiter. Dies niederländische Lehnwort ist außer nach Westfalen auch noch nach Ostfriesland und ins oldenburgische Gebiet hereingenommen. Es hat die Weser sogar nach Osten überschritten. Das in den Niederlanden seit dem 17. Jahrhundert gebrauchte Adjektiv ist vom Substantiv abgeleitet: be is oder he sit in druk66. Inselhaft kommen das im hochsprachlichen Niederländischen gültige sprinkhaan, dazu Springhase (beide im 16. Jahrhundert von den niederländischen Mennoniten an die Weichsel mitgebracht) auf der Karte .Heuschrecke' des Wortatlas bei Minden vor. Sie müssen von Hollandgängern nach ihrer Heimkehr im Winter ihren Kindern erzählt worden sein. Dann sind sie von den Erwachsenen in die Mundart übernommen worden. Als nach 1870 die reichen Bauernarbeitgeber landwirtschaftliche Maschinen anschafften, brauchten sie die deutschen Erntearbeiter nicht mehr. Diese fanden aber dort Arbeit auf den Heringsfängerschiffen. Diese neue Berufserfahrung nutzten Emdener Kaufleute, indem sie selber Heringslugger ausrüsteten und nun jene Lippe-Detmolder als Schiffsmannschaft einstellten. Daher ist seitdem im Dorfe Lade bei Minden eine Seefahrtsschule eingerichtet für das Steuermannsexamen für die deutsche Handelsmarine, die sich seit damals gerade aus dieser Springhahn-Springhase-lnse\ rekrutiert 67 . Dies Wort hatten schon vorher im 16. Jahrhundert ins Niederpreußische an die Weichsel niederländische Bauern, die Mennoniten, eingeführt. 85

Foerste, Einfluß S. 30.

66

Foerste und Heeroma a. a. O. S. 10.

87

Mitzka, Kleine Schriften. Berlin 1968.

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Die armen westfälischen H o l l a n d g ä n g e r bewunderten niederländisches Wesen und den Reichtum drüben. D o r t wurden sie als westvaalsche knoeten, moffen und poepen verspottet. Schon 1756 erzählt der Osnabrücker Wörterbuchschreiber Strodtmann, daß dort gegen den Winter einige tausend Mann nach Hause zurückkehrten. Sie müssen den Ausdruck für das Ackerunkraut, den Schachtelhalm, in die Gegend von Quakenbrück mitgebracht haben: Unger, Ungel aus niederl. unger, unjer; und dies aus Ungar über die Bedeutung ,Hexe, Teufel' 08 . Gemeint ist doch wohl ,Zigeuner'. Nordfriesland ist landschaftlich durch Einbrüche des Meeres in seiner Inselwelt und auf dem Festlande durch unfruchtbare Niederungen zerstückelt. Die große Halbinsel des Eiderstädtischen hat sich dem Niederdeutschen angeschlossen. Die Inseln waren seither in Schiffahrt und Fischfang der See zugewandt, auf dem sehr guten Boden von Eiderstädt sind die Bauern seither wie auch die Kaufleute in der Stadt sehr wohlhabend und stolz. In der ersten H ä l f t e des 17. Jahrhunderts sagt der Chronist 6 9 : das Land ist gutt zur Wey de und allerlei Kornfruchten und die Einwohnere sein mutbwillige, freche und ungehaltene Leute. Das größte aller Bauernhäuser im ganzen niederdeutschen Bereich ist der Eiderstädter Haubarg, hoch oben auf der Warft mit dem sehr steilen und in Vollwalm zum First ragendem, sehr kühn gerichtetem Dach 70 . Die bäuerlichen Zimmermannsausdrücke meinen mit Vörhus die Wohnung, der ganze Rest des quadratischen Grundrisses (bis zu 1000 Quadratmeter) ist dat Achterhus, an der einen Seite die Boos ,der Stall', auf der andern die Loo aus Kleierde zur Einfahrtstür hin, dem Vörhus entgegengesetzt liegt die Querboos, fast ganz als Perboos f ü r die Pferde ausgenutzt. Längsträger des mächtigen Daches heißen Schunk. Also alles ein Einbau unter einem einzigen Dache. Die Eiderstädter holen das Niederdeutsche aus gleicher Sozialschicht in der kurzen Zeit von 1600—1700 in drei Generationen, die großen Bauern und die Kaufleute, die nach Husum blickten. Audi der 1634 untergegangene Strand fing an sich anzuschließen. So bleiben die friesischen Mundarten, es sind heute zehn 71 , ohne eigene einigende S c h r i f t s p r a c h e . Auf Westerland, auf Föhr und Amrum ist dies Inselfriesische bis 1864 von jütischer Mundart umschlossen, und dänisch war die V e r k e h r s s p r a c h e mit den Behörden. Nordfriesland war niemals ein politisches Territorium. Im Mittelalter war das Mittelniederdeutsche die Schriftsprache, seit dem 17. Jahrhundert das Hochdeutsche, im Norden das Dänische. Alle nordfriesischen Mundarten außer Sylt haben f ü r den ,Stachel' das Wort pört, in verschiedenen Lautvarianten. Dies W o r t hat auch die stolze, seither niederdeutsche Bauernlandschaft Dithmarschen übernommen, so auch 68

Foerste und H e e r o m a a. a. O. S. 10.

69

Nordfriesisches Jahrbuch 1909, 139.

70

Fr. Saeftel, Haubarg und Barghus, D i e friesischen Großhäuser an der schleswigholsteinischen Westküste. Diss. D a n z i g 1931.

71 71

Karte bei D . H o f m a n n , in: Z M F 24, 1956, 78.

* Deutscher Sprachatlas, Karte 21.

Niederdeutsch

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jüch ,furchtsam, bange' (altfries. fach). Dort allein wird fries. jüm ,euch', das Kennwort Dithmarschens (stimmhaft z), in lebensvollem Gebrauch bewahrt. Friesische Relikte in Eiderstädt sind jenes Port, dann Bürschop .Bauernschaft = Gemeindeversammlung', weiter Gred ,Grasland', urk. schon 1384 Hörntähn .Eckzahn', 1801 als Herrentehn (volksetymologisch ,Herrenzahn' oder aus gelehrter Konstruktion) an den Hamburger Schütze für sein Holsteinisches Idiotikon I I S. 132 gemeldet. In Ostfriesland ist es der Hörntand, im ostfriesischen Saterland der Hedentusk. Das Wort gehört zu altfries. hörne ,Ecke'. Die Eiderstädter und Dithmarscher Berufsgenossen gebrauchen fries. Schern, schiern .Kuhmist und Pferdemist'; Schern slön ,auf der Weide Kuhfladen und Maulwurfshügel auseinanderschlagen'. Anschluß an das Niederdeutsche ändert die Sprachkarte und damit die Wortgeographie auf der jütischen Halbinsel. D ä n i s c h e und n i e d e r d e u t s c h e Bauern rücken in dem freien und öden Gelände zwischen Schlei und Eider zusammen. Am Ende des Mittelalters stehen dänische und deutsche Sprache ungestört gegenüber 72 .Internationale Verkehrssprache des Nordens ist das Mittelniederdeutsche. 1313—1459 rücken holsteinische Adlige als Gutsbesitzer ein. Haupt- und Residenzstadt der Herzöge, seit 1448 dänische Könige, wird Schleswig. Dort ist Niederdeutsch die herrschende Sprache. Niederdeutsche Kaufleute und Handwerker kommen dazu. Eine andere Entwicklung erlebt weiter nördlich Flensburg. Das Dänische hält sich länger, die ländliche Umgebung war geschlossen dänisch. War nun die Stadt selber zweisprachig, so hatte die Flensburger Umgangssprache schon zur Reformationszeit keinen guten Ruf. Denn ein dänischer gelehrter Mann sagt davon: Was sollen wir mit diesen [schlecht übersetzten] Büchern! Wir verstehen sie nicht. Das ist Flensburger Dänisch. Denn man redet dort dänisch und deutsch durcheinander (man taler der danske och tydske til hobe\)7S. Nun wird dort nicht das Niederdeutsche übernommen, sondern eben mit der neuen Kirchenlehre gleich das Hochdeutsche. Im heutigen Niederdeutsch des Südosten der schleswiger Landschaft sind dänische Restwörter 74 u. a. Baglau ,Knechts- und Rumpelkammer' (aus bag + lade = Hinterraum im Bauernhause); beliehen ,sich den Wanst vollschlagen'; Kwisd ,Zweig, Reiser'; Nul .Mittelstück an der Trense'; Heimus ,Schindmähre'; flyden .vom Gesinde ¡umziehen' (dän. flydd ist der Umziehtag). Im Osten gilt vom D ä n i s c h e n her Pinswin in Angeln, sonst Stachelswln, weithin aber Swinegel (DWA 13). Gegenüber dem hochdeutschen Einfluß auch noch im Bauernland Mittel- und Südschleswigs haben die südlicheren Landschaften wesentlich niederdeutschen Wortschatz. Diese sprachliche Schichtung entspricht einer sozialen. Der p o l i t i s c h e S p r a c h e n k a m p f begann 72

K. N. Bock, Niederdeutsch auf dänischem Substrat. Studien zur Dialektgeographie Südostschleswigs. Kopenhagen 1933 = Deutsche Dialektgeographie 34 S. 251; passim das folgende.

73

a. a. O. S. 255.

74

a. a. O. S. 108.

20

Mitzka, Wortgeographie

306

Walther Mitzka

um 1830. Zur Sprachsoziologie der Generationen und Geschlechter: in Angeln hielt sich das Dänische als M ä n n e r s p r a c h e bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nur die Kinder reden (nieder)deutsch. Eine Redensart der jungen Angler von 1848 lautet: Wenn man ein Kerl geworden ist, darf man dänisch reden und seine Pfeife rauchen. Wortgeographisch zeigt sich das S c h l e s w i g s c h e als hochdeutsch bestimmt beim Vergleich mit dem Holsteinischen 75 : Spa(de)/Escher .Spaten'; klen/lütt, wuch/wek-, spät/lät; Spatz/Lünk. Dänisches Substrat ist noch Brott ,Granne', Wipp-en ,Ähre'; Stak ,großer Heuhaufen'; Vöracker ,Pflugwende'; Swintofl ,Schweinehof', besonders zahlreich im Norden, in Angeln wie Grisebass ,Schwein, Ferkel'; Riichnung ,Dachfirst'. Das Holsteinische schließt sich wie Nordhannover stark an das Ostniederdeutsche an, besonders an das Westmecklenburgische, so wird Tun durch Heck ,Hecke' ersetzt, weit nach Westen reicht mecklenb. Sipplamm ,Schaflamm'. Besonders intensiv ist der wortgeographische Anschluß des O s t f ä l i s c h e n in seinem Südrand an das Mitteldeutsche 76 . Seit dem Mittelalter hat es sich mit hüte für vandage ,heute', Heckerling ,Häcksel', Erpel ,Enterich', Zivve, Zippe .weibliches Kaninchen' u. a. an die thüringische und brandenburgische Nachbarschaft oder an das Hochdeutschen wie mit Elster angeschlossen. Seither erlebt den tiefsten Einbruch das E l b o s t f ä l i s c h e , das zu Beginn seiner Geschichte die bunteste Stammesmischung aufwies. Dort galt das Recht der Warnen. Von der jütischen Halbinsel waren die (Nord)Schwaben eingewandert. Dort gibt es das Friesenfeld. Der Sprachausgleich in niedersächsischer Wortmasse hat nur im Ortsnamensuffix -leben ,Erbe' zu bleiben, vgl. Detlef, mhd. Dietleib ein Relikt aus jener Urheimat im fernsten Nordwesten hinterlassen. Ist es gegen das Mitteldeutsche hin offen, so ist die Elbe-Ohre-Grenze gegen das Brandenburgische schärfer. Der Osten hat z. B. Eller ,Erle', der Westen Else; Burmester.-Schulte ,Dorfbürgermeister'. Der Südwesten hat manche Sonderheit, es ist das Göttingische-Grubenhagensche 77 . Da erwägt die Forschung, ob überhaupt dieser niederdeutsche Südrand in ältester Zeit stammesmäßig zur südlichen Nachbarschaft gehörte. Aber er bewahrt auch wieder Altertümliches aus nördlicher Sprachgemeinschaft wie geaden ,jäten', Fuor ,Häcksel'. Die Pflugwende ist im Südstreifen Vorrat, wogegen md. Vorende vom fruchtbaren Eichsfeld her eindringt. Die Hereinnahme von mitteldeutschen Wörtern wird an einer Linie landschaftlichen Selbstbewußtseins angehalten. Da bleibt man beim Alten. Da bündeln sich solche Wortlinien in Westostrichtung, in der „Hannoverschen Schranke", wie Abär, Imme, Wiesen gegen südlich Storch, Biene, (Bienen)Königin. Volkskundlich läuft in dieser Zone vom Steinhuder 75

Bock a. a. O . S. 2 7 1 .

70

F o e r s t e , im A u f r i ß I 2 , S p . 1 8 5 3 / 1 8 7 1 .

77

P . Seidensticker, Schichten und B e w e g u n g e n in der W o r t l a n d s c h a f t v o n sachsen 1 9 6 4 .

Südnieder-

Niederdeutsch

307

Meer nach Braunschweig hin die Südgrenze des niedersächsischen Bauernhauses. Audi ist sie die Nordgrenze der Haufendörfer. In die Kreise Dessau, Kothen und in den Akener Winkel holt seit 1506 das Niederdeutsche obersächsische Wörter herein. Das Zerbster Land aber verteidigt sich bis ins 19. Jahrhundert. Es hält sich78 am Nordrand und in der Nachbarschaft, aber die zerbstischen Elbgebiete sind nunmehr mitteldeutsch. Wortgeographische Gegensätze sind u. a. nd. Pale gegen Schote-, Barme gegen Hefe-, Kiene gegen Kiefer(baum). Nur die Alten sprachen (1935) noch echtes niederdeutsches Zerbstisch, so daß Großeltern und Enkel verschiedenes Deutsch vertraten. Relikte im Akener Winkel sind Schtauke ,Getreidehaufen', Tiene ,Waschfaß', Wanzke ,Wanze', Süschtarwe ,Sausterbe=Nachharke' (DWA 14), siepern ,sickern', Wische ,Wiese'. Einschluß In das Niederdeutsche sind fünf m i t t e l d e u t s c h e M u n d a r t i n s e l n eingeschlossen79. Im Anfang des 14. Jahrhunderts wandern deutsche Bauern in unruhigen Kriegszeiten aus der Lausitz und Schlesien weiter nach Altpreußen und tragen ostmitteldeutsches Sprachgut dorthin: das Hochpreußische. Im 16. Jahrhundert holen die Goslarer Bergherren Freiburger Bergknappen in den Oberharz, wo ihre Nachkommen immer noch erzgebirgische Altmundart sprechen. Der Tagebau war erschöpft. Da trieben diese erfahrenen Bergleute Stollen in den Berg. Rheinfranken, genauer Pfälzer, wurden als Bauern von deutschbaltischer Grundherrschaft im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts südöstlich von Riga angesetzt (vgl. oben S. 292). In dieser Zeit entstand unter preußischer Herrschaft die Sprachinsel der Kulmer Schwaben in Westpreußen. Die Mehrzahl waren Mainfranken, aber im Mundartausgleich siegte die Mundart der schwäbischen Minderheit. Da half bei der Entmischung die sprachliche Nähe der hochdeutschen Kirchen- und Schulsprache. Recht verschiedener Herkunft waren die nach der Besiegung der Türken von Österreich in die Batschka und in den Banat geholten Bauern. Weitaus die größte Mehrheit bildeten wieder Rheinfranken. Wieder sind es Pfälzer, die sich im Waldland bei Kleve nach langem Warten ansiedelten. Ein napoleonischer Krieg verzögerte zu lange die Uberfahrt nach Nordamerika. Als ganze Sprache bildet das Friesische des S a t e r l a n d e s anschließend an den emsländischen Kreis Aschendorf-Hümmling eine im Niedersächsischen eingelagerte Insel. Nur noch dort wird das Ostfriesische im alten Wortsinne gesprochen. Sie geht wohl auf eine Bauernwanderung des 13. Jahrhunderts von der Emsmündung zurück. Es sind heute drei größere und drei kleinere Dörfer. Das größte ist Ramsloh. Das Saterland bewahrt sein altes Friesisch in Schutzlage: ringsum von Hochmooren umgeben. Man sprach dort auch das Nieder78

K . Bischoff, Volkssprache zwischen Elbe und Saale. 1 9 3 5 .

79

Vgl. die einschlägigen Bände der „Deutschen Dialektgeographie".

20*

308

Walther Mitzka

deutsch der Nachbarn, aber diese verstehen die friesischen Wörter nicht. In Ramsloh sprachen 1938 (747 Einwohner) alle Familien das Saterländische außer solchen, in denen mit den Kindern Hochdeutsch gesprochen wurde. Wo der Vater von auswärts stammt, wird mit ihm platt gesprochen, Mutter und Kinder untereinander saterländisch; wo ein Eltern teil von auswärts kommt, wird mit ihm platt gesprochen. Die Kinder der beiden zuletzt genannten acht Familien 80 lernen das Saterländische und wenden es mit den Schulkameraden an. Die Sprachatlaskarte Kind zeigt dort eine Insel mit Barn. Die handschriftlichen Fragebogen von 1879/80 melden zu der Frage „Kindereien' Wangeroog Bennerei, Saterland Beidnerei, Bäidnerai, Birndderei; zum Wortatlas 1939 u. a. ,Backenzahn' die Kusen niedersächsisch: die kaise saterl., ,Bauchweh' Buckpien: Liuwkellen (zu quälen)-, ,Ameise' Migemken: Migelke; ,Regenwurm' saterl. Eise; ,diese Nacht' däling = nordfries. delling, dalingsl. Im Saterfriesischen Wörterbuch 82 lesen wir Alse (di) ,Köder, Regenwurm', Bäiden zu Barn-, bäidensk ,kindisch, kindlich', Bäideneräi ,Kinderei'; Bäidensbäiden ,Enkel, Enkelin'; ruije — tieme ,harken', Riue ,Heuschrecke'. Aber sehr vieles stimmt zum Niederdeutschen wie aaltohope .alles in allem', Äänket ,Tinte'. Nach Auskunft der Auswandererliste sind die ersten Nonnen des ersten Klosters in Ostpommern Kolbatz bei Kolberg aus Westfriesland von der pommerschen Herzogin gerufen worden. Für die Lautgeographie hat die Forschung friesische Spuren erörtert 83 . Wörter solcher Herkunft sind nicht aufgetaucht. Aber der nur den Friesen alter und junger Zeit eigentümliche Springstocksi, mit dem in Westfriesland sogar die Mägde beim Gang auf die Weide zum Melken mitsamt den Kannen im Stabhochsprung über die Wassergräben hinübergelangen, wird von Knechten beim Verfolgen von Viehdieben bei Kolberg im 18. Jahrhundert gerichtsnotorisch gebraucht 85 . Da fragen wir, ob der Turnvater Jahn aus sassiscber Sprache, nämlich seiner pommerschen, nicht nur die Riege ( = hd. Reihe) und das Rede, wie der waagerechte obere Balken des Zaunes am Bauerngrundstück heißt, sondern auch den friesischen Springstock zum Stabhochsprung eingeführt hat. S i e d l e r e i n s c h l u ß stellt auch die Bauernlandschaft der Probstei nordöstlich von Kiel dar. Dorthin hat der Landesherr im 13. Jahrhundert aus seinem ostfälischen Herrschaftsbereich Bauern in 20 Dörfern angesiedelt (mik ,mich', dik ,dich'). In der neuen Heimat haben sie sich im allgemeinen in die aus Mischung und Ausgleich entstehende holsteinische Landschaftsmundart einge80

81 82

83 81 85

Th. Siebs, in: Pauls Grundriß I 2 , 1169; H . Janßen, Leben und Madit der Mundart in Niedersachsen 1943, 56. Stötzel a. a. O. Karte S. 100. P. Kramer, Saterfriesisches Wörterbuch. Saterländisch-Deutsch-Westfriesisch. Eindhoven 1961. Priewe und Teuchert, in: Teuthonista 1927, 130, 221. Mitzka, in: Zs. f. Volkskunde 1953, 151. Lucht und Mitzka, Der friesische Springstock und das Ostpommersdie. In: Nd. Jb. 69/70. 1943/47, S. 108.

Niederdeutsch

309

ordnet, heute auch in jenen alterssprachlichen Fürwortformen 86 . Die Ersetzung von ;Ummer ,euer' durch Ummer wurde von den Probsteiern als hösch höfisch', was dem ostholsteinischen Hörigen, also Leibeigenen der Landschaft mit den großen Gütern, aber nicht freien Pobsteier Bauern gemäß, abgelehnt87. Auf Ostfalen führt auch die Sprachatlaskarte 21 ,euch' mit juck zurück. Ein weiträumiger Einschluß ist bäuerlicher Wortschatz aus den N i e d e r l a n d e n des 12. Jahrhunderts im Brandenburgischen mit Siedlerausbreitung weit nach Osten und Norden hin88. Von solchen in Wasser- und Deichbau erfahrenen Niederländern hat der Bremer Erzbischof die Marschen bei Bremen 1106 kultivieren lassen. Auch die Marschen gegenüber von Hamburg sind nach Ausweis aus der Wortgeographie von solchen sach- und fachkundigen Niederländern aus Überschwemmungsland in fruchtbarstes Ackerland umgewandelt worden. Das lästigste aller Unkräuter, die Quecke, zeigt auf der Wortkarte von 1939 den an der niederländischen Grenze ins Emsland herüberreichenden Ausdruck Pede, das mit seinen Varianten heute noch bei Hamburg, in breitester Fläche aber im Brandenburgischen mit seiner Nachbarschaft lebt 89 . Aus der Fülle der niederländischen Restwörter greifen wir hier die uns soziologisch interessierenden Beispiele zum Wasserbau heraus. Wie in Ostholstein, wohin der Siedelherr auch Flamen geholt hat, mit Wörtern für Wasserläufe wie dik ,Deich' (so schon 1159 im Magdeburgischen), weiter in alten Zeugnissen obdracht ,Abzugsgraben'; slüse ,Schleuse'; waterlösinge, weteringe ,Abflußgraben', stammt der vom Brandenburgischen her nach Pommern reichende Ausdruck für sumpfiges Gelände Fenn aus dem Niederländischen. So auch leeg ,niedrig' vom Fläming bis Mittelpommern vom Gelände gesagt, sonst in Pommern sld. Zur Bauernsprache gehören wätern ,das Vieh tränken', diesmal in schmalen Streifen vom Fläming bis in das südliche Ostpommern. In Pommern gilt sonst hörnen. Der Fläming hat sich zu diesem Begriff an das md. dränken angeschlossen. Audi Holstein hat wiederum Wäteringe ,Tränkstelle'. Brandenburgisch ist Däse mit Ableitungen für die Viehbremse (zu dwäs ,toll') 90 . In der mecklenburgisch-märkischen Grenzzone trifft sich bäuerliche Wortgeographie mit niederl. Tass gegen niedersächs. Fack für den Seitenteil der Scheune. Eine große Fläche nimmt das auch aus jenem fernen Westen mitgebrachte Benne für die Raufe der Schafe ein. Schake ,Kettenglied' breitet sich vom Fläming über die niederdeutsche Mark gegen die Altmark mit Schalm aus. Nordostpommern hat Litt und gemeinsam mit der mitteldeutschen Nachbarschaft Gelenk. Das aus den südlichen Niederlanden mitgebrachte Bauernwort Sahne ist in den Mundarten bis weit nach Ostpommern weitergewandert. Dorthin hat sich 86

Mitzka, Die Probstei bei Kiel und die Beziehung des Holsteinischen zum Ostfälischen. In: Nd. Korr.-Bl. 55, 82.

87

Foerste, im Aufriß I ! , Sp. 1870.

88

H . Teudiert, Die Reste des Niederländischen des 12. Jahrhunderts 1944; Nachträge P B B 70 (1948); 71 (1949) 2 6 6 ; Th. Frings, in: Niederdeutsche Mitteilungen 6 , 2 8 . Iris Nordstrandh, Brennessel und Quecke. Lund 1954. D W A 5.

89 90

310

Walther

Mitzka

Rahm zurückgezogen, das v o m Nordalbingischen mit Mecklenburg-Vorpommern herstammt. Das Niederpreußische hat Schmand, das nach der K a r t e des W o r t atlas (Bd. 5) zu Westfalen stimmt. Über B e r l i n a l s M i t t e j e n e r n i e d e r l ä n d i s c h e n W o r t g e o g r a p h i e ist Sahne zur neuhochdeutschen Schriftsprache aufgestiegen. V o r p o m m e r n , das bis zur Peene u n d den »Landgraben" 1170 an den Bischof von Schwerin gelangt w a r u n d sich in Siedelwanderung u n d damit auch in der Wortgeographie an Mecklenburg anschließt, w i r d von O s t p o m m e r n durch einen auf dem Brandenburgischen aufsitzenden M u n d a r t k e i l getrennt. D i e Spitze erreicht nicht immer die See. In O s t p o m m e r n erhalten Kolberg, Greifenberg, Regenwalde im L a u f e der Deutschsiedlung durch die pommerschen H e r z ö g e Greifswalder Stadtrecht. Auch die M u n d a r t zeigt sich als Spiegelbild jenes Ostpommerschen. D e r mittelpommersche Keil interessiert uns als Ausbuchtung der Niederfrankensiedlung. Die brandenburgischen Askanier besitzen seit 1250 auch die N e u m a r k , also die Basis des Keils, in dem wir oben in anderem Zusammenhang auch den reichen Weizacker angetroffen haben. Niederländische Wörter sind in dieser stolzesten Bauernlandschaft d o r t z u l a n d e Köje ,Speckgriebe', Lüme .Eisloch, Wake*, Kerek ,Bach' 91 . Zusammenschlu

ß

I m hochsprachlichen Gespräch h ö r t m a n leicht den Westfalen, den Mecklenburger, den Ostpreußen, den Balten heraus. Es k a n n die L a u t u n g sein, aber auch solche „konstitutionellen" F a k t o r e n wie Satzmelodie oder Silbentrennung, die der Forschung nicht, wenigstens noch nicht, zugänglich sind, schwingen irgendwie mit. Es k a n n aber auch ein W o r t sein, das solche M u n d a r t , oder die darüberliegende U m g a n g s s p r a c h e auch den Nichtfachmann die Sprachlandschaft richtig angeben läßt. Über den vielfältig zergliederten Kleinmundarten liegt jene geheimnisvolle u n d doch im allgemeinen H ö r e i n druck oder in der W o r t w a h l vertraute Umgangssprache. Seit dem Mittelalter ist in dem politisch u n d nachher konfessionell zergliederten Westfalen ein landsmännisches Zusammengehörigkeitsgefühl, frühzeitig literarisch im H u manismus, entwickelt w o r d e n . Landschaftlicher Stolz manifestiert sich in einem neuzeitlichen Stammesbewußtsein. Literarische Ausformung erlebt Mecklenburg mit M u n d a r t u n d Missingsch. Das Ostpreußische in seiner übermundartlichen Aussprache mag 1812/13 im Befreiungskampf gegen N a p o l e o n den andern Stämmen ins H ö r b i l d gekommen sein. A m „gerollten" r u n d wieder an irgendwie herauszuhörender Betonung meint man den Balten zu erkennen. N u r er hat übrigens die mittelalterliche echte Doppelaussprache von Konsonanten, etwa in ret-ten92. W i r schreiben im Neuhochdeutschen z w a r zwei tt, sprechen aber nur " R. Holsten, Sprachgrenzen im pommerschen Plattdeutsch. 1928, S. 56, nach Teuchert 1927. 92

Mitzka, Studien zum baltischen Deutsch. 1923.

311

Niederdeutsch

eins. Uns geht hier die Wortgeographie an. Auch sie ist Kennzeichen eines gesellschaftlich und landsmannschaftlich besonders intensiven Bewußtseins. Sprachlandschaften können von jenen stolzen Bauern wie in Dithmarschen mit gäsche ,Gevatterin' (zu nd. göde) bestimmt werden. Im pommerschen Weizacker ist die amerikanische Neuigkeit, die Kartoffel, Nudel benannt worden. Diesen reichen Bauern haben sich die der Nachbarkreise Greiffenberg und Randow angeschlossen. So werden neue Wörter zu neuer Sache an schon längst vorhandenen Sprachgrenzen haltmachen. Der Zusammenschluß, die große oder kleine psychologische Fläche zeigt dann eine wortgeographische Hemmstelle, wenn man eine herangekommene Neuerung nicht übernimmt. In dem breiten Streifen Ostniederlande/westliches Westfalen kann gegen die typische Überbrückung der Staatsgrenze eine solche Alltagssache wie die Stecknadel sich in der sich nunmehr ausbildenden nationalsprachlichen Differenzierung gegen den sonstigen Anschluß den Zusammenschluß hüben gegen drüben vertreten: an der Staatsgrenze östlich von Roermond-Maastricht Spang: westfäl. stecknölt93. Daß die politische Grenze in solcher Wortgeographie nationalsprachlich bestimmt ist, mag bei jener im Kaufladen zu erstehenden Sache, also einem oberschichtlichen Marktwort Stecknadel, in der Mundart nur lautlich geformt, anzunehmen sein. Deutlich wird Wortgeographie aus der bis ins Privatleben ausgreifenden Rechtssphäre: auf der Staatsgrenze östlich von Nijmegen-Venlo-Roermond voochtmomer gegen westfäl. Vormund. Aber die gemeinsame Mundart läßt östlich von Maastricht Vormund in der kleinlandschaftlichen Lautung die Grenze Staat = Nationalsprache überlagern. Von oben wird die Wortgeographie zu ,Zeitung' reguliert: drüben kraant, im Südabschnitt gezet! rheinisch im Norden Blatt, Blättche (bletsje), im Südabschnitt Ziedung. Amtlich bestimmt sind hüben und drüben, durch die Staats- und Nationalsprache getrennt, die Ausdrücke für die Hebamme. Aber beiderseits gelten die gleichen Wörter für die Garbe, die Stachel-, Johannis- und Heidelbeere, den Truthahn, den Iltis, die Kröte, den Maulwurf. Die Bauernmundart bewahrt den alten Zusammenschluß über die nun schon dreihundertjährige Staatsgrenze hinweg. Die hochsprachliche Gesellschaft trifft ihre Wortwahl nach der Staatszugehörigkeit mit ihrer Schriftsprache. Wortgeographie spiegelt sich auch im k l e i n s t e n S p r a c h r a u m e. Sie ist zum Wortschatz für den Intellekt im sauerländischen Amte Drolshagen nach Mundart und der dortigen Schriftsprache untersucht worden 95 . Das h o c h s p r a c h l i c h e W o r t f e l d dieser Kleinfläche, in soziologisch ruhiger Landschaftslage, hat doppelt so viele Wörter im Vergleiche mit der M u n d a r t . Auch ist es anders und reicher gegliedert. Allerdings ist diese Statistik an der Stelle 93

W . Roukens, W o r t - und Sachgeographie Südostniederlands Gebiete. Nijmegen ( 1 9 5 8 ) , D W A . 4 : Stecknadel.

und der

angrenzenden

94

A . M o h r , Die intellektuelle Einschätzung des Menschen in der M u n d a r t des Amtes Drolshagen ( 1 9 3 9 ) ; S. 7 : „ G a n z genau wird sich ein sprachliches Feld zeichnerisch überhaupt nicht erfassen lassen. V o r allem d a r f m a n nicht glauben, das Feld sei nur zweidimensional, also flächig. Zu dieser Meinnung kann eine Zeichnung [ M . bietet eine solche geometrisch] noch leichter verleiten als der Begriff ,Feld' schon an sich."

312

Walther Mitzka

des Wortfeldes umzukehren, wo die Mundart die Rolle der U m g a n g s s p r a c h e ohne jede Beteiligung der Hochsprache mitübernimmt. Nur der Mundart mit der Umgangssprache gehört das Wort wackerich an. Es hat im Hochdeutschen also keine Entsprechung. In den Beispielsätzen bedeutet es ,geweckter, lebhafter Junge; eine Frau; nach dem Urteil seines Meisters einen Lehrling'. Die Untersuchung definiert: bezeichnet das körperliche und das geistige Wach- und Lebendig-sein und ist vom körperlichen auf das geistige übertragen. Etymologisch entspricht es wacker, das im Hochdeutschen ursprünglich den Sinn von ,wach' hatte. J e nach der Generation gibt es für wackerich ein älteres und ein jüngeres Feld. Außer S p r a c h w o r t s c h a t z erfragt der Explorator auch den H ö r w o r t s c h a t z , den die Gewährsperson nicht selber spricht, wohl aber aus der Umgegend kennt. Als Parallelen werden aus dem Schrifttum zitiert: Aachen waacher ,wach'; Elberfeld wackerig, wackrig ,wach'; Köln wackerig ,wach, wachend'; Westerwald wackrich, wackerich ,1. vom Schlafe erwacht, 2. munter, schnell usw.'; Westfalen wackrig ,wach', wacker ,munter, wach'. Fernab vom Wortfeld der Intelligenz mit seinem von Philosophie und Psychologie verstärktem Übergewicht sprudelt die Quelle der Wortschöpfung zur C h a r a k t e r k u n d e d e s e i n f a c h e n V o l k e s . Da sei der Synonymenreichtum des Ostfälischen zwischen Leine und Deister 86 zitiert. D a nuancieren Mundart und die zugehörige Umgangssprache die Traurigkeit mit: bedreuwen, dameln, kranewaken, swiemeln, plönen, achen, kraaksen, kwillen, snucken, upwenen, barmen, knören, quarren, anken, janken, snurrjanken, blarren, plerren, weimern, wingern, jaulen, bölken, hiulen, daalsacken. — Unzufriedenheit: queulen, gnurren, gramattjen, griesgramen, siurpöttjen, miulen, mucken, nöckern, nöhlen, quesen, pächern, plenen, derjakeln, pinkstäken, pinkstöckern, hickhacken, kavveln, kivveln, katthaken, knitteln, pisacken, quetschenieren, utbleken. Es sind also nicht wie zur Intelligenzfrage im Amte Drolshagen S u b s t a n t i v a mit ihrer schon in der Wortklasse d e r M u n d a r t fernliegenden A b s t r a k t i o n . Sie sind da als solche typisch hochsprachlich, in jenem Fall meist wissenschaftlich bestimmt. Die Mundart schätzt bei Beurteilung von Geistesgaben und Charakter das T ä t i g k e i t s w o r t . Bezeichnend ist soziologisch dabei, daß in unsern Wortfeldern die Mundart mit ihrer Umgangssprache g e t a d e l t wird, und zwar kräftig und ausgiebig. Für Lobenswertes wie ehrlich, fleißig, freundlich, sparsam verliert sie in allen Wortklassen nicht viel Worte: so etwas ist in ihrem Lebenskreise selbstverständlich und nicht extra rühmenswert, um ein nur hochsprachliches Wort zu gebrauchen.

95

Niederdeutsch. Ein Handbuch zur Pflege der Heimatsprache, hg. von R. Mehlem und W . Seedorf (1957), S. 92.

DRITTES KAPITEL

Fachsprachen Dieter Möhn: Fadi- und Gemeinsprache. Zur Emanzipation und Isolation der Sprache 315 Horst Haider Munske: Rechtswortgeographie

349

Horst Grünert: Spradie und Politik: Zur Bezeichnung der Repräsentativkörperschaften 371 Herbert Wolf: Zur Wortgeographie der deutschen Bergmannssprache

418

D I E T E R MÖHN

Fach- und Gemeinsprache Zur Emanzipation und Isolation der Sprache 1. Der Weg zu den

Fachsprachen

Eine stete Differenzierung kennzeichnet die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Schon in früher Zeit ist mit gesonderten Funktionen und Sprachformen zu rechnen, für den germanischen Kulturkreis nenne ich etwa den Schmied und den Seefahrer. Die Straßennamen der mittelalterlichen Stadt, zu einem großen Teil aus Berufsbezeichnungen gewonnen, zeigen, wie sich die erweiterte Aufgabenteilung innerhalb der Stadtgemeinschaft in der räumlichen Struktur äußerte. Die f ü r die Gegenwart charakteristische Zusammenarbeit von Wissenschaft und Technik forderte eine enorme Anzahl spezialisierter Tätigkeiten. Viele Fächer sind bereits wieder in sich erheblich gegliedert. Diese Entfaltung verlangte nach einem ebenso verfeinerten sprachlichen Instrumentarium. Aufbauend auf der jeweiligen Nationalsprache war man bald gezwungen, das sprachliche Auswahlverfahren auf breiterer Grundlage durchzuführen; Fremdsprachen, tote Sprachen und sogenannte Kunstsprachen wurden einbezogen. Schließlich gelang es, durch facheigene Normung gemeinsprachlicher Elemente neue Sprachmaterialien zu erschließen. Wenn anfangs einzelne fachsprachliche Spezialtermini entstanden, so haben sich indessen ganze Sprachsysteme herausgebildet, eben die Fachsprachen. Wie schon ein flüchtiger Blick in unsere Wörterbücher lehrt, birgt unsere Gemeinsprache eine Menge Wörter, die ursprünglich in einen engen fachlichen Rahmen gehörten. Hier besteht ein konkreter Zusammenhang mit den Fachsprachen, der immer dann zutage tritt, wenn ein bestimmter fachlicher Aspekt Bedeutung f ü r die Allgemeinheit gewinnt bzw. gewaltsam durchgesetzt wird. Auf diese Weise bleibt die Gemeinsprache aktuell; dabei wirkt sich oft der aktuelle Bezug nicht nur in der Übernahme von Fachwörtern aus; er wird intensiviert, indem Bestandteile der Fachsprachen auch im übertragenen Sinne gebraucht werden. Als die Sprachwissenschaft sich von einer isolierten Betrachtung der Laute und Formen befreite und das Wort entdeckte, schenkte man den Fachwörtern verstärkte Aufmerksamkeit. Am Anfang stand die Beobachtung der Übernahme, Fragen nach dem Informationsgewinn oder -verlust begegnen erst sehr viel später. Immerhin war ein Weg aufgetan worden, den, wie unten zu zeigen sein wird, die Linguisten immer häufiger einschlagen, auch wenn es die Gestalt

316

Dieter

Möhn

der Gemeinsprache zu ergründen gilt, nämlich den Weg zu den Fachsprachen. Ein bemerkenswerter Fortschritt wird in Arbeiten deutlich, die das Fachwort nicht isoliert, sondern als Teil eines Ganzen sehen, d. h. die Fachsprachen nicht auf die Terminologie einschränken, sondern ihnen gesamtsprachliche Eigenschaften zuerkennen 1 .

2. Jacob Grimms umfassender

lexikalischer

Ansatz

In seinem Vorwort zum Deutschen Wörterbuch läßt Jacob Grimm erkennen, daß er, der zahlreichen Ansätze und Differenzierungen wohl bewußt, für das Wörterbuchunternehmen von einer Gesamtschau der deutschen Sprache ausgehen wollte, die unterschiedliche Aspekte in sich vereinigte. Wie sehr es Grimm auf den Zusammenhang ankam, zeigt das nachfolgende Zitat: „Ich bin eifrig allen Wörtern der ältesten stände des volks nach gegangen, in der sicher begründeten meinung, dasz sie für geschichte der spräche und sitte die ergiebigste ausbeute gewähren 2 ." Der Katalog der einbezogenen Stände führt den Waidmann, Falkner, Vogler, Fischer, Schiffer, Winzer, Bergmann, Imker, Gärtner, Landwirt, Handwerker ebenso wie den Geistlichen, den Arzt und den Chemiker ( „ . . . die chemie kauderwelscht in latein und deutsch, aber in Liebigs munde wird sie sprachgewaltig") 3 auf. Das Miteinander von Fach- und Gemeinwortschatz, wie es der Lexikograph Grimm einer getrennten Darstellung vorzog, begegnet ständig in der Sprachwirklichkeit mit wechselnden Schwerpunkten 4 ; so ist verständlich, daß etwa in Rüsselsheim oder Wolfsburg die Automobilterminologie besonders stark verbreitet ist, in Wetzlar der Wortschatz der optischen Industrie, in Ludwigshafen, Frankfurt-Höchst und Leverkusen der der prägenden chemischen Großindustrie 5 .

3. Von einfachen und komplexen

Gemeinsprachen

Allgemein läßt sich verfolgen, wie die Anteile der Fächer in der deutschen Sprachgemeinschaft an Zahl und Vielfalt zugenommen haben. Die Monographien zum Deutschen Sprachatlas in der Reihe „Deutsche Dialektgeographie" 6 bauen zum großen Teil auf einer Ortsgrammatik auf, in der, über Beispiele der Schulgrammatik hinaus, der charakteristische Wortschatz einer Gemeinde heran1

Vgl. dazu G . E i s , Mittelalterliche Fachliteratur (Sammlung Metzler). Stuttgart 1962, S. 56 ff.

2

J . Grimm, W. Grimm, Deutsches Wörterbuch. 1. Band, Leipzig 1854, Sp. X X X . Dazu H . Hirt, Etymologie der neuhochdeutschen Sprache. Darstellung des hochdeutschen Wortschatzes in seiner geschichtlichen Entwicklung. 2. Aufl. München 1921, S. 258.

3

A. a. O. Sp. X X X I .

4

Eine Abgrenzung ist in vielen Fällen nur graduell möglich, d. h. durch einen Vergleich der Begriffsdefinition der einzelnen Sprecher.

5

Dazu D. Möhn, Die Industrielandschaft — ein neues Forschungsgebiet der Sprachwissenschaft. In: Marburger Universitätsbund. Jahrbuch 1963. Marburg 1963, S. 303 ff.

6

Hrsg. von F. Wrede, W . Mitzka, B. Martin und L. E. Schmitt. Marburg 1908 ff.

Fach- u. Gemeinsprache:

Zur Emanzipation

u. Isolation

d. Sprache

317

gezogen wird. Hier liegt, ebenso wie in den landwirtschaftlichen Wörterbüchern, ein bisher nicht ausgewertetes Material f ü r die regionale und soziale Differenzierung fachsprachlichen Wortgutes vor. Die genannten Untersuchungen richteten sich vornehmlich, wie das Kartenwerk selbst, auf die bewahrende Sprachlandschaft, in der klare Proportionen zu erwarten waren. Hier ist auch die Anzahl der charakteristischen Fächer deutlich zu fassen, wobei die Landwirtschaft überwiegt. K. Bischoff bietet in seinen „Studien zur Dialektgeographie des Elbe-SaaleGebietes in den Kreisen Calbe und Zerbst" 7 eine Ortsgrammatik von Aken an der Elbe. Zur Wirtschaftsstruktur des Ortes heißt es: „Schiffahrt und Ackerbau waren und sind die Haupternährungsquellen der Bevölkerung . . . Andere Betriebe haben engste Verbindung mit der Schiffahrt: der seit 1891 bestehende bedeutende Umschlaghafen, zwei Schiffbauereien, Schmieden, Klempnereien, Segelmachereien, Holzhandlungen u. a. Neben den zahlreichen Landwirten wird von den Handwerker-, Schiffer- und Arbeiterfamilien Ackerbau getrieben 8 ." Aus dem von Bischoff beigebrachten Wortmaterial sei herausgegriffen: bambal ,Flößer', sandekal ,Balken, der die Ritzen zwischen den Deckbrettern zweier Schuss überdeckt' (Schifferspr.), irtbeijkan ,einbänken, das H e u in kleine Wälle zusammenharken', blad ,Blatt', .Querbalken mit quadratischem Querschnitt zwischen Boden und Bühne des Kahns' (Schifferspr.), sdaukd ,Getreidehaufen von bestimmter Bauart', klidaslä ,Holzhammer mit langem Stil zum Zerkleinern der Erdklumpen' 8 . Die Verbindung von landwirtschaftlichem und schiffersprachlichem Wortgut kennzeichnet die Gemeinsprache von Aken. Eine Trennung in zwei isolierte Bereiche ist zwar von der Sach- und Sprachgeschichte her durchzuführen; in der Realität aber, wo die Sprecher an beiden „Fächern" intensiv beteiligt sind, muß wohl von der örtlichen Einheit ausgegangen werden, die auch lautlich zu fassen ist. Das bedeutet nicht, daß alle Einwohner im ganzen U m f a n g über den Wortschatz der Landwirtschaft und der Schiffahrt verfügen und die Lautgestalt mit dem Sachverhalt voll identifizieren können; denn die Fächer werden weiterentwickelt, erst bei einer entsprechenden wirtschaftlichen und sozialen Resonanz wird die Neuerung zum Allgemeingut. „In den Fachsprachen vollzieht sich der sprachliche Fortschritt . . . von hier gehen die großen, aufs Sprachganze zurückwirkenden Umlagerungen aus 10 ." Zugleich zeigt das Beispiel Aken, wie sich das Phänomen Gemeinsprache f ü r jede Sprachgemeinschaft neu und verschieden herausbildet. Der Hinweis scheint mir notwendig, da sehr häufig „Fach-" und „Gemeinsprache" gegeneinander ausgespielt werden, ohne daß an die Variationsbreite der Proportionen und eine relevante Vergleichsbasis gedacht wird. „Die 7

D D G Bd. 36, Marburg 1935.

8

A . a . O . S. 1.

» A. a. O. S. 4 ff. 10

F . S t r o h , Besinnung der deutschen Sprachwissenschaft. In: Z M F 15 (1939), S. 129 ff.; Zitat S. 134.

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Kräfte, die zum Zusammenlauf der Sprachgebilde führen, bleiben dieselben in der D o r f m u n d a r t und in den höheren Kreisen der Weltstadt; nur die Bedingungen, die Mittel und der Zweck, und infolgedessen auch die Abstände der Ergebnisse sind verschieden. Daher kann der Ausdruck Gemeinsprache eigentlich immer nur eine relative Größe bezeichnen 11 ." In der Arbeit Rudolf Warneckes „Haus und Hof in der niederdeutschen Sprache zwischen Weser und Hunte" 1 2 , dem es „vor allem um die Sprache der Bauern ging", findet sich die Bemerkung: „Nach den Begriffen des Fachmannes im Baugewerbe mag manches falsch sein; der Sprachforscher aber erkennt in der Veränderung des Begriffes, auch wenn sie nur bei einer einzelnen Person auftritt, etwas Wesentliches im Leben der Sprache 13 ." Der Verfasser berührt mit der Gegenüberstellung von „falsch" und „richtig" Wertungskriterien, die, modifiziert als „genau" und „ungenau" in der Diskussion über die Leistung der Fachsprachen gegenüber der Allgemeinsprache eine derartig zentrale Rolle spielen, daß es notwendig ist, bereits hier darauf einzugehen. Man kann immer wieder lesen, daß „es in der Fachsprache vor allem auf die genaue Bedeutung ankommt" 1 4 , die ihrerseits durch genaue Definition festgelegt wurde. Diese umfassende Bedeutungsnormierung ist f ü r die sachliche und schriftlich-lexikalische Struktur eines Faches, die Abgrenzung einzelner Disziplinen und den internationalen Vergleich (Übersetzung) ein entscheidender Vorgang. Für den innersprachlichen Bereich fehlen indes bisher Untersuchungen, die feststellen, wie weit in der gesprochenen Sprache der Gebrauch der Termini von einer vollständigen Definitionsassoziation begleitet ist bzw. wie stark diese durch den Kontext verbaler und nichtverbaler Art ersetzt wird. Das Abrücken von der Ausgangsdefinition, das sich in zahlreichen semantischen Stufungen offenbart, wird besonders deutlich, wenn der Terminus aus seinem engsten Geltungsbereich heraustritt und etwa von dem Techniker, dem Arbeiter und schließlich dem Laien gebraucht wird. „Die Umgangssprache und die Arbeitssprache sind ein Kraftfeld, innerhalb dessen der Fachausdruck weiter geformt und vor allem vereinfacht wird 1 5 ." Die Folgen sind nicht nur formaler, sondern auch semantischer Art. Zu jeder Zeit wird es mehrere dominante Fächer geben, die sich bis in die Umgangssprache hinein auswirken (heute z. B. die Automobilindustrie). Bei 11

12

W. H e n z e n , Schriftsprache und Mundarten. Ein Uberblick über ihr Verhältnis und ihre Zwischenstufen im Deutschen. 2. A u f l . Bern 1954, S. 11. D D G Bd. 35, Marburg 1939.

13

A . a. O. S. VI.

14

So e t w a G. Kübler, Terminologie und Lexikographie. In: Lebende Sprachen X I (1966), S. 5 f., Zitat S. 6. Vgl. auch E. Ploß, Zur Fachsprache der deutschen Färber im Spätmittelalter. In: Marburger Universitätsbund. Jahrbuch 1963. Marburg 1963, S. 365: „Eine Fachsprache will Arbeitsvorgänge und -ergebnisse genauer bezeichnen und unterscheiden, w e n n auch mit möglichst geringem sprachlichem A u f w a n d . "

15

L. D r o z d , Grundfragen der Terminologie in der Landwirtschaft. In: Muttersprache 74 (1964), S. 296 ff., Zitat S. 309.

Fach- «. Gemeinsprache:

Zur Emanzipation

u. Isolation

d. Sprache

319

einer solchen intensiven Einflußnahme kann es dazu kommen, daß sich die Begriffsinhalte in der Umgangs- und in der Fachsprache nur geringfügig voneinander unterscheiden. Als Beispiel nennt W. R. Jumpelt „Kraft" und führt dazu aus 16 : „In Fällen wie ,Kraft' liegen gemeinsprachlicher Inhalt und fachsprachlicher Begriff aber so eng beieinander oder überlappen sogar, daß der einzelne sie im Gespräch oder im Text nicht mehr deutlich zu scheiden oder als verschieden aufzufassen vermag." Gegenüber der Annahme zweier getrennter Sinnheiten entwickelt Jumpelt ein Modell, nach dem „der fachspradilidie Begriff über und durch den gemeinsprachlichen Inhalt mit der Lautform in Wechselbeziehung steht" 17 . Damit sind die o. a. semantischen Abstufungen in ein System eingebracht. Der Vergleich mit der Gemeinsprache bzw. Umgangssprache erscheint mir nur dann nach den Kriterien genau — ungenau, richtig — falsch zulässig, wenn deutlich gemacht wird, daß das Urteil von fachwissenschaftlicher Seite her erfolgt; man kann also nicht in das jeweilige Sprachsystem fremde Maßstäbe hereintragen, wie es so oft geschieht. Wichtig ist vielmehr die Frage: Was leistet das einzelne Kommunikationssystem, welche Aufgabe fällt dabei dem einzelnen Wort zu? H. Ischreyt hat auf das „verhängnisvolle Vorurteil" hingewiesen18, nach dem „die Wörter der Wissenschaft und Technik einer größeren Genauigkeit bedürfen als die Wörter der Gemeinsprache. Eine solche Gegenüberstellung verzerrt das wirkliche Problem. Tatsächlich soll in jedem Fall das Gemeinte, das sich allerdings nicht nur auf einen b e g r i f f l i c h faßbaren Inhalt zu beziehen braucht, sondern auch ein komplexes Ganzes einer beabsichtigten Wirkung sein kann, dem Hörer genau übertragen werden . . . l g ." Was für die komplexe Gruppe der Fachsprache auf der einen und der Gemeinsprache auf der anderen Seite gilt, muß ebenso auf die einzelnen Kommunikationsebenen innerhalb dieser Gruppen angewandt werden 20 . 16

17 18

19 20

D i e Übersetzung naturwissenschaftlicher und technischer Literatur. Sprachliche Maßstäbe und Methoden zur Bestimmung ihrer Wesenszüge und Probleme. BerlinSchöneberg 1961, S. 129. A . a. O . H . Ischreyt, Studien zum Verhältnis v o n Sprache und Technik. Institutionelle Sprachlenkung in der Terminologie der Technik. Düsseldorf 1965, S. 133. A . a. O . Es ist hierbei unerläßlich, einen einheitlichen Standpunkt beizubehalten. Wenn A. Heidelberger in seinem A u f s a t z „Das Problem der Präzision in der Fachsprache des englischen Ingenieurs" (In: Lebende Sprachen X I (1966), S. 2 ff.) feststellt: „Zahlen und Benennungen, die zu wissenschaftlichen Zwecken in den Kultursprachen gebildet werden, sind im allgemeinen klar und eindeutig hinsichtlich der Begriffsgrenzen, besonders in der Mathematik, in der Tedinik und in den exakten N a t u r w i s s e n schaften . . . Besonders verschwommen ist gelegentlich immer wieder die Bedeutung der Worte, die der technischen Vulgärsprache entstammen, w i e z. B. in jade, jig, pig, arm, . . . Wir haben in dieser Wortschicht eine ausgesprochene Polysemie gegenüber der Monosemie exakter wissenschaftlicher Grundbegriffe", so geht der Autor einmal v o n der strengen N o r m i e r u n g innerhalb eines engen Kommunikationsbezirkes aus, zum andern v o n dem verschiedenartigen Gebrauch einzelner Wörter im gesamtsprachlichen Bereich.

320

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In den Arbeiten zur Deutschen Dialektgeographie, auf die ich jetzt zurückkomme, wird eine Schicht der Fachsprachen dargeboten, die sich durch eine besondere N ä h e zur Praxis und zur Landschaft auszeichnet. In seinen „Beiträgen zur nordthüringischen Dialektgeographie" 2 1 gibt A. Schirmer f ü r eine Ortsgrammatik u. a. folgende Wortbelege: wand .länglicher, halbrund geflochtener Korb ohne Henkel', slixdan ,Mehlbrei zum Glätten der Garnfäden', ort ,spitzes Werkzeug f ü r Lederarbeiter', haarboge .Werkzeug mit Pferdehaarschlingen zum Vogelfang' 2 2 . In derselben Reihe erschien das „Niederhessische Wörterbuch zusammengestellt auf Grund der Mundart von Oberellenbach, Kreis Rotenburg (Fulda)" 2 3 .Die Wirtschaftsstruktur des Ortes wird wie folgt beschrieben: „Oberellenbach, dessen Mundart Gegenstand dieser Untersuchung sein soll, ist ein Dörfchen von 450 Einwohnern, deren Beschäftigung fast ausschließlich Landwirtschaft ist . . . N u r noch wenige, dem Bauern nahestehende Berufe kommen hier in Betracht. Da ist der Stellmacher, der die landwirtschaftlichen Geräte herstellt, der Weber, der den geernteten Flachs zu Tuch verarbeitet, der H o l z hauer, der das Brennholz f ü r den Winter beschafft, der Schmied, der Schuster, der Schneider, der Tischler, der Weißbinder . . . Diese Berufe liegen meist noch in der H a n d von kleineren Besitzern, denen sonst in erster Linie die Bestellung ihres Ackers am Herzen liegt 24 ." Der Wortschatz der Gemeinsprache von Oberellenbach ist durch o. a. Fächer charakterisiert; ich greife aus dem Lexikon heraus: fitzen, Term. techn. der Weißbinder: ,einflechten der Fitzgerten in die Schalhölzer'; Term. techn. der Weber: ,das gewebte Garn durch Fitzfaden in Gebinde aufteilen'; Gezeug, Term. techn. der Weber: ,Teil des Webstuhls, bestehend aus dem Gezeugblatt und zwei Holzleisten, an denen eine Reihe besonders präparierter H a n f f ä d e n herabhängt, die ihrerseits in der Mitte mit je einer runden Drahtöse versehen sind, durch welche die einzelnen zu webenden Fäden hindurchlaufen'; Kehrholz, ,Querholz am Wagen, das die beiden Arme des Vorderwagens verbindet und auf dem sich die Langdeichsel hin und her bewegt'; Knottenritter, ,Sieb mit mittelfeinem Geflecht, das dazu dient, den aus den Fruchtkapseln befreiten Lein zu sieben' 25 . Die genannten Arbeiten weisen auf verschiedene Typen fachlich geprägter Gemeinsprachen hin 26 , die von einer besonderen Geschlossenheit zu sein scheinen. Aber einige Hinweise schränken ein; so betont Warnecke: „Die Wort- und Lautformen sind nie ohne weiteres auf alle Leute im Orte zu verallgemeinern; sondern es wird gewiß in den meisten Fällen auch noch etwas anderes daneben gesagt, 21

D D G Bd. 26, Marburg 1932.

22

A. a. O. S. 8 ff.

23

D D G Bd. 19, Marburg 1926.

24

A. a. O. S. 2.

25

A. a. O. S. 46 ff.

28

Erwähnt sei noch die „Sprach- und Gründungsgeschichte der erzgebirgischen Kolonie im Oberharz" von E. Borchers, D D G Bd. 22, Marburg 1927. Hier spielt der Bergbau eine wichtige Rolle.

Fach- a. Gemeinsprache:

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d. Sprache

321

oder möglicherweise kennt nur ein Teil des Ortes einen Namen für die betreffende Sache 27 ." Hofmann weist darauf hin, daß der gesamte Wortschatz der Hausweberei aussterbe, was durch die „Einführung neuer Begriffe und neuer Sachen" ausgeglichen werde: „Neue Wörter werden eingeführt, die sich rasch mit der Verbreitung des bezeichneten Gegenstandes einbürgern 28 ." Das bedeutet Spezialisierung, Vermehrung der einflußreichen Fächer, Orientierung über enge Regionalgrenzen hinaus, Gefährdung der Einheit, die zuerst lautlich zerbricht; das bedeutet ferner zunehmende Verstädterung, die für unsere Gesellschaftsentwicklung unausweichlich ist, und einen verstärkten Informationsbedarf und -zwang. So geschah es ganz zwangsläufig, daß die Stadt zum Forschungsobjekt einer wachsenden Anzahl von Disziplinen wurde. Die Dialektgeographie sah, wie es F. Wrede in seinen Berichten über Georg Wenkers Sprachatlas formulierte, in den komplexen Stadtsprachen zunächst „Ausnahmebezirke" und „Enklaven", die sich von dem ländlichen Dialekt deutlich abhoben und den traditionellen Methoden unzugänglich waren 29 . Am Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre wurden mehrere Versuche unternommen, eine Stadtmundart darzustellen. Ich greife hier die Arbeit Erich Kuntzes „Studien zur Mundart der Stadt Saarbrücken (Lautlehre)" 3 0 heraus, die zahlreiche wertvolle Hinweise in der Einleitung enthält. Kuntze nimmt den Terminus „Enklave" seines Lehrers Wrede auf und schildert, wie aus Einzelgemeinden, industriellen Großbetrieben, aus Industriesiedlungen und Stadterweiterungen unter Einbeziehung der Peripherievororte die Großstadt Saarbrücken erwuchs; aus der historisch-technisch-wirtschaftlichen Struktur die Konsequenz ziehend, weist 31 er der Industriestadt die Rolle eines mundartlichen Spaltpilzes zu. An grundlegenden Faktoren wird aufgezählt: „geographisch begünstigte Lage Saarbrückens als Verkehrsgabelpunkt wichtiger vielbegangener Handelsstraßen, die Lage an der kanalisierten schiffbaren Saar, ergiebiger Steinkohlenbergbau der Umgebung, die Nachbarschaft des an Minetteerzen reichen Lothringens, ein Hinterland mit einem starken, arbeitsfreudigen Menschenreservoir, gut ausgebautes Eisenbahnnetz, ein Industrie- und Kohlenhafen, Eisenhütten und industrielle Anlagen, Knotenpunkt und Zentrale bedeutsamer Eisenbahn- und Fluglinien 32 ." Bei einem Vergleich der Zitate zur Wirschaftsstruktur aus den eingangs besprochenen Arbeiten und aus der letztgenannten Kuntzes wird sofort erkennbar, wie komplex und vielfältig die Fächer geworden sind. Die Vielfalt und ihre sprachliche Konsequenz werden häufig an einem Ideal des Einfachen, Organi" A. a. O. S. VII. 28

A. a. O. S. 3.

28

F. Wrede, Kleine Schriften. D D G Bd. 60, Marburg 1963, S. 11, 19 f.

30

D D G Bd. 31, Marburg 1932.

31

A. a. O. S. 6.

32

A. a. O. S. 3.

21

Mitzka, Wortgeographie

322

Dieter

Möhn

sehen gemessen und erhalten dann sehr oft das Prädikat „unorganisch" 3 3 . Dabei hätte es nahegelegen, die neuen herrschenden Fächer, wie es zuvor mit der Landwirtschaft geschehen war, mit differenzierten Methoden in die Forschung einzubeziehen. Solche Ansätze sind durchaus spürbar, wenn Kuntze etwa einzelne Schichtungen in der Saarbrücker Umgangssprache abhebt, die er zwischen der Stadtmundart und der Schriftsprache ansetzt; eine erste Übergangsstufe wird als Sprache der mittleren Volkskreise, der Beamtenfamilien, der Geschäftsleute und des besseren Arbeiters gekennzeichnet, eine zweite als die Alltagssprache des in Saarbrücken ansässigen, eingesessenen Gebildeten. Noch deutlicher ist der Einfluß der neuen Fächer, wenn der Autor auf die Gefährdung der einheitlichen Sprache des Arbeiters aufmerksam macht: „ . . . ob die heute noch einheitliche Sprache der Arbeiterbevölkerung existenzfähig und sicher ist, möchte man bezweifeln, denn die Mundart hat keinen schlimmeren Feind als eben die Industrie . . . " und feststellt, daß diejenigen Saarbrücker Bergleute, die zu Steigern und Obersteigern ausgebildet wurden, „zu einer von der Schriftsprache beeinflußten universalen Bergmannssprache neigen", während die „reine Bergmannssprache" nur noch vom „gewöhnlichen H a u e r " gesprochen werde 3 4 . An diesem Punkt tritt klar zutage, wie sehr Dialektgeographie und fachsprachliche Forschung aufeinander bezogen sind; durch eine Zusammenarbeit würde für den übergreifenden Bereich der Kulturgeographie ein außerordentlich wirksames Verfahren zur Verfügung gestellt, das den jeweiligen

Inte-

grationsgrad eines Faches feststellen könnte; ich denke hier etwa auch an Probleme der Infrastruktur, insbesondere der Bildungspolitik. Erst nach dem zweiten Weltkrieg hat man sich diesen Fragen stärker zugewandt; J . Goossens etwa ist den sprachlichen Konsequenzen der Industrie für die niederländische Landwirtschaft (!) in seiner Studie „Taalgeografie en moderne naamgeving" nachgegangen 35 . Über einen großangelegten Versuch, für einen „Atlas of the Eastern United States" sprachliche Grundlagen zu sammeln, bei denen verschiedene Schichten (the folk, the middle class, the cultural elite) berücksichtigt wurden, berichtet H . K u r a t h 3 6 ; in seinem Forschungsbericht heißt es: „For nearly a Century students of the spoken language have focused their attention on regional and local differences in folk speech . . . " wobei zu folk „the peasant or rustic, and the underprivileged city develler" gerechnet werden. Kriterien für diese

33

In zahlreichen M u n d a r t m o n o g r a p h i e n begegnet „organisch" als Urteil für eine bodenständige, durchschaubare M u n d a r t , die scheinbar eine gleichmäßige Einheit v e r k ö r pert. K u n t z e betont demgegenüber für Saarbrücken: „ D e r Sprachtypus bei Berücksichtigung etwaiger Verschiedenheiten t r ä g t , wie bereits dargelegt ist, den C h a r a k t e r einer S t a d t m u n d a r t , die in weit höherem M a ß e als die rein ländlichen M u n d a r t e n u n o r g a n i s c h e n (Sperrung: D . M.) Einflüssen unterliegt" (A. a. O . S. 9 ) .

34

A . a . O . S. 15.

35

I n : Tijdschrift v o o r Nederlandse T a a l en L e t t e r k u n d e L X X X

36

Interrelation between regional and social dialects. I n : Preprints of papers for the N i n t h International Congress o f Linguists. C a m b r i d g e Mass. 1 9 6 2 , S. 185 ff.

( 1 9 6 3 ) , S. 41 ff.

Fach- u. Gemeinsprache:

Zur Emanzipation

u. Isolation

d. Sprache

323

Schichtungen sind nur aus den gesellschaftlich dominanten Fächern zu gewinnen, und zwar sachlich wie sprachlich 37 . 4. Der Deutsche

Sprachatlas

und der Deutsche

Wortatlas

Die Anfänge einer systematischen deutschen Dialektgeographie fielen in eine Zeit, in der die Agrarlandschaft und damit der großräumige Anspruch der landwirtschaftlichen Terminologie durch die aufkommende Industrie bereits stark gefährdet waren. Und obwohl sehr früh der soziallinguistische Aspekt in der Dialektologie erkannt und hervorgehoben wurde 38 , richtete sich ihr Augenmerk ausschließlich auf „die bisher ungeschriebene Sprache des Bauern" 39 . Das hatte verschiedene Gründe: Der wichtigste war ohne Zweifel der, daß man zu dieser Zeit mit einem von der Landwirtschaft bestimmten Fragebogen noch am erfolgreichsten das gesamte deutsche Sprachgebiet erfassen konnte; zum andern kam es darauf an, die konservative Mundart zu fixieren und darzustellen, weil man die Auflösungstendenzen schon zeitig wahrgenommen hatte. Schließlich waren Methoden, mit deren Hilfe „städtische" Sprachstrukturen erreichbar wurden, nicht oder kaum entwickelt. Wenn auch die 40 Wenkersätze nach lautlichen und formalen Kriterien zusammengestellt sind, ist die Orientierung am flachen Lande erkennbar; vgl.: „Die Bauern hatten fünf Ochsen und neun Kühe und zwölf Schäfchen vor das Dorf gebracht, die wollten sie verkaufen", „Die Leute sind heute alle draußen auf dem Felde und mähen", „Ich bin mit den Leuten da hinten über die Wiese ins Korn gefahren". Es ergab sich bald die Notwendigkeit, in einer zweiten umfassenden Aufnahme das Lexikalische stärker zu betonen, da sehr schnell deutlich wurde, daß Laute und Formen von ihrem Träger nicht zu isolieren waren, somit dem Wort (und damit der Sache) sprachraumgliedernde Funktion zukam 40 . Der oben an 57

Kurath hebt hervor, daß erst die Einbeziehung verschiedener Schichten in die Dialektgeographie deren Aussagen „realistisch" macht: „A realistic account of this process is possible only when a record of middle class and upper class within the area is available. T o supply this information for the various European countries in which folk usage has been systematically recorded is surely one of the major tasks confronting the dialectologist. This need was clearly foreseen forty years ago by H e n r y C. Wyld, when he said in his History of Modern Colloquial English, p. 186: ,It is remarkable that while the English of illiterate elderly peasants has often been examined, with the view of recording for posterity the rugged accents of the a g r i c u l t u r a l c o m m u n i t y (Sperrung: D . M.) . . . it has not been thought worth while to preserve the passing fashions of speech of the courtly and polite of a former day'." ( A . a . O . S. 185 f.)

38

F. Wrede, a. a. O. S. 335 und 344.

39

A. a. O. S. 345.

40

„das belehrende ergebnis, dass es mit dem stillschweigend angenommenen zusammengehn dialectischer hauptunterschiede sehr schwach bestellt ist (Wenker a. a. O. VI), gestaltet sich jetzt, w o zum ersten mal ein gesamtüberblick über die dialectisdie entwicklung des ganzen deutschen reichs ermöglicht ist, immer radicaler. die jahrelange eingehende beschäftigung mit dem material des SpA führt immer mehr zu der Erkenntnis, dass die vielfach vorhandenen schiefen Vorstellungen von leben und

21*

324

Dieter Möhn

erster Stelle genannte G r u n d f ü r eine Orientierung an der Agrarlandschaft verlor im ersten Drittel unseres J a h r h u n d e r t s erheblich an Überzeugungskraft; das belegen nachdrücklich z u m Deutschen W o r t a t l a s eingegangene A n t w o r t e n , w e n n sie aus der N ä h e der G r o ß s t a d t stammen. In vielen Fällen w u r d e die ursprüngliche M u n d a r t f o r m mit dem P r ä d i k a t „veraltet "versehen u n d die im Fragebogen vorgegebene schriftdeutsche Bezeichnung vorgezogen; die Bemerkung des Lehrers von Oberliederbach (Main-Taunus-Gebiet): „die hießige Sprache der nahen G r o ß s t a d t a n g e p a ß t " sei hier beispielhaft angeführt. Dennoch bot sich auch in den 30er J a h r e n f ü r einen gesamtdeutschen Wortatlas der l a n d w i r t schaftliche Bereich an, als es darauf a n k a m , die G r u n d m u n d a r t einzubringen u n d einen gewissen Zusammenhang mit dem Deutschen Sprachatlas zu w a h r e n . Es ist das Verdienst W. Mitzkas, am Ende der 30er J a h r e als D i r e k t o r des D e u t schen Sprachatlas einen durch die Landwirtschaft geprägten Fragebogen in alle Schulorte versandt zu haben; der Grundstein f ü r den Deutschen Wortatlas w a r damit gelegt. Von den a u f g e f ü h r t e n Begriffen seien genannt: Brennessel, Brombeere (Frucht), Distel, Erdbeere (im Walde), H a g e b u t t e , Heckenrose, Himbeere (Frucht), H o l u n d e r (Sambucus), Kätzchen (am Haselstraudi), Kamille (auf dem Felde), Kartoffel, Kornblume, Maiglöckchen (Convallaria), Margerite ( C h r y santhemum leuc.), Meerrettich, Mohrrübe, Pflaume, Pilz, Preiselbeere (vaccinium ideaea vitis), Quecke, Roggen, R o t k r a u t (Kohlart), Sauerklee (Oxalis), Schlüsselblume (Primula allg.), Schneeglöckchen, Schnittlauch, Stachelbeere (Frucht), Wacholder (Juniperus); Grasschwade, G r u m m e t ; Backtrog, Deichsel (bei Zweispänner), Gabeldeichsel (Einspänner), Nachharke, Peitsche (des Wagenlenkers), Pflugwende (Ackerstelle, w o der Pflug gewendet wird), Schwengel (kl. Zugholz f ü r Stränge an der Deichsel), Werkzeug z u m Durchstechen des Leders; ernten (Kartoffeln), häufeln (die Kartoffeln), nachharken (Getreide mit großem Rechen zusammenholen), U n k r a u t ausziehen (mit der H a n d ) , wenden ( H e u ) ; H a n d werker, der Bauernwagen bes. die R ä d e r anfertigt; Ente (männliche), Euter (der Kuh), Euter (allgemein), Ferkel, Gans (männl., weibl.), Gans (junge), H a h n , H e n n e (brütende), Heuschrecke, K a l b (weibl.), L a m m (weibl.), M a u l w u r f , Mistkäfer, Mutterschwein, u n f r u c h t b a r (von der Kuh), wiederkäuen, Ziege. Angesichts dieses Materials k a n n es nicht v e r w u n d e r n , d a ß unlängst eine Studie „Der Deutsche W o r t a t l a s als Quelle f ü r die Agrargeschichte. Ein Bericht" vorgelegt wurde 4 1 , deren Verfasser freilich darauf hinweist, „ d a ß die naive Voraussetzung der Gleichartigkeit einer Sache höchstens im Falle einer zoologisch/botanischen Festlegung, wie etwa bei ,Mutterschwein', ,Gans', ,Ente',

41

grenzen der deutschen m u n d a r t e n in erster linie auf leidiger Verallgemeinerung unzulänglicher beobachtungen b e r u h e n (vgl. A n z . X V I , 278 ff.), dass lautliche oder flexive eigenheiten eines p a r a d i g m a s nicht ohne weiteres auf ein anderes gleicher g a t t u n g ü b e r t r a g e n w e r d e n d ü r f e n usw. die methodische consequenz h a t es allmählich z u m allein geltenden p r i n z i p erhoben, d a ß bei bearbeitung des SpA j e d e s e i n z e l n e w o r t f ü r s i c h ( S p e r r u n g : D . M . ) u n a b h ä n g i g v o n allen a n d e r n u n d selbst v o n v e r w a n t e n , kartographisch dargestellt w i r d . " F. W r e d e , a. a. O . S. 9. V o n O . Reichmann in: Zeitschrift f ü r Agrargeschichte u n d Agrarsoziologie 14 (1966), S. 30 ff.

Fach- u. Gemeinsprache:

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u. Isolation

d. Sprache

325

,Himbeere' usw. unproblematisch ist, daß in vielen anderen Fällen, vor allem bei Geräten jedoch eine nach Zeit, Raum und sozialer Schicht variierende sachliche Grundlage vorauszusetzen ist" 42 . Somit stellt auch der Wortatlas nicht das Abbild einer geschlossenen sprachlichen Schicht eines Faches dar, sondern birgt die Reflexe einer sozialen Stufung. Wenn in den Antworten für Bearbeitungsvorgänge Doppelmeldungen begegnen, dann ist in vielen Fällen von verschiedenen Wirtschaftsformen auszugehen, die ihrerseits wieder sozial festgelegt sind; so werden die Bezeichnungen für die Karte ,Kartoffeln häufeln' wiederholt durch den Hinweis ergänzt, daß man zwischen Handarbeit und Pflügen unterscheiden müsse. „Man geht nicht fehl in der Annahme, daß erstere Art des Häufeins vor allem bei kleinflächigem, oft gartenmäßigem Anbau und letztere Art vorwiegend bei größerem feldmäßigem Kartoffelbau begegnet 43 ." Damit sind als Sprachträger der Arbeiterbauer auf der einen, der Großbauer auf der anderen Seite erfaßt. Dieses Beispiel mag genügen, um den Wert des Forschungsinstruments Wortatlas auch für eine differenzierende Betrachtung der landwirtschaftlichen Fachsprache aufzuzeigen; es käme darauf an, Fehlmeldungen und Doppelantworten stärker als bisher in die Interpretation einzubeziehen 44 . 5. Darstellungen

der

Sprachgeschichte

Seinen bereits erwähnten Aufsatz über „Das Problem der Präzision . . . " leitet A. Heidelberger mit dem Hinweis ein, daß das Englische weithin als die Sprache einer Literatur, die Werke von Weltgeltung aufzuweisen habe, bekannt und erforscht sei; er fährt fort: „Die Sprache eines Watt und Stephenson, eines Faraday, Maxwell, Rutherford u. a. wurde jedoch von der anglistischen Forschung bisher wenig beachtet 45 ." Bereits 1919 beklagte L. Olschki in seiner viel zu selten gewürdigten „Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur" 4 6 das geringe Interesse f ü r sprachliche Probleme auf seiten der Philologie und der jeweiligen Fachdisziplinen: „Während die Philologie die Heranbildung der wissenschaftlichen Prosa ignoriert, betrachtet die Geschichte der Philosophie, der Mathematik und der Naturwissenschaften die Sprache als das bereits gegebene, stets gefügige und nicht immer notwendige Mittel zum Ausdruck des Erdachten und Erschlossenen sowie zu deren Übertragung und Verbreitung 47 ." Diese, auch für den Jahrhundertbeginn überspitzt formulierte Situation ist heute keineswegs mehr anzutreffen; aus beiden Richtungen hat man sich sprachlichen Fragen stärker zu42

A. a. O. S. 32.

43

A. a. O. S. 33.

44

Zur Funktion von Sprachatlanten als Forschungsinstrument vgl. W. Mitzka, H a n d buch zum Deutschen Sprachatlas. Marburg 1952, S. 35, 37.

45

A. a. O. S. 2.

46

l . B d . , D i e Literatur der Technik und der angewandten Wissenschaften vom Mittelalter bis zur Renaissance. Heidelberg 1919.

47

A. a. O. S. 3.

326

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Möhn

gewandt, die „Fächer", weil Fragen der Begriffsbildung und -bezeichnung an ihre Existenz rührten 4 8 , die Philologie, weil die massiven Auswirkungen in der Sprache der Gegenwart nicht länger zu übersehen waren. In sehr vielen Fällen waren Normungsvorgänge der Anlaß zur Zusammenarbeit, die heute so weit gediehen ist, daß man zwar das Trennende nicht vergißt, das Gemeinsame aber erkannt hat. Als greifbares Beispiel f ü r den verstärkten Kontakt von N a t u r und Geisteswissenschaften sei der unlängst erschienene Dokumentationsband „Dialog des Abendlandes. Physik und Philosophie" 4 9 genannt. In der deutschen Sprachgeschichte sind wiederholt Ansätze zu einer stärkeren Orientierung an den Fächern zu ermitteln, die besonders nach der Jahrhundertwende sich verdichteten; man vgl. 1899: F.Müller, Zur Terminologie der ältesten mathematischen Schriften in deutscher Sprache; Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik; P. H o r n , Die deutsche Soldatensprache; 1900: H . Klenz, Die deutsche Druckersprache; 1902: E. Göpfert, Die Bergmannsspr. in d. „Sarepta" des Joh. Mathesius; 1906: Th. Imme, Die deutsche Waidmannssprache . . . ; 1907: J. Bröcher, Die Sprache des Schmiedehandwerkes im Kreise Olpe auf Grund der Mundart von Rhonerd; 1909: P. Nolte. Der K a u f m a n n in der deutschen Sprache und Literatur des Mittelalters; 1911: F. Kluge, Seemannssprache; 1912: A. Schirmer, Der Wortschatz der Mathematik nach Alter und H e r k u n f t untersucht; 1917: Th. Imme, Die deutsche Soldatensprache der Gegenwart; O. Mausser, Dt. Soldatensprache; 1918: H . K r a u s e , Die Geschichte der neueren zoologischen Nomenklatur in deutscher Sprache; 1919: A. Götze, Anfänge einer mathematischen Fachsprache in Keplers Deutsch. Entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung hatten F. Kluge, A. Schirmer und A. Götze; auch Edw. Schröder ist hier zu nennen, der 1913 einen Aufsatz „Zur Geschichte der zoologischen und botanischen Nomenklatur im 19. Jahrhundert" veröffentlichte und die o. a. Arbeit von Krause anregte. Unterstützt wurde das wachsende Interesse an den Sondersprachen dadurch, daß man immer stärker von einer isolierenden Betrachtung der Laute und Formen abrückte und das Wort als Bedeutungsträger einbezog. Noch das Vorwort zur 1. Auflage der Deutschen Wortgeschichte von Maurer und Stroh läßt dies erkennen: „Es ist der erste Versuch, die Geschichte der deutschen Sprache, die letztlich O t t o Behaghel von den Lauten und Formen aus geschrieben hat, nun auch in umfassender Weise als Wortgeschichte darzustellen 5 0 ." Schon 1894 hatte H . Paul in den Sitzungsberichten der Bayer. Akademie folgende vier Aufgaben der Wortforschung genannt: „1. eine möglichst genaue 48

Vgl. dazu W.Heisenberg, Sprache und Wort und Wirklichkeit. München 1960, Problem der naturwissenschaftlichen und und die Erkennbarkeit der Gegenstände. II (1947), S. 537 ff.

49

Mit Beiträgen v o n C. F. v o n Weizsäcker, W. Gerlach, W. Wieland, M. Born, G. Günther, V. F. Weisskopf hrsg. von E. Heimendahl. München 1966. Deutsche Wortgeschichte, hrsg. von F. Maurer und F. Stroh, Bd. 1—3, Berlin 1943, im Vorwort.

50

Wirklichkeit in der modernen Physik. In: S. 32 ff. Instruktiv auch Th. Haering, Das der geisteswissenschaftlichen Begriffsbildung In: Zeitschrift für Philosophische Forschung

Fach- u. Gemeinsprache: Zur Emanzipation

u. Isolation d. Sprache

327

Abgrenzung der Sphäre des Gebrauchs f ü r jedes W o r t u n d jede Verwendungsweise; 2. Festsetzung, in welchen Verkehrskreisen ein W o r t gebraucht w i r d ; 3. Feststellung des räumlichen Gebrauchs eines Wortes; 4. Feststellung, welchen Gebrauchskreis die technischen Ausdrücke haben 5 1 ." H . H i r t versuchte in seiner „Etymologie der neuhochdeutschen Sprache" (1. A u f l . 1909) eine zusammenfassende Darstellung des Deutschen Wortschatzes; die 2. A u f l . aus dem J a h r e 1921 enthält ein umfangreiches Kapitel „Die Sondersprachen", u. a. mit folgenden Abschnitten: „Die Sprache der Religion", „Die Rechtssprache", „Die Sprache des Ackerbauers", „Die Jägersprache", „Die Bergmannssprache", „Die Buchdruckersprache", „Die sonstigen H a n d w e r k e r s p r a c h e n " , „Die K a u f m a n n s sprache", „Die Sprache der Wissenschaft", „Die Sprache der M a t h e m a t i k " . A m Ende steht ein Hinweis auf die Sprache der Naturwissenschaften, hier aber fehle noch der Einblick. H i r t unterscheidet zwei Fragestellungen f ü r den Linguisten u n d erreicht damit einen bemerkenswerten methodischen Ansatz, der in der Folgezeit keineswegs immer v o r h a n d e n w a r , nämlich die Frage nach der E n t wicklung der Sondersprachen „mit ihrem eigentümlichen Wortschatz", zum andern die Frage nach dem Einfluß auf den Wortschatz der Allgemeinsprache 5 2 ; d. h. es ist notwendig, die Eigenleistung im ursprünglichen Sprachsystem zu untersuchen, sodann das transponierte W o r t in seinem neuen System zu verfolgen; erst dann erscheint ein Vergleich tragbar. Noch deutlicher formuliert m u ß die Frage lauten: „Was leistet derselbe L a u t k ö r p e r in zwei verschiedenen Sprachsystemen ? " In den Sprachgeschichten ist deutlich zu fassen, wie die Vorstellung des Differenzierten immer mehr um sich greift; dabei w i r d auch den einzelnen Fachdisziplinen ein ständig wachsender Anteil zugestanden. J. Weisweiler bedauert 5 3 , d a ß „der Krieger u n d der Bauer, der H a n d w e r k e r u n d der K a u f m a n n " in den Sprachdenkmälern der deutschen Frühzeit k a u m vertreten sind. „ H i e r klafft eine empfindliche Lücke in der deutschen Wortgeschichte, die nur zu geringem Teil durch V e r k n ü p f u n g des Wortschatzes der folgenden J a h r h u n d e r t e , insbesondere der altgermanischen Sprachen geschlossen werden kann 5 4 ." Es w a r nur konsequent, d a ß der 3. Bd. der Deutschen Wortforschung ( l . A u f l . ) den Teil „Stände u n d Berufe" enthielt, der von A. Brettschneider („Bauerntum u n d bäuerlicher Wortschatz"), von F. M a u r e r („Zur H a n d w e r k e r s p r a c h e " ) u n d H . L. Stoltenberg („Der Wortschatz der Wissenschaft") gestaltet wurde. H . M o s e r ü b e r n a h m es in der 2. Aufl. 5 5 , den Wortschatz der Gegenwart darzustellen, er hebt den „engsten Zusammenhang mit dem W a n d e l der Gesamtsituation auf kulturellem u n d zivilisatorischem, politischem, wirtschaftlichem und sozialem 51

Zitiert nach H . H i r t , Etymologie der neuhochdeutschen Sprache. A. a. O. S. 72.

52

A. a. O . S. 312.

53

J. Weisweiler, Deutsche Frühzeit. I n : Deutsche Wortgeschichte Bd. 1, 1. Aufl. a. a. O. S. 71 ff. (Neudruck in der 2. Aufl., Bd. 1, Berlin 1959, S. 51 ff.), Zitat S. 73.

54

A. a. O . S. 73 f.

55

H . Moser, Neuere und neueste Zeit. Von den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts zur Gegenwart. I n : Bd. 2 hrsg. von F. Maurer und F. Stroh, Berlin 1959, S. 445 ff.

328

Dieter Möhn

Gebiet" hervor 5 8 . Gerade ein Vergleich der Gegenwartskapitel in der 1. u n d 2. A u f l . zeigt, wie gewichtig die Fächer f ü r die Sprachgeschichte geworden sind. Moser sichtet die Neubildungen nach folgenden Sachgebieten: Technik, Verkehrswesen, Nachrichtenwesen, Film, H ö r - u n d B i l d f u n k , Wirtschaft, Gesundheitspflege, W o h n u n g u n d Kleidung, Innenpolitische u n d staatliche Einrichtungen, Zwischenstaatliche Beziehungen, Geistiges Leben 5 7 . Die Ergebnisse der Wortforschung f a n d e n eine entsprechende Resonanz in den zusammenfassenden Sprachgeschichten, das w i r k t sich in zahlreichen Fällen bereits in der K o n z e p t i o n aus. A. Bach hebt f ü r alle Epochen die Tatsache hervor, „ d a ß einzelne Berufe, Stände u n d ihre G r u p p e n der Allgemeinheit W o r t g u t geliefert haben" 5 8 . Bei der E r ö r t e r u n g der einzelnen Zeiträume behält er daher den Fachsprachen gesonderte Abschnitte vor, die sich von der Sprache der germanischen Schmiede bis zu der der A t o m p h y s i k erstrecken; dabei w i r d der wachsende Einfluß herausgearbeitet: „ I n den entwickelteren Verhältnissen des 14./17. Jhs. mit ihrem aufstrebenden Städtewesen u n d einer weitergehenden gesellschaftl. Aufspaltung spielen die meist über die landschaftl. R ä u m e hinaus geltenden Sondersprachen sozialer G r u p p e n eine wichtigere Rolle als je z u v o r " : u n d weiter u n t e n : „Die starke Aufgliederung des wirtschaftl., wissenschaftl., technischen, polit. u n d allen geistig-kulturellen Lebens im 19./20. J h . hat es mit sich gebracht, d a ß A n z a h l u n d Bedeutung der Sondersprachen außerordentlich gewachsen sind5®." Auch H . Moser betont in seiner Deutschen Sprachgeschichte diese Entwicklung, die „durch die Popularisierung vor allem der Naturwissenschaften u n d der Technik" erheblich gefördert werde 6 0 . Bei den drei in allerjüngster Zeit erschienenen Sprachgeschichten von H . Eggers' 1 , v o n H . Sperber — P. v o n Polenz 6 2 u n d F. Tschirch 83 ist außerordentlich deutlich, welcher Wandel in der Darstellung der Sprachgeschichte eingetreten ist. M a n vergleiche die folgenden grundsätzlichen Bemerkungen: „So geht die E n t wicklung in buntem Wechsel weiter, u n d in jeder Epoche gehören die H a u p t beteiligten einer anderen soziologischen G r u p p e a n " (Eggers) 6 4 ; „Sprachgeschichte ist nicht nur Stilgeschichte der schönen Literatur u n d der gepflegten Sprachkultur. Auch andere Stilbereiche müssen berücksichtigt werden, v o n der Ge58 57

A. a. O. S. 445. A. a. O. S. 450 ff.

58

Geschichte der deutschen Sprache. 8. Aufl. Heidelberg 1965, S. 412 f.

59

A. a. O. S. 240, 409.

60

5. Aufl. Tübingen 1963, S. 173.

61

H. Eggers, Deutsche Sprachgeschichte I. Das Althochdeutsche, rde 185/186 Hamburg 1963; Deutsche Sprachgeschichte II, Das Mittelhochdeutsche, rde 191/192 Hamburg 1965.

62

Geschichte der deutschen Sprache von H. Sperber. 5. neubearbeitete Aufl. von P. von Polenz. SIg. Göschen 915, Berlin 1966.

63

F. Tschirch, Geschichte der deutschen Sprache, I. Die Entfaltung der deutschen Sprachgestalt in der Vor- und Frühzeit. Grundlagen der Germanistik 5, Berlin 1966.

64

Deutsche Sprachgeschichte I a. a. O. S. 20.

Fach- u. Gemeinsprache:

Zur Emanzipation

u. Isolation

d, Sprache

329

brauchsprosa in Wissenschaft, Verwaltung, Wirtschaft und Technik bis zur gesprochenen Alltagssprache (soweit sie sich wissenschaftlich erfassen läßt)" (von Polenz) 6 5 ; „. . . so ist eine entscheidende Aufgabe des Sprachhistorikers: die Veränderungen im Verhältnis der Menschen zu seiner Umgebung, der beseelten wie der unbeseelten, auf sein jeweiliges Weltbild, auf sein dauernd sich wandelndes Lebensverhältnis zurückzuführen" (Tschirch) 66 . Diese Prinzipien erbrachten eine entsprechende Berücksichtigung der Fachsprachen und Sprachschichten. „Abgesehen von Ansätzen zu fachsprachlichen Sonderentwicklungen muß man innerhalb der Gemeinsprache auch in germanischer Zeit bereits mit gewissen Schichtungen rechnen" 67 . Tschirch ordnet den Wortschatz f ü r das Indogermanische, das Germanische und das frühmittelalterliche Deutsch nach sachlichen Kriterien. Sicherlich war zu diesen Zeiten die Gesellschaft nicht so differenziert, wie wir sie heute vorfinden, aber es scheint doch verständlich, daß es auch in der Frühe schon Fachleute gab, die ihr Fach sachlich und sprachlich voranbrachten. Von Polenz hat der überarbeiteten Fassung von Sperbers Geschichte der deutschen Sprache einen neuen fünften Teil „Entwicklungen des modernen Deutsch" hinzugefügt. Hier wird der Zusammenhang zwischen Gemein- und Fach- oder Sonderwortschatz ebenso hervorgehoben wie die Existenz von verschiedenen Stilschichten, wie sie nicht nur in der Allgemeinsprache, sondern ebenfalls in den Fachsprachen anzutreffen sind; ein besonderer Abschnitt ist der Sprache der Politik eingeräumt 6 8 . Zusammenfassend ist festzustellen: Die Fachsprachen haben, gestützt durch die Wortforschung und eine zunehmend differenzierte Sprachanalyse, ihren Platz in der deutschen Sprachgeschichte eingenommen. Bei einem Vergleich der Anteile ist sichtbar, daß f ü r alle Epochen noch Lücken vorhanden sind, ganz besonders aber in der Gegenwart. Während f ü r die im Bereich der spätmittelalterlichen Stadt aufgekommenen Sondersprachen schon sehr weitgehende Untersuchungen vorhanden sind, fehlt es an sprachlichen Darstellungen der modernen Fächer ebenso wie an anknüpfenden Arbeiten f ü r die traditionellen Bereiche. Die Normungsbestrebungen der modernen Technik wurden wiederholt auch von philologischer Seite gewürdigt 6 8 . Die Entdeckung des Wortes brachte einen wesentlichen Fortschritt f ü r die Erforschung der Fachsprachen, zugleich aber auch eine Gefahr, nämlich die der isolierenden Wortkörperbetrachtung. Ich greife hier die o. a. beiden Fragestellungen H . Hirts auf; es ist notwendig, von dem jeweiligen Sprachsystem auszugehen, erst dann kann verglichen werden. Es ist also erst ein Anfang, festzustellen, daß ein Wort aus einer bestimmten fachlichen Sphäre herrührt. 65 66 67 88 69

A. a. O. S. 6. A . a . O . S. 13. Eggers a. a. O. S. 223. A. a. O. S. 103 ff. Vgl. die schon erwähnte Arbeit von H . Ischreyt; ebenso E. Beier, Wege und Grenzen der Sprachnormung in der Technik. Beobachtungen aus dem Bereich der deutschen technischen Sprachnormung. Diss. Bonn 1960.

330

Dieter Möhn

Ich halte es für verfrüht zu sagen, daß die Fachsprachen im Grunde nur aus Fachterminologie bestehen und Fragen der Syntax auszuschließen70; hier liegt ein großes Aufgabengebiet, nämlich Vergleichsmaterial aus den verschiedensten Bereichen zu erarbeiten. Auch in diesem Falle muß das Gesamtsystem zunächst ergründet werden. Derartige Tendenzen zeichnen sich ab, wie auch in der Untersuchung der Allgemeinsprache syntaktische Fragen stark an Raum gewonnen haben. H. Eggers' Aufsatz „Wandlungen im Deutschen Satzbau" 7 1 hat neue Wege gewiesen. Das Programm der Arbeitsgruppe „Fachsprache im Unterricht" während der 1. Internationalen Deutschlehrertagung in München (Leitung: E. Benes) verdeutlicht die komplexe linguistische Problematik der Fachsprachen und zugleich ihre wichtige Rolle für das Sprachganze. Dabei geht es nicht nur um Terminologie, sondern um Sprache; aus den Thesen von E. Benes sei genannt: „Spezifische funktionsgerechte Stilnormen der wissenschaftlichen Sachprosa und ihre unzulängliche Beachtung in der deutschen Sprachpflege. Verschiedene Stilgattungen, Übergangs- und Randformen der wissenschaftlichen Prosa. Multilateraler Stilvergleich der Sachprosa in verschiedenen Sprachen. Quantitative Untersuchungen der Fachsprache." Bisher kaum ist das Problem der schriftlich-mündlichen Differenzierung innerhalb der Fachsprachen angegangen worden. 6.

Definitionsversuche

Es war ein langwieriger Prozeß, der zu der Erkenntnis der Schichtungen und ihrer Struktur innerhalb der Gemeinsprache führte; ähnliche Ergebnisse für die Fachsprachen gewinnen allmählich an Geltung. F. Maurer wies schon vor einiger Zeit darauf hin, daß die Handwerkersprache als Fachsprache und als Sprache einer Gemeinschaft zu betrachten sei: „In beider Hinsicht teilt sie mit anderen Fach- oder Gemeinschaftssprachen eine Reihe von Besonderheiten und Eigenschaften, beides zusammen gibt der Handwerkersprache ihren eigenen Charakter 7 2 ." Hier hätte ein Analogieschluß von der Gemeinsprache auf die fachlichen Gemeinsprachen für die Forschung nahegelegen. Man ging zunächst von einem einheitlichen Phänomen aus, das sich gegenüber der Gemeinsprache durch den unterschiedlichen Wortschatz, sei es bereits von der Bildung her, sei es durch die Bedeutung abhob. Bis in die jüngste Zeit ist in fachsprachlichen Untersuchungen mit umfassendem Titel, namentlich wenn sie auf schriftlichen Quellen basieren, nichts über die Stillage und Schichtung zu erfahren. In seinem Sammelbericht „Die Erforschung der deutschen Sondersprachen", der Standes-, Berufs- und Fachsprachen zusammenfaßt 73 , sieht A. Schirmer in den Fachsprachen eine Ergänzung, „indem zu den verhältnismäßig wenig zahl70

71 72

73

Auch E. Ploß betont, daß „viele Fachsprachen auch für die Syntaxforschung nicht uninteressant sind", a. a. O. S. 365. Näheres s. u. In: Der Deutschunterricht 13 (1961), S. 47 ff. Zur Handwerkersprache. In: Deutsche Wortgeschichte. 1. Aufl. Bd. III a . a . O . S. 135 ff., Zitat S. 135. GRM V (1913) S. 1 ff., Zitat S. 11.

Fach- «. Gemeinsprache:

Zur Emanzipation

u. Isolation

d. Sprache

331

reichen und meist eine Gattung bezeichnenden Begriffen der Gemeinsprache zahlreiche Spezialausdrücke von geringem, aber fest umgrenztem Bedeutungsumfang treten". H . H i r t nennt als „wesentliche und wichtige Punkte" f ü r die Standesund Berufssprachen: „1. Man hat f ü r die besondern Bedürfnisse des Standes neue Ausdrücke geschaffen, wie z. B. Kontrahage bei den Studenten oder 2. man hat Wörter der allgemeinen Sprache mit einem besonderen Sinn versehen, und 3. bewahren die Standessprachen alte Worte und Bildungen, die sonst längst untergegangen sind. So findet sich bei den Seeleuten der Ausdruck Wanten f ü r ,gestrickte Handschuhe' 7 1 ." Mit den Zitaten von Schirmer und H i r t ist ein Standpunkt umrissen, der auch heute weitgehend anerkannt ist; W. Porzig z . B . findet die Eigenart der Fachsprachen vor allem in ihrem Wortschatz und f ü h r t dazu aus: „Mit einer Genauigkeit und einer Beachtung auch der geringsten Einzelheiten, die weit über alles hinausgehen, was die Gemeinsprache leisten kann, werden die Gegenstände, Verhältnisse und Vorgänge eines bestimmten Sachgebiets bezeichnet 75 ." Ich deutete bereits an, daß vor allem die Beschäftigung mit der Fachprosa die Frage nach einer Differenzierung zunächst in den Hintergrund drängte. In der Gegenwart ist sie für fast jeden Bereich nicht mehr zu übergehen. Der Weg von der Idee zur Verwirklichung, von der Wissenschaft zur Praxis, erweist sich als stufenreicher als in der Vergangenheit, die moderne Spezialisierung verlangt nach sehr viel mehr Begriffen und Sprachträgern. Wissenschaft und H a n d werk im weitesten Sinne treten als gesonderte Bereiche stärker hervor. Es war schon in einem anderen Zusammenhang die Rede von den Gegensätzen und Gemeinsamkeiten der N a t u r - und Geisteswissenschaften, deren Leistung auch heute noch mit den Kriterien „objektiv" und „subjektiv" gekennzeichnet wird. Ich habe manchmal den Eindruck, daß ähnliche Denkmodelle dazu beitragen, in den wissenschaftlichen Fachsprachen der heutigen Zeit etwas gänzlich anderes zu sehen als in der übrigen Sprache. Die Konsequenzen sind scharfe Gegensätze. In den heutigen Naturwissenschaften ist der alte Dualismus verstärkt abgebaut und der Mensch als Mittelpunkt der wissenschaftlichen Interpretation erkannt worden. „Die alte Einteilung der Welt in einen objektiven Ablauf in Raum und Zeit auf der einen Seite und die Seele, in der sich dieser Ablauf spiegelt, auf der andern, . . . , eignet sich nicht mehr als Ausgangspunkt zum Verständnis der modernen Naturwissenschaft. Im Blickfeld dieser Wissenschaft steht vielmehr vor allem das Netz der Beziehungen zwischen Mensch und Natur, der Zusammenhänge, durch die wir als körperliche Lebewesen abhängige Teile der N a t u r sind und sie gleichzeitig als Menschen zum Gegenstand unseres Denkens und Handelns machen . . . Das naturwissenschaftliche Weltbild hört damit auf, ein eigentlich naturwissenschaftliches zu sein 76 ." 74

A. a. O. S. 286.



Das W u n d e r der Sprache. Probleme, Methoden und Ergebnisse der modernen Sprachwissenschaft. 2. Aufl. Bern 1957, S. 259. W. Heisenberg, zitiert aus: Dialog des Abendlandes. Physik und Philosophie a. a. O. S. 77 f.

76

332

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T h . Litt hat als Kommunikationsformen für den Bereich der „Sachdienstbarkeit" und des „Umgangs" „die Sprache der vollendeten Sachlichkeit" und die „Umgangs-Sprache" genannt; die erste wird wie folgt definiert: „Aus ihr ist mit unerbittlicher Folgerichtigkeit alles ausgeschieden, was die Reinheit der Sache durch Beimischung von außersachlichen, d. i. ,menschlichen' Motiven

trüben

könnte", demgegenüber ist die Umgangssprache „ein unüberbietbar eindrucksvolles Dokument der Beziehung von Mensch und W e l t " 7 7 . Eine solche dualistische Sprachbetrachtung liegt auch der Äußerung zugrunde, daß die Metaphernbildung „den einfachen Mann aus dem V o l k " charakterisiere 7 8 oder daß die Handwerkersprache konkret und die Wissenschaftssprache abstrakt sei 79 . Diese Gedankengänge haben eine reiche Tradition, die etwa in der R o m a n t i k als Gegensatz von Volks- und Bildungssprache begegnet. Es fehlt aber auch nicht an Meinungen, daß die Verdrängung der Gefühlswerte aus der Begriffsbildung nicht gänzlich erreicht werde 8 0 . Noch stehen Untersuchungen aus, die etwa prüfen, welche sprachlichen Muster den verschiedenen Formeln als Abstraktionsstufe zugrundeliegen, wie die Umsetzung in Sprache erfolgt (Interpretation), wie stark der Begriffswandel innerhalb der Wissenschaft bei gleichbleibender Terminologie ist usw. Aufschlüsse können hier nur Nachforschungen in der Sprachwirklichkeit erbringen, dort scheinen mir mehr Zusammenhänge

ver-

borgen, als bisher bekannt wurden. Man wird auch hier von starren Kategorien zu dynamischen Größen überwechseln, d. h. z. B. innerhalb desselben fachsprachlichen Bereiches mit wechselnden Anteilen, mit Mehrsprachigkeit rechnen müssen. Definierte Terminologiesysteme, die im übrigen für Bedeutungsänderungen stets offen sein müssen, bilden einen normierten Rahmen, innerhalb dessen sich die Fachsprache ausbilden kann; eine Öffnung ist schon dadurch gegeben, daß Bezeichnungen, die bereits vor der Normung existieren, nicht unterdrückt werden können, sondern immer wieder über eine „Grundschicht" hinaus gebraucht werden. Formalisierungen, die häufig als pars pro toto angesehen sind, bilden nur einen Teil der wissenschaftlichen Fachsprachen. W o etwa liegt ein Unterschied zur Gemeinsprache, wenn von Weizäcker über die Sprache der Physik sagt, daß sie „ihre Eindeutigkeit, sowie sie sie hat, nicht in einer für immer garantierten und absoluten Weise hat, sondern bezogen auf eine jeweilige Situation" 8 1 ? W i r erinnern uns an die ersten Definitionsversuche für die Fachsprachen, die ihre Leistung in einem Spezialwortschatz für einen speziellen Weltaspekt sahen; hier wurde für einen Sprachteil, nämlich den Wortschatz, Zutreffendes gefunden. 77

Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, 6. Aufl. Bonn

78

H . Bückendorf, M e t a p h o r i k in modernen technischen Bezeichnungen des Englischen.

1 9 5 9 , S. 1 5 0 f. K ö l n 1 9 6 3 , S. 2 9 4 . 79 80

H . Moser, Deutsche Sprachgeschichte a. a. O . S. 197. F.Stroh,

Stil der Volkssprache.

I n : Hessische B l ä t t e r

S. 1 1 9 ff.; Hinweis S. 1 2 9 . 81

Zitiert aus H . Ischreyt a. a. O . S. 4 8 .

für Volkskunde 2 9

(1930),

Fach- u. Gemeinsprache:

Zur Emanzipation

u. Isolation

d. Sprache

333

Wir erinnern uns an die Zusammenhänge von Fach- und Gemeinsprache, auf die F. Maurer hinwies. Gegenüber den gefundenen Parallelitäten und Kontakten gibt es Versuche, die eine scharfe Trennung suchen und den grundsätzlichen Abstand betonen. Als besonders extrem mutet die Studie W. Seibickes über „Fachsprache-Gemeinsprache" 82 an, in der die „eigene sprachliche Leistung" 83 der Fachsprache zur Diskussion steht. Auch hier gelangt der Verfasser zu dem Schluß, daß die Eigenart der Fachsprachen vor allem durch ihren Wortschatz begründet sei und sucht in dem Vergleich von Fachwort und gemeinschaftlichem Wort Kriterien f ü r eine Abgrenzung. Zwei Thesen stehen im Mittelpunkt: 1. Das gemeinsprachliche Wort verliert als Fachwort seine Kontaktmöglichkeit „zu allen möglichen Lebensbeziehungen, zum Universalen, unter anderem auch dadurch, daß es aus dem Zusammenhang des Wortfeldes, in dem es stand, herausgerissen wurde" 8 4 . In dieser Isolation ist das Wort von einem Bedeutungswandel ausgeschlossen 85 . Hier ist zu fragen, in welchem Umfange Fachsprache betrachtet wird, als bloße Terminologie, die in der Tat, bereits isoliert, der Mehrdeutigkeit vorbeugen soll, als Gespräch zwischen Fachleuten eines Ausbildungsranges oder als komplexe Größe innerhalb fachlicher Grenzen, d. h. in ihren Realisationen als Wissenschaftssprache, als Produktionssprache und als Verkaufssprache. Wer die Verhältnisse im industriellen Großbetrieb mit seinen Verbunderscheinungen kennt, weiß, daß es sich dabei nur um Idealtypen, um Normen handeln kann 8 6 . Die von Seibicke genannte „Geöffnetheit" des gemeinschaftlichen Wortes „zu allen möglichen Lebensbeziehungen" ist in der Sprachwirklichkeit doch auch nur eingeschränkt vorhanden; auch dort ist ein System wirksam, das die Wahl steuert und begrenzt. Es scheint mir eine Frage des Sprachgebrauchs zu sein, wenn D r o z d Fachausdruck und Wort wie folgt differenziert: „Während die Bedeutung eines Wortes erst im Wortfeld (Trier) zum Vorschein kommt, ist der Bedeutungsinhalt des Fachausdrucks durch seine Stellung im terminologischen System bestimmt 8 7 ." Der vom selben Autor angenommene Unterschied 88 der Beziehungen zum Wortfeld einerseits und zum terminologischen System andererseits, daß nämlich das Wort Bestandteil eines einzigen Wortfeldes sei, während der Fachausdruck Bestandteil mehrerer terminologischer Systeme sein könne, ergibt kein durchgreifendes Charakteristikum, weil auch ein Wortfeld nach verschiedenen „fachlichen" Kriterien aufgeteilt werden kann, ganz zu schweigen von den regionalen und sozialen Formen. 82

In: Muttersprache 69 (1959), S. 7 0 - 8 4 .

83

A. a. O., S. 80.

84

A. a. O . S. 76.

85

A. a. O . S. 77.

86

Vgl. D . M ö h n , Zur Sprache der Arbeit im modernen industriellen Großbetrieb. I n : Arbeit und Volksleben. Deutscher Volkskundekongreß 1965 in Marburg. Göttingen 1967, S. 216 ff.

87

A. a. O . S. 303.

88

A. a. O .

334

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Möhn

W e n n ein fachterminologisches S y s t e m erstellt w i r d , so geschieht dies durch ein A u s w a h l v e r f a h r e n aus den M ö g l i c h k e i t e n , die die jeweilige S i t u a t i o n

zur

V e r f ü g u n g stellt. M a n h a t , v o r allem v o r dem z w e i t e n W e l t k r i e g , m i t g r o ß e m A u f w a n d versucht, derartige T e r m i n o l o g i e s y s t e m e

m i t synthetischen

Sprach-

teilen zu schaffen. Sie h a b e n sich k a u m durchsetzen k ö n n e n , m. E . z u m T e i l , weil der K o n t a k t zur natürlichen Sprache (das k a n n auch eine Fremdsprache sein) fehlte. G r e i f e n w i r das auch v o n D r o z d angezogene 8 9 W o r t „ M u t t e r " auf, um Seibickes T h e s e der Isolierung zu p r ü f e n . I n der Gemeinsprache gehört sieht m a n v o n der Bezeichnung f ü r einen Schraubenteil ab, zu den Verwandtschaftsnamen;

als B e s t a n d t e i l

der Fachsprachen

etwa

der

es,

engeren Zoologie

o d e r der V i e h z u c h t bezeichnet es einen T e i l des E l t e r n p a a r e s . B e z i e h t sich das W o r t im gemeinsprachlichen Gespräch auf die n ä h e r e U m g e b u n g , so w i r d die Bedeutung emotional

a u f g e l a d e n ; je m e h r m a n sich aus dem

unmittelbaren

Bereich e n t f e r n t , um so s t ä r k e r w i r d das Persönliche auf das

Genealogische

reduziert. H i e r bestehen also Z u s a m m e n h ä n g e zwischen dem W o r t der

All-

gemein- und der Fachsprache, die D r o z d als „begrifflich", „semantisch"

und

„formal" formuliert90. W i r begegnen dem bereits e r w ä h n t e n Dualismus, w e n n Seibicke die Leistung der Gemeinsprache im Umschaffen der W e l t in das E i g e n t u m des Geistes sieht, die der Fachsprache in der R e g i s t r i e r u n g und K a t a l o g i s i e r u n g . D i e fachsprachlich e r f a ß t e W e l t bleibt f ü r ihn „ a u ß e r h a l b des Menschen, eine v o n i h m u n v e r arbeitete, erst noch zu v e r a r b e i t e n d e f r e m d e W e l t " 9 1 . Es v e r w u n d e r t , d a ß bei einer solchen S t r u k t u r so zahlreiche F a c h w ö r t e r G e m e i n g u t w e r d e n

können;

dieser V o r g a n g k a n n m. E . nur teilweise d a m i t b e g r ü n d e t w e r d e n , d a ß m i t der Sache auch die Bezeichnung sich durchsetzt oder d a ß die F a c h t e r m i n o l o g i e in verschiedene am jeweiligen Fach beteiligte Schichten eindringt. E i n entscheidender F a k t o r scheint m i r zu sein, d a ß es sich um typische E r k e n n t n i s - und Ausdrucksformen, d. h. um Sprache h a n d e l t . Ich schrieb bereits o b e n v o n einem terminologischen R a h m e n der Fachsprachen, der v o n der g e n o r m t e n T e r m i n o logie u n d gewissen F o r m a l i s i e r u n g e n gebildet w e r d e . I n der S p r a c h w i r k l i c h k e i t k o m m t ihnen nach meinen E r f a h r u n g e n höchstens ein A n t e i l v o n 3 0 %

zu, der

im Gespräch s t a r k a b g e b a u t w i r d . „ D a Wissenschaft nicht nur Forschung, sondern auch M i t t e i l u n g und Auseinandersetzung ist, k a n n es keine D i s z i p l i n geben, die sich einer f o r m a l i s i e r t e n Sprache ausschließlich bediente. N a t ü r l i c h e

und

f o r m a l i s i e r t e Sprache k ö n n e n sich in einer Wissenschaft vermengen und ü b e r l a g e r n ; in beiden F ä l l e n durchdringen sich die verschiedenen semiotischen S t r u k -



A. a. O .

80

A. a. O.

91

A. a. O . S. 80. Vgl. dazu H . Blenke, Zur Synthese von Wissenschaft und Technik. In: Mitteilungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft 4 (1966), S. 2 ff. „Oft stehen wir Techniker den Äußerungen mancher Geisteswissenschaftler verständnislos gegenüber, die in die Technik Entgeistigung, Entseelung, Entmenschlichung, Vermassung und Dämonie hineinphilosophieren" (a. a. O . S. 24).

Fach- H. Gemeinsprache:

Zur Emanzipation

u. Isolation

d. Sprache

335

turen 9 2 ." Es zeugt von einer praxisfernen Position, wenn die Frage auftaucht: „ . . . heißt es ich kaltfließpresse oder ich fließpresse kalt oder ich presse fließ?", denn der Kontext ermöglicht die Reduktion zu „ich presse", ohne daß die Eindeutigkeit gefährdet ist 83 . Seibickes zweite These: „Die Isolierung ermöglicht die enge Begrenzung des ursprünglichen Sinngehaltes zur Eindeutigkeit und legt es (das Fachwort D. M.) gleichzeitig auf die einmal zuerkannte ,Bedeutung' fest 94 ." Die Konsequenzen sind f ü r den Autor, daß man eher neue Wörter wählt, als die alten bei veränderter Bedeutung übernimmt. Bereits ein Blick in die Geschichte der modernen Atomphysik zeigt, wie umfangreich der Bedeutungswandel des „Atoms" war, wie sein Begriff im Lichte der Forschung ständig neu geformt wurde, während der Lautkörper sich erhielt 95 . Dieses Beispiel läßt erkennen, daß auch der fachsprachliche Terminus in seinem Inhalt nicht starr, sondern anpassungsfähig ist. Er muß es sein, um eine Kontinuität der jeweiligen Disziplin zu ermöglichen. Am Ende seiner Ausführungen schränkt Seibicke seine Thesen ein: „Es läßt sidi nämlich nicht leugnen, daß auch im Dienste der Fachsprache das Wort niemals ganz als .Wort' zu existieren und zu wirken aufhört 9 6 ." Sprachanalyse erfährt im Grunde erst durch die Gegenprobe, die Synthese, ihre Bestätigung; ein solches Prüfverfahren stellt auch die Übersetzung dar, denn eine äquivalente Ubersetzung setzt die richtige Analyse der Ausgangssprache voraus. In seinem 1961 erschienenen Buch „Die Übersetzung naturwissenschaftlicher und technischer Literatur. Sprachliche Maßstäbe und Methoden zur Bestimmung ihrer Wesenszüge und Probleme" 9 7 gelangt R. W. Jumpelt zu sprachgerechten Kriterien f ü r den Bereich der Fachsprachen. Von vornherein charakterisiert er die Begriffe der Fachwissenschaften als „geistige Gegenstände", „die in die Sprache eingebettet sind und nur kraft der Sprache bestehen können" 9 8 . Sehr wichtig ist der Hinweis auf die Spannung zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Fachsprache, aus der methodische Konsequenzen erwachsen können. Jumpelt betont stets den Zusammenhang und widersetzt sich starren Kategorien: „Die Grenzen zwischen allgemeinen Vorstellungen und fachlichem Denken sind aber fließend, um so mehr, als ursprünglich spezifisch fachsprachliche Erscheinungen wiederum Eingang in die Gemeinsprache finden99." Der Ausbau der Disziplinen bedinge ständig Neuformulierungen, die wiederum durch die Wechselbeziehungen zwischen Gemein- und Fachsprache beeinflußt 92

F. Schmidt. Zeichen und Wirklichkeit, Linguistisch-semantische Untersuchungen. Stuttgart Berlin Köln Mainz 1966, S. 60.

93

So H. Büchner, vgl. W. Seibidce a. a. O. S. 77.

94

A. a. O.

95

Vgl. Dialog des Abendlandes . . . a. a. O. S. 91 ff.

86

A. a. O. S. 80.

97

A. a. O.

88

A. a. O. S. 6.

99

A. a. O. S. 29.

336

Dieter Möhn

würden. Der Verfasser macht sich von einer isolierten Wortschatzanalyse frei und betrachtet die Fachsprachen als Sprache, nämlich unter den Aspekten Wortschatz, Satzbau und Stil 100 . „Der Begriff ,Fachsprache' wäre kaum gerechtfertigt, bestünde sie nur aus Fachworten101." Hier wird ein Auswahlverfahren angesprochen, das sich auf die gesamte Breite sprachlicher Realisation erstreckt, dessen Ergebnisse es für die einzelnen Disziplinen darzustellen gilt. Für die Wortbildung kommt den komplexen Sinneinheiten immer größere Bedeutung zu. Ein Vergleich chemischer Fachprosa etwa im Bereich der Farbenproduktion aus dem 18. und 20. Jh. ergab für die Wortlänge nach Buchstaben, daß in der älteren Quelle das umfangreichste Wort 18 Buchstaben aufwies, in dem modernen Fachbuch dagegen 33, wobei ein starker Anteil mit 20er-Zahler zu verzeichnen war 102 . Dabei scheint ein enger Zusammenhang zur Gemeinsprache zu bestehen, denn auch hier ist der Zwang zur differenzierenden Bezeichnung verstärkt gegeben103. Wie durchgreifend diese Tendenz wirkt, konnte D. Lutz kürzlich durch seine Untersuchung „Volksbrauch und Sprache" belegen, als er in der Brausprache Südwestdeutschlands so komplexe Worteinheiten wie „Thomaskehrt-den-Tag", „Frischgrünstreichen" und „Wettermachennächte" vorfand 104 . Bei einer Analyse der Verben in der Fachprosa der Farbenproduktion trat zutage, daß es sich bei der Mehrzahl der Grundverben um elementare Vorgänge handelt, die man, etwas übertrieben, auf ein „Setzen, Stellen, Legen" zurückführen könnte; erst der Gebrauch der Präfixe z. B. ab-, an-, auf- und ausdifferenziert; äußerst gering ist die Zahl der Fremdwörter. In manchen Fällen entstand der Eindruck, daß eine Ableitung nur um des fachsprachlichen Gewandes und nicht um der zusätzlichen Information willen gebraucht wird (vgl.: abdestillieren, ab filtrieren). Im folgenden die vollständige Liste: abblasen, abdampfen, ab destillieren, abdrehen, abdünsten, abdunkeln, abfiltrieren, abgießen, abhalten, abklatschen, abkochen, abkühlen, ablassen, ablaufen, ableiten, ablösen, abmustern, abnutschen, abpressen, abrauchen, abreiben, abrollen, absäuern, absaugen, abseihen, absetzen, absinken, abspalten, abspülen, abschaben, abscheiden, abschießen, abschirmen, abschrecken, abschöpfen, abschütten, abstellen, abstoppen, abstoßen, abstumpfen, abtreiben, abtrennen, abziehen-, anätzen, anbieten, anbrennen, anfallen, anfeuchten, angehen, angreifen, anhaben, ankommen, anlagern, anlegen, anreiben, anrühren, ansäuern, ansetzen, ansprechen, anschießen, anstellen, anteigen, anwenden, anziehen-, aufarbeiten, aufbrausen, auffangen, auffrischen, auffeuchten, aufhalten, auflockern, auflösen, aufnehmen, aufoxydieren, aufrühren, aufsuchen, aufschäumen, auf schlämmen, aufschließen, auf100

A . a . O . S. 33.

101

A . a . O . S. 34.

102 Verglichen w u r d e n : D. C. W . Pörner, Anleitung zur Färbekunst, vorzüglich Tuch und andre aus W o l l e gewebte Zeuge zu färben. Leipzig 1 7 8 5 und Pigmente. Herstellung, Eigenschaften, A n w e n d u n g . Hrsg. v o n H. Kittel, S t u t t g a r t 1 9 6 0 . 103

Vgl. H . M o s e r , in: Deutsche Wortgeschichte a . a . O . S. 4 7 4 f.

104

V o l k s b r a u d i und Sprache. Die Benennung v o n Phänomenen der W i n t e r - und Frühlingsbräuche Südwestdeutschlands. S t u t t g a r t 1 9 6 6 , S. 1 0 5 .

Fach- u. Gemeinsprache:

Zur Emanzipation

u. Isolation d. Sprache

337

schwellen, aufstechen, auftragen, auftreten, aufwallen, aufwinden, aufziehen; ausbalancieren, ausbeuten, ausbleichen, ausbreiten, ausdehnen, ausdunsten, ausfällen, ausfallen, ausflocken, ausgehen, ausglühen, aushalten, auskochen, auskristallisieren, auslaugen, auslösen, auspressen, ausrüsten, aussalzen, aussieden, aussüßen, ausschalten, ausscheiden, ausschwimmen, ausschwitzen, austauschen, austreiben, auswaschen, auswerten, auswittern, ausziehen. Wie schon durch Jumpelt angedeutet wurde, ist es bei der Untersuchung von Fachsprachen unerläßlich, deren schriftliche und mündliche Realisation zunächst gesondert zu betrachten. Beim Satzbau etwa bestehen erhebliche Abstufungen zwischen der Fachprosa und der Betriebskommunikation; Betriebsanweisung und Schichtbuch haben an beiden unterschiedlichen Anteil 105 . L. Drozd wies in seiner mehrteiligen Studie „Grundfragen der Terminologie in der Landwirtschaft" 106 nach, wie fruchtbar ein einzelner Ansatz sein kann, wenn er sprachgerecht gesehen wird. Der Fachausdruck gilt als „Mittel der Verständigung zwischen dem Wissenschaftler und dem Praktiker, dem Techniker und dem Arbeiter, dem Verkäufer und dem Käufer" 1 0 7 . Hier tritt die Notwendigkeit des semasiologischen Tests hervor 108 , wie ich es an anderer Stelle formulierte, d. h. es muß auf den einzelnen Kommunikationsebenen geprüft werden, welcher Informationsgehalt durch denselben Lautkörper vermittelt wird. Im modernen Farbenbetrieb gibt es eine Filtrierungseinrichtung, Nutsche genannt, ihre Position im Produktionsverfahren ist durch die Betriebsanweisung, im Gebäudekomplex durch Zahlenbezeichnung festgelegt. Aus den Antworten auf die Frage „Was ist eine Nutsche", seien folgende zitiert: 1. Das ist praktisch ein Sieb, das eine Flüssigkeit und feste Stoffe trennt, nur auf kleinere Art, nicht größere Siebböden, sondern Steine, die hierzu verwandt werden; 2. Eine Nutsche, das ist ein Bassin mit Hohlkörpersteinen; man kann mit Luft drücken oder mit Vakuum die Flüssigkeit absaugen, daß das Reinprodukt in der Nutsche noch vorhanden bleibt. 3. Das ist so ein Ding, so groß wie der Tisch hier, ausgemauert und unten hohl. 4. Eine Nutsche, da wird draufgedrückt, dann wird mit Vakuum abgesaugt. Der Lautkörper „Nutsche" hat für die einzelnen Arbeiter also einen unterschiedlichen Gehalt, nichtsdestoweniger ist er eindeutig. Der betriebliche Kontext gestattet es auch, den vom Terminologen für die Isolation gebildeten Terminus formal zu reduzieren. Drozd hat für diesen Vorgang eine sprachpsychologische Begründung gefunden, die überzeugt: „Mit Hilfe der Wortkürzung und Vereinfachung der Wörter wird vor allem die Spannung zwischen der zwei- oder mehrgliedrigen Wortform und der semantischen Einheit des Begriffsinhalts, den sie benennt, gelockert und aufgelöst 109 ." 105

Vgl. D. Möhn, Die Industrielandschaft a. a. O. S. 340 ff.

109

A. a. O.

107

A. a. O. S. 309.

108

D. Möhn a. a. O. S. 331.

108

A . a . O . S. 311.

22

Mitzka, Wortgeographie

Dieter

338 7. Die

Möhn

Differenzierung

Die Untersuchung der modernen Fachsprachen erbrachte als ein greifbares Resultat die Mehrschichtigkeit; nun besteht die dringende Aufgabe, die Struktur der einzelnen Schichten und ihre wechselseitigen Beziehungen sichtbar zu machen. D a f ü r die frühe Vergangenheit nur schriftliche Quellen vorliegen, halte ich es f ü r notwendig, zu dem jeweiligen Fach mehrere Texte von unterschiedlichem Geltungsbereich zu analysieren. G. Eis hat f ü r das altdeutsche Fachschrifttum mit Fug eine regionale, chronologische und soziologische Wirkungsforschung gefordert 1 1 0 . Des öfteren sind Tendenzen faßbar, sachlich fundierte Bereiche der Fachsprachen mit sozialen Gruppen zu identifizieren 111 . Gewiß liegt ein solcher Schluß nahe, wenn man von den jeweils dominierenden Sprachträgern ausgeht, also im Forschungslabor vom Wissenschaftler, in der Fabrik vom Arbeiter; aber der Forscher in der Chemie etwa hat seinen Laboranten, der Arbeiter seinen (studierten) Betriebsführer. Daher erscheint es methodisch überzeugender, sachliche Kriterien zu suchen. Namentlich in der Sprache der modernen Technik lassen sich deutlich einige Grundfunktionen erkennen, die ihrerseits an den Bereichen Forschung, Versuch, Produktion und Verkauf ausgerichtet sind. Der moderne industrielle Großbetrieb ist dadurch gekennzeichnet, daß die Forschung als eigener wichtiger Komplex integriert wurde 1 1 2 . H . Blenke, einem Techniker, verdanken wir eine grundlegende Studie 113 zu dieser Synthese, deren Ergebnisse auch Linguisten interessieren. Naturwissenschaft und Ingenieurtechnik werden in einem Verbundsystem vorgeführt, dessen Pole „Wissenschaft" und „Praktische Technik" durch die „Anwendungstechnik" verknüpft sind. Bemerkenswert ist die vom Autor betonte D y n a m i k : „Aber alle, die in diesen Gebieten tätig sind, überschreiten die Grenzen weitgehend, weil im Zusammenwirken vieler Disziplinen und Ausbildungsgrade keine starren Grenzen zu ziehen sind 114 ." Wenn man einmal nachprüft, aus welchen der sachlich motivierten Bereiche die Gemeinsprache ergänzt wird, so ist unschwer zu erkennen, daß keiner völlig ausscheidet. Dabei muß zwischen fachbezogenen Ubernahmen und Übertragungen getrennt werden. Die Stärke des Einflusses hängt von der wirtschaftlichen und sozialen Resonanz des einzelnen Faches ab. D. Dalby vergleicht die Position der mittelalterlichen deutschen Jagdsprache mit der der modernen Automobilterminologie: „like hunting in the Middle Ages, motoring is both a pastime and a source of livelihood, and in one form or another is known to every class of society" 115 . Es existiert wohl kaum ein Fach, das seine Spuren nicht in der 110

A. a. O . S. 80.

111

Gegen eine solche Zuordnung äußert sich auch H . Ischreyt a. a. O. S. 41.

112

Vgl. D . Möhn, Zur Sprache . . . a. a. O .

113

A.a.O.

114

A . a . O . S. 14 f.

115

Lexicon of the Mediaeval German H u n t . Berlin 1965, S. X L I I .

Fach- u. Gemeinsprache:

Zur Emanzipation

u. Isolation

d. Sprache

339

Allgemeinsprache hinterlassen hätte; immer aber wird es einige Disziplinen geben, die sich besonders erfolgreich durchsetzen und damit die repräsentative Sprache der Gemeinschaft aktualisieren. Dies traf sicherlich in der Vergangenheit für die Landwirtschaft zu, ist in der Gegenwart deutlich für die Automobilproduktion zu zeigen und kann in der Zukunft etwa für die Kybernetik gelten. Den Einfluß der Kraftfahrzeugbranche auf die Umgangssprache im Sinne Küppers116 mögen die folgenden Beispiele belegen; abfahren: abtöffen; ablehnen: ich kann mich bremsen; Abzahlung: auf langsamen Gang kaufen-, Augenlid: Scheibenwischer-, nicht begreifen: Sand im Getriebe haben-, Beine: Chassis, Pedal, Fahrwerk, Kotflügel; Kleidung: Karosserie-, Nahrungslosigkeit: Leerlauf im Magen-, nicht bei Verstand sein: einen defekten Motor haben, Maschinenschaden haben. Auch in der Sprache der Wirtschaftsexperten ist das beherrschende Fach nachweisbar: der „Motor" der Konjunktur wird „angekurbelt" und „auf Touren gebracht"; es wird „gebremst" und „Gas gegeben". Auf die Sprache der Versuchsabteilungen wird man in Zukunft verstärkt achten müssen. Hier wird sich der typische handwerkliche Sprachgebrauch sehr viel länger erhalten als in der eigentlichen Produktion, die immer stärker durch den Elektronenrechner beherrscht wird. Das hat auch für die sprachliche Differenzierung einschneidende Konsequenzen; während bisher in sämtlichen Bereichen etwa der Farbenproduktion so etwas wie ein fachliches Kontinuum festzustellen war, wird die Produktionssprache in der modernen Fabrik des fachlichen Charakteristikums beraubt; zurück bleibt eine übergreifende neutrale Sprache. Aus meinen Aufnahmen in einem petrochemischen Großbetrieb dieser Prägung117 seien als ihr zugehörig genannt: abstellen, anfahren (eine Maschine in Gang setzen), auf etwas achten, beherrschen (eine Maschine), betreuen, Betriebsprobe, einschalten, fahren (eine Maschine), kontrollieren, Operation, prüfen, Straße (Farbstraße, Walzstraße usw.), versorgen. Es ist deutlich, wie die fachliche Information zurückgedrängt wird und nur noch wenigen vorbehalten zu sein scheint. Der Linguist erkennt im Grunde die letzten Ausprägungen der Handwerkersprache, deren Untergang sich bereits abzeichnet. Man sollte aber nicht voreilige Schlüsse ziehen; keine Disziplin kann es sich leisten, in einer völligen Isolation zu arbeiten. Informationszwang und Informationsbedürfnis begegnen sich hier; damit ist den modernen Publikationen eine äußerst wichtige, spracherhaltende Aufgabe zugewiesen, nämlich den Fortschritt der Fächer im besten Sinne zu popularisieren. Außerordentlich typisch für die Entwicklung ist der Erfolg des Sachbuches: „Immer mehr Menschen aus allen Bevölkerungskreisen und Berufen greifen zum Sachbuch. Jeder, der in unserer modernen Welt leben muß und in der industriellen Gesellschaft bestehen will, benötigt das Sachbuch zur Weiterbildung und Information über alle Wissensgebiete" (aus einem Verlagsprospekt)118. Vor diesem Hintergrund muß der 118

H . K ü p p e r , Wörterbuch der deutschen Umgangssprache. Bd. I—III, H a m b u r g 1963—

117

Z u r sprachlichen Problematik der Automation vgl. D . Möhn a. a. O.

118

Prospekt für „das moderne Sachbuch" (dms).

1 9 6 4 ; Die Wortbelege sind den Sammlungen Küppers entnommen.

22*

340

Dieter

Möhn

Stil der Sachbuchschreiber sorgfältig untersucht werden. Es muß z. B. gefragt werden, wie weit eine Humanisierung neuer Gebiete, d. h. „ein Verbinden" mit bereits Bekanntem sinnvoll ist, ob etwa ein Protonen-Synchrotron aus der Vogelperspektive ein Riesenrad genannt oder die große Versuchshalle dieser Anlage mit einer „wildromantischen Gebirgslandschaft" verglichen werden kann 1 1 9 . Eine Sprachgeschichte des modernen Sachbuchs gilt es noch zu schreiben.

8. Tradition oder

Abbruch

Es hat, wie wir sahen, nicht an Stimmen gefehlt, welche die moderne Technik und ihre Sprache als etwas gänzlich Neues, Außermenschliches auffaßten, so daß Zusammenhänge mit früheren Kulturstufen kaum erwogen wurden. In den letzten Jahren entstand ein modifiziertes Bild, man bemüht sich um Traditionen, wie es eine Buchbesprechung in der „Zeit" vom 18. Februar 1966 mit dem Titel „Die Technik hat schon begonnen" unterstreicht. Ihr Autor, R . Jungk, resümiert, daß die Kritik an der Technik „eine kenntnisreichere und damit sowohl sachlichere wie differenzierte Phase" erreicht habe. Bemerkenswerterweise haben vor allem die Altphilologen das „Urhumanum" 1 2 0 Technik hervorgehoben: „Der Mensch, der nicht wie das Tier von Natur in eine Umwelt eingepaßt ist, sieht sich, um in seiner Sonderart als Mensch überhaupt bestehen zu können, darauf angewiesen, seine spezifisch menschliche Welt der elementaren Natur abzugewinnen und sie zu gestalten. Das Mittel dieser menschlichen Weltgestaltung ist die Technik" (W. Schadewaldt) 121 . B. Snell betont bei der Erörterung der Metapher, daß Geräte und Maschinen Fortbildungen der Körperorgane sind 122 . Eine genaue Untersuchung der fachlichen Denkmodelle und ihrer sprachlichen Folgen entdeckt erstaunliche Zusammenhänge; dabei erscheint es völlig abwegig, metaphorische Sprache nur in der Grundschicht zu suchen. Leider liegen nur sehr wenige Beiträge zu dieser Thematik vor; die Studie I. Fonagys über „Die Metaphern in der Phonetik. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des wissenschaftlichen Denkens" ist ein hoffnungsvoller Anfang 1 2 3 . Am Ende meiner Bestandsaufnahme seien die wichtigsten Aspekte fachsprachlicher Forschung noch einmal formuliert, wobei ich den Gesichtspunkt der Entwicklung, der Tradition miteinbeziehe 124 . 119

So R. Jungk in seinem Buch „Die große Maschine. Auf dem Weg in eine andere Welt". Bern, München, Wien 1966, S. 30 u. 31. Vgl. auch die Schilderung eines Versuchs: „ . . . Sekundenbruchteile darauf wird wieder eine neue Salve von Teilchen eingeschlossen: der Lichtblitz offenbart eine Landschaft von Eisnadeln, die sich krümmen zu Weinranken, Disteln, einer großen Sonnenblume mit spitzen, geometrisch gegabelten Stengeln. Und eines dieser offenen Dreiecke stößt eine quirlige Spirale aus seinen Schenkeln hinaus in die schon untergehende Landschaft" (S. 37).

120

So W . Schadewaldt; Zitat nach H . Blenke a. a. O. S. 4. Zitat nach H . Blenke a. a. O. Der Aufbau der Sprache. Hamburg 1952, S. 159. Janua Linguarum. Series Minor N r . X X V . 1963. Vgl. D. Möhn, Sprachwandel und Sprachtradition in der Industrielandschaft. Demnächst in: Verhandlungen des II. Internationalen Dialektologenkongresses.

121 122 123 124

Fach- u. Gemeinsprache:

Zur Emanzipation

u. Isolation

d. Sprache

341

1. Sprachliche Auslese auf fachlicher Ebene läßt sich nur dann beurteilen und einordnen, wenn die Sprach- und Sachgeschichte erschlossen wurde. Aus meinen Untersuchungen zur Sprache der Chemie nenne ich einige Beispiele: Die drei Hauptfaktoren der heutigen äußeren Sprachstruktur 1 2 5 innerhalb der Farbenproduktion, Praxis ( H a n d w e r k ) , Theorie (Wissenschaft) und Organisation (Ordnung) sind mit unterschiedlichem Gewicht bereits in frühen Quellen greifbar. E. Ploß hat gezeigt 126 , wie sich das H a n d w e r k allmählich aus der hauswirtschaftlichen Verbundwirtschaft, noch dargestellt in der Hausväterliteratur, löste. Schon einige Rezepte des Spätmittelalters bezeugen, daß ihnen eine Theorie zugrunde lag 1 2 7 . Sie ist in den umfassenden Enzyklopädien des 18. Jhdts. voll ausgeführt; dort w i r d aber zugleich auf die Kluft zwischen der Theorie der Farben und der praktischen Nutzanwendung hingewiesen: „ J a w i r stecken darinne, wenn von einer gründlichen Wissenschaft der Färberey die Rede ist, unerachtet aller Newtonischen neuen Wahrheiten von der Natur der Farben, noch in der grösten Unwissenheit, und diese Wahrheiten haben zu der menschlichen allgemeinen Glückseligkeit dieses Lebens noch wenig beygetragen, weil man dieselbe ausser den curieusen Sachen noch sehr wenig auf diese wichtige Manufactur-Kunst der Färberey appliciret hat 1 2 8 ." Erst die moderne Chemie gab der Farbherstellung eine wissenschaftliche Grundlage; sie entdeckte u. a. die farbgebenden Gruppen ( = chromophore Gruppen) im Molekül. Es wird mit Recht betont, daß die weitgehende Trennung von Haushalt und Arbeitsstelle ein entscheidender gesellschaftlicher Einschnitt gewesen ist. Dabei darf nicht übersehen werden, daß auch vor der Industrialisierung festumrissene Produktionsnormen und -formen vorhanden waren, die an den überlieferten „Ordnungen" entscheidenden Anteil haben. Aus Eid und Ordnung der Färber zu Ulm seien einige Sätze zitiert: „Item die ferber sollen auch hinfuro ire aigen schlachstotzen und tafeln, darauf man die tuch ausser dem Kessel wurft, haben, 125

„ Ä u ß e r e Sprachstruktur" ist als synchroner Begriff in A n l e h n u n g an L. E. Schmitts Terminus „ Ä u ß e r e Sprachgeschichte" gewählt. Vgl. L. E. Schmitt, Untersuchungen zu Entstehung und S t r u k t u r der „Neuhochdeutschen Schriftsprache" I. Band, Sprachgeschichte des Thüringisch-Obersächsischen im Spätmittelalter. Die Geschäftssprache v o n 1 3 0 0 bis 1 5 0 0 . 1. A u f l . K ö l n G r a z 1 9 6 6 , S. X L V I .

128

Die Färberei in der germanischen Hauswirtschaft. In: Z d P h 75 ( 1 9 5 6 ) S. 1 f f . ; Ein Buch v o n alten Farben. Technologie der T e x t i l f a r b e n im Mittelalter mit einem A u s blick auf die festen Farben. Heidelberg und Berlin 1 9 6 2 ; Z u r Fachsprache der deutschen Färber im Spätmittelalter. In: Marburger Universitätsbund. Jahrbuch 1 9 6 3 . M a r b u r g 1 9 6 3 , S. 3 6 5 ff.

127

Das gilt v o r allem f ü r solche, die auf alchemistische Vorstellungen zurückgehen. P l o ß bietet in seinem „Buch v o n alten Farben" mehrere Beispiele; so e t w a Rezept N r . 82 des sog. N ü r n b e r g e r Kunstbuches, einer Handschrift des späten 15. Jhdts. (Vgl. P l o ß a. a. O . S. 1 0 1 ff.). Zur Gesamtsituation schreibt P l o ß : „Natürlich hatten die Färbemeister v o n den aus naturwissenschaftlicher Sicht sehr genau definierbaren chemischen Vorgängen keine auch nur annähernd richtige Vorstellung, aber durch Probieren ergaben sich brauchbare Möglichkeiten . . . " (a. a. O . S. 56).

129

Großes und vollständiges oeconomisch- und physicalisches Lexicon . . ., worinnen alles enthalten . . . 8 Teile, Leipzig 1 7 5 0 - 1 7 5 7 . III. Teil, Leipzig 1 7 5 0 , Sp. 1 3 7 0 .

342

Dieter Möhn

das die tuch unsewbarkait von der erden nit empfahen und also das Katt damit nit in den Kessel geworfen werd. . . . Und sind darauf von ainem ersamen rate verordnet zwen der räte, die sollen all monat auf das wenigist ainmal in ains ieden ferbers haws mit den dreien schwarzschawern und den andern zwaien verordneten geen, ire geschirr, färben und anders besichtigen, und wa sie mangel finden, die uberfarer bei der aufgesetzten pen strafen und darin niemant nichts nachlassen 129 ." H . L. Bergius bietet in seinem Neuen Policey- und CameralMagazin aus dem Jahre 1776 1 3 0 einen umfassenden Artikel „Faerberey" mit folgenden Abschnitten: „Notwendigkeit der Faerbereyen; Was eigentlich hier vor Faerber verstanden werden; Unterschied der Faerber; Maaßregeln der Policey, um zu schoenen und festen Farben zu gelangen. Versuche.; Solche sollten die Academien der Wissenschaften anstellen lassen; Faerberey-Reglements; Aufsicht; Maaßregeln in Ansehung der Farben, sonderlich der theuern auslaendischen, deren Nachmachung aus einlaendischen Producten; Noetige Unterstuetzung der Faerber; Schau und Visitationsanstalten; Zunftverfassung der Schwarzund Schoenfaerber; Deren vorgeschriebene Arbeitstaxe in Dreßden; Zu Koenigsberg in Preußen." Die von Bergius gegebene Synopse des Faches „Färberei" (dazu gehörte auch die Farbherstellung) ist heute im industriellen Großbetrieb verwirklicht; was in der äußeren Sprachgeschichte131 als sich wandelnde Größe begegnete, hat sich als Organisation, Forschung und Produktion entfaltet, drei beherrschende Faktoren, deren ständiger Kontakt auch zu einem sprachlichen Austausch führt. Ich erwähnte eingangs, daß der enorme Sprachbedarf der Gegenwart dazu zwinge, die fachsprachliche Grundlegung auf breiter Basis vorzunehmen; dazu gehören das Überschreiten nationalsprachlicher Grenzen (gefördert durch die internationale Verflechtung von Wissenschaft und Technik), das Einbeziehen toter Sprachen, das Normen alltäglichen Sprachgutes. Als Beispiel für die innere Sprachgeschichte greife ich die Gefäßbezeichnungen der Farbenproduktion heraus. Stellt man die Belege zusammen, so ergibt sich eine überaus große Zahl: Ampulle, Apparat, Autoklav, Batterie, Becher, Becken, Bottich, Faß, Gefäß, Glas, Grube, Hafen, Horn, Kachel, Kammer, Kessel, Kolben, Küpe, Kufe, Napf, Pfanne, Reposoir, Retorte, Sack, Schaff, Schale, Scherbe, Schüssel, Stein, Tiegel, Tonne, Topf, Trog, Wanne, Zuber. Die Mehrzahl dieser Gefäßbezeichnungen entstammt der Küche bzw. der Hauswirtschaft 132 . Mit der fortschreitenden Ausbildung des Faches sind auch sprachliche Differenzierungen notwendig; die Zusammensetzungen mehren sich: Ansatzkessel, Druckkessel, Färbekessel, Reaktionskessel, Reibekessel, Säuerungskessel, Schmelzkessel, Umlösekessel, 129

Zitiert aus: E . Nübling, Ulms B a u m w o l l f ä r b e r e i im Mittelalter. U r k u n d e n und Darstellung. U l m 1 8 9 0 . E s handelt sich um Ordnungsteile aus dem J a h r e 1 5 2 4 .

130 2 w e y t e r B a n d . Leipzig 1 7 7 6 , S. 2 8 9 ff. 131 132

Vgl. A n m . 125. D a z u F . H e n r i c h , U b e r alte chemische Geräte, Ö f e n und Arbeitsmethoden. I n : C h e miker-Zeitung 2 2 u. 2 4 ( 1 9 1 1 ) , S. 197 ff.

Fach- u. Gemeinsprache:

Zur Emanzipation

u. Isolation

d. Sprache

343

Verseifungskessel, Wollfärbekessel; Indigoküpe, Rouletteküpe, Versuchsküpe, Waidküpe, Wauküpe, Zementküpe; Drehautoklav, Rotationsautoklav, Rotierautoklav; Steinguttopf, Calciniertopf; Druckfaß, Farbefaß, Faulungsfaß, Weichefaß; Diazotierungsgefäß, Druckgefäß, Sulfurationsgefäß. Betrachtet man den gegenwärtigen Bestand an Gefäßbezeichnungen, so ist eine deutliche Reduzierung von Grundwörtern und Vereinheitlichung in der Fachprosa nachzuweisen, verbunden mit einem unterschiedlichen Standort. Deutete man früher, etwa in den Rezepten des Spätmittelalters, den kleinen Maßstab durch Diminutiva an (heffelein, schirbelin)iss, so gehören heute der Autoklav, der Kessel, die Wanne in den Großbetrieb, der Becher, das Glas, der Kolben in das Laboratorium 1 3 4 . Die sachliche Differenzierung wird sprachlich durch Kompositionen nachvollzogen. Autoklav ist zugleich ein Beispiel f ü r die internationale Vereinheitlichung fachsprachlicher Termini; vgl. engl, autoclave, russ. avtoklav135. In der gesprochenen Betriebssprache ist auch noch heute eine größere Anzahl von Gefäßbezeichnungen üblich, etwa bei den Laboranten, die ihre angestammte Mundart noch teilweise sprechen ( h a f e n l ) . 2. Die Fachsprachen stellen komplexe Gebilde dar, die eine umfassende linguistische Methode verlangen. Es genügt weder, eine Fachsprache nach der jeweiligen genormten Terminologie zu beurteilen, noch allein von schriftlichen Quellen auszugehen. Gesprochene und geschriebene Sprache müssen auf ihre Strukturen hin untersucht werden. Diese Teilberichte wiederum setzen sich aus zahlreichen Ebenen und Schichten zusammen, die vor dem sachlichen Hintergrund entstanden. Für die geschriebene Sprache sind im industriellen chemischen Großbetrieb zu nennen: das Fachbuch, die betriebsinternen Schriften (ohne Werkszeitung), die Patentschrift, die Werkszeitung 138 , die Werbeschrift. Die Entstehung eines Produktes setzt zahlreiche schriftliche Realisationen auf dem Wege vom Forschungslabor zur Fabrik voraus 1 3 7 ; sie seien als ein Beispiel f ü r die betriebsinternen Schriften hier aufgezeigt (siehe Schema S. 344). Von großer Bedeutung sowohl f ü r die schriftliche als auch f ü r die mündliche Kommunikation sind Fragen des Sprachersatzes. E. Wüster hat auf die Arbeitsteilung in der modernen Technik zwischen Sprache, Zeichen und Zeichnung hingewiesen 138 . Vieles kann in der Chemie mit Hilfe der Formel (Strukturformel) 183

So in den v o n Ploß a. a. O. edierten Rezepten.

13,1

„Retorte" wird nur noch in der Werbesprache der diemischen Industrie gebraucht, vgl. „Kleider aus der Retorte".

135 Vgl 2 . Sobecka, W. Biernacki, D . Kryt, T. Zadrozna, Dictionary of Chemistry and Chemical Technology. In four Languages English/German/Polish/Russian. O x f o r d , London, N e w York, Paris, Warschau 1962, S. 44. 130

D a z u D . Möhn, Zur Sprache . . . A. a. O.

137

D e n Farbwerken Hoechst A . G . sei auch an dieser Stelle für ihre Unterstützung gedankt.

138 Internationale Sprachnormung in der Technik. Besonders in der Elektrotechnik, 2. erg. Aufl. Bonn 1966 ( = Sprachforum Beiheft Nr. 2), S. 199.

344

Dieter

Möhn

Forschungsresultat Betriebsvorschrift Arbeitsanweisung Schichtbuch

.

Laboransatzbuch

I .

I.

Teilanweisung

Teilanweisung

Dabei wird folgender Personenkreis e r f a ß t : Forschungsleiter Fabrikdirektor, Betriebsführer Betriebsführer Meister, Vorarbeiter

Laborant

Handwerker, Fachwerker, Hilfswerker

Handwerker, Fachwerker, Hilfswerker, Lehrling

deutlicher ausgedrückt werden als mit sprachlichen Mitteln. Farbsymbole an Behältern und Rohren des Großbetriebs zeigen deren Funktion an. Läßt der Maschinenlärm eine sprachliche Verständigung nicht zu, so treten Handzeichen und Lichtsignale an deren Stelle139. In einer früheren Darstellung der industriellen Fachsprachen erwähnte ich die fachliche Umgangssprache140. In seiner Akademierede über „Physik und Sprache" hat der Physiker W. Gerlach denselben Terminus gebraucht141 und dazu ausgeführt: „Die zunehmende Verwendung physikalischer Begriffe und Geräte in der Technik, ihr Übergang aus dem Forscherlaboratorium in die tägliche Arbeit der Laboranten hat zu einer eigenartigen fachlichen Umgangssprache oder vulgären Fachsprache geführt, welche aus Verstümmelungen von physikalischen Kunstworten und aus Wörtern der täglichen Sprache in sonderbarster Sinngebung besteht." Diese Form der Fachsprache ist sozial keinesfalls begrenzt, sondern wird vom gesamten Betriebspersonal verwendet mit dem Unterschied, daß der besser Ausgebildete — das beginnt schon beim Vorarbeiter — auch andere, wissenschaftlich orientierte Sprachformen beherrscht, somit mehrsprachig ist. N u r angedeutet sei hier noch einmal die Entwicklung des betrieb139

Siehe D. Möhn, Die Industrielandschaft

140

A. a. O.

141

München 1953, S. 30.

A. a. O. S. 339 f.

Fach- «. Gemeinsprache:

Zur Emanzipation

u. Isolation

d. Sprache

345

liehen Kontextes auf den Gebrauch der Fachsprache. Er ermöglicht z. B. die Reduktion der sog. selbstbeschreibenden Termini auf das Grundwort, ohne die Eindeutigkeit zu gefährden. Ähnliches gilt f ü r die normierte Syntax, wie ich es auch beim Schichtbuch aufzeigen konnte 1 4 2 . In der Betriebssprache treffen normiertes Sprachgut und individueller Ausdruck zusammen; sie hat manches mit jener Art von Volkssprache gemeinsam, die H . Rosenkranz wie folgt beschreibt: „sie bleibt auch im schriftnahen Gewand emotionell bestimmt, affektbetont und reich an treffenden Wortprägungen, dabei als vorwiegend mündliche Rede oft von situationsbedingter Kürze im Ausdruck 143 ." Wenn man die Struktur der gesprochenen und geschriebenen Fachsprache vergleicht, ergeben sich manche Berührungspunkte. Auf die Spannung zwischen alchemistischer Terminologie und handwerklicher Alltagssprache schon in früher Zeit weist das Rezept 84 „Hie ist zu mercken, wie man den cynober machen sol" des sog. Nürnberger Kunstbuches 144 hin. Ich führe die entsprechenden Stellen an: „Item wiltu czenober machen, nym j teyl swefel v n d stoß den klein vnd lege den yn eyn tegel auf kolen v n d loß den wol zu gan vnd nym den ij teil mercurium, das ist quecksilber vnd thu den in den swefel vnd rür es durch ein ander, piß der mercurius verswindet vnd (Bl. 46 r) dar nach laß es erkalten v n d thu es yn einen verglesten hafen oder glaß vnd bestreich den eynß fingers dick mit luto sapientie, das ist mit leymen, als die rattsmid gebrauchen . . ." 145 Bei der Umgestaltung dieses sehr alten Rezeptes 148 übernahm die Schreiberin zunächst den tradierten Terminus (mercurius; lutum sapientiae), erklärte ihn aber dann durch den zeit- und ortsüblichen Ausdruck; dadurch stellte sie die Vorschrift in den spezifischen Kontext. In derselben Quelle begegnen wir Angaben und Ausführungsbestimmungen, die keineswegs auf eine genaue Fachvorschrift schließen lassen, vielmehr der Erfahrung des Alltags entstammen. Es sind Erfahrungsmaße; f ü r Mengenangaben steht: als vil du in der hant magst gehaben (36); als vil als du zwischen zweyen fingern machst gehaben (50) (vgl. „eine Prise Salz"); ein gut hant vol oder zwu (53); also groß als ein faust (70) 147 . Auch die moderne Fachprosa kommt ohne solche der unmittelbaren Praxis entnommenen sprachlichen Kriterien nicht aus; es sind „Nuancenwörter", die letzten Endes, mündlich gebraucht, deutlicher wirken als eine umständliche 142

A. a. O. S. 340.

143

Der Sprachwandel des Industrie-Zeitalters im Thüringer Sprachraum. I n : Sprachsoziologisches Studien in Thüringen. Berlin 1965, S. 7 ff., Zitat S. 49 f.

144

Nach der Edition von E. Ploß a. a. O. S. 121 f.

145

A. a. O .

14

« Zur Tradition siehe E. P l o ß a. a. O. S. 122.

147

Die in Klammern gesetzten Zahlen weisen auf die N u m m e r der Rezepte in der Ausgabe von E. Ploß (a. a. O. S. 101 ff.) hin.

Dieter Möhn

346

wissenschaftliche Umschreibung und Begründung. Aus den Betriebsvorschriften einige Beispiele: „Wenn die Betriebsprobe gut ist, wird vorsichtig mit Bisulfit abgestumpft; der Preßkuchen wird gut kongosauer gestellt; wenn die Probe keine unveränderte . . . -säure mehr zeigt, . . . wird mit Salzsäure langsam abgestumpft . . . bis zu schwach deltaalkalischer Reaktion; der Kesselinhalt wird eben kongosauer gestellt; die Lösung wird nun in dünnem Strahl in den Zersetzungskessel übergedrückt." In den modernen Fachbüchern sind u. a. belegt: äußerst, bedeutend, beträchtlich, deutlich, eben, etwa, etwas, feinst, gelinde, gerade, gering, geschwind, gut, hinreichend, schön, schwach. Besonders oft wird gut gebraucht als zusammenfassender Ausdruck für eine geglückte Operation: „Wenn die Probe gut ist, . . .; Ist die Schmelze gut . . . " usw. 3. Vor dem Hintergrund der schriftlich-mündlichen Differenzierung und ihrer Schichten muß die sprachliche Folge eines Phänomens gesehen werden, das ich die Weltanschauung der Fächer nennen möchte. Gemeint ist das Einfügen des jeweiligen Faches bzw. seiner Fortschritte in die bereits vorhandene und überschaute Kulturwelt. Der Aspekt dieses Anschlusses, der je nach Bildungsgrad und sozialem Rang sehr unterschiedlich sein kann, entscheidet darüber, welcher Sprachausschnitt aktualisiert wird. Als es in der jüngsten Vergangenheit erstmals einem Astronauten gelang, nur durch eine Verbindungsleine mit der Raumkapsel zusammenhängend, frei im Weltraum zu schweben, wurde in den Berichten sehr bald in einem neuen elementaren Sinn von Nabelschnur gesprochen. Ausbeute und Schicht sind zwei Beispiele dafür, daß im modernen chemischen Großbetrieb der Wortschatz des Bergbaus aufgenommen wurde. Bei dem Rückgriff auf die zur Verfügung stehenden Sachbereiche dient in der Chemie vor allem das soziale Gefüge als Vorbild: Abkömmling, benachbarte Kerne, Familie, Gastsubstanz, Gruppe, Königswasser, Mutterlzuge, Partner, Paar-, zum andern wird der Wortschatz des Handwerks fortgeführt, der teilweise wieder auf direkte Naturerfahrung des Menschen weist 148 : abbauen, abspalten, angreifen, aneinanderketten, zertrümmern, verknüpfen-, Wasserabspaltung, Ionengerüst, eine Wasserstoff brücke schlagen. Die unmittelbare Entlehnungssphäre „Mensch" wird deutlich in Bezeichnungen wie Arm, Kopf, Alterung, Ermüdung, Überlastung, gesättigt, unwillig. E. Wüster hat die Körperteilnamen für Maschinenteile zusammengestellt149, ich führe die deutschen hier auf, um den ganzen Umfang dieser Übertragungen zu belegen: Körper (am Lager), Rumpf (am Lager), Zahn (an der Kupplung), Nase (am Keil, an der Lagerplatte, an der Kommutatorlamelle), Flügel (an der Flügelschraube), Ohr (an der Axt), Kopf (an der Schraube und Spule), Rippe (an der Sammlerplatte), Finger (am Kontakt), Bein, Schenkel (am Zirkel), Arm (am Dämpferflügel und Kran), Zunge (an der Reißschiene und [D.M.] der Weiche), Sohle (am Lager), Fuß (am Zahnradzahn), Wurzel (am Zahnradzahn), Brust (an der Werkzeugschneide), Stirn (an der Spannungswelle), Rücken (am 148

Vgl. D. Möhn, Zur Sprache . . . A. a. O.

148

A. a. O. S. 75.

Fad>- u. Gemeinsprache:

Zur Emanzipation

». Isolation

d. Sprache

347

Keil), Backe (am Schraubstock), Maul (am Schraubenschlüssel), Schnabel (an der Schublehre), Knie (am Rohr), Hals (am Glühlampenkolben und an der Isolatorglocke). Es ist sicher richtig, wenn Wüster die „Übertragungsbeziehung" in der Ähnlichkeit motiviert sieht 150 ; doch ist weiter zu fragen, warum gerade diese „Ähnlichkeit" hier aktualisiert wurde. F. Maurer und A. Schirmer haben 1 5 1 den gleichen Vorgang als „Verlebendigung" bzw. „Beseelung des Geräts" gedeutet. Damit ist eine Art Sprachgestaltung angesprochen, die sich in der gesamten Sprachgeschichte nachweisen läßt. Als Zeugnis f ü r den Bereich der Farbenproduktion sei J. N . Bischoflfs „Versuch einer Geschichte der Färberkunst" aus dem Jahre 1780 zitiert, wo es heißt: „Vielleicht hat man schon ohne mein Erinnern bemerkt, daß die Färber häufig von ihrer Küpe, als von einem lebenden Wesen reden, und Ausdrücke gebrauchen 152 ." Wie bereits erwähnt, kann die Sicht des Neuen, Einzubeziehenden sehr verschieden sein, doch ist letzthin der Abstand zwischen Rattenstert (für einen Grobhobel) 1 5 ' und Adjektiven wie elektrophil, electrophob, nucleophil nur ein gradueller. Wir begegnen einem durchgängigen sprachlichen Regulativ, welches immer wieder den Bezug der „entfremdeten Welt" zum Menschen herstellt. Die „Kabelseele, Mäusezähnchen, Galgen" betitelte Besprechung 154 eines deutsch-französischen H ö r f u n k - und Fernsehlexikons im Feuilleton der „Welt" bestätigt dies völlig auch f ü r den Bereich des Funks: „Bemerkenswert aber ist die liebenswerte Neigung der mit ihrem Spezialwortschatz Alleingelassenen, sich vertraute Begriffe mit hineinzuholen, sie (und sich selber) zu beheimaten in der technischen Welt. Von der „Kabelseele" (âme du cable) bis zum „Schwanenhals" (col de Cygne), vom „Mäusezähnchen" bis zur „Schürze", vom Mikrofonträger, der „Galgen" genannt wird in deutschen Studios und in französischen „girafe"; von der „Sperrdrossel" und dem „Schwalbenschwanz" bis zum „Zwitterstecker" (prise hermaphrodite"). Schließlich sei hier das den modernen Wissenschaften eigene Bemühen um Modelle, um Muster hervorgehoben, wobei man gezwungen ist, auf die der Flächen- und Raumstruktur eigenen Elemente zurückzugreifen. „Viele jener mathematischen Zusammenhänge, als welche sich uns die Aussagen über die submikroskopischen Dimensionen darbieten, beschreiben geometrische Konfigurationen, sterische Beziehungen, Verteilungen im Raum. Obgleich die Objekte dieser Angaben abstrakter N a t u r sind — Kraftfelder, Wahrscheinlichkeitsdichten, Schwingungen —, so sind sie doch einer bildhaften Wiedergabe zugänglich: A . a. O . 151

F. Maurer, Zur deutschen Handwerkersprache. In: Volkssprache, Gesammelte Abhandlungen. Düsseldorf

1964, S. 37 ff. A . Schirmer, Beseeltes Gerät. In: Mutter-

sprache (1952), S. 158 ff. 158

Stendal 1780, S. 181.

153

Beleg aus: J. Sass, D i e Sprache des niederdeutschen Zimmermanns, dargestellt auf Grund der Mundart v o n Blankenese (Holstein). Diss. H a m b u r g 1926, S. 11. Zitiert in: F . M a u r e r , Volkssprache. A. a. O. S. 47.

154

Anneliese de Haas, Kabelseele, Mäusezähnchen, Galgen. Sprache auf den Spuren der Technik — Zu einem Fernseh- und Funklexikon. In: D i e Welt 183 (1967), S. 9.

348

Dieter Möhn

durch ihre Wirkungsgrenzen, durch Schwerpunktmuster, perspektivische Darstellungen oder räumliche Modelle 155 ." Hier liegen die Ursprünge für die Kugeln, Ringe, Ketten, Netze und Gitter in der chemischen Terminologie. In seinem außerordentlich erregenden Vortrag auf der Jahreshauptversammlung 1965 der Gesellschaft Deutscher Chemiker in Bonn hat K. Scherf einen sinnvollen Zusammenhang zwischen dem Symbol des Ouroboros (alchemistisches Schlangensymbol „für die Ewigkeit und Unendlichkeit der Natur und für den ewigen Kreislauf alles Seienden") und Kekules Benzolringkonzeption aufgezeigt 156 . Diese Ringsymbolik ist auch in den alchemistischen Werken des Mittelalters überliefert; Scherf weist auf die traditionsreiche „Chymische Hochzeit" hin 157 , wie ich sie in den „DYAS CHYMICA TRIPARTITA, Das ist: Sechs Herrliche Ternsche Philosophische Tractätlein . . ." Frankfurt 1625, fand. Dort wird der Vorgang als „Parabola (!), darin die gantze Kunst begriffen ist" wiedergegeben; darin heißt es u . a . : Diese beyde wurden an stat eines Brautbettes vnnd herrlichen Hochzeit in ein stetiges vnd immerwerendes Gefangnuß / so doch von wegen ihrer hohen Geburth vnd ansehnlichen Standes / auch das sie ins künfftige nichts heimliches begehen / sondern all ir thun vnnd lassen / der auff sie verordneten wacht bekant vnd in Augen sein solten / gantz durchsichtig / helle vn klar / gleich einem Cristall / vnd rund / wie eine Himmels Kugel / formiret waren / condemniret vnd verschlossen158 / darin mit / stetigen Thranen / vnd wahrer Reu für ihre begangene Missethaten zu bussen vnd gnug zu thuen 15 '." Die Abhängigkeit von indirekter Methode und wissenschaftlichem Fortschritt in den Naturwissenschaften hat unlängst H. W. Franke betont160 und mit seinem Buch „Sinnbild der Chemie" ein reiches Anschauungsmaterial zur Verfügung gestellt. Die indirekte Methode wiederum zwingt dazu, sinntragende Modelle zu suchen, die ihrerseits der gewohnten Kulturwelt entstammen müssen, um verstanden zu werden. Dabei wird auf eine begrenzte Anzahl traditioneller Größen zurückgegriffen, letzten Endes Urbilder des Lebens. Immer wieder begegnet der Kreis, der Ring, nicht nur in den Wissenschaften, auch in der Dichtung, wie G. Poulet belegen konnte161. Die sprachliche Realisation der Modelle, die Modellsprache aufzuspüren, ist ein wichtiger Teil fachsprachlicher Forschung. Es ist deutlich geworden, daß die modernen Fachsprachen durchaus in traditionellen Zusammenhängen gesehen werden können. Ihre spezifische Ausprägung zu ermitteln, heißt zugleich, den Menschen der Gegenwart erkennen. 155

H. W . Franke, Sinnbild der Chemie. München 1 9 6 7 , S. 8.

156

Abgedruckt in: Die B A S F . A u s der A r b e i t der Badischen A n i l i n - S o d a - F a b r i k A G . 15 ( 1 9 6 5 ) , S. 1 7 0 ff.

157

A . a . O . S. 1 7 3 .

158

E. P l o ß schreibt über die alchemistischen G e f ä ß e : „ihr Innenraum mußte eine W e l t f ü r sich sein!", a . a . O . S. 1 2 2 .

I5I>

A . a. O. S. 6 1 .

180

A . a. O . S. 9.

161

Metamorphosen des Kreises in der Dichtung. F r a n k f u r t 1 9 6 6 .

HORST HAIDER

MUNSKE

Rechtswortgeographie I.

Charakteristik

Rechtswortgeographie scheint zunächst nichts anderes als Wortgeographie, die auf den Bereich des Rechtswortschatzes eingeschränkt ist. Ähnlich könnte man sich eine Begrenzung auf die Kirchensprache, Studentensprache, das Rotwelsch usw. denken. Auch die Dialektgeographie oder die Geographie der Umgangssprache konzentrieren sich ja auf einen bestimmten Ausschnitt von Sprache. Dies hat ihnen eine bestimmte Prägung verliehen. Gleiches gilt für die Rechtswortgeographie. Durch sie wird eine Verbindung hergestellt zwischen der Sprachwissenschaft und einer nicht-philologischen Disziplin, der Rechtsgeschichte. Sie unterscheidet sich darum von der Wortgeographie der Allgemeinsprache, von Hochsprache, Umgangssprache, Mundart, in nicht unerheblichem Maße. Diese Unterschiede lassen sich in drei Punkten zusammenfassen. 1. R e c h t s w o r t g e o g r a p h i e i s t v o r n e h m l i c h historische W o r t g e o g r a p h i e . Der Satz läßt sich zunächst wissenschaftsgeschichtlich erklären. Dem Begründer der Rechtswortgeographie, Eberhard von Künßberg, stand als Leiter des Deutschen Rechtswörterbuches (DRWB) eine Fülle historischen Belegmaterials zur Verfügung, das neben der lexikalisch-semantischen Darstellung eine geographische nahelegte, v. Künßberg nahm damit Anregungen auf, die, vom Deutschen Sprachatlas in Marburg ausgehend, in den zwanziger Jahren die verschiedensten Wissenschaften erreichten. Bei der Übertragung der kartographischen Methode auf die Materialien des historischen Rechtswortschatzes ergab sich notwendigerweise eine Modifizierung der Darstellung, auf die unten näher einzugehen sein wird. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die historische nicht zugleich die ergiebigste Form der Rechtswortgeographie ist. Denn in der Gegenwartssprache, von den Mundarten bis hin zur gehobenen Schriftsprache, ist der Rechtswortschatz weithin vereinheitlicht, vor allem derjenige, der sich auf gegenwärtige Rechtseinrichtungen und Rechtsgewohnheiten bezieht, d. h. der in täglichen Rechtsgeschäften Anwendung findet. Immerhin dürften jedoch in diesem engeren Bereich großräumige Unterschiede anzutreffen sein, die an die verschiedenen deutschsprachigen Staaten gebunden sind, an die Schweiz, Österreich, auch Minderheitsgebiete in anderen Staaten, sofern dem Deutschen dort eine gewisse kulturelle Eigenständigkeit eingeräumt ist. Differenzierungen dürften auch bereits zwischen der Bundesrepublik und der D D R bestehen, teils auf Grund der sehr unterschied-

350

Horst Haider

Munske

liehen Entwicklung in Gesetzgebung und Rechtsprechung, teils auch auf Grund bewußten staatlichen Eingriffs in die überkommene Rechtsterminologie. Neben solch weiträumiger gibt es aber auch eine regional begrenztere Rechtswortgeographie in der Gegenwartssprache, wenn man den Begriff des Rechtswortes sehr weit faßt, wie dies z. B. im deutschen Rechtswörterbuch geschieht. Der Nicht-Jurist ist zunächst erstaunt, in welcher Breite hier nicht-fachlicher Wortschatz Aufnahme fand. Vor dieser Fülle verflüchtigt sidi zusehends der Begriff Fach- oder Sondersprache. Man erkennt plötzlich, in welchem Maße unser gesamter Wortschatz von rechtlichen Bezügen durchdrungen ist1. Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich dann doch eine Vielzahl von Wörtern, die aus heutigen Mundarten sowie der Umgangssprache für eine synchrone gegenwärtige Rechtswortgeographie in Betracht kommt. Aus dem Stichwortverzeichnis der vortrefflichen Bibliographie von Elli Siegel seien die folgenden Wörter aufgeführt, über die bereits Wortkarten veröffentlicht wurden 2 : Bauteil, Begräbnis, Dieb, Ehevermittler, Eichung (im Weinbau), Friedhof, Gemeindeversammlung (für Weinlese), Grenzstein (im Weinbau), heiraten, Henker, Hochzeit, Hochzeitsbitter, kaufen, Kindtaufe, Kirchweih, Leichenbitter, Leichenfrau, Leichenschmaus, leihen, Miete, Mietpfennig, Miettaler, Nutzungsrecht für Wald, Pate, Patenbrief, Patin, Pfarrer, Rechtsanwalt, Schultheiß, stehlen, Totenpfennig, unvermählt bleiben, Verbot (im Weinbau), Verbotswisch, verkaufen, verleumden, Verlobung, Vormund, Wandertag (Tag des Gesindewechsels), Weideverbot (Zeichen dafür auf Wiesen)3. Diese Wortkarten wurden jedoch keineswegs unter spezifisch rechtswortgeographischen Gesichtspunkten, sondern in Zusammenhang mit dialektologischen und vor allem volkskundlichen Untersuchungen publiziert. So ist es denn kein Zufall, daß sich der Begründer der Rechtswortgeographie in besonderem 1

S. dazu die ausführliche E r ö r t e r u n g und Begründung der Stichwortauswahl in v . Künßbergs Einleitung zum D R W B Bd. I, W e i m a r 1 9 1 4 . Einen jüngsten Bericht bringt H a n s Blesken, D a s Deutsche Rechtswörterbuch. Historischer S t a n d o r t , A u f gabe und Probleme, in: Forschungen und Fortschritte 41 ( 1 9 6 7 ) , 1 8 1 — 1 8 6 . — B e i läufig kann an dieser Stelle d a r a u f hingewiesen werden, d a ß es außer dem G r i m m schen kein deutsches Wörterbuch gibt, das in ähnlichem U m f a n g historische Belege verzeichnet wie das D R W B . Dabei konnte aus den Sammlungen des Heidelberger Archivs nur ein Teil in den Artikeln publiziert werden. (Bericht von E . H e y m a n n in Z R G G A 4 6 ( 1 9 2 5 ) , 5 7 4 - 5 8 3 . ) F ü r die ersten B ä n d e des D W B stellt das D R W B eine vorzügliche E r g ä n z u n g dar.

2

E . S i e g e l , Deutsche W o r t k a r t e n 1 8 9 0 — 1 9 6 2 . Eine Bibliographie. I n : Beitr. z. dt. Philologie B d . 33, Gießen 1 9 6 4 , 6 3 0 — 6 9 1 . Das W o r t r e g i s t e r verweist auf die chronologisch angegebenen Titel. Die genannten K a r t e n sind zumeist auf bestimmte M u n d a r t gebiete beschränkt.

3

H e r v o r g e h o b e n sei hieraus: E . Angstmann, D e r H e n k e r in der Volksmeinung. Seine N a m e n und sein V o r k o m m e n in der mündlichen Volksüberlieferung. (Diss. H e i d e l berg) B o n n 1 9 2 8 . R e z . v. K ü n ß b e r g Z R G G A 4 8 ( 1 9 2 8 ) , 6 1 2 - 6 1 5 . Überregionale Rechtsbrauchkarten bietet Matthias Zender, Atlas der deutschen Volkskunde. N . F. M a r b u r g 1958 ff.

Rechtswortgeographie

351

Maße mit .rechtlicher Volkskunde' befaßt hat 4 . In der Sammlung und kartographischen Erschließung des Wortschatzes aus diesem Bereich wird man das direkte Gegenstück zur Dialektgeographie erblicken können. Neben der historischen ist also eine eng mit der volkskundlichen Forschung verbundene synchrone Rechtswortgeographie möglich. (Vgl. die unten S. 357 genannten Wortkarten v. Künßbergs.) Sie hat es weniger mit dem heutigen, geltenden Recht zu tun als mit dem Brauchtum, das vom Recht früherer Jahrhunderte Zeugnis ablegt. Sie studiert das Fortleben älteren Rechts in der Gegenwart, wobei der Wortschatz eine wertvolle Hilfe leisten kann. H i n z u kommt eine weitere Möglichkeit, auf die Walther Mitzka in seiner .Deutschen Fischervolkskunde' (Neumünster 1940) hingewiesen hat. Er zeigt dort, besonders in dem Kapitel über das V o 1 k s r e c h t (S. 63 ff.), wie sich in dem urtümlichen Beruf des Binnen- und Küstenfischers bis in unsere Tage altes Gewohnheitsrecht und eigenständige Rechtsschöpfung erhalten haben. Seit eh und je wurden unter Fischern Schonzeit und Maß der Fische, Maschenweite und zu schonende Laichstellen bestimmt und rechtlich geschützt. Wie wikingische Kaufleute sich unter Verabredung fester Anteile zu gemeinsamen Fahrten zusammenfanden, so haben z. B. die Küstenfischer Rügens sogenannte Boots-, Reusen- und Garnkommünen gebildet, genossenschaftliche Verbände mit gemeinsamem Besitz an Booten und Fanggeräten, in denen Rechtsansprüche und Rechtspflichten genauestens geregelt waren 4 a . Ihr Bestehen verfolgt Peesch bis ins hohe Mittelalter zurück. Die Obrigkeit jeder Art, vom Abt bis zum Landesherrn und zum modernen Verwaltungsapparat, hat stets erst nachträglich solche Rechtsvereinbarung bestätigt und die Fischer unter ihren Schutz gestellt. Hier wiederholt sich der Übergang vom ,Volksrecht' in gesetztes Recht, wie wir es seit der Aufzeichnung der Leges und der Weistümer kennen. Die Sammlung und Untersuchung solchen Rechtswortschatzes ist eine weitere Aufgabe der .rechtlichen Volkskunde'. Der Umstand, daß die Fischer ihren angestammten Fangplätzen, den Seen, Flüssen und Küstenstrichen stets treu blieben, macht ihre Sprache wortgeographisch besonders interessant. Im Verhältnis zu solchen bislang kaum beachteten Möglichkeiten wird die historische Rechtswortgeographie zunächst weiterhin im Vordergrund stehen. Sie sucht direkten Aufschluß über das Recht der Vergangenheit, seine Verbreitung und seine N a t u r , wobei die historischen Rechtswörter die primäre Quelle darstellen. Hier stehen durch das D R W B und sein Archiv bereits aufgearbeitete, leicht zugängliche Materialien zur Verfügung. 4

E. v o n Künßberg, Rechtliche Volkskunde. H a l l e 1936 ( = Volk. Grundriß der dt. Volkskunde in Einzeldarstellungen Bd. 3). Ders., ,Rechtsgeschichte und Volkskunde' in: Jahrb. f. historische Volkskunde 1 (1925), 67 ff.

4a

Reinhard Peesch, Die Fischerkommünen auf Rügen und Hiddensee ( = D t . Akad. d. Wiss. z. Berlin. Veröff. d. Instituts f. D t . Volkskunde Bd. 28). Berlin 1961. Leider läßt diese volkskundliche Untersuchung den eigentlich rechtlichen Charakter der beschriebenen Verbände und die dabei auftretenden Reclitstermini in den Hintergrund treten.

352

Horst Haider

Munske

Daß solche Forschung für die deutsche Sprachgeschichte von größter Bedeutung ist, haben die unten zu besprechenden Untersuchungen erwiesen. Die historische Rechtswortgeographie stellt eine notwendige Ergänzung der von philologischer Seite schon so weit geförderten Kenntnis spätmittelalterlicher und frühneuhochdeutscher Schreib- und Urkundensprache dar. In diesen Untersuchungen standen Lautgestalt und Grammatik zunächst im Vordergrund, da die Beurteilung des Wortschatzes die Einbeziehung weiterer Zusammenhänge erfordert 5 . Noch R. Grosse beschränkt sich in seiner umfassenden und tiefschürfenden Behandlung der mitteldt.-niederdt. Schwabenspiegelhandschriften auf die Laut- und Formenlehre, schreibt jedoch S. 11: „Eine historische Wortgeographie würde freilich Entscheidendes für die Lokalisierung eines mittelalterlichen Denkmals beitragen können." Unter Bezugnahme auf v. Künßberg, Rechtssprachgeographie S. 9 („Für die Vergleichung des Wortschatzes der einzelnen Rechtsquellen sind erst bescheidene Anfänge gemacht") fährt er fort: „Was der erste Pionier und Senior der deutschen Rechtssprachgeographie v. K. mit diesen Worten 1926 feststellte, trifft heute noch fast in gleichem Maße zu 6 ." In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß bereits K. Bisdioff in seiner Widerlegung der Thesen Roethes zur ursprünglichen Gestalt des Sachsenspiegels erfolgreich historisch-wortgeographische Gesichtspunkte anwandte 7 . Die Forderung nach einer ,historischen Wortgeographie' erhob Bischoff erneut nach Erscheinen der ersten Bände des DWA 8 . Eingehende Untersuchungen hierzu hat inzwischen G. de Smet über „Die Ausdrücke für ,leiden' im Ahd." angestellt 9 . Vor allem sind in dem Zusammenhang jedoch die mit zahlreichen historischen 5

Auch K. Gleißner und Th. Frings, Zur Urkundensprache des 13. Jahrhunderts ( 2 M F 17 (1941), 1—157) bieten, obwohl sie F.Wilhelms Corpus altdt. Originalurkunden als Materialgrundlage benutzten, nur eine kartographische Darstellung lautlicher und formaler Erscheinungen. Trotzdem d ü r f t e Th. Frings in seiner Rheinischen Sprachgeschichte 1922 (neu abgedruckt in Sprache u. Geschichte I, Mitteidt. Studien 16, 1956) mit der K a r t e gehn/stehn die erste rein historische W o r t k a r t e veröffentlicht haben. Ihm k o m m t zweifellos das Verdienst zu, von der Dialektgeographie zur historischen Wortgeographie hingeführt zu haben. Neben dem DSA sind es seine Untersuchungen, auf die sich v. Künßberg im besonderen beruft.

6

R. Grosse, Die mitteldeutsch-niederdeutschen Handschriften des Schwabenspiegels in seiner K u r z f o r m . Sprachgeschichtliche Untersuchung ( = Abh. d. Sachs. A k a d . d. Wiss., Phil.-Hist. Kl. Bd. 56, H . 4). Berlin 1964.

7

Zur Sprache des Sachsenspiegels von Eike von Repgow, in: Z M F 19 (1943/44), 1—80.

8

I n : Das Institut f ü r Deutsche Sprache. Vorträge gehalten auf der Eröffnungstagung. Berlin 1954, S. 37. Ähnlich Teuchert in: Z M F 22 (1954), 128 und R. Schützeichel in: A D A 70 (1958), 106. Schon W . P e ß l e r schrieb 1933 in .DeutscheWortgeographie: Wesen und Werden, Wollen und Weg' (Wörter und Sachen 15, S. 21): „So muß versucht werden, über die oben von mir hervorgehobene Gegenwartsbedeutung der Wortgeographie hinaus auch der Geschichte der Wortverbreitung gerecht zu werden." Die Rechtssprachgeographie vollzieht somit, was L. E. Schmitt im ersten Band seiner U n t e r suchungen zur Entstehung und Struktur der ,nhd. Schriftsprache', S. X L V I f o r d e r t : „Der nächste Schritt der Wissenschaftsarbeit m u ß die A n w e n d u n g der sprachgeographischen M e t h o d e auf die geschriebene sprachliche Uberlieferung sein."

8

I n : W W 5 (1954/55), 6 9 - 7 9 .

Rechtswortgeographie

353

Wortkarten versehenen Abhandlungen von R. Schützeichel zu nennen 10 . Vgl. auch die unten zu besprechenden Arbeiten von W. Steinberg. 2. Eine weitere Sonderstellung nimmt die Rechtswortgeographie auf Grund der spezifischen N a t u r des Rechts Wortes ein. Vergleichen wir nur bisher behandelte Wörter wie Gilde, Zunft, Vormund, die Bezeichnungen f ü r testis, testimonium, testare, Judicium usw. mit den bei E. Siegel verzeichneten Stichwörtern, zu denen dialektgeographische Wortkarten publiziert wurden, so ist der Unterschied offenbar. Während hier Sach- und Geräte-, Tier und Pflanzenbezeichnungen im Vordergrund stehen, also Termini aus dem Bereich der bodenständigen bäuerlichen Kultur, so handelt es sich dort um Kulturwörter im weiteren Sinne. Unter diesem Gesichtspunkt kann die Rechtswortgeographie als ein Teilbereich einer Kulturwortgeographie angesprochen werden. Mit dieser etwas vergröberten Gegenüberstellung — auf beiden Seiten gibt es Ausnahmen: Sachbezeichnungen aus der Rechtssphäre (Pranger), Kulturwörter in den Mundarten (Pfarrer) — ist zugleich eine soziologische Unterscheidung angedeutet. Hinter den mundartlichen Bezeichnungsgruppen steht der Bauer und H a n d w e r k e r — hinter dem Rechtswort der Rechtskundige. Dies gilt besonders f ü r den spezifisch fachsprachlichen Wortschatz, z. B. die Gerätebezeichnungen der bäuerlichen Kultur oder die termini technici des Gerichtswesens. Natürlich wird man im Falle des Rechtswortes den Grad der Fachsprachlichkeit nur unter besonderer Berücksichtigung der geschichtlichen Periode bestimmen können. Die Spezialisierung, die heute auf diesem sprachlichen Sektor besteht und aufs engste mit der Rezeption des römischen Rechts zusammenhängt, kann keineswegs f ü r die Zeit des frühen und hohen Mittelalters angenommen werden. Doch gab es bekanntlich schon damals den Fürsprech, der im Prozeß als rechtskundiger Vertreter der unmittelbar Beteiligten auftrat. 3. Der Kulturwortcharakter sowie die weitgehende fachsprachliche Bindung des Rechtswortes bedingen eine dritte Eigenheit: das Rechtswort kann in größerem Maße als das bodenständige Bauernwort Verkehrswort sein. Stärker als dieses ist es an verwaltungsmäßige Einheiten und deren Veränderungen gebunden. Darauf ist unten näher einzugehen. Im folgenden sollen übersichtsweise die grundlegenden Abhandlungen zur Rechtswortgeographie, ihre Methoden und Ergebnisse wiedergegeben und damit zusammenhängende grundsätzliche Fragen behandelt werden. Die darzustellende Forschungsrichtung steht — gemessen an der Vielzahl und dem U m f a n g der zu erarbeitenden Gegenstände — noch in ihren Anfängen. Deshalb scheint mir eine allgemeine, problem-orientierte Darstellung noch nicht gerechtfertigt. 10

23

R. Schützeichel, M u n d a r t , Urkundensprache und Schriftsprache. Studien zur Sprachgeschichte am Mittelrhein ( = Rhein. Archiv 54). Bonn 1960. Ders., Die Grundlagen des westlichen Mitteldeutsch. Studien zur historischen Sprachgeographie ( = Hermaea. Germanist. Forschungen N F 10). Tübingen 1961. Mitzka, Wortgeographie

354

Horst

II. Begründung

Haider

Munske

und Weiterentwicklung

der

Rechtswortgeographie

Als Begründer der Rechtssprachgeographie, besonders der Rechtswortgeographie gilt Eberhard Freiherr von Künßberg 1 1 . Seine Abhandlung steht ganz unter dem Eindruck der großen Anregungen und Umwälzungen, die die Dialektgeographie, eingeleitet durch die Arbeiten zum DSA, f ü r die deutsche Sprachforschung bedeutete. Neben der gleichzeitig aufblühenden Brauchtums-, Kunstund Literaturgeographie ist sie als ein Teilstück einer allgemeinen Kulturgeographie zu verstehen 1 ' 3 . Die kleine, nur 50 Seiten umfassende Schrift schöpft aus dem großen Erfahrungsschatz, den v. Künßberg als Rechtshistoriker und Philologe in der mühevollen Kleinarbeit am Deutschen Rechtswörterbuch gesammelt hat. Er war, wir wissen es aus vielen Zeugnissen, die Seele dieses Werkes, das von Brunner und v. Amira angeregt, von R. Schröder liebevoll betreut, durch ihn die entscheidendste Förderung erfuhr 1 2 . Die Hauptgedanken seiner Abhandlung seien hier wiedergegeben. Für den Philologen eröffnen sich sofort dadurch neue Perspektiven, daß v. K . die Darstellungen und Ergebnisse zur Dialektgeographie, in die er sich eingehend vertieft hat, rechtsgeschichtlich interpretiert. Die verschiedenen Territorialgrenzen, welche so nachhaltig die sprachliche Gliederung bestimmt haben, faßt v. K. als Rechtsgrenzen, d. h. als Grenzen des Rechtsverkehrs auf und folgert: „Rechtsgrenzen bedingen den Verlauf von Sprachgrenzen. Darin spiegelt sich die ausschlaggebende Bedeutung des Rechtsverkehrs f ü r den Sprachverkehr" (S. 3). Dabei werden unter Rechtsverkehr im weitesten Sinne Handel, Verwaltung, Jurisdiktion, also alle wichtigen (außer den kirchlichen), das soziale Leben bestimmenden Faktoren verstanden. Zu ihren Ergebnissen gelangte die Dialektforschung ohne besondere Berücksichtigung der Rechtssprache. Welche Bedeutung diese jedoch f ü r die Sprachgeschichte besitzt, geht allein daraus hervor, daß häufig Rechtsdenkmäler die ersten überlieferten sprachlichen Zeugnisse von Kulturgemeinschaften sind. (Man denke hier nur an die altfriesischen, angelsächsischen, die altost- und -westnordischen Rechtsdenkmäler, ferner an den Sachsenspiegel und die mittelniederdeutschen Stadtrechte.) Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist sie f ü r die Entwicklung der deutschen Sprache, f ü r die Ausdehnung des Hochdeutschen über das Niederdeutsche geworden, v. Künßbergs Bemerkungen lassen erkennen, daß sich außer in der Literatur vor allem im Recht eine Sprache zuerst zur Kultursprache erhebt. Die allgemeinen Beobachtungen führen ihn zu der Forderung, 11

E. v. Künßberg, Rechtssprachgeographie ( = Sitzungsber. d. Heidelberger A k a d . d. Wiss., Phil.-Hist. Kl. Jg. 1926/27. 1. Abh.). Heidelberg 1926.

" a D a z u Gerhard Lüdtke u. Lutz Madeensen, Deutscher Kulturatlas. 5 Bde. Berlin, Leipzig 1928—1938. 12

Nachrufe v o n H . Fehr in Z R G G A 62 (1942), X L I I I - L V I I I , S. 575 f. und K . S . B a d e r in: Hist. Jahrb. 61 (1941), 4 7 5 - 4 7 7 .

E. H e y m a n n

ebd.

Rechtswortgeographie

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daß Rechtssprache und Wortgeographie enger zusammengeführt werden müssen, damit jene Befunde im engeren Bereich der Rechtssprache überprüft werden können. Dabei ergibt sich zunächst die Möglichkeit, Rechtswörter in den Bereich mundartlicher Umfragen aufzunehmen. Dies ist, wie wir heute sehen, gelegentlich, jedoch nie systematisch geschehen. (Vgl. oben S. 350.) Daneben sollte Rechtssprachgeographie selbständig betrieben werden, was nichts anderes bedeutet, als die geographische Methode auf das Studium der Rechtssprache anzuwenden. Hierbei kommen nach v. K . drei Typen von Sprachkarten in Betracht. 1. Die allgemeine Sprachkarte, welche über Grenzen und Verbreitung der Nationalsprache Auskunft gibt. Diese deckt sich bekanntlich häufig nicht mit der jeweiligen Rechtssprache, d. h. der für den Gebrauch im Rechtsverkehr gebotenen Sprache. In der Folge kann es zum Sprachenkampf kommen, wo Staatsgrenzen und Rechtssprachgrenzen künstlich in Übereinstimmung gebracht werden sollen (dazu das Beispiel von Südtirol, dagegen sind Friesisch, Flämisch und Kymrisch in den Niederlanden, Belgien und Großbritannien als Rechtssprache zugelassen). 2. Aber auch im Inneren eines einheitlichen Sprachgebietes gehen Rechtssprache und Umgangssprache nicht selten auseinander. Dies bezeugt die Mundartkarte. Wir haben es hier mit einer soziologischen Erscheinung zu tun: In der Gegenwart steht die mit Schrift- und Kultursprache identische Rechtssprache der gesprochenen Mundart oder Umgangssprache gegenüber. Außerdem, so kann hier ergänzt werden, ist die Mundartkarte ein unentbehrliches Hilfsmittel zur Herkunftsbestimmung historischer Rechtsquellen. 3. „Für die Rechtssprachgeographie wird es sich zunächst in erster Linie darum handeln, Rechtswortkarten herzustellen" (S. 11). Hier kommen vor allem historische Wortkarten in Betracht, in denen das geographische Prinzip durch das chronologische (Verwendung von Zeitzeichen) erweitert wird. In einer ,Charakteristik der Rechtssprache' (S. 12 ff.) 13 gibt v. K . wichtige Hinweise zur Interpretation von Rechtssprach-, besonders Rechtswortkarten. Einerseits wird man hier scharfe Grenzen finden, da das Rechtswort in besonderem Maße an eine durch die staatliche Verwaltung festgelegte Rechtsordnung und ihre Einrichtungen gebunden ist. Andererseits kann das genaue Gegenteil der Fall sein: bei Rechtsübertragung, Rechtsentlehnung. Man denke an die Verbreitung lübischen und magdeburgischen Rechts, an die Übertragung des Sachsenspiegels in den oberdeutschen Raum, an die Ausbreitung fränkischer Rechtswörter im Zuge einer Vereinheitlichung der Verwaltung in merowingischer und karolingischer Zeit. In diesen Fällen vollzieht sich die Ausbreitung der Rechtswörter unabhängig von eigentlich sprachlichen Beziehungen, d. h. das Wort 13

Ferner v. Künßberg, Die dt. Rechtssprache, in: Zs. f. Deutschkunde 1930, S. 379—389. Ders., Einleitung S. 1—12 in: K . Saueracker, Wortschatz der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. (Carolinawörterbuch) ( = Heidelberger rechtswiss. Abh. 2). Heidelberg 1 9 2 0 . Hierzu die Rez. von Merk in Z R G G A 5 0 ( 1 9 3 0 ) , 533 f. v. K., Rechtsgeschichte und Sprachgeschichte, in: Résummés des communications présentés au congrès Oslo 1928, S. 2 2 0 .

23»

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wandert mit der Sache. Die Geltung von Rechtswörtern kann auch in anderer Hinsicht von der staatlichen Verwaltung beeinflußt werden, z. B. wenn der Gebrauch bestimmter Ausdrücke (etwa leibeigen, Untertan, Landeskind S. 15), die mit überholten Rechtsvorstellungen verknüpft sind, untersagt wird. Während also auf der einen Seite das Rechtswort außerordentlich konservativ ist — die Anwendung des jeweils richtigen Wortes ist von entscheidender rechtlicher Bedeutung — und dem normalen Verschleiß widersteht, kann es auf der anderen Seite durch reine Verwaltungsakte verpflanzt, verboten oder auch neueingeführt werden 1 4 . Das Vorkommen von Paarformeln oder mehrgliedrigen Ausdrücken in einer Rechtsquelle oder Urkunde kann bedeuten, daß sich deren Anwendung auf Personen aus verschiedenen Mundartgebieten und ursprünglich auch verschiedenen Rechtsgebieten erstreckt (dazu unten S. 362 die Ergebnisse von Kienles). Unter den ,Zielen der Rechstsprachgeographie' (S. 21 ff.) nennt v. K. so große Aufgaben wie die Erforschung ganzer Rechtsquellen' nach ihrer mundartlichen Eigentümlichkeit, die Untersuchung der Territorialrechtssprachen, der Rechtssprachlandschaften'. Er bezieht diese Aufgaben auf die weite Zeitspanne, die das Forschungsfeld der deutschen Rechtsgeschichte umfaßt, wenn er z. B. nach der ,Bedeutung des Reichskammergerichts f ü r die Sprachgeschichte' fragt oder nach der Wirkung des politischen Übergewichts von Preußen in der Sprache' (S. 23). In solch weiten Bezügen erscheint ihm die Erforschung der einzelnen Rechtswörter unter den Aufgaben der Rechtssprachgeographie als die kleinste. Diese ist jedoch sein eigentliches Forschungsfeld, dem der spezielle Teil seiner Schrift gewidmet ist (S. 27—49). Dies hat sicher nicht nur persönliche Gründe — seine Vertrautheit mit dem geschichtlichen deutschen Rechtswortschatz —, sondern auch sachliche. Bei den zahlreichen Aufgaben einer Rechtssprachgeographie handelt es sich durchweg um im wesentlichen sprachgeschichtliche Probleme. Auf ihre Bedeutung (auch f ü r sein eigenes Fach) konnte v. K. als Rechtshistoriker hinweisen, zu bearbeiten hat sie der sprachhistorisch geschulte Philologe. Bei den zahlreichen Untersuchungen, die seit Erscheinen dieser Schrift zur Urkundensprache, zu einzelnen Rechtsquellen publiziert wurden, werden die Verfasser sich nicht immer in dem Maße, wie v. K. es auffaßt, bewußt gewesen sein, d a ß sie Rechtssprachgeographie betreiben. So verengt sich zunächst dieser Forschungszweig auf den kleineren Bereich der Rechtswörter, wo die Verbindung zur Rechtsgeschichte besonders ins Auge fällt. Als Fernziel der beschriebenen Aufgaben nennt v. K. abschließend die Schaffung eines deutschen Rechtssprachatlasses. Als Beitrag hierzu dürfen wir die folgenden Karten ansehen, die er in enger Zusammenarbeit mit F. Wrede, K . W a g n e r und B . M a r t i n entwickelte und am 1. April 1926 anläßlich der 14

„ Z . B . w u r d e das alte Brüche 1877 in Schleswig-Holstein durch Regierungsverfügung verboten und durch Geldstrafe ersetzt" (S. 14 f.).

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50-Jahrfeier des DSA in Marburg vortrug, v. K. bietet vier Arten von Wortkarten: die kombinierte historische und Mundartkarte (I), die historische Bedeutungskarte (II), die historische Synonymenkarte (III) und die Rechtsbrauchkarte mit Synonymen (IV). Materialgrundlage sind in allen Fällen die historischen Belege des DRWB, für welche jahrhundertweise verschiedene Zeichen gewählt wurden. Technisch schließt sich v. K. an das damalige Kartensystem der Dialektgeographie an, d. h. er übernimmt die in 2s. f. dt. Maa. 19 (1924), S.284 von Wrede veröffentlichte Grundkarte, auf welche jeweils Pausblätter aufgelegt werden. Karte 1 (Typ I) bietet die Belege für Flecken .Dorf' und verzeichnet gleichzeitig die entsprechenden Angaben des DSA. Diese Kombination zeigt, „daß wir im heutigen Fleckengebiet [in Württemberg] oder in seiner Nähe das Kerngebiet für die Verwendung des Wortes Flecken in der Bedeutung Dorf zu sehen haben" (S. 29). Karte 2 (Typ I I ) umreißt die Verbreitung von vier verschiedenen Bedeutungen des Wortes Bestand in der Rechtssprache des 13. bis 18. Jahrhunderts. Sie vermittelt einen ersten Überblick über die zeitliche und geographische Geltung der Bedeutungen ,Vertrag, Waffenstillstand', ,Gültigkeit', ,Miete, Pacht' und ,Kaution'. Zugleich wird damit die neue Kategorie der B e d e u t u n g s k a r t e in die sprachgeographische Forschung eingeführt. Die Karten 3—14 (Typ I I I ) stellen jeweils die historische Verbreitung eines Synonyms zu den drei Stichwörtern ,Pranger', ,Leitkauf' und ,Vormund' dar. Für die einzelnen Synonyma eines Wortes wurden verschiedene Farben gewählt, so daß die Deckblätter übereinandergelegt ein Gesamtbild ergeben. Blatt 15 zeigt historische Synonyma des Strafsteines beim Rechtsbrauch des Steintragens, wobei interessanterweise nur drei von zahlreichen Synonymen den Charakter eines weiter verbreiteten technischen Ausdrucks tragen. Weitere Karten fallen in den Bereich der Rechtsgeographie, so K. 16 über die verschiedenen Formen des Hühnerrechts und K. 17—20, auf denen erstmalig die Verbreitung des mittelalterlichen Stadtrechts dargestellt ist. Diese Karten geben nicht nur dem Rechtshistoriker einen Überblick über die komplizierten Verhältnisse der Stadtrechtsverwandtschaften und Oberhofgebiete — beide Gesichtspunkte sind hier vereinigt dargeboten —, sondern bedeuten gerade für den Philologen eine wesentliche Grundlage zur Beurteilung rechtssprachgeographischer Erscheinungen15. Auf Grund dieser Karten gilt v. K. als der Begründer der historischen Wortgeographie. Natürlich waren historische Belege schon früher, von Wrede, Frings, Kretschmer, herangezogen worden. Doch als sprachgeographischer Ausgangspunkt dienten stets die modernen deutschen Mundarten. Eine systematische Anwendung der sprachgeographischen Methode auf die Sprachgeschichte unterblieb wohl zunächst, weil einerseits die Mundarten unerschöpfliches Material boten, andererseits historische Belege in zeitlich und geographisch breiter Streuung fehlten oder schwer zugänglich waren. Dies änderte sich erst mit der Schaffung des Deutschen Rechtswörterbuches. In dem umfassenden Konzept dieses 15

So zeigt bei L. E. Schmitt a. a. O. Karte 24 die „Verbreitung der wichtigsten Stadtrechte im Mitteldeutschen". Von Künßbergs Obersichtskarte ist erneut bei HyldgaardJensen, Rechtswortgeographische Studien I., abgedruckt.

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Werkes und in der aufopferungsvollen Sammelarbeit, die hierfür jahrzehntelang geleistet wurde, ist die eigentliche Grundlage einer historischen Wortgeographie zu sehen. In späteren Jahren hat v. Künßberg weitere Rechtswortkarten veröffentlicht 16 . Besonderes Interesse können die historischen Karten über Gilde und Zunft beanspruchen. Während Gilde gänzlich auf den niederdeutschen R a u m beschränkt bleibt, hat sich ,das oberdeutsche Gegenstück' Zunft, von ersten Belegen des 13. Jahrhunderts (Basel, Ulm, Augsburg) wellenförmig ausstrahlend, bis zum 18. Jh. über das ganze deutsche Sprachgebiet ausgebreitet, tritt jedoch im nördlichen Gilde-Bereich seltener auf. Eine wichtige Ergänzung dieses Begriffsfeldes können die hier nur genannten mitteldeutschen Bezeichnungen Innung und Zeche geben. Am Beispiel dieser Karten wird zugleich eine Gefahr deutlich, der die historische Wortgeographie ausgesetzt ist, wenn die Wortkarten zwar die zeitliche und geographische Ausbreitung eines Wortkörpers, nicht aber die in stetem Wandel begriffene Bedeutung miterfassen. Gerade Gilde und Zunft zeichnen sich durch einen spezifisch kulturgeschichtlichen Gehalt aus. Als ,Sinngleiche' (Synonyma) wird man sie mit v. K. nur im weitesten Sinn von ,Körperschaft' bezeichnen dürfen. Die heute empfundene begriffliche N ä h e ist erst das Ergebnis einer langen Entwicklung, die sich vor allem im Zusammenhang mit dem Aufblühen des Städtewesens vollzog 17 . Welch unterschiedliche Ausgangspunkte vorliegen, zeigt die Etymologie: Während Zunft (vgl. ahd. gizumfti .Gesetz') über ,Regel, mit der eine Genossenschaft lebt' sich zur Bedeutung .Verband von Handwerkern' 1 8 , Einrichtung eines bestimmten, in den Städten groß gewordenen Standes' 19 entwickelte, begegnet Gilde zunächst in den Bedeutungen ,Opfer, Abgabe, Festschmaus (so noch heute schwed. gille), Trinkgemeinschaft', aus letzterer hat sich vielleicht die GildeGenossenschaft entwickelt 20 . Für Entstehung und Verbreitung der Gilde in ihren 18

Rechtswortkarte I. 1. Gilde. I.Zunft, in: Z M F 11 (1935), 2 4 2 - 2 4 5 ; Rechtswortkarte II. Dunschlag, Beulschlag und ihre Verwandten, in: Z M F 13 (1937), 213—221. Ferner erschien in Z M F 17 (1941), 164—167 ein Beitrag über ,Hanse und seine Wortgeographie', allerdings w e g e n der zu geringen Beleganzahl und der Schwierigkeit, diese geographisch festzulegen, ohne Karte. In dem erstgenannten A u f s a t z wird außerdem auf neuere Arbeiten (und Karten) zur Rechts(wort)geographie hingewiesen, die den Anregungen v. Künßbergs verpflichtet sind. Für uns sind zu nennen: E. K r a n z mayer, D i e N a m e n für den V o r m u n d in den Mundarten Bayerns und Österreichs, in: Bayer. Wochenschr. f. Pflege v. H e i m a t u. Volkstum 11 (1933), 328 ff. und L. H i n derks, bauteil, bodel, bool, in: N i e d e r d t . Korrespondenzblatt 44 (1931), 35 ff.

17

Trübners Wb. 3, 183 unter Gilde: „Wirklich häufig wird das W o r t im Hochdt. erst unter Einfluß Justus Mosers, fortan erscheint es dem mitteldt. Innung und dem Oberdt. Zunft gleichwertig."

18

Kluge-Mitzka, E t y m o l o g . Wb., >»1963, S. 894.

19

O. Ludwig, D i e Bezeichnungen für ,Zunftversammlung' in Mittelalter und N e u z e i t , in: Z M F 17 (1941), 1 6 7 - 2 1 4 .

20

E. Rooth, D a s Wort hansa verglichen mit g i l d e und skara, studien. H a l l e 1926, S. 6 7 - 1 1 3 .

in: Altgermanische Wort-

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verschiedenen Formen ist besonders das frühe Vorkommen des Wortes in Skandinavien, England, den Niederlanden bedeutsam, v. Künßberg hat sich bewußt auf den deutschen Raum beschränkt, um die kennwortartige Verbreitung von Zunft und Gilde zu veranschaulichen und hat damit den außerordentlichen Wert solcher Darstellung bewiesen21. Sucht man jedoch nach den Wurzeln dieser Verbreitung, nach den kulturgeschichtlichen Hintergründen, so ist ein umfassenderes Kartenbild erforderlich. Dieses wird erst in einer ausführlichen wortsemantischen und historischen Deutung richtig zu erschließen sein. Im gleichen Jahr wie v. Künßbergs Rechtsprachgeographie, 1926, erschien von dem Marburger Rechtshistoriker Walter Merk der Aufsatz ,Ziele und Wege der geschichtlichen Rechtsgeographie' 22 , der erneut von der fruchtbaren Wirkung des DSA und der Dialektgeographie insgesamt Zeugnis ablegt. Deren Arbeitsweise wird auf S. 85 ff. u. ö. als wegweisend dargestellt, speziell auch im Vergleich mit dem Atlas Linguistique de la France. Unter geschichtlicher Rechtsgeographie' versteht Merk den ,Zweig der Rechtsgeschichte . . . , der mittels der geographisch-kartographischen Behandlungsweise rechtsgeschichtliche Forschungsergebnisse zu veranschaulichen oder zu gewinnen sucht" (S. 80). Diese gliedert er in eine ,rechtsgeschichtliche Wortgeographie' und eine ,rechtsgeschichtliche Sachgeographie', wobei letzterer die größere Bedeutung beigemessen wird 23 . Merk erhebt die Forderung, als Gegenstück zum DSA ein rechtsgeschichtliches Kartenwerk in Angriff zu nehmen, von dem er sich für die gesamte rechtsgeschichtliche Forschung ähnliche Anregungen verspricht, wie sie die Sprachwissenschaft durch die Dialektgeographie erfahren hat. Er stellt dazu auch sogleich praktische Erwägungen an und denkt sich die Arbeitsstelle des DRWB als idealen Ort für die Vorbereitung eines solch umfassenden, überregionalen Projektes. Leider blieb dieser Vorschlag auf dem Papier. Bereits Stutz hielt in seiner Rezension dieses Aufsatzes 24 Merks Plan für unrealisierbar und deutet unter Hinweis auf v. Künßbergs Einsatz für das DRWB an, daß dies nur als Lebenswerk eines einzelnen denkbar sei. Bei aller Anerkennung der Anregun-

21

So druckt L. E. Schmitt a. a. O. die beiden Karten mit der beigegebenen Oberschrift .Struktur des Deutschen (exemplarisch)' erneut ab.

22

In: Festschrift L. Traeger. Berlin 1926, S. 80—132. Vgl. die Rez. v o n C. Borchling in ZRG G A 54 (1934), 2 7 6 - 2 7 9 . D e n Standpunkt des Rechtshistorikers charakterisieren sehr gut die folgenden Worte: „Die Rechtswörter kommen für sie [die geschichtl. Rechtsgeographie] nicht um ihrer selbst willen in Betracht, sondern vornehmlich als ,Geburtsscheine der Begriffe, die sie bezeichnen' (Brunner, Rechtsgeschichte 2 I, S. 156)." Ausführliche Passagen zur Rechtswortgeographie, die in einem dem Beitrag zugrunde liegenden Vortrag enthalten waren, hat Merk mit Rücksicht auf v. Künßbergs Abhandlung fortgelassen (S. 81, Anm. 3).

24

ZRG G A 47 (1926), 7 0 6 - 7 1 3 .

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gen Merks 2 5 glaubt er doch, daß diese für die Rechtsgeschichte zu früh kämen. Die Rechtsgeographie bleibe eine Hilfswissenschaft der Rechtsgeschichte'. Diese Ansicht ist nicht untypisch 26 . Sie verkennt, daß die kartographische Methode nicht nur ein Mittel zur Veranschaulichung bereits vorhandener, sondern — wie Merk formuliert — zur Gewinnung neuer Erkenntnisse ist, da sie ganz neue Forderungen an die Bewältigung des Stoffes stellt. Doch Stutz behielt mit seiner Kritik Recht. Das D R W B , von dem Merk noch hoffte, es könnte in zehn Jahren abgeschlossen werden, um dem Rechtsatlas Platz zu machen, steht heute beim Buchstaben K . Aus gegenwärtiger Sicht muß Merks Plan als weitschauend bezeichnet werden, besonders wenn man in Betracht zieht, welche Ausweitung Merks einstiges Vorbild, der DSA, als Forschungsinstitut für Deutsche Sprache erfahren hat. Eine ähnliche Zentralstelle für die rechtsgeschichtlidie Forschung mag gerade gegenwärtig, da an das Lebenswerk einzelner nicht mehr so hohe Anforderungen gestellt werden können, wünschenswert sein. Als erste Frucht einer solchen lexikalisch-kartographischen Zusammenarbeit in Heidelberg dachte sich Merk die Beigabe von historischen Wortkarten zum D R W B . Es ist bemerkenswert, daß selbst im Bereich der Dialektgeographie dieses Verfahren erst spät, durch L. Bertholdt im Hessen-Nassauischen und umfangreich in Mitzkas Schlesischem Wörterbuch Eingang gefunden hat. Neben diesen organisatorischen Vorschlägen zählt Merk eine Reihe von Forschungsgegenständen auf, für die ihm eine rechtsgeographischen Behandlung besonders ergiebig erscheint. „Den Vorzug verdienen dabei Rechtsgebilde der Gebiete, die der bewußten willkürlichen Umgestaltung durdi Staat und Kirche weniger ausgesetzt waren" (S. 104). Für die Rechtswortgeographie wird auf S. 105 f. eine Reihe von Bezeichnungsgruppen aus dem Bereich des Strafrechts angeführt. Dem folgen Anregungen für die Rechtssachgeographie (S. 106—112) und Hinweise auf ,nächste Aufgaben der rechtsgeschichtlichen Kartenforschung'. Diese berühren sich z. T. eng mit sprachgeschichtlichen und historischen Problemen. Ich nenne hier nur die Überschriften: 1. Fortdauer der deutschen Volksrechte im Mittelalter; 2. Grenzen der alten Stammesgebiete 27 ; 3. Einfluß der Stammesrechte auf andere Rechtsgebiete, insbesonders Einwirkung des fränkischen Rechts auf übrige Stammesrechte (s. unten zu Freudenthal); 4. Rechtsbücherforschung; 5. Weistumsforschung; 6. Zusammensetzung des deutschen Rechts auf dem mittelalterlichen Kolonialboden; 7. Rezeptionsgeschichte. Merks wegweisender Aufsatz bietet eine Fülle von Anregungen, die weder im grundsätzlichen noch en detail überholt sind. Zugleich ermöglicht er dem 25

D a z u auch Stutz' Rez. von v. Künßbergs Rechtssprachgeographie in 2 R G G A 48

26

Vgl. auch Frölich, Probleme der Rechtskartographie, S. 51 f.

27

Einen ersten Versuch, Stammesgrenzen durch rechtswortgeographische Untersuchungen zu bestimmen, machte F . Thudichum in: Die Stadtrechte von Tübingen 1488 u. 1493, Anh. 1: Die Rechtssprache als Hilfe zur Ausmittelung der alten Grenzen der deutschen Stämme ( = Tübinger Studien f. Schwab, u. Dt. Rechtsgesch. I). Tübingen 1907.

(1928), 4 6 8 .

Rechtswortgeographie

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Philologen durch die reichen Literaturangaben ein Einarbeiten in die problemverwandte rechtsgeschichtliche Forschung28. Wieweit die Anregungen Merks und v. Künßbergs auf diese selbst eingewirkt haben, zeigt ein Referat von Karl Frölich 29 . Die vorausschauende Begeisterung der beiden Begründer der Rechts(sprach)geographie ist hier einer kritischen Besinnung auf das zunächst Mögliche und einer deutlichen Zurückhaltung gegenüber weitreichenden Plänen gewichen. Fröhlich sieht in der Rechtsgeographie keine neue Forschungsrichtung, nur eine Methode der Veranschaulich ung, die er darum ,Rechtskartographie' nennt. Hauptschwierigkeiten für ihre Anwendung sieht er in der mangelhaften Materialaufbereitung im Bereich der rechtsgeschichtlichen Sachforschung (Rechtswortgeographie hat für ihn nur untergeordnete Bedeutung). In gewisserWeise entsteht daraus ein Zirkelschluß, wenn die Rechtsgeographie auf Vorarbeiten der Sachforschung warten soll, diese jedoch wesentliche Anregungen gerade durch jene erfahren könnte. Aus diesen Schwierigkeiten wird ein deutlicher Unterschied zur Sprachgeographie erkennbar, die auf Grund gänzlich neuer, für sie selbst erschlossener Materialien erwuchs. So wurde aus der Methode ein Forschungszweig. Es scheint, daß die Hoffnungen Merks und v. Künßbergs, die Rechtsgeschichte werde durch die Einführung des geographisch-kartographischen Prinzips ähnliche Befruchtung erfahren wie die Sprachforschung, nicht in Erfüllung gegangen sind30. Die Rechtswortgeographie stand unter einem günstigeren Stern. Sie ist gerade in jüngster Zeit durch die Untersuchungen Hyldgaard-Jensens wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt worden. Zu welchen Ergebnissen sie seit den 30er Jahren gekommen ist, ist im folgenden zu zeigen. Aus der Arbeit an den Artikeln Buße und Brüche für das DRWB erwuchs der Beitrag v. Kienles ,zum Begriffsbezirk Strafe' 31 , in dem erstmalig Ergebnisse früherer sprachwissenschaftlicher Untersuchungen, hier der Monographie ,Buße' von J. Weisweiler32, unter Beiziehung neuen Quellenmaterials (aus dem DRWB28

In diesem Zusammenhang sei auch a u f einen V o r t r a g von W a l t e r Merk hingewiesen: W e r d e g a n g und W a n d l u n g e n d e r deutschen Rechtssprache ( = M a r b u r g e r Akademische Reden N r . 5 4 ) . M a r b u r g 1 9 3 3 . Weitere Forderungen zur Rechtssprachforschung erhebt Merk Z R G G A 5 0 ( 1 9 3 0 ) , 5 2 3 f. ( R e z . von Saueracker, C a r o l i n a w ö r t e r b u c h 1 9 2 9 . ) D a z u auch v . Künßberg, Rechtsgeographie, in: 7 e Congres International de Sciences Historique I. Warschau 1 9 3 3 .

29

K . Frölich, Probleme der Rechtskartographie, in: Vierteljahrsschrift f. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2 7 ( 1 9 3 4 ) , 40—64. N e b e n Merks und v . Künßbergs Schriften werden besprochen: M. L a n g h a n s - R a t z e b u r g , Begriff und A u f g a b e n der geographischen Rechtswissenschaft ( = Beih. zur Zs. f. Geopolitik 2). Vowinkel, Berlin 1 9 2 8 und H . Reichard, Die dt. Stadtrechte des Mittelalters in ihrer geographischen, politischen und wirtschaftlichen Begründung, Berlin 1 9 3 0 .

30

Z . B . lehnt es G e r t r u d Schubart-Fickentscher in ihren Untersuchungen zur .Verbreitung der Deutschen Stadtrechte in O s t e u r o p a ' ( = Forsch, z. dt. Recht, Bd. IV, H . 3, W e i m a r 1 9 4 2 ) ab, ihre Ergebnisse kartographisch darzustellen.

31

W ö r t e r und Sachen 16 ( 1 9 3 3 ) ,

32

J . Weisweiler, Buße. Bedeutungsgeschichtliche geschichte. H a l l e a. S. 1 9 3 0 .

67-80. Beiträge

zur

Kultur-

und

Geistes-

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Archiv) mit wortgeographischer Methodik interpretiert werden. Auf drei Pausblättern wird die räumliche und zeitliche Verbreitung von Buße, Bruch/Brüche/ Brächte und Wette!Gewette in der Bedeutung ,Strafe* dargestellt. Diese hat sich erst mit dem Aufkommen zentraler, staatlicher Gewalten entwickelt. „Zugleich mit der Entstehung der Einrichtung Strafe bilden sich die ursprünglich fehlenden Bezeichnungen hierfür heraus" (S. 79). Während Buße ursprünglich die ,an die beeinträchtigte Person zu leistende Genugtuung' bedeutete, stammt Brüche aus dem Begriffsfeld des Vergehens, Wette bezeichnete zunächst nur ,das Pfand, durch das man die Bezahlung der verwirkten Strafe sicherte' (S. 80). Auf eine Karte projiziert ergibt sich ein Verbreitungsbild, in dem Buße im Oberdeutschen und Fränkischen, Brüche im Niederdeutschen und Wette im Ostmitteldeutschen vorherrscht. In breiten Mischzonen erscheinen häufig zwei Bezeichnungen in einer Paarformel zusammengefaßt. Obwohl neben den verschiedenen Bedeutungen der behandelten Wörter nur andeutungsweise weitere konkurrierende Bezeichnungen genannt sind, wird deutlich, daß v. Kienle hier auf ein Begriffsfeld gestoßen ist, in dem ähnlich interessante Bedeutungsverschiebungen stattgefunden haben, wie sie Trier im Sinnbezirk des Verstandes aufgedeckt hat. Dabei erweist es sich, daß die wortgeographische Methode mit ihrer breiten Materialbasis zur wortfeldmäßigen hinzutreten muß, damit ein genaues Bild der Verschiebungen von Wörtern und Bedeutungen gewonnen werden kann' 8 . Als rechtswortgeographische Untersuchungen dürfen auch die Dissertation und ein Aufsatz von Willi Steinberg angesehen werden®4. In seiner von Karl Bischoff angeregten Dissertation verfolgt St. vor allem die Bedeutungsentwicklung, die wechselseitigen Beziehungen und die Konkurrenz der beiden Wörter Hochzeit (ahd. hochzit .kirchliches Fest') und Brautlauf (ahd. brütloufl ,Vermählungsfest') in der deutschen Sprachgeschichte und veranschaulicht dies in semantischen Diagrammen und historischen Wortkarten. Der Gegenstand ,Vermählung' wurde wegen der günstigen Quellenlage (Urkundenbelege!) auf diesem Gebiet gewählt. Audi die ,Beiträge zur historischen Wortgeographie' behandeln Wörter aus dem gleichen Sinnbereich. Aus Urkunden des 13. bis 16. Jh.s gewann St. ausreichend Materialien, die geographische und zeitliche Verbreitung der Wörter hiwen htliche, hilichen, trüwen, bestaden, frige(n), echt, elik/elich, ehaft und hirat darzustellen. Dabei wird soziologischen Phänomenen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Steinbergs Untersuchungen sind ein Beispiel dafür, daß historische Wortgeographie, ohne dies ausdrücklich zu beabsichtigten, auf Grund der Quellenlage zum älteren Deutsch, zur Rechtswortgeographie wird. ™ Hierzu auch die Bemerkungen bei v. See, Altnordische Reditswörter S. 6. 34

W. Steinberg, Studien zum dt. Wortschatz im Bereich der Vermählung. Diss. H a l l e Wittenberg 1956. Ders., Beiträge zur historischen Wortgeographie, in: Wiss. Zs. d. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Jg. V I I I ( 1 9 5 8 / 5 9 ) , Gesellsdi. u. spradiwiss. Reihe, S. 695—716.

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363

Trotz der allgemeinen Beachtung, die v. Künßbergs Schrift erfahren hatte, fand der ältere deutsche Rechtswortschatz selbst erst in einer Göteborger Dissertation vom Jahre 1949 eine eingehende Bearbeitung 35 . Angeregt durch Axel Lindquist stellte Freudenthal aus dem Archiv des Ahd. Wörterbuches Sammlungen zum althochdeutschen Rechtswortschatz an und wählte f ü r seine Untersuchung die Sinnbezirke testis-testimonium-testari, judicium-judex-judicare und accusatio-accusare aus. Neben den vollständig angeführten althochdeutschen und altniederdt. Bezeichnungen dieser Begriffsfelder gibt F. auch an H a n d der einschlägigen Wörterbücher und z. T. auf Grund eigener Exzerpte (aus den ältesten altnordischen Rechtsquellen) die Belege der übrigen altgermanischen Dialekte an, um den germanischen Hintergrund f ü r die althochdeutschen Neuschöpfungen zu beleuchten und Ausstrahlungen über den deutschen Raum hinaus zu erklären. Das Ergebnis der Untersuchung kündigt sich schon im Titel an. F. gelingt der Nachweis, daß die Bildungen vom T y p urkund- (gegen gemeingerm. *ueid- u n d westgerm. kund-Bildungen) und urteilH urteilen (gegen gemeingerm. döm-ldomian und bair.-alem. suonalsuoneri) im Zuge der Ausweitung und verwaltungsmäßigen Festigung der fränkischen Herrschaft unter den Arnulfingern und Karolingern von einem mittelfränkischen Zentrum aus den oberdt. (seit 750) und den nord- und mitteldt. Raum (seit 800) erobert haben. Dies wird in zwei Kartenskizzen (mit Verbreitungsgebieten und Strahlungsrichtung in der Art von Frings) dargestellt. Die wortgeographischen Ergebnisse werden rechts- und kulturgeschichtlich interpretiert und liefern so einen wertvollen Beitrag zur älteren deutschen Sprachgeschichte. Weitere Bestätigung seiner Ansichten erwartet F. nach Erscheinen des Ahd. Wörterbuchs. Inzwischen hat Freudenthal die historisch-wortgeographische Methode mit Erfolg auch auf drei Begriffsfelder der ahd. Kirchensprache ausgedehnt 36 . Mit den ,Rechtswortgeographischen Studien' 3 7 des aus der Göteborger Schule stammenden Germanisten Karl Hyldgaard-Jensen hat unser Forschungszweig besondere Aktualität erlangt. Wie der Untertitel anzeigt, verfolgt H . - J . zunächst ein scheinbar bescheidenes Ziel: In Auseinandersetzung mit Forschungen von Korlen, Foerste und Reincke, die an H a n d einiger Rechtstermini in den mittelniederdeutschen Stadtrechten eine ,westfälische Strömung' bestimmen zu können glaubten 38 , untersucht er etwa zwei Dutzend Rechtsausdrücke und 35

Karl Frederik Freudenthal, Arnulfingisch-Karolingische Rechtswörter. Eine Studie in der juristischen Terminologie der ältesten germanischen Dialekte. Göteborg 1949. Rez. T. A h l d e n S N P h 23 (1950/51), 6 2 - 7 0 , G . M ü l l e r D L Z 73 (1952), 3 7 0 - 3 7 4 , A. Erler Z R G G A 68 (1951), 4 6 2 - 4 6 5 , A. C. Crene de Jongh Museum 68 (1953), 30-32.

36

K. F. Freudenthal, Gloria, Temptatio, Conversio. Studien zur älteren deutschen Kirchensprache ( = Göteborger Germanist. Forschungen 3). Göteborg 1959.

37

K. Hyldgaard-Jensen, Rechtswortgeographische Studien. I. Zur Verbreitung einiger Termini der westlichen und nördlichen mittelniederdt. Stadtrechte vor 1350 ( = Göteborger Germanist. Forschungen 7). Uppsala 1964.

S8

G. Korlen, D i e mnd. T e x t e des 13. Jahrhunderts. Lund 1945. Ders., N o r d d t . Stadtrechte I—II. Lund 1950, 1951. Ders., Zum Problem der sog. westfälischen Strömung,

364

Horst

Haider

Munske

-formein in den wichtigsten älteren mittelniederdeutschen Stadtrechten. Gleichzeitig werden jedoch aus Wörterbüchern und den bedeutendsten angelsächsischen, altnordischen und altfriesischen Rechtsquellen die entsprechenden Belege der weiteren Germania herangezogen, wodurch es gelingt, die behandelten mittelniederdeutschen Termini in einen größeren Zusammenhang zu stellen, als dies bisher geschehen war und — soweit die Materialien dies ermöglichten — chronologische Schichten, rechtsgeographische Unterschiede und sprachliche Verbreitungswege anzudeuten. „Wenn man auf kontrollierbaren sprachlichen Erscheinungen fußt, ohne von rechtsgeschichtlichen Übereinstimmungen auf hypothetische sprachliche zu schließen, muß man feststellen, daß die tatsächliche Verbreitung der einzelnen Termini nicht auf eine eindeutige westliche oder westfälische Strömung hindeutet. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Gruppe von Termini, die zur Beleuchtung des sehr komplizierten Aufbaus der westlichen und nördlichen mnd. Rechtssprache dienen" (S. 193). Zusammenfassend ordnet H . - J . die untersuchten Ausdrücke in drei Gruppen: einige wenige sind typisch westfälisch, die meisten nur z. T. westfälischen sind zugleich im übrigen mnd. Raum verbreitet oder reichen weiter ins Oberdt., Mitteidt., Ags., Fries., N o r d . N u r eine detaillierte, von den sprachlichen Quellen selbst ausgehende Untersuchung konnte aufdecken, wie vielschichtig tatsächlich die Beziehungs- und Verbreitungsverhältnisse im Bereich des mnd. Rechtswortschatzes sind. Die aus verschiedenen Sachbereichen des Rechts stammenden Bezeichnungen spiegeln die großen Veränderungen, die sich in den kontinentalen Stadtrechten des Frühmittelalters vollzogen. Dabei wurden offenbar die verschiedenen Rechtsbereiche ungleichmäßig erfaßt. Eine ältere Schicht wird z. B. in der strafrechtlichen Formel blot unde bla ,blutig und blau' (von Schlägen) berührt, die zugleich in ähnlicher Form in md., mnd., afries. und anord. Quellen vorkommt. Die Beschränkung auf wenige Rechtsausdrücke ermöglichte es H.-J., diese beispielhaft genau zu untersuchen. Zusammen mit den wichtigen Charakterisierungen der ausgewählten Stadtrechte (S. 34—76) und einer einleitenden wissenschaftsgeschichtlichen Übersicht schafft die Abhandlung eine neue Grundlage f ü r die weitere Erforschung des mnd. und germ. Rechtswortschatzes® 9 . Sicher ist es kein Zufall, daß die bedeutendsten Beiträge zur Rechtswortgeographie aus einem Lande kommen, in dem die philologische Beschäftigung in: N d . M i t t . 6 (1951), 84—102. Vgl. auch Korlens Rez. der ,Rechtswortgeographischen Studien' in: N d . M i t t . 22 (1966), 137—140. — W . Foerste, D e r wortgeographische A u f b a u des Westfälischen. M ü n s t e r 1958. — H . Reincke, Kölner, Soester, Lübecker und H a m b u r g e r Recht in ihren gegenseitigen Beziehungen, in: H a n s . Geschichtsbll. 69 (1950), 14 ff. 39

Wie H . - J . S. 7 a n k ü n d i g t , p l a n t er in einem zweiten Teil ,zentrale Rechtstermini u n d U r k u n d e n f o r m e l n ' zu b e h a n d e l n . Inzwischen h a t er in seinem V o r t r a g ,Zur E r forschung der west- u n d n o r d m n d . Rechtssprache' auf der N d . T a g u n g in Einbeck 1965 (in: N d . Mitt. 22 [1966], 115—133) erneut den S t a n d der mittelniederdeutschen Rechtsphilologie umrissen u n d u n t e r stärkerer Berücksichtigung der rechtsgeschichtlichen Forschung einige grundsätzliche Fragen des Alters u n d kontinental-nordischer Beziehungen erläutert.

Rechtswortgeographie

365

mit den Rechtsquellen, die Rechtsphilologie, seit langem einen festen Platz hat 4 0 . Hinzu kommt, daß die Erforschung des Mittelniederdeutschen, das die skandinavischen Sprachen so nachhaltig beeinflußt hat, seit langem eine Domäne der schwedischen germanistischen Forschung ist. Rechtswortgeographie in dem bisher skizzierten Sinne ist nicht das Hauptziel der ,Altnordischen Rechtswörter' von Klaus von See41, doch kann ohne Kenntnis und gebührende Berücksichtigung dieser Abhandlung heute nicht mehr über germanische Rechtstermini geschrieben werden. „Die Arbeit widmet sich den Grundbegriffen, die sich auf Recht, Rechtsidee, Rechtsordnung und Rechtsethik beziehen" (S. 23), wobei entgegen früherer Praxis, der z. B. noch Freudenthal verpflichtet ist, nicht die Etymologie, sondern die faktische Verwendung einiger zentraler altnordischer Rechtstermini untersucht wird. Den neun Einzelkapiteln geht eine die Rechtssprache von verschiedenen Seiten beleuchtende, instruktive Einleitung voraus 42 . Das Hauptziel und -ergebnis der Untersuchung möchte ich mit einem Schlagwort als die ,Entmythologisierung der germanischen Reditsgeschichte' umreißen: Das altnordische Recht beruht nicht auf religiöser Grundlage — eine opinio communis der älteren deutschen Rechtsgeschichte 4 ' —,,typisch' volkstümliche Züge sind ebenso jung wie die Vorstellung von einer .völkischen Friedensordnung'. Die altnordische Gesetzesauffassung wird vielmehr wesentlich durch den „Genossenschafts- und Vertragsgedanken" bestimmt 44 . Rechtswortgeographische Gesichtspunkte kommen in der Interpretation der verschiedenen altnordischen Rechtstermini, vor allem aber in der Abweisung und Richtigstellung außernordischer Parallelen zur Geltung 4 5 . 40

Hier sind zunächst die rechtsgeschichtlich und philologisch vorzüglichen Textausgaben der altschw. Landschaftsrechte, Collins u. Schlyters „Sämling af Sweriges Gamla Lagar' (1827-1877) und Ä. Holmbäcks u. E. Wessens ,Svenska Landskapslagar' (1933—1946) zu nennen, unter den zahlreichen Spezialuntersuchungen (und Einzelglossaren) mögen die ,Rättsfilologiska studier i svenska landskapslagar' von Torsten Wennström (Fredlösheten 1933, T j u v n a d och Fornaemi 1936, Brott och Böter 1940, L a g s p r i k och lagtexter 1946) hervorgehoben werden.

41

K. von See, Altnordische Rechtswörter. Philologische Studien zur Rechtsauffassung und Rechtsgesinnung der Germanen ( = Hermaea. Germanist. Forsch. N F Bd. 16). Tübingen 1964; v. See f u ß t hier gelegentlich auf Beobachtungen, die er bereits in seiner Übersetzung und Kommentierung des ,Jütschen Rechts' (Weimar 1960) gemacht hat.

42

Ausführlich referiert und besprochen in der Rez. von St. Sonderegger Z R G G A 83, (1966), 3 2 4 - 3 2 8 .

4S

Vor allem von Amira, Germ. Recht 3 1913, und ders., Die germanischen Todesstrafen. München 1922.

44

Vgl. besonders Zusammenfassung S. 249—255.

45

In dieser Hinsicht hat die Rechtsgeschichte den in Grimms Rechtsaltertümern zuerst und am systematischsten befolgten Usus, Rechtswörter aus verschiedenen Gebieten der Germania ohne Ansehung ihrer spezifischen Verwendung, ihrer H e r k u n f t und ihres zeitlichen Auftretens als Zeugnisse frühen germanischen Rechts anzuführen, noch nicht aufgeben. Siehe hierzu die neueren Handbücher von Schröder-Künßberg, Planitz, Conrad.

366

Horst Haider Munske

Abschließend sei auf den Beitrag ,Die ältesten Schichten der germanischen Rechtssprache' von Stefan Sonderegger hingewiesen46, in dem auf frühe, bisher vernachlässigte Quellen zum germanischen Rechtswortschatz aufmerksam gemacht wird: Germ. Lehnwörter in den balto-slawischen Sprachen, Zeugnisse des Tacitus, Runeninschriften, Namenwortschatz, ältere gotische und althochdeutsche Urkunden, die deutschen Wörter in den lateinischen Leges. Sonderegger beleuchtet an Hand althochdeutscher Rechtstermini die Bedeutung der Rechtssprache im Frühdeutschen und zeigt, in welch hohem Maße diese bei der Prägung christlicher Glaubensbegriffe als Bausteine gedient haben 47 . In dieser Ubersicht über neuere rechtswortgeographisch orientierte Untersuchungen wurden nur die größeren und die in grundsätzlicher Hinsicht wesentlichen Arbeiten aufgeführt. Den ersten programmatischen Beiträgen von v.Künßberg und Merk ist mehr Platz eingeräumt, um einen Eindruck von der Sicht des Rechtshistorikers zu vermitteln. Weitere Einzeluntersuchungen sind von ihnen genannt, eine Bibliographie war hier nicht beabsichtigt. Audi auf zahlreiche, gelegentliche Ansätze zu rechtswortgeographischer Betrachtung in älteren Abhandlungen wird man dort verwiesen. Von den besprochenen Untersuchungen führt der Weg weiter zu verwandten Forschungsrichtungen wie der Dialekt- und Brauchtumsgeographie und zu verwandten Disziplinen wie der Rechtsgeschichte und Altertumskunde.

III. Germanische

Rechtswortgeographie

Die letztgenannten Untersuchungen lassen erkennen, in welchem Maße die Philologie sich die Methoden und Ziele der Rechtswortgeographie zu eigen gemacht hat. Dabei stehen zunächst jene Bereiche im Mittelpunkt — wie der althochdeutsche, mittelniederdeutsche und nordische —, in denen bereits Ansätze zu wortgeographischer Betrachtung vorhanden waren und wo überdies die Quellensituation günstig ist. Diese Abhandlungen weisen bereits in vieler Hinsicht auf eine germanische Rechtswortgeographie' hin, die als solche jedoch noch nicht in Angriff genommen wurde. In den Beiträgen von v. Künßberg und Merk war unter dem Begriff Rechtswortgeographie noch stillschweigend das Attribut ,deutsch' mitgedacht worden. Darin spiegelt sich die enge Verbindung der neu begründeten Forschungsrichtung mit dem D R W B und der Erforschung der deutschen Rechtssprache, ferner die mit der notwendigen Spezialisierung der Rechtsgermanistik Hand in Hand gehende Einengung des Blickcs vom Germanischen aufs Deutsche. Noch 40

In: Festschrift für K . S . B a d e r , hrsg. von F. Elsener und W. R. RuofT, Köln-Graz 1965, S. 419—438; ferner ders., Die ahd. Lex-Salica-Übersetzung, in: Festgabe f. W. Jungandreas, Trier 1964, S. 113—121. Ders., Die Sprache des Rechts im Germanischen, in: Schweizer Monatshefte 42 (1962), H . 3.

47

S. auch Verf., ewa, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschidite, hrsg. von A. Erler und E. Kaufmann, Bd. I.

367

Rechtswortgeographie

ein oder zwei Generationen früher wäre Rechtswortgeographie selbstverständlich auf die gesamte Germania bezogen worden. Obwohl die großen Rechtsgermanisten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, Hr. Brunner, K . von Amira, K.Maurer, F.Liebermann, die noch deutlich den Anregungen von Grimms Rechtsaltertümern verpflichtet waren, viel umfassendere Voraussetzungen für die Beschäftigung mit germanischer Rechtssprache besaßen 48 , ist ihnen diese als besonderer Gegenstand noch kaum bewußt gewesen. Sprachgeographische Gesichtspunkte waren ihnen noch ebenso fremd wie den Junggrammatikern. Die zahlreicher als in heutigen Handbüchern zitierten Rechtswörter dienten vornehmlich einer etymologischen Aufschlüsselung eines ursprünglichen Rechtsgehaltes 49 . Hiervon gilt eine Ausnahme, auf die im Zusammenhang einer germanischen Rechtswortgeographie besonders einzugehen ist. In seinem monumentalen Werk, den .Untersuchungen zur Erbenfolge der ostgermanischen Rechte' 50 unternahm es Julius Ficker, an Hand erb- und familienrechtlicher Erscheinungen der älteren germanischen Rechte einen Stammbaum der Rechtsverwandtschaft aufzustellen, der in ganz erstaunlicher Weise von Müllenhoffs Stammbaum der germanischen Sprachen abwich 51 . Bereits im I. Bd. (S. 214 ff. u. ö.) setzt er sich eingehend mit dem Verhältnis von Recht und Sprache auseinander und widerspricht der bis dahin unangefochtenen Meinung, Rechts- und Sprachverwandtschaft müßten durchweg parallel gehen. Fickers Thesen fanden sogleich heftigen Widerspruch, vor allem erwies sich, daß die z. T. jungen Erscheinungen des Erbrechts für solch weitgehende Schlüsse eine unzulängliche Basis darstellten 52 . Neben der geographischen fand also die zeitliche und entwicklungsmäßige Schichtung nicht ausreichende Berücksichtigung. Nichtsdestoweniger war Fickers methodischer Ansatz zukunftsweisend. Eine eingehende kritische Auseinandersetzung bietet v. Schwerin in seiner weit ausgreifenden ,Einführung in das Studium der germanischen Rechtsgeschichte' 53 . Darin werden Fickers Verwandtschaftsmodelle modifiziert. Obwohl die Rechtsvergleichung unter anderen Voraussetzungen steht als die Sprachvergleichung, sind ihre Methoden auch für den Sprachwissenschaftler inter48

Vgl. K . A . Eckhardts kritische Bemerkungen über philologische Kenntnisse heutiger Rechtshistoriker, G e r m . Recht I ( 1 9 6 0 ) , S. 2 0 1 .

49

D a z u das Z i t a t H . Brunners oben S. 3 5 9 , A n m . 2 3 .

50

J . Ficker, Untersuchungen zur Erbenfolge der ostgerm. Rechte ( = zur Rechtsgeschichte), Bd. I—VI. Innsbruck 1 8 9 1 — 1 9 0 4 .

31

So deckte er den Zusammenhang

zwischen langobardischem und

Untersuchungen skandinavischem

Recht auf, noch bevor Bruckner (Die Sprache der L a n g o b a r d e n , Straßburg

1895)

,ingwäonische' Züge in den langobardischen Sprachzeugnissen nachwies. Auch gegenüber heutigen Gliederungsvorschlägen ( M a u r e r , Schwarz, K u h n ) bestehen noch genug f r a p p a n t e Abweichungen. 52

D a z u die bei E c k h a r t a . a . O . S. 2 0 5 , A n m . 10 zitierten Rezensionen von v. A m i r a , Brunner, Pappenheim.

63

Cl. v . Schwerin, Einführung in das Studium der germ. Rechtsgeschichte und Teilgebiete. S. 2 0 0 - 2 1 3 .

Freiburg

i. B .

1922,

S. 1 2 5 — 1 4 9 .

Dazu

ihrer

auch K . A . E c k h a r d t a. a. O .

368

Horst

Haider

Munske

essant, ihre Ergebnisse fordern, sofern sie von denen der Linguistik abweichen, eine Erklärung. Bislang ist, soweit ich es überblicken kann, von Seiten der Philologie eine solche Auseinandersetzung noch nicht versucht wurden. Nachdem in den Fragen der Gliederung wieder eine rege Diskussion in Gang ist und andererseits auch die Spezialforschung zu den einzelnen germanischen Rechten weiter fortgeschritten ist, ergeben sich f ü r einen kritischen Vergleich der Ergebnisse von Rechtsgeschichte und Linguistik neue Möglichkeiten 54 . Mitten zwischen den Disziplinen der Rechts- und Sprachgeschichte steht die Erforschung des Rechtswortschatzes, sachlich ein Gegenstand juristischer, sprachlich philologischer Untersuchungen. Sowohl v. Schwerin wie Eckhardt gehen in ihren Betrachtungen über Fickers Abhandlungen beiläufig auf diese Mittelstellung der Rechtsterminologie ein 55 . Ihre sprachgeographische Behandlung scheint mir ein fruchtbarer Ausgangspunkt, gemeinsame Probleme in Angriff zu nehmen. Die Wortgeographie gerät damit unversehends in die Lage, Aussagen über einen Bereich zu machen, der ihr bis jetzt weitgehend verschlossen blieb: die Gliederung der altgermanischen Dialekte. Natürlicherweise standen hier zunächst lautliche und morphologische Gesichtspunkte im Vordergrund. Der Wortschatz wurde in Einzelbeispielen herangezogen, lediglich de Vries gründet seinen Aufsatz ,De Gotische Woordenschat vergeleken met die van het N o o r d - en Westgermaans' 5 6 gänzlich auf Wortschatzparallelen, E. Schwarz ging den Fragenkreis u. a. mit wortstatistischer Methode an 57 , ähnlich E. Kolb 58 . Schon G. Walter kam auf G r u n d eines Wortschatzvergleiches zu neuen Ergebnissen bezüglich der Stellung des Altfriesischen zu den altgermanischen Nachbardialekten 5 9 . Jüngst hat G. Lerchner an H a n d des systematischen Vergleichs vor allem kontinentalgermanischer Mundarten ,Kennwörter' des Nordwestgermanischen herausgeschält 60 . D a hier der gesamte Wortschatz behandelt wurde, war eine Berücksichtigung historischer Urkundenbelege sowie eine kartographische Darstellung nicht möglich (S. 251). Einen neuartigen Ansatz versucht die Glottochronologie, doch scheint es fragwürdig, ob sie differenziertere Aussagen zu machen vermag 6 1 . 54

55 50 57 58 59

60

61

So h a t K . A. E c k h a r d t (Ingwi u n d die I n g w ä o n e n , 2 1940, G e r m a n e n s t u d i e n 1960, zusf. G e r m . Recht I, 206 ff.) linguistische u n d archäologische Forschungen z u m Kreis der ,ingwäonischen' S t ä m m e rechtsgeschichtlich i n t e r p r e t i e r t . v. Schwerin a. a. O . S. 128, E c k h a r d t a. a. O . S. 202. I n : Leuv. Bijdr. 46 (1956/57), 5 - 3 9 . G o t e n , N o r d g e r m a n e n u n d Angelsachsen. Bern, München 1951. Alemannisch-Nordgermanisches W o r t g u t . F r a u e n f e l d 1956. G. W a l t e r , D e r Wortschatz des Altfriesischen. Eine wortgeographische Untersuchung. N a u m b u r g a. S. 1911. G. Lerchner, Studien z u m nordwestgermanischen Wortschatz, i n : Beitr. (Halle) 87 (1965), 244—294. (Die ausführliche Buchfassung mit gleichem Titel jetzt in: M i t t e i d t . Studien 28, H a l l e [Saale] 1965.) Ders., Isoglossen, I s o m o r p h e n u n d germanische Sprachgeschichte, Beitr. (Halle) 87 (1965), 318—327; auch E. K r a n z m a y e r , D i e K e n n w ö r t e r des Bairischen u n d ihre Geschichte, Veröff. d. ö s t e r . A k a d . d. Wiss. W i e n 1960. Z . B . W a l t e r A r n d t , T h e P e r f o r m a n c e of G l o t t o c h r o n o l o g y in G e r m a n i c , i n : L a n g u a g e 35 (1959), 1 8 0 - 1 9 2 . Eine kleine Literaturübersicht gibt R o b e r t D . K i n g in Z M F 34 (1967), 147 ff.

Rechtswortgeographie

369

Zweifellos brachte M. Adamus eine noch heute weitverbreitete Meinung zum Ausdruck, als er dem Wortschatz in Fragen der Gliederung der Germania jegliche eigenständige Beweiskraft absprach62. Der bekannte Verschleiß und Wandel der Wörter scheint diese für solche Zwecke unbrauchbar zu machen. Doch muß gerade hierin dem Rechtswortschatz eine Ausnahmestellung eingeräumt werden. Auf Grund seiner engen Bindung an normative Rechtseinrichtungen, die ihrerseits von höchster Konservativität sein können, unterliegt auch das Rechtswort ganz anderen Bedingungen als der übrige Wortschatz. Daß die Verhältnisse im einzelnen jedoch keineswegs einfach zu fassen sind, zeigen die oben genannten Untersuchungen. Im germanischen Rechtswortschatz gibt es ältere und jüngere Schichten, Gemeinsamkeiten verschiedener Dialekte und Rechtskreise, die auf gegenseitiger Beeinflussung oder ursprünglicher Verwandtschaft beruhen, dazu die unzähligen spezifisch einzelsprachigen Termini. Über das Alter einer technischen Rechtsterminologie bei den germanischen Stämmen gehen die Meinungen auseinander. Während Hyldgaard-Jensen 63 ihre Entstehung nicht früher als im frühen und hohen Mittelalter annimmt, scheint Sonderegger ihnen ein höheres Alter zusprechen zu wollen 64 . Letztlich wird man hier verschiedene Rechtsbereiche deutlich voneinander trennen müssen. Während z. B. Ausdrücke aus dem Bereich des Strafrechts z. T. recht altertümlichen Charakter zeigen, wird man bei typisch stadtrechtlichen (vgl. bursprake bei Hyldgaard-Jensen) oder verfassungsrechtlichen Termini eher jüngere Bildung vermuten dürfen. Auskunft hierüber können nur die Rechtswörter selbst geben. In den Redhtsaufzeichnungen der germanischen Stämme, in Urkunden und Stadtrechten sind uns reichliche Materialien hierfür überliefert. Ein Hauptproblem jeder historischen Wortgeographie ist es, neben geographisch breit gestreuten auch zeitlich vergleichbare Belege zu finden. Für das deutsche Mittelalter ist dies — s. hierzu die Karten v. Künßbergs — auf Grund der zwar späten, aber reichen Urkunden- und Rechtsquellenüberlieferung möglich65. Problematischer ist die Quellenlage hingegen in der Gesamtgermania. Die ältesten volkssprachigen Denkmäler, die angelsächsischen, entstammen dem 7. Jh., frühe deutsche Rechtswörter dem 7.—10. Jh., die skandinavischen und altfriesischen Rechtsquellen jedoch beginnen erst im 13. Jh. Gleichzeitig setzt die Überlieferung volkssprachiger Rechtsquellen im kontinentalen Bereich ein, doch haben hier seit der Wende des 13. Jahrhunderts bereits bedeutende Umwälzungen sowohl in der Gliederung der Rechtslandschaften als auch des Rechts selbst 62

63

64 85

24

Mutual relations between Nordic and other Germanic dialects, in: Germanica Wratislaviensia VII (1962), 115-158. In: Nd. Mitt. 22, 115 ff. Die Ansicht, daß die juristische Terminologie (im Bereich des Ahd.) noch nicht scharf von der Umgangssprache getrennt gewesen sei, vertritt W.Merk in: Vom Werden und Wesen des deutschen Rechts, Langensalza 1925, 7 ff. Dazu auch Freudenthal a. a. O. S. 15. In: Festschrift K.S.Bader 1965, 419 ff. Für die Dialektgeographie besteht dies Problem auf Grund der gleichzeitigen Abfragung nicht. Schon der Vergleich des DSA-Materials mit modernen Aufnahmen erfordert jedoch die Berücksichtigung des Zeitfaktors. Mitzka, Wortgeographie

370

Horst Haider

Munske

stattgefunden, die die mittelhochdeutschen und mittelniederdeutschen Quellen nur begrenzt mit den oben genannten vergleichbar erscheinen lassen. Bei der Betrachtung dieser Zeitdifferenz ist jedoch ein weiterer Gesichtspunkt zu berücksichtigen: neben dem .absoluten' das ,relative' Alter der Quellen. D i e späte Aufzeichnung skandinavischer Rechtsdenkmäler darf nicht darüber hinwegtäuschen, d a ß diese „in manchen Teilen relativ älter (sind) als die f r ä n k i schen, w ä h r e n d sie ihnen absolut um J a h r h u n d e r t e nachstehen 6 0 ." Das heißt ihr Zeugniswert f ü r f r ü h g e r m . Zustände ist höher einzuschätzen als der älterer kontinentaler Quellen. Die Problematik, vor der die vergleichende Erforschung der germanischen Rechtswörter steht, ist jener v e r w a n d t , der die Rechtsgeschichte bei der D a r stellung germanischen Rechts k o n f r o n t i e r t ist. Die H o f f n u n g , ein germanisches ,Urrecht' erschließen zu können, welche die Forschung bis zur J a h r h u n d e r t wende hegte, u n d die wenigstens als heuristisches P r i n z i p noch von v. Schwerin aufrechterhalten wurde, ist heute aufgegeben. Das Ziel einer germanischen Rechtswortgeographie k a n n es nur sein, Verwandtschaft und Schichtung, Entwicklung u n d Ausgestaltung dieses, der sozialen u n d kulturellen Eigenart der germanischen S t ä m m e aufs engste verbundenen Wortschatzbereiches aufzuhellen' 7 . Die Rechtswortgeographie w u r d e begründet von einem Rechtshistoriker, der die in der Linguistik so erfolgreiche spracligeographische Arbeitsweise auf sein eigenes Forschungsfeld übertrug. Die Anregung bot zunächst mehr P r o g r a m m als A u s f ü h r u n g u n d hat, soweit die Rechtshistoriker angesprochen wurden, nicht den erhofften Erfolg gehabt. Befruchtend wirkten hingegen v. Künßbergs W o r t k a r t e n auf die Sprachwissenschaft, vor allem methodisch durch die E i n f ü h r u n g von historischen und Bedeutungskarten, die seitdem in der historischen W o r t geographie A n w e n d u n g finden. Das eigentliche Ziel einer umfassenden Rechtssprach- u n d speziell Rechtswortgeographie des deutschen Raumes von der F r ü h zeit bis zur Gegenwart f a n d jedoch weniger Anklang, als dies im Interesse der deutschen Sprach- u n d Rechtsgeschichte wünschenswert gewesen wäre. O f f e n b a r fehlten hier von Seiten beider Disziplinen die Voraussetzungen in F o r m bereits abgesteckter Forschungsgebiete. In dieser Hinsicht bleibt v. Künßbergs (und Merks) P r o g r a m m noch zu erfüllen. Die neueren rechtswortgeographisch orientierten Untersuchungen zeigen, daß jene Anregungen n u r dort weiterverfolgt wurden, w o bereits Ansätze zu ähnlicher Betrachtungsweise v o r h a n d e n waren. Bei der Kompliziertheit der Verhältnisse im Bereich der älteren germanischen Sprachen k a n n dabei die wortgeographische Darstellung u n d Behandlung nur e i n Bezugspunkt sein neben der w o r t f e l d m ä ß i g e n u n d die V e r w e n d u n g der Termini gebührend berücksichtigenden semantischen Analyse. D a ß außerdem die rechtsgeschichtlichen Zusammenhänge nicht außer acht gelassen werden dürfen, ist selbstverständlich, doch m u ß sich der Philologe dieser N o t w e n d i g k e i t stets neu vergewissern. 67

v. Schwerin a. a .O. S. 140; auch Ficker, a. a. O. Bd. I, S. 34 ff. Eine Untersuchung des Verf. zur germanischen Rechtswortgeographie (die Bezeichnungen der Missetaten) ist in Arbeit.

HORST

GRÜNERT

Sprache und Politik: Zur Bezeichnung der Repräsentativkörperschaften Einleitung Gegenstand der folgenden Untersuchung sind die Bezeichnungen f ü r die politische Institution, der in der Legitimationskette 1 von Wählerschaft — Parteien — Parlament — Regierung die gesetzgebende Gewalt zukommt. Die Bezeichnungen f ü r die Legislative also, sofern sie eine Repräsentativkörperschaft ist, sollen untersucht werden. Der Begriff der Repräsentativkörperschaft hat sich im Laufe der Geschichte gewandelt. Es ist daher unmöglich, eine allgemeingültige — wenn nicht bloß formale — Bestimmung dieses Begriffs zu geben. Zudem ist es f ü r unsere Frage zunächst unerheblich, wie eine Repräsentation zustandekommt und wie weit ihre Funktionen reichen. Beispielsweise können die Grenzen zwischen Legislative und Exekutive nicht immer streng gezogen werden. Entscheidend ist, daß sidi in den Repräsentativorganen, die zur Untersuchung stehen, die Begriffe der Legislative und der Repräsentation miteinander verbinden. Der räumliche Rahmen der Untersuchung wird mit den deutschsprachigen Ländern Deutschland, Österreich und der Schweiz gesteckt. Der zeitliche Ansatz ist mit dem Beginn moderner Repräsentation gegeben, f ü r Deutschland mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806, f ü r Österreich mit dem J a h r 1848, f ü r die Schweiz aber kann bis in spätmittelalterliche Zeit zurückgegangen werden. Die Arbeit u m f a ß t zwei Teile. In Teil I wird das Material geboten. Dabei läßt es sich nicht umgehen, einen Abriß der historischen Entwicklung der Repräsentativorgane zu geben. Dieser Abriß hat keinen Selbstzweck, sondern er dient dazu, die Bezeichnungen f ü r Repräsentativorgane in ihren jeweiligen historischen Zusammenhang zu stellen. Der Teil II gibt die Untersuchung. Dabei sollen zwei Fragen gestellt und beantwortet werden: 1. Die Frage nach der Art des Sprachmaterials, d. h. es soll untersucht werden, mit welchen sprachlichen Zeichen bestimmte Dinge, Erscheinungen, Sach1

Vgl. „Parlamentarismus", N e u e Wissenschaftliche Bibliothek Bd. 18, hrsg. von K u r t Kluxen, Köln 1967.

24»>

Horst

372

Grünert

verhalte, Denkakte, hier also Repräsentativkörperschaften, in der Sprache einer Sprachgemeinschaft realisiert werden; 2. die Frage nach der Verwendung des Sprachmaterials, d. h. es soll untersucht werden, warum in einer bestimmten historischen Situation ein bestimmtes sprachliches Zeichen verwendet wird und nicht ein anderes, und wie es sich gegen andere Sprachzeichen abgrenzt. Damit verbindet sich zugleich die Frage nach dem Informationswert des Sprachzeichens. Die Fülle des Materials macht teilweise eine exemplarische Behandlung der Fragen notwendig.

I. 1. Vom alten

Reich zum Deutschen

Material Bund

Als Kaiser Franz II. im Jahre 1806 die Kaiserkrone niederlegte, war nicht nur das Amt des Reichsoberhaupts vakant geworden, sondern verbunden war damit zugleich die Aufhebung sämtlicher Organe des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der Reichsgerichte sowohl wie des Reichstags. Damit schienen Wort und Sache zu einer bloßen historischen Reminiszenz zu werden. Unter Reichstag waren verschiedene politische Einrichtungen zu verstehen, die Reichsversammlungen der fränkischen Zeit sowohl wie die Zusammenkünfte der geladenen weltlichen und geistlichen Fürsten im hohen und späten Mittelalter und schließlich auch die Vertreterorganisation der am Ende des Mittelalters sich bildenden Territorien. Diese letzte Form des Reichstags, wie sie bis 1806 bestand, umfaßte als Corpus 2 das Kurfürstenkolleg, den Reichsfürstenrat und das Reichsstädtekollegium. Die Bezeichnung Reichstag war also ein Oberbegriff f ü r die ihn bildenden Kollegien. Der Sache nach war er eine Repräsentation der verbündeten Reichsstände, nicht als parlamentsähnliche Institution, sondern in Form eines völkerrechtlichen Gesandtenkongresses. Nach den Koalitionskriegen und dem Friedensvertrag von Preßburg (1805) kam es 1806 zur Bildung des Rheinbundes, in dem sich — ohne Preußen und Österreich — die meisten deutschen Fürsten unter dem Protektorat Napoleons zusammenschlössen. Als gemeinsames Organ war in der Rheinbunds-Akte 3 ein Bundestag in F r a n k f u r t (Diète de Francfort) vorgesehen, der sich aus zwei Kollegien (divisée en deux Collèges) zusammensetzen sollte, dem Kollegium der Könige (le Collège des Rois) und dem Kollegium der Fürsten (le Collège des Princes). Geschäftsführendes Organ sollte der Fürst-Primas (le Prince-Primat) sein, der dem früheren Kurerzkanzler des Reiches entsprach. Der Form nach 2

Rösler, H . — G. Franz, S. 1030 ff.

3

Dokumente zur deutschen Verfassungsgesdiichte. Bd. 1—3, hrsg. von Ernst Rudolf Huber.

Sachwörterbuch

zur deutschen Geschichte, München

1958,

Sprache u. Politik: Bezeichnung d. Repräsentativkörperscbaften

373

war dieser rheinbündische Bundestag eine Nachahmung des Regensburger Reichstags und zugleich eine Vorform der späteren Bundesversammlung des Deutschen Bundes. Der Bundestag trat jedoch niemals zusammen. Der Rheinbund war nicht von langer Lebensdauer. Er verschwand in den deutschen Befreiungskriegen 1813/15, und an seine Stelle trat der Deutsche Bund, dessen Verfassung 4 auf dem Wiener Kongreß 1814/15 mit der Bundesakte festgelegt wurde. Als einziges Organ, das die Angelegenheiten des Bundes zu regeln hatte, wurde die ständige Bundesversammlung mit dem Sitz in F r a n k f u r t errichtet, die ebenfalls keine Nationalrepräsentation war, sondern ein Gesandtenkongreß, der von den einzelnen Bundesgliedern beschickt wurde. Die Bundesversammlung bestand aus der Engeren Versammlung oder dem Engeren Rat und dem Plenum, die beide f ü r bestimmte Bundesangelegenheiten zuständig waren und sich nur in der Verteilung der Stimmen unterschieden. Tatsächlich war das Plenum im wesentlichen Abstimmungsorgan, während die Deliberation in der Engeren Versammlung stattfand. Den Vorsitz führte Österreich. Die offizielle Bezeichnung des Bundesorgans war Bundesversammlung. Daneben wurde jedoch auch, so schon in der Wiener Schlußakte 5 von 1820, in einem amtlichen Dokument also, die Bezeichnung Bundestag gebraucht. Die Verhandlungen des Wiener Kongresses waren von einer Anzahl verfassungspolitischer Projekte vorbereitet bzw. begleitet worden. Sie gelangten jedoch alle nicht über das Stadium der Planung hinaus. Eine besondere Rolle spielten dabei die Verfassungsvorschläge des Reichsfreiherrn vom und zum Stein. Stein 6 forderte die Bildung einer selbständigen Reichslegislative, die als Reichsorgan gleichgeordnet neben die Reichsexekutive treten sollte. Er dachte dabei an eine ständige Nationalrepräsentation, die den alten N a m e n Reichstag tragen sollte. Die Mitglieder dieses Reichstags sollten zwar von den Reichsständen gewählt werden, aber keine Gesandten, sondern Repräsentanten sein. In Anpassung an gewisse föderative Pläne seiner Gegner ging Stein jedoch von der Bildung eines Reichstages ab und schlug statt dessen eine Bundesversammlung vor, deren Mitglieder teils von den Landesregierungen, teils von den Landtagen bestellt werden sollten. Für die Einzelstaaten wünschte Stein eine ständige Landesrepräsentation. Wilhelm von H u m b o l d t lehnte als Anhänger der Idee des Staatenbundes eine Nationalrepräsentation ab, sprach sich jedoch f ü r ständische Landtage aus 7 . Karl August von Hardenberg verband in seinem ,Entwurf der Grundlage der deutschen Bundesverfassung' von 1814 Elemente des Bundesstaats und des Staatenbunds 8 . Oberstes Bundesorgan sollte die Bundesversammlung in F r a n k f u r t sein. Sie sollte sich zusammensetzen aus dem Bundesdirek4

Dokumente 1 S. 75 ff.

5

Dokumente 1 S. 81 ff.

6

Ernst Rudolf H u b e r , Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 1—3, Stuttgart

7 8

1957 ff.; Beleg Bd. 1, S. 515 f. H u b e r 1 S. 519 ff. H u b e r 1 S. 526 ff.

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torium, gebildet vom österreichischen Kaiser und dem preußischen König, dem Rat der Kreisobersten, gebildet von den Landesherren als Vorstehern der Kreise, in die das engere Bundesgebiet eingeteilt werden sollte, und dem Rat der Fürsten und Stände, einem Gesandtenkongreß nach Art des alten Reichstags, gebildet von den Vertretern aller bundesangehörigen Einzelstaaten und der mediatisierten Reichsstände. Alle drei Gremien sollten zusammen die legislative Funktion ausüben, während die beiden ersten zugleich die Exekutive bilden sollten. Für die Einzelstaaten sah der Hardenbergsche Entwurf Landstände vor, die in zwei Kammern geteilt sein sollten. In der ersten Kammer sollte der Adel vertreten sein, in der zweiten Kammer die erwählten Stände. Damit war ein Repräsentativsystem nach englischem Muster entworfen. 2. Die deutschen

Einzelstaaten

In Artikel 13 der Deutschen Bundesakte von 1815 war festgelegt worden: „In allen Bundesstaaten wird eine Landständische Verfassung stattfinden" 9 . Nachdem einige kleinere Staaten wie Nassau, Schwarzburg-Rudolstadt, SachsenWeimar und andere schon 1814/16 Verfassungen erhalten hatten, folgten als erste große die drei süddeutschen Staaten. Bayern und Baden erhielten 1818, Württemberg 1819 und Hessen-Darmstadt schließlich 1820 Verfassungen, teils mit, teils ohne Mitwirkung von Ständen. Alle diese Verfassungen sollten eine Repräsentation gewährleisten. Die Repräsentativkörperschaften in den drei süddeutschen Staaten waren dem englischen Modell nachgebildet und jeweils als Zweikammersystem eingerichtet, wobei allerdings keine der Kammern die ausschließliche Vertretung eines Standes war. Die Ständeversammlung des Königreichs Bayern 10 , auch Allgemeine lung der Stände des Reiches bzw. Versammlung der Reichsstände und Landtag genannt, bestand aus zwei Kammern, der Kammer der und der Kammer der Abgeordneten. Beide Kammern wurden auch Erste und Zweite Kammer bezeichnet.

Versammseit 1848 Reichsräte kurz als

Die Verfassungsurkunde f ü r das Großherzogtum Baden 1 1 handelt im 3. Abschnitt von der Ständeversammlung und den Rechten und Pflichten der Ständeglieder, d. h. den Mitgliedern der Ständeversammlung. Die Landstände, kurz auch Stände genannt, sind danach in die Erste und Zweite Kammer geteilt. Die Mitglieder der 2. Kammer werden Abgeordnete genannt. Die jeweilige Zusammenkunft der Kammern über einen bestimmten Zeitraum hinweg wird als Landtag bezeichnet. Der Artikel I X der Verfassungsurkunde f ü r das Königreich Württemberg 1 behandelt die Landstände oder Stände. Die Stände sind in zwei Kammern 9 10

Dokumente 1 S. 78 Dokumente 1 S. 141 ff.

11

Dokumente 1 S. 157 ff.

18

Dokumente 1 S. 171 ff.

Sprache u. Politik:

Bezeichnung

d.

Repräsentativkörperschaften

375

geteilt, in die Erste Kammer oder Kammer der Standesherren, in die Zweite Kammer oder Kammer der Abgeordneten. Die Versammlung der Stände wird Landtag genannt. Im Zusammenhang mit der Revolution von 1830 erhielten einige weitere Staaten landständische Verfassungen. Das Herzogtum Braunschweig13 hatte bereits 1820 eine die alte Verfassung fortbildende Erneuerte Landschaftsordnung erhalten, die 1832 von der Neuen Landschaftsordnung abgelöst wurde. Nach dieser Verfassung besaß Braunschweig nur eine Kammer, die nach altem Brauch die Landschaft hieß. Diese Ständeversammlung repräsentierte die Gesamtheit der Landeseinwohner gegenüber der Landesregierung. Im Kurfürstentum Hessen14 kam es auf Grund einer Vereinbarung zwischen den Landständen und dem Landesherrn zur Verfassung von 1831. Die Landstände oder Ständeversammlung bestand ebenfalls nur aus einer Kammer, deren gewählte Mitglieder als Abgeordnete oder als landständische Deputierte bezeichnet wurden. Auch hier wurden die zeitlich begrenzten Versammlungen Landtage genannt. Im Königreich Sachsen15 bestand bis 1830 eine altständische Verfassung, wonach sich der Landtag aus zwei ständischen Kurien zusammensetzte. 1831 wurde eine neue Verfassung gewährt 1 '. Im siebenten Abschnitt wird über die Stände gehandelt, die in eine Erste und Zweite Kammer geteilt sind. Landtag ist auch hier die Bezeichnung für die tagende Versammlung. Bis zum Jahre 1848 blieben von den großen Staaten lediglich Preußen und Österreich ohne landständische Verfassung und damit ohne eine Gesamtrepräsentation, doch gab es in Österreich ständische Verfassungen für die einzelnen Kronländer, und in Preußen bestanden provinzialständische Vertretungen. Preußens Niederlage von 1806/07 führte zu einer Reformierung des preußischen Staates. Dabei zielten alle Reformen in staatlichen Teilbereichen auf eine Verfassungsreform, deren Kernstück eine gewählte preußische Nationalrepräsentation, Reichsstände genannt, sein sollte17. Schon Kant äußerte sich über ein repräsentatives System des Volkes, „um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen"18. Freiherr vom und zum Stein sprach sich 1807 für eine über die bloßen Provinzialstände hinausgehende preußische Nationalrepräsentation aus19. Ebenso schlug der preußische Staatsminister Karl Freiherr vom Stein zum Alten13

Huber 2 S. 47 ff.

14

Dokumente 1 S. 201 ff.

15

Huber 2 S. 76 ff.

18

Dokumente 1 S. 223 ff.

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Huber 1 S. 290.

18

Immanuel Kant. Werke. Hrsg. von Ernst Cassierer. Berlin 1922, Bd. VII, Metaphysik der Sitten S. 149.

19

H u b e r l S. 291.

376

Horst Grünert

stein in seiner Rigaer Denkschrift vom Jahre 1807 eine Preußische Nationalrepräsentation vor 20 . Besonders intensiv beschäftigte sich der spätere Staatsrat Karl Niklas von Rehdiger seit 1808 mit der Frage der Repräsentation. An die Stelle der Vielheit der Provinzialstände wollte Rehdiger eine einheitliche Nationalrepräsentation für ganz Preußen setzen. In seinem zweiten Entwurf 21 sah Rehdiger eine Gsamtvertretung vor, die er Gesetzgebender Senat nannte, der aus drei Kollegien bestehen sollte: dem Kollegium der Würden und Stände (hoher Adel und hoher Klerus), dem Nationalkollegium (ständische Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft) und dem Staatskollegium (48 vom König ernannte Mitglieder). Karl August von Hardenberg stand ebenfalls dem Gedanken einer preußischen Nationalrepräsentation nahe. Nach seinem Regierungsantritt gelang es ihm, den König zu bewegen, in das Finanzedikt vom 27. Oktober 1810 ein Verfassungsversprechen einzusetzen. Der König sagte zu, „der Nation eine zweckmäßig eingerichtete Repräsentation, sowohl in den Provinzen als für das Ganze zu geben, deren Rat wir gern benutzen . . . werden" 22 . Zur Vorbereitung einer Repräsentativverfassung berief Hardenberg im Jahre 1811 eine NotabelnVersammlung mit der offiziellen Bezeichnung Landesdeputierten-Versammlung23. Diese Versammlung, deren Mitglieder von der Krone ernannt wurden, bildete ein Konsultativorgan zur Beratung der schwebenden Finanzgesetze. Ein greifbarer Erfolg blieb dieser Versammlung jedoch versagt. Dennoch gab Hardenberg seine Pläne nicht auf, und 1812 konnte sich eine Generalkommission zur Regelung der Provinzial- und Kommunalkriegsschulden24 als eine Art interimistischer Nationalrepräsentation konstituieren. Die Wirkungsmöglichkeiten dieser Versammlung, die als die erste gewählte preußische Volksvertretung gelten kann, blieb jedoch sowohl in der ersten Sitzungsperiode (1812/13) wie in der zweiten (1814/15) begrenzt. Im Hinblick auf die zu erwartende landständische Verfassung wurde diese vorläufige Volksvertretung aufgelöst. Mit der „Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volkes"2S vom 22. Mai 1815 hatte Hardenberg vom preußischen König eine rechtsverbindliche Zusage zur Bildung einer solchen Repräsentation erreicht. In dieser Verordnung heißt es, es solle eine Repräsentation des Volkes gebildet werden, und zwar sollte aus den Provinzialständen die Versammlung der Landesrepräsentanten gewählt werden. Das Verfassungsversprechen wurde jedoch nicht gehalten. Auch der Plan für einen über Kreistage und Provinziallandtage gebildeten Allgemeinen Landtag, den Hardenberg in seinen ,Ideen zu einer landständischen Verfassung Preußens' 2 ' vom Jahre 1819 verfolgte, blieb unausgeführt. Schließlich wurde noch einmal im Staatsschuldengesetz von 1820 festgelegt, daß neue Staatsschulden „nur mit 2

» Huber 1 S. 292.

21

Huber 1 S. 293.

22

Dokumente 1 S. 42 f.

23

Huber 1 S. 299.

24

Huber 1 S. 300 ff.

25

Dokumente 1 S. 56 f.

26

Huber 1 S. 307 f.

Sprache u. Politik:

Bezeichnung

d. Repräsentativkörperschaften

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Zuziehung und unter Mitgarantie der zukünftigen reichsständischen Versammlung"27 aufgenommen werden könnten. Aber die Reaktionspartei hatte sich formiert und vermochte alle derartigen Pläne zu vereiteln. In der Kabinettsordre vom 11. Juni 1821 legte der König fest, daß lediglich Provinzialstände, aber keine Allgemeinen Landstände zu berufen seien28. 1823 erging das Gesetz wegen Anordnung der Provinzialstände für jede der acht Provinzen, und in den Jahren 1824—27 wurden nacheinander die acht Provinziallandtage nach dem Einkammersystem gewählt und einberufen. Nach seinem Regierungsantritt im Jahre 1840 wurde Friedrich Wilhelm IV. an die Verfassungsversprechen seines Vorgängers erinnert. So kam es zunächst 1842 zur Bildung Vereinigter Ausschüsse, in die die Provinzialstände Vertreter aus ihrer Mitte wählten, und schließlich 1847 zur Berufung des Vereinigten Landtags nach Berlin29. Dieser Vereinigte Landtag bestand aus einer Herrenkurie (Prinzen, Fürsten, Standesherren) und aus einer Dreiständekurie (Ritter, Bürger, Bauern), die getrennt, bei Finanzfragen aber gemeinsam tagen sollten. Noch im selben Jahr wurde der Landtag wieder geschlossen. Im Zusammenhang mit den Märzunruhen von 1848 berief der König mit Patent vom 14. März Unsere getreuen Stände, wie es heißt, zu einem zweiten Vereinigten Landtag30. Zugleich forderte er eine Revision der Bundesverfassung und im Zusammenhang damit die Bildung einer Bundesrepräsentation aus den Ständen aller deutscher Länder (Patent vom 18. März 1848)31, eine deutsche Ständeversammlung (Proklamation vom 21. März 1848)32. Der Vereinigte Landtag trat am 2. April zusammen und beschloß ein Wahlgesetz für eine Konstituierende preußische Nationalversammlung, auch kurz Nationalversammlung bzw. Versammlung genannt, die am 22. Mai 1848 eröffnet wurde. In den Stenographischen Berichten wird diese Versammlung jedoch allgemein als die zur Vereinbarung der preußischen Staatsverfassung berufene Versammlung bezeichnet. Im Laufe der Beratungen über eine zukünftige Verfassung kam es zwischen der Nationalversammlung und der preußischen Regierung zu Spannungen, was den König veranlaßte, im November den Sitz der zur Vereinbarung der Verfassung berufenen Versammlung von Berlin nach Brandenburg zu verlegen 33 . Der Widerstand der Nationalversammlung führte schließlich am 5. Dezember 1848 zu ihrer Auflösung. Gleichzeitig setzte der König die ,Verfassungsurkunde für den preußischen Staat' 34 , die sogenannte oktroyierte Verfassung, einseitig in Kraft, für die allerdings eine alsbaldige Revision im Wege der Vereinbarung mit den zu 27

Dokumente 1 S. 67.

28

Huber 1 S. 313.

29

Huber 2 S. 488 ff.

30

Dokumente 1 S. 362.

31

Dokumente 1 S. 363.

32

Dokumente 1 S. 366.

33

Dokumente 1 S. 378.

54

Dokumente 1 S. 385 ff.

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berufenden Kammern vorgesehen war. Im Abschnitt V dieser Verfassung, der Von den Kammern handelt, waren vorgesehen eine Erste Kammer, gewählt durch die Provinzial-, Bezirks- und Kreisvertreter, eine reine Wahlkammer also, und eine Zweite Kammer, gewählt als Gesamtvertretung Preußens. Beide Kammern sollten zusammen mit dem König die gesetzgebende Gewalt ausüben. Am 26. Februar 1849 traten die beiden preußischen Kammern zusammen. Erneute Spannungen zwischen der Mehrheit der Zweiten Kammer und der Regierung führten bereits am 27. April wieder zur Auflösung der Zweiten und zur Vertagung der Ersten Kammer. Am 30. Mai 1849 wurde für die Zweite Kammer das Dreiklassenwahlrecht eingeführt. Die nach dem neuen Wahlgesetz gewählte Zweite Kammer und die Erste Kammer traten am 7. August 1849 zusammen und begannen die Revision der Verfassung, die am 2. Februar 1850 in Kraft trat und bis zum 9. November 1918 gültig war. In dieser neuen Verfassung35 ist zunächst auch von der Ersten und Zweiten Kammer die Rede. Die Erste Kammer wurde jedoch als partielle Wahlkammer gebildet, d. h. ein Teil der Mitglieder wurde gewählt, ein Teil ernannt, für einen dritten Teil war die Mitgliedschaft erblich. 1854 wurde durch eine Verordnung festgelegt, daß die Erste Kammer nur noch von Mitgliedern gebildet werden sollte, die Erbrechte besaßen bzw. auf Lebenszeit ernannt wurden. Mit dem Gesetz vom 30. Mai 1855 erhielt die Erste Kammer die Bezeichnung Herrenhaus, die Zweite Kammer Abgeordnetenhaus bzw. Haus der Abgeordneten. Am 15. November 1918 wurde von der neuen preußischen Regierung das Haus der Abgeordneten aufgelöst, das Herrenhaus beseitigt.

3. Die

Paulskirche

Die bürgerliche Revolution von 1848 und die Forderung nach einer Nationalrepräsentation kündigten sich bereits in den letzten Jahren des Vormärz an. Außerständische Versammlungen waren hier von großem Einfluß. Im Offenburger Programm der südwestdeutschen Demokraten vom 10. September 1847 heißt es unter Artikel 6: „Wir verlangen Vertretung des Volkes beim Deutschen Bund. Dem Deutschen werde ein Vaterland und eine Stimme in dessen Angelegenheiten" 36 . Die südwestdeutschen Liberaten forderten in ihrem Heppenheimer Programm vom 10. Oktober 1847 eine Vertretung der Nation, eine Nationalvertretung37. Liberale wie Demokraten fanden sich also in der Forderung nach Bildung einer Nationalrepräsentation zusammen. Der letzte Anstoß ging dann von den Ständekammern der Einzelstaaten aus. Der Abgeordnete Friedrich Bassermann stellte am 12. Februar 1848 in der 2. Badischen Kammer den Antrag, „daß zur Vertretung der deutschen Nation Ständekammern am Bundestag als ein sicheres Mittel zur Erzielung gemeinsamer Gesetzgebung und 35

Dokumente 1 S. 401 ff.

36

Dokumente 1 S. 261.

37

Dokumente 1 S. 262 f.

Sprache u. Politik:

Bezeichnung

d. Repräsentativkörperschajtcn

379

einheitlicher Nationaleinrichtungen geschaffen werden" 5 8 , und der Abgeordnete Heinrich von Gagern stellte am 28. Februar 1848 in der 2. Hessischen Kammer die Forderung nach Berufung einer Nationalrepräsentation. Daraufhin traten am 5. März 1848 in Heidelberg 51 Politiker aus verschiedenen deutschen Einzelstaaten zusammen, rückschauend als Heidelberger Versammlung39 bezeichnet, um die Wahl einer Nationalvertretung zu besprechen. Zur Vorbereitung einer solchen Wahl sollte eine Versammlung von Vertrauensmännern aller deutschen Volksstämme zusammentreten. Ein von der Heidelberger Versammlung eingesetzter Siebener-Ausschuß hatte die Aufgabe, vorläufig die ,Grundlagen einer nationalen deutschen Parlamentsverfassung' zu beraten. Die Ergebnisse dieser Beratung sollten einer größeren Versammlung der Männer des Vertrauens unseres Volkes zur weiteren Beratung vorgelegt werden 4 0 . Am 12. März 1848 erging ein Einladungsschreiben an alle früheren und gegenwärtigen Ständemitglieder f ü r eine solche Versammlung, die am 31. März 1848 in F r a n k f u r t zusammentrat. Die offizielle Bezeichnung dieser Versammlung war Deutsches Parlamentin der Paulskirche wurde später allgemein vom Vorparlament oder auch von der Vorversammlung gesprochen. In der ersten Sitzung wurde der Versammlung das Programm des Siebener-Ausschusses vorgelegt, das u. a. die Forderung nach Bildung eines Senats der Einzelstaaten und eines Hauses des Volkes enthielt 42 . Gustav von Struve stellte im N a m e n der Radikalen einen Antrag an das deutsche Parlament, wonach der Versammlung deutscher Männer eine Reihe von Aufgaben aufgetragen werden sollte. Im letzten der 15 Punkte heißt es: „Aufhebung der erblichen Monarchie (Einherrschaft) und Ersetzung derselben durch frei gewählte Parlamente, an deren Spitze frei gewählte Präsidenten stehen, alle vereint in der föderativen Bundesverfassung nach dem Muster der amerikanischen Freistaaten" 4 5 . Dieser Antrag f a n d jedoch keine Mehrheit. Hauptergebnis des Vorparlaments war die Einigung über die Wahl einer Konstituierenden deutschen Nationalversammlung. Als konkurrierende Bezeichnungen wurden vom Vorparlament f ü r diese Versammlung ferner gebraucht: konstituierende Versammlung, konstituierendes Parlament, deutsche Volksversammlung, deutsches Parlament, Nationalversammlung oder auch kurz Versammlung. In zwei Bundesbeschlüssen 44 ordnete die Bundesversammlung die Wahl von Nationalvertretern, von Volksvertretern, von Vertretern des Volkes f ü r eine Konstituierende deutsche Nationalversammlung an. Das österreichische Staatsministerium hatte zwar in seiner Erklärung vom 21. April 1848 gegen die Wahlen zum deutschen Volksparlamente nichts einzuwenden, lehnte jedoch die Einigung 38

H u b e r 2 S. 590.

39

Dokumente 1 S. 264 f.

40

Dokumente 1 S. 265.

41

Verhandlungen des Deutschen Parlaments. Officielle Ausgabe. (Hrsg. von Friedrich S. Jucho.) F r a n k f u r t / M . 1848.

42

Verhandlungen S. 1.

43

Verhandlungen S. 7.

44

Dokumente 1 S. 274.

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Deutschlands in Form eines Bundesstaates ab 45 . Für die Zeit bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung führte ein Fünfziger-Ausschuß interimistisch die Geschäfte des Vorparlaments weiter. Am 18. Mai 1848 trat die Deutsche konstituierende Nationalversammlung — so ihre Bezeichnung in den Stenographischen Berichten — in Frankfurt am Main zu ihrer ersten Sitzung zusammen. In den amtlichen Dokumenten wurde gewöhnlich die Bezeichnung (Verfassunggebende) Reichsversammlung verwendet. Daneben wurde in der Versammlung selbst eine ganze Reihe weiterer Bezeichnungen gebraucht: vor allem Reichstag, dann Nationalrepräsentation, Nationalparlament, Volksrepräsentation und auch Verfassunggebende Nationalversammlung. Wichtigste Aufgabe der Nationalversammlung war die Schaffung einer Reichsverfassung. Schon der auf Grund des Bundesbeschlusses vom 10. März 1848 aus Männern des allgemeinen Vertrauens — Sprachgebrauch des Bundestags — gebildete Siebzehner-Ausschuß, auch Versammlung der Siebzehner genannt 46 , hatte einen,Entwurf des Deutschen Reichsgrundgesetzes'47 ausgearbeitet. Der Reichstag dieses Entwurfs war nach dem Zweikammersystem gegliedert in ein Oberhaus (bestehend aus regierenden Fürsten, Abgeordneten der vier freien Städte und Reichsräten aus dem Kreise der um das Vaterland Verdienten, gewählt von den einzelnen Staaten) und in ein Unterhaus (bestehend aus den Abgeordneten des Volkes). Beide Bezeichnungen tauchen auch bei den Verhandlungen über die Reichsverfassung wieder auf, bei denen es vor allem um die Frage ging, ob ein Einkammer- oder Zweikammersystem geschaffen werden sollte. Staatenhaus und Volkshaus waren die im Entwurf des Verfassungsausschusses und auch in den Verhandlungen gewöhnlich gebrauchten Bezeichnungen. Von Seiten der Linken wurden daneben für das Volkshaus Bezeichnungen wie Haus der Volksvertreter oder Volkskammer gebraucht48. In der von der Nationalversammlung am 27. März 1849 angenommenen und am Tag darauf verkündeten Verfassung des Deutschen Reiches49 war festgelegt, daß der Reichstag aus zwei Häusern bestehen sollte, dem Staatenhaus, gebildet aus Vertretern der deutschen Staaten, und dem Volkshaus, gebildet aus den Abgeordneten des deutschen Volkes. Die Reichsverfassung hat jedoch keine praktische Gültigkeit erlangt. Nach den Ereignissen des April und Mai 1849 war die Nationalversammlung durch den Austritt der Mehrheit zum Rumpfparlament geworden. Die Versammlung ging nach Stuttgart. Ein preußisches Ultimatum vom 14. Juni 1849 an das Württembergische Außenministerium bezeichnete die in Stuttgart tagende Versammlung als eine rechtlose Versammlung von fanatischen Demo45

Dokumente 1 S. 275.

46

Dokumente 1 S. 267.

47

Dokumente 1 S. 284 ff.

48

Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt a. M., hrsg. von Franz Wigard. Bd. 5/6. Sitzung 128 ff. 4. Dezember 1848 ff.

49

Dokumente 1 S. 304 ff.

Sprache

u. Politik:

Bezeichnung

d. Repräsentativkörperschaften

381

kraten, als eine aufrührerische Versammlung50. Seit dem 18. Juni 1849 wurde die Versammlung an weiteren Sitzungen gehindert. 4. Vom Deutschen

Bund

zum Deutschen

Reich

Nachdem die Nationalversammlung und ihre Reichsverfassung gescheitert waren, richtete das preußische Staatsministerium an die übrigen deutschen Regierungen die Aufforderung, zu Ministerialkonferenzen über die deutsche Verfassung zusammenzutreten. Ziel war eine Deutsche Union als völkerrechtlicher Bund zwischen der österreichischen Monarchie und den übrigen deutschen Staaten. Die der Union beigetretenen Staaten einigten sich auf den Entwurf einer Unionsverfassung, die der Frankfurter Reichsverfassung nachgebildet war 51 . Das am 31. Januar 1850 gewählte, aus Staatenhaus und Volkshaus bestehende Unionsparlament, das ebenfalls als Reichstag bezeichnet wurde, nahm im April 1850 die UnionsVerfassung an. Diese Verfassung trat jedoch nicht in Kraft, da Österreich Protest eingelegt hatte. Nach einem weiteren Versuch einer Revision der Bundesverfassung, der ebenfalls scheiterte, wurde schließlich auf Drängen Österreichs im Herbst 1850 der Deutsche Bund in der alten Form mit der Bundesversammlung oder dem Bundestag wiederhergestellt, dem 1851 auch die Unionsstaaten wieder beitraten. Von Seiten der Öffentlichkeit erhielt die Verfassungsfrage erst wieder Impulse mit dem von Liberalen und Demokraten 1859 gegründeten „Deutschen Nationalverein" sowie mit dem 1862 gegründeten „Deutschen Reformverein", der im Gegensatz zur kleindeutschen Einigungspolitik des Nationalvereins eine großdeutsche Lösung der deutschen Frage erstrebte, allerdings durch eine bloße Reform des Deutschen Bundes. In seiner Eisenacher Erklärung von 1859 stellte der Nationalverein u. a. die Forderung nach Einberufung einer Deutschen Nationalversammlung52. 1860 erklärte es der Nationalverein für seine Aufgabe, „auf die Schaffung einer einheitlichen Centralgewalt und eines deutschen Parlaments mit allen gesetzlichen Mitteln hinzuwirken" 53 . Auch der Reformverein forderte die Schaffung einer nationalen Vertretung54, doch im Gegensatz zu den Vorstellungen des Nationalvereins machte er sich als ersten Schritt dazu den Antrag auf Einberufung einer Delegiertenversammlung55 zu eigen, den acht Staaten 1862 an den Bundestag gestellt hatten. In diesem von Österreich, Bayern, Sachsen, Hannover, Württemberg, Kurhessen, Hessen-Darmstadt und Nassau gestellten Antrag heißt es: „Einberufung einer aus den einzelnen deutschen Ständekammern durch Delegation hervorgehenden Versammlung, zunächst zur 50

Dokumente 1 S. 358.

51

Dokumente 1 S. 435 ff.

52

Dokumente 2 S. 91.

53

Dokumente 2 S. 94.

54

Dokumente 2 S. 95.

55

Dokumente 2 S. 95.

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Beratung der Gesetzentwürfe über Zivilprozeß und Obligationsrecht" 58 . Der Reformverein forderte ergänzend zu diesem Antrag, daß die Regierungen „jene Versammlung zu einer periodisch wiederkehrenden Vertretung am Bunde mit erweiterter Competenz (zu) gestalten" sollten 57 . Wie der Nationalverein lehnte auch der deutsche Abgeordnetentag in Weimar, eine aus Abgeordneten aller deutschen Landtage gebildeten Versammlung, eine bloße Delegiertenversammlung ab. Er bekannte sich in seiner Resolution von 1862 zur „bundesstaatlidien Einheit Deutschlands" und forderte die Einberufung eines aus freien Volkswahlen hervorgegangenen deutschen Parlaments5S. Schließlich stellte der Nationalverein 1862 die Forderung nach „Ausführung der Reichsverfassung vom 28. März 1849 samt Grundrechten und Wahlgesetz, wie sie von den legal erwählten Vertretern des Volkes beschlossen sind" 5 9 . Die außenpolitischen Ereignisse der 50er und 60er Jahre zwangen die Einzelstaaten zu einer festeren Verbindung untereinander und damit zur Reform des Bundes und der Bundesverfassung. Dabei kam es zu verschiedenen Mächtekonstellationen, die von der Rivalität zwischen Österreich und Preußen bestimmt waren. So lehnten Österreich und Bayern 1862 in einem Geheimen Protokoll 6 0 die Gründung eines parlamentarischen deutschen Bundesstaates unter einheitlicher Leitung durch ein Bundesglied ab. Österreich wollte sich lediglich bereit finden zur Bildung einer aus Delegierten der Landesvertretungen in den einzelnen Bundesstaaten gebildeten Versammlung, die in Angelegenheiten gemeinsamer deutscher Gesetzgebung mitwirken könne. Im Gegensatz dazu stellte ein Beschluß der 18. Kommission des preußischen Abgeordnetenhauses die Forderung nach einem engeren Bund zwischen Preußen und den übrigen deutschen Staaten ohne Österreich, „in welchem die Krone Preußen die einheitliche Bundesregierung führt, und durch eine gemeinsame parlamentarische Vertretung f ü r Freiheit und Recht des deutschen Volkes die unerläßlichen Garantien geboten werden" 6 1 . Österreich sollte mit diesem deutschen Bundesstaat in einem weiteren Bund in einem Bundesverhältnis stehen. Die vorzeitige Auflösung des Abgeordnetenhauses verhinderte jedoch die formelle Annahme dieser Entschließung. Für den Spätsommer 1863 hatte Kaiser Franz Joseph die deutschen Fürsten zu Beratungen über die deutsche Verfassungsfrage nach F r a n k f u r t eingeladen. In der österreichischen Verfassungsdenkschrift 62 vom 31. Juli 1863, die diesem Frankfurter Fürstentag vorgelegt wurde, wurde dem Föderativprinzip entsprechend erneut der Vorschlag gemacht, eine Versammlung von Abgeordneten der Vertretungskörper der Einzelstaaten, eine Delegiertenversammlung einzuDokumente 2 S. 95, Anmerkung. 57 58

Dokumente 2 S. 95. Dokumente 2 S. 115. Dokumente 2 S. 116.

60

Dokumente 2 S. 108 f.

61

Dokumente 2 S. 113.

02

Dokumente 2 S. 117 ff.

Sprache u. Politik: Bezeichnung d. Repräsentativkörperschaften

383

richten, dagegen wurde wiederum ein aus direkten Volkswahlen hervorgehendes Parlament als für den Staatenverein nicht passend abgelehnt. Der preußische König hatte der Einladung zum Frankfurter Fürstentag nicht Folge geleistet. Ergebnis des Frankfurter Fürstentages war die von der Mehrzahl der deutschen Fürsten angenommene ,Reformakte des Deutschen Bundes'63, eine Verfassung, die die Deutsche Bundesakte von 1815 und die Wiener Schlußakte von 1820 teilweise ändern und ergänzen sollte. Als Bundesorgane waren vorgesehen: ein Direktorium von sechs Stimmen, hervorgegangen aus den souveränen Fürsten und freien Städten, ein Bundesrat, bestehend aus den Bevollmächtigten der 17 Stimmen des Engeren Rates der Bundesversammlung, wobei sidi durch je drei Stimmen Österreichs und Preußens die Zahl der Stimmen auf 21 erhöhen sollte, eine Versammlung der Bundesabgeordneten, kurz Abgeordnetnversammlung genannt, bestehend aus 302 Mitgliedern, die aus den Vertretungskörpern der einzelnen deutschen Staaten delegiert werden sollten, mit dem Recht beschließender Mitwirkung zur Ausübung der gesetzgebenden Gewalt des Deutschen Bundes, eine Fürstenversammlung und ein Bundesgerichtshof. Preußen machte seine Zustimmung zur Reformakte von drei Präjudizialforderungen abhängig, deren eine die Ersetzung der vorgeschlagenen Versammlung von Bundesabgeordneten durch eine aus direkter Beteiligung der ganzen Nation hervorgehende Nationalvertretung war 64 . Österreich lehnte die preußischen Forderungen ab. Damit war auch die Frankfurter Reformakte gescheitert. Im April 1866 ließ Bismarck im Bundestag den Antrag einbringen, „eine aus direkten Wahlen und allgemeinem Stimmrecht hervorgehende Versammlung" einzuberufen85. Das war der offene Angriff gegen die österreichischen Vorstellungen von der Reform des Deutschen Bundes. Nach preußischer Auffassung war eine Reform des Bundes nur möglich durch Vereinbarungen zwischen den Regierungen und einer aus allen Teilen Deutschlands gewählten Versammlung, einer allgemeinen deutschen Versammlung von gewählten Vertretern, einem Parlament. Dabei betont der Antrag ausdrücklich den Grundsatz der direkten Volkswahl im Gegensatz zur Delegation durch Einzelkammern. Im Entwurf einer neuen Bundesverfassung, den Preußen im Juni 1866 den deutschen Regierungen übermittelte, wird die Forderung nach Bildung einer Nationalvertretung, einer Volksvertretung, eines Parlaments wiederholt 6 '. Schließlich trat Preußen am 14. Juni 1866 vom Bundesvertrag zurück. Nach dem schnellen militärischen Sieg Preußens über Österreich wurde im Friedensschluß von Nikolsburg am 26. Juli 1866 die Auflösung des Deutschen Bundes bestätigt. Im August kam es dann zu dem von Preußen angeregten Bündnisvertrag zwischen 22 norddeutschen Staaten, der zugleich den Beschluß enthielt, Wahlen der Abgeordneten zum Parlament vorzunehmen67. Das Wahlgesetz für den Konstituierenden 63 64 65 86 67

Dokumente Dokumente Dokumente Dokumente Dokumente

2 2 2 2 2

S. S. S. S. S.

124 ff. 137. 192. 201. 225.

384

Horst

Grünert

Reichstag des Norddeutschen Bundes erging im Oktober, auf Grund des Reichswahlgesetzes vom 12. April 1849 68 . Nachdem der im Februar 1867 gewählte Reichstag den von Bismarck eingebrachten Verfassungsentwurf der Regierungen angenommen hatte, trat die Bundesverfassung am 1. Juli 1867 in Kraft 69 . Diese Verfassung sah als Repräsentativorgane vor den Bundesrat, bestehend aus den Vertretern der Mitglieder des Bundes, das Bundespräsidium, repräsentiert durch die Krone Preußen, und den Reichstag des Norddeutschen Bundes, auch norddeutscher Reichstag bzw. Reichstag genannt, hervorgehend aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung. Die Bundesgesetzgebung sollte durch den Bundesrat und den Reichstag ausgeübt werden, basierend auf der Ubereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen. Mit dem Beitritt der vier süddeutschen Staaten Baden, Bayern, Hessen und Württemberg zum Norddeutschen Bund wurde mit dem 1. Januar 1871 das Deutsche Reich gegründet. In der neuen Verfassung70 blieben Bundesrat und Reichstag als Bezeichnungen unverändert, das Präsidium wurde vom König von Preußen unter dem Titel Deutscher Kaiser wahrgenommen. 5. Die Weimarer

Republik

Nachdem am 9. November 1918 Reichskanzler Prinz Max von Baden die Abdankung Kaiser Wilhelms II. bekanntgemacht und der Mehrheitssozialist Scheidemann die Republik ausgerufen hatte, hatte mit der Monarchie zugleich die Bismarcksche Reichsverfassung ihr Ende gefunden. Aus den Wirren der Revolution ergab sich die Frage, ob der deutsche Staat in Zukunft nach dem Rätesystem oder als parlamentarische Demokratie gestaltet sein sollte. Zunächst ergriffen die überall gebildeten Arbeiter- und Soldatenräte die tatsächliche Macht71. Sie waren als Aktionsausschüsse die lokalen Träger der Revolution. Die beiden sozialistischen Parteien, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, gewöhnlich als Mehrheitssozialisten bezeichnet, und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, äußerten sich in bezug auf die zukünftige staatliche Organisation Deutschlands72. Die Unabhängigen forderten, daß in der zu errichtenden sozialistischen Republik die gesamte legislative, exekutive und jurisdiktioneile Macht ausschließlich in den Händen von „gewählten Vertrauensmännern der gesamten werktätigen Bevölkerung und der Soldaten" sein sollte, oder präzisiert: „Die politische Gewalt liegt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte, die zu einer Vollversammlung aus dem ganzen Reiche alsbald zusammenzuberufen sind." Die Frage einer Konstituierenden Versammlung sollte erst nach Konsolidierung der durch die Revolution geschaffenen Zustände aktuell werden. Die Mehrheitssozialisten wollten jedoch alle diese Fragen von 68

Dokumente 2 S. 225 f.

69

Dokumente 2 S. 227 ff.

70

Dokumente 2 S. 289 ff.

71

Dokumente 3 S. 4 f.

72

Dokumente 3 S. 2 f.

Sprache u. Politik:

Bezeichnung

d. Repräsentativkörperschaften

385

vornherein von einer Konstituierenden Versammlung entscheiden lassen. Am 10. November 1918 wählte der Berliner Arbeiter- und Soldatenrat den Rat der Volksbeauftragten, bestehend aus drei Unabhängigen und drei Mehrheitssozialisten, der an Stelle des Reichskanzlers die Reichsleitung übernahm73. Über die Frage der Bildung einer Nationalversammlung kam es zu Spannungen zwischen den Arbeiter- und Soldatenräten und dem Rat der Volksbeauftragen74. Eine Nationalversammlung wurde von den Arbeiter- und Soldatenräten als konterrevolutionäres Element angesehen. Besonders der Spartakusbund erklärte sich gegen eine Nationalversammlung, die er als überlebtes Erbstück bürgerlicher Revolutionen bezeichnete. Statt dessen forderte er ein Klassenorgan, das Reichsparlament der Proletarier in Stadt und Land. An die Stelle der traditionellen Nationalversammlung der bürgerlichen Revolution sollte eine Arbeitervertretung treten 75 . Am 18. November 1918 faßte der Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenrat eine Resolution, in der er die Einberufung einer Delegiertenversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte forderte, die einen Zentralrat der deutschen Arbeiter- und Soldatenräte wählen sollte76. Diesem Zentralrat war die Aufgabe zugedacht, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Trotz heftigen Widerstands setzte sich schließlich der Rat der Volksbeauftragten mit der Entscheidung durch, Wahlen für eine Verfassunggebende deutsche Nationalversammlung abzuhalten77. Der beschlossene Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte trat am 18. Dezember 1918 in Berlin zusammen und konstituierte sich als Inhaber der gesamten politischen Macht in Deutschland78. Wesentlich von den Mehrheitssozialisten bestimmt, beschloß er, nun ganz im Sinne des Rats der Volksbeauftragten, Wahlen zur deutschen Nationalversammlung abzuhalten. Bis zu einer solchen Wahl übertrug er die gesetzgebende und vollziehende Gewalt dem Rat der Volksbeauftragten. Zugleich bestellte er einen Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte, auch Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik genannt, der die parlamentarische Überwachung des Rats der Volksbeauftragten auszuüben hatte und in dieser Funktion den Vollzugsrat der Arbeiterund Soldatenräte Groß-Berlins ablöste. Die Mehrheitssozialisten hatten damit mit ihren Vorstellungen gesiegt. Nachdem auch der Januar-Aufstand der Linksradikalen in Berlin gescheitert war, war der Rat der Volksbeauftragten Herr der Lage. Am 19. Januar 1919 wurde die Nationalversammlung gewählt. Noch einmal erhob der Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenrat die Forderung nach Einberufung eines Rätekongressesund die Kommunistische Partei (Spartakusbund) wandte sich gegen die Nationalversammlung mit der Parole: „Nieder mit der Nationalversammlung! Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten!" 80 Am 73 74 75 76 77 78 79 80

25

Dokumente Dokumente Dokumente Dokumente Dokumente Dokumente Dokumente Dokumente

3 3 3 3 3 3 3 3

S. S. S. S. S. S. S. S.

6 f. 24 f. 26. 25. 32. 38 f. 61 f. 62.

Mitzka, Wortgeographie

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Horst

Grünert

6. Februar 1919 trat die Verfassunggebende Versammlung der deutschen Nation, die Verfassunggebende deutsche Nationalversammlung, die Nationalversammlung in Weimar zusammen, die Friedrich Ebert als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten in seiner Eröffnungsrede als Reichsparlament bezeichnete81. Hauptaufgabe der Nationalversammlung war die Beratung der vom Reichsminister des Innern Hugo Preuß vorbereiteten Verfassung, die nach entsprechenden Veränderungen und Erweiterungen als Verfassung des Deutschen Reiches angenommen wurde und am 14. August 1919 in Kraft trat 82 . Im Gegensatz zur Bismarckschen Verfassung wurde der Reichstag, bestehend aus den Abgeordneten des deutschen Volkes, gleich im 2. Abschnitt vor den übrigen Reichsorganen behandelt und damit schon äußerlich als legislatives Organ hervorgehoben. Die Vertretung der Länder, in der Bismarckschen Verfassung Bundesrat genannt, zur Zeit der Nationalversammlung als Staatenausschuß bezeichnet, erhielt nun die Benennung Reichsrat. Für die Parlamente der Länder der ehemaligen Bundesstaaten gebrauchte die Verfassung durchgehend die Bezeichnung Landtag. Der erste Reichstag wurde am 6. Juni 1920 gewählt. Mit dem am 24. März 1933 durch die Mehrheit des 8. Reichstags angenommenen Ermächtigungsgesetz war das Ende der Weimarer Verfassung besiegelt. Der Reichstag bestand zwar dem Namen nach weiter, aber „sein Ausgang war Aushöhlung seiner Substanz, Umformung seiner Aufgabe, Mißbrauch seines Namens" 85 . Der Reichstag war weder mehr Träger der Gesetzgebungsgewalt noch Kontrollorgan gegenüber der Regierung. Aus einer Wahlkörperschaft wurde er zu einem „Forum von Gefolgsleuten Hitlers" 84 . 6. Deutschland

nach dem 2.

Weltkrieg

Mit der Kapitulationserklärung vom 8. Mai 1945 traten die nationalsozialistischen Verfassungsgesetze automatisch außer Kraft. Die oberste Staatsgewalt in den vier Besatzungszonen wurde von den Besatzungsmächten durch den Alliierten Kontrollrat übernommen. In den Jahren 1946/47 wurden die deutsdien Länder wieder hergestellt bzw. neu geschaffen. Sie erhielten eigene gewählte Volksvertretungen und von diesen abhängige parlamentarische Regierungen, schließlich auch eigene geschriebene Verfassungen. Die parlamentarischen Vertretungen der Länder in allen vier Besatzungszonen wurden als Landtage bezeichnet85. Nur in Hamburg und Bremen erhielt die Volksvertretung die Bezeichnung Bürgerschaft. In Berlin trug der Vertretungskörper zunächst die Bezeichnung Stadtverordnetenversammlung. 81

Dokumente 3 S. 66 ff.

82

Dokumente 3 S. 129 ff.

83

Ernst Deuerlein, Die Vertretung des deutschen Volkes, in: Das Parlament, 10. Jg., Nr. 39, S. 3.

84

Deuerlein S. 3.

85

Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit. Bd. 2. Zusammengestellt von Ernst Rudolf Huber. Tübingen 1951, S. 313 ff.

Sprache u. Politik: Bezeichnung d. Repräsentativkörperschaften

387

Nach der Teilung der S t a d t blieb in Ost-Berlin diese Bezeichnung erhalten, d a gegen w u r d e in der neuen Verfassung West-Berlins v o m 1. September 1950 die Volksvertretung Abgeordnetenhaus genannt. I m Potsdamer A b k o m m e n v o m 2. August 1945 w a r eine lokale Selbstverwaltung vorgesehen, die nach demokratischen Grundsätzen, u n d z w a r durch Wahlausschüsse (Räte) hergestellt werden sollte 86 . Die v o n den Siegermächten vereinbarte Behandlung Deutschlands als einer wirtschaftlichen Einheit erwies sich als nicht realisierbar. D a h e r k a m es zunächst zum Zusammenschluß der amerikanischen u n d britischen Besatzungszone zu einem vereinigten Wirtschaftsgebiet. N a c h d e m 1946 in Minden bereits ein Wirtschaflsrat, später u m b e n a n n t in Verwaltungsrat für die Wirtschaft des amerikanischen und britischen Besatzungsgebiets, gebildet w o r d e n w a r , w u r d e d a n n im J u n i 1947 die V e r w a l t u n g des Vereinigten Wirtschaftsgebiets als ein Wirtschaftsrat (Economic Council) mit dem Sitz in F r a n k f u r t geschaffen. Dieser Wirtschaftsrat, gewählt von den Volksvertretungen der acht L ä n d e r der amerikanischen u n d britischen Besatzungszone, hatte die Aufgabe, den wirtschaftlichen W i e d e r a u f b a u der beiden Zonen zu leiten. 1948 w u r d e die V e r w a l t u n g des Vereinigten Wirtschaftsgebiets umgebildet u n d bestand nun aus einem Wirtschaftsrat u n d einem Länderrat. Der Länderrat, gleichsam die K a m m e r der Ländervertreter, w u r d e von den Länderregierungen bestellt 8 7 . Nach dem Scheitern der Londoner Viermächtekonferenz im Dezember 1947 k a m es 1948 zu gesonderten Beratungen der drei Westmächte. I m Vollzug der Londoner Beschlüsse übergaben die drei Militärgouverneure der westlichen Besatzungszonen Deutschlands den Ministerpräsidenten der 11 westdeutschen Länder auf einer Sitzung in F r a n k f u r t / M a i n am 1. Juli 1948 drei D o k u m e n t e . Das erste enthielt den A u f t r a g , eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen 8 8 . In ihrer Stellungnahme dazu wünschten die Ministerpräsidenten die E i n b e r u f u n g einer deutschen Nationalversammlung zurückzustellen, bis eine gesamtdeutsche Regelung möglich sei. Statt dessen empfahlen sie den L a n d t a g e n der drei Zonen eine Vertretung (Parlamentarischer Rat) zu wählen, die ein Grundgesetz f ü r die einheitliche V e r w a l t u n g des Besatzungsgebiets ausarbeiten u n d ein Wahlgesetz f ü r eine auf allgemeinen u n d direkten Wahlen beruhende Volksvertretung erlassen sollte 89 . Die 11 westdeutschen L ä n der erließen d a r a u f h i n im Laufe des August 1948 ein gemeinsames Wahlgesetz über die Errichtung des Parlamentarischen Rats90. Dieses Gremium t r a t am 1. September 1948 in Bonn zur Beratung des von einem Sachverständigen-Ausschuß im August 1948 in Herrenchiemsee erarbeiteten Grundgesetzes zusammen. A m 8. Mai 1949 w u r d e die Verfassung in 3. Lesung verabschiedet u n d am 23. Mai 1949 als Grundgesetz f ü r die Bundesrepublik Deutschland im Bundes86

Quellen 2 S. 162 ff.

87

Quellen 2 S. 171 ff.

88

Quellen 2 S. 197 f.

89

Quellen 2 S. 203.

lat. catharus) zurück, ins Deutsche entlehnt wurde aber die Lautung gazaro,

die sich im Italienischen daraus ent-

wickelt hat und auch im Mittellatein gebraucht wurde 4 . Die Sekte der Katharer hatte sich vom Orient aus nach Italien und Frankreich verbreitet. I m 11. J a h r hundert setzte ihre strenge Verfolgung durch die Kirdie ein 5 . In den Predigten Bertholds von Regensburg finden wir neben dem bereits eingedeutschten ,Häretiker' auch die italienische und mittellateinische Lautung

ketzer

gazariBereits

im 13. Jahrhundert war das W o r t im deutschen Raum weit verbreitet. Es folgen Beispiele aus der ital. S e e m a n n s s p r a c h e .

Schon früh stand

die ital. Seefahrt in hoher Blüte und blieb es durch das ganze Mittelalter. So4

D u C a n g e : Glossarium mediae et infimae latinitatis. G r a z 1 9 5 4 , IV, S. 4 9 .

5

ö h m a n n : Z u m sprachlichen Einfluß Italiens auf Deutschland. I n : Mitteilungen Bd. 4 0 ( 1 9 3 9 ) , S. 2 1 3 .

8

Berthold von Regensburg, Predigten. H r s g . v o n Pfeiffer, II, S. 7 0 , Zeile 2 0 .

Neuphilologische

Deutsch-italienischer

Lehnwortaustausch

491

wohl die französischen als auch die deutschen Seefahrer übernahmen aus der Standessprache ihrer italienischen Kollegen Wortgut und vermittelten es so der deutschen Sprache. Hierher gehören u. a. die Bezeichnungen Kapitän, Pilot, Pirat, Golf. In Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts finden wir häufig die Form capitan(i)1 ,Schiffsbefehlshaber'8. Das i beruht auf venez.-genues. capitanio. capitan mit abfallender Endung ist die oberitalienische Form von ital. capitano. Schon im 13. Jahrhundert begegnet in deutschen Schriften kapitan ,Anführer, Hauptmann' 9 . Seit dem 16. Jahrhundert ist das aus ital. pilota entstandene Wort pilot ,Steuermann' häufig belegt. Sicher ist es schon früher in die deutsche Seemannssprache gelangt, pirat ,Seeräuber* ist hingegen schon für das 14. Jahrhundert als perate ( < ital. pirata) überliefert 10 . Für Golf bringt Kluge 11 die ältesten Belege aus dem Jahr 1346, nämlich g o l f , g o l f ( e ) , und führt das Wort auf ital. g o l f o zurück. Umgekehrt gelangte wohl auch über die Seemannssprache die deutsche Bezeichnung „Scheidemünze" ins Oberitalienische. Die Übernahme muß schon früh erfolgt sein, da die Entlehnung im Oberitalienischen skei lautet, also noch nicht den Wandel des sk- zu s und die abgeschlossene Diphthongierung zeigt. Von den Entlehnungen aus der Terminologie des K r i e g s w e s e n s konnte ein Großteil nur im Oberdeutschen Fuß fassen. Erst seit dem 16. Jahrhundert werden solche Entlehnungen häufiger. Immerhin gab es auch schon im Mittelalter in Italien berühmte Werkstätten, die begehrte Waffen erzeugten. Bereits im Mhd. scheint unser nhd. Partisane als partisän, partisan, partusan u. ä. auf. Neben ital. partigiana gibt es die franz. Form Partisane, die ihrerseits aber wieder eine Entlehnung aus dem Italienischen ist. Nach öhmann 1 2 kommt für franz. Vermittlung nur partusan und ähnliche Formen des Frühneuhochdeutschen in Frage. Die Form partisan in Aventins Bayr. Chronik, IV, 2, 893, stammt wohl aus dem Italienischen. Dies kann man aus wortgeographischen Gründen annehmen. Dasselbe gilt auch für zwei Belege in Tiroler Urkunden: partisän (1485) 13 . Ebenso spricht für den ital. Ursprung, daß das Wort im Französischen erst spät belegt ist 14 . Zur Terminologie des Kriegswesens gehört auch Bastei (mhd. bastle), das auf ital. bastia zurückgeführt wird. Die wortgeographische Verbreitung stützt diese Annahme. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts finden wir bastle im österreichischen und in der Kanzleisprache König Wenzels 15 , im 7Dizionario

di marina, S. 1 3 4 .

8

Friedrich K l u g e : Seemannsspradie. Halle 1 9 1 1 , S. 4 2 2 ff.

9

Hugo Suolahti: D e r französische Einfluß auf die deutsche Sprache im 13. J a h r h u n d e r t , S. 1 1 7 ; ö h m a n n : Einfluß 41 ( 1 9 4 0 ) , S. 1 4 7 .

10

Im „Apollonius" Heinrichs v o n Neustadt.

11

K l u g e : Seemannsspradie, S. 3 2 3 .

12

ö h m a n n : Einfluß, S. 8 1 .

13

Ignaz Zingerle: Tiroler Weistümer X X X I , S. 1 3 8 .

14

ö h m a n n : a. a. O., S. 8 1 .

15

H. B i n d e w a l d : Die Sprache der Reichskanzlei zur Zeit K ö n i g Wenzels. H a l l e 1 9 2 8 , S. 1 9 4 .

492

Egon Kühebacher

15. Jahrhundert ist es in der Schweiz und in Schwaben belegbar 16 . Ebenso in dieses Sachgebiet gehört Proviant (mhd. proviant) ,Mundvorrat des Heeres', eine Bezeichnung, die nur teilweise der Heeressprache angehört. Auf zwei Wegen scheint das Wort ins Deutsche gekommen zu sein: im Nordwesten aus dem Französischen und im Süden aus dem Italienischen. Eine genaue Scheidung läßt sich heute nicht mehr machen. Die Lautung prouiant scheint erstmals 1450 und 1456 in Schriften auf, die auf Schloß Telvana und in Petersberg 17 ausgestellt wurden. Sie muß auf ital. provianda zurückgehen. Bedeutend früher finden wir im Nordwesten provende belegt, das aus dem Französischen (altfranz. provende) entlehnt worden sein muß 18 . Im gesamten deutschen Raum bekam aber die aus dem italienischen Wort entwickelte Form Proviant hochsprachliche Geltung. Vieles spricht dafür, daß das nhd. Polizei (mhd. polizi) aus dem Italienischen stammt. Im Mhd. hatte das Wort die Bedeutung ,Stadtregiment, Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung*. Es wird von Lexer auf mittellat. politia zurückgeführt 19 . Wir haben es wohl mit einer latinisierten italienischen Wortprägung zu tun. Die Entlehnung ist im Mittelalter nur im Oberdeutschen24 belegbar; das spricht deutlich für die ital. Herkunft. Unsere Annahme wird gestützt durch die geschichtliche Tatsache, daß bekanntlich gerade in Italien sich das Städtewesen früh entwickelt hat und den nördlich angrenzenden Gebieten deshalb in dieser Hinsicht als Vorbild gedient haben könnte. Das ital. Wort polizia ,forma di governo, magistrato dell'ordine pubblico' ist seit dem 15. Jahrhundert bezeugt 21 , wird jedoch sicher älter sein. Der ital. Einfluß war im Mittelalter besonders stark auf dem Gebiet des H a n d e l s , besonders des G e l d h a n d e l s und der B u c h f ü h r u n g . Die Zahl der Entlehnungen aus diesem Sachgebiet ist deshalb bedeutend. Gerade hier begegnen wir immer wieder einer bereits angedeuteten Schwierigkeit, nämlich der Konkurrenz des Mittellateinischen. Auch der Kaufmann war damals zum Teil lateinisch geschult, und um 1400 gab es noch lateinisch verfaßte Ge18

Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Leipzig 1872 ff. Bd. 1, S. 134; Nachträge, S. 44. — Hermann Fischer: Schwäbisches Wörterbuch. Tübingen 1904 ff. Bd. 1, S. 672.

17

Zingerle: Tiroler Weistümer LIV, S. 123, 125.

18

ö h m a n n : a . a . O . , S. 84.

19

Lexer: Handwörterbuch 2, S. 284. — Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854 ff., Bd. 7, S. 1981. = DWb. — Friedrich Ludwig Karl Weigand: Deutsches Wörterbuch. 5. Auflage, neu bearbeitet von Karl Bahder, Hermann Hirt und Karl Kant. Gießen 1 9 0 9 / 1 0 , Bd. 2, S. 448. — Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 19. Auflage, bearbeitet von Walther Mitzka. Berlin 1963, S. 558. — Trübners Deutsches Wörterbuch, hrsg. von Alfred Götze und Walther Mitzka. Berlin 1936 f., Bd. 5, S. 169.

20

Lexer: a. a. O., S. 108.

21

Carlo Battisti und Giovanni Alessio: Dizionario etimologico italiano. Firenze 1950— 1957, 4. Bd., S. 3002.

Deutsch-italienischer

Lehnwortaustausch

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schäftsbücher 22 . Die deutsche Kaufmannssprache entwickelte sich erst allmählich und nahm viele Fachausdrücke aus dem Italienischen auf. Meistens sind die mittellat. Bezeichnungen italienischer Herkunft. Ein erwachendes sprachliches Selbstbewußtsein im deutschen Kaufmannsstand mag der Grund sein, daß gewisse Ausdrücke nicht einfach übernommen, sondern ins Deutsche übersetzt wurden. Solche Lehnprägungen finden wir nicht selten 23 . Wir wollen eine Auswahl von Lehnwörtern und -prägungen aus diesem Gebiet betrachten. N h d . Wechsel in der Bedeutung ,Wechselzahlung, -brief' 2 4 kann als Subtraktionsbildung von mhd. Wechselbrief verstanden werden 2 5 . Die mhd. Bezeichnung ist eine Übersetzung von ital. lettera di cambio, das seit dem Anfang des 14. Jahrhunderts belegbar ist 26 ; erst in neuerer Zeit gilt d a f ü r cambiale. D a neben finden wir die latinisierten Formen litterae cambiatoriae, litterae cambiales, litterae cambii27. Die Bezeichnungen Wechsel und Wechselbrief finden wir unter anderem in den Fuggerschen Raitbüchern vom Jahre 14 8 8 28. Das ital. libro segreto oder libretto segreto, als Terminus der Buchführung seit 1367 nachweisbar 29 , erscheint, ins Deutsche übersetzt, als geheimbuoch oder secretbuoch30. Ebenso erkennt man in der Wendung „die Bücher führen" eine Lehnübersetzung zu ital. guidare i librizi. Seit dem 15. Jahrhundert ist ital. conto im Deutschen als Fremdwort bezeugt 32 . Der älteste Beleg f ü r ital. conto corrente findet sich in M. Schwarz' Musterbuchhaltung vom Jahre 15 1 8 33 , daneben aber auch die Lehnprägung lauffent conto, die später von der Bezeichnung laufende Rechnung abgelöst wird. Statt ital. credito, das im 15. Jahrhundert aufgenommen wurde, erscheint im 15. und 16. Jahrhundert häufiger glauben3*1. Etwas später findet ital. debito Eingang 35 , w o f ü r im 16.Jahrhundert meist die Lehnprägung soll haben ver82

Alfred Schirmer: Wörterbuch der deutschen Kaufmannssprache. Straßburg 1911, S. 20. — Ders.: V o m Werden der deutschen Kaufmannssprache. Straßburg 1925, S. 34.

23

ö h m a n n : Lehnprägungen, S. 114—125.

24

Alfred Schirmer: Wörterbuch der deutschen Kaufmannssprache, S. 208.

25

1 3 93 in Köln. Emil ö h m a n n : a . a . O . , S. 117.

26

F . E d l e r : Glossary of mediaeval terms of business. 1934, S. 154.

27

D u Cange: Glossarium mediae et infimae latinitatis, Bd. 5, S. 123.

28

Max Jansen: D i e Anfänge der Fugger ( = Augsburg 1907, S. 135, 137.

29

Edler: a. a. O., S. 159, 162.

Studien zur Fuggerschen Geschichte I).

30

Schirmer: a. a. O., S. 70.

31

Seit dem 14. Jahrhundert. Edler: a. a. O., S. 140.

32

Schirmer: a. a. O., S. 108.

33

A. Weitenauer: Venezianischer Handel der Fugger ( = Studien zur Fuggerschen Geschichte I X ) . Augsburg 1931, S. 23. Lautung: „conto corrento".

34

Schirmer: V o m Werden der deutschen Kaufmannssprache, S. 72.

35

Schirmer: Wörterbuch der deutschen Kaufmannssprache, S. 45.

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Egon

Kühebacher

wendet w i r d " . Den immer noch bestehenden lateinischen Einfluß zeigt die Tatsache, daß f ü r glauben und soll haben später credit und debet in Gebrauch kommen 3 7 . Das im 15. Jahrhundert aufgenommene ital. creditore wird im 16. Jahrhundert häufig durch gläubiger ersetzt 38 . Das Verb glauben ist in merkantiler Bedeutung bereits 1340—1413 belegt 39 . Zur Bedeutung eines Ausdruckes der Buchhaltung wird das Wort glauben, das früher fast nur in religiöser Bedeutung gebraucht war, gewiß durch ital. Einfluß gekommen sein. Die Entlehnung corso wird seit dem 17. Jahrhundert durch die latinisierte bzw. französisierte Form c(o)urs verdrängt. Die Lehnübersetzung lauf, die im 16. Jahrhundert vereinzelt aufscheint, konnte sich nicht durchsetzen. Neben curszetel finden wir die Bezeichnung läufzetteli0. Die Übersetzung rein f ü r ital. netto, seit 1489 bezeugt, ist hingegen neben dem Fremdwort bis heute gebraucht; die Bezeichnung lauter für ital. netto war dagegen nur kurzlebig 41 . Infolge der engen Beziehungen zwischen der deutschen und italienischen H a n delswelt wurde auch das Postwesen von Italien nach Deutschland übernommen. Der älteste Beleg f ü r die Bezeichnung Post findet sich in den Fuggerschen Raitbüchern von 1494 42 . In der Bezeichnung Postmeister4S begegnen wir wieder einer Lehnübersetzung. Heute wird der Postmeister im Italienischen allerdings direttore delle poste genannt, älter aber ist die Bezeichnung maestro delle poste. Die ital. Handelsleute hatten schon lange vor dem modernen Postwesen einen Botendienst untereinander organisiert. Die Stellen, an denen die Boten die Pferde wechselten, hießen poste (Sg. posta)44, der Vorsteher einer solchen Wechselstelle war der maestro dei corrieri et poste oder maestro delle posteiS. Postmeister ist somit eine Lehnübersetzung zu ital. maestro delle poste. Mit der Entwicklung des Postwesens hat sich die Wortbedeutung geändert: die Bezeichnung des Vorstehers einer Pferdewechselstelle wurde auf den Leiter des Postamtes übertragen 46 . 3

" Schirmer: a. a. O., S. 177.

37

Schirmer: Vom Werden, S. 37.

38

Schirmer: a. a. O., S. 72.

39

Deutsches Rechtswörterbuch (Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache), bearbeitet von Richard Schröder und Eberhard Freiherr von Künßberg. Weimar 1914 ff., Bd. 4, S. 917, 919.

10

Schirmer: Kaufmannssprache, S. 115.

41

Schirmer: a. a. O., S. 134.

42

Max Jansen: Die Anfänge der Fugger, S. 145.

43

Die ältesten Belege in den Innsbrucker Raitbüchern vom Jahre 1489 und in den Fuggerschen Raitbüchern von den Jahren 1492, 1494. — Fritz O h m a n n : Die Anfänge des Postwesens und die Taxis. Köln 1909, S. 1, 84. — Jansen: a. a. O., S. 142, 145.

44

Tommasec-Bellini: Dizionario della lingua italiana III, 2, 1142, N r . 11: posta ,luogo dove correndo in posta si mutano i cavalli'.

43

Belege bei O h m a n n : Postwesens, S. 62, 65, 89, 331. ö h m a n n : Lehnprägungen, S. 121.

46

Deutsch-italienischer

Lehnwortaustausch

495

Durch den deutschen Kaufmann kamen auch einzelne Gebrauchsgegenstände und deren Bezeichnungen in die Sprache der oberen deutschen Gesellschaftsschichten. Hierher gehören u. a. die Wörter Kredenz, Schachtel, Pantoffel, Stiefel. Das ital. credenza finden wir als credenz bereits in Heinrich von Wittenweilers Ring (V, 5873—8340) in der ursprünglichen Bedeutung .Uhrkasten' und in der Moerin (V, 3364) Hermanns von Sachsenheim47. In der Bedeutung T a f e l aufsatz' ist credenz(a) mehrmals in Tiroler Inventaren belegt 48 ; dort finden wir es auch in der Bedeutung ,Kredenzbecher'. Auch die Verbalbildung credenzen scheint hier auf. Nur im Oberdeutschen tritt zunächst das bereits im Mhd. belegte Wort Schachtel, schatel, scatel48 auf. Die ältesten Belege stammen aus Tirol: schattel, schatel, schettelin, stattet". Nhd. Schachtel hat sich aus ital. scatola entwickelt 51 . Alle Tiroler Belege weisen Formen ohne h vor t auf. Der -¿-Einschub — seit dem 15. Jahrhundert nachweisbar — vollzog sich wahrscheinlich im Bairischen 52 . Dort haben wir wie im Schwäbischen und Schweizerischen die Wortsippe schach(en), Schacht ,ein Stüde Wald, Holz' 5 3 , die durch Kreuzung mit der Entlehnung skatel < ital. scatola die Form Schachtel ergeben konnte. In den südlichen Gebieten Tirols hört man die Lautung skotl, die aber wegen des erhaltenen sk- erst später aus den angrenzenden ital. Mundarten entlehnt worden sein muß. Lautgestalt und Verbreitungsweg des Wortes Pantoffel im Deutschen sprechen für ital. Herkunft. Schon wegen des o der zweiten Silbe muß es auf ital. pantofola und nicht auf franz. pantoufle zurückgehen; dieses ist zudem aus dem Italienischen entlehnt. Die Entlehnung ist gegen Ende des 15. Jahrhunderts im Westoberdeutschen nachweisbar und wird um 1500 im Bairischen als Modewort verspottet 54 . Durch die deutsche Schriftsprache wurde es im gesamten deutschen Raum bekannt. Nhd. Stiefel geht auf ital. stivale und nicht auf franz. stival, estivel Die ältesten Belege weisen nach dem Süden 55 .

zurück.

Ein Großteil italienischer Wörter, die im Mittelalter ins Deutsche eindrangen, konnten sich n u r i m O b e r d e u t s c h e n behaupten. Einige davon könnten 47

48 4S 50 51 52 53

54 55

U m 1450. Lexer: 1, S. 1715. Für das 15. Jahrhundert einwandfrei belegt, z . B . in dem in Nürnberg um 1475 entstandenen Baumeisterbuch Endres Tudiers und in anderen Quellen. Im Schwäbischen belegt Fischer (Schwab. Wörterbuch, Bd. 4, S. 723) das Wort gegen Ende des 15. Jahrhunderts. ö h m a n n : Einfluß, S. 103. Lexer: 2, S. 6 3 6 ; Nachträge, S. 357. ö h m a n n : a. a. O., S. 104. Kluge: Wörterbuch, S. 630. S. Virgil Moser in: Zeitschrift f. Mundartforschung, Bd. 14 (1938), S. 70 ff. Josef Schatz: Wörterbuch der Tiroler Mundarten ( = Schiernschriften 119/120). Innsbruck 1955, Bd. 2, S. 507. Kluge: Wörterbuch, S. 529. Lexer: 2, S. 1205. - ö h m a n n : Einfluß, S. 20.

496

Egon Kühebacher

früher im gesamten deutschen Sprachraum hochsprachliche Geltung gehabt haben, später jedoch nur im Oberdeutschen lebendig geblieben sein. Da sie in der sich entwickelnden nhd. Hochsprache nicht vorhanden waren, bekamen sie mehr und mehr mundartlichen Charakter und schwanden größtenteils in der oberdeutschen Umgangssprache. Die folgende Auswahl läßt erkennen, daß die im Oberdeutschen vorhandenen Entlehnungen nur zu einem kleinen Teil in jene Sachgebiete eingereiht werden können, denen die meisten im gesamtdeutschen Raum geltenden italienischen Wörter angehören. Auch sie wurden durchweg durch die Kaufmannssprache im Deutschen bekannt; einige könnten allerdings auch aus dem Oberitalienischen zunächst in die südlichsten deutschen Mundarten entlehnt worden sein und sich dann im Oberdeutschen mehr oder weniger weit ausgebreitet haben. An Hand der Beispiele sollen nun einige Entlehnungs- und Ausbreitungsweisen gezeigt werden. Wie bereits erwähnt, wurden auch Wörter und Sachen aus dem Bereich des K r i e g s w e s e n s ins Deutsche entlehnt. Mhd. pregant ,Fußsoldat' scheint im 14. Jahrhundert aus dem Italienischen gekommen zu sein. Die Belege in süddeutschen Schriften, z. B. in der Augsburger Chronik und in Wittenweilers Ring 56 , und die Verbreitung im Süddeutschen57 deuten darauf hin. Die franz. Form brigand ist aus ital. brigante entstanden. Das Wort wird — das gilt auch für die folgenden Beispiele — wenigstens im Oberdeutschen einst hochsprachliche Geltung gehabt haben. Heute ist es nur mehr in den Mundarten zu finden, in die es nach dem Mittelalter abgesunken ist (s. Skizze 2). In der Krone Heinrichs v. d. Türlin finden wir die Bezeichnung Crinale ,Helmdecke'. Sie stammt aus dem Italienischen58 und gehört zu den Ausdrücken, die der Kärtner Heinrich als einziger der mittelalterlichen Dichter gebraucht59. Mit dem Rittertum wird das Wort bald verschwunden sein. Heute nur noch ganz vereinzelt in den bair.-österr. und ostschwäb. Mundarten auffindbar ist pavese ,eine Art Schild'60. Das ital. pavese ist seit dem 15. Jahrhundert belegt, und zwar wieder in Wittenweilers Ring 61 . Auf ital. mostra geht mhd. muster, mustre .militärische Musterung' zurück; es ist im Oberdeutschen seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts häufig belegt62. 50 57

58

59 60 61 02

Lexer: 2, S. 291. Fischer: Wörterbuch 1, S. 1385. — Johann Andreas Schmeller: Bayerisches Wörterbuch. Zweite mit des Verfassers Nachträgen vermehrte Ausgabe von G. Karl Frommann. Stuttgart 1 8 7 2 - 7 7 , Bd. 1, S. 351. Ital. Crinale. Hugo Suolahti: Der französische Einfluß auf die deutsche Sprache im 13. J a h r h u n d e r t , S. 132. öhmann: Einfluß, S. 86. Schmeller: 1, S. 383. - Fischer: 1, S. 574. - DWb. VII, S. 1406. Tiroler Urkundenbelege siehe Zingerle, Weistümer II, S. 42, 248; X X X , S. 151. Kluge: Wörterbuch, S. 496. Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der sdiweizerdeutschen Sprache. Frauenfeld 1881 ff., Bd. 4, S. 544. - Fischer: 4, S. 1839. — Schmeller: 1, S. 1685. — Josef Schatz: Wörterbuch der Tiroler Mundarten, Bd. 2, S. 440. — Johann Bapt. Schöpf: Tirolisches Idiotikon. Innsbruck 1866, S. 453. — Lexer: 1, S. 2258; Nachträge, S. 326.

Deutsch-italienischer

Lehnwortaustausch

497

In militärischer Verwendung ist das Wort in G. F. Ochsenbeins Urkunden der Belagerung bei der Schlacht von Murten f ü r das Jahr 1476 belegt 68 . Auf das altfranz. Buchwort monstre geht das norddeutsche monster, munster zurück, das durch die niederdeutsche Handelssprache auch in das Skandinavische eingedrungen ist, wo es z. B. im Schwedischen mönster heißt 64 . Durch die Handelsbeziehungen wurden außerdem Erzeugnisse und Einrichtungen der ital. Küche, Südfrüchte und andere Handelsartikel in Deutschland, vor allem im oberdeutschen Raum, bekannt. N u r in Österreich und der Schweiz gilt Biskotten ( < ital. biscotti) statt des in Deutschland üblichen franz. Wortes Biskuit(s)es. Schon im Mhd. gab es das italienische Wort und im 16. Jahrhundert war es in der deutschen Schriftsprache üblich, aus der es durch das seit dem 16. Jahrhundert vordringende französische Wort verdrängt wurde 6 8 . Die Pfannkuchenschnitten, die als Suppeneinlage verwendet werden, heißen im Bair.-Österr. Fritatten". Das ital. frittata ,geschlagene, gebackene Eier' 68 ist seit dem 15. Jahrhundert belegt. Ital. panata ,Brotsuppe' 69 erscheint im Bair.-Österr. als panadlsup(e). Im 16. Jahrhundert wird es auch ins Französische entlehnt 70 . Das -d- in panadlstammt wohl aus der mittelbairischen Küchensprache Wiens (mittelbair. Konsonantenlenierung) 71 . Hier zu nennen ist auch bair.-österr. Karfindl ,Essig-, ölfläschchen'. Die aus ital. caraffina entstandene Bezeichnung wird im 15. und 16. Jahrhundert durch die stark ital. beeinflußte Wiener Küche bekannt geworden sein 72 . 63

Kunelmeyer: Modern language Notes X X X I V , 1919, S. 417.

64

ö h m a n n : a. a. O., S. 85.

65

Paul Kretschmer: Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache. Göttingen 1918, S. 4. Schweizerisches Idiotikon, Bd. 4, S. 1757. Im Schwäbischen ist hiskoten nur mehr mundartlich; Fischer: Bd. 1, S. 1139.

66

Kluge: S. 79.

67

Sdiatz: Wörterbuch der Tiroler Mundarten, Bd. 1, S. 190. Schweizerisches Idiotikon, Bd. 1, S. 1339. - Schmeller: 1, S. 831.

68

Carlo Battisti-Giovanni Alessio: Dizionario etimologico italiano, Bd. 3, S. 1720.

69

Tommaseo-Bellini: Dizionario della lingua italiana, Bd. 3, S. 736.

70

Walther von W a r t b u r g : Französisches 1928 ff., Bd. 7, S. 546.

71

Z u r mittelbair. Konsonantenlenierung siehe Eberhard K r a n z m a y e r : Historische Lautgeographie des gesamtbairischen Dialektraumes. Wien 1956, S. 76. Durch die Wiener Küchensprache wurden auch andere Fremdwörter im deutschen Sprachraum bekannt. Ungar, guyas z. B. w u r d e in Wien zu Golasch .Pfefferhirsch, -sauce' und in dieser Lautform im oberdeutschen R a u m verbreitet; die Lautung Gulasch mit -u- bildete sidi erst später in Anlehnung an die ungar. Lautung.

72

Schatz: Wörterbuch der Tiroler Mundarten, 1, S. 325. — Lexer: Wörterbuch. Leipzig 1862, S. 155. - Kluge: S. 276.

32

Mitzka, Wortgeographie

etymologisches Wörterbuch.

Bonn-Leipzig

Kärntnerisches

498

Egon

Kühebacher

D i e Bezeichnung des Gewürzkrautes Majoran maseran.

lautete oberdeutsch-frühnhd. majorana7t,

D i e nhd. Form entstand aus dem mittellat. Gelehrtenwort

die oberdeutsche Form ist hingegen eine Entlehnung aus dem Venezianischen. H e u t e hat sie nur mehr mundartlichen Charakter und ist noch im Bair.-Österr. als mgsarg(u)n,

mgserün,

im Schweizerdeutschen als maserän

Ebenso gilt heute franz. orange meranze,

Pomeranze

bekommt

bekannt 7 4 .

überall als vornehmer, und oberdeutsch Pumehr und mehr

mundartlichen

Charakter;

Pomeranze

ist aus dem

völlig ungebräuchlich ist im Oberdeutschen Apfelsine.

Oberitalienischen ins Deutsche g e k o m m e n ; oberitalienisch ist die erste K o m ponente des K o m p o s i t u m s P O M U und der -fs-Laut. D a s -ts- unserer mundartlichen Lautungen pumarants(e), franz.

pomarats(e)

u. ä. zeigt den Einfluß des jüngeren

orange™.

D a s ital. limone

,Zitrone' w u r d e bereits im 14. Jahrhundert ins Deutsche ent-

lehnt. Durch die spätere Entlehnung citrone

w u r d e es zurückgedrängt

konnte sich nur in obdt. Mundarten neben limone

und

halten 7 '.

In der Küchensprache des bair.-österr. und Schweiz. Gebietes k o m m t als Bezeichnung des Viehschulterteiles das W o r t spalla

( < ital. spalla ,Schulter') vor 7 7 .

Auch Kastraun

gustar

(mundartl. kstraun,

kxastraun,

u. ä.) , k a s t r i e r t e r Mast-

w i d d e r ' ist ein alter Ausdruck d e r oberdeutschen Küchensprache. Er hat sich aus ital. castrone

e n t w i c k e l t u n d ist schon im Mhd. als kastrun

niederländ. castroen

belegt 7 8 . D a s mittel-

79

stammt aus dem Französischen .

Als beliebter Handelsartikel w i r d vielleicht eine gewisse Sonderform des Flachs- und Brotbrechgeräts aus Italien eingeführt w o r d e n sein. Aus der dafür geltenden italienischen Bezeichnung gramola80

w u r d e im Bair.-Österr.

grgmbl,

73

Kluge: S. 455.

74

Schmeller: 1, S. 1674. — Schatz: Wörterbuch der Tiroler Mundarten, Bd. 2, S. 417.

75

Kluge: S. 523, 559. — Kretschmer: Wortgeographie, S. 82 ff. Marjatta Wis: Ricerche sopra gli italianismi nella lingua tedesca. Dalla metà del secolo X I V alla fine del secolo X V I . Helsinki 1955, S. 180. — Lexer: Kärntnerisches Wörterbuch, S. 177. - Fischer: Bd. 4, S. 1172.

76

77

DWB 10, 1, S. 1845. - Schmeller: 2, S. 66; Bd. 3, S. 112. Schweizerisches Idiotikon, Bd. 10, S. 112. — Johann Bapt. Schöpf: Tirolisches Idiotikon, S. 682; spai und ruggprätl, altes Kochbuch. — Schatz: Wörterbuch der Tiroler Mundarten, Bd. 2, S. 580.

78

Schatz: Wörterbuch der Tiroler Mundarten, Bd. 1, S. 261. - Schmeller: Bd. 1, S. 1306. Fischer: 4, S. 257.

70

Das mittelniederländ. castroen stammt aus dem Französischen, nach Walther von Wartburg: Französisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 2, S. 476. Battisti — Alessio: 3, S. 1856. — Taglavini: Il dialetto del Livinallongo. In: Archivio per l'Alto Adige, Br. 29 (1934), S. 147. — Theodor Elwert: Die Mundart des Fassatales ( = Wörter und Sachen. Der Neuen Folge Beiheft 2). Heidelberg 1943, S. 172. — Giovanni Pedrotti: Vocabolarietto dialettale degli arnesi rurali della Val d'Adige e delle altri valli Trentine ( = Collana di monografie edite dalla Società di Studi per la Venezia Tridentina 8). Trento 1936, S. 85. — Mena Grisch: Die Mundart von Surmeir (Ober- und Unterhalbstein) ( = Romanica Helvetica 12). Paris-ZürichLeipzig 1939, S. 233.

80

Deutsch-italienischer

Lehnwortaustausch

499

im Schwäbischen gramhla81. Da diese Entlehnung ein reines Bauernwort wurde, finden wir sie heute nur noch in der Mundartschicht. Das zentralladinische gramhla wurde schon früh aus dem Deutschtirolischen entlehnt 82 . Weit verbreitet im Oberdeutschen ist tsokl, tsokl ,Holzschuh'83. Im Italienischen lautet das Wort zoccolo. zokel ,crepida' belegt Graff 84 , bei Lexer 85 findet sich die Form zockel ,Holzschuh' in der Beschreibung der Reise des böhmischen Ritters Leo von Rosmital (Nürnberg, 15. Jh.). Eine früher entlehnte Bezeichnung derselben Sache scheint kxosp(e) und kxnosp(e)se zu sein. Das Etymon CUSPU gilt im Lombardischen, Trentinischen, Engadinischen, Grödnerischen und Mittelitalienischen (Romagna) 87 . Der Geltungsraum von kxosp zeigt alle Merkmale eines Rückzugsgebietes. Schon Oswald von Wolkenstein gebrauchte kxnosp als Bezeichnung eines großen Schuhes88. Die Form mit anlautendem kxnwird in Anlehnung an ahd. knöpf .Knoten an Gewächsen' entstanden sein und so Kurswert bekommen haben 89 . Das im Ober- und Mittelitalienischen vorkommende Etymon B I R O T I U (haros, bros, hrots u. ä.) 90 erscheint im Bairischen als protsn zweirädriger Wagen' oder ,vorderer zweirädriger Wagenteil', ,Schleifwagen'. Das Wort wird hauptsächlich im westlichen Tirol gebraucht. Im 16. Jahrhundert galt im Südbairischen und Vorarlbergischen Brotz allgemein als Bezeichnung des Karrens und auch des Vorderwagens der Geschütze91. Die Annahme, daß Sache und Wort durch den deutschen Handelsmann eingeführt wurde, ist berechtigt. Da der Warentransport vor allem im Alpengebiet die Übernahme praktischer Neuerungen im Wagenbau notwendig machte, wurden Sache und Wort nur im Oberdeutschen, vor allem im gebirgigen Süden, heimisch. S1

Schmeller: 1, S. 995. -

82

Pedrotti: a . a . O . , S. 85. Ober das Sachlich-Volkskundliche siehe Hermann Wopfner: Bergbauernbuch. Von Arbeit und Leben der Tiroler Bergbauern in Vergangenheit und Gegenwart, l . B d . , 3. Lieferung. Innsbruck 1960, S. 606 f., 625. Schmeller: 2, S. 1084. - Schatz: Wörterbuch der Tiroler Mundarten, Bd. 2, S. 660, 733. — Lexer: Kärntnerisches Wörterbuch, S. 266. — Theodor Unger: Steirischer Wortschatz. Bearbeitet von Ferdinand Khull. Graz 1903, S. 654.

s3

84

Fischer: 3, S. 788.

Eberhard Gottlieb Graff: Althochdeutscher Sprachschatz. Berlin S. 626.

1834—46, Bd. 5,

85

Lexer: 3, S. 1145.

86

Walter Schneider: Romanische Entlehnungen in den Mundarten Tirols, S. 73. — Fischer: 4, S. 550. Schweizerisches Idiotikon, Bd. 3, S. 763.

87

Walther von Wartburg: Französisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 2, S. 1594. — Karl Jaberg und Jakob Jud: Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz. Zofingen 1928—40, 1569. — Renato Agostino Stampa: Contributi al lessico preromanzo dei dialetti lombardo-alpini e romanici ( = Romanica Helvetica 2). ZürichLeipzig 1937, S. 188.

88

Schatz: Wörterbuch der Tiroler Mundarten, Bd. 1, S. 346.

86

Kluge: S. 383.

90

Jaberg und J u d : 1222.

81

Kluge: S. 567.

32»

500

Egon ITALI E N ISC H

Hochsprache

Kiihebacber D E U T S C H

Hochsprache

Oberdeutsche(Bair., Alemán., Schwab.)

Oberitalienisch (nördlich des Apennin)

Oberdeutsche Maa (Südlichster Teil des bair. und alem. Gebietes)

Oberital. Maa, ( T r e n t i n . , Lombard., Venez., Genues.)

Skizze 1 : Entlehnung im Mittelalter

ITALI EN ISC H

Hochsprache

Oberitalienisch (nördlich des Apennin)

O b e r i t a l . Maa, (Trentin., Lombard.. Venez., Genues.)

D E U T S C H

Hochsprache

Oberdeutsche (Bair., Alemán., Schwab.)

O b e r d e u t s c h e Maa (Südlichster Teil des bair. und alem. Gebietes)

Skizze 2 : Entlehnung in der Neuzeit

Deutsch-italienischer

Lehnwortaustausch

501

Aus der Kaufmannssprache stammt auch Grampe (mundartl. grampe, gramp, grämpe, grämp u. ä.) ,Kleinverkäuferin' und das Verb grampen (mundartl. grgmpm, grpmpd, grampd, grampm u. ä.) ,Kleinhandel treiben', das streuweise im gesamten Oberdeutschen bis nach Hessen verbreitet ist 92 . Im Mhd. ist das Verb grampen ,Kleinhandel treiben' und auch das Substantiv grempler ,Trödler' belegt 93 . Zugrunde liegt oberital. crompare (Nebenform von ital. comperare), das noch im Lombardischen, im westlichen Trentinischen und im Tessin mundartlich gilt 94 . Das in der gesamten Romania bekannte M E R E N D A .Vesperbrot' 9 5 gilt als marent, märende, marepnt u. ä. auch im Bairischen, Schwäbischen und Alemannischen 96 . Auch dieses Wort muß aus der Sprache der höheren italienischen in jene der höheren deutschen Gesellschaftskreise entlehnt worden sein. Die beharrsamsten roman. Mundarten kennen es nur in der ursprünglichen Bedeutung ,Mittagessen', der Geltungsbereich dieser Bedeutung sieht aber wie ein Rückzugsgebiet aus. Es wird also in der höheren (ober) italienischen Sprachebene ein semantischer Wechsel vorgenommen worden sein und in dieser moderneren Bedeutung drang dann das Wort ins Oberdeutsche ein. Allerdings ist es im Oberdeutschen in die mundartliche Schicht abgesunken und der allgemeinen Umgangssprache unbekannt geworden. Neben diesen und anderen Wörtern, die durch Vermittlung der Kaufleute und anderer höherer Kreise ins Deutsche übernommen wurden, finden wir eine große Zahl von Entlehnungen, die aus den angrenzenden oberitalienischen Mundarten in d i e s ü d l i c h s t e n d e u t s c h e n M u n d a r t e n eingedrungen sind. Es handelt sich dabei um reine Bauernwörter, die sich natürlich durchweg nur auf der mundartlichen Ebene behaupten konnten. Wir wollen eine Auswahl dieser Entlehnungen näher untersuchen. Nicht alle romanischen Wörter der südlichsten deutschen Mundarten sind als Entlehnungen aus dem Süden anzusehen. Eine Gruppe davon bilden die vordeutschen Relikte. Gegenstand dieser Untersuchung sind aber nur jene Wörter, die erst nach der Eindeutschung des Alpengebietes und der angrenzenden Landstriche aus dem Italienischen entlehnt wurden. D a ß es nicht immer leicht ist, zwischen Relikt und Entlehnungen genau zu unterscheiden, sehen wir auch am folgenden Beispiel. Gerade im Süden wird beiderseits der deutsch-italienischen Sprachgrenze das deutsche Horn und das ital. corno als Bezeichnung eines Berg92

Kluge, S. 402.

93

Alle älteren Schreibungen haben den U m l a u t : grämplerstand (1491), gremplerin (1512); s. Walter Schneider: Romanische Entlehnungen in den Mundarten Tirols, S. 75.

94

Jaberg und J u d : 822.

95

Jaberg und J u d : 1028, 1029.

96

Schweizerisches Idiotikon, Bd. 4, S. 354. — Schatz: Wörterbuch der Tiroler M u n d arten, Bd. 2, S. 415. - Schöpf: Tirolisdies Idiotikon, S. 423. - Sdimeller: 1, S. 1640. Fischer: 4, S. 1469.

502

Egon Kühebacher

gipfels gebraucht. Es k a n n m. E. nicht ein reiner Zufall sein, d a ß die deutschen und italienischen Alpenbewohner bei der N a m e n g e b u n g genau dieselbe V o r stellung hatten. M a n m u ß entweder die deutsche oder die italienische Bezeichnung als Lehnübersetzung ansehen 8 7 . Es erhebt sich nun die Frage, w a n n diese Lehnübersetzung entstanden sein könnte. M a n ist geneigt anzunehmen, d a ß die vorgermanischen Alpenbewohner die Bezeichnung corno bereits hatten u n d diese dann von den einwandernden B a j o w a r e n übersetzt wurde. In diesem Falle m ü ß t e die Lehnübersetzung als Relikt betrachtet werden. D a f ü r spricht auch die Tatsache, d a ß Horn-Bezeichnungen gerade in jenen Gebieten der Alpen vorkommen, in denen die vorgerm. Besiedlung etwas dichter w a r . Manche „ H ö r n e r " haben vielleicht wirklich schon in der Zeit der germ. L a n d n a h m e ihren deutschen N a m e n bekommen, der somit von der Vorstellung der vorgerm. Namengeber zeugt u n d deshalb als Relikt gelten m u ß . Es ist jedoch eine T a t sache, d a ß die Berggipfel u n d ü b e r h a u p t das gesamte Gelände über der Vegetationsgrenze von den deutschen Siedlern erst spät beachtet u n d spradilich e r f a ß t wurde. Die berühmten „Drei Z i n n e n " in den Sextener Dolomiten heißen z. B. in den alten Grenzbeschreibungen einfach die „drei K n o t e n " 9 8 . Erst seit dem A u f b l ü h e n des Alpinismus n a n n t e man sie in lautlicher Anlehnung an die ältere ital. Bezeichnung „Tre cime di L a v a r e d o " „Drei Zinnen", obwohl „Zinne" ein völlig m u n d a r t f r e m d e s W o r t ist. Ebenso k ö n n t e das ital. corno bei der spät erfolgten N a m e n g e b u n g der Berggipfel als Vorbild gedient haben, so d a ß eine Reihe v o n / / o w - N a m e n als Lehnübersetzungen gelten m ü ß t e n " . Dieses Beispiel soll nur andeuten, d a ß der Unterschied zwischen R e l i k t u n d L e h n w o r t nicht immer offenkundig vorliegt. Es ist notwendig, von Fall zu Fall alle schriftlichen Quellen gründlich einzusehen. Einige Gefäßbezeichnungen können eindeutig als Entlehnungen e r k a n n t werden. Mit patsaid(e) w i r d ein kleines H o l z g e f ä ß mit verlängerter G r i f f d a u b e bezeichnet. Das W o r t hat sich aus alttrentin. baceda100 entwickelt, das im Mittelalter ins Tirolische entlehnt w u r d e . Es geht auf ein gall. B A C C A + E T A zurück und scheint im gesamten oberital. R a u m auf 1 0 1 . Alttrentin. baceda w u r d e im Tirolischen über *patside zu patsaide102 u n d h a t t e von hier aus große Strah" Es ist auffällig, daß mehrere Berge mit Horn-Namen keine hornähnliche Gestalt haben, z. B. das Pfannhorn bei Toblach, das Rudihorn bei Welsberg. 98

Zur Bezeichnung Knoten siehe Schatz: Wörterbuch der Tiroler Mundarten, S. 346. Das heute so viel besuchte Kletterparadies der Sextener Dolomiten beachten zum Beispiel heute noch die ältesten Einheimischen recht wenig und haben deshalb auch für die Gipfel keinen Namen; alles, was über der Waldgrenze ist, heißt man einfach „Felsen" oder „Knoten".

99

Der Verfasser beabsichtigt, das Pro und Contra in dieser Sache in einer eigenen Studie zu erörtern. 100 Dicziunari Rumantsch Grischun. Publichi da la Societä Retorumantscha. Chur 1939 Bd. 2, S. 275. 101 Schneider: a. a. O., S. 72.

ff.,

102

Zur Diphthongierung von i siehe Eberhard Kranzmayer: Historische Lautgeographie des gesamtbairischen Dialektraumes, $ 49.

Deutsch-italienischer

503

Lehnwortaustausch

lungskraft. Es drang ins Montafon und den Prätigau vor und über das Stilfserjoch ins obere Addatal 103 , nach Osten ins Zentralladinische, Friaulanische und Comelicanische104. Während das Zentralladinische, Friaulanische und Büdnerromanische das Wort aus dem Deutschtirolischen entlehnten, ist es im Trentinischen und Vicentinischen erbwörtlich entwickelt. Wir haben hier somit ein Beispiel einer Wortwandlung vom deutschen in den romanischen Raum; manche Wörter wurden aus einem Teil des Romanischen aufgenommen und an andere romanische Gebiete weitergegeben. Die Bezeichnung i m für den ovalen Waschbottich drang aus dem Oberitalienischen schon früh ins Deutschtirolische ein und ist dort mehrfach schriftlich belegt 105 . Das Wort geht auf roman. URNA zurück, das im Oberitalienischen erbwörtlich weiterlebt 10 '. Für den Wassereimer gibt es streuweise in ganz Tirol, im Schwäbischen und im Schweizerdeutschen die Bezeichnung tsiklwl. Weiter verbreitet ist das Verb tsik(a)ln, tsiklan, tsikln ,Wasser im Eimer aus dem Brunnen ziehen' (übertragene Bedeutung: ,unmäßig trinken'). Die Belege im Schwäb.-Alemann, weisen auf die Verbreitung durch den Handel hin. Das Etymon SITULA > S I C L A ist im gesamten oberital. Raum verbreitet und von dort auch ins Kroatische und Serbische gedrungen108. Das Wort lafeits (Pustertal, Vintschgau, deutscher Nonsberg) und dessen Subtraktionsform feits (Eggental) 109 bezeichnen den dreifüßigen Bronzekessel, der beim offenen Herd verwendet wurde, mit diesem jedoch völlig außer Gebrauch kam. Wort und Sache stammen aus dem Trentinischen, wo wir die Lautung lavets finden110. Die Belege im Schweizerdeutschen und Schwäbischen111 aus dem 1113

D o r t patslda ,Milchschüssel'. J a b e r g u. J u d : 1 2 0 3 , P . 2 0 9 , 2 1 8 . — R e n a t o Agostino S t a m p a : Cotributi al lessico p r e r o m a n z o dei dialetti lombardo-alpini e romanici, S. 108.

104

Giovanni P e d r o t t i : V o c a b o l a r i e t t o dialettale degli arnesi, S. 6 4 , 7 7 . — C a r l o T a g l a vini: Alcuni problemi del lessico ladino centrale. I n : Archivio per l ' A l t o Adige, Bd. 2 7 ( 1 9 3 2 ) , S. 9 1 .

105

L e x e r : 2, S. 2 0 1 0 . — O t t o S t o l z : Die Ausbreitung des Deutschtums in Südtirol im Lichte der U r k u n d e n . München-Berlin 1 9 2 7 — 3 4 , Bd. 3/4, S. 2 0 3 : um 1 3 4 0 propsturn, saltnerurn, pinturn.

im V i t t o r e R i c c i : V o c a b o l a r i o trentino-italiano. T r e n t o 1 9 0 4 , S. 2 9 8 . 107

In T u x hat tsükl, tsutl die Bedeutung .Tragbutte'. — Fischer: 6, S. 1 1 7 5 . — S d i a t z : Wörterbuch der Tiroler M u n d a r t e n , Bd. 2, S. 7 2 9 . — Schmeller: 2, S. 1 0 8 3 .

11,8

J a b e r g und J u d : 9 6 5 , 9 6 6 ,

1 1 9 7 . — C a r l o B a t t i s t i - G i o v a n n i Alessio:

Dizionario

etimologico italiano, Bd. 5, S. 3 4 3 6 . — Giovanni P e d r o t t i : V o c a b o l a r i e t t o dialettale degli arnesi rurali della vai d'Adige e delle altre valli Trentine, S. 7 7 . — C a r l o Battisti: Storia linguistica e nazionale delle Valli Dolomitiche Atesine. Firenze 1 9 4 1 , S. 1 8 3 . 11)9 1,0

Schatz: Wörterbuch der Tiroler M u n d a r t e n , Bd. 1, S. 3 6 7 . K a r l J a b e r g und J a k o b J u d : 9 5 5 leg.; 9 5 8 leg. — C a r l o T a g l a v i n i : Il dialetto del Livinallongo. I n : Archivio per l ' A l t o Adige, Bd. 2 9 ( 1 9 3 4 ) , S. 184. — Battisti-Alessio: D i z i o n a r i o etimologico italiano, B d . 3, S. 2 1 8 7 .

111

Schweizerisches Idiotikon, Bd. 3, S. 1 1 1 0 . -

Fisdier: 4, S. 1 0 6 7 .

504

Egon Kühebacher

16. u n d 17. J a h r h u n d e r t zeigen, d a ß der Gegenstand durch den H a n d e l verbreitet wurde. Von Tirol aus noch weiter verbreitet w u r d e g Deutsch vermittelte 20 «/o aus, d. h. der als deutsch zu bezeichnende Bestandteil des ungarischen Argots erreicht 65 °/o des gesamten Sonderwortschatzes. Dabei haben die Verfasser die mit ungarischen Endungen versehenen Wörter — also fast alle Verba — 44

Vgl. meine Besprechung von J. Jofen: A Linguistic Atlas of Eastern European Yiddish. N e w York 1964. In: Acta Linguistica Hung. 16 (1966), S. 203 ff. — Für die Angaben über die jiddischen Relikte in der Haussprache zolle ich Herrn P. D. Büchler Dank.

43

U. Weinreich: Yiddish and Colonial German in Eastern Europe. Moskau-Den Haag 1958.

46

G. Barczi: A pesti nyelv [Die Sprache von Pest]. In: Magyar N y e l v 27, S. 284.

42

Mitzka, Wortgeographie

658

Claus Jürgen

Hutterer

deutscher Herkunft (z. B. brusztol < Brust ,raufen') zum Ungarischen geschlagen47 ! Die deutschen Wörter der ungarischen Gaunersprache sind zu einem erheblichen Teil normale lexikalische Einheiten des alten deutschen S t a d t d i a l e k t s d e r H a u p t s t a d t . Einen rotwelschen Charakter haben sie erst nach dem Sprachwechsel der Gauner erhalten, vgl. Wörter wie amtal ,Anteil (am Hehlgut)', aresz ,Arrest', brekköl,brechen', drum ,Trumm', hauer ,Hauer: dt. Bauer', gejszt ,Geist : Spirituose', sprengejzni ,Sprengeisen' usw. — Eine zweite Gruppe bilden jene Wörter, die auch in deutscher Hinsicht als Rotwelsch gelten, z. B. ahtundcvanciger ,Achtundzwanziger : Wegelagerer, Mörder', kracholc ,Kratzholz : Rasiermesser', sejker ,Scheker : Lüge'; hierher zu zählen sind auch zweifellos einheimische Originalschöpfungen wie svemm ,Schwemme : Bad', vize(n) ,Wiese : Kegelbahn', zaci ,Versatzamt', zsambeker cejtung ,Schambecker Zeitung: falsche Rede, Irreführung' (Schambeck, ung. Zsambek, ist eine deutsche Gemeinde in der Nähe von Ofen). Manche deutsche Elemente der ungarischen Gaunersprache gehören bereits, infolge der in den meisten Ländern Europas vor sich gehenden Aufwertung rotwelscher Wörter und Wendungen, zum festen Bestandteil der U m g a n g s s p r a c h e , z. B. suli ,Schule', hari ,Haar', durmol ,durmen : schlafen', brusztol ,brüsten : raufen', jako Jacke', hefti ,Heft : Nase', lebol ,leben: gut leben, schwelgen'. Es ist anzunehmen, daß auch die ungarndeutsche Gaunersprache Elemente des Ungarischen enthielt. Das in dieser Hinsicht verwendbare Material wurde jedoch daraufhin noch überhaupt nicht untersucht. Das binnendeutsche Rotwelsch enthielt allerdings eine ganze Reihe ungarischer Wörter: bei S. A. Wolf sind aus verschiedenen Quellen ungefähr 70 Wörter ungarischer Herkunft verzeichnet, die zum größten Teil W. Polzers Gaunerwörterbuch entstammen48. Eine auf Grund phonetischer und morphologischer Kriterien unternommene nähere Untersuchung hat aber gezeigt, daß diese Wörter erst auf dem Umweg über das Z i g e u n e r i s c h e ins Rotwelsch gelangten, z.B. bino < ung. bün ,Sünde' koldusis < ung. koldus .Bettler', hamisno < ung. hamis ,falsch', hintova < ung. hint6 ,Kutsche', baranyi < ung. barany ,Lamm', usw. 49 . Im Unterschied zu den bis jetzt behandelten sozialen Sphären kann die ungarische Sondersprache der T e c h n i k und der W i s s e n s c h a f t viel weniger deutsche Entlehnungen aufweisen, z. B. lüpe ,Lupe', raketa ,Rakete', zeppelin ,Zeppelin', sin ,Schiene', kvarc ,Quarz', lavina ,Lawine', düne ~ düna ,Düne', gleccser .Gletscher', ren ,Ren'. Das erklärt sich aber dadurch, daß d i e b e w u ß t e S p r a c h p f l e g e gerade in diesen Bereichen am entschiedensten zur Geltung kommen kann. 47

48

49

Vgl. S. Jenö-I. Veto: A magyar tolvajnyelv es szotara [Die ungarische Gaunersprache und ihr Wortschatz], Budapest 1900, bes. S. 29. S. A. W o l f : Wörterbuch des Rotwelschen. Mannheim 1956; ferner W. Polzer: GaunerWörterbuch für den Kriminalpraktiker. München-Berlin-Leipzig 1922. Vgl. C. J. Hutterer: Ungarische Wörter im Rotwelschen. In: Muttersprache 71 (1961), S. 52 ff.

Deutsch-ungarischer

659

Lehnwortaustausch

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, im Rahmen dieses Aufsatzes auch auf die Probleme der ungarischen Sprachpflege — Spracherneuerung wie Purismus — einzugehen. D e r Wille zur Abwehr sprachlicher Fremdlinge hat sich bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ziemlich klar manifestiert. I m Zuge der sog. Spracherneuerung des Reformzeitalters (vor dem Freiheitskampf von

1848/

1849) wurde eine Menge deutscher Fremdwörter — insbesondere aus dem Zuwachs in den eingangs festgestellten beiden letzten Etappen — ausgemerzt bzw. durch ungarische Wörter ersetzt. Das betraf vor allem die Hochsprache in ihrer schriftlichen und gesprochenen Form. Die Umgangssprache wurde

eigentlich

erst um bzw. nach der Jahrhundertwende von den Puristen auf Schußweite gebracht. Ihrem Eifer ist es zuzuschreiben, daß man vielfach heute noch von einer s p r a c h s o z i o l o g i s c h e n D i g l o s s i e sprechen kann, die die Kluft zwischen Schreibe und gesprochenem W o r t besonders grell aufscheinen läßt. In der Stadt ißt man zwar nokedli galuska

,Nockerl', aber auf der Speisekarte liest man

für dasselbe; die Hausfrau ,putzt die Grundbirnen' ( k r u m p l i t

zu Hause, schriftlich würde sie jedoch ,die Kartoffeln hamoz).

schälen'

pucol)

{burgonyat

Die moderne ungarische Sprachpflege scheint diese Auswüchse des Puris-

mus überwunden zu haben: man unterscheidet zwischen nützlichem und überflüssigem Fremdwort, und der K a m p f gilt nur dem letzten 5 0 . Die allseitige Klärung der deutschen Lehnwörter des Ungarischen, deren Zahl in die Tausende geht, ist die Aufgabe künftiger Forschung. Die wissenschaftlichen Prämissen sind zum größten Teil schon da: viel größer sind die Lücken in der fachgerechten Bearbeitung der ungarischen Lehnwörter im Deutschen — in erster Linie in den ungarndeutschen Mundarten. Soviel läßt sich allerdings schon jetzt absehen, daß hier Abschluß und Deutung mit bloß beschreibenden — phonologisch-phonetischen und grammatischen — Mitteln nicht erzielt werden können. Auch der vorliegende Aufsatz will lediglich einen

ungarländi-

s e h e n Rahmen für den einzuschlagenden Weg umreißen: eine in jeder Hinsicht beruhigende Lösung der oben angeschnittenen Probleme ist jedoch erst dann zu erwarten, wenn wir imstande sein werden, auch diesen Rahmen samt seinem Stoff und seinen räumlichen Zusammenhängen — im Sinne des Jubilars — zu wirklich europäischen Bezügen zu weitern.

50

Eine gediegene Übersicht über Entwicklung, Stand und Zielsetzungen der ungarischen Sprachpflege hat M. Horvath in ihrem Aufsatz „Sprachpflege in Ungarn" (Muttersprache 71 [ 1 9 6 1 ] , S. 33 ff.) geboten.

ALFRED

SCHÖNFELDT

Deutsche Sprache und gesellschaftliche Ordnung im Baltikum Nahezu alle Veröffentlichungen über das Baltendeutsch 1 enthalten Uberlegungen oder Bemerkungen sprachsoziologischer Art. Diese Tatsache ergibt sich nur zu natürlich aus dem Gegenstand selbst. Die „interessanten" und darum immer wieder betonten Gesichtspunkte bei der Untersuchung des Baltendeutsch gelten der Aussprache und dem Wortschatz; beide Bereiche weisen niederdeutsche und fremdsprachige Einflüsse auf. D a es sich tatsächlich nur um einzelne Elemente, nicht aber um durchgehende Sprachzüge handelt, kommt es in jedem Fall darauf an zu entscheiden, zu welchen Zeiten und in welchen Schichten des baltischen Deutschtums diese Elemente erhalten, aufgenommen oder ausgemerzt wurden. Die immer wiederkehrende, manchmal zerredete oder bagatellisierte, nie wirklich geklärte Frage ist die der Abgrenzung verschiedener Sprachschichten innerhalb des baltischen Deutsch; deren Problematik wurde zunächst von Mitzka 2 ausgebreitet und besonders nach der Veröffentlichung der recht unterschiedlichen Auffassung von Kiparsky® in vielen Rezensionen diskutiert. Mitzka wollte die lästige Vermischung der im Baltikum gebräuchlichen Begriffe Halbdeutsch und Kleindeutsch beenden, indem er der als Baltendeutsch i. e. S. bezeichneten U m gangssprache der gebildeten deutschen Sprecher das Kleindeutsch im Munde sozial tieferstehender Deutscher gegenüberstellte und dieses wiederum vom Halbdeutsch der sich um die deutsche Sprache bemühenden estnischen bzw. lettischen Bevölkerung trennte. Die vom allgemeinen sprachlichen Gesichtspunkt wichtigste Grenze verlief zweifellos zwischen den großen Sprechergruppen, die einerseits Deutsch, andererseits Estnisch bzw. Lettisch als ihre eigene Sprache betrachteten. Das H a l b deutsch ist also — wie Mitzka 4 betont — unbedingt von deutscher Mundart, 1

2 3 4

D e r Terminus „baltendeutsch" w i r d v o n den aus dem Baltikum stammenden Deutschen nur ungern benutzt, da er besonders in nationalsozialistischer Zeit üblich war. Statt dessen v e r w e n d e n sie „deutschbaltisch", „deutsch-baltisch" oder gar nur „baltisch". Für die Sprachwissenschaft kann und muß jedoch der Ausdruck „baltendeutsch" beibehalten werden (den z. B. G. Edcardt schon 1904 und Mitzka 1923 gebrauchen), weil der Terminus „baltisch" hier eindeutig anders festgelegt ist. D i e Umschreibung „baltisches Deutsch", die auch manchmal in diesem A u f s a t z gebraucht wird, ist ein nicht ganz exakter Kompromiß. Mitzka, Studien S. 85—90. Kiparsky, Fremdes S. 9—18. Mitzka, Studien S. 90.

Deutsche Sprache im

Baltikum

661

Umgangssprache usw. zu trennen. Wenn diese Trennung akzeptiert wird, erscheint es seltsam, daß in der Literatur über das Baltendeutsch die Begriffe Klein- und Halbdeutsch so häufig vermengt wurden 5 . Die Erklärung dafür lautet bei Mitzka 6 : „Diese Kleindeutschen — ehemals wenig geschätzt und darum mit den Halbdeutschen in baltischer Literatur zusammengeworfen." Kiparsky 7 führte dies noch genauer aus: Halb- und Kleindeutsch waren zunächst nur soziale, nicht aber linguistische Begriffe. In der Tat verlief die f ü r das Land wichtigere Grenze zwischen den gebildeten Baltendeutschen und den ungebildeteren Schichten. Mitzkas Versuch einer klaren sachlichen und terminologischen Trennung der linguistischen Begriffe wurde in der späteren Literatur nur selten fortgeführt. Bei Stegmann 8 finden sich zwar die Ausdrücke Halb- und Kleindeutsch f ü r soziale Gruppen, aber sie verschwimmen dort zu einem einzigen Begriff, wo es um sprachliche Befunde geht. Redlich 9 erkannte die Notwendigkeit einer Einbeziehung der Kleindeutschen, die von ihm als Randdeutsche bezeichnet werden 10 , f ü r eine Untersuchung der im Baltikum gesprochenen deutschen Sprache an, allerdings erst f ü r die Zeit nach 1920, während er f ü r den früheren (also von Mitzka gemeinten) Zeitraum Bertrams 1 1 immer wieder zitierte und tradierte Formulierung gelten ließ, daß Halbdeutsche heraufgekommene Esten oder heruntergekommene Deutsche seien. Laur 1 2 nahm unterhalb der kleindeutschen Unterschicht noch ein Halbdeutsch an, erklärte dieses aber anders: „Es handelt sich um das stark entstellte Deutsch im Munde von Letten und Esten bzw. stark lettisierter oder estisierter Deutscher. Es ist zu unterscheiden vom individuellen falschen Deutsch eines das Deutsche nicht beherrschenden Letten, Esten oder Russen." Benita Meder 1 3 zählte 1946 zum baltischen Deutsch überhaupt nur die Sprache der Gebildeten: „Die Korrektheit der baltischen Mundart rührt daher, daß es sich um die kultivierte Sprache einer gesellschaftlichen Hochschicht handelt. Das ist also das baltische Deutsch: nicht die Sprache einer Volksgruppe mit 5

Mitzkas Aufzählung der Begriffsverwirrungen (Studien S. 85 ff.) läßt sich vor allem durch Sallmanns Formulierung ergänzen: „Halb- oder Kleindeutsche — Esten, die sich eine gewisse deutsche Bildung angeeignet haben und ihrer Berufsstellung nach in den kleineren Mittelstand sidi aufgeschwungen haben, keine Bauern mehr sind" (S. 66). — Zu den Zitaten v o n Mitzka ist übrigens zu bemerken, daß Kohl an anderer Stelle (I, 414 ff.) die Begriffe sauberer trennt und daß J. Eckardt den Ausdruck „halbdeutsch" nur für germanisierte Esten oder Letten verwendet (z. B. S. 23). — Wie bei Mitzka ist der Terminus „Halbdeutsch" auch bei Stammler und Lehiste auf die Sprache der Nicht-Deutschen beschränkt.

6

Mitzka, Studien S. 86.

7

Kiparsky, Fremdes S. 14 f.

8

Stegmann, Standessprache S. 414 f.

" Redlich, Rez. von: Kiparsky. 10

Vgl. auch Redlich, Schülersprache.

11

Bertram, Schriften II 24.

12

Laur, Riga S. 6.

13

Meder, Strukturwandel S. 33.

662

Alfred Schönfeldt

all ihren Schichten, denn wir wissen, daß im Randdeutschtum das sog. ,Knotendeutsch' gesprochen wurde . .

— sondern die gepflegte Sprache der höheren

Stände, die allerdings richtunggebend für die ganze Volksgruppe wurde." Diese allgemein „zeitlose" Formulierung läßt nicht deutlich werden, daß sie in einer Arbeit über das 18. J h . steht. Die Tatsache, daß solche Unterschiede in den Auffassungen in der Literatur vor und nach Mitzka bestehen, läßt sich erklären: es sind meistens gar nicht die gleichen Dinge gemeint, die mit gleichen Bezeichnungen versehen sind. Es erweist sich als eine Schwäche der meisten Arbeiten, daß im allgemeinen viel zu wenig auf die zeitlichen und sozialen Veränderungen geachtet wurde, denen das baltische Deutsch wegen der politischen Entwicklung des Landes ausgesetzt war. Viele Mißverständnisse rühren zweifellos daher, daß verschiedenartige Dinge miteinander vermengt wurden: soziale und sprachliche Gegebenheiten wurden zu Unrecht identifiziert, zeitliche Unterschiede wurden nicht gesehen oder nicht differenziert; national-politische Betrachtungsweisen mögen auch manchmal den Blick gestört haben. Eine Aufgliederung der verschiedenen Entwicklungsphasen ist unumgänglich. Für die älteste Zeit ist es nach den bisherigen Vorarbeiten kaum möglich, genauere Angaben über „die" deutsche Sprache im Baltikum zu machen. Für die niederdeutsche Zeit (bis etwa 1600) ist das Quellenmaterial bisher sprachlich zu wenig untersucht 1 4 ; allerdings wäre eine solche Untersuchung auch nur innerhalb eines größeren mittelniederdeutschen Rahmens durchzuführen, um zu Differenzierungen der Quellen, der Verfasser und der Schreiber zu gelangen. Für das 17. und den Beginn des 18. Jahrhunderts ist die Quellenlage wiederum sehr schwierig: nur ein Bruchteil ist publiziert und zugänglich. Eine Beschränkung auf die Zeit seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ist für diese Untersuchung erforderlich. Es ist zugleich die Zeit, aus der uns ausführlichere Aufzeichnungen über die Sprache im Baltikum vorliegen, die uns damit einen Eindruck vom Grade des Bewußtseins von Eigentümlichkeiten der baltendeutschen Sprache vermitteln. Eine Periodisierung strebte bereits M i t z k a an: E r brachte die Entstehung der „Mundart" in direkte Verbindung mit dem Eindringen des Hochdeutsch 1 5 , da nach der relativ einheitlichen mnd. Zeit erst jetzt ein Gegensatz zwischen geschriebener und gesprochener Sprache möglich wurde. Niederdeutsch hielt sich als Umgangssprache, namentlich in familiären Bereichen. Das Aussterben der Mundart, deren letzte Spuren M i t z k a 1 ' im 18. J h . (nd. Gedicht von

1703),

Ariste 1 7 im 19. Jahrhundert (Lebenserinnerungen mehrerer Autoren, ohne ge14

Es liegen nur vor die Arbeiten von Goetsch und Otsmaa; die von Otsmaa (S. 109) erwähnte Arbeit von R. Lesthal (Die Revaler Kanzleisprache im X I V . Jahrhundert. Diss. Tartu 1931) konnte nicht eingesehen werden.

15

Vgl. Schmidt, Schriftsprache.

16

Mitzka, Studien S. 52

17

Ariste, Absterben.

Deutsche

Sprache

im

Baltikum

663

sichertes Sprachdenkmal) sieht, ist wieder ursächlich mit dem Herausbilden des „Baltendeutsch " verbunden, das „ein unter puristischer Tendenz gewachsenes Hodideutsch ist" 18 . Puristische Tendenzen sind ihrer Art entsprechend nun ausgesprochen zeitbedingt, und jeder derselben liegt die andersartige Vorstellung einer lingua pura zugrunde — die es eben nicht gibt. Je weiter wir zur Gegenwart vorstoßen, desto kleiner werden die Perioden, in denen wir einheitliche Tendenzen sehen; das hängt wohl nicht nur damit zusammen, daß wir über jüngere Erscheinungen eine genauere Kenntnis zu haben glauben, sondern in unserem Falle auch damit, daß es sich im Baltikum um ganz bewußte Tendenzen handelt, die sich selbst gegenseitig modifizieren. Es erscheint nötig, die Zeit von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1939, dem Zeitpunkt, an dem die baltendeutsche Sprachgemeinschaft in ihrer Geschlossenheit ein Ende fand, gerade f ü r eine soziologische Untersuchung des Baltendeutsch zu unterteilen: um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzt die Russifizierung so stark ein, daß gerade im sprachlichen Bereich neue Voraussetzungen entstehen, die sich in hohem Maße von denen am Ende des 18. Jahrhunderts unterscheiden. Eine weitere Zäsur ist f ü r das Jahr 1920 anzusetzen: die Entstehung der Staaten Estland und Lettland ändert das sprachliche Bewußtsein gewaltig. Bei Sprachentwicklungen mit so kurzen Zeitspannen und mit sich so schnell auswirkenden Zäsuren zu rechnen, mag problematisch erscheinen, wenn es sich um Fragen der Phonetik, der Morphologie oder der Syntax handelt. Beim Baltendeutsch geht es jedoch vor allem um den l e x i k a l i s c h e n Bereich. Wenn die Geltungsdauer bestimmter Wörter festgestellt werden kann und sich aus dem Sprachmaterial selbst kürzere Perioden unterscheiden lassen, die sich auch f ü r s o z i o l o g i s c h e Gegebenheiten als bezeichnend erweisen, wird eine derartige Periodisierung möglich und erforderlich sein. Eine bloße Aufzählung beispielsweise aller im Laufe der Jahrhunderte belegten Lehn- und Fremdwörter besitzt kaum Aussagekraft, wenn diese nicht in ihrer zeitbedingten Differenzierung gesehen werden. So konnte die Arbeit von Kiparsky bei Rezensenten, die mit den Problemen des Baltendeutsch vertraut sind, sehr verschiedenartige Eindrücke von der Stärke der Beeinflussung hervorrufen: Mitzka wertete die Zahl als gering und betonte die darin sich zeigende Widerstandskraft des baltischen Deutschtums gegen fremde Einflüsse; Mackensen, Masing und Redlich empfanden sie als viel zu groß gegenüber der Realität. Die Gesamtzahl sagt in Wirklichkeit eben gar nichts aus, wenn das Material nicht in seiner z e i t l i c h e n Geltung gesehen wird. Es wird im folgenden also darauf ankommen, die Position des Baltendeutsch in den verschiedenen Zeitabschnitten zu kennzeichnen, um hier durch die Differenzierung zu exakteren Aussagen zu kommen und dabei vielleicht einige Widersprüche, die sich in der Literatur zu diesem Problemkreis finden, zu klären. Der Zeitraum von der Mitte des 18. bis zu der des 19. Jahrhunderts ist gekennzeich18

Mitzka, Studien S. 105.

664

Alfred

Schönfeldt

net durch eine ganz klare Vorherrschaft der Deutschen in sozialer Hinsicht: „deutsch" zu sein, war die nötige Voraussetzung, um sozial aufzusteigen, nicht etwa nur in den akademisch gebildeten „Literatenstand", sondern auch in den Mittelstand, sowohl auf dem Lande als auch in der Stadt 1 9 . Die Germanisierung, namentlich auf dem Lande, bildete kein großes Problem; nationale Gesichtspunkte standen ihr nicht entgegen. Von dem Prestige, das das Deutsche schlechthin besaß, bezog natürlich auch die deutsche Sprache ihr Ansehen. Für den Undeutschen!t bedeutete das Beherrschen der deutschen Sprache einen wesentlichen Schritt zum sozialen Aufstieg und schließlich das Kennzeichen für die Germanisierung; auch wenn er selbst noch gar nicht Deutsch konnte oder es nur radebredite, ließ der lettische bzw. estnische Vater doch gern seine Kinder Deutsch lernen, um ihnen größere Chancen zu geben; die Kinder konnten bereits ohne größere Schwierigkeiten zur deutschen Gemeinde gehören und als Deutsche zum landischen oder städtischen Mittelstand gehören oder weiter aufsteigen 21 . Die Kenntnis der Landessprachen ist bei den Deutschen für diese Zeit keineswegs allgemein anzunehmen. Die oft zitierte Behauptung, daß die Deutschen als Kleinkinder von ihren Ammen zunächst Lettisch bzw. Estnisch und erst im vierten bis fünften Jahr Deutsch gelernt hätten 2 2 , trifft sicher nicht für die Mehrzahl der Deutschen im Baltikum zu. Hier hat es soziale, berufliche und familiäre Unterschiede gegeben, ebenso wie bei der Verwendung der Landessprachen durch die Erwachsenen. Die Notwendigkeit, sie zu gebrauchen, ergab sich in sehr unterschiedlichem Maße. In vielen Fällen blieb die Verwendung jedenfalls auf enge, sachlich gegebene Bereiche beschränkt. Russische Sprachkenntnisse sind in dieser Zeit nur für relativ wenige Deutsche anzunehmen, soweit sie nicht aus irgendwelchen beruflichen Gründen engere Kontakte mit dem russischen Reich hatten Die R u s s i f i z i e r u n g in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte zur Folge, daß das Deutsche nicht mehr allein attraktiv war. Um bessere Berufschancen und damit einen sozialen Aufstieg zu erlangen, brauchte der Lette oder Este nicht mehr Deutscher zu werden; jetzt bot auch die russische Sprache Bildungs- und Fortkommensmöglichkeiten. Das gleiche gilt auch für viele deutsdie Literaten, die im russischen Reich bessere Berufschancen erhielten. Zur selben Zeit aber setzten Nationalisierungstendenzen bei Letten und Esten ein, die eine starke Aufwertung ihres nationalen Selbstbewußtseins mit sich brachten. Germanisierungen im Mittelstand nahmen ab. Das Erlernen der russischen Sprache wurde für die deutsche männliche Jugend planmäßig eingeführt; durch die Russifizierungsmaßnahmen wurde jedoch eine Abneigung gegen das Russische erzeugt, die z. B. dazu führen konnte, daß Töchter von Literaten ganz bewußt 19 20

Zu diesem Abschnitt s. besonders die beiden Arbeiten von Lenz. Damit sind nach baltendeutscher Terminologie nur Esten und Letten, nicht etwa Russen, Schweden u. a. gemeint.

" Vgl. dazu auch J . Eckardt S. 22 f., 53. " K o h l II 372 f., 377, 3 8 0 ; Hoheisel S. 4 ; Mitzka, Studien S. 88; Kiparsky S. 7 8 ; Lenz, Literatenstand S. 3 0 ; Stegmann, Vom baltischen Deutsch S. 1 7 9 ; Stegmann, Standessprache S. 4 1 5 ; vgl. auch Ojansuu S. 88.

Deutsche Sprache im Baltikum

665

vom Erlernen des Russischen abgehalten wurden. Die Gelegenheiten und Notwendigkeiten zum Gebrauch der Landessprachen unterschieden sich zu dieser Zeit wenig von denen der früheren Periode. In den Städten waren die Kontakte mit dem Russischen natürlich mehr gegeben als auf dem Lande. Die russische Sprache setzte sich vor allem im Verwaltungswesen durch. Die Entstehung der selbständigen Staaten Lettland und Estland bildete für die Deutschen im Baltikum den stärksten Einschnitt. Die wirtschaftliche Überlegenheit des baltischen Deutschtums war aufgehoben. In vielen Berufen gab es für Deutsche keine Möglichkeiten mehr. Bei isoliert lebenden Deutschen des landischen Mittelstandes war die Gefahr eines Aufgehens im Letten- oder Estentum groß geworden. Allerdings setzte, nachdem die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der jahrhundertealten ständischen Ordnung verlorengegangen waren, eine viel bewußtere „Volkstumsarbeit" ein, durch die mehr als früher auch die sozial tiefer stehenden Deutschen auf Grund ihrer Nationalität beachtet und gefördert wurden. Die Bedeutung des Russischen war zu dieser Zeit schlagartig zurückgegangen. An die Stelle trat die jeweilige Landessprache; die Gelegenheiten, diese zu sprechen, vermehrten sich automatisch und blieben nicht mehr in dem Maße wie früher auf ganz enge Bereiche begrenzt. In allen Bereichen der öffentlichen Arbeit und Verwaltung nahm die lettische bzw. estnische Sprache die Stellung ein, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts das Deutsche, dann in gewissem Maße das Russische besessen hatte. Die Beziehungen der einzelnen Berufsgruppen zu den Esten stellt A. von Weiß dar; hierin zeigen sich durchaus Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Perioden: „Wenn auch der gesellschaftliche Kontakt zwischen Esten und Deutschen im allgemeinen bei Landwirten und Akademikern nicht sehr eng war, so war doch die allgemeine menschliche und berufliche Berührung zwischen den Landwirtsfamilien und ihrer estnischen Umgebung ungleich viel enger, als dies bei den meist unter städtischen Lebensbedingungen stehenden Akademikern der Fall war, die vielleicht mit Ausnahme der Landgeistlichen und der Landärzte stärker zu einer gewissen Abkapselung gegenüber der andersvölkischen Umgebung neigten. Bei der ausgesprochen städtischen Berufsgruppe der selbständigen Kaufleute war diese volksinselhafte Abkapselung vielleicht noch stärker ausgeprägt. Die Gruppe der kaufmännischen Angestellten rekrutierte sich ihrer Familientradition nach aus den verschiedensten Elementen und besaß daher in puncto Beziehung zur andersvölkischen Umgebung keine einheitliche Einstellung. Doch machten sich auch in dieser Berufsgruppe unter dem Druck des Konkurrenzkampfes mit den estnischen Berufskollegen teilweise Abkapselungstendenzen geltend. Die beruflichen und gesellschaftlichen Beziehungen der Handwerker zu ihren estnischen Berufskollegen war naturgemäß eng, in ähnlicher Lage befanden sich die Beamten 2 3 ". Diese Entwicklung im Verhältnis der verschiedenen Bevölkerungsteile des Baltikums zueinander kann kaum ohne Einwirkung auf die sprachlichen Ver23

Von W e i ß , Zweisprachigkeit S. 4 4 f.

666

Alfred Schönfeldt

hältnisse geblieben sein. Einerseits haben sich die Voraussetzungen f ü r sprachliche Erscheinungen geändert, anderseits auch der Blickwinkel, unter dem diese Erscheinungen betrachtet worden sind. Beides ist zu berücksichtigen, wenn die verschiedenartigen Äußerungen über das baltische Deutsch betrachtet werden. Mitzka 2 4 hat die frühere Literatur einer P r ü f u n g auf Sprachreinigungstendenzen hin unterzogen und dabei interessante Aufschlüsse gewonnen. Unter anderem Blickwinkel sollen hier einige Arbeiten aus den verschiedenen Perioden untersucht werden: wie nehmen sie zur Frage des Kleindeutsch Stellung und wie beurteilen sie fremdsprachige Einflüsse? Lindner (1/62): „Einige der obigen und gleichartigen Wörter sind blos im Munde des Pöbels, andre auch bey Personen von Stande, Erziehung und Einsichten Mode" (S. 244), erklärt er nach der Aufzählung der Provinzialismen. Bei den einzelnen Wörtern findet sich kein einziger Vermerk, welcher Schicht er es zuordnet. Bei den niederdeutschen Wörtern, die er als „Fußstapfen unserer ersten Anbauer und Pflanzältern des Deutschen" erkennt, bemerkt er, daß sie „vornämlich in Handthierungen, Hausrath, und was zum täglichen Leben gehöret, vorkommen; daher sie dem gemeinen Mann nur so allein bekannt sind, von gereiseten Personen aber, oder die andrer ö r t e r Sprache kundig sind, leicht gegen einander verglichen werden können" (S. 219 f.). Die Scheidung gemeiner — gereister Mann besagt natürlich nichts über tatsächlich beobachtete Sprachgruppen, und schließlich spricht er es auch direkt aus, daß er in Wirklichkeit nur Gebildete meint: „Liefland, Curland und Preußen sprechen das Deutsche, wenn wir auf Personen von Erziehung und Umgang sehen, (denn des Pöbels Sprache ist nur in so fern zu verstehen nöthig, als man Scheidemünzen haben muß,) mit einer fast wohlklingendem Feinheit der Aussprache . . . " (S. 250). N u r ein sehr kleiner Teil der von ihm aufgeführten Wörter ist fremdsprachigen Ursprungs oder als nichtdeutsch gekennzeichnet; irgendeine Wertung findet sich dabei nicht, ebensowenig wie in seiner allgemeinen Feststellung: „Die Hochdeutschen haben auch viele Wörter von den Bauren oder Nationaleinwohnern eingeführt, wie es hierinn wechselsweise zu gehen pfleget" (S. 220). Bergmann (1785): Während es Lindner auf das Sammeln und Belegen von Provinzialismen ankommt, sind bei Bergmann andere Tendenzen sichtbar: Er betont ausdrücklich: „Ich glaube vielen Altern die Liebhaber der Sprache sind, u. meinen jungen aufblühenden Landsleuten nützlich zu werden, wenn ich ihnen eine Anleitung zur Verbesserung der Sprache in die H ä n d e lieferte . . . Es ist nothwendig und nützlich sich von Jugend auf von Provinzialwörtern zu befreyen" (S. VIII—X). Zu den einzelnen Wörtern fügt er hochdeutsche Ausdrücke hinzu, nach denen er sorgfältig gesucht hat, oft mit dem Zusatz „besser". Der größte Teil der von ihm aufgeführten Wörter ist nd. Ursprungs, oft handelt es sich auch nur um phonetische, morphologische oder syntaktische Besonderheiten, keineswegs immer um Lexikalisches. Fremdsprachige Einflüsse zeigen sich relativ selten und werden als solche gekennzeichnet, wenn Bergmann sie erkennt, aller24

Mitzka, Studien S. 41-48.

Deutsche

Sprache im

Baltikum

667

dings ohne besondere Wertung: qualitativ bestellt f ü r ihn zwischen allen aufgezählten „Fehlern" kein Unterschied. Über seine Gewährspersonen sagt Bergmann nichts. An Bergmann tadelt Hupel 1795, daß er pöbelhafte Ausdrücke aufgenommen habe; diese Bemerkung und eine Durchsicht der Wörter zeigen, daß Bergmann die Wörter bzw. Formen tatsächlich nicht nur bei Gebildeten, sondern auch bei „Ungebildeten" gehört hat — trotzdem trennt er nicht etwa Fehler, die auf mangelnder Sorgfalt beruhen, von solchen, die mit der allgemeinen Bildung zusammenhängen. Hupel (1795) zeigt in erster Linie Freude am Registrieren von Provinzialismen; allerdings scheidet er in der Einleitung die verschiedenen Gründe und Möglichkeiten des Entstehens. Wenn er bei Bergmann die unkritische Aufnahme von pöbelhaften Ausdrücken tadelt, so nimmt er sie jetzt kritisch auf, d. h. mit ausdrücklichem Zusatz pöbelhaft. Es handelt sich hierbei ziemlich durchweg um niederdeutsche Wörter, gegen deren Gebrauch er sich wendet. Zwar kritisiert er in der Einleitung prinzipiell Sprachmischungen, nimmt aber eine ganze Reihe von Wörtern aus dem Estnischen, Lettischen, Russischen auf, ohne sie etwa zu tadeln; vielmehr sind viele von diesen auch in seinen anderen Schriften ohne Bedenken gebraucht. Für diese drei wichtigsten Zeugnisse aus der ersten Periode läßt sich feststellen, daß die Autoren im allgemeinen ausschließlich die Sprache der Gebildeten meinen, wenn sie über „die" deutsche Sprache im Baltikum sprechen; moniert werden hauptsächlich niederdeutsche Wendungen, die als „pöbelhaft" gelten — eben weil diese nicht der hochdeutschen N o r m entsprechen und gerade bei „Ungebildeten" gehört werden können. Die Existenz von Lehneinflüssen wird meistens anerkannt, aber nicht besonders getadelt. Eine Ausnahme bildet ein anonymer Aufsatz aus dem J a h r 1787 25 . Hier findet sidi zum ersten Mal eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit der Beeinflussung durch das Estnische: „ . . . bemerken, daß man hier viele Wörter falsch gebraucht, vieles aus dem Ehstnischen übersetzt, oft sogar nach der ehstnischen Wortfügung, und oft, aus Mangel der nothwendigsten Sprachkenntniss, ganz ehstnische Wörter ins Deutsche aufnimmt." Die Zahl der angeführten Wörter ist allerdings sehr gering; aus älteren oder jüngeren Belegen kann sicher angenommen werden, daß es sich auch hier um gebildete Sprecher gehandelt hat. Ganz deutlich wird das nicht differenzierende Verfahren bei Bemerkungen über „gemeine" Sprecher in einer Bemerkung bei Snell (1794): „Audi die gemeinen Leute unter den Deutschen befleißigen sich einer richtigen Aussprache. Sie übertreiben oft die Höflichkeitsbezeigungen. Der Kutscher und die Köchin rufen einander: Hören Sie! ... Das Wort Herzen wird ganz besonders construiret, wenn z . B . die Magd zum Kutscher sagt: Kutscher-Herzen, seyn Sie doch so gut etc. soll heißen, lieber Kutscher! usw." (S. 314). Kutscher und Magd sind ganz bestimmt Undeutsche; wir haben es also hier mit Halbdeutsch zu tun. Das oben zitierte Urteil von Benita Meder ist das Ergebnis einer unkritischen 25

Z i t i e r t nach: O j a n s u u S. 87 f.

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Alfred

Scbönfeldt

Beschäftigung mit der Literatur dieser Zeit: am Ende des 18. Jahrhunderts ist diese Ansicht tatsächlich gültig gewesen. Das Kleindeutsch wurde nicht als beachtenswert empfunden — sofern es nicht dazu dienen konnte, Beispiele für Sprachfehler zu liefern. Für die Beziehung zu den Landessprachen in dieser Zeit ist das — allerdings vereinzelte — Urteil von Krüger (1832) interessant: „Die persönliche Darstellung der Kur- und Lievländer . . . und dann auch die zeitige Einwirkung anderer Sprachen, besonders der lettischen, . . . scheinen mir Hauptursadien des günstigen und von manchen Seiten wohlbegründeten Vorurtheils f ü r den hiesigen Dialect zu seyn" (S. 320 f.). Ansätze zu einer Einbeziehung des K l e i n d e u t s c h finden sich in der zweiten Periode. Pabst (1848) ist der erste, der sich kritisch mit früheren Äußerungen über das Baltendeutsch auseinandersetzt und Ansätze zu Beobachtungen zeigt, die später von Mitzka betont werden: „Zu verwundern ist es aber nicht, wenn wir hier zu Lande, wo die Gebildeten sonst ein sehr reines Hochdeutsch sprechen, bemerken, wie sich echt plattdeutsche Wörter und Wortformen in der hochdeutschen Sprache mancher Deutschen, besonders auf dem Lande und in den weniger gebildeten städtischen Kreisen, zwar spärlich genug, erhalten haben" (S. 40). Aber diese Äußerung steht ganz vereinzelt am Anfang dieser Periode. Pabsts Einstellung zu Fremdwörtern ist noch vorsichtig: „Dabei wollen wir freilich die ausgemachte Thatsache nicht läugnen, daß sich aus dem Schwedischen und Dänischen Einiges, aus dem Estnischen und Lettischen gewiß sehr Viel und nicht bloß an einzelnen Wörtern und Wortformen, neuerdings Dieses und Jenes auch aus dem Russischen in unser hiesiges Hochdeutsch eingeschlichen h a t " (S- 41). Hoheisel (1860) wertet den Einfluß der fremden Sprachen bereits als Zeichen für die Gefahr, die dem Deutschtum im Baltikum drohe. Gerade bei ihm zeigen sich sehr deutliche S p r a c h r e i n i g u n g s t e n d e n z e n . Er schreibt aus den Erfahrungen des Schulunterrichts und f ü r diesen. Der Einfluß der fremden Sprachen zeigt sich f ü r ihn als Korrumpierung der deutschen. Der Anteil an Wörtern, die von ihm als nicht deutsch gekennzeichnet werden, ist erstaunlich groß. Die gleiche Einstellung zu fremden Einflüssen zeigt sich bei G r o ß (1869): „Daß sich unter unseren Idiotismen auch solche finden, die rein lettischen oder esthnischen Stammes sind, soll gar nicht geleugnet werden, und es ist aus der N a t u r der Sache zu erklären, wenn landwirtschaftliche Ausdrücke, die diesen Sprachen entlehnt sind, sich nicht durch deutsche wiedergeben lassen. Ein N a t u r volk hat eben seine eigentümlichen Geräthe und Handgriffe, die wir bei den Culturvölkern vermissen. Allein diese Bezeichnungen sind immer Barbarismen geblieben und weder in den Verband eingebürgerter Fremdwörter aufgenommen worden, noch haben sie Umdeutschung und organische Weiterbildung erfahren" (S. 35). Es ist seltsam, wie Groß glaubt, durch dieses engagierte Urteil seine neutrale Aussage abschwächen zu müssen.

Deutsche Sprache im Baltikum

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Den Extremfall in dieser Art der Beurteilung stellt E. Edihardt (1896) dar. Er gibt zwar bei einigen Fremdwörtern slawischen Einfluß zu, betont aber immer wieder, „daß irgend welche russische oder überhaupt slawische Einflüsse in der Aussprache des Deutschen im Baltenlande jedenfalls nicht vorliegen" (S. 26); „[dem Deutschen ist] jenes Bewußtsein seiner deutschen Überlegenheit über die russische Halbkultur ein vortrefflicher Schutzdamm gegen die mächtige wogende Flut der Verrussung" (S. 26); „Nicht nur der Kern, sondern auch die Hülle unserer Sprache ist dabei ganz deutsch geblieben" (S. 29). Diese Auffassung tritt immer wieder in den kleinen Schriften auf, die am Anfang dieses Jahrhunderts in Deutschland erscheinen, um die Deutschen an die gefährdete deutsche Kultur im Baltikum zu erinnern: „ . . . hat sich das baltische Deutsch fast ganz rein erhalten von fremdsprachlichem Einfluß" 2 6 ; „Die Zahl ihrer Provinzialismen ist gering, der Einfluß des Russischen gleich Null" 2 7 . Diese Aussagen stimmen zweifellos nicht, spiegeln aber deutlich die Einstellung zur Muttersprache, deren Gefährdung erkannt ist, wider. Wie Hoheisel denkt auch Sallmann (1880) in seiner Einleitung zunächst an die Schule: „Für die deutsche Jugend vereinigen sich die estnische Wärterin, der rußische Kutscher, die französische Bonne, die Überbürdung der Schule mit sarmatischem Lehrstoff zu sprachverwüstender Wirkung . . . " (S. 5). Der Lehrer soll den Sinn wecken „für das, was in der Sprache organische Bildung und was äußerlicher Ansatz und fremdländische Verunstaltung ist" (S. 5). Bei seiner Sammlung selbst treten solche puristischen Gesichtspunkte ganz zurück; er unterscheidet ältere und jüngere Entlehnungen, weist besonders auf den wachsenden Einfluß des Russischen hin. Interessant ist seine Beobachtung, daß die schon f ü r die ältere Zeit registrierte Entrundung in Estland abnimmt und sich „schon gegenwärtig auf gewisse Kreise des unteren Mittelstandes beschränkt" (S. 137). Offenbar hat Sallmann sprachliche Unterschiede zwischen den sozialen Schichten nur selten gesehen; es finden sich im lexikalischen Teil keine derartigen Bemerkungen. In der Einleitung sagt er, daß die Grenzen fließend seien. „ N u r die Sprechweise der aus den Estenkreisen sich heraufarbeitenden Halbdeutschen glaubte ich entschieden ausschließen zu müssen" (S. 2). Die Unterscheidung richtet sich also nach nationalen Gesichtspunkten; das f a n d sich in der ersten Periode nie. Gutzeit steht außerhalb der zeitgenössischen Tendenzen im Baltikum; in seinem Sammeleifer nimmt er alles auf, was nur ein wenig vom Grimmschen Wörterbuch abweicht. In der Einleitung gibt er eine Gliederung der Sprachschichten, der die von Mitzka enspricht: „Man kann das hiesige Deutsch unterscheiden in 1) solches, welches von der gebildeten und belesenen Klasse der Gesellschaft gesprochen wird . . . 2) in solches des bürgerlichen Mittelstandes und 3) in solches der arbeitenden, halbdeutschen Klassen, welche das ihnen fremde Deutsch der eigenen Sprache anzupassen versuchen. Das erste und zweite bilden den Typus des hiesigen Deutsch; das dritte hat sich nur in mandien 26

M ü h l a u S. 15.

27

W i r ohne V a t e r l a n d S. 21.

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Alfred Schönfeldt

Ausdrücken geltend gemacht" (s. VI—VII). Die späteren Anmerkungen nehmen darauf allerdings nie Bezug. Urteile über Fremdwörter sind ganz selten. Mitzka 2 8 hat auf den literarischen Charakter des Wörterbuchs hingewiesen. Es scheint aber trotzdem, daß nicht alles f ü r Gutzeit literarisch belegt zu sein brauchte. Vieles geht ganz bestimmt auf nichtliterarische Verwendung zurück, die Gutzeit selbst beobachtet hat. Seine Hinweise auf guten und schlechten Gebrauch der Wörter gehen allerdings ganz unter in der Materialfülle, die er nicht zu bewältigen vermag, und sie ähneln erstaunlich denen von Hupel, wenn er von edel und unedel spricht. Spielerischer Art ist die Untersuchung des baltischen Deutsch bei G. Edcardt (1904). Er spricht gelegentlich von „niederen Volksklassen" (S. 59), „vulgärer Sprechart" (S. 72), „Kreisen des kleinen Mannes" (S. 74) und fügt einigen Ausdrücken das Prädikat gewöhnlich hinzu (S. 59—62). Das Halbdeutsch der Letten und Esten trennt er hiervon sauber. In mehreren strittigen Fällen der Herleitung von Besonderheiten entscheidet er sich f ü r den Einfluß der fremden Sprachen; seine Einstellung zu diesen ist unvoreingenommen: „Wir Balten deutscher Zunge, sprachlich isoliert, haben vollends allen Grund, . . . insbesondere den Einflüssen fremder Idiome, die von allen Seiten her auf uns eindringen, eine gewisse Grenze zu setzen. Es braucht unsre berechtigte Reserve aber keineswegs in eine nervöse Empfindsamkeit auszuarten. Das Nichtwahrhabenwollen und Leugnen so manchen sprachlichen Buckels ist ebensowenig gutzuheißen, als das Bestreben, derlei Auswüchse vornehmtuerisch ausschließlich dem ungebildeten kleinen Manne aufzuhalsen" (S. 79 f.). Mit dieser Einstellung ist auch eine wichtige, in der früheren baltischen Literatur nicht gefundene Trennung der älteren und jüngeren Einflüsse verbunden: „Wörtliche Entlehnungen aus dem Lettischen werden nicht eigentlich als Ersatz f ü r deutsche Bezeichnungen, sondern meist mit Vorbedacht gleichsam als Zitat, sei es in scherzhafter Rede oder um des drastischen Ausdrucks willen, angewandt" (S. 69 f.). Für die Landessprachen gibt Eckardt Einflüsse auf syntaktische Erscheinungen zu, die jedenfalls f ü r eine ältere Entlehnung sprechen. „Der Einfluß der Reichssprache [d. h. Russisch] auf unser Baltendeutsch und auch speziell auf Riga ist wesentlich andrer N a t u r . Redewendungen und Ausdrucksweisen kommen hier viel weniger in Betracht, es handelt es sich vielmehr um direkte Aufnahme von Fremdwörtern. Unser Nitschewo, Winowat . . . trägt deutlich den Stempel des Zitats" (S. 72). Auf diese Betrachtungsweise des „Zitierens" muß noch später eingegangen werden. Am Ende dieser Periode steht die Arbeit von Mitzka 2 9 , der die oben dargestellte klare terminologische Scheidung vornimmt. Das Hauptaugenmerk gilt gerade dem Kleindeutsch, da hier die n i e d e r d e u t s c h e n Relikte am besten bewahrt sind. Mögliche Einflüsse der Landessprachen behandelt Mitzka nur im grammatischen Teil. Er w a r n t davor, von den aufgezählten Fremdwörtern in 28

Mitzka, Studien S. 44 f.

29

D i e Arbeit erschien z w a r erst 1923, beschreibt aber nur die Zeit vor der Entstehung der Staaten Lettland und Estland.

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Baltikum

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den Arbeiten über das Baltendeutsch auf die Sprache des täglichen Umgangs zu schließen, da dort oft h a l b d e u t s c h e Ausdrücke kritiklos zitiert seien. Die wichtigsten Arbeiten über das baltische Deutsch während der dritten Periode stammen von Masing. Die von Mitzka vorgenommene Trennung der Begriffe f ü h r t er fort; allerdings spricht er kaum über das Halbdeutsch. Das ist besonders deswegen zu bedauern, da wir hierüber die wenigsten zuverlässigen Quellen besitzen. Während Masings erste Aussagen über das Kleindeutsch noch vorsichtig sind („[Die unterste soziale Schicht] besitzt gegenüber der [obersten Schicht] den Vorzug, daß ihr Wortschatz vielfach ein altertümliches Gepräge bewahrt hat; als ausschlaggebendes Beobachtungsmaterial kommt ihre Sprache aber schon deswegen nicht in Frage, weil sie nichtdeutschem Einfluß besonders stark ausgesetzt ist" 30 ), betont er später die Bedeutung des Kleindeutsch viel stärker: „Im Hinblick auf die Bedeutung jener ,Kleindeutschen' f ü r das völkische, das allgemein kulturelle und sprachliche Leben unserer Volksgruppe geht es unter gar keinen Umständen an, sie ohne weiteres aus der Zahl der .eigentlichen Deutschbalten' auszuschließen: gerade sie haben vielfach deutsches Brauchtum und Sprachgut treu bewahrt, das früher auch der Oberschicht gehört hat" 3 1 . Für Masings Sammlungen eines Wörterbuchs, die verloren sind, spielte das Kleindeutsch (von ihm meist als Vulgär deutsch bezeichnet) eine wichtige Rolle; in seinen Aufsätzen sind diese Wörter meist als vulgär gekennzeichnet. Über Fremdwörter hat Masing sich wenig geäußert. Die Tendenz des Baltenhefts der Zeitschrift f ü r Deutschkunde 1923 entspricht den erwähnten Bestrebungen zu Beginn des Jahrhunderts, in Deutschland an die deutsche Kultur im Baltikum zu erinnern, und es ist nicht verwunderlich, wenn Masing dort einer Aufzählung von französischen Wörtern im Baltendeutsch nur in einer Fußnote hinzufügt: „Entlehnungen aus anderen Sprachen, dem Russischen, Lettischen, Estnischen, Schwedischen, Polnischen usw., sind verhältnismäßig wenig zahlreich. Die russischen Fremd- und Lehnworte beschränken sich vorzugsweise auf Ausdrücke aus dem Gebiete des Beamtenwesens, auf Benennungen der Teile des Pferdegeschirrs und sonstiger Elemente aus der Welt des Stalles, endlich auf N a m e n f ü r gewisse Handelsartikel, Münzen, Maße, Gewichte, Kleidungsstücke, Speisen und Getränke, da während der Russenzeit die Vertreter der landfremden herrschenden Nation meist als Beamte, Kutscher und H ä n d l e r im Baltikum tätig gewesen sind" 32 . In der bereits zitierten Rezension der Arbeit von Kiparsky begnügt sich Masing mit einer ganz kurzen Bemerkung zur Liste der Fremdwörter, in der er einige als ungebräuchliche Fremdwörter streicht. Masings Sammlungen und Aufsätze 3 3 enthielten genügend fremde Elemente, und das Wörterbuch hätte diese auch gebracht. Ausdrückliche Äußerungen von ihm über diesen ganzen Komplex aber fehlen. 30

Masing, Rezension v o n : Mitzka, Studien . . . Sp. 1989.

31

Masing, Rezension v o n : Kiparsky, Fremdes . . . S. 377.

32

Masing, Baltisches Deutsch S. 87.

53

Vgl. Masing, Aus der Backstube; Masing, Gemeinschaftsschelten.

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Alfred Schönfeldt

Kiparskys Untersuchung der fremden Elemente im baltendeutschen Wortschatz wurde schon mehrfach zitiert. Anlaß zur Diskussion gab oft seine Einleitung, in der er als Baltendeutsch nur gelten läßt, „was von Balten selbst ohne Stilisierungsabsichten schriftlich fixiert worden ist" (S. 17). Er will damit eindeutig das K l e i n - und H a l b d e u t s c h , die seiner Ansicht nach nur graduell, nicht aber wesensmäßig verschieden sind, ausklammern. Mitzkas Trennung lehnt er ab und stellt sich damit auf den Standpunkt der Autoren der ersten Periode. Sehr wichtig ist es, daß Kiparsky die erwähnte Auffassung von G. Eckardt über „Zitate" weiterführt; die Möglichkeit des Zitierens ist gegeben, wenn man beide Sprachen beherrscht und die Artikulationsebenen auseinanderhält. Allerdings scheint Kiparsky die Fremdsprachenkenntnis in der älteren Zeit zu überschätzen. Nachdem die baltendeutsche Sprachgemeinschaft ein Ende gefunden hatte, versuchte Stegmann rückblickend in zwei Aufsätzen die Eigenarten des Baltendeutsch s p r a c h s o z i o l o g i s c h zu deuten. „Im Verhältnis zu den zwei Landessprachen Lettisch und Estnisch — die Kenntnis des Russischen war bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts eine Ausnahmeerscheinung — ist zwischen zwei Einflußzonen zu unterscheiden. In den Bildungsschichten entspricht der bewußten blutsmäßigen Reinhaltung und der bewußten Pflege des kulturellen Zusammenhanges mit Deutschland eine argwöhnische Beobachtung der ererbten Sprachformen und die Ablehnung und Ausmerzung estnischer, lettischer, polnischer, russischer Einflüsse . . . Anders in den unteren sozialen Schichten. Hier fehlte die gesellschaftliche Überwachung, und der engere Umgang mit der fremdsprachlichen Umwelt wirkte sich stärker aus. Es entwickelte sich das sogenannte ,Halbdeutsche' (Knotendeutsch, Kadakdeutsch)" 8 4 . Obwohl Mitzka ausdrücklich zitiert wird, ist seine Trennung von Klein- und Halbdeutsch nicht übernommen; die Notwendigkeit einer solchen Trennung wird nur indirekt zugegeben, wenn Stegmann f ü r ,Halbdeutsch' auch „Knotendeutsch, Kadakdeutsch" schreibt: Knotendeutsch ist die Bezeichnung f ü r die Sprache der deutschen H a n d werker, Kadakdeutsch ( = ,Wacholderdeutsch') das Deutsch der Letten und Esten. In dem späteren Aufsatz strebt Stegmann auch eine stärkere Differenzierung an, wenn er vier Schichten annimmt: „1. Die deutsche Reichssprache erscheint rein als Schrift- und Literatursprache ^Hochsprache'), 2. in Tonfall und Wortschatz gewandelt als baltendeutsche ,Umgangssprache' der Bildungsschicht, 3. in Laut und Form stark gemischt mit niederdeutschen und undeutschen Elementen als ,Halbdeutsch* der ungebildeten Sozialschicht, und 4. schließlich als ,Ljurben-' bzw. ,Kullendeutsch* im Munde der deutsch radebrechenden Letten und Esten . . . Die Grenzziehung ist so scharf, daß am Sprechen die ständische Zugehörigkeit unmittelbar erkennbar wird . . . Die unterste Stufe bilden die estnischen und lettischen Bauern, Krüger, Schiffer, Arbeiter, die ihre Muttersprache in Lautung und Form unwillkürlich übertrugen und ins Deutsche einschmuggelten. Mit dieser Gruppe lebte z. T. in Standes- und Berufsgemeinschaft 34

Stegmann, Vom baltischen Deutsch S. 178 f.

Deutsche

Sprache

im

Baltikum

673

die Minderheit der ,Kleindeutschen', hauptsächlich Handwerker, die ihre deutsche Muttersprache der Ausdrucksweise ihrer Berufsgenossen anähnelten, um nicht als Außenseiter aufzufallen. Hier entsteht das ,Halbdeutsche'. Je weiter einzelne Glieder dieser zweiten Sozialschicht ständisch aufstiegen, um so mehr legten sie die halbdeutschen Sprachgewohnheiten ab . . . Das Fremdartige wird ausgesiebt, die Ausdrucksweise klärt sich . . . Die Grenze zwischen Halbdeutsch und Baltendeutsch ist scharf und bewußt" 3 5 . Abgesehen von der Verwendung des Ausdrucks Halbdeutsch, den Stegmann auf die Kleindeutschen beschränkt, verwundert auch die Tatsache, daß er diese Trennung der untersten Schichten f ü r sprachliche Erscheinungen gar nicht weiter berücksichtigt. Obwohl das Bild des Siebes im Grunde genommen gut und brauchbar ist, stellt die einfache Trennung zwischen „gesiebter" und „ungesiebter" Sprache hier eine recht grobe Vereinfachung dar, da „Ungesiebtes" durchaus nicht einheitlich zu sein braucht und es gerade bei diesem Untersuchungsgegenstand nicht ist. Ein spezieller Siebungsprozeß läßt sich nachweisen bei den Undeutschen, die die deutsche Sprache erlernen. Mitzka 3 6 hat an H a n d der verschiedenen Fassungen halbdeutscher Dichtung überzeugend den uneinheitlichen und unkonstanten Charakter als Wesensmerkmal dieser Sprachschicht dargestellt. Für den Esten bzw. Letten gab es deutsche Sprachnormen, an die er sich beim Erlernen des Deutschen lehnte; diese Normen konnten f ü r ihn — je nach seiner sozialen Stellung — im Kleindeutsch oder im Baltendeutsch der Gebildeten liegen. Ausgesiebt wurden hierbei undeutsche Elemente. Die von Mitzka als Kleindeutsch bezeichnete Schicht war im wesentlichen einheitlich und konstant; die Unterschiede zwischen Estland und Lettland sind hier nicht einmal so gravierend gegenüber den Gemeinsamkeiten, wenn man f ü r diesen Aspekt vom Lehnwortschatz absieht. Natürlich gab es auch hier eine s o z i a l e A u f s t i e g s m ö g l i c h k e i t , mit der das Entstehen neuer sprachlicher N o r m e n verbunden war; was aber dann eliminiert wurde, waren bestimmte kleindeutsche Elemente (z. B. Entrundung wie Hiner .Hühner'), die gar nicht undeutsch zu sein brauchten, aber nicht den Normen des Baltendeutsch entsprachen. Stegmann unterscheidet sich in der Art, den Läuterungsprozeß der Sprache zu betrachten, nicht von den Autoren der ersten Periode: das Siebungsergebnis war f ü r sie entscheidend — eine Unterscheidung des Ungesiebten war nicht akut. Die drei Perioden zeigten — trotz einiger Abweichungen — verschiedenartige Tendenzen: In der 1. Periode interessierte nur das Deutsch der Gebildeten; diese Rolle in der Literatur entsprach der eindeutigen deutschen Vorherrschaft in sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht. Bedrohungen wurden nur in einer allgemeinen Unbildung gesehen. Das entsprach Tendenzen, die zu der Zeit genauso in Deutschland sichtbar waren. In der 2. Periode wurde der Einfluß des Russischen und die Nationalisierungstendenz der Undeutschen gesehen, die letztere 35

Stegmann, Standessprache S. 414 f.

38

Mitzka, Studien S. 87.

43

Mitzka, Wortgeographie

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Alfred Schönfeldt

allerdings keineswegs immer richtig gewertet, was sich zeigt, wenn immer wieder nur der kulturelle Unterschied betont wurde. Im Fremdwortbereich wurden die Einflüsse des Russischen bewußt als Herausforderung empfunden; die Zunahme der Russischkenntnisse ermöglichte aber eine distanziertere Haltung durch die Form des „Zitierens", ohne daß dadurch im Bewußtsein der Sprecher der Reinheit des Deutschen Abbruch getan wurde. Das Kleindeutsch wurde bereits gelegentlich als besondere Sprachschicht anerkannt, sei es daß nationale oder sprachwissenschaftliche Gesichtspunkte dazu führten. In der 3. Periode wurden die niederdeutschen Elemente in den Vordergrund gestellt; das Kleindeutsch erhielt seinen Platz als wichtiger Bestandteil des Deutschen. „Völkisches" Bewußtsein führte zur Stützung dieser Sozialschicht und zur Aufwertung ihrer Eigenarten. Die Untersuchung der fremden Elemente stand ganz im Hintergrund; Kiparskys Arbeit bildete hier einen Einzelfall. Einige Vorstellungen, die sich in der ersten Periode gebildet hatten, wirkten nachhaltend auch in der zweiten, z. T. sogar noch bis zu den jüngsten Arbeiten: Die Abweichungen von der N o r m der Gebildeten wurden pauschal betrachtet, ohne die sprachlichen Voraussetzungen im einzelnen zu prüfen. Abweichend war die Sprache der Nicht-Gebildeten, die Deutsch sprachen, einerlei ob es sich um sozial tieferstehende Deutsche oder Esten bzw. Letten handelte. Die Bezeichnung f ü r diese Gruppe war damals meistens Halbdeutsche, in einigen Fällen auch Kleindeutsche. Ein saubere Trennung f a n d sich selten, da es sich nur um eine pauschale Beurteilung sprachlicher Phänomene auf Grund von nicht-sprachlichen, nämlich s o z i a l e n Gegebenheiten handelte: beim Gebrauch des Ausdrucks Halbdeutsch war damals der Aspekt des Undeutschen ausschlaggebend, beim Ausdruck Kleindeutsch der des sozial Tieferstehenden. Beide meinten oft denselben Personenkreis. Eine Trennung der Sprechergruppen durch eine exakte Untersuchung der Substrat-Kennzeichen ließe sich durchaus durchführen; sie würde zeigen, daß es sich nicht um einen graduellen, sondern einen strukturellen Unterschied handelt 3 7 . Kiparsky betonte den Zusammenfall sprachlicher und sozialer Grenzen im Baltikum 3 8 ; er übersah aber dabei, daß dieser Eindruck nur aus der Sicht der Gebildeten bestand, die eine Differenzierung der Gruppe der Nicht-Gebildeten nach sprachlichen Kriterien nicht f ü r nötig hielt. Es lag nicht so sehr an der Änderung der Voraussetzungen, als vielmehr an der des Blickwinkels, wenn Masing und Redlich nach dem ersten Weltkrieg plötzlich den großen Anteil an Deutschen in niedrigeren Schichten betonten. In der zitierten Literatur wurde die Frage nach der Bedeutung der fremdsprachigen Einflüsse und der niederdeutschen Relikte immer wieder gekoppelt mit der Frage nach der Deutung der Unterschiede zwischen den S p r a c h s c h i c h t e n . Die Ansicht, daß die tiefere Schicht solche Einflüsse und Relikte besonders deutlich zeige, führte oft zu einer Wertung derselben Erscheinungen in der höheren Schicht. Nachdem es sich gezeigt hat, daß alle Äußerungen über 37

Vgl. dazu die Untersuchung von Lehiste.

38

Kiparsky, Fremdes S. 15.

Deutsche

Sprache im Baltikum

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das baltische Deutsch aus den verschiedenen Perioden nur aus den unterschiedlichen zeitbedingten Einstellungen zur Sprache und zur Gesellschaft heraus zu verstehen sind, stellt sich die Frage, ob diese Koppelung überhaupt berechtigt ist. Sie ergab sich aus dem ständigen Fragen nach der ursprünglichen H e r k u n f t bestimmter Erscheinungen. Unter sprachgeschichtlichen Gesichtspunkten ist ein solches Fragen natürlich berechtigt, zumal wenn jeweils sorgfältig geprüft wird, wann die Erscheinung zuerst aufgetreten ist und wie ihre Geltungsdauer war. Über die Rolle, die ein Wort, das vor mehreren Jahrhunderten entlehnt ist, spielt, ist aber damit noch nichts ausgesagt. Audi die herkömmliche Trennung von Lehn- und Fremdwörtern nach dem Maß der Anpassung an phonetische und morphologische Kategorien der Sprache kann hier nicht weiterführen. Beispielsweise kann die Verwendung desselben Wortes im Baltendeutsch der Gebildeten und im Kleindeutsch durchaus verschiedene Funktionen erfüllen. Entscheidend ist es, die Funktion zu untersuchen, die die Erscheinung im Bezugssystem der einzelnen Sprachschicht ausübt; erst dann können Erscheinungen miteinander verglichen werden. Erst wenn die verschiedenartigen, mit Einzelstellen ausgefüllten Bezugssysteme in ihrer Struktur sichtbar werden, können Sprachschichten miteinander verglichen werden, können Beeinflussungen zwischen Systemen erkannt und gedeutet werden. Die vorgenommene Sichtung der Literatur und die Unterscheidung verschiedener Perioden in der Entwicklung des Baltendeutsch kann eine umfassende D a r stellung nur vorbereiten. Es wird darauf ankommen, die vorhandenen Materialien derart zu ordnen, daß neben einer sprachgeschichtlichen Ubersicht synchrone Querschnitte ermöglicht werden, die über die Funktionen der Einzelerscheinungen in ihrer sozialen Bedingtheit ein klareres Bild verschaffen. Hierzu wird auch die angeführte Literatur, die durch ihre zeitgebundenen und subjektiven Urteile gekennzeichnet ist, gute Dienste leisten können.

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Alfred

Schönfeldt

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Deutsche Sprache im Baltikum

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auf

Wir ohne Vaterland. Beiträge zum Verständnis der baltischen Art. Charlottenburg o. J . (1915).

Register Absinken s. K u l t u r g u t A b s t r a k t a (Ober-, Unterschicht) 13, 19, 156, 164, 196, 312, 332, 347 Adel 33 ff., 38, 45, 291 f., 305, 445 f., 488 Agrarlandschaft 277, 323 f. Akademie s. Sprachakademie A k t i v i t ä t (einer Sprachschicht) 155 ff., 170 ff. Alemannisch 156, 187 ff., 195, 301, 472 ff., 495; s. Schweizerdeutsch, Schwäbisch Alltagssprache 345, 446, 480 Alterssprache 188, 260, 265 ff., 296, 309 altertümlich 274, 301, 306 Altnordisch 468, s. Nordisch Altpreußisch 291, 298 Altstamm 272, 283, 294, 299 Amerikanismen (im Deutschen) 529 f., 548, 551 ff., 555 f., 558; s. Englisch Amtssprache 15, 20, 22, 24, 47, 84, 94, 174 f., 190, 193, 199, 275, 311, 415 ff., 474 f., 508, 518; S.Bürokratie, Kanzlei-, Urkundensprache Analogieprinzip 90 f., 96 ff. analytischer Wortschatz (Oberschicht) 253 f.; vgl. synthetischer Wortschatz Anpassung 7 f., 42 Anschluß s. Sprachanschluß Ansehen s. Prestige Arbeiter 172, 256, 259, 264, 266, 268, 270, 277, 291, 322, 337, 427, 478 Arbeiterbauer 325 Arbeitssprache 318 Argot (franz.) 471, 473, 481, 486 Armeleuteessen 262 Ausgleich s. Sprachausgleich, -mischung Ausstrahlung s. Sprachausstrahlung A u t o m a t i o n (und Sprache) 339 Bairisch 168, 182 ff., 190 ff., 210, 431, 495 ff., 630 f. Baltendeutsch 284, 291 f., 307, 310, 660 ff. s. Halbdeutsch, Kleindeutsche

Bauernsprache passim Bergmannssprache 204, 256 f., 261, 296, 307, 371 f., 418, 447, 541, 545, 611, 650 Berlin 166 f., 251, 255, 262, 264, 267, 271 f., 275 f., 285 f., 288, 310 Berufssprache 155, 186, 202, 204, 260, 315 ff., 331, 415 ff.; s. Arbeiter, Arbeits-, Bauern-, Bergmanns-, Handwerker-, Kanzlei-, Seemannssprache Betriebssprache 345 Bevölkerungsstruktur 168 Bühnensprache 200 Bürgersprache 33 ff., 38, 154, 200 f., 248, 252, 255, 257, 282 ff., 289, 291 f., 294 f., 446, 488, 651, 655, 669; s. Stadt, G r o ß stadt Bürokratie 43 s. Amtssprache Dichtersprache 31, 35 f., 37, 46, 83 ff., 87, 255, 278 f., 282 ff., 288, 449, 488 f., 519, 542 ff., 566 f., 577, 586, 601 ff; s. G. H a u p t m a n n , F. Reuter, Literatursprache Dorf 5 f., 38, 128, 262, 274; s. Bauernsprache Eigenwortschatz 158, 160, 164 f., 268 Einheitssprache 88, 285 Einschluß 307 ff.; s. Sprachinsel Englisch 465 f., 470; 487 (Amerikanisch), 526 ff.; s. Amerikanismen E n t f r e m d u n g 347 Erinnerungswörter 512; s. veraltet Expansion 152, 564, 594 ff.; s. Sprachanschluß Fabriksprache 339; s. Industriegesellschaft Fachsprache 25 f., 92, 98 f., 138 ff., 145, 204, 207, 259 f., 287, 293 ff., 315 ff., 418, 473, 545, 550; bes. K a p . 3; s. Bauern-, Bergmanns-, Fischer-, Handwerkersprache, Rotwelsch Familiensprache 254, 266 ff., 469, 473, 655

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Register

Fischersprache 29, 36 f., 124, 138, 140, 204, 591, 599 f. Flämisch 33 ff.; s. Niederländisch Französisch 181, 445 ff. Frauensprache 256, 267 f. Fremdarbeiter 303 f., 447, 513, 524 Fremdenverkehr 196 f., 199 f., 267, 521 Fremdsprachunterricht 26 Fremdwort 100, 336, 445 ff., 502, 526 ff., 533 ff., 535 ff. Friesisch 117 f., 301 ff., 307 f.; s. Ostfriesland Gaunersprache 260; s. Rotwelsch Gebildete 87, 89, 114, 140, 197, 203, 256, 279, 321, 446, 486, 521, 524, 660 ff. Gebrauchsradius 256; s. Reichweite Gebrauchswert 158 Gegenwartssprache 27, 102, 326, 349 ff. Geheimsprache 179; s. Gaunersprache, Rotwelsch Gelehrtensprache 29, 83, 88; s. Wissenschaftssprache gelenkt s. Sprachlenkung Gemeinschaftssprache 330 Gemeinsprache 26, 50 f., 55 f., 63 f., 66, 92, 98 f., 112, 315 ff., 329 ff., 338 Generationen 265 ff., 269, 303, 307, 312; s. Alters-, Jugend-, Kindersprache Geschäftssprache 248 f., 255 ff., 285, 341, 474 Gesinde 256, 259, 265 Grenzbündel (Mundart-) 275, 295, 309 Grenzzone 475 ff., 479 ff., 565 ff., 574, 591, 598 f. Großbetrieb 159 Großgrundbesitzer (als Siedelunternehmer) 294, 296, 305, 309 Großstadt 154 f., 164 f., 178 (Jargon), 255, 257, 260, 267 f., 274 f., 321, 424; s. Berlin Großratsdeutsch 176 Grundschicht passim; s. Unterschicht Grundvokabularien 26 gruppenindividuell 259 Gruppenmehrwert 155 Gruppensprache 5 ff., 124, 155, 157, 164, 168, 171, 179, 259 (Primär-, Sekundär-) Gruppensprachen 6 Gossensprache 260

Halbdeutsch 292; s. Baltendeutsch Halbmundart 184 Halle 287 Hamburg 290, 295, 309 Handelssprache 156, 163, 257, 266, 274, 301, 321, 449, 451, 491 ff., 501 f., 507 ff. (Wanderkrämer), 515, 520 f., 524, 542, 547, 552, 620 ff., 633 f.; s. Marktwort Handwerker 40, 162, 195, 208, 258, 282 ff., 293, 300, 304, 332, 339, 341, 346, 517 (Maurer) Harz 307, 438 Häufigkeit des Wortgebrauchs 26 Hauptmann, Gerhart 281 Hausgemeinschaft 250; s. Familiensprache Hauswirtschaft 341 Heeressprache 447, 449, 451 f., 464, 473 f., 477, 491 f., 496 f., 520, 530, 539, 554 f., 560, 584, 605, 618, 637, 651 ff. Hemmstellen s. Sprachschranken Herrensprache 190, 200 Herkunftsgesellschaft 270 Hochsprache passim Hofratsdeutsch 200 Hofsprache 201, 208, 259 (Residenz), 287, 445 f., 582, 618, 638 Honoratiorenschwäbisch 182 Hörige 37 f., 308 Horste 273; s. Sprachhorste Hörwortschatz 312 Industriegesellschaft 86, 178, 193, 255 f., 266, 291, 295, 301, 315 ff., 321, 333, 449, 479, 554 f.; s. Arbeiter, Arbeits-, Betriebs-, Fabriksprache, Technik Information 321, 336 f., 339 Isolation (der Fachsprache), 333 ff., 337; 523 f. (der Hochsprache) Italienisch 488 ff. Jägersprache 190, 207, 286, 338 Jahn (Turnvater) 308 Jargon 178, 184, 201 Jugendsprache 251, 258, 263, 267, 271; s. Kindersprache Kantonratsdeutsch 178 Kanzleisprache 84, 174, 177, 179, 198, 284 f., 299; s. Amts-, Urkundensprache

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Register Kennwörter (landschaftliche) 173, 186 fi., 207, 210, 274, 276, 282, 297, 301, 358 f., 368 Kernlandschaft 41 (Namen), 150 f. Kindersprache 37, 68, 155, 163, 170, 188, 191, 198, 202, 208 fi., 256 ff., 261, 263, 266 ff., 276, 297, 306 ff. Kirche 33 f., 41, 45 ff., 187 ff., 197 f., 205 , 299, 363, 490; s. Konfession, Missionswörter Kleinbürger 280, 290 Kleindeutsche 292 f., 660 ff.; s. Baltendeutsch Kleinstaat 150; s. Territorium Kleinstadt 257 Kloster (als Siedelherrschaft) 252, 297, 301 Kommunikation 26 (Massen-), 318, 332, 337, 417, 561 ff. Konfession 35, 46 f., 262, 300 ff., 539, 565, 569, 579 ff., 585, 593, 599, 601, 631; s. Kirche konservativ 164, 167 f., 188, 201, 204 ff., 209, 259, 274, 296, 323, 369; s. Spracherhaltung Küchenwörter 274, 468, 497 f., 506, 513, 515, 522, 524, 547, 640 ff., 653 f. Kulturgeographie 322, 354 Kulturgut, gesunkenes ( = Absinken) 31, 42 f., 48, 162, 264, 485, 496, 501, 509 f., 516 Kulturraum 28, 41, 44, 48, 64, 194, 264 Kultursprache 18, 116 f., 119 f., 123, 125, 127, 131, 188, 445, 465 f., 478 Kulturwörter 18, 188 Kunst 519, 521 Kunstsprache 84, 89, (Musik:) 550 f., 553 Land (: Stadt) 153, 155, 157 f., 162 f., 176, 179 f., 321, 478 Landwirtschaft 37, 317, 322, 591, 634, 668; s. Bauernsprache Lateinkultur 18 Lehnwort 64, 166, 179, 182, 187, 262 f., 291 ff., 557 (Luxus-, Bedürfnislehnwort); bes. Kap. 4 Leibniz 288, 418, 545 Leipzig 255, 257, 274, 280, 286 Lesersprache 200 Lexikographie passim, bes. Kap. 1 Lexikologie passim, bes. Kap. 1 Literatursprache 5, 83 ff., 86 ff., 94 ff., 102, 162 f., 284, 542 f., 548 f., 558

(Übersetzungen, auch 587, 604); s. Dichtersprache Luther 51, 85, 94, 174, 248 f., 539 Lübeck 383 f. Luxemburg 475 Magdeburg 287 Männersprache 267, 306 Marktwort 156, 186, 192, 202 f., 250, 266, 274, 300, 311, 479, 516; s. Handelssprache Mattenenglisch 178 Mehrsprachigkeit 332; s. Zweisprachigkeit Mehrwert 31 (Namen), 157 f., 165, 302, 514; s. Wertung Mengenproblem in der Lexikographie 27 Mischgebiete (Namen) 41 Missingsch 289 Missionswörter 166, 187, 299 f., 537 f., 631 ff. Mittelschicht 165, 179, 184, 251, 258, 280, 286, 292, 322 Modellsprache 348 Modewörter 30, 35 f., 44 f., 495, 581 f., 666

München 200 ff. Mundart passim Mundartpflege 277 Namenlandschaft 28 ff., 32, 34, 36, 39 f., 42, 45 ff. Namenmoden 30, 44 f. Namensoziologie 27 ff., 39, 42 Neustamm 283 Neuwörter 110 f., 529 Niederdeutsch 38 f., 64, 69, 76, 144 ff., 159, 167, 641 f. Niederländisch, einschl. Flämisch, 26 ff., 33 ff., 115 ff., 276, 285 f., 294 f., 300 ff., 309 f., 471, 477, 490, 539 f., 550, 561 ff. niedrige Sprache 112, 114 (niedrigkomisch), 473 Nordisch 607 ff. Normalwortschatz 49, 57, 64 Obersächsisch 85, 113 ff., 166, 190 f., 248 ff., 278, 280, 307, 438 Oberschicht passim ordinär 251; s. pöbelhaft Ostbewegung (der Sprache) 286, 294, 298 Österreich 163, 167, 185 ff., 190, 275, 431 f., 474, 491, 497, 517, 654

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Register

Ostfriesland 26, 302, 307, 595, 600 Ostmitteldeutsch 161, 167, 248 ff., 283 Ostpreußen 167, 248 ff., 277, 289, 298 Passivität (einer Sprachschicht) 155 ff., 510 (Mundarten), 523 Patrizierdeutsch 179, 284 pöbelhaft 111, 288, 292, 666 ff.; s. ordinär politisch 20, 32, 43 f., 120, 127, 259, 329, 371, 450, 522, 544, 547 f., 553 f., 563; s. Sprachlenkung Posen 248 P r a g 197, 200 f. Predigtsprache 174, 447, 581 Prestige 7 f., 274, 557, 560; s. vornehm Primärgruppe 171 Privatleben 286 ff., 311; s. Familien-, Kindersprache, Generationen Provinzialismen 111 f., 288, 666 f. Puffergebiet 157, 167 ff. Purismus 91, 199, 448, 464, 525 ff., 551 ff. Randgebiete (b. N a m e n ) 41; s. Grenzzone Rationalisierung (des Sprechens) 18 Rätoromanisch 480, 505 Rechtschreibung 100 f. Rechtssprache 189, 198, 282 ff., 311, 349 ff. (Rechtssprachgeographie), 355 f. (Rechtssprachlandschaft), 360 (Stammesrecht), 418, 432, 477, 489, 507 f. (bäuerlich), 539, 592, 609, 622 Regionalsprache 169, 174, 321, 473, 478 ff., 486; s. überregional Reichweite 261, 279, 514; s. Wortradius Reliktlandschaft 30, 152 f., 156 f., 166 ff., 169, 188 Reliktwörter 188, 208, 256, 264 f., 273 f., 279, 283, 299, 301 ff., 305 ff. Repräsentation 371 ff., 394 ff., 400 Reuter, Fritz 289 Rostock 287 ff. Rotwelsch 36, 138, 141, 179, 260, 656 ff. s. Gaunersprache Rückzugsgebiet s. Reliktlandschaft Ruhrgebiet 188 Saisonarbeiter s. Fremdarbeiter Schiffersprache s. Seemannssprache Schlesisch 113 ff., 190 f., 248 ff., 260, 276 ff., 281, 298, 307 Schleswig 305 f.

Schriftsprache passim Schule 6, 62 f., 69, 84, 152 (Volksschullehrer), 176, 197 ff., 200, 250, 268, 270 f., 283 (Schüler-). 307 f., 599, 668 f. Schutzlage 185, 255 Schwäbisch 157, 182 ff., 186, 189, 194, 307, 415 f.; s. Honoratiorenschwäbisch Schweizerdeutsch 173 ff., 188, 447, 473 f. 498, 505, 515; s. Großrats-, Kantonratsdeutsch Seemannssprache (Schiffersprache) 266, 317, 331, 394 f., 490 f., 539, 594 ff., 600, 612 Sekundärgruppe 171, 184 Siedelbahn 250, 261, 269, 286, 294 ff., 308 ff. Siedelherrschaft 297 f. Siedlereinschluß 308; s. Sprachinsel Siedlungseinschnitt 273 Siedlungsgemeinschaft 30, 38, 43 f. Siedlungsunternehmer 273; s. G r o ß g r u n d besitzer Skandinavisch 497, 530, 607 ff. Slawisch 624 ff., 646 ff. Sozialdialekt 87 Sozialprestige s. Prestige Spielgemeinschaft 269, 271, 511; s. Sportsprache Sondersprache 326 ff.; s. Gaunersprache, Rotwelsch Soziallinguistik 323 Spezialwortschatz 315 ff., 332; s. Fachsprache Sportsprache 258, 502 (Alpinismus), 547 f. Spott (nachbarliche M u n d a r t ) 195, 254 Sprachakademie 85, 92 ff., 140 f. Sprachanschluß 299 ff.; s. Expansion Sprachausgleich 3, 256 f., 306 f., 560; s. Sprachmischung Sprachbedarf (der Gegenwart) 342 Sprachbereicherung 82,103, 589, 602 f., 605 Sprachbewegung 41, 154, 300; s. Ostbewegung Sprachbiologie 188 Sprachbrauch 99; s. Sprachgebrauch, üblich Sprachdynamik 154 Sprachenkampf 284 ff., 305 ff., 355 Spracherhaltung 317, 339; s. konservativ, Sprachtradition Spracherziehung 26, 523 Sprachgebrauch 80, 85, 96, 98, 101 f.; s. Sprachbrauch, üblich

Register Sprachgemeinschaft 5, 171, 282, 306, 317; s. Sprechgemeinschaft Sprachgesellschaften 85 ff., 91 ff. Sprachgrenze 251, 296, 447, 478, 479 (Grenzwörter), 480 f., 501, 562 Sprachhorste 273, 294 f., 297 f. Sprachinsel 167, 177, 185, 191 ff., 209 f., 307, 321, 438 Sprachkritik 12, 18, 20, 24, 82, 103 Sprachlenkung 43 f., 90, 92, 563 Sprachmischung 201, 305 ff., 389 f.; s. Sprachausgleich Sprachneuerungen 274 Sprachnorm 80 ff., 86 ff., 96, 100, 103 ff., 111, 120, 248, 318 f., 326, 332 ff., 342, 453, 469, 673 f. Sprachökonomie 12 f., 20, 24, 403, 413 ff., 559 Sprachpädagogik s. Spracherziehung Sprachpflege 88, 97, 289 f., 659 Sprachraum 275, 323, 590 Sprachrealität 96; s. Sprachwirklichkeit Sprachreinigung s. Purismus Sprachrichtigkeit 84, 89, 91, 96, 101, 111, 113, 318 f., 335 (sprachgerecht), 661 ff. Sprachschichten 103, 248 ff., 287, 322 f. Sprachschranken 311; s. Hemmstellen Sprachsonderbewußtsein 157 Sprachsoziologie passim Sprachstatistik 290 Sprachstrahlung 28, 41 f., 44, 154, 189, 191, 250, 257 f.; Namen: 28 f., 42, 44 Sprachströmung 28, 300, 303; Namen 28 f. Sprachstruktur 4, 5, 7, 16 f., 23, 25 ff., 41 f. 89, 124, 341 Sprachstufen 267, 325 Sprachteilhaber 11 f., 17, 26, 394 f., 417 Sprachtopographie 28 ff., 42 ff. Sprachtradition 329, 340, 348, 406 f.; s. konservativ Sprachverhalten 8, 170 Sprachverwandtschaft 367 f. Sprachwidrigkeit 20, 24 Sprachwirklichkeit 332, 334 f., 337; s. Sprachrealität Sprachzucht 284 Sprachwandel 4, 340 Sprachwille 259 Sprechsprache 4, 91, 99, 255, 335, 343, 345 f.; s. Schriftsprache

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Sprechumbruch 257 Sprechgemeinschaft 12, 171, 250, 260 Sprechgruppe 168, 260 Staat 185, 189 f., 195, 296, 311, 350 ff., 449, 518 (Staatsgrenze); s. Sprachlenkung, Kleinstaat Stadt (: Land), 8, 31, 33, 38 ff., 41 ff., 113, 125, 142, 153, 155, 157, 164 ff., 172, 186 ff., 191 f., 196 f., 200 f., 203 f., 250 ff., 275, 285, 321, 329, 364, 478; s. Bürger-, Kanzleisprache, Großstadt Stammesbewußtsein 150, 173, 286, 310 f., 360 Stammesgrenze 272, 295 f. Stammesrecht 360 Stammheimat 261 f., 273 f., 296; s. Urheimat Standessprache 180, 331, 491 Strahlungszentrum 180; s. Kernlandschaft Studentensprache 202, 331, 584 synthetischer Wortschatz (Unterschicht), 253 f.; s. analytischer Wortschatz Tabu 252 f. Technik 192, 204 f., 255, 259, 315 ff., 337, 340, 553 f.; s. Industriegesellschaft Territorium 150, 275, 298 f., 353 ff.; s. Staat, Stadt Tirol 194 f., 210, 495 ff. Tochtersiedlung 295 Tradition s. Sprachtradition Übergangslandschaft 150 überindividuell 182 überregional 164, 166, 180, 522; s. Regionalsprache üblich 6, 89 (zeitüblich), 112, 142, 345 (orts-, zeitüblich); s. Sprachgebrauch Umgangssprache passim Ungarisch 307, 497, 644 ff. Unterschicht passim Urkundensprache 5, 28, 37, 47, 62, 71 ff., 145, 284; s. Kanzleisprache Urheimat 189, 209, 306; s. Stammheimat veraltet 20, 111, 265, 324 Vergesellschaftung 170 f. Verhandlungsdeutsch 174 Verkaufssprache 333 Verkehrsgrenzen s. Hemmstellen Verkehrssprache 156, 192, 195 ff., 198, 200, 207 f., 257, 304 f., 474

684

Register

Verkehrsgemeinschaft 28, 41, 44 (Namenlandschaft) Verkehrswert der Sprache 473 Versammlungsdeutsch 174 Verstädterung 321 Verwaltungsbezirk 195; s. politisch, Staat, Stadt, Territorium Verwaltungsdeutsch 18, 174, 477 Volkskunde 206, 262 ff. Volksvertretung 378 Vollständigkeit der Wörterbücher 27 vornehm 468 f., 473, 485, 498, 518, 520 Vortragssprache 201 Vulgärsprache 260, 319, 344 (vulgäre Fachsprache = fachliche Umgangssprache), 463, 670 f.; s. pöbelhaft

Wirtschaft 204 f., 320 f., 529, 542, 553; s. Bauern-, Handwerker-, Industriesprache, Landwirtschaft Wissenschaftssprache 90, 206, 315 ff., 319, 325, 332 f., 344, 466, 469 f., 487, 525, 541 ff., 550, 584; s. Gelehrtensprache Wortarmut 49, 158 Wortradius 261; s. Reichweite Worträume passim, bes. Kap. 2 Wortreichtum 49, 158 Wortschichten passim, bes. Kap. 2 Wortschöpfung 110 f., 261, 266, 269 ff., 288, 297, 363, 425 ff., 434 Wortsoziologie 10 ff., 29, 173, 188 Wortumsatz 255, 260 Wortverschleiß 356, 369

Weinbau 504 f., 510, 514, 628 f. Wertung (soziologisch) 7, 15, 20, 193, 197, 318, 409 f., 514, 557; s. Mehrwert, Prestige Westmitteldeutsch 159 Wien 186 ff., 191, 193, 196 f., 257, 497, 521, 653

Zeitungssprache 526, 548, 559 Zugewanderte 258, 259, 268, 531, 584, 615 f. Zweisprachigkeit 6 ff., 157, 176, 180ff., 260, 304, 446, 475, 478, 482 (Zwischenheimat), 608, 656 Zwischenschicht 183 f.

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