Epirrhosis: Festgabe für Carl Schmitt (zum 80. Geburtstag) [2 ed.] 9783428508471, 9783428108473

»Symptomatisch für die Vielseitigkeit Carl Schmitts, des großen Vertreters des ius publicum Europaeum, ist die Vielfalt

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Epirrhosis: Festgabe für Carl Schmitt (zum 80. Geburtstag) [2 ed.]
 9783428508471, 9783428108473

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Epirrhosis Festgabe für Carl Schmitt

Epirrhosis Festgabe für Carl Schmitt

Herausgegeben von Hans Barion, Ernst-Wolfgang Böckenförde Ernst Forsthoff, Werner Weber

Zweite Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

Die erste Auflage erschien in zwei Teilbänden mit folgendem Hinweis: „Diese Festschrift erscheint wegen der großen Anzahl der Beiträge in zwei Teilbänden. Der zweite Teilband enthält die Beiträge der Autoren, die nach 1945 in eine wissenschaftliche oder persönliche Beziehung zu Carl Schmitt getreten sind/ 4

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Epirrhosis : Festgabe für Carl Schmitt / Hrsg.: Hans Barion . . . - 2. Aufl. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 ISBN 3-428-10847-7

1. Auflage 1968 (2 Bände) 2. Auflage 2002 (1 Band) Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-10847-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

CARL SCHMITT 11. Juli 1888

11. Juli 1968

Tho' much is taken , much abides ; and tho ' We are not now that strength which in old days Moved earth and heaven; that which we are , we are: One equal temper of heroic hearts , Made weak by time and fate, but strong in will To strive , to seek , to find and not to yield.

Tennyson

Inhalt Betrachtungen zum Zusammenbruch der japanischen Meiji-Verfassung Von Professor Dr. Teruya Abe, Hirakata-City „Weltgeschichtliche Machtform"? Eine Studie zur Politischen Theologie des II. Vatikanischen Konzils Von Professor Hans Barion, Bonn

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Wechselwirkungen zwischen deutschem und italienischem Zivilrecht Von Professor Dr. Emilio Betti f, Rom

Über Güte und Schlechtigkeit des Menschen in der Lehre von Staat und Gesellschaft Von Professor Dr. Carl Brinkmann f, Tübingen

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Die demokratische Öffnung im neuen Organisationsgesetz des Staates Von Professor Dr. José Caamano Martinez , Santiago de Compostela

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Das heutige Völkerrecht und seine Grenzen Von Professor Dr. Luis Cabrai de Moncada, Coimbra

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Chateaubriand und der soziologische Ästhetizismus Tocquevilles Von Luis Diez del Corral , Madrid

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Theoderich und Clodwig. Ein Brief an Carl Schmitt Von Professor Dr. Walter Elze, Freiburg

153

Die politische Theologie Louis-Claude de Saint-Martin's Von Oberstudiendirektor i. R. Dr. habil. Karl Epting, Heilbronn

161

Zur heutigen Situation einer Verfassungslehre Von Professor Dr. Ernst Forsthoff\ Heidelberg

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Die Idee der „auctoritas": Genesis und Entwicklung Von Dr. Jesùs Fueyo, Direktor des Instituto de Estudios Politicos, Madrid 213 Die politische Funktion der Streitkräfte Von Professor Dr. Luis Garcia- Arias, Zaragoza

237

Fünfzig Jahre Rundfunkfreiheit und die Normstruktur der neuen FernsehBetriebe Von Professor Dr. Carl Haensel f, Tübingen

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Inhalt

vm

Benito Cereno - Ein moderner Mythos Von Dr. Sava Klickovic,

Belgrad

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Ideologie und Staat Von Professor Dr. Luis Legaz-Lacambra, Madrid

275

Die innerstaatliche Sicherung des äußeren Friedens durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Von Professor Dr. Theodor Maunz, München

285

Über Volkssouveränität Von Professor Dr. Yoshto Onishi, Kyoto

301

Das römische Gesetz als Akt des Magistrats Von Professor Dr. Alvaro d'Ors, Pamplona

313

Ordnung, nicht Chaos Von Karl Anton Prinz Rohan, Salzburg

Anton Bruckners Motette „Os justi". Eine Erwägung zur Problematik der kirchenmusikalischen Restauration im 19. Jahrhundert Von Professor Dr. Arnold Schmitz, Mainz

325

333

Benito Cereno oder der Mythos Europas Von Professor Dr. Enrique Tiemo Galvan, Princeton/New Jersey

345

Johnson, de Gaulle und die augenblickliche Krise der NATO Von Professor Dr. Camilo Barcia Trelles, Santiago de Compostela

357

Unveröffentlichte Depeschen von Donoso Cortés, Botschafter in Berlin Von Professor Dr. Carlos Valverde, S. I., Comillas (Santander), Spanien ... 375 Der Feind und der Friede Von Dr. Rüdiger Altmann, Bonn

413

Die Teilung Deutschlands und die deutsche Staatsangehörigkeit Von Prof. Dr. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Heidelberg Die Häresie Von Prof. Dr. Julien Freund, Strasbourg Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis Von Prof. Dr. Karlfried Gründer, Münster

423 465 495

Europäisches Großraumdenken - Die Steigerung geschichtlicher Größen als Rechtsproblem Von Prof. Dr. Joseph H. Kaiser, Freiburg/Br.

529

Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit Von Prof. Dr. Reinhart Koselleck, Heidelberg

549

Dezisionismus in der Moral-Theorie Kants

Inhalt Von Prof. Dr. Hermann Lübbe, Bochum

IX 567

Der Weg der „Technokratie" von Amerika nach Frankreich Von Dr. Armin Möhler, München

579

Die Eigenständigkeit der plenitudo potestatis in den spanischen Königreichen des Mittelalters Von Prof. Dr. Alfonso Otero, Santiago de Compostela 597 Anmerkungen zu einer Theologie der Revolution Von Prof. Dr. Günter Rohrmoser, Münster

617

Revolution und Utopie - Die Gestalt der Zukunft im Denken der russischen revolutionären Intelligenz Von Prof. Dr. Peter Scheibert, Marburg

633

Vom Geistesgrund und der Feindschaft im „Begriff des Politischen" bei Carl Schmitt Von Prof. Dr. Hermann Wilhelm Schmidt, München

651

Enemy oder Foe: Der Konflikt der modernen Politik Von Dr. George Schwab, New York

665

Praktische Gewißheit - Descartes' provisorische Moral Von Prof. Dr. Robert Spaemann, Stuttgart

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Über Polignacs „Antilucretius" Von Prof. Dr. Rainer Specht, Mannheim

697

Über Carl Schmitts „Theorie des Partisanen" Von Dr. Piet Tommissen, Grimbergen

„Justitia" - ein Gedicht von Konrad Weiss Von Prof. Dr. Walter Warnach, Köln

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Ergänzungsliste zur Carl Schmitt-Bibliographie vom Jahre 1959 Von Dr. Piet Tommissen, Grimbergen

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Betrachtungen z u m Zusammenbruch der japanischen Meiji-Verfassung Von Teruya Abe, Hirakata-City I. Die japanische Verfassung vom 3. November 1946 hat i n Art. 9 auf den Krieg als M i t t e l zur Beilegung von Streitigkeiten mit anderen Staaten und die Erhaltung allen Kriegspotentials verzichtet. Damit sollte der unglückliche Dualismus von Staatsführung und Heeresleitung endgültig beseitigt werden. Der bürgerliche Konstitutionalismus hat i n dieser Verfassung sein von allen militärischen Elementen gereinigtes System gefunden. Während der Beratung der Verfassungsänderung i m Oberhaus wurde die sog. Zivilklausel auf Wunsch der Alliierten Staaten hinzugefügt, wonach der Ministerpräsident und die übrigen Staatsminister Zivilisten sein müssen. Diese Bestimmung ist auch die bewußte Antwort auf die Vorherrschaft des Militärs über die Regierung unter der alten Reichsverfassung, eine Antwort auf eine von der Wirklichkeit nicht mehr gestellte Frage. Es ist aber eine bekannte Tatsache, daß Japan trotz Art. 9 eine Wiederaufrüstung gefördert hat und zur Zeit i n Asien, abgesehen von Rotchina, über die stärksten Streitkräfte verfügt. So hat sich unwiderlegbar die Überzeugung durchgesetzt, daß der von der Verfassung diktierte Friedensplan von der völlig waffenlosen Demokratie eine utopische Konzeption war. Die Aufrüstung ist jedoch i n der breiten Masse der Bevölkerung immer unpopulär. Ihr steht das eingewurzelte Mißtrauen und die psychologische Abneigung weiter Teile des Volkes gegen jede A r t von Bewaffnung entgegen. Es ist für die Regierung nicht leicht, die militärischen Verpflichtungen durch den japanisch-amerikanischen Sicherheitspakt mit den verfassungsmäßigen Beschränkungen i n Einklang zu bringen. Auch i m Volksgefühl sind die Abneigung gegen die Wiederaufrüstung und das Überlegenheitsgefühl gegenüber den Militärs untrennbar verbunden. Das ist für die Soldaten von psychologischer Bedeutung und läßt leicht ein Gefühl von Zweitrangigkeit entstehen. Ein sozialistischer Abgeordneter hat i m Februar 1965 in der Fragestunde des Haushaltsausschusses des Unterhauses eine Operationsplanung an den Tag gebracht, welche die Konferenz der Vereinigten Ge1 Festschrift f ü r C a r l S c h m i t t

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Teruya Abe

neralstäbe i m Juni 1963 bearbeitet hatte. Unter Voraussetzung eines Angriffes von Nordkorea auf Südkorea wurden darin einzelne militärische Operationen ausgearbeitet, nach denen die japanischen Streitkräfte in Zusammenwirkung mit den amerikanischen eingesetzt werden sollten. Sodann wurde eine Reihe von gesetzgeberischen Vorkehrungen aufgezählt, die innerstaatlich für die Mobilisierung der Wehrkraft getroffen werden sollten. Für die Sozialisten war dieser Entwurf ein Staatsstreichplan gegen die zivile Regierung. Auch die Öffentlichkeit war darüber nicht minder aufgebracht. Die Regierung hat sich ausdrücklich davon distanziert, aber betont, daß dieser Plan nur auf dem grünen Tisch geblieben ist. Der Ministerpräsident hat zugestanden, daß die Militärs in Uniform von der Vorbereitung der Gesetzgebung wie der gesamten nationalen Mobilmachung Abstand nehmen sollten. Das Mißtrauen und die Überempfindlichkeit der Bevölkerung i n militärischen Fragen wurzeln tief i n den Erfahrungen der Vergangenheit. So dauern die Nachwirkungen eines offenen oder latenten Konflikts zwischen Militär und Parlament unter der Meiji-Verfassung noch an, obwohl es bisher den neuen Selbstverteidigungskräften gelungen ist, eine parteipolitisch neutrale Gewalt zu bilden und durch das kritische Stadium einer pluralistischen Massendemokratie hindurch fortzubestehen. Die Problemlage kann nur verstanden werden, wenn man sich die bisherige Situation unter der alten Reichsverfassung und die ihr zugrunde liegenden politischen Gedanken vor Augen führt. I m folgenden werden das Staatsgefüge unter der Meiji-Verfassung und seine Wandlung bis zum Zusammenbruch, vor allem hinsichtlich des Verhältnisses von Militär und Regierung, behandelt. Den Konflikt von soldatischem Staat und bürgerlichem Rechtsstaat in der deutschen konstitutionellen Monarchie hat Carl Schmitt meisterhaft dargestellt (Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches). Wenn w i r auf die Entwicklung unseres alten Konstitutionalismus zurückschauen, drängen sich i n der Kernsituation beider Länder viele Parallelen auf, wenn auch einzelne Verschiedenheiten unverkennbar sind. II. Die 1868 einsetzende Meiji-Restauration hat Japan viele Erneuerungen gebracht. Sie knüpfte an die alten japanischen Traditionen an und versuchte, die Ideen des westlichen Konstitutionalismus mit ihnen zu verbinden. öffentliche Kundgebungen der vielen Vereinigungen und keimenden Parteien verlangten die Einberufung einer Volksvertretung. Fürst Ito, Vater der Verfassung, hat es für zweckmäßig gehalten, die neue Verfassung nach deutschem Vorbilde einzuführen. Er übernahm von dem westlichen Konstitutionalismus die Betonung der bürgerlichen Freiheit

Betrachtungen zum Zusammenbruch der japanischen Meiji-Verfassung

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und bekannte sich gleichzeitig zu dem traditionellen Ideengut Japans. Die Reichsverfassung vom 11. Februar 1889 war vom Kaiser verliehen worden. Sie stellte daher eine Selbstbeschränkung und Kontrollierung der durch die Restauration gewonnenen Macht des Kaisers dar. Die Souveränität des Staates lag beim Kaiser. Ihn beraten viele verfassungsrechtliche und außerverfassungsrechtliche Organe: die Staatsminister berieten den Kaiser und waren dafür verantwortlich. Nach herrschender Meinung waren die Minister direkt dem Kaiser, nicht dem Parlament verantwortlich. Obwohl die Verfassung nicht eine Reichsregierung vorsah, setzte sich der Gedanke einer Kollektivverantwortung durch. Der Ministerpräsident war i m wesentlichen primus inter pares. Der Reichstag bestand aus zwei Kammern, einer Deputiertenkammer (Unterhaus) und einer Pairskammer (Oberhaus). Zwischen beiden Kammern bestand keinerlei Rangordnung. Die Macht des Oberhauses, das den demokratischen Mächten des Unterhauses gegenübergestellt wurde, wurde während der ganzen Zeit der Meiji-Verfassung nie vermindert. Es konnte sogar die Regierung stürzen und sie selbst bilden. Nach Art. 56 der Verfassung wurde ein Geheimer Staatsrat eingerichtet, der gemäß den Bestimmungen der kaiserlichen Verordnung vom 8. Oktober 1890 aus einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten und 24 M i t gliedern zusammengesetzt war. Die Minister waren nicht Mitglieder, hatten jedoch in den Vollsitzungen Sitz und Stimme. Seine Aufgabe war es, auf Verlangen des Kaisers über Änderung der Verfassung und der Verwaltungsorganisation, Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge, kaiserliche Notverordnungen und andere wichtige Staatsangelegenheiten zu beraten. Er sollte eigentlich Hüter der Verfassung sein. Die Ablehnung der Vorlage einer kaiserlichen Verordnung durch den Staatsrat führte i m Jahr 1927 unmittelbar den Rücktritt der Regierung herbei. Bei dem Streit um die Formulierung „ i m Namen ihrer betreffenden Völker" i m Kellog-Pakt von 1928 setzte auch der Staatsrat seine Meinung durch. Genro, Alte Staatsmänner, waren die wichtigsten Ratgeber des Kaisers, die außerverfassungsrechtlich herausgebildet wurden. Sie hießen Ito, Inonue, Yamagata, Katsura, Saionji, Matsukata, die alle bei der Erneuerung von M e i j i große Dienste geleistet hatten und lange die Richtung der Politik bestimmten. Besonders oblag ihnen die Empfehlung des Ministerpräsidenten. Seit 1924 war Saionji der einzige Genro. Er starb 1940. I n den 30er Jahren ist eine Gruppe von Staatsmännern, die aus ehemaligen Ministerpräsidenten, Präsidenten des Staatsrates und Hofministern bestand, an die Stelle des aussterbenden Genros getreten. Die Hofangelegenheiten wurden von der politischen Beratung durch die Regierung getrennt und von dem Hofminister gepflegt, der kein Mitglied der Regierung war. 1*

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Nach Art. 11 der Verfassung stand die Kommandogewalt dem Kaiser zu. Es ging damals nicht an, daß diesem A r t i k e l die Deutung beigelegt werde, daß diese Gewalt vom Kaiser unabhängig von der Regierung ausgeübt werden sollte. Wichtig war die Zusammenfassung der politischen und militärischen Gewalt i n der Person des Kaisers. Ebenso bestimmte A r t . 12: „Der Kaiser bestimmt die Organisation und die Friedenspräsenzstärke des Heeres und der Flotte." Schon 1878 hatte ein Generalstabsstatut die Heeresleitung von den durch den Regierungschef zu deckenden Akten der Regierung unterschieden. Und nach dem Inkrafttreten der Verfassung wurde die Unabhängigkeit der Kommandogewalt als gewohnheitsmäßig bestehend angesehen. Für das Heer gab der Chef des Generalstabs und für die Marine der Marineminister, später der Chef des Admiralstabs, dem Kaiser unmittelbar Bericht, der den Oberbefehl über Heer und Flotte führte. Die aus der Kommandogewalt über das Heer fließenden Verordnungen des Kaisers bedurften deshalb zu ihrer Gültigkeit nicht der sonst gemäß Art. 55 vorgeschriebenen Gegenzeichnung eines M i nisters. Diese verfassungsrechtlichen und außerverfassungsrechtlichen Organe waren i n sich zusammenhanglos und hatten keine organisatorische Verbindung untereinander. Der Kaiser war Inhaber des Herrscherrechts und sollte zugleich dieses selbst ausüben. Aus dieser Stellung des Kaisers ergibt sich die auch von Ito (Kommentar zur Reichsverfassung, S. 7, 97) betonte Folgerung, daß die Verfassung den Grundsatz der Gewaltenteilung nicht kennt. Der Kaiser war die Quelle aller Staatsgewalt und aller Gerechtigkeit. Er hatte das Recht, Kriege zu erklären und Verträge zu schließen, und hätte kraft kaiserlicher Verordnung auch ohne den Reichstag regieren können. Wenn die Verfassung i n Art. 71 bestimmte, daß die Regierung das Budget des vorigen Jahres beibehalten konnte, soweit ein Budget nicht zustande kam, so war das die hiesige Antwort auf die Frage des preußischen Verfassungskonflikts von 1862 bis 1866. Der Kaiser war auch Träger der höchsten, religiös unterbauten Autorität. Der Shintoismus, der die dynastische Kontinuität und die göttliche Abstammung des Kaisers predigte, wurde gegenüber anderen Religionen gesetzlich bevorzugt. Der Feudalismus von sieben Jahrhunderten hatte im japanischen Volk die Neigung zur unbesehenen Annahme einer überlieferten göttlichen Autorität des Kaisers hinterlassen. Die blinde Treue und absolute Ergebenheit gegenüber dem Kaiser waren als Geist der Untertanen die obersten Tugenden, die von der Regierung erzieherisch gepflegt wurden. I n diesem Sinne war Japan kein neutraler Staat. Die Machtstruktur der Meiji-Verfassung war keine rein theoretische Konstruktion, sondern sie hat versucht, geschichtlich gewordene Machtverhältnisse in ein festes gesetzliches Gefüge zu bringen. Dabei war

Betrachtungen zum Zusammenbruch der japanischen Meiji-Verfassung

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unverkennbar das monarchische Prinzip der demokratischen Legitimität übergeordnet, obwohl das Verhältnis i n der Praxis sich vielfach umwandelte. III. M i t dem Inkrafttreten der Verfassung begann die Gegenüberstellung von Regierung und Parlament. Das Parlament wurde vom Kaiser einberufen, eröffnet, vertagt und aufgelöst. Es war nichts anderes als ein mitwirkender Faktor bei der Gesetzgebung. I h m war ein unmittelbarer Einfluß auf die Führung der Staatsgeschäfte versagt, und die wichtigsten Entscheidungen des Staatswillens wurden außerhalb des Parlaments getroffen. Die als Nachahmungen britischer Vorbilder entstandenen Parteien haben dagegen von Anfang an die parlamentarische Regierungsweise angestrebt. Auf den Antrag des Mißtrauensvotums oder der Herabsetzung des Militärbudgets antwortete die Regierung mit einer Auflösung des Unterhauses oder einem kaiserlichen Wort der Versöhnung. M i t der Zeit wurde die Obrigkeit, welche auf ihrer Seite von den provinziellen Cliquen beherrscht wurde, zum Kompromiß mit den Parteien gezwungen. Damit entstand i m Juni 1898 zum ersten Mal eine Parteienregierung. Nach vier Monaten restaurierte sich die überparteiische Regierung. Alte Staatsmänner waren, außer Ito und Saionji, den politischen Parteien feindselig gesonnen. Besonders Yamagata wollte den militärischen Angelegenheiten eine unbefugte Einmischung von parlamentarischen Faktoren grundsätzlich fernhalten. Die unter seiner Regierung entstandene Anordnung von 1900, daß die Inhaber der Stellen des Kriegs- und Marineministers aktive Generäle bzw. Admirale sein müßten, diente der Unabhängigkeit der Kommandogewalt und schützte die Minister vor dem Einfluß der politischen Parteien. Dadurch war auch die Wehrmacht jederzeit in der Lage, die Bildung der ihr unerwünschten Parteienregierung zu verhindern, und damit wurde schon die eigenständige Stellung der Militärs als selbständiger politischer Faktor gesichert. Die Epoche des Taisho, die 1912 begann, wurde eine Zeit der Demokratie mit dem Zurücktreten der kaiserlichen Macht. Es wurde energisch der britischen Version der parlamentarischen Regierung nachgestrebt. Aber vor ihrer Verwirklichung traten Konflikte von Militär und Z i v i l auf, und dann folgte eine Reihe von Zwischenregierungen. I m Dezember 1912 hat der Kriegsminister, dessen Plan zur Vermehrung der Heeresdivisionen im Kabinettsrat abgelehnt wurde, dem Kaiser seine Demission überreicht und die Regierung verklagt. Als es klar wurde, daß Yamagata, Vater der Landstreitkräfte, keinen Nachfolger des Kriegs-

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ministers empfehlen würde, mußte die Regierung zurücktreten. Man sagte „Streik der Landstreitkräfte". Das hat aber die breite Volksbewegung für die konstitutionelle Regierungsweise veranlaßt. Durch die Änderung der Militärorganisation von 1913 konnten nun Generäle oder Admirale außer Dienst zum Kriegs- oder Marineminister berufen werden. Militärminister waren zwar seitdem i n der Praxis immer Aktive, keine Regierung wurde aber wegen der Verhinderung des Militärs zum Rücktritt gezwungen. Das Militär verlor sein Veto. Die Stellung des Reichstags als politischer Faktor wurde immer stärker. Erst i m Jahre 1918 wurde eine Regierung von der Mehrheitspartei gebildet. Damit war die Epoche der parlamentarischen Regierungsweise i n Japan m i t Unterbrechungen angebrochen, obwohl die Verfassungskonstruktion des kaiserlichen Semi-Absolutismus rechtlich nicht angefochtet werden durfte. Auch das System der parlamentarischen Vizeminister wurde eingeführt. Die Verfassung hat die Gewaltenteilung nicht ausdrücklich festgesetzt. Nach der Verfassung stand formell dem Kaiser alle Staatsgewalt zu. Sie wies jedoch die Hauptlast der praktischen Betätigung bei der Vorbereitung und Durchführung der Aufgaben den einzelnen Ressorts zu. Das wirkte sich günstig für die Einführung des Parlamentarismus aus. Die Verfassung hatte nämlich den Parlamentarismus offen gelassen. Hozumi, der namhafte Staatsrechtler, betonte dagegen ohne Erfolg den Grundsatz der Gewaltenteilung, hauptsächlich, um den kaiserlichen Machtbereich vor parlamentarischem Einfluß zu schützen, und hat dem parlamentarischen Regierungssystem den Makel des Verfassungsbruchs angeheftet. Nach dem ersten Weltkrieg wurden die Ideen des Liberalismus und der Gleichheit, die i m Zeichen der Demokratie und Wirtschaftsblüte sowie des allgemeinen gleichen Wahlrechts auftauchten, auf alle Gebiete übertragen. Zugleich war der Großkapitalismus entwickelt. Auf der anderen Seite traten die orgnanisierten Arbeiter- und Bauernbewegungen mit proletarischer Ausprägung der Demokratie auf. Streik folgte auf Streik. Nun, dem Bürger lag es mehr an einer Sicherung seiner wohlerworbenen Güter gegen die Bedrohung von Seiten der Sozialisten. Es ist nicht zufällig, daß das Gesetz für die Sicherung der öffentlichen Ordnung von 1925 neben der monarchischen Staatsform das System des Privateigentums dem besonderen strafrechtlichen Schutz unterstellte. Der Soldatenstand hat seine Ehrenrechte verloren, die er lange im Gemeinschaftsleben genoß. Die Soldaten und Offiziere, die zum Kaiser im unmittelbaren Treueverhältnis standen, stellten bis zu den 30er Jahren den gesunden, tugendhaften Teil des Volkes dar, und sie führten die Befehle eines Vorgesetzten gehorsam aus und blieben innen- wie außenpolitisch fast ganz abseits der Politik. Daß das Militär trotz militärischem Erfolg nach dem Weltkrieg i n den Schatten gestellt wurde, lag in der

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damaligen sozialen und geistigen Lage. Unter dieser Situation konnten die immer wieder verzögerte Armeereform und die Flottenabrüstung durchgeführt werden, obwohl die Abschaffung der militärischen Herkunft der Kriegsminister nicht verwirklicht wurde. IV. Die 1926 beginnende Showa-Ära (die Periode des jetzigen Kaisers) stellte die Reaktion gegen die sog. Taisho-Demokratie dar. Das M i l i t ä r wendet sich von der Defensive zum Angriff. Die parlamentarische Regierung konnte sich gegenüber dem Militarismus nicht durchsetzen, der i n schwierigen Augenblicken immer eigene Politik machte und als treuer Ausführender auftrat. Der an der parteipolitischen Unsicherheit krankende Parlamentarismus mußte seit dem mandschurischen Zwischenfall allmählich der militärischen Autokratie unterliegen, die alle inneren Kräfte zu unterwerfen strebte. Das stellte zugleich den Niedergang des Parteienstaates i n Japan dar. Daran waren auch die Parteien schuldig, die sich ihrer Schwäche bewußt waren und parteipolitisch auch nicht davor zurückschreckten, freiwillig nach Kompromissen mit dem Militär zu suchen, ohne auf das eigentliche Wesen des Problems einzugehen. I m Zusammenhang m i t dem Abschluß des Londoner Flotten-Vertrags von 1930 wurde die Unabhängigkeit der Kommandogewalt, nämlich die A b grenzung zwischen den M i l i t ä r - und Regierungskompetenzen über die Entscheidung der Friedensstärke, zum Brennpunkt innenpolitischer Kämpfe. Diese Kämpfe wurden zunächst i m Parlament durch die Opposition entfacht, der das Militär und der Staatsrat sich dann anschlossen, und es kam zum Regierungswechsel. Unter den jüngeren Generationen von Heer und Marine wurde eine Erneuerungsbewegung betrieben. Die damalige Innen- und Außensituation schien ihnen als krisenhaft und hatte das grobe Unbehagen wachsen lassen. Der Aufschwung der Demokratie und die Entfaltung der sozialistischen Mächte wurden als bedrohlich empfunden. Die Nachwirkungen der traditionellen Vorstellungen von der göttlichen Abstammung und der Allmächtigkeit des Kaisers waren, trotz aller demokratischen Bewegung, noch lebendig. Das soziale und wirtschaftliche Leben i n den Provinzen spielte sich noch weiter nach patriarchalischen Vorbildern ab. Die Depression beschleunigte die Verarmung der Bauern. Und die Militärs stammten meistens aus der armen Bauernklasse. Sie waren daher dem Großkapitalismus feindselig. Sie standen weit kritischer den Parteipolitikern gegenüber, und ihre radikale Gruppe war nationalrevolutionär, zum Teil militärsozialistisch gesinnt. Junge Offiziere haben i m März und Oktober 1931 Staatsstreiche geplant. Beide kamen nicht zur Ausführung. I m Fall vom 15. Mai 1932 hat eine

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Gruppe von fanatischen Offizieren des Heers und der Marine i n Verbindung mit zivilen Ultranationalisten den Ministerpräsidenten ermordet und die Wohnung des Hofministers angegriffen. Die Teilnehmer dieser Verschwörung wurden vom Volke fast wie Nationalhelden behandelt und wegen ihrer rein ethischen Motive außerordentlich mild abgeurteilt. Von ihnen wurde ein Zivilist zu lebenslänglichem Gefängnis und andere zu 4 bis 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Das hat die Militärs nicht minder ermuntert. M i t diesem Ereignis fiel die Parteiregierung i n Japan. Diese Reihe von Staatsstreichplänen war zwar erfolglos und endete mit individuellen Terroraktionen. Aber sie übte auf die Politik einen großen psychologischen Einfluß aus. Die rebellierenden Offiziere waren die Vorkämpfer der Militärs, die die Macht der Armee über die parlamentarische Demokratie triumphieren lassen wollten. Die politische Gewalt war Stück für Stück i n die Hände des Militärs übergegangen. A m 18. September 1931 stellte die Kwantung-Armee ohne Billigung der Regierung die ganze Mandschurei unter Kontrolle mit der Begründung, es habe ein chinesisches Attentat die südmandschurische Eisenbahn zerstört. Nach der Staatsgründung von Mandschukuo griff die militärische Spannung und Tätigkeit auf Nordchina über. Die detachierten Militärorgane haben sich dabei unabhängig von der Zentralregierung betätigt. Das stellte das Erscheinen einer Nebenregierung und einen außenpolitischen Dualismus dar. I n Wirklichkeit waren aber die einzelnen militärischen Gesichtspunkte den außenpolitischen übergeordnet, und die Tendenz ging dahin, alle militärischen Maßnahmen auf dem Festland nachträglich anzuerkennen. Als Folge dieser Entwicklung wurde die japanische Regierung stark in Mißkredit gebracht. M i t dem Fall vom 15. Mai begann die Halbkriegszeit mit einer Regierung der nationalen Konzentration, die in Wirklichkeit auf dem Gleichgewicht von Militär, Beamtentum und politischen Parteien beruhte. Bei der Auswahl des Nachfolgers des Ministerpräsidenten wurde immer auf die Fähigkeit Gewicht gelegt, die W i l l k ü r der Militärs zu kontrollieren. I n diesem Sinne haben zwei Admirale hintereinander Regierungen gebildet. Es gelang ihnen nicht, den Militärs die Zügel anzulegen. I n der Staatsführung ging immer mehr der Primat der politischen Elemente an die militärische Seite verloren. Die Militärs nahmen an, daß Kommunismus, Sozialismus, Liberalismus, Internationalismus und andere gegen die Abenteuerpolitik der Militärs gerichtete Ideen für den Schutz des Staates gefährlich seien. Und sie nötigte die Regierung zur Unterdrückung der sozialistischen Bewegung und der wissenschaftlichen Betätigung der liberalen Professoren. Die von der bis dahin herrschenden Meinung festgehaltene Verfassungstheorie von der Staatsorganschaft des Kaisers war damit völlig verbannt, und an ihrer Stelle wurde die mystische und dogmatische Staatswesentheorie oktroyiert. Es ist lange eine japanische

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Eigenart, die westlichen Ideen und Einrichtungen des Auslandes mehr als die eigenen bodenständigen zu überschätzen. Es war aber noch unglücklicher, daß sich die Reaktion auf geistige und institutionelle Europäisierung scheinbar i n Form der Rückkehr zum irrationalen Kaisertum entfaltete. Unterdessen hat sich die Erneuerungsbewegung und Politisierung der Armee weiter entwickelt mit empfindlichem Schaden für ihre Einheitlichkeit. Der Fall vom 26. Februar 1936 war ein Versuch des Staatsstreichs, der unter Leitung einer Gruppe von jungen aktivistischen Offizieren ausgeführt wurde. Hofminister, Finanzminister, Generalchef der Heereserziehung und viele Unschuldige fielen dem blutigen Anschlag zum Opfer, wenn auch der Ministerpräsident Okada und der letzte Genro Saionji zufällig entkommen konnten. Der Belagerungszustand wurde verhängt, und ohne weitere Waffenkonflikte wurde der Aufruhr unterdrückt. Die Verhandlung vor dem besonderen Militärgericht dauerte bis zum Januar 1937.17 Offiziere und 2 Zivilisten wurden zum Tode verurteilt. Nach dem Ereignis vom 26. Februar beherrschte eine andere Gruppe die Militärs und führte die Säuberung der Armee durch. Der militärische Einfluß auf die Politik hat sich nie vermindert. Militärminister sollten wieder aktive Generäle oder Admirale sein. Die Wiederherstellung dieses Systems wirkte sich natürlich zugunsten der Militärs aus. General Ugaki war am 25. Januar 1937 vom Kaiser mit der Bildung einer Regierung beauftragt worden. Er mußte jedoch wegen des Widerstandes der Militärs darauf verzichten. Damals hatte sich die Praxis herausgebildet, nach der der Nachfolger des Kriegsminister durch den austretenden Kriegsminister, den Generalchef der Heereserziehung und den Generalstabschef einstimmig gewählt wurde. Damit hat sich die Überordnung des Militärs über das Z i v i l durchgesetzt. Die Parlamentarier fühlten sich bei ihrer Dienstleistung für den Kaiser ihm gegenüber verantwortlich und glaubten nicht, etwa dem Volk gegenüber Verantwortung zu tragen. Der Reichstag hat sich freiwillig einer K r i t i k an den Regierungsmaßnahmen enthalten. Er wurde daher immer mehr vernachlässigt und war endlich nichts anderes als ein Werkzeug der mit der politischen Entscheidungsmacht ausgestatteten Militärs und der Ratgeber des Kaisers. Er bestand hilflos weiter, nur um sich von dem Vorwurf des Verfassungsbruchs zu befreien. Es ist nicht ohne geschichtliche Ironie, daß sich die Verfechter des liberalen Konstitutionalismus auf den Grundsatz der Gewaltenteilung berufen mußten, um die letzten Reste des Parlamentarismus zu schützen,. Die Umwandlung der politischen Struktur vollzog sich in Japan so situationsgemäß und verdeckt durch Kompromisse, daß es keiner Revolution bedurfte. Als Folge der Neuen-Ordnung-Bewegung wurde 1940 die Vereinigung zur Unterstützung des Throns an Stelle der freiwillig aufgelösten politischen

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Parteien gegründet. A m 20. November 1939 wurde ein Großes Hauptquartier und gleichzeitig die Verbindungskonferenz von dem Großen Hauptquartier und der Regierung eingerichtet. Seit dem Sommer 1940 hat der Ministerpräsident Konoe, der bevorstehenden Katastrophe bewußt, eine Verständigungspolitik mit den Vereinigten Staaten gesucht. Dagegen hat der Generalstab die Kriegsvorbereitung gefordert. I n der kaiserlichen Konferenz vom 5. September 1941 wurde ein Grundriß der Staatspolitik angenommen, nach dem man sich sofort zum Krieg entschließen sollte, wenn die Durchsetzung der japanischen Forderungen auf diplomatischem Weg nicht spätestens bis zum Anfang Oktober zu erwarten waren. Dieser Grundriß wurde in der kaiserlichen Konferenz vom 5. November erneuert. Damit waren die Würfel für den pazifischen Krieg gefallen, weil der Kaiser und seine Berater den Dingen ihren Lauf ließen und versäumten, die politischen Möglichkeiten auszuschöpfen, um eine Verständigung mit den Vereinigten Staaten zu erzielen. So ist Japan zögernd i n einen Weltkrieg gezogen. Hier zeigte sich die Entwicklungslage, die i m letzten Stadium des Krieges noch einmal zutage treten sollte. Die politische Entwicklung i n der Kriegszeit hat hinsichtlich des Verhältnisses von Militär- und Regierungsgewalt eine Reihe neuer Schwierigkeiten entstehen lassen. I n dem krisenhaften Stadium des totalen Krieges wurde Tojo, dem Ministerpräsidenten und Kriegsminister, trotz aller Verstärkung der Stellung des Premierministers zur Durchführung des Mobilisationsgesetzes von 1938, nicht die ganze staatliche Gewalt in die Hand gegeben. Er konnte sich nicht in die Heeresleitung durch den Generalstab unmittelbar einmischen, und mußte sich aus den Personalangelegenheiten der Marine völlig heraushalten. Erst am 21. Februar 1944 wurde Tojo zum Chef des Generalstabs ernannt, und gleichzeitig wurde der Marineminister zum Chef des Admiralstabs ernannt. Diese Machtkonzentration hat zwar manche Unvollkommenheit bei der Handhabung der Kommandogewalt beseitigt. Sie hat sich aber der K r i t i k einer Verletzung der Unabhängigkeit der Kommandogewalt ausgesetzt und hinterließ unter den alten Staatsmännern des Kaiserhofs Abneigung und förderte die Neigung zu Umtrieben gegen das Tojo-Regime. Die Autorität des Militärdiktators war nicht so gewachsen, um des Hofberaters Druckmittel zum Rücktritt ersticken zu können. Auch die Konflikte von Armee und Marine um die Kriegsführung und den Kriegsbedarf förderten die Abneigung der Marine gegen die Regierung. Die Mehrheit des Parlaments hat sich dem auch angeschlossen. Unter den alten Staatsmännern, die die Tojo-Regierung gestürzt hatten, gab es aber keine bestimmte Perspektive über die kommende Regierung. Die nachfolgenden Regierungen entstanden aus zufälligen Faktoren. Die Oberste Kriegsführungskonferenz, die i m August 1944 an Stelle der Verbindungskon-

Betrachtungen zum Zusammenbruch der japanischen Meiji-Verfassung

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ferenz von dem Großen Hauptquartier und der Regierung eingesetzt wurde, konnte die sich widerstreitenden Gesichtspunkte der verschiedenen Ressorts nicht auf einen Nenner bringen. I m Sommer 1945 suchte der Kreis um den Hof minister Kido und den Außenminister Togo auf diplomatischem Weg über die Sowjetunion Friedensmöglichkeiten anzubahnen. Das Ergebnis war demütigend. Alle politischen Ratgeber folgten widerwillig dem selbstsicheren Militär, das die Lage für nicht völlig hoffnungslos hielt. I m letzten Augenblick des Krieges konnte die Regierung nicht allein entscheiden, ob sie den Krieg weiterführen oder die Potsdamer Deklaration akzeptieren sollte. Darin, daß der Kaiser die letzte Entscheidung traf, liegt das Wesen des eigentlichen Scheinkonstitutionalismus. Der Kaiser rettete den Staat, aber nicht die Verfassung, weil er damit auf seine verfassunggebende Gewalt verzichtete. Der Versuch der Militärs, über die Person des Kaisers hinweg den Krieg weiter zu führen, scheiterte. V. Die Eigenartigkeit sowohl wie die Schwäche der Meiji-Verfassung liegt darin, daß die Willensäußerungen des einzigen Kaisers als Inhaber aller Herrschaftsgewalt von der Beratung oder M i t w i r k u n g zu vieler Staatsorgane abhängig waren. Die Vereinigung aller Machtbefugnisse i n der Person des Kaisers war dazu bestimmt, die Einheit und Harmonie der gesamten Staatshandlungen zu gewährleisten. Die Verfassung hatte seine schöpferische und zusammenfassende Befähigung erwartet. Bei der Ausübung der kaiserlichen Gewalt war aber Unrechten Einflüssen des wechselnden und unverantwortlichen Klüngelwesens Tor und Tür geöffnet. Der Kaiser hatte sich oft widerwillig der allgemeinen Lage angepaßt. Wenn er in Wirklichkeit die Funktionen der sachgemäßen Verteilung und Vereinigung der verschiedenen Gewichte hätte selbst ausüben können, so wären die Nachteile dieses vielgleisigen Systems minder fühlbar geworden. Natürlich war er an dem Zusammenbruch der Verfassung nicht allein schuldig. So haben sich die gesamte Organisation des staatlichen Willens ebenso wie die führenden Staatsmänner der zu lösenden Staatsaufgabe nicht gewachsen gezeigt. Es ist besonders zweifelhaft, ob das Militär eine richtige Einordnung in das gesamte Staatsgefüge gefunden hätte. Daß es zwischen dem Militär und dem Z i v i l oft zu unüberbrückbaren Gegensätzen kommen konnte, lag vor allem daran, daß die innere Logik und das Entwicklungsgesetz des Konstitutionalismus verkannt wurden, und daß über die Verhältnisse von der militärischen und der zivilen politischen Führung verfassungsrechtlich klare Entscheidungen nicht getroffen wurden. Und die geistige Entfremdung der politisch und militärisch leitenden Persönlich-

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keiten und das gegenseitige Mißtrauen erschwerten ihr Zusammenwirken unter gemeinsamer Verantwortung. Endlich verwirklichte ein Versagen der dem Militär Gegengewicht haltenden Faktoren den Primat des Militärs. Es gab nicht zuletzt unter der Meiji-Verfassung kein Volk, das i n der Demokratie politischer Entscheidungen und Handlungen fähig sein müßte. Auf diesem Hintergrund konnte der eigentliche Faschismus Japans i m Rahmen der Verfassung ausgebildet werden. Heute, i n einer völlig veränderten Situation, ist die Prävalenz der zivilen politischen Gewalt über die Armee gesichert. Damit ist aber die Problematik des verhängnisvollen Verhältnisses von Militär- und Zivilgewalt nicht ganz beseitigt, wenn man die Armee vor der Politisierung und der Zerstörung ihrer inneren Struktur durch den falsch verstandenen Primat der Politik hüten soll.

„Weltgeschichtliche Machtform" ? Eine Studie zur Politischen Theologie des II. Vatikanischen Konzils Von Hans Barion, Bonn „ . . . n u r ein prophetisches Pasticcio . . . "

Α. § 1. „Festschriften sind in der wissenschaftlichen Welt etwas Geläufiges. Sie entstehen vor allem, um eine nach Werk und Leben verdienstvolle und anerkannte Persönlichkeit durch eine wissenschaftliche Gabe zu ehren." Dieses Prolegomenon zu einer jeden künftigen Festschrift, die als Festschrift w i r d auftreten können, verdankt die Wissenschaftstheorie A. Schüle 1 ; H. Huber hat fast gleichzeitig eine ähnliche und ähnlich bedeutende Theorie über Festschriften erarbeitet 2 , und H. Ridder hat beider Darlegungen noch wesentlich vertieft 3 . Hinter einer solchen autoritativen Wesensschau der Festschriften kann, darf und mag man nicht zurückbleiben; am ehesten w i r d ihr wohl Genüge getan, wenn der Beitrag zu einer Festschrift sich an ein Forschungsthema des Geehrten anschließt. Das soll i m folgenden denn auch, und zwar zum drittenmal 4 , geschehen; der Beitrag nimmt seinen Ausgang von Carl Schmitts Essay „Römischer Katholizismus und politische Form" 5 . § 2. I n diesem Essay hat Schmitt die Frage gestellt, ob der (Katholischen) Kirche neben ihrer eigentlichen, übernatürlichen Form — „Form" hier und weiterhin als die Idee genommen, i n der die Kirche und der Staat als konkrete gesellschaftliche Existenzen ihre idealtreuen Essenzen begründet finden —, die durch ihren göttlichen Auftrag religiöser Verkündigung und geistiger Herrschaft konstituiert wird, auch eine natürliche 1

A. Schüle: Eine Festschrift = Juristenzeitung 14,1959, S. 729. H. Huber, i n : Zeitschrift für Schweizerisches Recht 100, N. F. 78, 1. H a l b band, 1959, S. 431—432. 3 H. Ridder: Schmittiana (I) == Neue Politische L i t e r a t u r 12, 1967, S. 3; ders.: Ex oblivione malum, i n : Gesellschaft, Recht u n d Politik, Festschrift für W. Abendroth, 1968, S. 305 ff. 4 Vgl. H. Barion: Ordnung und Ortung i m Kanonischen Recht = Festschrift für Carl S c h m i t t . . . , hrsg. v. H. Barion, E. Forsthoff, W. Weber, Berlin 1959, S. 1—34; H. Barion: Kirche oder Partei? Römischer Katholizismus und politische Form = Der Staat 4,1965, S. 131—176. 5 C. Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form, Hellerau 1923. 2

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und zwar eine politische Form zukomme. Er hat diese Frage i n einer meisterhaften Gedankenführung bejaht: er sieht die politische Form der Kirche als Teilhabe an dem Wesen jeder politischen Form, nämlich an der Repräsentation einer (weltlichen, geschichtlichen) nichtökonomischen Idee. Wer aber eine i n die geschichtliche Welt hineingreifende nichtökonomische Idee repräsentiere, der konstituiere sich damit als Träger einer und als Anwärter auf die politische Autorität 6 . Indem die Kirche das tue, indem sie die „civitas humana" und „Christus selbst, persönlich, den i n geschichtlicher Wirklichkeit Mensch gewordenen Gott", repräsentiere, werde sie und sei sie politisch. Diese Hauptthese von Schmitts Essay wurde in der an ihn anknüpfenden, schon i n Anm. 4 zitierten Untersuchung über „Kirche oder Partei?" zugunsten von deren eigener Frage nach der Affinität der Kirche zu den konkreten politischen Formen und von Schmitts Aussagen dazu beiseitegelassen. Nunmehr soll sie i n den Mittelpunkt der Untersuchung treten und an der Politischen Theologie des II. Vatikanischen Konzils erprobt werden. § 3. Dabei muß zunächst eine gewisse Doppeldeutigkeit des Terminus „Politische Theologie" durch entsprechende Präzisierung beseitigt werden. Terminologisch nämlich läßt der Ausdruck offen, ob die Theologie unter Berufung auf das Recht, alles geistlich zu prüfen 7 , auch das WeltlichPolitische ihrer Formung und Weisung unterstellen will, oder ob weltliche Politik sich für ihre Programme auch auf theologische Argumente beruft. Beides ist geschichtlich schon wirklich gewesen; ein jüngstes Beispiel ist die konziliare Lehre von der wirtschaftlichen Mitbestimmung der Arbeiter 8 und der Einbau dieser Lehre durch katholische Theologen i n die gewerkschaftliche Argumentation, die wirtschaftspolitisch und nicht seelsorglich ist und gemeint ist. Beides kann man Politische Theologie nennen. Die darin liegende Unklarheit würde genau so der umgekehrten Verknüpfung beider Termini, der Theologischen Politik, anhaften. Der Versuch, die hier gemeinte Sache und ihre Bezeichnung ohne zusätzliche definitorische Vereinbarung zur Deckung zu bringen, ist aussichtslos. Als solche Vereinbarung soll gelten, daß Politische Theologie geistliche Verkündigung meint, die den weltlichen Bereich betrifft, während zeitliche Programmatik mit theologischen Einschlüssen als Theologische Politik verstanden wird. § 4. M i t dieser Aufteilung und Gliederung eines überquellenden empirischen Stoffes ist nunmehr auch die zunächst weltliche Frage nach der 6

Schmitt: Römischer Katholizismus, S. 34—40; das Zitat S. 39—40. 1. Kor. 2, 15: Spiritualis autem iudicat omnia, et ipse a nemine iudicatur. H. Barion: Das konziliare Utopia. Eine Studie zur Soziallehre des I I . V a t i kanischen Konzils = Säkularisation u n d Utopie. Ebracher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1967, S. 187—233. 7

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Theologischen Politik auf eine Frage an die Theologie zurückgeführt. Es mag für die progressistischen Bischöfe kirchlich erfreulich sein, wenn etwa die Sozialausschüsse der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft oder gar der Deutsche Gewerkschaftsbund selbst sich für die M i t bestimmung auf die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes" des Vaticanum I I berufen; wissenschaftlich ist damit nichts getan. Die Theologische Politik muß ihre Rechtfertigung jeweils von der Theologie beziehen, kann also kein Forschungsgegenstand sein, der axiomatisch innerhalb der weltlich-politischen Sphäre beheimatet wäre. Nicht nur die Politische Theologie, auch die Theologische Politik hängt in ihrer Begründung davon ab, was theologisch, was geistlich zu ihr gesagt werden kann. Gegenstand systematischer Analyse des zwischen Theologie und Politik liegenden Beziehungsfeldes kann also — unbeschadet der auch gegenüber der Theologischen Politik möglichen soziologischen Bestandsaufnahme — nur die Politische Theologie sein. Dabei ist die formale Zugehörigkeit des Analysierenden zum Stand der Theologie freilich gleichgültig; i n der Erörterung der Politischen Theologie kann jeder Wissenschaftler mittun, solange er theologisch argumentiert. § 5. Nunmehr läßt sich endlich die formale Grundfrage Politischer Theologie stellen: Gibt es ein solches Beziehungsfeld zwischen Theologie und Politik, oder werden hier zwei Bereiche verknüpft, die in Wirklichkeit seinsmäßig voneinander getrennt sind? Eignet, unter Ausscheidung aller religionswissenschaftlichen Überlegungen und auf das Kanonische Recht und auf die Ekklesiologie als ein Fachgebiet innerhalb desselben zugespitzt, der Kirche wesentlich nicht nur eine geistliche, sondern auch eine politische Idee, oder sind ihre jeweiligen konkreten politischen Theologien nur eine Usurpation weltlicher Aufgaben, durch die sie sich ihrem geistlichen Auftrag entfremdet? § 6. Diese Frage soll i m folgenden nicht grundsätzlich, sondern am Beispiel der Politischen Theologie des II. Vatikanischen Konzils erörtert werden. Angesichts der Polarisierung der gesamten religiösen, theologischen und rechtlichen Problematik der Katholischen Kirche, die als die ausgezeichnet gelungene eigentliche Leistung des Vaticanum I I gelten muß, ist das nur sachgerecht: mit katholischer 9 Politischer Theologie kann man sich seit ihm nur befassen, wenn man seine Beschlüsse als den Anfang, die Wurzel und die Grundlage ihrer Betrachtung wählt. Alle Untersuchung früherer Perioden Politischer Theologie, sei es i n der 9 Eine christliche Politische Theologie i m Singular gibt es nicht, ebensowenig wie eine einzige Christliche Kirche. So läßt sich aus den verschiedenen christlichen Politischen Theologien die katholische als selbständiger Gegenstand wissenschaftlicher Analyse aussondern. — Wie sich aus dieser begrifflichen Präzisierung ergibt, w i r d unter Theologie i n dem ganzen Aufsatz n u r katholische Theologie verstanden.

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Urkirche, i m Konstantinischen Zeitalter 1 0 , i m Hochmittelalter oder wann auch immer, bleibt kanonistisch und damit auch theologisch vorläufig, wenn sie nicht beim Vaticanum I I einsetzt. Allerdings bedarf es dafür nicht einer Heranziehung aller für die Politische Theologie bedeutsamen konziliaren Aussagen. Wie bei der schon i n Anm. 8 zitierten Analyse der konziliaren Soziallehre, so ist auch bei der Betrachtung der politischen Konzilstheorie keine Vollständigkeit erforderlich; wenn man die Probebohrung richtig ansetzt, lassen sich deren Ergebnisse ebensowenig durch (noch) nicht berücksichtigte politische Partien der Konzilsbeschlüsse widerlegen, wie das bei der Betrachtung des konziliaren Utopias möglich wäre — ein Sachverhalt, der insoweit durch das bisherige Echo auf diese 11 auch zugestanden worden ist. Als Material für die vorliegende Analyse ist demgemäß ausgewählt worden das thematisch unmittelbar der Politischen Theologie gewidmete konziliare Kapitel: De vita communitatis politicae 12 . B. § 7. Die konziliare Lehre De vita communitatis politicae enthält eine Staats- und Verfassungslehre; die Völkerrechtslehre des Konzils w i r d in einem anschließenden Kapitel De pace fovenda et de communitate gent i u m promovenda dargelegt und hier nicht erörtert. Die formale Feststellung, wo i m geistlichen und/oder weltlichen Bereich der Sitz dieses konziliaren Modells der politischen Gemeinschaft ist, w i r d ausgehen von der Beschreibung der politischen Form der Kirche i n dem Essay Schmitts, an den die ganze Untersuchung anknüpft (I); sie w i r d sodann das Konzil selbst sprechen lassen (II); sie w i r d schließlich fragen, ob man für die 10 Damit ist für die Lateinische Kirche, die seit dem Schisma von 1054 zugleich auch die Katholische Kirche ist, die Zeit v o m E d i k t von Mailand bis etwa auf Gregor den Großen (590—604) gemeint. Das „Konstantinische Zeitalter der Kirche" über i h n hinaus andauern zu lassen, ist ein Zeichen mangelnder geschichtlicher u n d rechtlicher Einsicht, außer wenn der historisch-kritisch arbeitende Kanonist gelegentlich sich der angedeuteten Verwechslung des konkreten geschichtlichen Begriffs m i t einem geschichtlich falsch gefaßten S t r u k turbegriff für polemische Effekte bedient. 11 Bis zum 31. März 1968 fehlte es. 12 Als Text w i r d benutzt: Sacrosanctum Oecumenicum Concilium Vaticanum I I : Constitutiones, Decreta, Declarationes, Rom 1966. A l l e Zitate erfolgen m i t jeweiliger Dekretabkürzung, Abschnittsnummer des Dekrets u n d Seite. — Das K a p i t e l De v i t a communitatis politicae findet sich: Constitutio Pastoralis De Ecclesia i n mundo huius temporis „ G a u d i u m et spes" v o m 7. Dezember 1965 (EM) Nr. 73—76, S. 800—809. Der Abschnitt Nr. 74 dieses Kapitels (S. 801—803) ist als Hauptgegenstand der Studie als Anlage am Schluß beigegeben, so daß Zitate aus i h m ohne Seitenzahlen erfolgen. Die Anlage erleichtert dem Leser sein Richteramt.

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Politische Theologie des Vaticanum I I Schmitts Beschreibung zustimmen muß oder kann oder ob die konziliare Politische Theologie kanonistisch, also theologisch und geistlich, beurteilt, ein Irrweg ist (III).

I. § 8. Schmitt hat gesagt, daß „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre... säkularisierte theologische Begriffe" seien 13 . Das ist geistesgeschichtlich eine unwiderlegliche Feststellung 14 ; als Grundlage für die Behauptung aber, daß das Post hoc der Jurisprudenz gegenüber der Theologie oder, auf die Gegenstände beider Wissenschaften bezogen, des Staates gegenüber der religiösen Gemeinschaft auch ein Ex hoc sei, würde sie nicht ausreichen. Leibnizens, von Schmitt zustimmend zitierte und durch knappe, aber schlagende Bemerkungen gesicherte Berufung auf die systematische Verwandtschaft von Jurisprudenz und Theologie ist solange ein bloßes Faktum, als sie nicht durch einen theoretischen Nachweis des Ex hoc, der seinsmäßigen Verwurzelung des Staates i n der K i r che, des Politischen i m Theologischen, des weltlichen Bereichs i m geistlichen, ergänzt wird. Die analytische Erörterung der Politischen Theologie kann demgemäß auch als die Frage verstanden werden: Gehört die Politische Theologie nur zur Geschichte oder auch zum Wesen der Kirche? § 9. Auf diese Frage gibt es wie auf alle sachgerecht gestellten Grundfragen zwei, nicht mehr als zwei und genau zwei — auch i m dialogischen Zeitalter, das so rührend darum bemüht ist, das dialektische abzulösen und für jede Frage nur eine einzige A n t w o r t zuzulassen — Antworten. Die eine ist die neutestamentliche Lehre von den zwei Reichen, die i n der alten Kirche Augustinus am besten vertreten und die Luther zu einem Höhepunkt geführt hat. Die Aufklärung hat, anscheinend ohne insoweit ihre Vorgänger zu kennen, die Scheidung durch Enttheologisierung — was die progressistische Theologie für Säkularisierung halten würde — der Staatslehre aufgenommen, und A. Comte hat — unbeschadet der nach i h m vollzogenen erkenntnistheoretischen, geistesgeschichtlichen und anthropologischen Fortschritte — i n seinem Dreistadiengesetz die axiomatische Schlußfassung jener Scheidung vorbereitet, die lauten muß: die anfängliche geschichtliche Verknüpfung von Geistlich und Weltlich, von Theologie und Politik, ist nur eine Tatsache, keine Wesenszusammengehörigkeit. Eine legitime Politische Theologie kann es demgemäß nicht geben. 13

C. Schmitt: Politische Theologie, München u n d Leipzig 1922, S. 37. Als Beispiel vgl. E.-W. Böckenförde: Die Entstehung des Staates als V o r gang der Säkularisation = Festschrift Forsthoff, S. 75—94. 14

2 Festschrift f ü r C a r l S c h m i t t

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Ebenso quer durch die üblichen Lehrbuchzusammenhänge verläuft die Entwicklung der entgegengesetzten, der positiven Antwort, die eine Politische Theologie als möglich bejaht und zu den Rechten und Aufgaben der Kirche zieht. Sie entwickelt sich erst i m vierten Jahrhundert, mit dem Eintritt i n das Konstantinische Zeitalter, erreicht dann aber verhältnismäßig schnell, nämlich mit Papst Gelasius I. und seiner berühmten Epistel an Kaiser Anastasius I. von 494, ihren Höhepunkt und ist seitdem die Lehre, mit der die kirchliche Praxis auf katholischer Seite immer eng verwandt war und die auf der Seite der Reformationskirchen vor allem von ihrem reformierten Zweig vertreten worden ist, bis sie in der Gegenwart eine erstaunliche Hochblüte i n dem unablässigen Bemühen der Reformationskirchen überhaupt findet, zu allem und jedem Problem i m weltlichen Bereich ein kirchliches Wort zu sagen und sich in der Vorbereitung, Ausarbeitung und Propagierung solcher Worte enge mit dem politischen Katholizismus zusammenzutun 15 . § 10. I n diese zweite Entwicklungslinie muß auch der hier zum Ausgangspunkt gewählte Essay Schmitts gestellt werden; er hat ihn geschrieben, um zu zeigen, daß die Kirche wesentlich nicht nur geistlich, sondern auch politisch sei, und er hat seine ganze Argumentation an einer gliedernden Fundamental- und stilistischen Glanzstelle desselben in den Satz 16 zusammengefaßt: Die Welt des Repräsentativen als der eigentlichen politischen Form „hat ihre Hierarchie der Werte und ihre Humanität. I n ihr lebt die politische Idee des Katholizismus und seine Kraft zu der dreifach großen Form: zur ästhetischen Form des Künstlerischen, zur juridischen Rechtsform und endlich zu dem ruhmvollen Glanz einer weltgeschichtlichen Machtform". Als Schmitt dieses Elogium niederschrieb, im Jahre 192217, traf es geschichtlich ohne Zweifel zu: die ästhetische Form, als die Schmitt vor allem „die Fähigkeit zur Sprache einer großen Rhetorik" 1 8 ansieht, welche aber theologisch nur einen Teilgehalt der eigentlich kirchlichen ästhetischen Form, der Liturgie, darstellt — kirchliche Rhetorik ist Rhetorik im liturgischen Raum, wie gerade die von Schmitt als i n der Tat sublimes Beispiel angezogenen Oraisons funèbres Bossuets dartun —, war noch 15 Vgl. die Zusammenarbeit zwischen der Fachabteilung „Church and Society" — wie der Name von „Life and W o r k " bezeichnenderweise aus dem Geistlichen ins Weltliche geändert worden ist —, die zur Studienabteilung des Weltrates der Kirchen gehört, und dem Hl. Stuhl bei der Vorbereitung der Konstitution „Gaudium et spes" einerseits und bei der Genfer Weltkonferenz 1966 von „Church and Society" anderseits. Die Zusammenarbeit fand vorläufig i n einer von der Päpstlichen Studienkommission Iustitia et Pax und dem Weltrat der Kirchen abgehaltenen gemeinsamen Tagung i n Beirut ( A p r i l 1968) ihren Höhepunkt. 16 Schmitt: Römischer Katholizismus, S. 45. 17 Vgl. die Vorbemerkung zu Schmitt: Politische Theologie, S. 2. 18 Schmitt: Römischer Katholizismus, S. 47.

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u n b e r ü h r t ; die j u r i d i s c h e R e c h t s f o r m h a t t e soeben (1917) m i t der P u b l i z i e r u n g des Codex I u r i s C a n o n i c i auf das glänzendste die S u m m e aus fast 1900 J a h r e n der Rechtskirche gezogen; u n d die politische F o r m w a r m i t der A n t r i t t s e n z y k l i k a Pius' X I . „ U b i arcano" v o m 23. Dezember 1922 u n d i h r e m P o n t i f i k a t s t h e m a , der P a x C h r i s t i i n Regno C h r i s t i , auf e i n e m H ö h e p u n k t angelangt, dessen bedeutsamste M a n i f e s t a t i o n d i e E i n f ü h r u n g des Christkönigsfestes (1925) u n d die L a t e r a n v e r t r ä g e (1929) w u r den. U n d auch noch 1958, i m T o d e s j a h r P i u s ' X I I . , h ä t t e m a n dieses E l o g i u m niederschreiben k ö n n e n . § 11. Seine W a h r h e i t w u r d e w i e m i t e i n e m einzigen Schlage zunichte, als Johannes X X I I I . das v o n i h m als A g g i o r n a m e n t o bezeichnete h u m a nistische A p p e a s e m e n t der K i r c h e einleitete. Das V a t i c a n u m I I h a t d e m E l o g i u m S c h m i t t s die F u n d a m e n t e g e n o m m e n : d i e ästhetische F o r m ist, w i e der v o n d e m C o n s i l i u m ad e x e q u e n d a m C o n s t i t u t i o n e m de Sacra L i t u r g i a seit 1964 m i t sich aufschaukelnder W i r k u n g p r a k t i z i e r t e l i t u r gische U m s t u r z beweist, d e m Schönheitssinn Calibans g e w i c h e n 1 0 ; die j u r i d i s c h e R e c h t s f o r m w i r d d u r c h „ d i e b e g i n n e n d e I n t e g r a t i o n des p ä p s t l i c h e n w i e des bischöflichen L e h r a m t e s i n die gesamttheologische F o r s c h u n g " 2 0 zerfleddert; u n d der v o m V a t i c a n u m I m i t d e m P r o p h e t e n w o r t des „ S i g n u m l e v a t u m i n n a t i o n e s " (Jes. 11, 12) a p o s t r o p h i e r t e „ r u h m v o l l e G l a n z einer w e l t g e s c h i c h t l i c h e n M a c h t f o r m " ist v o m V a t i c a n u m I I der A n g s t v o r d e m sogenannten T r i u m p h a l i s m u s u n d d e m schwächlichen 19 Die Qualifizierung der Liturgiereform als eines Umsturzes betrifft das vcn diesen Konzilsstudien ausgeschlossene Gebiet der nicht unmittelbar dogmatisch relevanten progressistischen Neuerungen, deren Maßstab daher ein statistischer ist, nämlich der seelsorgliche — oder, w i e die Progressisten sagen, seelsorgerliche — Erfolg. Sollte er eintreten, w i r d die Qualifizierung als U m sturz modifiziert werden müssen; bis dahin sind beide, Lob und Tadel der liturgischen Neuerungen, Vorurteile, die i m dialogischen Zeitalter der Kirche auch beide gleichberechtigt sind. Die ästhetische Ablehnung der Neuerungen sodann steht jedem frei und kann m i t theologischen Argumenten nicht zensiert werden. I m m e r h i n sei zu ihrer Begründung eine religionswissenschaftliche A n merkung gemacht. Man lese i n R. Ottos Buch über „Das Heilige" (Breslau 10 1923) den Abschnitt 1 des Aufsatzes über den schweigenden Dienst (S. 313— 315), vor allem seine religionsphänomenologische Einordnung des Kanons der (noch präkonziliaren) römischen Messe, und vergleiche damit den Vollzug der postkonziliaren vulgärsprachigen Messe und insbesondere ihres Kanons. Wo hier der positive ästhetische Wert ist und wo der negative, w i r d dann dem josephinistisch nicht Belasteten sofort klar. Z u m a l wenn bei einer solchen profanliturgischen und antisakralen Zusammenkunft nicht gebetet, sondern gebeatet wird, möchte man wieder einmal D A D A zitieren (H. Ball: Tenderenda der Phantast, Zürich 1967, S. 84): „Von den Anmaßungen der Theoretikaster und Liturgiker, von den vereinigten Glockenspielern erlöse uns, ο Herr." F ü r die anschließenden Feststellungen über den Verfall der Rechtsform und die Pervertierung der Machtform sind die Belege sowohl i n den früheren vier Konzilsstudien (vgl. Barion: Das konziliare Utopia, und die dort S. 190 Anm. 2 genannten drei Arbeiten) wie i n der vorliegenden enthalten, so daß die gelegentliche Bezugnahme auf weitere Studien zum gleichen Thema eine bloße Ankündigung ist und keine Tarnung von Beweisnot. Herder-Korrespondenz 22,1968, S. 30. Vgl. A n m . 88.

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Bemühen geopfert worden, die Kirche nur noch ein Signum conformatum Nationibus Unitis sein zu lassen. Jedoch ist die geschichtliche Entleerung des Schmittschen Elogiums ebensowenig ein theoretisches Argument gegen die Möglichkeit einer Politischen Theologie, wie seine frühere geschichtliche Fundierung ein Argument dafür war. Die Beweiskraft aller Geschichte liegt in ihren übergeschichtlichen Voraussetzungen, wie denn der vorliegende Aufsatz statt m i t dem Elogium-Zitat auch mit der Frage nach der übergeschichtlichen Möglichkeit Politischer Theologie hätte überschrieben werden können. § 12. Ob die Antwort auf diese durch Schmitts Essay provozierte Frage schon gefunden ist, zeigt am schnellsten eine kurze Inventur der Auseinandersetzungen, die von der Nachkriegskritik mit Schmitts Werk und also auch mit dem hier i m Mittelpunkt stehenden Essay geführt worden sind. I m wesentlichen ist diese Inventur schon i n dem Aufsatz über „Kirche oder Partei?" vorgenommen worden 2 1 , mit dem Ergebnis der Belanglosigkeit der damals beigezogenen Arbeiten für jeden, der eine beweiskräftige K r i t i k an und bewiesene Gegenposition zu Schmitts damaliger 2 2 Anerkennung des legitimen Charakters politischer Theologie sucht. Die Wurzel dieser Belanglosigkeit ist die naive Voraussetzung der damals befragten Arbeiten, Schmitts wissenschaftliche Wirkung sei jeweils aus einem Punkte zu kurieren. I n Wirklichkeit muß der K r i t i k e r sich wohl oder übel bereitfinden, auf die lineare Kontrapunktik von Schmitts Lebenswerk einzugehen; sonst w i r k t er wie ein Dilettant, der eine Doppelfuge nicht von einem „Lied ohne Worte" unterscheiden kann. 21

S. 137—138. Schmitt hat i n seiner Studie über den „Leviathan i n der Staatslehre des Thomas Hobbes", Hamburg 1938, die Position von 1922 zugunsten einer K r i t i k an der politischen F o r m der Kirche aufgegeben, die deren Wesen i n der Potestas indirecta sieht und diese, wenn auch m i t etwas anderen Worten, als eine Z u m u t u n g f ü r den ablehnt, der i m politischen Raum existieren muß. Diese Entwicklung seiner Lehre von der Politischen Theologie haben die i n „Kirche oder Partei" angezogenen K r i t i k e r anscheinend f ü r unwichtig gehalten, obwohl seine seitdem noch mehrfach dargelegte — vgl. die Zusammenstellung der betreffenden Aufsätze i n den Bibliographien Tommissens am Schluß der Festschrift von 1959 u n d der vorliegenden — neue Position einer thetischen Zerschneidung der geschichtlichen Nabelschnur zwischen Theologie und P o l i t i k gleichkommt, die er i n seiner anfänglichen Politschen Theologie so sehr geneigt w a r als objektiv grundsätzlichen Zusammenhang anzuerkennen. Erst seitdem w u r d e i h m die lückenlose Begründung eines eigenständigen Begriffs des Politischen möglich. Jede Erörterung seiner politischen Philosophie müßte das darlegen; aber es geschieht i n keiner der angezogenen Arbeiten. Auch P. Schneider: Ausnahmezustand und Norm, Stuttgart 1957, S. 220—221, faßt diese E n t wicklung falsch, w e i l er ihre Ausgangsposition unzutreffend (vgl. Barion: Kirche oder Partei, S. 138) beschreibt, nämlich als ob i n dem Essay die Kirche „schlechthin das Ganze sei". Der inzwischen hinzugekommene Mathias Schmitz: Die Freund-Feind-Theorie Carl Schmitts (Köln und Opladen 1965) bietet zu dem hier gewählten Thema auch nichts. Uber H. Hofmann (Anm. 24) vgl. Anm. 25. 22

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I n z w i s c h e n t r a t als neue A r b e i t H . H o f m a n n s ebenfalls etwas v o r d e r g r ü n d i g e 2 3 R a d i z i e r u n g d e r p o l i t i s c h e n P h i l o s o p h i e S c h m i t t s auf eine Entgegensetzung v o n L e g i t i m i t ä t u n d L e g a l i t ä t 2 4 h i n z u . A u c h sie l i e f e r t f ü r die k r i t i s c h e W ü r d i g u n g v o n S c h m i t t s These, daß d e m Römischen K a t h o l i z i s m u s wesensmäßig (auch) eine politische F o r m eigne, k e i n M a t e r i a l 2 5 . A l s F a z i t dieser Suche nach V o r a r b e i t e r n b l e i b t also bestehen, daß die A r b e i t noch g e t a n w e r d e n m u ß .

II. § 13. D i e C o n s t i t u t i o „ G a u d i u m et spes" e n t w i c k e l t i h r e politische Theologie, s o w e i t sie i n d e m K a p i t e l ü b e r das L e b e n der p o l i t i s c h e n Gemeinschaft e n t h a l t e n ist, i n v i e r T h e m e n oder Thesen, d i e i m f o l g e n d e n j e w e i l s nach I n h a l t (a), B e g r ü n d u n g (b), progressistischer A u f f a s s u n g 2 6 (c) u n d wissenschaftlicher T e x t u r (d) v o r g e s t e l l t w e r d e n sollen. 23 I n seiner Schrift „Legalität u n d L e g i t i m i t ä t " , München u n d Leipzig 1932, S. 97, f ü h r t Schmitt dieses Nebeneinander zurück auf die Alternative einer „Anerkennung substanzhafter Inhalte" einer Verfassung oder ihrer „ f u n k tionalistischen Wertneutralität m i t der F i k t i o n gleicher Chance". Diese A l t e r native ist i n A r t . 79 Abs. 3 des Bonner Grundgesetzes zugunsten der L e g i t i mität, i m Sinne der Anerkennung substanzhafter, jeder Änderung entzogener Verfassungsinhalte, also genau i m Sinne Schmitts entschieden worden (vgl. H. Schneider: Uber Einzelfallgesetze = Festschrift C. Schmitt, S. 170, Anm. 28). So w i r k t es befremdend, wenn eine kritische Untersuchung der politischen Philosophie Schmitts (vgl. Anm. 24) als Quintessenz dieser K r i t i k Schmitt seine Option für die Legitimität vorhält. 24 H. Hof mann: Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Neuwied 1964. 25 Z w a r ist Hofmann mehr als seine Vorgänger u n d bisherigen Nachfolger imstande, Schmitts Gedankengängen zu folgen, u n d hat insbesondere als einziger der hier Angezogenen die Unentbehrlichkeit des Essays über den römischen Katholizismus für die Beschreibung von Schmitts „politischer Philosophie" erfaßt; aber i n diesem speziellen P u n k t jedenfalls hat er i h n nicht zutreffend gewürdigt. Seine Auslegung des Essays, daß dieser „ n u r auf die Bedeutung für die Methodik" „der Rechtswissenschaft" hingewiesen habe (Hofmann: Legitimität, S. 58), verfehlt dessen Kern, daß der Kirche eine originäre politische Form eigen sei. Notwendiger Weise verkürzt er von diesem Mißverständnis aus auch die eigentliche Absicht u n d Bedeutung der Leviathan-Schrift, die dem Begriff der Potestas indirecta nicht bloß, w i e Hof mann: Legitimität, S. 117 Anm. 70 sagt, „das Sinnbild des Leviathan als ein Symbol direkter, offener Herrschaft gegenüberstellt", sondern die der Potestas indirecta i h r Fundament u m i n theoria entziehen w i l l und damit zugleich die i n dem Essay noch anerkannte legitime Fähigkeit der Kirche zu unmittelbarer politischer Repräsentation pro tempore i n Frage stellt. 26 Es wäre unvorsichtig, sich f ü r die Würdigung der politischen Theologie des Vaticanum I I n u r auf die eigene Analyse zu verlassen; wie der hl. Benedikt gesagt hat: „Saepe i u n i o r i Dominus revelat quod melius est." Gemäß dieser Warnung w i r d der korrekte Kanonist progressistische L i t e r a t u r beizuziehen bemüht sein. Anderseits vermehrt die heute übliche, auf Vollständigkeit bedachte „Dokumentation" zwar die Anmerkungen, vergrößert aber meist nicht i n gleichem Maße die Einsicht. I m vorliegenden F a l l jedenfalls w i r d als Gegenprobe der eigenen Analyse n u r ein einzelnes Werk beigezogen: Die Kirche i n der Welt von heute. Untersuchungen und Kommentare zur Pastoralkonsti-

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§ 14. „Das heutige öffentliche Leben" als das an die Spitze gestellte Thema (Abschnitt Nr. 73) w i r d i n zwei Gedankengängen erörtert, einem, wie man sagen könnte, soziologischen und einem ethischen. a) Die soziologische Bestandsaufnahme stellt bei vielen Völkern und i n den verschiedenen Teilen der Welt ein Streben nach einer „politischrechtlichen Ordnung" fest, die dem Einzelnen größere öffentliche Freiheitsrechte (Vereinigungs-, Meinung-, Religionsfreiheit) und größeren Anteil an der politischen Führung gibt und die den Schutz nationaler Minderheiten, politische und religiöse Toleranz sowie materiale Rechtsgleichheit gewährleistet. Daran schließt sich die ethische These, daß ein menschenwürdiges politisches Leben am besten durch die Förderung von Gerechtigkeit, Wohlwollen und Gemeinsinn geschaffen werde. b) Was die Begründung angeht, so soll kein Nachdruck auf das Fehlen jeglicher Anmerkung gelegt werden; eine argumentierende Rückbeziehung auf Principia primaria müßte und würde auch dem korrekten Kanonisten zunächst genügen. Er gibt auch zu, daß die soziologische Bestandsaufnahme als deskriptive Aussage keiner solchen argumentierenden Begründung fähig ist; ihr K r i t e r i u m ist nur die Frage, ob sie zutrifft, und das kann man bei Deskriptionen von der A r t der vorgelegten, i m wörtlichen Sinne globalen — „ i n variis mundi regionibus" — Analyse, auch nicht bestreiten. Ob sie ausreicht, soll unter d) geprüft werden. Bei der ethischen These aber ist die Frage nach den sie legitimierenden Principia primaria berechtigt und notwendig; aus der Art, wie das Konzil die These rein positiv vorlegt, ohne jeglichen deduktiven Ansatz, muß man daher schließen, daß es sie für ein Stück phänomenologischer Ethik gehalten hat, die als solche begriffsnotwendig irreduzibel wäre, wie hoch oder wie gering auch immer man den Grad ideierender Abstraktion anschlagen mag, den das Konzil hier erreicht hat. c) Sowohl die soziologische Bestandsaufnahme wie die darauf folgende ethische Mahnung werden i n der Konzilskonstitution genau so unintellektuell dargeboten, nur etwas ausführlicher, wie sie unter a) zusammengefaßt worden sind. Vielleicht darum hat der progressistische t u t i o n „Gaudium et Spes" des I I . Vatikanischen Konzils. Herausgegeben von G. Barauna, deutsche Bearbeitung von V. Schurr, Salzburg 1967. Es ist ein u m fängliches (570 S.) Sammelwerk, das betont progressistisch ist — vgl. die V o r worte des Herausgebers u n d des Bearbeiters, die beide beklagen, daß die Konstitution hinter den progressistischen Erwartungen noch sehr zurückbleibe — u n d darum ausreicht, u m den Anspruch der hier vorgelegten Analyse, eine begründete Konfrontation auch m i t der progressistischen Theologie zu sein, nicht nur m i t der Konstitution selbst, zu rechtfertigen. Der Kommentar zu dem K a p i t e l „De v i t a communitatis politicae" stammt von R. La Valle (Barauna, S. 387—420).

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Kommentator den Abschnitt uninteressant gefunden; jedenfalls übergeht er Abschnitt Nr. 73 m i t Stillschweigen, so wie dieser Abschnitt i n dem ganzen progressistischen Sammelwerk, das der hier angestellten Analyse als Gegenprobe dient, bis auf zwei inventarisierende Hinweise totgeschwiegen wird. d) Eine objektive Würdigung seiner wissenschaftlichen Textur findet aber doch soviel Stoff, daß dieses Totschweigen als beschränkt erscheinen muß. I m einzelnen w i r d der korrekte Kanonist zu Abschnitt Nr. 73 der Konstitution folgendes notieren: 1. Abschnitt Nr. 73 ist aus zwei methodisch getrennten Teilen zusammengesetzt, aus einem deskriptiven und einem normativen, einem soziologischen und einem ethischen, die inhaltlich nicht aufeinander abgestimmt sind. Der soziologische Teil beschreibt eine freiheitliche Verfassungslehre; die Forderungen des ethischen Teils gelten einer „ v i t a politica vere humana" und lassen offen, ob ihnen auch, nur oder nicht die im soziologischen Teil dargestellte Vita politica entspricht oder ob sie als leitmotivischer Vorspann für die folgenden sozialphilosophischen Abschnitte dienen wollen. A u f eine solche nur thematische Bedeutung des ethischen Abschnitts deutet die abschließende Bemerkung hin, daß eine begründete Einsicht in die wesensmäßige Beschaffenheit der politischen Gemeinschaft und i n die Aufgabe, die rechte Ausübung und die Begrenzung der öffentlichen Gewalt unerläßlich sei. Damit würde dann die einleitende soziologische Darstellung nur die Vordergründigkeit der nichttheologischen Bemühungen um eine menschenwürdige politisch-rechtliche Ordnung erkennen lassen, und die anschließend i n den Abschnitten Nr. 74—76 entwickelte konziliare Theorie dieser Ordnung würde damit i n den Rang einer notwendigen und außerhalb der kirchlichen Soziallehre noch fehlenden oder mangelhaften Wegweisung zu einer solchen Ordnung erhoben. Es ist wissenschaftlich nicht zu begreifen, warum die progressistische Kommentierung der Konstitution sich m i t diesem interpretatorischen Problem des Abschnitts Nr. 73 nicht befaßt. Davon nämlich hängt es ab, ob der erste Teil des Abschnitts „das weltweite Streben nach einer Ordnung, die die Menschenrechte schützt, das Verlangen nach Mitgestaltung des politischen Lebens, die Sensibilität gegenüber Minderheiten, das Streben nach Toleranz und Rechtsgleichheit aller" schon i n dieser nichttheologischen Fassung als begründet erachtet 27 oder die Beschreibung 27 Das ist die summarische Beurteilung bei K . Rahner — H. Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium, Freiburg 21966 (1967), S. 441.

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nur als sozialphilosophisch noch unbegründetes, naturalistisches Material für die eigene Lehre des Konzils betrachtet, ob die Konstitution also eine auch schon verpflichtende natürliche Lehre von der politischen Gemeinschaft anerkennt oder ob die Verpflichtung ihre Einbettung in theologische Zusammenhänge voraussetzt. Alles i n allem scheint diese zweite Deutung des Abschnittes Nr. 73 dem Gedankengang des Kapitels am ehesten zu entsprechen 28 ; sie würde die andernfalls gegebene logische Beziehungslosigkeit zwischen ihm und den Abschnitten Nr. 74—76 vermeiden. Bis zum Beweis des Gegenteils (aus dem Gedankengang des Textes, nicht aus irgendwelchen rechtlich beweisunkräftigen „Materialien") w i r d sie daher i n dieser Studie als die richtige behandelt. Dann würde dem Abschnitt Nr. 73 auch eine subtile Note unterschwelliger Meinungssteuerung eignen, die mit seiner phänomenologischen Zweidimensionalität gut zusammenginge und mit seiner inhaltlichen Trivialität etwas versöhnte. 2. Unabhängig von dieser Frage ist die weitere Feststellung, daß die politische Bestandsaufnahme des Abschnitts Nr. 73 wissenschaftlich ungenügend ist. So wie er beschreibt, was i n den „verschiedenen Weltgegenden" verfassungspolitisch angestrebt wird, ist dieses Programm zum mindesten allen Mitgliedsstaaten der Vereinigten Nationen gemeinsam und darüber hinaus wohl auch den Staaten, die noch nicht zu ihnen gehören. Freiheit, Gerechtigkeit, Friede, politische Selbstregierung des Volkes sind sozusagen der Generalbaß für alle politischen Programme, die innerhalb und außerhalb der Vereinigten Nationen vertreten werden, so daß die konziliare Beschränkung auf die „plures" und die „ m u l t i " , statt der Erstreckung auf die Omnes, einen nach den politischen Programmen andersdenkenden Rest an Völkern oder Staaten insinuiert und insoweit falsch ist. Anderseits beschweigt der Abschnitt Nr. 73 aber mit einer Naivität, die mindestens ebenso erstaunlich ist wie die Ignorierung der vokabularischen Einmütigkeit aller heutigen Staaten und Völker, die doppelte sachliche K l u f t zwischen ihnen, die sie in Demokratien und Volksdemokratien und die Demokratien wieder i n Parteidemokratien und autoritäre Demokratien scheidet. Es gehört zu den Beschränktheiten des Konzilstextes und seiner progressistischen Kommentatoren, daß man kein Wort über diese beiden Unterscheidungen findet, obwohl sie zu den Grundtatsachen jeder allgemeinen Verfassungslehre gehören, die wissenschaftlich einwandfrei sein will. Daß man heute zwischen Ost- und 28 Auch E. Schlink: Die theologischen Grundlagen der Pastoralen Konstit u t i o n über die Kirche i n der heutigen Welt = W i r sind g e f r a g t . . . A n t w o r t e n evangelischer Konzilsbeobachter, hrsg. v. F. W. Kantzenbach und Vilmos Vajta, Göttingen 1966, S. 162, entscheidet sich für diese Auffassung.

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Westdemokratie unterscheiden muß, w i r d selbst dem einfachen Zeitungsleser hüben wie drüben so gut wie täglich eingehämmert, und daß innerhalb der westlichen Demokratien die Parteidemokratien die autoritären Demokratien nicht als demokratisch gelten lassen, auch; nur die Pastoralkonstitution „Von der Kirche i n der Welt dieser Zeit" hat das noch nicht erfaßt und legt eine soziologische Bestandsaufnahme der politischen Wirklichkeit vor, die davon nichts weiß. Wohlverstanden: es geht hier nicht darum, daß i n Abschnitt Nr. 73 eine Wahl zwischen den verschiedenen Formen der Demokratie vermißt würde, sondern um die naive, unwissenschaftliche, politisch ahnungslose Präsentierung unter einem einzigen Vokabular für alle Teilformen. 3. Die in Absatz 4 des Abschnittes Nr. 73 enthaltene Ablehnung freiheitsfeindlicher, verbrecherischer und vom Eigennutz der Machthaber gelenkter politischer Systeme kann gegen die soeben getroffene Feststellung nicht angeführt werden. Sie ist ebenso allgemein gehalten wie die übrige Bestandsaufnahme des Abschnitts und bietet keine Handhabe, sie staatenmäßig zu konkretisieren. Jede politische Richtung w i r d diese Charakteristik nur auf ihre Gegner beziehen; diese Feststellung ist gleichbedeutend mit der anderen, wissenschaftlich vernichtenden, daß sie unscharf ist, eindeutig nur i n der Formulierung, vieldeutig aber i n der Konkretisierung. Nach diesen Bemerkungen kann der Kanonist den Abschnitt Nr. 73 ad acta legen; weder die vorliegende noch spätere Konzilsstudien können mit einer wissenschaftlich so unprofilierten Darlegung irgend etwas anfangen. Als Einfügung i n eine aggiornierte Inszenierung von Holbergs „Politischem Kannegießer" könnte sie vielleicht noch nützlich sein. § 15. Abschnitt Nr. 74 handelt von „der Natur und dem Ziel der politischen Gemeinschaft". a) I n sechs Abschnitten entwickelt er eine Staatslehre, deren Kernbegriff das Gemeinwohl 2 9 als „die Summe jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens" ist, „durch welche" die Träger der bürgerlichen Gemeinschaft, nämlich die in ihr lebenden „Menschen, Familien und" nicht staatlich-öffentlichen 30 „Zusammenschlüsse umfassender und un20 Die Unterscheidung des Bonum commune i n ein ideales, anzustrebendes Gemeingut und i n seine fortschreitende V e r w i r k l i c h u n g i m Gemeinwohl — so z.B. G. Gundlach: A r t i k e l „Gemeinwohl", i n : S t a a t s l e x i k o n . . . , hrsg. von der Görres-Gesellschaft®, 3, Freiburg 1959, Sp. 737 — ist gekünstelt; die übliche Ubersetzung von B o n u m commune als „Gemeinwohl" vermag sich allen begrifflichen Nuancen anzupassen u n d verunklärt keine, da Bonum commune und Gemeinwohl ohnehin stets der Rückbeziehung auf die jeweils gemeinte Begriffsschattierung bedürfen. 80 Die Organe der mittelbaren Staatsverwaltung, die vielfach als K ö r p e r schaften des öffentlichen Rechts gestaltet sind u n d daher rein vokabularisch unter den „consociationes" der Bürger wenigstens insoweit m i t verstanden w e r -

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g e h e m m t e r i h r e V e r v o l l k o m m n u n g e r l a n g e n k ö n n e n " . U m dieses Gem e i n w o h l s w i l l e n besteht d i e politische Gemeinschaft u n d ist sie n o t w e n d i g , w e i l d i e b ü r g e r l i c h e Gemeinschaft aus sich heraus es n i c h t v e r wirklichen kann. D i e politische Gemeinschaft jedoch k a n n i h r e A u f g a b e n u r e r f ü l l e n , w e n n eine A u t o r i t ä t neben i h r v o r h a n d e n ist, die d e m a n sich l e g i t i m e n P l u r a l i s m u s der gesellschaftlichen E i n z e l m e i n u n g e n u n d -ziele steuert, so daß also politische Gemeinschaft u n d öffentliche G e w a l t i n gleicher Weise „ i n der menschlichen N a t u r " , also n a t u r r e c h t l i c h , b e g r ü n d e t s i n d u n d z u r S c h ö p f u n g s o r d n u n g Gottes gehören. B e i der L e i t u n g der Gemeinschaft ist die politische A u t o r i t ä t a n s i t t liche G r e n z e n g e b u n d e n ; sie m u ß f e r n e r eine P o l i t i k des auch w i r t s c h a f t l i c h e n Wachstums t r e i b e n 3 1 ; u n d sie m u ß das nach d e n V o r s c h r i f t e n einer den könnten, erscheinen, deutlich von ihnen abgesetzt, als „ I n s t i t u t a rem publicam repraesentatia". Vgl. auch die Bezugnahme E M 76, S. 807 auf die „sive singuli sive consociati, suo nomine tamquam cives" handelnden „christifideles": ihre Zusammenschlüsse liegen i n der gesellschaftlichen, p r i v a t rechtlichen, nicht i n der staatlichen, öffentlichrechtlichen Sphäre. 31 Dieses Element konziliarer Politischer Theologie ist deduziert aus zwei Wendungen des Abschnitts Nr. 74. I n Absatz 1 w i r d die politische Gemeinschaft verpflichtet, täglich ihre Kräfte zu vereinigen „ad commune bonum semper melius procurandum" ; nach Absatz 4 ist die politische A u t o r i t ä t gehalten „ad bonum commune — et quidem dynamice conceptum — procurandum". Das „bonum commune dynamice conceptum" ist ein undeutlicher Ausdruck. Wörtlich besagt er, daß über dem jeweils erreichten Grad von a l l gemeiner Verwirklichung des Gemeinwohls immer noch ein höherer Grad liegt, daß die Ausübung der politischen Gewalt also insoweit immer weiterschreiten muß und asymptotisch weiterschreitet. A u f den zivilisatorischen und k u l t u r e l len Fortschritt läßt sich diese Wendung nicht beschränken, und die heute naheliegende Beziehung auf das ökonomische Wachstum, auf die Dynamisierung von Produktion, Preis und vor allem Einkommen, läßt sich nicht ausschließen. Ob diesem diffizilen Text die „Übersetzung" i n der amtlichen deutschsprachigen Ausgabe der Konstitution — sie schreibt: „dieses", nämlich das Gemeinwohl, „aber dynamisch verstanden" — und das völlige Stillschweigen des progressistischen Kommentators zu der Wendung Genüge tun, darf man w o h l bezweifeln. Auch die Qualifizierung der Wendung als eines Zusatzes „ v o n außerordentlicher Tragweite" (Rahner-Vor grimier: Konzilskompendium, S. 441), ist nicht eben erleuchtend. Exegetisch unangreifbar ist jedenfalls die Verknüpfung der Wendung m i t der anderen i n Absatz 1, der Bezugnahme auf die Vereinigung aller K r ä f t e „zur immer besseren Verwirklichung des Gemeinwohls". Beide Wendungen stimmen sachlich i n der Pointe der Dynamisierung überein; zu der Wendung i n Absatz 1 aber w i r d i n der A n m e r k u n g 1 des Kapitels auf eine Seite aus der Enzyklika Johannes' X X I I I . „Mater et Magistra", vom 15. M a i 1961 = Acta Apostolicae Sedis 53, Rom 1961, S. 417, verwiesen. Und diese Seite k n ü p f t den sozialen Fortschritt an eine möglichst große Förderung der „ c i v i u m commoda", also — i n einem Zusammenhang, der „rei oeconomicae cursum", die w i r t schaftliche Entwicklung, i n Bezug n i m m t — an eine möglichst große w i r t schaftliche Förderung. Damit ist die i m Text gegebene Auslegung so lange begründet, als es nicht gelingt, die Darlegungen von „ M a t e r et Magistra", S. 417, von ihrer primären Verwurzelung i m ökonomischen Bereich zu lösen. U m einem möglichen MißVerständnis zuvorzukommen: die Ansicht, daß der gesellschaftliche Fortschritt i m allgemeinen Sinne auf einen ökonomischen

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entsprechenden und entsprechend festgelegten Hechtsordnung tuen. Innerhalb dieser dreifachen Begrenzung ist der politische Gehorsam der Bürger Gewissenspflicht; bei ihrer Überschreitung und für den Bereich, der außerhalb dieser Grenzen liegt, haben die Bürger ein, bei der Wahl der M i t t e l an das Natur- und neutestamentliche Gesetz gebundenes, Widerstandsrecht. Die Festlegung der Regierungsform schließlich und die Bestimmung der Autoritätsträger ebenso wie die konkrete verfassungsmäßige und gesetzliche Ordnung stehen der freien Entscheidung der Bürger und sodann, durch sie, der politischen Gemeinschaft zu. Die Rechtsordnung braucht also nicht unbeweglich zu sein und ist nicht vorgegeben; unverrückbar bleibt nur das Endziel: „die Formung eines gebildeten, friedliebenden und gegen alle wohltätigen" Menschen, der i m Dienste der „ganzen Menschheitsfamilie" steht, also eine Entwicklung vom Nationalstaat zum Weltbürgertum. b) Als Begründung dieser Staatslehre dienen zwei Gruppen von A r gumenten: i n den Text aufgenommene Principia primaria und i n A n merkungen nachgewiesene Autoritäten. 1. Als Principia primaria lassen sich bezeichnen: die Zurückdrängung der staatlich-politischen Form auf ein wenn auch unentbehrliches Hilfsmittel für den gesellschaftlich-privaten Fortschritt der „Menschen, Familien und Zusammenschlüsse"; die Notwendigkeit einer öffentlichen Autorität zur Sicherung der einheitlichen politischen Gemeinschaft gegen den Pluralismus der bürgerlichen; die Bindung dieser Autorität an die sittliche Ordnung, das Gemeinwohl und eine rechtsförmige Betätigung. Alle anderen Darlegungen des Abschnitts Nr. 74 folgen aus diesen drei Principia primaria, und diese ihrerseits werden als Bestandteil der naturrechtlichen und damit der Schöpfungsordnung erklärt. 2. Daneben steht als Autoritätsbeweis für den Begriff des Gemeinwohls die Lehre der Enzyklika „Mater et Magistra" Johannes* X X I I I . 8 2 und für die Ableitung von politischer Gemeinschaft, politischer Autorität und politischer Gehorsamspflicht der Bürger aus dem Naturrecht und der Schöpfungsordnung die Darlegung Rom. 13,1—5 33 . Fortschritt angewiesen sei, soll hier i n keiner Weise kritisiert werden. Es gehört vielmehr zu den Kardinalfehlern von „Mater et Magistra" w i e der heutigen katholischen Soziallehre überhaupt, daß sie die unzerreißbare Bindung jeglichen nichtökonomischen gesellschaftlichen Fortschritts an wachsende ökonomische Leistung so wenig bedenkt u n d immer wieder gesellschaftspolitische Vorschläge macht, die das ökonomische Wachstum behindern u n d so m i t der Präzision eines vollendet geworfenen Bumerangs sich selbst frustrieren. 32 Darüber vgl. A n m . 31. Die dort analysierte Seite aus „ M a t e r et Magistra" ist auch i n Anm. 2 des Kapitels gemeint. 33 Darüber vgl. §§ 26 c, 27 b.

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c) Der progressistische Kommentator führt seine kritische und i m Grunde ablehnende Auseinandersetzung m i t dieser konziliaren Lehraussage formal, indem er immer wieder sich auf die Staatslehre anderer Konzilsdokumente bezieht, besonders auf die Erklärung über die Religionsfreiheit, weil Abschnitt Nr. 74 begrifflich unvollständig, undeutlich, zu allgemein sei, und inhaltlich, indem er die i n dem Kapitel über die politische Gemeinschaft nach seiner Meinung fehlende 34 Herabdrückung des Staates auf eine der gesellschaftlichen Gemeinschaft untergeordnete, dienende Aufgabe betont und ihn „entmythisieren" will. Als Entmythisierung aber versteht er i m wesentlichen, unter Berufung auf J. Maritain, den Vollzug „ ,des totalen Verzichts auf die Idee oder das Idol der Souveränität des Staates, auf die Idee dieses, wie Hobbes sagte, sterblichen Gottes, der i m 16. Jahrhundert aus dem Kopfe Jean Bodins geboren wurde und souveräner Staat heißt' und zwar als Vorbedingung für die Errichtung einer wirklichen politischen Weltorganisation" 35 . d) Mißt man diesen Kommentar an der unter a) gebotenen inhaltlichen Analyse des Abschnitts Nr. 74, so stößt er zum einen offene Türen ein: Abschnitt Nr. 74 depossediert den Staat weitaus radikaler, als man nach dem progressistischen Kommentar annehmen sollte, und der korrekte Kanonist steht hier vor der konzilstheologisch und theologiepolitisch aufschlußreichen Notwendigkeit, daß er die progressistische Leistung des Konzils gegen ihre progressistischen Verkleinerer i n Schutz nehmen muß. Wie er sich überhaupt darüber wundert, daß ausgerechnet die Konstitution „Gaudium et spes" immer wieder von progressistischer Seite als mangelhaft hingestellt wird, obwohl sie eine wahre Mustersammlung soziologischer, politischer und sozialpolitischer Progressismen ist. I m vorliegenden Abschnitt jedenfalls leistet die konziliare Lehre von dem Wesen des Gemeinwohls und der bürgerlichen Gemeinschaft alles, was man für den Aufbau eines liberalen Rechtsstaates ohne HobbesAttribute nur wünschen kann. Das Sonderbare ist, daß die konziliare Lehre von der politischen Gemeinschaft und politischen Autorität dieser Lehre vom liberalen Rechtsstaat völlig widerspricht. Dieser innere Widerspruch muß ein Hauptthema der Kommentierung des Abschnitts Nr. 74 sein; aber der progressistische Kommentator hat ihn völlig übersehen. 34 Diese naive Mißkennung des Abschnitts Nr. 74 ist ein L e i t m o t i v des ganzen Kommentars von La Valle; sie w i r d m i t besonderer Deutlichkeit ausgesprochen Barauna: Die Kirche i n der Welt von heute, S. 415, wo behauptet w i r d , daß die Erklärung über die Religionsfreiheit die „Lücke" i n „ G a u d i u m et Spes" fülle, die sich aus dem Schweigen der Konstitution über „jene schriftgemäße Auffassung v o m Staat u n d der Beziehung zwischen Gesetz u n d Heil, zwischen Schwert und Gottesreich" ergebe. 35 Barauna: Die Kirche i n der Welt von heute, S. 410.

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Das Bekenntnis zum liberalen Rechtsstaat und das ihm widersprechende Verständnis der öffentlichen Gewalt sind zwei der drei Kernpunkte des Abschnitts; der dritte und letzte ist das Gemeinwohl, so wie das Konzil es i m vorliegenden Zusammenhang versteht. Der Kommentator füllt ganze Seiten mit erregten Monologen darüber, ob das Gemeinwohl natürlich oder übernatürlich sei, ob es zur politischen oder zur Heilsgeschichte gehöre, und w i r f t dem Abschnitt Nr. 74 i n kaum verhüllter Form vor, daß er die Durchsetzung des Gemeinwohls schlechthin dem Staat ausliefere und diesen damit überbewerte, weil der Staat „ f ü r die Heilsgeschichte, für jenes »Gemeinwohl·, das die Kirche als messianisches und prophetisches Volk auf dieser Welt anstrebt, nicht ausschlaggebend" sei 36 und ihm nur, wie die Erklärung über die Religionsfreiheit sage, das „zeitliche Gemeinwohl" als Aufgabe zugewiesen sei 37 . Es ist schon unter a) dargelegt worden, daß i n Wirklichkeit der Abschnitt Nr. 74 das zeitliche Gemeinwohl und, noch deutlicher werdend, dessen ökonomische Grundlegung, als ein Element seiner Politischen Theologie hinstellt. Sie läßt sich daher vom Abschnitt Nr. 74 aus kennzeichnen als eine Politische Theologie, i n der die drei Begriffe zeitliches Gemeinwohl, politische Gemeinschaft und öffentliche Gewalt ein magisches Dreieck bilden. Ein Kommentar, der das nicht herausarbeitet und nicht dieses Dreieck zum Gerüst seiner Erörterungen macht, braucht nicht weiter beachtet zu werden. § 16. Abschnitt Nr. 75 stellt neben die konziliare Staatslehre unter der Überschrift „Über das Zusammenwirken aller i m öffentlichen Leben" eine Verfassungslehre, die a) als unentbehrliche Voraussetzung für die M i t w i r k u n g aller Bürger am öffentlichen Leben eine, teilweise bis i n Einzelheiten hinein beschriebene demokratische und liberale, nämlich den politischen Pluralismus anerkennende und ihn unter das Gesetz der gleichen Chance stellende, Verfassung fordert. b) Begründendes Principium dieses demokratischen und liberalen Verfassungsprogramms ist die einleitende Erklärung: „Der menschlichen Natur entspricht es vollkommen, daß politisch-rechtliche Bildungen gefunden werden, die allen Bürgern immer besser und ohne jede ungleiche Einstufung eine wirksame Möglichkeit bieten, frei und tätig teilzunehmen sowohl an der Bestimmung der Rechtsgrundlagen der politischen Gemeinschaft wie an der Leitung des Staates und der Zuweisung der Tätigkeitsbereiche und Aufgaben an die verschiedenen" staatlichen 88 „Einrichtungen wie an der Wahl der Amtsträger". 36

Barauna: Die Kirche i n der Welt von heute, S. 413. Barauna: Die Kirche i n der Welt von heute, S. 414. Die angezogene Stelle aus der konziliaren E r k l ä r u n g „De liberiate religiosa" findet sich i n deren Abschnitt 3 (S. 516). 38 Vgl. Anm. 30. 37

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Hinzu treten i n den Anmerkungen Bezugnahmen auf lehramtliche Aussprüche Pius' XI., Pius' X I I . und Johannes' X X I I I . Tragende neutestamentliche Belegstellen werden weder unmittelbar noch mittelbar, i n den zitierten päpstlichen Aussprüchen, angeführt; auch diese beschränken sich durchweg auf naturrechtlich gemeinte Aussagen des Common sense. Alles i n allem fehlt also eine offenbarungsmäßige Fundierung des Abschnitts Nr. 75; er w i r d rein naturrechtlich dargeboten. c) Dem progressistischen Kommentator ist der Abschnitt als wenig wichtig erschienen; er begnügt sich 39 m i t einer kurzen Inhaltsangabe, die nur, wie er, anscheinend ahnungslos an der fundamentalen Bedeutung des Abschnitts Nr. 75 für die Gesamtbeurteilung der konziliaren Soziallehre vorbeisehend, sich abschwächend ausdrückt, den „Vorzug" erkennen läßt, den das Konzil „den demokratischen Regierungsformen" gibt. Ebensowenig erörtert er die Frage, ob sich Abschnitt Nr. 75 mit den Aussagen des Abschnitts Nr. 74 über die öffentliche Gewalt vereinigen läßt. d) Es mag sein, daß der progressistische Kommentator damit die subjektive Einsicht des Konzils in seine eigene Lehre zutreffend umschreibt; der objektive Widerspruch zwischen Abschnitt Nr. 75 und der Lehre des Abschnitts Nr. 74 von der öffentlichen Autorität, der Widerspruch auch zwischen Abschnitt Nr. 75 und dem beflissenen kirchlichen Dialog mit dem Marxismus und den marxistischen Staaten i m allgemeinen und der Brandmarkung des (wirtschafts-)politischen Liberalismus i n der Enzyklika „Populorum progressio" i m besonderen treten bei einer solchen „Kommentierung" völlig zurück und können dem Wißbegierigen, der sich mit dieser „Untersuchung" begnügt, nicht aufgehen, so daß es Sache des korrekten Kanonisten wäre, diese erfreuliche konziliare Gegenposition gegen den Dirigismus der progressistischen kirchlichen Soziallehre i m einzelnen zu erörtern. I m vorliegenden Zusammenhang kann das freilich nicht geschehen; es hieße das ,,'άντα τιτυσκόμενος" dieses Aufsatzes gefährden, wollte man die groteske Widersprüchlichkeit zwischen der weltlichen, staatlichen Verfassungslehre des Konzils und den politischen Spezialprogrammen sowohl des Konzils selbst wie der nachkonziliaren lehramtlichen Verkündigung des Hl. Stuhles und einer Reihe von Bischofskonferenzen in ihn einbeziehen. Dafür muß eine andere Gelegenheit abgewartet werden. § 17. Den Schlußteil des Kapitels bildet der Abschnitt Nr. 76 über „Politische Gemeinschaft und Kirche". a) Seine sechs Absätze kreisen um drei Thesen: um die generische Verschiedenheit von Kirche und politischer Gesellschaft, um die trotzdem 39

Barauna: Die Kirche i n der Welt von heute, S. 416.

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vorhandene reale Unteilbarkeit religiöser und politischer Bindung des Bürgers samt dem daraus folgenden Recht der kirchlichen Verkündigung, in voller Freiheit auch die Soziallehre und die moralische Beurteilung der politischen Ordnung einzubeziehen, und schließlich um die Nützlichkeit eines gesunden Zusammenwirkens zwischen Kirche und politischer Gemeinschaft. b) Das Principium primarium dieser Thesen ist die „transcendentia humanae personae", die über den politischen Bereich hinausgreifende Wesensart des Menschen. Durch Anmerkungen w i r d es nicht unterbaut; die beiden Anmerkungen am Schluß des Abschnitts, ein Selbstzitat des Konzils aus der Kirchenkonstitution und ein Hinweis auf Luk. 2, 14, haben wie der Schlußabsatz, in den sie gehören, nur rhetorische Bedeutung. c) Der progressistische Kommentator sieht i n Abschnitt Nr. 76 die „Befreiung der Kirche von jedem Rest einer Verbindung mit der" politischen „Macht" grundgelegt, woraus er insbesondere die nunmehrige theologische Unzulässigkeit des Versuchs folgert, eine bestimmte Partei für die allein christliche zu erklären 4 0 . d) Kanonistisch w i r d man gewisse Zweifel i n die Meinung des Kommentators setzen, daß das Konzil hier einen wesentlichen Schritt über die kirchliche Verkündigung der letzten Jahrzehnte, also auch der heute in ein verlegenes Chiaroscuro zurückgeschobenen Verkündigung der drei Piuspäpste dieses Jahrhunderts (bei gewissen mildernden Umständen für Pius XI.) getan habe. Der kanonistische Rechtshistoriker w i r d sogar feststellen, daß schon Bonifaz V I I I . in der Bulle „Unam sanctam" (1302) ungefähr die gleiche grundsätzliche Vorstellung vom Verhältnis zwischen Ewigem und Zeitlichem, zwischem Religiösem und Politischem hatte 4 1 und daß noch heute mit der konziliaren Freigabe des politischen Engagements in der Theorie sich genau so wie in der mittelalterlichen Hierokratie die Forderung nach einem Gehorsam verbinden kann, der praktisch i n die monolithische Geschlossenheit der katholischen Wähler führt 4 2 . 40

Barauna: Die Kirche i n der Welt von heute, S. 416—419. Der theologische Knotenpunkt der Bulle „ U n a m sanctam" ist die Aussage (I. B. Lo Grasso: Ecclesia et S t a t u s . . . Fontes selecti, Rom 1939, S. 190): „ N a m secundum Β. Dionysium lex divinitatis est infima per media i n suprema reduci. Non ergo secundum ordinem universi omnia eque ac immediate, sed infima per media, inferiora per superiora ad ordinem reducuntur." Aus der gleichen Überzeugung erwächst die insofern entscheidende konziliare Aussage E M 76, S. 809, es sei das Recht der Kirche, „ i u d i c i u m morale ferre, etiam de rebus quae ordinem politicum respiciunt, quando personae iura fundamentalia aut anim a r u m salus i d e x i g a n t . . . " . Der Unterschied zwischen beiden Lehrdokumenten liegt i n den Folgerungen u n d i n der jeweiligen konkreten Bestimmung des moralischen Elements i m politischen Bereich, nicht i m Prinzip. 42 Vgl. die Erklärung des italienischen Episkopats über die Christen und das öffentliche Leben vom 16. Januar 1968, i n : L'Osservatore Romano 108, 1968, 41

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Aber auch das soll hier auf sich beruhen bleiben: neben der Staatslehre und der Verfassungslehre ist die politische Lehre von dem, was Gottes ist, und dem, was des Kaisers ist, ein drittes Thema des konziliaren Kapitels über das Leben der politischen Gemeinschaft. Und drei Themen sind für einen Festschriftaufsatz zu viel; er muß sich auf eines beschränken. Als solches ist, wie schon mehrfach angedeutet wurde, die konziliare Staatslehre gewählt worden. III. § 18. Die Isolierung des Abschnitts Nr. 74 der konziliaren Pastoralkonstitution erlaubt es, die nunmehr erreichte Hauptfrage des Aufsatzes, ob Politische Theologie, wenigstens in der Gestaltung, i n der sie i n dem bezeichneten Abschnitt geboten wird, ein Irrweg ist, auf verhältnismäßig knappem Raum und zugleich so zu beantworten, daß der Pfeil dieses Aufsatzes nicht, ähnlich dem ruhenden Pfeil des Zenon, vor den verschiedenen Zielpunkten unentschieden verharrt, sondern, wie der Pfeil des Odysseus, geradeaus entsandt w i r d und trifft. Wenn die Auslegung und Würdigung, die Abschnitt Nr. 74 i m folgenden erfährt, m i t anderen Aussagen des Konzils oder des ordentlichen allgemeinen kirchlichen Lehramtes unvereinbar ist, so stellt das nur die mangelnde Kohärenz ihrer Politischen Theologie bloß, kann aber die Exegese des Abschnitts Nr. 74 nicht widerlegen: die wäre nur mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. § 19. I m allgemeinen w i r d der Kanonist, insofern er zugleich und zunächst Theologe ist, das scholastische A x i o m „ab esse ad posse valet illatio" auch für sich als verbindlich ansehen und eine Konzentrierung seiner Fachuntersuchungen auf das kirchliche Esse für ausreichend erachten. Aber gegenüber der progressistischen Theologie w i r d er, da er auch als Theologe Kanonist und damit Positivist bleibt, es für notwendig halten, das Esse und das Posse, die Wirklichkeit und die Möglichkeit der Politischen Theologie, doch scharf zu trennen und beide gesondert zu Nr. 18, 24. Januar, S. 3, wo unter dem beziehungsreichen U n t e r t i t e l „Pluralismo ο unità nel partito politico" klargestellt w i r d , daß Pluralismus u n d Parteieinheit miteinander verträglich seien u n d daß die Stunde eine Betätigung des Pluralismus verlange, die zur Einheit führt. Daß die Erklärung auf dieses Verständnis ihrer stark verschleierten Aussagen u n d nicht auf die von kanonistisch u n d exegetisch unbewanderten Journalisten aus i h r herausgelesene Freigabe der politischen Entscheidung abzielt, w i r d durch die nicht gezeichnete und daher — vgl. Barion: Kirche oder Partei?, S. 155 Anm. 61 — autoritative Stellungnahme des Osservatore Romano ebd., Nr. 38, 16. Februar, S. 1 „Per la chiarezza" bestätigt. Vgl. auch die zu dem angeblichen Pluralismus schlecht, zu dem Prinzip Bonifaz' V I I I . gut passende offiziöse Beklagung der Tatsache, daß zwei bis dahin führende Funktionäre des italienischen katholischen Verbandswesens nicht mehr f ü r die Christlich-Demokratische Partei, sondern für die Kommunistische eintreten (L'Osservatore Romano ebd., Nr. 56, 8. März, S. 1: r(aimondo) m(anzini; der Chefredakteur): Due episodi.

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erörtern. Demgemäß richtet er an die konziliare Staatslehre zwei Fragen: Ist sie Politische Theologie (§§ 20—24)? Und ist sie Theologie (§§ 25—27)? Diese kanonistische Inquisition muß dann abgerundet werden durch die Frage nach der wissenschaftlichen Bedeutung des Abschnitts Nr. 74 und nach den Ansatzpunkten, die er für die theologische Überwindung der progressistischen Selbstentfremdung der Kirche bietet (§§ 28—34). Der ganze Abschnitt I I I des Aufsatzes aber beansprucht, der erste wissenschaftlich zureichende Kommentar zu Abschnitt Nr. 74 der Pastoralkonstitution und zugleich das, i n vielem noch unvollständige, aber grundsätzlich zureichende Maß für die übrigen Kommentare zu sein, für die schon erschienenen und für die noch erscheinenden. § 20. Die erste Frage — Bietet Abschnitt Nr. 74 politische Theologie? — ist in § 15 schon i n vorläufiger Form bejaht worden: die Staatslehre des Konzils enthält je eine Aussage über das Gemeinwohl, über die politische Gemeinschaft und über die öffentliche Gewalt, die zusammen eine Politische Theologie des Staates ergeben. Alle drei Aussagen sollen nunmehr i m einzelnen durchleuchtet werden. § 21. A n die erste Stelle gehört die Analyse des konziliaren Gemeinwohlbegriffs, weil a) das Gemeinwohl die Causa finalis sowohl für die politische Gemeinschaft wie für die öffentliche Autorität ist. Für die politische Gemeinschaft w i r d das i n der Erklärung ausgesprochen: „Die politische Gemeinschaft besteht... um" des „Gemeinwohls willen; i n ihm findet sie ihre volle Rechtfertigung und ihren Sinn, und aus ihm entnimmt sie ihr grundlegendes und eigenes Recht." Für die öffentliche Autorität stimmt damit überein die Aussage: „Damit nicht die politische Gemeinschaft auseinandergezerrt werde, indem jeder seiner Meinung folgt, ist eine Autorität erforderlich, welche die Kräfte aller Bürger auf das Gemeinwohl hinlenkt." Daneben steht nun die konziliare Definition des Gemeinwohls: „Das Gemeinwohl umfaßt die Summe jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, durch die es den Menschen, den Familien und den Zusammenschlüssen möglich wird, sich umfassender und ungehemmter zu vervollkommnen." Diese Definition faßt das Gemeinwohl nicht als ein Ganzes, sondern, wie sie ausdrücklich sagt, als eine Summe; ein ganzheitliches Gemeinwohl, i n dem das Wohl der einzelnen Glieder aufginge und „integriert" würde, läßt sich daraus nicht ableiten. Man muß sogar fragen, ob nicht auch der Terminus „Summe" noch zu hoch greift; denn es läßt sich weder aus dieser Definition noch aus den anderen Bezugnahmen des Abschnitts Nr. 74 auf das Gemeinwohl eine Möglichkeit ableiten, die Bedingungen für das Wohl der einzelnen Glieder zu summieren. Man möchte sie eher als eine ungeschickte Paraphrase der Marx3 Festschrift f ü r C a r l S c h m i t t

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sehen These ansehen, daß die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller sei. Das Gemeinwohl der konziliaren Definition betrifft, exakt gesprochen, nicht eine Summe, sondern eine Menge: ein Nebeneinander dreier Klassen — „Klasse" hier und weiterhin stets i m quantitativen, logistischen Sinn genommen — mit zahlreichen oder sogar ungezählten Elementen, der Einzelnen, der Familien, der Zusammenschlüsse; und das Gemeinwohl selbst ist die Summe der Bedingungen, unter denen alle drei Klassen der bürgerlichen Gemeinschaft, die Einzelnen, die Familien, die Zusammenschlüsse, ihr eigenes Wohl am besten finden. Dieser Gemeinwohlbegriff ist also ausgesprochen pluralistisch und bietet keine Plattform für Aufopferungsansprüche der Zusammenschlüsse an die Familien oder der Familien an die (nicht zu ihnen gehörenden) Einzelnen. Der pluralistische Gemeinwohlbegriff des Abschnitts Nr. 74 steht zu der Gemeinwohlmystik, die das Vehikel so gut wie aller progressistischen und lehramtlichen Hinwendungen zum Marxismus und aller Verdammungen des Liberalismus ist, i n einem scharfen Gegensatz. Man kann sogar fragen, ob er nicht auch der klassischen katholischen Lehre vom Gemeinwohl, wie sie Thomas von Aquino grundgelegt hat, widerspricht, obwohl i n der konziliaren Definition schwebende Anklänge an die Summa theologica unüberhörbar sind. Aber die vorliegende Konzilsstudie macht wie die ihr vorangegangenen und die als Fortsetzung geplanten nachfolgenden zunächst einmal Ernst mit der Annahme, daß das Konzil in der Tat, wie die Progressisten ständig behaupten, ein Neues pflügen wollte und, soweit die reaktionäre Minderheit von Anhängern der vorkonziliaren Theologie das nicht durch ihre Hintertreppengewandtheit verhinderte, auch gepflügt hat; daher verläßt die Studie sich darauf, daß kein Progressist sich das Armutszeugnis ausstellen wird, gegen die vom Kanonisten angerufene Autorität der konziliaren Aussagen voraggiornamentale Argumente ins Feld zu führen. Solange die vorgelegte Exegese der konziliaren Definition des Gemeinwohls nicht aus Abschnitt Nr. 74, also, wie man heute sagt, systemimmanent widerlegt wird, bleibt es dabei: Sein Gemeinwohlbegriff ist pluralistisch. b) Damit ist die Exegese des konziliaren Gemeinwohlbegriffs aber noch nicht erschöpft. Für seine politische Struktur ist fast noch wichtiger, daß der konziliare Begriff des Gemeinwohls freiwillige Zusammenschlüsse voraussetzt. Das ergibt sich zum einen aus der Bemerkung in Abschnitt Nr. 74, daß die „vielen und verschiedenen Einzelnen... berechtigt sind, sich verschiedenen" gesellschaftlichen und/oder politischen „Programmen zuzuwenden", zum anderen aus der konziliaren Weisung des Abschnitts Nr. 7 5 4 3 an die staatlichen Autoritäten, daß sie „die Fa43

E M Nr. 75, S. 805.

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milien-, sozialen und kulturellen Zusammenschlüsse" sowie die zwischen dem Staat und seinen Bürgern stehenden, also „nichtstaatlichen Körperschaften und Anstalten nicht behindern,... sondern . . . zu fördern bestrebt sein sollen". Diesen beiden Aussagen würde ein staatlich-rechtlicher Zwangscharakter bestimmter „intermediärer" Zusammenschlüsse völlig widersprechen; ein kirchlich-rechtlicher Zwang zu bestimmten Zusammenschlüssen ist ohnehin aus dem ganzen Kapitel über die politische Gemeinschaft nicht ableitbar und wäre mit der eschatologischen Bestimmtheit des wandernden Gottesvolkes unvereinbar. Die in dem Kapitel über die politische Gemeinschaft i n Bezug genommenen Zusammenschlüsse sind nicht auf das Jenseits, sondern auf das Diesseits gerichtet, nicht auf den Himmel, sondern auf die Erde. Damit ist der Gemeinwohlbegriff des konziliaren Kapitels über die politische Gemeinschaft für die noch zu ziehende Summe dieser Studie genugsam durchleuchtet, und es folgt nunmehr die Durchleuchtung § 22. des konziliaren Begriffs der politischen Gemeinschaft. Was für die Zwecke dieser Studie an i h m wichtig ist, läßt sich in die Feststellung fassen, daß es nach der konziliaren Definition ein Gemeinwohl nur bis unterhalb der bürgerlichen Gesamtgesellschaft gibt, daß die bürgerliche Gesellschaft als ganze kein denkbares Subjekt des Gemeinwohls ist, sondern nur seine Schale oder Ebene. Jede Berufung auf das Gemeinwohl muß dartun, daß sie die Perfectio plenior atque expeditior der Homines, familiae et consociationes fördert; mit der Behauptung; daß die Perfectio plenior atque expeditior der Communitas civilis als eines Ganzen etwas erheische oder verbiete, kann sie i m Rahmen der konziliaren Politischen Theologie nicht gehört werden. Der Nachweis dieser These, deren Sprengkraft für so viele politische Lieblingssätze der progressistischen „Theologie", etwa für die Thesen der Enzyklika „Populorum progressio", hier nicht i m einzelnen erörtert werden kann und, wegen ihrer Offensichtlichkeit, nicht erörtert zu werden braucht, hängt an der Frage, ob die Communitas civilis unter den Consociationes mitverstanden werden kann; denn daß i n einer soziologischen Reihe, die von Homines, familiae, consociationes gebildet wird, die Communitas civilis nicht schon i n den Klassen Homines und/oder Familiae existiert, ist eines Nachweises nicht bedürftig. Die Consociationes nun — vielfach auch Coetus genannt — sind innerhalb der Communitas civilis nach der insoweit maßgeblichen Erläuterung zu Beginn des Abschnitts Nr. 74 die Elemente einer stets vorhandenen Klasse, die sie durch ihre eigene Vervielfachung aufbauen; die Communitas civilis, also die Gesellschaft, ist nicht selbst ein Coetus, sondern besteht außer aus Einzelnen und Familien aus Coetus, und die Bindung 3*

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an das Gemeinwohl beschränkt sich ihr gegenüber auf ihre Klassen und begreift sie nicht mit ein. Die Communitas civilis aber geht ihrerseits auf i n der Communitas politica, die als eine Communitas amplior beschrieben wird. Das quantitative Verständnis von „amplior" gäbe i n diesem Zusammenhang keinen Sinn. Eine Communitas politica läßt keinen Raum für mehrere Communitates civiles; der Staat besteht nicht aus mehreren Gesellschaften. Also muß hier das „amplior" qualitativ, als „straffer", verstanden werden, als Ordnungsgemeinschaft gegenüber einer Aggregationsgemeinschaft, als politische gegenüber einer nur gesellschaftlichen Ordnung der quantitat i v gleichen und empirisch identischen Menge von Klassen und Elementen. Die Bedeutung dieser Verhältnisbestimmung zwischen Communitas politica und civilis und der aus den drei Klassen der Einzelnen, der Familien und der Zusammenschlüsse bestehenden Gesellschaft für die Politische Theologie liegt in der Bindung der politischen Gemeinschaft an die bürgerliche und der bürgerlichen, der Gesellschaft also, an ihre drei Klassen, die ihrerseits kein Fundament für die Begründung einer in sich ruhenden, durch ein staatspersonales — um es mit dem von dem progressistischen Kommentator beschworenen mythischen Symbol etwas sprachgewaltsam zu sagen: durch ein leviathaneskes — Individuationsprinzip bedingten politischen Gemeinschaft bieten und als Primärklassen und -elemente auch die Heranziehung anderer Klassen und Elemente, die dann notwendig sekundärer A r t sein würden, für die Begründung einer i n sich ruhenden Staatsperson nicht erlauben. Die politischen Gemeinschaften des Kapitels I V der Pastoralkonstitution verhalten sich zu den Staaten der politischen Welt, die jeweils einem nicht an die allerorten gegebene Vielzahl gesellschaftlicher Klassen und Elemente gebundenen, sondern als primäres Datum auftretenden Individuationsprinzip gehorchen, wie die nur durch beliebig verstellbare Trennwände geschaffenen Innenräume einer modernen Büro-Etage zu einer durch tragende Mauern bestimmten Raumfolge. I n der konziliaren Politischen Theologie ist die Communitas politica nichts Festes, eigenständig Individuiertes, überhaupt nichts Reales, sondern nur die terminologische Verdoppelung der Communitas civilis, die deren Unterstellung unter eine „auctoritas publica" ermöglichen soll. U m es mit den Worten von § 15 zu sagen: Die konziliare Lehre von dem Wesen des Gemeinwohls und der bürgerlichen Gesellschaft leistet alles, was man sich für den Aufbau eines Staates ohne Hobbes-Attribute, ohne Leviathan-Charakter nur wünschen kann. § 23. I n einem auffälligen Gegensatz zu dieser Destruierung des Hobbesschen Leviathans steht die der öffentlichen Gewalt vom Konzil zugeschriebene Aufgabe.

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a) Das konziliare Verständnis der öffentlichen Gewalt ist zunächst i n sich selbst völlig unstimmig. Sie soll dazu dienen, die „Kräfte aller Bürger", die an sich „rechtmäßig sich verschiedenen Programmen zuwenden können", „auf das Gemeinwohl hinzulenken". Das ist nur möglich, wenn die Legitimität der verschiedenen Programme zugunsten eines einzelnen, für die Verwirklichung ausersehenen Programms auf die Theorie beschränkt bleibt. Dieses Einzelprogramm mag ein Kompromiß, etwa i n einer Koalitionsregierung, zwischen mehreren theoretischen Programmen sein; jedenfalls ist und bleibt das vom Konzil der öffentlichen Autorität zugesprochene Recht zu seiner Durchführung und zur Versetzung der nicht berücksichtigten Programme oder Programmteile in eine A r t von Theorien-Archiv unvereinbar mit einer i m üblichen Sinn verstandenen Legitimität freier Programmwahl und -durchführung. Hier auf einmal w i r d die Communitas politica zu einem Ganzen, das nicht durch programmatischen Pluralismus der Einzelnen (oder der Familien, der Coetus) „auseinandergezerrt" werden darf, ohne daß dieses m i t dem pluralistischen Verständnis des Gemeinwohls, wie es von dem Konzil i n dem gleichen Abschnitt entwickelt worden ist, unvereinbare Postulat irgendwie theoretisch grundgelegt würde. Daß die Probleme vor allem im nicht Begründeten, also i m axiomatisch Verstandenen zu liegen pflegen, kann der progressistischen Theologie bei der Formulierung dieser Lehre von der öffentlichen Gewalt nicht bewußt gewesen sein. b) Diese für die theoretische Höhe progressistischen Räsonnements symptomatische Spaltsinnigkeit der konziliaren Lehre von der öffentlichen Gewalt läßt sich verfassungsrechtlich definieren als das unreflektierte Ineinander von pluralistischer Struktur der Gemeinschaft und ihrer politischen Begründung auf eine Volonté générale, mit der konkreter Pluralismus in den von ihr bestimmten Bereichen unvereinbar ist. I m vorliegenden Zusammenhang kommt es vor allem darauf an, die Verwandtschaft, die materielle Identität des konziliaren Begriffs der öffentlichen Gewalt mit dem verfassungsrechtlichen Begriff der Volonté générale herauszuheben. Zwar hat das Konzil vermutlich nicht an Rousseau gedacht; jedenfalls aber hat es die Implikation und ethisch unabdingbare Voraussetzung der Lehre vom Willen aller nicht gesehen: die Volonté générale setzt die Homogenität der Einzelwillen voraus 44 und ist eben darum mit ihrem Pluralismus nicht verträglich. Weil die öffentliche Gewalt des Abschnitts Nr. 74 eine Volonté générale i m technischen Sinne einer nichtpluralistischen, antipluralistischen Demokratie ist, kann es zwischen dem Pluralismus der konziliaren Communitas civilis und der Einlinigkeit der konziliaren Auctoritas publica keine rechtliche Koexistenz geben. 44

C. Schmitt: Verfassungslehre, München und Leipzig 1928, S. 229—331.

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c) Der rechtlichen Unmöglichkeit entspricht der soziologische Widersinn einer Communitas politica, die als Ganzes i n unreflektiertem Selbstwiderspruch dem Pluralismus der vom Konzil als legitim bezeichneten Einzelprogramme übergeordnet wird, ohne daß sie über das dafür unerläßliche Individuationsprinzip verfügte. Ein Nationalstaat, wie etwa Frankreich, ein dynastischer Staat, wie etwa eine arabische Monarchie, ein kommunistischer Einparteienstaat, wie etwa die Sowjet-Union, überhaupt alle i n den Vereinigten Nationen vertretenen Staaten ebenso wie die aus ihnen sich bildenden Zusammenschlüsse, etwa die EWG, besitzen ein solches Individuationsprinzip und können sich zur Abwehr eines die jeweilige politische Gemeinschaft sprengenden innergemeinschaftlichen Pluralismus darauf berufen; der konziliare Staat, die politische Gemeinschaft des Abschnitts Nr. 74, besitzt es nicht. Um zu dem oben gebrauchten architektonischen B i l d zurückzukehren: Der Versetzung von beweglichen Trennwänden kann man nicht die „Ganzheit" eines durch ebensolche beliebige Unterteilung überhaupt erst entstandenen Einzelraumes entgegenhalten. § 24. Damit ist das magische Dreieck des Abschnitts Nr. 74 ausgeleuchtet, und es bleibt jetzt nur noch übrig, aus den Ergebnissen die Frage zu beantworten, ob es sich hier um Politische Theologie handelt, ob das Vaticanum I I mit diesem Abschnitt ein Programm entworfen hat, das i n die geschichtliche, politische Welt mit geschichtlichen, politischen Zielen eingreift. Warum diese Frage nur bejaht werden kann, ergibt sich aus den §§ 21, 22, 23 so: a) Das Hauptgebiet aller heutigen Innenpolitik eines Staates ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturpolitik, und ihr Hauptproblem vermag man, mit dem allen solchen Untersuchungen zugebilligten K o r n Salz, auf die Alternative „Versorgungsstaat oder Rahmenstaat" zurückzuführen. Die Frage, ob der Staat selbst für das Wohl, genauer: für die Wohlfahrt seiner Bürger sorgen oder ob er nur den rechtlichen Rahmen schaffen und sichern soll, ohne den die Einzelnen, die Familien und die Zusammenschlüsse ihr eigenes Wohl nicht wirksam fördern können, ob er mithin als zuverlässiger Schützer die schutzlose liberale Gesellschaft zu einer formierten Gesellschaft macht, die also strikte liberal bleibt und sich als liberale Gesellschaft zu behaupten vermag, entscheidet die konziliare Lehre vom Gemeinwohl — nicht radikal, nicht in jedem Detail konsequent, aber i n linea di massima — gemäß dem i n § 21 Dargelegten zugunsten des Rahmenstaates und der i n ihm formierten Gesellschaft. Staatliche Gesellschaftspolitik soll nicht die Bürger zur Trägheit verleiten 4 5 , sondern ihre eigene Tätigkeit ermöglichen und fördern 46 . 45 E M 69, S. 795: „ i n v i g i l a n d u m tarnen est ne cives ad quamdam erga societatem inertiam inducantur 48 E M Nr. 75, S. 804: „ O m n i u m personarum, f a m i l i a r u m ac coetuum iura eorumque exercitium a g n o s c a n t u r . . . "

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Diese innenpolitische Parteinahme des Vaticanum I I ist ein tiefgreifender, der Absicht nach ein strukturierender und unbestreitbar ein politischer Eingriff i n das politische Leben. Die konziliare Lehre vom Gemeinwohl ist im eigentlichen Sinne Politische Theologie. b) Die Staatslehre des Vaticanum I I stellt gemäß der Analyse i n § 22 dem Staat, so wie er empirisch greifbar ist, also dem durch geschichtliche Bedingungen und Einwirkungen zu einer Einheit geformten, in sich ruhenden Staat die Agglomeration einer als politisch deklarierten Communitas civilis entgegen, die kein ihr vorgegebenes und von der faktischen Agglomerierung der drei sie bildenden Klassen unabhängiges, also kein staatliches Individuationsprinzip besitzt. Der Staat i m Sinne der Staatengeschichte und der modernen Staatslehre, der Staat als i n sich ruhende politische Einheit, hat i n der Politischen Theologie des Abschnitts Nr. 74, also dort, wo der logische Sitz der konziliaren Staatslehre ist, keinen theoretischen Locus standi. Keinen theoretischen — daß es solche, nach Werden und Wollen an ihre Identität gebundene und dadurch vom konziliaren Agglomerationsstaat verschiedene Staaten gibt, daß sogar faktisch sie allein existieren und der konziliare Staat daher „hier und heute" ohne jede Existenz auskommen muß, das konnte auch die progressistische Theologie nicht gut ignorieren. So findet sich denn an Stellen, aus denen für eine die politische Wirklichkeit ausdrücklich einbeziehende Staatslehre nichts zu holen ist, eine Berücksichtigung der Nation 4 7 oder des Vaterlandes 48 oder der Gens 49 oder der Populi 5 0 ; aber diesen politisch infizierten Termini stehen dann als gleichberechtigte Synonyma gegenüber die einer politischen Individuation entbehrenden Regiones populorum 5 1 , wobei Regiones an anderen Stellen auch bloße Teilgebiete einer einzelnen Nation sein können 52 , oder die Societates 53 . Wo aber der Zusammenhang es nahelegen könnte, die etwaige Bezugnahme auf Termini wie Natio oder Patria als Berücksichtigung eines politischen Individuationsprinzips zu verstehen, da w i r d sie vermieden zugunsten der eines solchen Individuationsprinzips nicht bedürftigen Structurae politicae-iuridicae 54 . Es wäre sehr oberflächlich, wollte man i n der Beiseiteschiebung des geschichtlich determinierten und durch seinen Selbstbehauptungswillen politisch innervierten Staates einen Verzicht auf Politische Theologie sehen. Es ist, wie schon oben — § 15 d — gesagt wurde, die (theoretische) 47 48 40 50 51 52 53 54

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6, S. 688; 9, S. 691; 63, S. 784; 69, S. 795; 85, S. 823. 75, S. 805. 86, S. 824. 85, S. 823. 6, S. 688. 63, S. 784. 69, S. 795. 75, S. 803.

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Destruierung des Staates als Leviathan und ist als solche ein politischer A k t und eine politische Idee i m strengen Sinne, weil jede Entpolitisierung, wie Schmitt schon vor fast vierzig Jahren gezeigt hat 5 5 , an eine neue politische Entscheidung geknüpft ist, so wie — um es, freilich nicht in seinem Sinne, durch eine philosophische Parallele zu ergänzen — negativer und positiver Wert in einem unzerreißbaren Miteinander verbunden sind. I m vorliegenden Falle ist es eine eindeutig politische Entscheidung, nämlich die konziliare Entscheidung für den Weltstaat, die der Destruierung des auf sich eingeschworenen Einzelstaates auf dem Fuße folgt. Sie w i r d theoretisch entwickelt in Kapitel V des II. Teiles der Pastoralkonstitution, über (den Frieden und) die Förderung (des Friedens und) der Völkergemeinschaft 56 , klingt aber auch sonst i n der Pastoralkonstitution immer wieder auf 5 7 . Zwar versucht die konziliare Staatslehre auch den Weltstaat zu entpolitisieren, indem sie ihn auf eine, bislang durch die Ambitiones nationales verhinderte, „wahre ökonomische Weltordnung" reduziert wissen w i l l 5 8 ; aber die progressistische Theologie täuscht sich, wenn sie meint, daß der i m Ökonomischen wesende Weltstaat, um es mathematisch auszudrücken, der Konvergenzpunkt der konziliaren Reihe von Entpolitisierungen sei. Auch an diesem anscheinenden Endpunkt w i r d sich wieder das schon zitierte Schmittsche Gesetz bestätigen, daß jede Entpolitisierung eine neue politische Entscheidung aus sich heraustreibt. Das wäre dann ein Thema für eine neue Konzilsstudie, über den Weltstaat i m Spiegel von Johannes' X X I I I . Enzyklika „Pacem in terris" (1963), des Auftrittes Pauls VI. vor den Vereinigten Nationen (1965), der Pastoralkonstitution (1965) und der Enzyklika „Populorum progressio" (1967); hier 5 9 genügen die unwiderlegliche Feststellung, daß die konziliare Destruierung des politisch individuierten Staates ein A k t politischer Theologie ist, und der Nachweis, daß die damit anscheinend exorzisierte politische Entscheidungsnotwendigkeit sogleich in anderem Zusammenhang wieder zurückkehrt, nämlich c) in der Einführung einer politischen Autorität. I n § 23 ist schon die theoretische Brüchigkeit des konziliaren Begriffs der Auctoritas publica analysiert worden; hier muß diese Analyse ergänzt und nutzbar gemacht 55 Vgl. C. Schmitt: Der Begriff des Politischen, München u n d Leipzig 1932, S. 66—81: Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (ein V o r trag von 1929); i m Neudruck (Berlin 1963) S. 79—95. 56 E M 77—90, S. 810—830. 57 E M 9, S. 691; 74, S. 803; 75, S. 805—806. 58 E M 85, S. 824. 59 I n die damit gelassene Lücke möge man einfügen die freilich nicht auf die konziliare Lehre eingehenden Bemerkungen über die Utopie des Weltstaates bei J. Freund: Das Utopische i n den gegenwärtigen politischen Ideologien = Festschrift Forsthoff, S. 113—116.

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werden durch den Hinweis auf den hochpolitischen Charakter des konziliaren Begriffs selbst. Er ist in zwei Eigenschaften zu suchen: i n seinem Dezisionismus und in seiner Illiberalität. Zum einen: der konziliare Begriff der Auctoritas publica institutionalisiert sozusagen den Dezisionismus. Das ergibt sich aus der ihr zugeschobenen Aufgabe, die voneinander abweichenden Consilia légitima der Einzelnen, wozu hier sinngemäß auch die Coetus zu zählen sind, zu vereinheitlichen, also sich für ein einziges unter den verschiedenen legitim möglichen Programmen, gegebenenfalls i n der Form eines Mischprogramms, zu entscheiden, und die Verwirklichung der anderen zu verhindern. Daß das „nicht mechanisch und nicht herrisch" geschehen soll, „sondern vor allem wie" durch „eine moralische Kraft, die sich auf die Freiheit und auf das gewissenhafte Bewußtsein der übernommenen Aufgabe und Pflicht stützt", erinnert peinlich an A. Huxleys „Brave new world", wo die Freiheit darin besteht, das gerne zu tun, was man tun muß, und kann die Belassung des „mechanice seu despotice" als der Ultima ratio nicht verschleiern. Auf jeden Fall ist das eine dezisionistische Auffassung der öffentlichen Gewalt und damit — wie seit den Polemiken gegen Schmitts Dezisionismus feststeht — ihre Politisierung. Zum anderen: Dezisionismus ist nicht notwendig illiberal; eine Dezision kann nach der Überzeugung und Absicht der öffentlichen Gewalt und auch objektiv auf das Richtige m i t Abweisung des Falschen, auf das Gute mit Abweisung des Schlechten, oder wie man die antithetische Reihe fortsetzen will, gerichtet sein. Die Illiberalität des konziliaren Begriffs der öffentlichen Gewalt liegt darin, daß ihr die Aufgabe gestellt und das Recht zugesprochen wird, legitime Programme von der Verwirklichung auszuschließen, um die Communitas politica nicht auseinanderzerren zu lassen. Diese Illiberalität der konziliaren Auctoritas publica, diese Überordnung der politischen Einheit über einen an sich legitimen, sachlich nicht angreifbaren Pluralismus, ist Illiberalität i n optima forma und damit stärkste politische Imprägnierung der Auctoritas publica. § 25. So lange die Analysen der §§ 21, 22, 23 und die i n § 24 daraus gewonnene Summe nicht widerlegt sind, ist es also berechtigt, den Abschnitt Nr. 74 der Pastoralkonstitution als Politische Theologie aufzufassen, als eine Theologie, der das Politische sozusagen genetisch, als unauslöschliches Siegel eingeprägt ist, so daß, um nach so langen, wenn auch nur scheinbaren Digressionen auf die Einleitung zurückzuschauen, Schmitts Zuschreibung einer politischen Form an den „römischen Katholizismus", oder wie der korrekte Kanonist sagt, an die Kirche, zunächst gerechtfertigt erscheint. Zunächst — denn nunmehr hat der in Wirklichkeit pfeilgerade verlaufene Gedankengang endlich die entscheidende, nicht weiter zurück-

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schiebbare Frage erreicht: Bietet der Abschnitt Nr. 74 der Pastoralkonstitution Theologie? Entsprechend der bei der Analyse des konziliaren Utopia so erfolgreich erprobten Methode w i r d diese Zentralfrage des Aufsatzes in zwei Unterfragen zerlegt, nach dem tatsächlichen theologischen Gehalt des Abschnitts Nr. 74 (§ 26) und nach der Möglichkeit seiner theologischen Neu- und Besserdotierung (§ 27). § 26. Die faktische konziliare Theologie ist schon in § 15 b skizziert worden als ein Neben-, wenn man will, Ineinander von Principia primaria und Autoritäts- bzw. Schriftbeweis. a) Von den dort isolierten drei Principia primaria kann das dritte, die Bindung der öffentlichen Autorität an die sittliche Ordnung, an das Gemeinwohl und an eine rechtsförmige Betätigung, hier übergangen werden, da es nicht die Struktur der politischen Gemeinschaft betrifft, sondern ihr Handeln, also systematisch eher i m Zusammenhang mit Abschnitt Nr. 75 behandelt werden müßte, während es i m vorliegenden Zusammenhang um ihre Struktur geht. Die Struktur der politischen Gemeinschaft aber w i r d durch die zwei anderen Principia primaria bestimmt, von denen das eine die staatlich-politische Form auf ein Hilfsmittel für den gesellschaftlich-privaten Fortschritt reduziert, das andere umgekehrt die Einheit der politischen Gemeinschaft gegen den legitimen Pluralismus der Gesellschaft durch eine öffentliche Autorität sichern will. Nach der Analyse der konziliaren Lehre von der öffentlichen Autorität in § 23 ist es klar, daß diese beiden Principia primaria nicht miteinander vereinbar sind: eines von ihnen muß dem anderen vorgeordnet sein, und das andere muß zugunsten des einen sozusagen schrumpfen. Damit ist die naturrechtliche Qualität der ganzen konziliaren Deduktion ad absurdum geführt: eine naturrechtliche Besinnung, die zwei miteinander unvereinbare Principia primaria ergibt, muß falsch sein, sprengt den rationalen Begriff des Naturrechts. Insoweit also ist die Politische Theologie des Konzils positiv-theologisch erledigt, vorbehaltlich der gleich zu erörternden Frage, ob sich diese Theologie verbessern und damit retten ließe. Unberührt davon bleibt das Erstaunen über soviel progressistische Unbehilflichkeit im Umgang mit dem Naturrecht. b) Neben seine Anrufung stellt Abschnitt Nr. 74 die Berufung auf die Autorität des kirchlichen Lehramts, nämlich auf die Lehre der Enzyklika „Mater et Magistra" vom Gemeinwohl, und auf die Autorität der Heiligen Schrift, nämlich auf die Lehre des hl. Paulus von politischer Gemeinschaft, öffentlicher Autorität und politischer Gehorsamspflicht. Von diesen beiden, formal echt theologischen Autoritätsargumenten ist das erste, die Berufung auf „Mater et Magistra", schon geprüft worden (Anm. 31), mit dem Ergebnis, daß Johannes X X I I I . an der vom Konzil in Bezug

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genommenen Stelle i m wesentlichen den sozialen Fortschritt von einer möglichst großen Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung abhängig sein läßt. Das ist eine Platitüde, aber kein naturrechtliches Principium primarium, sicher keine theologische Deduktion und am wenigsten ein mögliches Objekt einer unfehlbaren Lehraussage. Und was i m Zusammenhang dieser theologischen Prüfung das wichtigste ist: die Darlegungen Johannes' X X I I I . helfen keinen Schritt weiter in der Frage, die sich inzwischen als die eigentliche theologische Frage des Abschnitts Nr. 74 herausgeschält hat: wie lassen sich legitimer gesellschaftlicher Pluralismus und politische Einheit miteinander verbinden? wie w i r d der unter a) nochmals skizzierte Widerspruch zwischen zwei logisch unvereinbaren, angeblich naturrechtlichen Principia primaria theologisch gelöst? c) Der korrekte Kanonist, durch die Constitutio Dogmatica De divina revelatione zu höchsten Ansprüchen an die kerygmatische Grundlegung der konziliaren Lehraussagen ermutigt 6 0 , erwartet nunmehr von der Aussage Rom. 13, 1—5 als der einzigen skripturistischen Grundlegung für Abschnitt Nr. 74 eine solide theologische Fundierung der konziliaren Lehre von der politischen Gemeinschaft. Das Konzil hat nach seiner eigenen Behauptung aus diesem Paulusabschnitt entnommen, daß die Einheit der politischen Gemeinschaft und die (rechtmäßig Gehorsam verlangende) öffentliche Autorität zur Schöpfungsordnung gehören, so daß — wenn es auch nicht ausdrücklich gesagt wird, so ist es doch in dieser skripturistischen Bezugnahme unabweisbar eingeschlossen — von Paulus aus die Unmöglichkeit unverkürzten Nebeneinanders und Miteinanders von legitimem gesellschaftlichem Pluralismus und politischer Einheit zugunsten der politischen Einheit aufzulösen wäre. Die vom Konzil angerufene Stelle aus dem Römerbrief ist in ihrer sozialtheologischen Tragweite heftig umstritten; aber der Kanonist braucht sich bei einer Kommentierung des Abschnitts Nr. 74 auf diese Auseinandersetzungen nicht einzulassen. I h m genügt für die Zwecke seiner Studie eine zweifache Feststellung zu der konziliaren Berufung auf Paulus. Die eine ist allgemeiner Natur und geht aus von der Tatsache, daß die fragliche Aussage des Römerbriefes sich unmittelbar auf den römischen Staat bezieht, so wie er sich um das Jahr 58 einem hochbegabten, glänzend ausgebildeten und in philosophischer, juristischer und soziologischer Analyse gleich bedeutenden Theologen darstellte. Keine Exegese der Stelle ist möglich, die einen Staat von der A r t des damaligen Römischen Reiches theologisch diskriminieren würde; dem Wort der Schrift w i r d nur genügt, wenn ein solcher Staat als theologisch unangreifbar aner60

Vgl. Barion: Das konziliare Utopia, S. 196—198.

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kannt wird. Da nun der Staat, den Paulus meinte, als er die vom Konzil angerufenen Sätze niederschrieb, kein Staat der Volonté générale war, wie immer man i m übrigen ihn i n der Staatslehre einordnen mag, ist damit auch dargetan, daß die konziliare Kanonisierung der Volonté générale unhaltbar ist: wenn sie eine biblisch zulässige Staatsform ist, so ist sie doch nicht — weder allgemein noch hier und heute — die einzige biblisch zulässige Staatsform, und der lehramtliche Anspruch des bewußten Absatzes des Abschnitts Nr. 74 ist biblisch nicht begründet, soweit er das wandernde Gottesvolk auf den Staat der Volonté générale verpflichten will. Aber das ist noch nicht alles. Der Kanonist fragt i m Zusammenhang dieser Analyse auch und muß — das kann nicht deutlich genug gesagt werden — in ihrem Zusammenhang vor allem danach fragen, ob Paulus mit seiner Darlegung überhaupt den Staat der Volonté générale mit legitimiert hat. Die Frage stellen heißt, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt, sie verneinen. Aus Rom. 13, 1—5 läßt sich nichts über die theologische Legitimierung des Staates der Volonté générale ableiten und noch weniger eine Begründung für die konziliare Überordnung der politischen Einheit über den legitimen gesellschaftlichen Pluralismus gewinnen, also — um die konziliare Aussage der Sicherheit halber eigens zu zitieren — für eine Überordnung der politischen Einheit über den Willen der „ m u l t i et diversi homines, qui in communitatem poliiicam conveniunt et", wie der Cardo dieses Problems formuliert wird, „legitime in diversa Consilia declinare possunt". Wie immer man auch sich sonst bei der Exegese der Römerbriefstelle, die übrigens vom Konzil mit bemerkenswerter exegetischer Nachlässigkeit schon bei Vers 5 statt erst bei Vers 7 abgebrochen wird, entscheiden mag — daß aus ihr nichts über einen gesellschaftlichen Pluralismus, folgeweise auch nichts über seine Legitimität oder Illegitimität und schließlich nichts über den Ausgleich zwischen einem solchen Pluralismus und der öffentlichen Autorität entnommen werden kann, das w i r d selbst die progressistische Exegese nicht bestreiten können. Jedenfalls: solange sie es nicht versucht, muß das skripturistische Fazit dahin gezogen werden, daß die konziliare Option für den Staat der Volonté générale und die konziliare Überordnung der politischen Einheit über den vom Konzil für legitim erklärten gesellschaftlichen Pluralismus kerygmatisch nicht begründet werden. Damit ist enumerative dargetan, daß die Politische Theologie des Abschnitts Nr. 74 so, wie sie geboten wird, Politik ist, aber keine Theologie. Die Frage, die der korrekte Kanonist nunmehr als loyaler Kanonist anschließt, ist die nach der Möglichkeit, die progressistische Scheiterung an der theologischen Aufgabe durch das Nachschieben einer wissenschaftlich zureichenden theologischen Begründung auszugleichen.

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§ 27. Von den drei Möglichkeiten einer solchen wissenschaftlich zureichenden theologischen Begründung der Politischen Theologie des Abschnitts Nr. 74 scheidet eine, die Unterbauung der konziliaren Lehre durch eine lehramtliche Entscheidung von unfehlbarem Charakter, aus. Nicht so sehr deshalb, weil — fast der einzige Trost, der dem korrekten Kanonisten heutzutage bleibt — das unfehlbare Lehramt der Kirche durch den progressistischen Umsturz gelähmt ist, sondern weil eine derart verworrene, ungenügend durchdachte und faktisch aus kaschierten Oberflächlichkeiten bestehende Politische Theologie wie die des Abschnitts Nr. 74 sich nicht zu einer unfehlbaren Definierung eignet. Die beiden anderen Möglichkeiten müssen etwas eingehender betrachtet werden. a) Die erste wäre eine bessere naturrechtliche Begründung. Das Naturrecht, die naturrechtliche Ethik w i r d von der Kirche als Element der Schöpfungsordnung anerkannt 61 , so daß eine Herleitung des Abschnitts Nr. 74 aus einer naturrechtlichen Politischen Ethik theologisch ausreichen würde, wenn sie gelingt. Offen ist freilich, ob das Scheitern des Abschnitts Nr. 74 am Naturrecht nur auf der wissenschaftlichen Rückständigkeit der progressistischen Theologie beruht oder nicht auch auf dem sachlichen Querstand fehlender Ergiebigkeit des Naturrechts für eine Politische Ethik. Die Frage ist also, ob es wissenschaftlich standfeste politische Ethik gibt. Wenn man, eingedenk der Anm. 26 zitierten Mahnung des hl. Benedikt, sich zunächst einmal bei den jüngeren Theologen nach einer solchen Politischen Ethik umsieht, so seien aus einem Embarras de travaux zwei Arbeiten herausgehoben, die von Ermecke 62 und die von Schmölz 63 . Von ihnen entscheidet sich Ermecke in einer sorgfältigen Begriffsanalyse für die Möglichkeit einer „christlichen Politik" mit der Einschränkung: „wenn man christlich i m weiteren Sinne nimmt, d. h. als Sorge um die Gemeinschaft und ihr Gemeinwohl gemäß dem natürlichen (schon christusbezogenen, i m weiteren Sinne christlichen) Sittengesetz bzw. Naturrecht" 6 4 . Aber auf die Frage, ob eine solche „ i m weiteren Sinne christliche" Politik rein naturrechtlich als geboten begründet werden könne, w i r d man mit einem Regressus in infinitum umgekehrt darauf verwiesen 65 , daß „der Staat als natürliche Schöpfungsordnung... i m weiteren Sinne christlich, christusbezogen genannt zu werden verdient". M i t anderen Worten: Ermecke nimmt das Problem zwar weitaus ernster als das Konzil, aber begnügt sich mit einer Qualifizierung naturrechtlicher politischer Ethik als eines Teils der Schöpfungsordnung und gibt keinen Weg zu 01 E M 36, S. 730: „ E x ipsa enim creationis condicione res u n i v e r s a e . . . propriis . . . legibus ac ordine instruuntur . . . " 62 G. Ermecke: Christliche Politik — Utopie oder Aufgabe?, K ö l n o. J. (1966). 63 F.-M. Schmölz: Chance und Dilemma der politischen Ethik, K ö l n 1966. 04 Ermecke: Cristliche Politik, S. 30. 65 Ermecke: Christliche Politik, S. 32.

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einer geschlossenen naturrechtlichen Begründung von Aussagen nach der A r t des Abschnitts Nr. 74 an, deren spätere Einfügung in die Schöpfungsordnung man ihm dann konzedieren würde. Schmölz, der i m Unterschied zu Ermecke eher der progressistischen Theologie zuzurechnen ist, hat dementsprechend das Problem noch weit mehr verfehlt. A u f der einen Seite stellt er, unter Berufung auf H. Maier, der sich als theologische Autorität einigermaßen sonderbar ausnimmt, den Satz auf 8 6 : „Eine politische Theologie läßt sich . . . weder biblisch noch naturrechtlich begründen." Insoweit müßte er also nicht nur den konkreten Abschnitt Nr. 74 der Pastoralkonstitution, die er allerdings noch nicht erörtert, sondern auch den konziliaren Ansatz zu einer Politischen Theologie formal verwerfen. A u f der anderen Seite erklärt er 6 7 : „So ist also die politische E t h i k ' . . . ganz einfach jener Teil der allgemeinen Ethik, der das vernünftige Handeln des Menschen i n Gesellschaft i m Hinblick auf das summum bonum regelt." Über die mit dem Nebeneinander dieser beiden Sätze von ihm behauptete Unzugänglichkeit der naturrechtlichen Ethik für das kirchliche Lehramt läßt er sich nicht weiter aus 68 ; sie mag daher auch hier auf sich beruhen bleiben. Wohl aber muß festgestellt werden, daß eine Ableitung des Abschnitts Nr. 74 aus den Regeln für „das vernünftige Handeln des Menschen i m Hinblick auf das summum bonum" prima facie als kaum möglich erscheint und jedenfalls so lange als unmöglich geleugnet werden darf, als es nicht gelingt, das magische Dreieck des Abschnitts Nr. 74 zwingend mit dem „summum bonum" zu verknüpfen — die Vereinbarkeit würde nicht genügen. Darüber hinaus w i r d man sagen dürfen, daß eine Politische Theologie oder Politische Ethik, aus der sich Abschnitt Nr. 74 ableiten ließe, philosophisch überhaupt unmöglich ist. Man kann diesen Sachverhalt auf die einleuchtende Formel 6 9 bringen: „Da man niemandem beweisen kann, warum er moralische Forderungen überhaupt respektieren sollte, kann eine philosophische Begründung hier nichts ausrichten." Oder man kann, zurückgehend auf Aristoteles 70 , Politik und Ethik wie das (technisch) Besondere und das (sittlich) Allgemeine je und je miteinander vergleichen ββ

Schmölz: Chance und Dilemma, S. 70. Schmölz: Chance und Dilemma, S. 20. A u f f ä l l i g ist immerhin, daß er auch eine „Ziviltheologie" kennt (S. 49) und daß er „als unerläßliche Voraussetzung f ü r jede vernünftige OrdnungsTheorie bezüglich Mensch u n d Gesellschaft" die „Wahrheit" ansieht, daß der Mensch „seine Würde und seine hervorragende Stellung i m Kosmos erst durch die Teilnahme am göttlichen Sein" empfange (S. 100). Seine Verneinung jeder politischen Theologie w i r d man also k a u m als konsequente Verneinung auffassen können. 89 G. Patzig: Über die Begründbarkeit moralischer Forderungen = Festschrift für Joseph K l e i n zum 70. Geburtstag, hrsg. v. E. Fries, Göttingen 1967, S. 52. 70 W. Anz: Z u m Verhältnis von Politik und E t h i k bei Aristoteles = Festschrift Forsthoff, S. 253—262 (das gleich folgende Zitat auf S. 262). 87

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und w i r d immer wieder feststellen, daß zum Allgemeinen der sittlichen Praxis es stets mehr als ein einziges Besonderes der politischen Poiesis gibt, daß, wie Aristoteles sagt, Poiesis und Praxis, „Machen und Tun voneinander nicht umgriffen werden". Von der Lehre des Aristoteles aus muß der Abschnitt Nr. 74 als eine einzelne, nicht als die einzige Konkretisierung des i m politischen Bereich mit dem sittlich Allgemeinen Vereinbaren angesehen und müssen die Aspirationen des Abschnitts Nr. 74 auf naturrechtliche Lehrautorität als hybrid beurteilt werden. Und schließlich kann man die philosophische Unhaltbarkeit des Abschnitts Nr. 74 feststellen, indem man vom Begriff des Politischen ausgeht. Seine so lange, als sie nicht überholt w i r d — womit es gute Weile haben dürfte—maßgebende Analyse stammt von J.Freund 7 1 ; sie gründet das Wesen des Politischen auf die dreifache Beziehung zwischen Befehl und Gehorsam, zwischen privatem und öffentlichem Bereich, zwischen Freund und Feind. Alle drei Beziehungen sind soziale Gegebenheiten, die unabhängig von jeder theologischen Beurteilung existieren. Die Theologie ihrerseits aber kann nur Ratione peccati etwas über sie ausmachen; wo sie keinen zwingenden moraltheologischen Nexus zwischen einer einzelnen, konkreten Gestaltung dieser Beziehungen und einer ihr entgegenstehenden Forderung des göttlichen Sittengesetzes herzustellen vermag, wie beispielsweise nicht i m Abschnitt Nr. 74, gilt für sie nach wie vor das Gebot: Silete, theologi, i n munere alieno! b) So bleibt als letzte Hoffnung für eine bessere Begründung des Abschnitts Nr. 74 der Rückgriff auf die Offenbarung, genauer gesagt und in diesem konkreten Bereich den progressistischen Monobiblizismus nicht nur polemisch ausnützend, sondern ihm sachlich zustimmend, der Rückgriff auf das biblische Kerygma. Wenn der korrekte Kanonist den konziliaren Versuch skripturistischer Rückversicherung als mißglückt beurteilen mußte (§ 26 c), so erhofft er nun etwas besseres von der wohlwollenden Betrachtung der theologischen, besonders der biblischen Grundlagen der Pastoralkonstitution durch einen progressistischen Exegeten wie St. Lyonnet 7 2 und einen lutherischen Konzilsbeobachter wie E. Schlink 7 3 . Die Darlegungen Lyonnets mußte man nach der Vorankündigung i m Osservatore Romano 74 mit besonderer Spannung erwarten. Was er nunmehr bietet, ist eine wohlgelungene Darlegung des Nutzens, den die Pastoralkonstitution aus der biblischen Anthropologie für ihre eigenen einschlägigen Aussagen gezogen hat und insoweit das erfolgreiche Nach71

J. Freund: L'essence d u politique, Paris 1965, S. 94. St. Lyonnet: Die biblischen Grundlagen = Barauna: Welt von heute, S. 77—94. 73 Vgl. Anm. 28. 74 Vgl. Barion: Das konziliare Utopia, S. 200 Anm. 8. 72

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schieben einer i n dem Konzilstext nicht ausdrücklich beigebrachten, sondern nur vorausgesetzten skripturistischen Grundlage. Aber sowohl über das schon in dem Aufsatz über das konziliare Utopia behandelte Sozialkapitel wie über das i m vorliegenden Aufsatz analysierte Kapitel von der politischen Gemeinschaft wie über das hier übergangene Kapitel vom Weltstaat schweigt er, schweigt insbesondere über die Bezugnahme des Abschnitts Nr. 74 auf Rom 13, 1—5. Der Kanonist w i r d das als Indiz dafür nehmen, daß auch Lyonnet diese Kapitel einer kerygmatischen Grundlegung nicht für fähig hält und daß die Bezugnahme des Abschnitts Nr. 74 auf Rom. 13,1—5 i n der Tat ein exegetischer Mißgriff ist. Was den Aufsatz Schlinks angeht, so leidet er an einer sonderbaren und i m einzelnen nicht belegten Einschätzung der politischen Kapitel als in der (biblisch-)theologischen Anthropologie grundgelegt 75 . Das eigentliche theologische Problem der genannten drei Kapitel faßt er erst im zweiten Teil seines Aufsatzes an, wo er eine „Verschiebung" von der Gerichtsverfallenheit der Welt, die unter Gottes Zorn stehe, zur Annahme ihrer Reformierbarkeit findet, so daß die pessimistischen Aussagen des Neuen Testaments über die Bewahrung der Gestalt dieser Welt ihm „eigentümlich abgeblaßt" erscheinen 76 . Der Kanonist w i r d finden, daß diese Bemerkungen Schlinks das Verdikt unheilbar bibelferner und untheologischer Lehre i n dem Sozial- und den beiden politischen Kapiteln der Pastoralkonstitution, jedenfalls aber in dem hier in Frage stehenden Abschnitt Nr. 74 nicht widerlegen können, und w i r d das beredte Schweigen Lyonnets für geschickter halten. § 28. Damit sei der Versuch abgebrochen, nach Möglichkeiten für die Erhebung des Abschnitts Nr. 74 i n den Rang einer theologischen Lehraussage auszuschauen: es gibt sie nicht. So kann nunmehr das abschließende Urteil gefällt werden. Es nimmt seinen Ausgang von dem Kontrast zwischen dem konziliaren, lehramtlichen Anspruch des Abschnitts und seinem untheologischen, weltlich-politischen, um nicht zu sagen: parteipolitischen Inhalt. Der lehramtliche Anspruch kann nicht etwa mit dem Hinweis auf die einleitende Clausula salvatoria der Pastoralkonstitution 77 dahin abgeschwächt werden, daß sie selbst i n dem Inhalt des zweiten Teils, also gerade auch in seiner Politischen Theologie, neben dauernden Aussagen auch zeitbedingte anerkenne. Denn auch der zweite Teil der 75 Schlink: Die theologischen Grundlagen, S. 170: „ I n diesen konkreten A n weisungen", nämlich zu den Sozial- u n d Wirtschaftswissenschaften sowie" zu den „politischen Wissenschaften", „ist i n jedem F a l l die theologische A n t h r o pologie von grundlegender Bedeutung"; S. 172: „Das K o n z i l l e h r t . . . eine andere (nämlich theologische) Begründung f ü r " seine sozialen u n d politischen Grundsätze; S. 173: Diese Anweisungen „gründen i n einer theologischen Lehre v o m Menschen und diese wiederum letztlich i n der Lehre von Christus". 70 Schlink: Die theologischen Grundlagen, S. 177. 77 E M Anm. 1, S. 681. Sie wurde schon kommentiert Barion: Das konziliare Utopia, S. 208, 231.

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Konstitution hat nach dieser Clausula eine Intentio doctrinalis und beansprucht für ihn, daß seine Darlegungen durch Principia doctrinalia geformt seien. Anders ausgedrückt: es wäre töricht, wollte man i n der Politischen Theologie des Abschnitts Nr. 74 so etwas wie das für immer letzte Wort dazu sehen; wohl aber ist es das letzte Wort für „hier und heute", lehramtlich gesprochen und lehramtliche Autorität verlangend. So daß die nunmehrige theologische Schlußkritik — eine politische würde den Rahmen der Studie überschreiten und bleibt ausgeschlossen — an dem „hier und heute" nicht ins Leere stößt. § 29. Sie beginnt m i t der Feststellung, daß der Abschnitt Nr. 74 theologisch überhaupt nicht begründet ist. Was die fehlende naturrechtliche Grundlegung angeht, so soll darüber m i t einer Theologie und einem Konzil, die den Biblizismus zum Schibboleth ihrer eigenen Abkehr von der Philosophie und Theologie der Vorzeit erhoben haben, nicht gerechtet werden. Wohl aber muß man sagen, daß eine Theologie und ein Konzil, die, wie schon i n § 26 c angemerkt wurde, die skripturistische Grundlegung zum Maßstab der Lehre machen und die, wie hier hinzugefügt sei, die überlieferte Ordnung des philosophisch-theologischen Studiums zugunsten seines biblizistischen Aufbaus verwerfen 7 8 , sich von der Beobachtung einer solchen Forderung bei dem Aufbau einer Politischen Theologie nicht so völlig wie in Abschnitt Nr. 74 dispensieren können, ohne den Eindruck zu erwecken, daß sie ihr eigenes theologisches Hauptpostulat nicht begriffen haben. Ihr bibelgetöntes Selbstverständnis und ihre unbiblische Politische Theologie bilden wissenschaftlich eine peinliche Dissonanz. § 30. Der Grund für dieses Scheitern ist schon i n § 9 angedeutet worden: das Vaticanum I I hat sich nicht von der gelasianischen Form der politischen Theologie freimachen können und hat das nach dem Vaticanum I einzige oder fast einzige theologisch und kirchlich noch notwendige Aggiornamento, die Korrektur dieser Fehlentwicklung zugunsten einer strengen Scheidung der zwei Reiche, des geistlichen und des weltlichen, des religiösen und des politischen, darüber verfehlt und versäumt. Eine einläßliche Darlegung dieser Versäumnis gehört in eine Studie über das Toleranzdekret; hier genügt es, i n strikter Parallele zu der Utopia-Studie 7 9 festzustellen, daß das Konzil die Spielregel der Scheidung zwischen beiden Reichen kennt und anerkennt, aber sie sozusagen sub unica conclusione mit der Anerkennung auch beiseiteschiebt. Diese Spielregel lautet i n der am Schluß des Abschnitts Nr. 74 vom Konzil gebotenen Formulierung: „Die besonderen Formen aber, i n denen die politische Gemeinschaft ihren eigenen Zusammenhang und die Handhabung der 78 79

Decretum De institutione sacerdotali (1965), Nr. 14, S. 374; 16, S. 376. Barion: Das konziliare Utopia, S. 229—230.

4 Festschrift f ü r C a r l S c h m i t t

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öffentlichen Gewalt ordnet, können mannigfaltig sein gemäß der verschiedenen Artung der Völker und dem geschichtlichen Fortschritt." Das politische Plädoyer des Abschnitts Nr. 74, sowohl das für den liberalen Rechtsstaat wie das für den Staat der Volonté générale, ist mit dieser Spielregel unvereinbar, weil der Abschnitt i n beiden Fällen nicht eine generelle Richtung, sondern eben eine besondere Form der politischen Gemeinschaft lehramtlich vorschreibt. Für den liberalen Rechtsstaat ergibt sich diese Feststellung aus einem Vergleich mit dem nichtliberalen, deutlicher gesagt: nichtpluralistischen Rechtsstaat, also etwa dem Staat der Volonté générale, i n dem die mehrheitliche Willensbildung auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens erstreckt w i r d oder erstreckt werden kann. Da beide Formen des Staates i n das politische Schema des Abschnitts Nr. 74 passen, kann jede von ihnen nur als eine spezielle von mindestens zwei verschiedenen, aber ethisch oder biblisch gleich zulässigen Staatsformen gelten und ist es manifest, daß Abschnitt Nr. 74 mit der Empfehlung des liberalen Rechtsstaates, die dann i n Abschnitt Nr. 75 so selbstvergessen ausgebaut wird, genau das tut, was er in seiner Spielregel ablehnt: eine besondere Form verbindlich vorschreiben — wenn man will, nur für hier und heute, jedenfalls aber zum mindesten für hier und heute. Für die Festlegung des Abschnitts Nr. 74 auf die Volonté générale gilt umgekehrt das gleiche. Darüber hinaus aber schreibt Abschnitt Nr. 74 damit eine besondere, nämlich die überwiegend auf das Prinzip der Identität gestützte Form politischer Gewalt vor, während es daneben auch die politische Form der Repräsentation gibt 8 0 . Die Spielregel w i r d also insoweit gleich zweimal durchbrochen, einmal in der Entscheidung für den Mehrheits- gegen den wenige Zeilen vorher anerkannten liberalen Rechtsstaat, zum anderen in der Entscheidung für die in der Volonté générale primär wirksame politische Form der Identität gegen die ethisch und biblisch gleich zulässige politische Form der Repräsentation. § 31. Wie sich bei der Analyse des Abschnitts Nr. 74 i n den §§ 22, 23 zeigte und wie in § 30 schon sehr deutlich hervortrat, enthält seine Politische Theologie zwei miteinander unvereinbare Entscheidungen: für den liberalen Rechtsstaat mit legitimem Pluralismus und für den Mehrheitsstaat mit Unterdrückung des Pluralismus zugunsten eines politischen Monismus. Darüber braucht analytisch nichts mehr gesagt zu werden; wohl aber gehört i n das wissenschaftliche Fazit der Studie hinein die Feststellung, daß die Unbeholfenheit der progressistischen Theologie und der progressistischen Konzilsmehrheit in Rechtsfragen anscheinend konstitutionell bedingt ist: neben die Verfehlung grundlegender naturrechtlicher Einsichten (vgl. §§ 26 a, 27 a) t r i t t die Verfehlung grundlegender 80

Schmitt: Verfassungslehre, S. 204—208.

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verfassungsrechtlicher Tatsachen, für die neben Abschnitt Nr. 74 auch die dilettantische soziologische Analyse des Abschnitts Nr. 73 (vgl. § 14) zeugt. Anders ausgedrückt: es mangelt der Politischen Theologie des Vaticanum I I am notwendigen „politologischen" Sachverstand. Diese solange, wie das i n den §§ 18—27 vorgelegte analytische Urteil über den Abschnitt Nr. 74 nicht i n eodem genere widerlegt wird, berechtigte Feststellung bedarf noch einer Zuspitzung. Sie betrifft die Frage, ob denn eine „politologische" Aufbesserung des Abschnitts Nr. 74 seine theologische Unhaltbarkeit beseitigen oder auch nur verringern würde. Diese Frage muß strikte verneint werden. Der korrekte Kanonist kann die weltlich-wissenschaftliche Unzulänglichkeit des Abschnitts Nr. 74 nicht mit Stillschweigen übergehen; aber auch wenn der Abschnitt insoweit fehlerfrei wäre, würde er damit noch keine positive theologische Relevanz gewinnen. Es gehört zu den Grundfehlern des konziliaren Dialogs i m besonderen und des kirchlichen Dialogs i m allgemeinen, wenn die Gegner der progressistischen Theologie deren weltlich-wissenschaftliche Unzulänglichkeiten so betrachten, als ob mit ihrer Behebung auch theologisch etwas gebessert wäre. Die theologische Höhe, selbst die bloße theologische Einwandfreiheit, vor allem die verbindliche Qualität einer lehramtlichen Aussage hängen nicht vom weltlich-wissenschaftlichen Sachverstand ab, der sich darin ausspricht, sondern von ihrer Verknüpfung mit dem Donum revelatum. Der korrekte Kanonist sieht es nicht ungern, wenn die progressistische Theologie sich auch weltlich-wissenschaftlich blamiert; aber sein Urteil ist auf die Feststellung solcher Blamagen nicht angewiesen und bleibt solange das gleiche, auch wo sie wirklich einmal fehlen sollten, als eine solche Aussage nicht in der Offenbarung fundiert wird. § 32. So kehrt der Gedankengang noch einmal zu der Feststellung des § 27 zurück, daß die fehlende Verknüpfung des Abschnitts Nr. 74 mit dem Donum revelatum keine korrigierbare Versäumnis, sondern eine notwendige Unzulänglichkeit ist. Auch sie muß nunmehr noch zugespitzt werden und zwar zu der Feststellung, daß damit eine Politische Theologie, die ein bestimmtes politisches Modell, sei es auch nur für hier und heute, lehramtlich vorschreiben wollte und trotzdem theologisch legitim wäre, als unmöglich erwiesen ist. Denn die Offenbarung enthält keine solchen Modelle, sondern stellt mit ihrer tatsächlichen und bloß tatsächlichen Anerkennung des römischen Staats des ersten Jahrhunderts zugleich alle i m Rahmen der Zehn Gebote möglichen politischen Modelle als ethisch gleichwertig hin. Zu dieser Zuspitzung muß man hinzunehmen die schon in der Untersuchung über „Kirche oder Partei?" dargetane 81 ergänzende Tatsache, 01



Barion: Kirche oder Partei?, S. 173—174.

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daß die Politische Theologie auch keine theologische Verbindlichkeit besitzt, wenn sie als Theologie îehramtlich verpflichtender politischer Weisungen versucht wird. Und da die Modelltheologie und die Weisungstheologie die ganze Politische Theologie ausmachen, ist damit der Glaube, daß eine Politische Theologie als kirchlich verbindliche und zugleich politisch konkrete Theologie möglich sei, ebenso als Irrglaube erwiesen, wie die Möglichkeit einer kirchlich verbindlichen konkreten Soziallehre i n der Untersuchung über das konziliare Utopia destruiert wurde. § 33. Diese Feststellung darf aber nicht so verstanden werden, als ob der korrekte Kanonist die Politische Theologie des Abschnitts Nr. 74 als unbrauchbar beiseite schieben müßte, nachdem er an ihr die wissenschaftliche Unzulänglichkeit des Konzils demonstriert hat. I m Gegenteil: er begrüßt die Tatsache, daß das Konzil wie die Politische Theologie der Kirche überhaupt 8 2 jedesmal, wo der liberale Rechtsstaat in die kirchliche Diskussion gerät, daß beide dann, ähnlich wie Bileam, der Sohn Beors, segnen, wo sie fluchen wollten. Die Einzelentwicklung dieser Beobachtung und ihre Nutzbarmachung für die These, daß die Selbstentfremdung des wandernden Gottesvolkes zu seiner Feindschaft gegen den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Liberalismus führt, geht über den Rahmen dieser Untersuchung hinaus. Hier sei nur notiert, daß der Teil des Abschnitts Nr. 74, der die Legitimität freier pluralistischer Gruppenbildung innerhalb der Communitas civilis anerkennt, zugleich, ohne es zu merken, oder jedenfalls, ohne es sich merken zu lassen, die seinerzeit ebenfalls mit lehramtlichem Anspruch verkündigte berufsständische Ordnung der Enzyklika "Quadragesimo anno" (1931) desavouiert, als welche ohne staatlichen Zwang weder theoretisch noch faktisch entstehen und (wie auch immer) funktionieren kann 8 3 . § 34. Aus dieser Feststellung erwächst der letzte Punkt der Schlußkritik, die Frage nämlich, was der Abschnitt Nr. 74 für denjenigen Kanonisten bedeutet, der den liberalen, also den pluralistischen Rechtsstaat für den Staat hält, der allein die Toleranz verbürgt, die dem i n der Konzilserklärung über die religiöse Freiheit kundgetanen Willen des wandernden Gottesvolkes entspricht. Die Wesensmerkmale dieses liberalen Rechtsstaates sind, wenn man die individuellen Persönlichkeitsrechte einmal als gegeben voraussetzt, zwei: die konstitutive und programmatische Selbstbestimmung der gesellschaftlichen Gruppen und der Schutz jeder einzelnen Gruppe vor legislatorischen, exekutivischen oder Actiondirecte-Pressionen anderer Gruppen. Man könnte den so verstandenen 82 Vgl. Barion: Kirche oder Partei?, S. 166—167; Barion: Das konziliare Utopia, S. 232—233; generell G. Β. Kripp: Wirtschaftsfreiheit und katholische Soziallehre, Dissertation Nr. 239, St. Gallen 1967. 83 Das setzt i n schönster K l a r h e i t auseinander G. Gundlach: Berufsständische Ordnung I I , 1 - Staatslexikon, Bd. 1°, Freiburg 1957, Sp. 1129—1131.

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liberalen Rechtsstaat in Anlehnung an Cavours berühmte Formel umschreiben: Freie Gesellschaft i m schützenden Staat. Daß dieses Aggiornamento Cavours auf den erbitterten Widerstand der faktisch i m Zeichen Rousseaus fechtenden progressistischen Theologie trifft, daß sie von ihrer antiliberalen Selbstentfremdung nicht lassen will, ist spätestens seit der Enzyklika „Populorum progressio" auch den frömmsten Angehörigen des wandernden Gottesvolkes deutlich geworden. Die Frage ist nur: kann die progressistische Theologie und kann das hier und heute von ihr beherrschte kirchliche Lehramt diesen Widerstand gegen den liberalen Rechtsstaat aus dem Vaticanum I I rechtfertigen? Der eigentliche Beitrag dieser Studie zu der Entpolitisierung der Katholischen Kirche ist der Nachweis, daß die Politische Theologie des Konzils dazu nicht hinreicht. Den Ansatzpunkt für die Ablehnung des liberalen Rechtsstaates, die Lehre von der Volonté générale, hat das Konzil in Abschnitt Nr. 74 als theologische Aussage diskreditiert und als politische Aussage dadurch kompromittiert, daß es in diesem Abschnitt der Volonté générale die Befugnis zuerkennt, die legitime Verschiedenheit der gesellschaftlichen Gruppenprogramme zu unterdrücken. Damit wurde der Abschnitt aus einer Kundgebung der religiösen Kirche zu einer politischen Parteinahme. Der Abschnitt Nr. 74 der Pastoralkonstitution verzerrt den religiösen Auftrag der Kirche zur Plattform für ein religiös-politisches Gemenge, für ein Pasticcio. C. § 35. M i t dieser Feststellung zu schließen, hieße, dem Teil A der Studie sein Pendant versagen. Es ist noch ein Ausklang notwendig, dessen erstes Motiv die Frage bildet, was die Studie, wie man mit Schüles eingangs zitierter meisterhafter Formulierung sagen könnte, leistet, um Carl Schmitt „durch eine wissenschaftliche Gabe zu ehren". Die Antwort lautet für seinen Essay über den römischen Katholizismus, daß dessen wissenschaftliche Herausforderung an die Theologie nunmehr aufgearbeitet ist. Die frühere Studie über „Kirche oder Partei?" und die jetzige Studie über die (konziliare) Theologie politischer Modelle haben die beiden Fragen beantwortet, die er dem Theologen in munere suo gestellt hat: nach der Affinität der Katholischen Kirche zu einer bestimmten politischen Form und nach der Politischen Theologie der Kirche selbst. Es war ein methodischer Meistergriff Schmitts, i n seinem Essay insoweit — nämlich was die Politische Theologie angeht — beim geschichtlich Gegebenen zu bleiben und sich an seinen eigenen Rat zu halten, i n munere alieno zu schweigen. Und die vorliegende Studie würde völlig mißverstanden, wenn man sie als den Versuch nähme, Schmitts geschichtliche Deutung zu korrigieren. Sie bezeugt im Gegenteil zwischen allen ihren

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Zeilen, wie richtig Schmitt das kirchliche Streben nach einer weltpolitischen Machtform gesehen hat. So korrigiert sie ihn nicht, sondern ergänzt ihn in der Hinsicht, die Schmitt ausgespart hat, der theologischen. Was Schmitt i n seinem Essay geschildert hat, ist — auf diese Formel läßt sich der festschriftliche Ertrag der Studie bringen —, der ruhmvolle Glanz einer weltgeschichtlichen Fehlentwicklung. Es gibt kein legitimes Beziehungsfeld zwischen Kirche und Politik außerhalb der Ratio peccati; wo die Kirche eine positive politische Idee repräsentiert, die theologisch immer nur eine unter mehreren von den Zehn Geboten aus möglichen ist, überschreitet sie ihren göttlichen Auftrag. Damit ist der Essay Schmitts kanonistisch und theologisch ausgeschöpft; was noch bleibt, ist die Aufgabe, seine mit dem Essay zeitlich, stofflich und thematisch verknüpften Aufsätze über die „Politische Theologie" zu würdigen. Wann sie und ob sie angefaßt werden kann, steht dahin. Wenn sie angefaßt wird, soll es geschehen in Auseinandersetzung m i t E. Petersons parthischer Attacke auf Schmitt i n der Schrift „Der Monotheismus als politisches Problem" 8 4 . Sie mag heute nur noch selten beachtet werden 85 , aber damit ist sie nicht widerlegt. Nichts ist widerlegt, wenn es nicht aufgearbeitet wird, und so würde eine Studie über die Trinitätslehre als politisches Problem der richtige Ort sein, um die kanonistische und theologische Auseinandersetzung mit Carl Schmitts Arbeiten über die Politische Theologie abzuschließen und um darzutun, daß die theologisch einwandfreie Entpolitisierung der Kirche die einzige Entpolitisierung ist, die keine politische Entscheidung mehr aus sich heraustreibt. § 36. Zweites Motiv dieses Ausklangs ist die Frage nach der Bedeutung der Studie für den postkonziliaren Dialog. Da sie schon die fünfte Konzilsstudie einer fortlaufenden Reihe ist, erscheint der Versuch einer Zwischenbilanz geboten. Diese darf wohl folgendes feststellen: 84

Leipzig 1935. So w i r d Peterson beispielsweise zitiert bei J. B. Metz: Friede und Gerechtigkeit. Überlegungen zu einer „politischen Theologie" = Civitas. Jahrbuch für christliche Gesellschaftsordnung 6, Mannheim 1967, S. 12 Anm. 5. Ob Peterson sich i n dem Zusammenhang, i n den Metz i h n versetzt, verstanden fühlen würde, kann hier u n d w o h l überhaupt dahingestellt bleiben. Auch ist es nicht möglich, die großflächige Projizierung einer politischen Apertura a sinistra auf das Neue Testament, w i e Metz sie i n seinen „Überlegungen" vornimmt, hier einzubeziehen. Wer sich m i t der Handhabung der hier u n d schon i n der Studie über das konziliare Utopia entwickelten theologischen Methode vertraut macht, w i r d sehr bald feststellen, daß bei Metz die theologischen Achillesfersen zahlreich über jedes anatomische Erwarten hinaus sind. M a n vergleiche n u r die Beziehung des biblischen Terminus „Fleisch" auf „die soziale Existenz, die Bundesexistenz des Menschen" (Metz, S. 13) m i t der historischkritischen L i t e r a t u r zu „Fleisch", etwa m i t dem A r t i k e l „ S a r x " i n dem Wörterbuch zum Neuen Testament von W. Bauer oder i n dem Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament von G. Kittel — G. Friedrich, u m an einem beweiskräftigen Einzelfall die bibelwissenschaftliche Höhe der progressistischen Theologie zu erkennen. 85

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a) Der bisherige Dialog wurde strikte systemimmanent geführt, i n ständiger Anknüpfung an die Aussagen, Voraussetzungen und Begründungen des Konzils selbst, i n Anknüpfung insbesondere an seine biblizistischen Prätentionen und seine theoretischen Einzelleistungen. Wie unangenehm der progressistischen Theologie eine solche Systemimmanenz der K r i t i k ist, läßt sie in der verdrossenen Preisgabe ihrer skripturistischen Atrophie zugunsten einer angeblichen bibeltheologischen Gesamtschau 86 ebenso erkennen wie i n der irritierten Abwehr einer Einzelexegese der Pastoralkonstitution, die als Ganzes gewürdigt werden wolle und müsse 87 . Zu dem ersten Entlastungsversuch braucht der korrekte Kanonist, weil er i n seiner Loyalität sorgfältig und mühsam nach der unauffindbaren Verknüpfung der von ihm analysierten Thesen mit dem Donum revelatum gesucht hat, nichts mehr zu sagen — er ist eine Ausflucht, keine Erwiderung. Und was den naiven und vermutlich unbewußten Versuch anlangt, die Pastoralkonstitution auf die gedankliche Höhe eines echten Objekts für Diltheys hermeneutischen Zirkel zu heben, so gilt das gleiche: wer Einzelaussagen nur mit dem Gesamtbild rechtfertigt, hat den hermeneutischen Zirkel nicht begriffen. Alle Hermeneut i k der Pastoralkonstitution endet schließlich bei der Frage, ob sie vermocht hat, ihren Gesamtanspruch i m einzelnen zu wahren. Diese Frage konnte sowohl für das Sozialkapitel wie für das politische Kapitel verneint werden; es steht der progressistischen Theologie frei, diese Verneinung zu widerlegen. Bis ihr das gelungen ist, darf man die beiden Studien zum konziliaren Utopia und zur konziliaren Politischen Theologie b) als zwei Ausführungen eines Modells betrachten, das lehrt, mit den weltlichen Konzilsthesen wissenschaftlich umzugehen. Es ließe sich mit gleichem Erfolg auf das völkerrechtliche Kapitel der Pastoralkonstitution, auf ihr Bekenntnis zum Weltstaat, anwenden; vorläufig ist das nicht beabsichtigt, weil andere, noch nicht mit gleicher Modellhaftigkeit analysierte Konzilsdekrete noch aufgearbeitet werden müssen. 86 G. Jarlot: Come leggere l'Enciclica „Populorum progressio" = L'Osservatore Romano 108, 1968, Nr. 70, 25.-26. März, S. 1: Das präzise Ziel der Enzyklika sei, gemäß der Pastoralkonstitution „die Zeichen der Zeit zu erforschen u n d sie i m Lichte des Evangeliums zu deuten". Darauf folgt der verräterische Satz: „Poco importa i l numero delle citazioni scritturali; i l . . . scopo è d i fondare una teologia dello sviluppo." 87 G. Alberigo : Die Konstitution i n Beziehung zur gesamten Lehre des K o n zils = Barauna, S. 50: „Die Hypothese, man könne die Konzilsentscheidungen jede für sich betrachten, kommt i m Grunde einer Untreue dem K o n z i l gegenüber nahe . . . " Solche Apophthegmata würden eindrucksvoller sein, wenn ihre Autoren die einzelnen Entscheidungen wenigstens nach der Gesamtschau erörtern würden. Alberigo redet aber i n seinem ganzen Beitrag i m m e r n u r von der fehlenden theologischen Einzelvertiefung der Pastoralkonstitution (z. B. S. 62—63, 71) und beläßt es hinsichtlich der Ausbesserung dieses Fehlers bei der ebenso oft wiederholten, aber nirgendwo substantiierten — an der Einzelfrage substantiierten — Behauptung, daß sie möglich gewesen wäre.

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c) Das Ziel der bisherigen wie der noch beabsichtigten Konzilsstudien freilich ist klar: sie alle wollen der Aufgabe dienen, den Bruch zu überwinden, den das Vaticanum I I i n eine einheitlich fortschreitende und i m Vaticanum I — bis auf die noch zu schließende Lücke des Verhältnisses der Kirche zur politischen Form — strukturell vollendete homogene Entwicklung des katholischen Dogmas hineingetragen hat. Der Kryptomodernismus des Vaticanum I I muß ebenso unschädlich gemacht werden wie der Konziliarismus des Konzils von Konstanz. I n der theologischen und kirchlichen Arbeit für dieses Ziel lassen sich, wenn man von dem stummen oder lauten, hoch zu lobenden, aber wissenschaftlich nicht artikulierten Protest der gläubigen Katholiken absieht, zwei Richtungen unterscheiden. Die eine verhält sich, wie es die Vorschrift des preußischen Kavallerie-Reglements verlangte: Fehler sind aus der Bewegung zu korrigieren. Sie versucht demgemäß, die Rückkehr zur korrekten Lehre durch eifrige äußere Elogien für das Vaticanum I I zu verdecken 88 . Ob dieser Versuch, die bis zum Pontifikat Johannes' X X I I I . geübte und dann unnötig gewordene Unterwanderungsmethode des Kryptomodernismus nachzuahmen, erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. Ehrlicher und daher auch den konziliaren Idealen entsprechender ist der in diesen Studien eingeschlagene Weg, der progressistischen Theologie offen entgegenzutreten, indem man mit der nötigen Konsequenz ihre wissenschaftliche Blöße enthüllt. I m Zeichen der Wissenschaft ist der Kryptomodernismus zum Angriff auf die bisherige Entwicklung des katholischen Glaubens und der katholischen Theologie angetreten; i m Zeichen der Wissenschaft oder überhaupt nicht w i r d die katholische Theologie sich gegen ihn zu behaupten vermögen. § 37. Daß es bei diesem Kampf der Katholischen Kirche und der katholischen Theologie um die Bewahrung ihrer Identität vor allem auf die wissenschaftliche Theologie ankommt, w i r d durch eine bisher in 88 Vgl. den für diese Form der K o r r e k t u r des Konzils höchst interessanten A r t i k e l seines früheren Generalsekretärs, des jetzigen Kardinals P. Felici: Concilio sì, Concilio no = L'Osservatore Romano 108, 1968, Nr. 85, 12. A p r i l , S. 3. M i t solchen Rossini-Titeln, die sich leicht vermehren ließen — „Concilio qua, Concilio l à " ; „Concilio su, Concilio giù" — ist jedoch nicht viel getan; w i r k s a m sein w i r d auf die Dauer nicht die elegante und elegant verhüllte Polemik, sondern n u r die entschiedene, wissenschaftlich fundierte Stellungnahme der Hierarchie gegen das Konzil. Der Anfang, den K a r d i n a l A. Bacci m i t seinem V o r w o r t zu dem ausgezeichneten Buch von T. Casini: L a tunica stracciata (Rom 1967) gemacht hat, ist darum bloß ein Anfang, w e i l der Protest dieses Buches sich nur mittelbar gegen den dogmatischen Umsturz und unmittelbar gegen den liturgischen wendet. So bleibt der Ruhm, als erster Bischof vor der weltkirchlichen Öffentlichkeit seinen Glaubens- und Bischofseid erfüllt und gegen den vom I I . Vatikanischen Konzil inaugurierten Modernismus protestiert zu haben, ohne diesen Protest durch Weihrauch, dem K o n z i l gespendet, zu vernebeln, dem Erzbischof von Westminster, K a r d i n a l J. C. Heenan (G. Heenan: Magistero = L'Osservatore Romano 108, 1968, Nr. 98, 28. A p r i l , S. 3).

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diesen Konzilsstudien noch nicht hervorgehobene Eigentümlichkeit der progressistischen Theologie verdeckt, nämlich durch ihre prophetische Attitüde. Sie manifestiert sich — damit ist das dritte und letzte Motiv dieses Ausklangs erreicht — i n der noch immer zunehmenden Berufung auf das „prophetische" A m t der Kirche, der Theologie, des Klerus, der Laien, überhaupt des ganzen wandernden Gottesvolkes. Das Konzil hat damit begonnnen 89 ; seitdem w i r d jeder Progressismus, den man trotz aller Mühe nicht mehr mit dem Donum revelatum verknüpfen kann, als „prophetisches Wort" bezeichnet. Die Berufung auf das prophetische Charisma gibt der progressistischen Theologie den verführerisch schillernden Glanz; sie ist die propagandistisch immer wirksame Ratio prima, ultima, unica der progressistischen Theologie. Die wissenschaftliche Theologie kann dieser Verführung nicht begegnen, indem sie mit ihr zu konkurrieren versucht; sie w i r d nie so zu schillern vermögen wie die progressistische. Die einzige Möglichkeit, der „prophetischen" Verführung entgegenzutreten, ist ihre wissenschaftliche Bloßstellung. Das „prophetische Wort" ist nur ein progressistischer Trick, eine terminologische Regression, ein Rückgriff auf ein früheres, noch unentwickeltes Stadium der theologischen Begriffsbildung. Die Zweideutigkeit des Terminus ist offenkundig: bis zum Abschluß der Offenbarung, also bis zum Tode des letzten Apostels, konnte ein prophetisches Wort auch eine Erweiterung der Offenbarung enthalten; seitdem ist es nur noch ihre Anwendung und nur noch legitimiert, wenn es sich aus der historisch-kritisch gewürdigten, der in geschichtlichen Quellen vorliegenden Offenbarung herleiten läßt, so lange also kirchliches Lehramt und kirchliche Theologie sich an das Wort Pauli halten, daß vom Hauswalter nicht Eigenes verlangt werde, sondern nur, daß er getreu sei (1. Kor. 4, 2). Die wissenschaftliche Theologie muß also dem prophetischen Anspruch der progressistischen m i t der Frage nach ihrer Offenbarungstreue begegnen. Auch die Pastoralkonstitution nimmt für sich in Anspruch, prophetisch zu sein. Daß sie dabei sowohl in dem Sozialkapitel wie in ihrer Politischen Theologie die Grenze überschritten hat, die getreue Verwaltung der Offenbarung von ihrer eigenmächtigen, rein menschlichen Erweiterung oder Umdeutung trennt, ist in dieser Studie wie in der über das konziliare Utopia nachgewiesen worden. Wer gelernt hat, geschichtlich zu sehen, nimmt denn auch unmittelbar, ohne des Umweges über die diskursive Analyse zu bedürfen, wahr, welcher Unterschied zwischen echtem Prophetenwort und etwa dem konziliaren Applaus zur gewerkschaftlichen Mitbestimmung oder zur Volonté générale klafft: es fehlt der ruhmvolle Glanz, den die Offenbarung verleiht und der auch lehramtlichen 89

Vgl. als Beispiele: Constitutio Dogmatica De Ecclesia 12, S. 113; 35, S. 157.

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V e r l a u t b a r u n g e n eignet, die n i c h t auf eigene F a u s t p r o p h e t i s c h sein w o l l e n , sondern n u r d e m D o n u m r e v e l a t u m g e t r e u sind. Was m a n h e u t e d e m w a n d e r n d e n G o t t e s v o l k als Politische T h e o l o g i e bietet, ist, u m d e n A u s d r u c k z u w i e d e r h o l e n u n d z u präzisieren, n u r e i n prophetisches Pasticcio. V o r i h m möchte m a n nochmals D A D A z i t i e r e n 9 0 : „ V o n d e n N a c h s t e l l u n g e n der K e t z e r u n d U t o p i s t e n , der Widersacher u n d P r o p h e t e n erlöse uns, ο H e r r . " D e r k o r r e k t e K a n o n i s t aber w i r d , a n diesem P u n k t e angelangt, m i t d e m W o r t e des P r o p h e t e n H e s e k i e l (19,14) schließen: „ P l a n c t u s est, et e r i t i n p l a n c t u m . " Anlage Pastoralkonstitution Abschnitt N r . 74 74. (De communitatis politicae natura et fine). Homines, familiae et v a r i i coetus, qui communitatem civilem constituunt, propriae insufficientiae ad v i t a m piene humanam instituendam conscii sunt et necessitatem amplioris communitatis percipiunt, i n qua omnes, ad commune bonum semper melius procurandum, cotidie proprias vires conférant 1 . Quapropter communitatem politicam secundum varias formas constituunt. Communitas ergo politica propter i l l u d commune bonum exsistit, i n quo suam plenam iustificationem et sensum obtinet, et ex quo ius suum primigenum et p r o p r i u m depromit. Bonum vero commune summam complectitur earum vitae socialis condicionum, quibus homines, familiae et consociationes, suam ipsorum perfectionem plenius atque expeditius consequi possint 2 . Multi autem et diversi sunt homines, qui in communitatem politicam conveniunt et legitime in diversa Consilia declinare possunt. Ne igitur, unoquoque in suam sententiam abeunte, communitas politica distrahatur, auctoritas requiritur, quae omnium civium vires in bonum commune dirigat, non mechanice nec despotice, sed imprimis ut vis moralis, quae libertate et suscepti officii onerisque conscientia nititur. Patet ergo communitatem politicam et auctoritatem publicam i n natura humana fundari ideoque ad ordinem a Deo praefinitum pertinere; etsi regiminis determinatio et moderatorum designatio liberae c i v i u m voluntati relinquantur3. Sequitur item auctoritatis politicae exercitium sive i n communitate u t tali, sive i n institutis rem publicam repraesentantibus, semper intra fines ordinis moralis ad effectum deducendum esse, ad commune bonum — et quidem dyna90 Ball: Tenderenda, S. 84. — K . Barth: A d L i m i n a Apostolorum, Zürich 1967, S. 31 findet freilich, daß die Pastoralkonstitution die „prophetische F u n k t i o n " versäumt habe. Aber das stimmt nicht, wie die ganze Studie zeigt: wenn man das Prophetische, w i e man sowohl beim K o n z i l wie bei Barth es t u n muß, als menschliche Überschreitung des Donum revelatum versteht, ist die Pastoralkonstitution überreichlich prophetisch. 1 Cf. Ioannes X X I I I , L i t t . Encycl. Mater et Magistra: A A S 53 (1961), p. 417. 2 Cf. Id., ibid. 3 Cf. Rom. 13,1—5.

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mice conceptum — procurandum, secundum ordinem i u r i d i c u m legitime stat u t u m vel statuendum. Tune cives ad obedientiam praestandam ex conscientia obligantur 4 . Exinde vero patet responsabilitas, dignitas et momentum eorum, q u i praesunt. U b i autem a publica auctoritate, suam competentiam excedente, cives premuntur, ipsi, quae a bono communi obiective postulantur, ne recusent; fas vero sit eis contra abusum huius auctoritatis sua conciviumque suorum iura defendere, illis servatis limitibus, quos lex naturalis et evangelica delineat. M o d i vero concreti, quibus communitas politica propriam compagem et publicae auctoritatis temperationem ordinat, v a r i i esse possunt secundum diversam populorum indolem et historiae progressum; semper autem ad hominem excultum, pacificum et erga omnes beneficum efformandum inservire debent, ad totius familiae humanae emolumentum.

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Cf. Rom. 13, 5.

Wechselwirkungen zwischen deutschem und italienischem Zivilrecht Von Emilio Betti t , Rom Die geistige Auseinandersetzung und die Wechselwirkungen zwischen Deutschland und Italien auf dem Gebiete des Rechtes und der Rechtsstudien sind von altersher wichtig und mannigfach gewesen. Das ganze frühe Mittelalter hindurch kam das Vulgärrecht, das sich i n Italien i n weit größerem Umfange herausbildete als das offiziell in kleinen, den oströmischen Kaisern unterworfenen Gebieten geltende spätrömische und byzantinische Recht, mit dem germanischen Recht der eingedrungenen Völker in Berührung und wirkte als mächtige Triebkraft an dessen Verfeinerung und Umgestaltung. Nach dem Jahre Tausend aber wurde Italien zum Ausgangspunkt einer noch weit wichtigeren Einwirkung. I m 12. und 13. Jh. nämlich kam dort das römische Recht i n der ihm von Justinian gegebenen Gestalt zu neuer Geltung; und das „Corpus iuris" dieses Kaisers i n der Bearbeitung der italienischen Glossatoren und Postglossatoren wurde zum Hauptbestandteil jenes europäischen „gemeinen Rechtes", auf das man jedesmal dann zurückgriff, wenn örtliche Rechtsvorschriften, d. h. Gemeindesatzungen und -gewohnheiten oder Landesgesetze der Fürsten und Landesherren fehlten. I m Rahmen dieser Einwirkungen vollzog sich eine gewaltige Erscheinung: die Aufnahme des römischen Rechtes und weiterhin des kanonischen und langobardischen Lehnrechtes in Deutschland. Diese Aufnahme ist das Ergebnis eines langen geschichtlichen Prozesses, der sich in zwei verschiedenen Phasen abspielt. I n der ersten Phase, der sogenannten Vor-Rezeption, die auf das 12. und 13. Jh. zurückgeht, bildete sich allmählich die Überzeugung heraus, daß das römische Recht in Deutschland Geltung haben sollte. Diese Überzeugung entsprang aus dem Glauben aller gebildeten Deutschen, daß das heilige römische Reich deutscher Nation nichts anderes als die Fortsetzung des alten römischen Reiches sei und daß infolgedessen die Gesetze der römischen Kaiser, da sie ja als Vorgänger der deutschen Könige betrachtet wurden, den Wert eines subsidiären Rechtes hätten. Friedrich I. und Friedrich II. von Hohenstaufen, deren Beziehungen zu den italienischen Gelehrten des römischen Rechts bekannt sind, machten ein Erbrecht gegenüber den römischen Kaisern geltend und ließen einzelne ihrer Verordnungen in die justinianischen

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Novellen einfügen. Außerdem zog der Weltruf der Rechtsschulen von Bologna und anderer norditalienischer Universitäten aus Deutschland zahlreiche Studierende herbei, die in erster Linie danach strebten, das damals für die Lösung praktischer Rechtsfragen benützbare und bereits von römischen Rechtsgrundsätzen durchdrungene kanonische Recht kennen zu lernen, und dann solche Lehren i n ihre Heimat zurückbrachten, die an Verfeinerung diejenigen der heimischen Rechtskundigen bei weitem übertrafen. Es war kein bloßer Zufall, daß die erste Begegnung und Auseinandersetzung m i t dem „corpus iuris", i n der eine europäische Rechtswissenschaft geboren wurde, sich gerade auf oberitalienischem Boden vollzog. Denn nur i n Oberitalien bestand eine fruchtbare Spannung zwischen einer alten Uberlieferung des spätantiken Rechtsunterrichts und den Ausläufern eines rechtsbegabten germanischen Volkstums; und nur hier war der „humus", der Nährboden, auf dem sich die Pflege des „corpus juris" sowohl auf die universale Reichsidee der römischen Kaiser als auch auf die nationale Romidee der oberitalienischen Städte berufen konnte. Wenn w i r auf die geistigen Vorbedingungen dieses einzigartigen wissenschaftlichen Aufstiegs des „corpus iuris" eingehen, so müssen w i r sie vor allem i n einer mittelalterlichen Geisteshaltung aufsuchen, die auch bei der gleichzeitigen Theologie waltet, eine Haltung, die als unbedingte Ehrfurcht vor der Schrift und verehrender Gehorsam gegen das Dogma zu charakterisieren ist. Insbesondere befolgt die Methode der Schule von Bologna keine anderen Zwecke als die kasuistische Verarbeitung eines Textes von kanonischer Autorität. Die Handwerksregel dieser Schule ist die Exegese der einzelnen Quellenstellen mit den überlieferten grammatischen und logischen Hilfsmitteln: es gilt, den Text nicht aus allgemeinen Begriffen, Sinnzusammenhängen oder Zweckerwägungen zu rechtfertigen, sondern ihn auf seine unbestreitbare Wahrheit hin mit dem Organ der dienenden Vernunft und der formalen scholastischen Logik zu verstehen 1 . Eine freie Würdigung der zeitlosen Werte der Antike liegt dem Menschen des Hochmittelalters noch fern: ihm ist der logische Vernunftgebrauch erst durch die unbedingte Autorität seines Gegenstandes gerechtfertigt. Andrerseits liegt i n der naturgemäßen Einstellung einer zweiten, sekundären K u l t u r auf älterem Boden, daß diese Autorität aus der antiken Vorkultur kommen muß. Dieses Verhältnis von Vernunft und Glauben ist auf dem Gebiete der theologischen Autorität sofort einleuchtend. Nun, eine Autorität gleichen Ranges mußte auch dem Rechtsbuch zuerkannt werden, das, vom Kaiser Justinian gestiftet, auf seine kaiserlichen Nachfahren i m Reich überkommen war: es mußte bei der 1 Wieacker: Ratio scripta: das röm. Recht und die abendländische Rechtswissenschaft, i n : V o m Röm. Recht, 1944, 207—10; Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, 26 f., 30, 31 f.

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Einstellung ihrer Zeitgenossen mit dem Charakter einer schriftgewordenen Vernunft (ratio scripta) auftreten, einer Rechtsoffenbarung, die von der kulturellen Romidee ausstrahlte 2 . Nun aber trug i n der hochmittelalterlichen Umwelt die Romidee, auf italienischem Boden, ein doppeltes Antlitz, je nach dem Standort des Betrachters. Vom Standpunkte des römischen Kaisertums deutscher Nation aus, der für sie zu kämpfen berufen war, wurde sie, wie i m ganzen Abendlande, als die universale Romidee verstanden. Sie konnte aber auch vom Standpunkte der i m wirtschaftlich-sozialen Aufstieg begriffenen lombardischen Städte betrachtet werden: und hier wurde sie als partikuläre, national-italienische Romidee verstanden und zur Beglaubigung ihrer Bürgerfreiheit und politischen Sendung gegen den deutschen Kaiser geltend gemacht. Aus der dialektischen Antinomie, die bei dieser zwiespältigen Auslegungsmöglichkeit waltet, erklärt es sich, daß die Doktoren von Bologna einerseits zur Verteidigung der staufischen Reichsidee herbeigerufen werden, andrerseits zur selben Zeit wegen ihrer M i t w i r k u n g an den ronkalischen Beschlüssen (1158) den ersten Widerspruch eines jungen italienischen Nationalgefühls erregen: denn der Drang der erstarkenden lombardischen Gemeinden nach politischer Unabhängigkeit brauchte sich nur auf die römische Vergangenheit sowie auf eine durch Autorität und Tradition beglaubigte Rechtsethik zu berufen, um eine in den Ursprüngen faktische und partikuläre Macht zu legitimieren 3 . Trotz den einander widersprechenden Zwecken und Interessen der Zeit verblieb dennoch dem „corpus juris" seine unbedingte Autorität unangetastet: i m Hintergrund seiner wissenschaftlichen Erweckung durch die Glossatoren erschloß sich ein neues seelisches und geistiges Vermögen, das auch bei anderen Rückeroberungen tieferer Schichten des antiken Denkens am Werke war (wie bei der Entdeckung Piatos i n der Schule von Chartres und bei der Rezeption des arabischen Aristoteles i n der Pariser Schule). Die Erweckung durch die Schule von Bologna war aus einem neuen Enthusiasmus geboren (Goetz), aus einer Leidenschaft, die zum Wiedererkennen des Erkannten drängte, aus einem kongenialen Willen zum Verstehen antiken Gedankengutes 4 . Nur so konnte eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Antike stattfinden, deren Einfluß durch die Ausbreitung der Wissenschaft der Postglossatoren sich bald in der deutschen juristischen Literatur und i m Lehrunterricht bemerkbar machte. I n der schon erwähnten zweiten Phase, die auf den Ausgang des 15. Jahrhunderts zurückgeht, drang das in Italien durchgearbeitete 2 Wieacker: Ratio scripta, a.a.O., 213; das w i r d von Koschaker i n seinem grundlegenden Buche Europa und das römische Recht, 1947, 25 f., 79, ausführlich dargelegt; darüber Genzmer: Sav. Zschr. Kanon. Abt. 67, 589. 3 Wieacker: Ratio scripta, a.a.O., 213—14; Priv. Rgesch. d. NZ, 28; Kahler: Der deutsche Charakter i n der Geschichte Europas, 1937, 61 f., 329 ff. 4 Wieacker: Ratio scripta, a.a.O., 215 f.; Pr. Rgesch., 27.

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römische Recht i n die Rechtsprechung der deutschen Gerichte ein und gewann auf solche Weise praktische Geltung. Diese Rezeption des römischen Rechts in Deutschland ist der wichtigste Vorgang, i n dem das großartige Geben und Nehmen zwischen den europäischen Völkern 5 zum Vorschein kommt. Der Vorgang wurde sowohl durch negative Vorbedingungen ermöglicht als auch durch positive herbeigerufen. Zu den ersten ist vor allem der Zustand höchster Gefährdung des deutschen Rechtslebens am Vorabend der Rezeption zu rechnen: eine Zersplitterung der Gerichtsbarkeit und der Rechtsbildung, die i m letzten Grunde auf den Zerfall der Reichseinheit zurückging 6 . M i t der Differenzierung von Lehnrechten und Lehngerichten, Hof rechten und Hofgerichten hatten sich auch die engsten Rechtskreise vom allgemeinen Rechtsbewußtsein abgeschlossen; auch die Städteverfassung und die Ausbildung von Stadtgerichten sprengten die alte landrechtliche Gerichtsverfassung 7 . Andrerseits waren in den Stadtrechten inhaltlich neue Rechtsanschauungen zum Durchbruch gekommen, die der Eigenart der städtischen Wirtschaftsverfassung entsprachen. Größerer Typenreichtum und Bedürfnis nach biegsameren Verkehrsgeschäften, in Verbindung mit der erlangten Unabhängigkeit von den altständischen Rechtskreisen, drängten zu einer verstandesmäßigen Rechtsbildung und zu einer größeren Rationalität der Rechtssprechung. Diese Geisteslage wirkte sich je nach den Umständen i n verschiedenen Richtungen aus: in der Hansestadt des deutschen Nordens veranlaßte sie einen Fortschritt des heimischen Rechts, der es gegen das römische Recht widerstandsfähiger machte; dagegen erzog sie in den später blühenden südwestdeutschen Handelsstädten — deren Blick ohnedies durch kurze Handelswege und engen kulturellen Austausch nach Süden gerichtet war — eine erhöhte Bereitschaft zur Aufnahme des Rechts der oberitalienischen Stadtkultur 8 . Hinzu kam, daß die überlieferte Spruchpraxis der Schöffengerichte mit ihren, die Entscheidungsgründe nicht angebenden „Orakeln" nicht mehr als zureichende Leistung galt, seitdem die gelehrte Jurisprudenz logische Gewißheit und verstandesmäßige Nachprüfbarkeit ihrer Urteilsgrundlagen anzubieten hatte 9 . Unter diesen Umständen trat die Erscheinung der Rezeption auf, als eine von den politischen Behörden sowie von der öffentlichen Meinung begünstigte Bewegung der gebildeten Schichten der Bevölkerung, und ging mit der Entwicklung einer gelehrten Richterschaft, d. h. eines Richterstands mit juristischer Bildung, Hand in Hand. Rechtsgelehrte Richter wurden in Deutschland zuerst in Verwaltungssachen, dann seit dem Jahre 1495 beim obersten Reichskammergericht, 5 6 7 8 9

Wieacker: Wieacker: Wieacker, Wieacker: Wieacker,

Pr. Rgesch., 22 f. Ratio scripta, a.a.O., 226. a.a.O., 224. Ratio scripta, a.a.O., 225—26. a.a.O., 227.

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später — i m 16. Jahrhundert — bei den Landes- und Stadtgerichten verwendet, die als untere Instanzen an der Rechtsprechung teilnahmen. Schließlich drangen sie auch i n die untersten Ortsgerichte ein, die an die Stelle der alten Schöffengerichte traten. I m Hintergrund dieser praktischen Geltung spielt der Umstand eine wichtige Rolle, daß dem kanonischen und, seit dem 15. Jh., auch dem römischen Recht der Unterricht gewidmet war, der an den von der zweiten Hälfte des 14. Jh. an i n Deutschland erstandenen Universitäten erteilt wurde. Eben auf das römische und kanonische Recht stützte sich die Rechtssprechung der juristischen Fakultäten, als diese mit dem Verfahren der Aktenversendung zum Teil die Rolle der alten Obergerichte übernahmen. Denn die wechselseitigen Beziehungen zwischen den zahlreichen staatlichen Einheiten und sozialen Ständen des damaligen Deutschlands gaben zu häufigen Streitfragen Veranlassung, zu deren Lösung die ungelenken, vorwiegend auf örtliche Gewohnheiten gegründeten Sätze des germanischen Rechts durchaus ungenügend waren. Aus diesem Umstand, nicht weniger als aus der fortgeschrittenen Volkswirtschaft und dem gesteigerten Verkehr, ergab sich die Anforderung nach einem einheitlichen, geschriebenen Recht, das über dem Partikularismus des heimischen Rechtes stand, ähnlich der Anforderung nach einer gemeinsamen Schriftsprache. Vor allem aber gilt es hier, die positiven geistigen Bedingungen ins Auge zu fassen, die eine so weitgehende Rezeption, wie die des römischen Rechts i n Deutschland, bestimmten. Obwohl kein geringerer als Savigny sie als ein „Mißtrauensvotum" der deutschen Nation gegen sich selbst bezeichnete und nachher die Germanisten sie als eine verhängnisvolle Überfremdungserscheinung empfanden, so ist doch daran festzuhalten, daß kein Mensch unter den Zeitgenossen auf den Gedanken verfiel, hier sei etwas völkisch Fremdes, das i n die deutsche K u l t u r w e l t eindringe. Nicht als ob damals das Nationalgefühl so geschwächt gewesen wäre, daß es das Artfremde als solches verehrt hätte: i m Gegenteil. Aber das Nationalgefühl der Deutschen bewohnte damals noch das alte Gehäuse der universalen Reichsidee; und diese ihre Einstellung ließ den Gedanken überhaupt nicht aufkommen, das kaiserliche Recht ihrer Vorfahren am Reich, das Reichsrecht also, sei ein fremdes Recht 10 . Schon seit dem 10. Jh., während Frankreich bei der Idee des Nationalstaates verharrte, hatte sich Deutschland i n den Dienst der römischen Reichsidee gestellt. I m Zusammenhang mit der Übernahme des Kaisertums war hier zur gleichen Zeit das Ansehen der lateinischen Sprache gewaltig gestiegen. Gleich wie Deutschland die Erbschaft des römischen Reichs angetreten hatte, war dem Laien alle Ehre gegeben und ihm gegenüber bei offiziel10 Wieacker: Ratio scripta, a.a.O., 228; Rechtsbewußtsein, 26 f.; Pr. Rgesch., 28; Genzmer: Sav. Z. 67, 602, 604.

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len Akten die Muttersprache vernachlässigt worden. Allerdings geriet jetzt der Universalismus der alten Reichsidee i n einen eigentümlichen Gegensatz zu den geistigen Bewegungen des Humanismus und der Renaissance. Während auch i n Nordeuropa, vor allem i m burgundischen Raum, das neu entdeckte Menschenbild der antiken literarischen Überlieferung ein persönliches Lebensgefühl erweckte, das, ebenso wie i m Süden, als Humanismus zu bezeichnen ist, konnte es i m Norden eine „Renaissance" i m Sinne einer Wiedergeburt der römischen K u l t u r w e l t überhaupt nicht geben, sondern entweder eine eigene historische Erfahrung und Entwicklungsstufe der nordeuropäischen Völker 1 1 oder eine Auslegung und Aufnahme fremder sinnhaltiger Formen. Nun ist die Rezeption des römischen Rechts nicht — nach der gewöhnlichen Ansicht—als Aufnahme eines stofflichen Fremdkörpers anzusehen, sondern — nach Wieackers Perspektive — eher als ein Entwicklungsprozeß, der dazu führte, das deutsche Rechtswesen und seine fachlichen Träger zur Rechts Wissenschaft zu erziehen und hinauf zubilden 1 2 : wobei der kleinliche Tadel einer Überfremdung nurmehr daran anknüpfen konnte, daß diese Wissenschaft selbst vorzugsweise von italienischen Juristen, und zwar vorbildlich für das übrige Europa, geschaffen worden war. Diese Erhebung zur Wissenschaft (das unschöne Wort „Verwissenschaftlichung" möchten w i r ganz vermeiden) war, für den engeren Kreis der deutschen Rechtsentwicklung, nicht ein Fremdes, sondern ein Neues: nämlich eine Verwandlung des bisherigen Rechtsbewußtseins durch eine gründliche Umwälzung der gesamten äußeren Rechtskultur, die sich mehrfach durch den Wandel der fachlichen Träger, der Rechtserziehung, der Gerichtsverfassung, des Prozesses und schließlich auch der geschriebenen Rechtsnormen vollzog. Bei einer historischen Würdigung sind die Bedingungen und der Verlauf dieser Umwälzung nur aus dem Zusammenhang der großen Krisen zu verstehen, die alle Bereiche des deutschen Lebens an der Wende der Neuzeit von Grund aufgewühlt und verwandelt haben: allen voran die Kirchenspaltung und beständig mit ihr verflochten die weiteren Grundfragen, deren Austrag bis zur Mitte des 11 Es w i r d gelegentlich vom jungen Burckhardt (Die Kunstwerke der belgischen Städte, 1842, 8, nach Ausweis von W. Kaegi: Jacob Burckhardt: eine Biographie, I I , 170) bemerkt: „Dieser Name (d. h. Renaissance) würde wesentlich n u r auf Italien passen... I m Norden dagegen ist die sogenannte Renaissance nichts anderes als das endliche Durchdringen jenes dekorativ-phantastischen Elementes, welches den germanischen Völkern von Anfang an eigen war, aber i n den strengen Formen der gotischen Kunst lange gebunden gelegen hatte." Dieser Unterschied zwischen Renaissance u n d Humanismus wurde durch die nachfolgenden historischen Forschungen, bes. von Haskins und Huizinga (Herbst des Mittelalters, 3. Aufl., 1929) weiterverfolgt, näher bestimmt u n d vertieft. Hierzu die von Wieacker: Privatrechtsgesch. d. Neuzeit, 41, A. 13; 135 f., angeführten Schriften. Wieacker: Privatrechtsgesch. d NZ., 66,127. 1 2

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16. Jhs. i n Vermittlungslösungen endete; die „Reichsreform", der Kampf um die Verfassung des alternden Reichs, der m i t der Erhebung der Bauern und der Reichsritter scheiterte; die kulturelle Bewegung des Humanismus, die durch die Glaubenskämpfe schulmäßig verkümmerte. Dabei spielte die Verfassungskrise die wichtigste Rolle: während nämlich diese Auseinandersetzungen das Reich i n Zerrissenheit zurückließen, ging allein das Landesfürstentum allenthalben gestärkt aus ihnen hervor und damit die Instanz, welche die Rationalisierung des Rechtslebens am kräftigsten förderte. Und der dauernde Erfolg der Reichsreform um 1500, die Reorganisation des Kammergerichts auf reichsständischer Grundlage, w i r k t e in die gleiche Richtung. Also wurde die erreichte Einheit des wissenschaftlichen Rechtsbewußtseins um den Preis erkauft, den damals Deutschland für den Territorialstaat zahlte: um den Preis der Lähmung eines politischen Gesamtbewußtseins und all der Kräfte, die i n der Folge die westeuropäischen Nationen zu Baumeistern des modernen Europa machen sollten. Damit wurden die fernen ersten Grundlagen gelegt für die großen Leistungen der künftigen „historischen Schule": Aufbau einer systematisierten und von den Axiomen bis zu den Einzelsätzen begrifflich durchgeordneten Privatrechtswissenschaft i n Deutschland und über seine Grenzen hinaus; Aktualisierung der römischrechtlichen Tradition, Positivierung des Naturrechts zu einer wieder mit dem römischen Recht verbundenen Rechtstheorie 13 . Jedoch zeigt gerade an der Wende zur Neuzeit das deutsche Lebensgefühl beim Übertritt zum nachmittelalterlichen Denken ein zwiespältiges Gesicht 1*. Der Grund dieser Erscheinung liegt in dem autoritätsgebundenen Denken, zu dem der Jurist bei der Anwendung des „corpus iuris", genauso wie der Theologe bei der Interpretation der Bibel, beide i n ihrer auf praktische Geltung ausgerichteten Auslegung, gezwungen waren. Da die Bibel ein autoritäres Buch war, deren Vorschriften und Beispiele unmittelbare Geltung und Applikation auf das Leben beanspruchten, so forderte sie eine Umdeutung und Umstellung auf die Gegenwart 1 5 , ein Hineindeuten und Herausdeuten 16 , eine Deutung also, die das mittelalterliche Denken bei seiner nicht kritisch-historischen Einstellung dazu veranlaßte, die Vergangenheit m i t Vorstellungen und Begriffen der Gegenwart zu füllen und autoritär festgestellte Wahrheiten unter Einsatz der scholastischen Logik verstandesmäßig zu begreifen 17 . 13

Wieacker: V o m röm. R., 2. Aufl., 301. Wieacker: Ratio scripta, a.a.O., 229—231. Koschaker: Europa u. d. röm. Recht, 48—49; Wieacker: Privatrechtsgesch. d. Neuzeit, 27 f., 31 f.; Grundmann: Joachim v. Floris, 1930, 23 f. 18 Grundmann: Joachim v. Floris, 30—33. 17 Koschaker: Europa u. d. röm. R., 48. Z u m Prozeß der „Aneignung, Assimilierung u n d U m w a n d l u n g von unverstandener Uberlieferung" vgl. i m allgem. Bernheim: Lehrbuch der historischen Methode, 6. Aufl., 498 f., 501. 14 15



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Nun, zu einem gewissermaßen ähnlichen Vorgehen ist der Jurist veranlaßt gegenüber einem älteren Gesetzbuch, dessen Regelung m i t Hinsicht auf unmittelbare Geltung als für die Gegenwart maßgeblich auszulegen ist. Falls auf dem Wege einer historischen Ermittlung des ursprünglichen Sinnes eine unmittelbare Geltung der gesetzlichen Bestimmung nicht zu erzielen ist, dann muß der Jurist, i m Verfahren einer normativ ausgerichteten Auslegung, so viele Vorstellungen und Begriffe der Gegenwart in den Wortlaut hineinlegen, bis die praktische Geltung wieder hergestellt wird, mag auch die historische Urbedeutung der Bestimmung dabei verloren gehen 18 . Das war eben gegenüber den römischen Rechtsquellen die Einstellung dieser Männer von großer Lebenskunde und hoher juristischer Begabung, wie es die italienischen Postglossatoren waren. Also mußte der aus Italien überkommene Gegensatz zwischen dem literarischen Humanismus und der gelehrten Jurisprudenz der Postglossatoren auch i n Deutschland fortbestehen und gleichsam zwei Seelen i n der Brust der humanistisch gebildeten Juristen erwecken, m i t h i n zu einer Spannung mit der lebendigen universalen Reichsidee führen 1 9 , die sich später bekunden sollte. [Seit dem Buchdruck äußert sich an der populären Literatur die Autorität des geschriebenen Wortes gegenüber dem geschwundenen Bewußtsein des heimischen Rechts (auch bei den zu seiner Pflege Berufenen) durch eine naive und wehrlose, gläubigtreue Aufnahmebereitschaft, die mit dem fremden Wort wie mit einer Beschwörungsformel sich ein neues Wissen und Können anzueignen meint. Sogenannte Differentienbüchlein, die heimisches und römisches Recht zugleich gegenüberstellen und zu harmonisieren suchen, tun ein beginnendes Bewußtsein der Auseinandersetzung zweier miteinander ringender Gedankenmassen kund 2 0 ]. Bei manchen Problemen brachte das römische Recht fertige Lösungen, nach denen ein Bedürfnis bestand, ohne daß man immer sagen kann, ob das heimische Recht von sich aus zu denselben Ergebnissen gelangt wäre und die Rezeption nur beitrug, die Entwicklung zu beschleunigen 21 . Jedenfalls erblickten die Zeitgenossen, die i m Banne der universalen Reichsidee lebten, i n der entsprechenden Universalität des römischen Rechts etwas sowohl in der Prozeßordnung als auch i n der materiellen Rechtsregelung Höherwertiges gegenüber der heillosen Zersplitterung der heimischen Rechtsordnungen 22 . 18 Koschaker: Europa u. d. röm. R., 59. Z u r Begründung der Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens vgl. m. „Categorie civilistiche d. interpret., Anm. 78—96, i n : „Riv. it. sc. giur", 1948, 61—66. 19 Wieacker: Ratio scripta, a.a.O., 231. 20 Wieacker: Ratio scripta, a.a.O., 233—34. 21 Koschaker: Europa u. d. röm. R., 125; Genzmer, i n : Sav. Z. Kanon. Abt. 67, 603. 22 Genzmer, i n : Sav. Z. 67, 602. Z u m Nach- und Fortleben der univ. Reichsidee; vgl. Schneider: Rom u. Romgedanke i m Mittelalter, 1926, angef. bei Grundmann: Joachim v. Floris, 23; Burdach: Reformation, Renaissance, H u m a -

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Übrigens war auf theoretischem Gebiet das justinianische Corpus Iuris als ein Ganzes (in complexu) — aber nur als subsidiäres Recht — Gegenstand der Rezeption gewesen. Hingegen wurde auf dem praktisch-gerichtlichen Gebiet nicht die Gesamtheit der Originalquellen i n Deutschland aufgenommen, sondern nur jenes System von Lehrmeinungen, das auf Grund des Corpus Iuris von den italienischen Glossatoren und Postglossatoren unter vielfacher Abänderung, Umdeutung, Umgestaltung und Modernisierung der justinianischen Lehren mit richtiger Anschauung und Lebensnähe entwickelt und herausgebildet worden war. Die Rezeption hatte hier zahlreiche und wichtige Rechtsgrundsätze und Rechtsgebilde zum Gegenstand, die von der italienischen Rechtswissenschaft herausgearbeitet worden waren und denen jetzt absolute, keineswegs bloß subsidiäre Geltung verliehen wurde. Aber auch bei den Universitätsstudien bildete sich recht bald der Begriff eines sogenannten usus modernus pandectarum heraus, der darauf abzielte, die Anwendung von nicht i m Corpus Iuris enthaltenen Rechtsgrundsätzen zu rechtfertigen; und es dauerte nicht lange, da wurde die Geltung dieses corpus auf die glossierten Stellen beschränkt, die allein von der italienischen Rechtswissenschaft aufgenommen worden waren. [Damit wollte man die bereits eingebürgerte Praxis begründen, nach der einige i n ihm enthaltene Rechtssätze nicht zur Anwendung kamen (quidquid non agnoscit, glossa non agnoscit forum)]. Insbesondere wurden die Kommentare meines großen Landsmanns Bartolus von Sassoferrato über die Staatsverfassung und das Majestätsverbrechen (zu den const, „ad reprimendum" und „ q u i sunt rebelles") zur Grundlage des öffentlichen Rechtes i n Deutschland. Die deutschen Lehrer des römischen Rechtes machten sich lieber Bartolus' Lehren als die öffentlich-rechtlichen Lehrmeinungen des justinianischen Codex zu eigen, was als eine äußerst bedeutungsvolle Tatsache angesprochen werden muß. I n ähnlicher Weise wurde statt des justinianischen Verfahrens der i n Italien durchgearbeitete römisch-kanonische ordentliche Zivilprozeß (dazu das summarische Verfahren der „Clementina saepe") die Grundlage des deutschen gemeinen Zivilprozesses. Kurz, das römische Recht wurde i n seinem italienischen Gewand i n Deutschland aufgenommen. Dies erklärt die relative Leichtigkeit der Rezeption, deren Unangemessenheit erst später zutage treten sollte, als i n Deutschland die nationalen Rechtsgewohnheiten wieder ihre Lebensfähigkeit zu behaupten vermochten und das echte deutsche Recht durch die germanistische Rechtswissenschaft der Vergessenheit entrissen und wieder zu Ehren gebracht wurde.

nismus (ital. Ubersetzung, 1935), 8 ff., 34 ff., 45 ff. Über die zwei verschiedenen Weisen, i n denen die Vergangenheit i n die Gegenwart hineinragen kann, vgl. überhaupt N. Hartmann: Das Problem des geistigen Seins, 1933, 414—15, 30—32, 357—59; Droysen: Historik, 1937,116—16.

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Nun, was den römisch-kanonischen Zivilprozeß anbelangt, seine entschiedene Überlegenheit dem einheimischen Rechtsgang gegenüber dürfte wohl den Zeitgenossen klar bewußt geworden sein, die sich seine Grundgedanken über Rechtsgeltung und -anwendung, über das Richteramt, das Verfahren, den Tatsachenbeweis, die richterliche Entscheidung schnell und völlig zu eigen gemacht hatten 2 3 . Die prozeßrechtliche Wandlung hat dann eine noch größere Bedeutung entfaltet als die stoffliche Aufnahme des materiellen Rechts; denn sie ist bei allem Wandel des letzten i n den folgenden Jahrhunderten für die Struktur des modernen juristischen Denkens entscheidend geblieben. I n der Tat, als mit dem älteren deutschen Rechtsgang auch die Trennung zwischen Urteiler und Richter entfiel, wurde die Bindung des Gerichtsherrn an die Rechtsanschauungen der Schöffen durch die Bindung des Richters an die römischen Quellen bzw. an die Statuten ersetzt. Das bedeutete praktisch Bindung an die überlieferten Lehrmeinungen, die durch Postglossatoren i n der Verarbeitung moderner Rechtsinstitute, namentlich i n ihrer umfassenden Gutachtenliteratur, ausgebildet worden waren. A u f diese Weise übernahm die deutsche Rechtssprechung und Rechtswissenschaft von den italienischen Konsiliatoren und Kommentatoren die Haltung einer kasuistisch-forensischen, auf gebräuchliche Textstellen und Präjudizien gegründeten Praxis. Darin aber besteht gerade die Erhebung des Rechtsdenkens zur Rechtswissenschaft, i n dem w i r den wesentlichen Zug der Rezeption zu erblicken haben, wenn auch von einer systematischen Rechtslehre i m modernen Sinne noch nicht die Rede sein kann 2 4 . Daraus ergibt sich auch, ob es einen und was für einen geistigen Ertrag die Rezeption des materiellen Privatrechts für Deutschland bedeutete. Ob das von den italienischen Postglossatoren ausgearbeitete römische Privatrecht (ebenso das Strafrecht, das Handelsrecht, das Kooperationsrecht 25 und das internationale Privatrecht) 2 6 für das einer neuzeitlichen Kulturstufe zuschreitende Deutschland „besser" sei als das einheimische Recht, das war eine Frage, die sich damals kaum jemand vorgelegt haben wird. Daß aber die italienischen Bearbeiter der aufgenommenen Lehrmeinungen ein auf die Welt des spätmittelalterlichen Europas anwendbares Recht aus dem justinianischen herausgestaltet hatten, indem sie den sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnissen der ganzen west- und mitteleuropäischen Umwelt ihrer Zeit gerecht geworden waren, läßt sich kaum leugnen. Ihre Lehrmethode, ihre Literatur, ihr Prozeß, die sich damals 23

Dazu Engelmann: Wiedergeburt der Rechtskultur i n Italien, 1938, 6 ff.; Genzmer, i n : Sav. Z. 61, 285. 24 Wieacker: Das röm. Recht u n d das deutsche Rechtsbewußtsein, 1945, 17 f., 35; Priv. Rgesch. d. Neuzeit, 38—41. 25 Gierke: Genossenschaftsrecht, I I I , 351—501. M Engelmann: Die Wiedergeburt der Rechtskultur i n Italien durch d. wiss. Lehre (1938), 204 ff.; Wieacker: Priv. Rgesch., 39.

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überall i n Europa ausbreiteten und i n ihren praktischen Bestrebungen voll bewährten, lassen die italienischen Postglossatoren (sowohl Konsiliatoren wie Kommentatoren) als die Väter der europäischen Rechtswissenschaft erscheinen 27 . Was nun den Ertrag der „Rezeption" anbetrifft, so kann heute die allein berechtigte historische Bewertungsfrage, die w i r Europäer von heute uns stellen dürfen, nur die sein, ob die mit der Rezeption erfolgte Auslegung, d. h. die Auseinandersetzung der deutschen Juristen m i t romanischem Gedankengut, dazu beigetragen hat, die deutsche K u l t u r i m Sinne einer entschieden europäischen Ausprägung zu fördern 2 8 . Wenn w i r nun das römische Recht, über seinen Einschlag ins Privatrecht hinaus, als einen europäischen Kulturfaktor, namentlich als einen Teil von dem allgemeinen Verwachsensein Europas mit der antiken K u l t u r betrachten dürfen, dann sollen w i r wohl die Frage bejahend beantworten. Allerdings könnte man gegen diese Lösung einen Einwand aus Skandinaviens Rechtsentwicklung entnehmen, die bekanntlich, ohne jeden römisch-rechtlichen Einschlag, doch zur Bildung eines brauchbaren modernen europäischen Privatrechts von sich aus geführt hat. Jedoch wäre dieser Einwand m. E. nicht stichhaltig. Vor allen Dingen wäre folgendes zu bedenken: Skandinaviens Lebensraum ist an sich eng begrenzt und von fremden Einwirkungen scharf abgeschlossen: mindestens ist er nicht so gefährdet wie der germanische Volksboden und Kulturraum, der offen, den von außen kommenden Einflüssen ausgesetzt ist, i n Gefahr, ihnen wehrlos ausgeliefert zu sein. I m geschichtlichen Kulturprozeß galt es einerseits, i m deutschen Osten jenseits der Elbe, slavische Bevölkerungselemente m i t den germanischen derart zu verschmelzen, daß die völkische Zwiespältigkeit nicht einen weiteren auseinanderlösenden Dualismus der geltenden Rechtsordnungen mit sich bringen konnte. Andererseits galt es, i m deutschen Westen dem starken Expansionsdrang des zur nationalen Einheit unter dem absoluten Königtum gediehenen Frankreich Widerstand zu leisten. Nun, zu der doppelten Aufgabe der Abwehr und der Selbstbehauptung brauchte das deutsche Volkstum, i m Zustande seiner nationalen Zersplitterung, das einigende Band eines hochentwickelten Rechts, das ihm zur Auffindung der inneren Form seines Rechtsempfindens ebenso wie zu deren europäischer Ausprägung verhelfen konnte. Das eben leistete die Aufnahme und Anverwandlung des römischen Rechts als eines europäischen Kulturfaktors. Als dann, nach der durch das BGB erlangten Rechteinheit, auf A n regung von germanistischen Juristenkreisen die wesentlich unhistorische Frage gestellt wurde, ob es nicht etwa nunmehr zweckmäßig wäre, den Einschlag des römischen Rechts wie ein artfremdes Joch abzustreifen, 27 28

Wieacker: Das röm. Recht u n d das deutsche Rechtsbewußtsein, 18. Zweifelnd Genzmer, i n : Sav. Zschr. 67, 603.

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beantworteten diese Frage einige mit historischem Wissen getränkte und auf die Zukunft fernhin schauende deutsche Juristen mit einer Erwägung, die man m i t folgendem Gedankengange am besten wiedergibt. Obwohl das Bewußtsein der Abhängigkeit von der Antike sich zeitweise verdunkelte, so haben doch bis heute die ererbten Lebenskräfte europäischer K u l t u r zwar tausendfältig ihre Form gewandelt, sich aber durch alle Wandlungen hindurch zu einer historischen Kontinuität erhalten 29 . Heute wäre zu fragen: konnte die folgende Entwicklung ohne das i n Italien bearbeitete und i n Deutschland aufgenommene römische Recht stattfinden? Wenn es zutrifft, daß dadurch der ungelehrte Rechtsbetrieb zur Rechtswissenschaft erhoben wurde, so wäre ohne die Rezeption ein Zug der Entwicklung zur modernen Staatlichkeit nicht zu denken, der eine wichtige Stufe des Verhältnisses zwischen Staat und Volksgemeinschaft darstellt: ich meine die Rationalisierung des Rechts und den Übergang vom ständischen Schöffen zum beamteten Richter. Ohne die Machtvollkommenheit des beamteten Fachmanns und der gelehrten Räte wäre dem Landesherrn die Zentralisierung der Rechtssprechung nicht gelungen, wäre also der moderne Ausbau einer gleichmäßigen, unparteilichen Rechtspflege und die Verwirklichung einer sozialen Gerechtigkeit nicht möglich gewesen 30 . Kehren w i r zu unserem Thema zurück, so ist nach der „Rezeption" eine weitere Erscheinung hervorzuheben, die später, gleichsam als Reaktion eines Neu-Humanismus — nach der Anpassung des römischen Rechts an das wirkliche Leben — erfolgte 31 , nämlich als Reaktion gegen die Umdeutung und Verschmelzung, wodurch die modernisierende Auslegung der italienischen Postglossatoren fortgesetzt worden war: ich meine die eigentlich theoretisch-wissenschaftliche, d. h. historisch-kritische Bearbeitung, die von der deutschen historischen Rechtsschule, und vor allem von Hugo, Savigny und Puchta, mit einer romantischen Rückschaubewegung eingeleitet wurde und dann durch das ganze 19. Jh. ihre Entwicklung nahm. Sie bestand darin, daß man unmittelbar auf die römischen Rechtsquellen zurückgriff und durch scharfe, eingehende Untersuchungen das justinianische Recht rekonstruierte und von später hinzugefügten Schichten von Lehrmeinungen schied. Die folgerichtige Durchführung des Hauptanliegens der historischen Rechtsschule sollte später i m Laufe des 19. Jh. dazu führen, daß je mehr das römische Recht als praktisch geltendes Zivilrecht enthistorisiert wurde, um so eher der geschichtliche Stoff der römischen Gebilde der Pandektistik entgleiten mußte um damit frei zu werden für die rein 29

E. R. Curtius: Deutscher Geist i n Gefahr, 1932,103 ff. Wieacker: Das röm. Recht und das deutsche Rechtsbewußtsein, 44—45. Lehrreich wäre, die ganz anders geartete Reaktion gegen den Bartolismus zu vergleichen, die i n Portugal vom M. de Pombai geführt wurde. 30

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historische Forschung 32 . Die Leistung der historischen Rechtsschule, soweit sie Pandektistik w a r und die Rechtswissenschaft des 19. Jh. beherrschte, w a r von Mommsen treffend beschrieben, indem er den Juristen seiner Zeit die Aufgabe stellte, „aus jenem ungeheurem Material das Geschichtliche ganz auszuscheiden, das praktische Zivilrecht aber i n ein systematisches Rechtsgebäude zusammenzufassen, so daß jede einzelne Institution i n ihrer durch historische Studien erforschte Individualität als i m Einklang m i t dem ganzen Rechtssystem erscheint und dieses Rechtssystem also zugleich die Quintessenz der historischen Rechtsforschung und der methodische Ausdruck der gegenwärtigen Rechtsbegriffe w i r d " . Eine ungeheure Aufgabe, die ein zwiespältiges Gesicht trug und auf zwei verschiedene Richtungen hinwies. I n der Tat beteiligten sich an der Rekonstruktionsarbeit des justinianischen Rechts einige Juristen m i t vorwiegend historischen Zielen und unter besonderer Berücksichtigung der eigentümlichen Gestaltungen des echten römischen Rechtes, sowohl des justinianischen wie des klassischen, aber auch m i t dem Blick auf die Phänomenologie des heutigen Zivilrechts gerichtet: so vor allem der große Rudolf v. Ihering. Andere dagegen nahmen daran teil m i t vorwiegend dogmatisch-systematischen Zielen; wobei sie i h r Augenmerk auf die Anforderungen des modernen Gesellschaftslebens und auf die Anschauungen des heutigen Rechtsbewußtseins gerichtet hielten und sich bemühten, das römische Recht durch innere Assimilation diesem Leben und diesem Bewußtsein anzugleichen. Die Anhänger der letzteren Richtung, unter denen Brinz, Windscheid, Vangerow, Regelsberger, Bekker, Dernburg besondere Erwähnung verdienen, sind die Schöpfer jenes deutschen Pandektenrechtes, das die wesentliche Grundlage für das seit der formellen Aufhebung des gemeinen Rechtes (1900) geltende bürgerliche Gesetzbuch bildet. N u n übte diese wissenschaftliche Bearbeitung des römischen Rechtes i n der soeben angedeuteten doppelten Richtung, namentlich i n Italien, einen weitreichenden und wohltuenden Einfluß auf die Entwicklung der Rechtsstudien aus. Einerseits fand die historisch-romanistische Richtung, nachdem sie i n Deutschland gegen den Ausgang des 19. Jh. zu einer kritischen Erneuerung der Studien über die römischen Rechtsquellen mittels der textkritischen Methode geführt hatte, i n Italien, wo der Boden schon vorbereitet war, einen breiten Widerhall und rief eine ausgedehnte Bewegung von kritischen Studien über das klassische römische Recht und mannigfache historische Rekonstruktionsversuche hervor 3 3 . Andererseits 32

Heuss: Mommsen und das neunzehnte Jahrhundert (1956), 40, vgl. 44. Den deutschen Leser, der den umfangreichen Einfluß der deutschen T e x t k r i t i k auf die italienische Romanistik näher kennen möchte, darf ich w o h l auf einen lebendigen Bericht von Pacchioni über deutsche und italienische Romanisten hinweisen, der i n den Leipziger rechtswiss. Studien (92 (1935)) veröffentlicht wurde. Dagegen darf der Schluß eines ähnlichen Einflusses deutscher 33

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führte die domatisdi-pandektistische Richtung zu einer wissenschaftlichen Systematisierung des ganzen Z i v i l - und internationalen Privatrechts sowie zum Aufbau einer allgemeinen Rechtslehre (des sogenannten allgemeinen Teils), besonders zur Bestimmung der Rechts-Grundsätze und -Grundbegriffe, wodurch in Deutschland der heutigen Zivilrechtsund wohl auch der Zivilprozeßrechts-Wissenschaft vorgearbeitet wurde. Sie beeinflußte dann in Italien unmittelbar die wissenschaftliche Methode und den dogmatischen Aufbau des bürgerlichen, des Handels- und Z i v i l prozeß-Rechtes, indem sie vielfach Anregung zur Nachschaffung und innerlichen Anverwandlung bot und — unter Abstandnehmen von den dem französischen Vorbild nachgebildeten Kommentaren zum Gesetzbuche — eine schöne Blüte von systematischen, nach rechtsdogmatischen Richtlinien durchgeführten Bearbeitungen hervorrief. Die Aneignung und Fortbildung der pandektistischen Lehren wurde hier vor allem durch den Umstand ermöglicht und begünstigt, daß viele unter denselben auf die Erklärung von Erscheinungen hinzielen, die i n wesentlich ähnlicher, gleichmäßiger Gestalt bei jeder politischen Gemeinschaft und jedem positiven Rechte wiederkehren, die eine gewisse Reife und Entwicklungsstufe erreicht haben. Der wohltätige Einfluß der deutschen Pandektistik trat besonders deutlich bei den zivilrechtlichen Beiträgen derjenigen Pfleger des römischen Rechts zum Vorschein, die sich nicht auf das historische Studium beschränkten, sondern ein ebenso lebhaftes Interesse auch der Bearbeitung und Fortbildung des geltenden inneren und internationalen Privatrechts (beseelt von der gemeinsamen Besinnung auf seine übernationalen Grundlagen) entgegenbrachten. Hier sind, unter den Romanisten, besonders Pietro Bonfante und sein Schüler Carlo Longo, Gino Segrè, Carlo Fadda, Giovanni Pacchioni zu nennen: eine Elite von Juristen, die, trotz ihrer Wendung zum historischen Studium, ihre Fühlung mit den deutschen Pandektisten beständig bewahrten. Begünstigt wurde fernerhin die angedeutete Fortbildung durch den weiteren Umstand, daß das römisch-gemeine Recht — allerdings ergänzt und fortgestaltet durch Rechtsgebilde germanischen Ursprungs, die auf manche i n Nordfrankreich geltende Gewohnheiten (coûtumes) zurückgehen — sowohl die Grundlage des französischen „code Napoléon" als auch des italienischen Zivilgesetzbuchs des vorigen Jahrhunderts (1865) bildete, da letzteres zum größten Teil dem Vorbild des ersteren gefolgt war. Aber jetzt fragt es sich: wie kam es dazu, daß an Stelle des Nachbilds des „code Napoléon" i n Italien ein Gesetzgebungswerk großen Stils eintrat, das dem fortgeschrittenen Niveau der eigenen Zivilistik entsprach? Hier ist ein Ruhmesblatt aufzuschlagen, an dem sich die Erziehung an den Lehren der deutschen Romanistik i n England aus dem jüngst erschienenen Buche „Roman classical l a w " (1951) nicht gezogen werden: denn der Verf. ist eben — ein deutscher Romanist: Fritz Schulz. Schade, daß er f ü r Juristen schrieb, die am röm. Recht nicht bes. interessiert sind.

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Pandektistik bewährte, indem sie dazu führte, den Entwurf eines konservativen französisch-italienischen Obligationenrechts zurückzuweisen. Daß i m Jahre 1865 i n Italien der Gesetzgeber auf den „code Napoléon", als Hauptvorbild eines Zivilgesetzbuches, angewiesen war, erscheint wohl verständlich, wenn man erwägt, daß bislang, bei der politischen Vielstaaterei des Landes, noch keine einheitliche Gesetzgebung bestand und daß andererseits eine gleichmäßige Rechtssprechung und Rechtsüberlieferung sich nicht hatte bewähren können. Ebensowenig war das aber der Fall auf dem Gebiete des Verwaltungsrechts, i n dem der Gesetzgeber damals, wie nachher, gezwungen war, von Frankreich i n einem mehr oder weniger direkten Anschluß manche Rechtsgebilde zu entlehnen, die unserem politischen Beruf recht mangelhaft entsprachen. Trotzdem war die Gesetzgebung des Jahres 1865 keineswegs ein Endziel und Ankunftspunkt: i m Gegenteil — und es konnte nicht anders sein — war sie die Ausgangsstellung einer neuen gesetzgeberischen Tätigkeit und einer fruchtbaren Herausarbeitung i n Rechtspraxis und -lehre, die eine blühende Rechtsüberlieferung zu Geburt und Wachstum brachte: eine Überlieferung, die wahrhaft als einheimisch und national zu benennen ist. Vielgestaltig und miteinander verschränkt waren die Faktoren einer solchen nationalen Überlieferung. Es wäre gewiß irrig die Vorstellung, besonders der neu herausgearbeiteten Zivilistik, als ob sie unter chinesischen Sperrmauern zustande gekommen wäre. A m Anfang war der Einfluß der französischen „Ecole de l'exégèse" noch stark zu spüren. I m weiteren Verlaufe aber befreiten sich die Juristen der nachfolgenden Generation vollständig von ihrem Einfluß. Hier sind vor allem zu erwähnen: Emanuele Gianturco, Francesco Filomusi-Guelfi, Nicola Coviello, Giacomo Venezian und — was die Schuldverhältnisse anbetrifft — Gustavo Bonelli; dann, aus der weiter darauf folgenden Generation: Guiseppe Messina, Francesco Ferrara, Antonio Cicu, Ageo Arcangeli, Filippo Vassalli: große Gestalten, an die sich unser verbindliches Gedächtnis dankbar und ehrfurchtsvoll wendet. Die Rechtsgebilde des Zivilgesetzbuches wurden, wie bekannt, einer tiefschürfenden dogmatischen Herausarbeitung unterzogen (besonders das Familienrecht durch A. Cicu); seine Rechtsnormen wurden durch eine einsichtige Auslegung und K r i t i k weiterentwickelt und fortgebildet; deren Grundsätze und sachlogisches System i n großen Umrissen aufgebaut. Dabei war, unter anderen bestimmenden Faktoren, den italienischen Ziviljuristen das Studium der deutschen Pandektisten von entscheidender Bedeutung. Von den Pandektenjuristen hatten — wie gesagt — unsere Juristen eine fruchtbare Nahrung und Anregung zum Aufbau des Privatrechtssystems gezogen, als der von Vittorio Scialo ja und seinen Mitarbeitern gemeinsam mit einem Ausschuß französischer Juristen umrissene Entw u r f eines konservativen Gesetzbuchs der Schuldverhältnisse mit dem

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Anspruch auf Vereinheitlichung des Rechts an uns herangetragen wurde. Diesem Entwurf gegenüber wurde die Frage aufgestellt: können und sollen w i r die gedeihliche Entwicklung der Zivilrechtswissenschaft zum Stillstand bringen, um sie mit der französischen auf einem und demselben Niveau zu halten und mit unseren Nachbarn Schritt zu halten? Zugleich wurde die Frage laut: besteht wirklich zwischen uns und unseren Nachbarn eine so tiefe Verwandtschaft des Volksgeistes, der K u l turumwelt, des Berufs und der Veranlagung zur Gesetzgebung, wie es erforderlich wäre, um eine wirksame Vereinheitlichung des Privatrechts i n der konservativen Richtung der französischen Rechtspolitik zu rechtfertigen und zu verbürgen 34 ? Daß diese weitere Frage berechtigt war, ist jedem einleuchtend, der nur erwägt, eine wie große Rolle die Auslegung durch die Rechtssprechung spielt, und bedenkt, daß, wo die einheitlichen Grundlagen fehlen, die durch Werturteile geleitete Auslegung i n den betreffenden Ländern der Einheit des Gesetzeswortlauts zum Trotz voneinander abweichende Wege geht und das lebende Recht nach verschiedenen Richtlinien gestaltet. Zum Glück wurde der Entwurf nicht zum Gesetzbuch: daß er zurückgewiesen wurde, verdanken w i r nicht zum mindesten der durchgemachten pandektistischen Erziehung. Auf diese Weise blieb der Weg frei zu einer gründlichen Zivilrechtsreform und zur Gestaltung eines unserer Volksart weit besser entsprechenden Gesetzbuchs. Nun: die vor einundzwanzig Jahren erfolgte Reform des italienischen Zivilgesetzbuchs wurde durch die Rechtswissenschaft sowie durch die Rechtsprechung ermöglicht, und die eingeführten Abänderungen wurden i m wesentlichen der durch die bewirkten Auslegung und Fortbildung gerecht. Hier w i r d auch erkennbar, was die heutige italienische Zivilistik von der deutschen Pandektistik und was die italienische von der deutschen Privatrechtswissenschaft gelernt haben. Was sie ihnen an produktiven Anregungen zu neuen Denkformen und Methoden der juristischen Begriffsbildung alles verdanken, ist nicht leicht zu sagen. Man kann sich kaum vorstellen, wie das Rechtsstudium i n Italien das heutige wissenschaftliche Niveau erreicht haben würde, wenn es an keine anderen historischen Ansatz- und Anhaltspunkte hätte anknüpfen können als an die alten Kommentatoren und ihre nicht sehr hoch stehenden Nachläufer, die sogenannten Praktiker. A n erster Stelle ist hier ein (am 19. A p r i l 1957 hingeschiedener) italienischer Jurist zu nennen, der die Wissenschaft des Handelsrechts i n Italien zu einer ungeahnten Höhe geführt hat, und zwar nicht zuletzt dank seiner souveränen Beherrschung der deutschen Rechtsliteratur: Lorenzo Mossa. Was den unvergleichlichen Zauber dieser einzigartigen 34 Z u m. polemischen Schriften gegen V. Scialoja u n d M . D'Amelio vgl.: Riv. dir. commerc. 27 (1929), 665—68; ebd., 28 (1930), 184—189; Riv. dir. proc. civ. 7 (1930), 249—62. Siehe jetzt Festschrift für Hans Carl Nipperdey (1965), 177.

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Juristenpersönlichkeit bildete, die auch an deutschen und spanischen Universitäten bekannt wurde, war die Leidenschaft für das Recht, das für sein hohes sittliches Gefühl eine unstillbare Liebe war und zugleich ein nie zur Ruhe kommendes Experiment des Erkennenden, das ihm eine Quelle neuer Problemstellungen und fruchtbarer Einfälle war. Von seinem Jugendbuch über Lieferungsverträge und von den vorbildlich tiefschürfenden Darstellungen des Anweisungs- und Wechselrechts bis zu dem vierbändigen System des neuen Handelsrechts, in dem die Lehren vom Unternehmen, von den verschiedenen Formen der Handelsgesellschaften — Personen-, Aktien-Gesellschaft, Gesellschaft mit beschränkter Haftung — nacheinander erschlossen werden, strömt eine Fülle von problematischen Gedankengängen, die er schon i n unscheinbaren Anmerkungen zu der Zeitschrift für Handels- und Obligationenrecht, dann aber mit vollen Händen i n den zehn Jahrgängen der von i h m gegründeten „Neuen Zeitschrift" überall ausstreute 35 . A n Mossas Lebenswerk können w i r ermessen, wie weit bei der Bearbeitung der allgemeinen Lehren der Interessengemeinschaft, des Unternehmens i n seiner sozialen Zweckgebundenheit, des Rechtsscheins, des Verkehrsrechtsgeschäfts, der Gesellschaftsverhältnisse, der Ermächtigung der Scheckanweisung usw. es die europäische Privatrechtswissenschaft auf den Schultern der deutschen Pandektistik gebracht hat. Was aber den Einfluß der deutschen Zivilistik und Rechtslehre auf die Reform des italienischen Zivilgesetzbuchs anbelangt, so ist ein solcher an der dabei eingeschlagenen Richtung zu spüren, dort, wo veraltete Denkformen fallengelassen und neue Problemstellungen und Gesichtspunkte aufgenommen wurden. Ich erwähne ζ. B. die Durchführung des Treu- und Glaubens-Gedankens beim Vertragsabschluß und bei der Vertragserfüllung — auch als ein erzieherischer Gedanke gemeint, der durch beiderseitige Mäßigung den echten Interessenausgleich herbeiführen sollte —, die Einführung einer allgemeinen reszissionsweisen A n fechtung wegen Übervorteilung des anderen Vertragsteils, ebenso einer Vertragsauflösung bzw. Herabsetzung der geschuldeten Leistung wegen nachträglich eintretender übermäßiger Belastung. Übrigens besteht der erwähnte Einfluß keineswegs darin, daß stoffliche Lösungen und Einstellungen einfach übernommen wurden. I m Gegenteil. Z.B.: die dem deutschen BGB bei der Abfassung des Gesetzestextes zugrunde liegende Wirtschaftsauffassung des Liberalismus 3 6 [ebenso dessen übertriebene individualistische Ausrichtung, die zu einer Gegenüberstellung von Einzelnen und Gemeinschaft führte — eine Gegenüberstellung, die unter anderem beim konsequent durchgeführten Willensdogma zum Vorschein 35 Dazu bes. ,Nuova rivista del d i r i t t o commerciale, d i r i t t o dell'economia, d i r i t t o sociale', 1947—1957. 36 H. Stoll: Das bürgerliche Recht i n der Zeitenwende, 1933,11—12; Wieacker: Priv. Rgesch. d. Neuzeit, 290 f.

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kommt] wurde bei der Reform des italienischen Zivilgesetzbuchs abgelehnt i m Bestreben, den Wert der Persönlichkeit i n der Gemeinschaft zu verankern. Das lag aber i m Zuge der sozialen Entwicklung, deren Vorkämpfer Juristen wie L. Mossa waren; und diese rechtspolitische Richtungsänderung vermindert i n keiner Weise die mehrfachen Weisungen, Winke und fruchtbaren Anregungen, die die italienische der deutschen Rechtswissenschaft verdankt. Auf diesem Wege wurde der italienischen Zivilistik, i m großen Geben und Nehmen des geschichtlichen Prozesses, die schönste Gegengabe vermittelt, die man sich denken konnte, für das, was damals, am Ausgang des Mittelalters, die deutschen Juristen von den italienischen Postglossatoren empfangen hatten. Übrigens kann die Gelegenheit zu einer Auseinandersetzung zwischen der deutschen und der italienischen Zivilrechtswissenschaft auch durch rechtsvergleichende Kurse geboten werden, zu denen die Vertreter der einen oder der anderen Zivilistik von einem dritten Lande eingeladen werden können. Hier sei es mir gestattet, eine didaktische Erfahrung zu erwähnen, die jüngst m i r möglich war, als ich i m Winter 1962/63 zu Vorlesungen eingeladen wurde, die das Rechtssystem des deutschen BGB i m Vergleich mit den Rechtssystemen romanischer Gesetzbücher darstellen sollten. Vorerst soll ich meine Dankbarkeitsschuld gegen unvergeßliche Lehrer und Freunde, wie Heinrich Lehmann und Justus Wilhelm Hedemann, bekennen, deren goldene Grundrisse des allgemeinen Teils und des Schulrechts mir bei der Darstellung des heutigen Rechtssystems, wie es i n den letzten 50 Jahren von der Rechtssprechung gestaltet wurde, eine überaus wertvolle Hilfe waren. M i r aber war der Anlaß besonders w i l l kommen, den inneren Zusammenhang der ursprünglichen Fassung des BGB mit der deutschen Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts zu beleuchten, die in der individualistischen Ausrichtung und Gegenüberstellung des Einzelnen zur Gemeinschaft sowie beim konsequent durchgeführten Willensdogma zum Vorschein kommt. Gern nahm ich auch die Gelegenheit wahr, um das neue italienische Zivilgesetzbuch vom Jahre 1942 (das zum Vergleich herangezogen wurde) als den ersten Fall in Europa zu kennzeichnen, i n dem ein Land sein aus Frankreich übernommenes Gesetzbuch durch ein Gesetzgebungswerk großen Stils ersetzt hat, das dem eigenen Volksgeist entsprach: ein Werk, dessen Bedeutsamkeit — wie A. B. Schwarz einsah — vor allem i n einer glücklichen Vereinigung zwischen romanischen und germanischen Elementen beruht. Hier war eine Gegenüberstellung zur heute i n Kairo herrschenden eng nationalistischen Bestrebung nach der sogenannten „Ägyptianisierung" der europäischen K u l t u r naheliegend — und zwar nach einem von Schwarz angedeuteten Wink. Wie der Erfolg der europäischen Einigung vornehmlich von einer Annäherung zwischen romanischen und germanischen Völkern abhängt, so ist gleichermaßen die Zukunft des

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europäischen Zivilrechts bedingt durch die Möglichkeit einer wenigstens allmählichen Koordinierung und Harmonisierung des italienischen, deutschen und französischen Zivilrechts und der entsprechenden Lehren. Ein Endziel, das nicht weniger erstrebenswert erscheint als, auf wirtschaftlichem Boden, der gemeinsame Markt. Daß ein gemeinsames Arbeitsgebiet — wie das römische Hecht als Gegenstand des historischen Studiums — ein gemeinsames Anliegen bedingt und eine lebhafte unaufhaltsame Auseinandersetzung zutage fördert mit einem gegenseitigen Geben und Nehmen zwischen deutschen und italienischen Hechtshistorikern, ist eine nur naturgemäße, auch auf anderen Gebieten anstoßender Arbeit bekannte Erscheinung. Was aber hier besonders hervorzuheben wäre, ist der weitverbreitete Nachhall, den ganze Strömungen, wie die der Interessenjurisprudenz, i n der italienischen Zivilistik und Romanistik hervorgerufen haben. Damit meine ich nicht sowohl Streitigkeiten unter Rechtstheoretikern, die wegen ihrer abstrakten Ausrichtung i m allgemeinen unfruchtbar verlaufen, als die neuartige Problemstellung, die durch den Blick auf die typische Machtund Interessenlage nahegelegt wurde. Nachdem man auf die typischen, für die Rechtsbildung maßgebenden Lebensfaktoren aufmerksam wurde, konnte man aufweisen, wie sie gegenseitig aufeinander wirken und eine unterschiedliche Regelung, trotz der begrifflichen Gleichheit der Benennungen, bedingen. Insbesondere wurde man auf die Machtgebundenheit der Rechtsbildung aufmerksam, auf den Zusammenhang zwischen Gefahrenbeherrschung und Gefahrtragung sowie zwischen Herrschaft und Haftung, zwischen der Ohnmachtlage (die sich einstellt, wenn die eigene Macht versagt) und der Forderung nach Vertrauen zu den M i t menschen. Erst dem Juristen, der eingesehen hat, wie die Lebensfaktoren Interesse und Macht aufeinander einwirken, erschließt sich das Verständnis für die typische A r t und Wreise, wie das Recht das Leben bewertet und auf dem Wege eines Ausleseverfahrens die auf dem Spiel stehenden Interessen nach Maßgabe der jeweiligen Gestaltung der Machtlage (sowohl bei Interessenkonflikten als auch bei Interessengemeinschaft) als schutzwürdig betrachtet, und umgekehrt eine gegebene typische Machtlage (z.B. als Erkennungs- oder Beherrschungsvermögen) nach den maßgebenden Interessen berücksichtigt. Erst demjenigen, der einer derartigen Wechselwirkung der Lebensfaktoren auf den Grund gegangen ist, wird, auf dem Boden eines geltenden Rechts, eine Rechtsfindung möglich, die nicht den abstrakten Rechtsbegriff und das Dogma einer lückenlosen Geschlossenheit der Rechtsordnung über das Leben stellt, sondern die Relativität der Rechtsbegriffe sowie die Standortgebundenheit der Wertschätzungen dank seiner Zweckbetrachtung einsieht und danach strebt, das Recht dem Leben anzunähern und, soweit tunlich, seinen Anforderungen dienen zu lassen. Ebenso w i r d einem solchen Ju-

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risten, auf der Ebene der Rechtsgeschichte, eine Betrachtung möglich, die den Blick des Forschers auf die Dynamik der Rechtsbildung richtet und sich darüber Rechenschaft geben möchte, wie die aufeinander einwirkenden Lebensfaktoren die Rechtsgestaltung vermutlich beeinflußt haben. Von dem Begründer dieser Methode der Gesetzesauslegung und der Rechtsanwendung, die i n der Nachfolge Iherings von der Zweckbetrachtung ausgeht u n d auf die i n Aussicht genommene Interessenabwägung abgestellt — dem Tübinger Rechtshistoriker P h i l i p p Heck —, wurde treffend gesagt (Wieacker, Pr. Rgesch. 342), daß er ein echtes Rechtsverständnis i n wahren Meisterstücken der Situationsanalyse bewährt habe, u n d „es komme darin der ganze Gewinn der methodischen Erforschung der Rechtswirklichkeit f ü r die moderne Dogmatik zu schönstem Ausdruck" 3 ?. Meinerseits möchte ich hier über einen anderen hervorragenden Vertreter der Interessenjurisprudenz (den am 4. August 1959 hingeschiedenen), Rudolf Müller-Erzbach, ein ähnliches persönliches Bekenntnis erstatten, wodurch i n umgekehrter Richtung ein Gewinn dieser auf die Wechselwirkung der Lebensfaktoren abstellenden Situationsanalyse f ü r die moderne Rechtsgeschichte festzustellen ist. Wenn w i r Rechtshistoriker heute von der naiven rechtsphilosophischen Einstellung Abstand nehmen, die aus gewissen vorausgesetzten Begriffen soziale Schlußfolgerungen u n d Richtigkeitsurteile herleitete, oder die bequeme Methode der Nachläufer des Willensdogmas zurückweisen, die darauf ausging, den betreffenden Personen angebliche „stillschweigende Erklärungen" i n den M u n d zu legen, welche es ermöglichten, entsprechende Rechtswirkungen zu rechtfertigen, w e n n w i r überhaupt der ganzen Denkform der „Willenserklärung" kritisch gegenüberstehen u n d danach streben, den phänomenologischen Befund m i t lebensnahen Begriffen zu erfassen, die an eine soziale Instanz appellieren, so ist diese sachgerechte Einstellung unserer modernen Rechtsgeschichte nicht zuletzt den mehrfachen Anregungen zu verdanken, die uns von der Situationsanalyse der Interessent urisprudenz, besonders von Müller-Erzbach, ergingen 3 8 . Ich brauche, u m solche Anregungen zu veranschaulichen, n u r auf Denkformen hinzuweisen wie „sozialtypisches Verhalten", das eine Anwartschaft begründet und eine Haftung auslöst, bei sogenannten faktischen Vertragsverhältnissen, oder „typisierende Geschäftsauslegung", die nicht auf eine psychologisch zu ermittelnde, fragwürdige Parteiabsicht abstellt, sondern auf das zu lösende p r a k tische Problem der Interessenregelung (id quod agitur), oder „Last und Selbstverantwortlichkeit nach Maßgabe einer typisierenden Zurechnung" : eine Denkform, die uns die Unschlüssigkeit von Konstruktionsversuchen von Haftungsu n d Gefahrtragungsproblemen durchschauen läßt, wie die widerspruchsvolle Annahme einer „Objektivierung des dolus", oder einer angeblichen „ s t i l l schweigenden Garantieübernahme" beim Anvertrauen einer Sache m i t H i n 37 Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 342, übrigens nicht ganz frei von einer gewissen Voreingenommenheit gegen diesen angeblichen „ N a t u ralismus". 38 Dazu unter den jüngst erschienenen Schriften Müller-Erzbachs: Die Rechtswissenschaft i m Umbau, 1950; ,Studium generale' 4 (1951), 535; Juristenzeitung 1952, 193; 1955, 561; 1956, 705; Archiv f. d. civil. Praxis 154 (1955), 299—343; ebd. 142 (1954), 274; Juristenzeitung 1958, 50; auf dem Gebiete des Gesellschaftsrechts: Das private Recht der Mitgliedschaft als Prüfstein eines kausalen Rechtsdenkens (1948); vgl. Studien zum kausalen Rechtsdenken (Festgabe für Müller-Erzbach, 1954). Eine Ubersicht mancher Fragestellungen der Interessenjurisprudenz bietet H. Hubmann: Grundsätze der Interessenabwägung, i n : Archiv f. d. civ. Pr. 155 (1956), 85—157.

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blick auf die daran geknüpfte „custodia-Haftung", oder die offenliegende V e r wechslung der objektiv-typischen Bewertung des zurechenbaren Verhaltens des Schuldners (wie sie sich bei dem „periculum tutelae" ergibt) m i t einer angeblichen „ H a f t u n g ohne Verschulden" oder „ H a f t u n g wegen eines gesetzlich vermuteten Verschuldens": eine, offen gesagt, unvollziehbare Vorstellung. Es stimmt uns melancholisch, bei jüngeren Darstellungen des römischen Rechts noch die alte pandektistische Begründung der „custodia-Haftung" zu lesen — diese Haftung nämlich setze eine „mindestens stillschweigende" Garantieübernahme voraus —, wenn w i r bedenken, daß die Verf. aus Müller-Erzbachs Analyse des Zusammenhangs zwischen Gefahrenbeherrschung u n d Gefahrtragung sich eines besseren hätten besinnen können. Schade, daß durch ihre Scheuklappen die Fachgelehrten sich derartigen Anregungen verschließen.

Was aber Macht und Einfluß der historischen Rechtsschule anbetrifft, die als Spitze und Quellpunkt dieser vielfältigen modernen Entwicklung erscheint, kann ich sie hier füglich nicht überblicken; ich verweise insbesondere auf Adolf Stolls Buch über Savigny. Nur ist hier der Vorwurf als unbegründet zurückzuweisen, die historische Schule sei ihrem Programm untreu geworden, das den Volksgeist als Quelle der nationalen Rechtsordnungen ansprach und die Erkenntnisquellen des Volksgeistes nach der Anschauung der Romantik i n der Rechtsgeschichte aufsuchte. Die Wendung der Schule zur Rechtsdogmatik war i n der Forderung begründet, eine gemeindeutsche Privatrechtswissenschaft aufzubauen, die, ohne die tragende Stütze eines Gesetzbuchs, Gegenwartsaufgaben i n Anspruch nahm und sich über die Mannigfaltigkeit der deutschen Landesrechte erhob 39 . So konnte die historische Schule die Rechtsgeschichte als wissenschaftliches Fach begründen und zugleich das feinstgeschliffene Begriffssystem der Rechtsdogmatik zur Erziehung sämtlicher Juristen Europas herausarbeiten. Indem die historische Einstellung der Schule von der Dogmatik historische Begründung verlangte, ist aus der Synthese von römischem Gedankengut und deutschem Naturrecht jene bewunderte Dogmatik entstanden, die seither so vielfach i n Europa befruchtend wirkte. Diese Verbindung von Historismus und Dogmatik des geltenden Rechts war für die Juristen Europas mehr wert und leistete weit mehr, als eine einseitig historisierende Erforschung der römischen Rechtsquellen hätte leisten können, die durch Herausstellung der altrömischen Rechtsregeln i n ihrer sozialen und wirtschaftlichen Umwelt den Gegensatz zur Gegenwart eher vertiefen als überbrücken mußte 4 0 . Indem so die Pandektistik das Wissen von der Vergangenheit zum lebendigen Bestandteil der juristischen Bildung machte, betätigte sie eine schöpferische Rechtsfortbildung, die der deutsche Jurist seit der Rezeption nicht mehr entfaltet hatte und die mit dem bürgerlichen Gesetzbuch i n Gefahr war, wieder zu verkümmern 4 1 . Nur von einer auf die Gegen39 40 41

Wieacker: Vom röm. Recht, 268. Koschaker: Europa und das röm. Recht, 256 f., 283 f. Wieacker: V o m röm. Recht, 273.

6 Festschrift f ü r C a r l S c h m i t t

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wart eingestellten Pandektistik konnte i n der Tat eine Auseinandersetzung ausgehen, die für die europäische Rechtswissenschaft eine neue gewaltige Förderung bedeutete. Wenn w i r zum Schluß die zwischen Italien und Deutschland vor sich gehenden Wechselwirkungen überblicken, auf deren Wege sich die Zivilrechtswissenschaft entwickelt, so erscheint uns ihre Entwicklung als eine stetige Auslegung und Aneignung neuer Sinngehalte des überkommenen Rechts auf immer höherer Stufe. Allerdings, indem durch das angedeutete Weiterschreiten der Auseinandersetzung die europäische Rechtswissenschaft i n Italien und Deutschland zur vollen Mündigkeit gelangte, trat sie zu den Sinngehalten der römischen Rechtsquellen, die der erstarkende historische Sinn i n ihrer geschichtlichen Eigentümlichkeit durchschaute, i n ein mehr und mehr selbständiges Verhältnis. Wenn die Glossatoren der Autorität des römischen Buchstabens unbedingt huldigten, so bedeuten doch schon die folgenreichen Vorstöße der Postglossatoren i n ihrem schrittweisen Vordringen zu neuen Lösungen, die den sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnissen der Zeit gerecht wurden, i m Grunde eine wachsende innere Befreiung von der unbedingten Autorität jenes Buchstabens. Nachher waren der „usus modernus pandectarum", das theoretische Naturrecht und die Überwindung des gemeinrechtlichen Positivismus immer zugleich offene Proteste gegen eine Autorität des corpus iuris, die auf neuer Stufe nicht mehr verbindlich erschien. Zuletzt hat das Inkrafttreten von modernen Pandektengesetzbüchern nach A r t des deutschen BGB jede Fessel für eine aufrichtige rechtshistorische Forschung gelöst 42 . Und trotzdem, gerade nachdem das römische Recht seine verbindliche Kraft eingebüßt hat, empfinden w i r guten Europäer den dadurch gewonnenen geistigen Ertrag als etwas, das man nicht nur hat und wie eine Last weiter trägt, sondern beständig noch erwirbt und erwerben muß, weil man es vor dem unerbittlichen Drang des modernen Lebens immer wieder preisgibt, preisgeben muß. Aus der Begegnung und Auseinandersetzung der germanischen Völker Europas mit den romanischen und der von diesen getragenen K u l t u r Roms wurde eine unerschöpfliche Fülle von gegenseitigen Anregungen und Belehrungen beiderseitig geschöpft. Daraus ist eben die europäische Kultur, besonders auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft, entstanden: das sollen wir, verpflichtete Erben von heute, niemals vergessen. Eher sollen w i r daraus, i m Rahmen der europäischen Kulturgemeinschaft, den Ruf nach einer stets erneuten Begegnung, Vergleichung und Abstimmung unserer Perspektiven und Probleme vernehmen. A u f diese Weise w i r d die Gefahr eines überhandnehmenden kurzsichtigen Provinzialismus des Geistes überwunden werden; so werden die übernationalen Grundlagen und die gemeineuropäische Tradition nicht verloren gehen. 4 2

Wieacker:

V o m röm. Recht, 282 f.

Über Güte und Schlechtigkeit des Menschen i n der Lehre von Staat u n d Gesellschaft Von Carl Brinkmann t , Tübingen* „Der Mensch ist gut" war am Anfang der deutschen Zwischenkriegszeit der fast triumphale und jedenfalls rasch und lange berühmte Titel eines Buches von Leonhard Frank, dem bedeutenden Dichter und namhaften Kommunisten und Pazifisten. Die Behauptung faßte i n der Tat wie ein Fanal eine Reihe von zeitlich entwickelten und logisch zusammenhängenden Überzeugungen zusammen, die zu dem vornehmsten Rüstzeug der neuen rationalen und säkularisierten K u l t u r des Abendlandes gehört. Es ist die tiefste Eigenart aller Revolutionen, der Schlechtigkeit vergehender Systeme den Glauben an die Güte ihrer neuen Systeme und Systemträger entgegenzustellen. Das ist allemal eine Entsprechung psychologischer und soziologischer Kategorien. Wenn das christliche Mittelalter die Erbsündigkeit des Menschen voraussetzte, folgte daraus sogleich wenigstens die Möglichkeit konservativer und passiver Haltungen zu den Schäden des „irdischen Jammertals". Wenn umgekehrt die Reihe der Revolutionen mit Puritanismus und Jakobinismus, lebhaft erinnerlich uns noch von Seiten (oder wenigstens von einer Seite) des Nationalsozialismus, an die Stelle des bekämpften Menschentypus ein „neues Menschenbild" (man kann wegen der Regelhaftigkeit des Vorgangs ebenso sagen: das „neue Menschenbild") zu setzen versprach und unternahm, so hatte auch das seine einleuchtenden sozialen und politischen Folgen: eine neue „aktivistische" Selbsthilfe und ihre vermeintliche Legitimation durch die sittliche Überlegenheit über das frühere. Schon dieser Befund gibt dem Soziologen Anlaß zu untersuchen, ob der immer wiederholte Prozeß der Entdeckung des „guten" Menschen i m Sinne der bekannten Fortschrittsideologie der abendländischen Neuzeit wirklich zutreffend ausgelegt wird. W i r möchten fragen: Könnte es nicht sein, daß, nach dem Muster so vieler von der modernen Soziologie aufgefundenen Modelle, die Lehre * Dieser Beitrag wurde aus einer dem Jubilar i m Jahre 1953 i n Maschinenschrift überreichten, unveröffentlicht gebliebenen Festschrift übernommen.

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von Güte oder Schlechtigkeit des Menschen weniger ein Ergebnis der Forschung oder Erziehung als vielmehr ein Mittel zur Begründung und Herbeiführung anderweit erwünschter Ergebnisse wäre? Zunächst gibt es ja zu dem bezeichneten einen Parallel- oder Kontrollvorgang in der Art, wie, gleichfalls m i t der geistigen Wende der Renaissance und gleichfalls i n bewußter Abhebung von früheren Gemeinschaftsüberzeugungen, die Systeme des Autoritarismus von Machiavelli über Hobbes zu Pareto eine mehr oder minder starke Wurzel i n der Überzeugung von der menschlichen Schlechtigkeit haben. Und hier glaubt natürlich die Ideologie der „freiheitlichen" Staats- und Gesellschaftsformen leichtes Spiel zu haben: Hier, aber auch hier allein (sagt man) sei ein bestimmtes (das schlechte) Menschenbild Mittel zum Zweck, nämlich dem der „gewissenlosen" Herrschaft, während das Gegenbild menschlicher Güte wenigstens ein hohes Ziel aufstelle, zu dem durch die Lebensformen der egalitären Demokratie erzogen werden könne. Nun sind w i r aber gerade mit dieser Totalität demokratischer A n sprüche nicht nur wie schon lange i n Einzelgegensätze wie den von Gleichheit und Freiheit verstrickt, sondern aufs Vollkommenste an einem „Ende der Neuzeit" angelangt. Denn schon lange ist es weder mehr möglich noch nötig, die K r i t i k der Demokratie auf die bekannte Anklage der „Massensoziologie" zu beschränken. Eine wirklich aktuelle K r i t i k muß sich heute auf die Güte oder Schlechtigkeit der „liberalen" Führungsformen und Führertypen in Staat und Gesellschaft richten. Dafür genügt hier wohl der Hinweis auf den sog. Nihilismus besonders der jugendlichen Massen in den „westlichen" Demokratien einerseits, der trotz kommunistisch-,, demokratischer" Verhüllungen immer offenere Drang der großen Ostvölker zu i n Wahrheit autoritären und sogar diktatorischen Staatsformen andererseits. Damit ist i m Grunde nur eine Möglichkeit verwirklicht, die in der neuzeitlichen „Entgötterung" und „Entzauberung" der Welt von vorneherein angelegt war. Nicht allein der Autoritarismus übertreibt seine illusionslose Einschätzung politischer und sozialer Wirkungsmethoden gelegentlich ins Satanische, wobei die Beschränkung solcher „internen" Zügellosigkeiten auf vergleichsweise kleine Kreise i m Sinne der bekannten „Arkana" der Renaissance die Sache vergleichsweise ungefährlich für die Masse und das Untertanenverhältnis machte — erst Friedrichs des Großen Antimachiavell hat zwei Jahrhunderte später auf dem Höhepunkt der Aufklärung das Vulgäre und Parvenuehafte dieser Haltung sehr fein aufgedeckt. Nicht weniger charakteristisch, wenn auch weniger bekannt ist aber, daß auch den Demokratismus der menschlichen Güte ein solcher Satanismus wie sein Schatten begleitet. Nichts anderes ist ja Voltaires „épater le bourgeois", und es wäre eine lockende analytische Aufgabe, hinter dem, mehr oder minder offen, von den

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Kirchen ererbten oder entliehenen Pathos der Revolutionäre die grausige Frivolität aufzusuchen, die sie als Führer „ahnungsloser" Massen i n bewußter Distanzierung von diesen immer wieder ununterdrückbar fanden. Ich habe früher einmal (Schmoller S. 101) darauf verweisen dürfen, daß von den immer wieder berufenen Zynismen des „Feudalismus" (Modell: „ I I vous faut vivre? — je n'en vois pas la nécessité") eine gerade Linie der Abstammung und Gattung zu den Zynismen des Liberalismus geht (Modell: „Enrichissez-vous"). Die Linie geht ganz unzweideutig (und i m „Kämpferischen" sogar verstärkt) weiter zu Sozialisten und Kommunisten, natürlich besonders den geistig Höchststehenden: Von den Gardinenringen der Trauung Max Stirners bis zu den berühmten Witzen Josef Stalins (Modell: „Wie viele Divisionen hat der Papst?"). Das heißt dann aber: Auch der Apostel der „Freiheit" hat, ebensowenig wie ein festes und endgültiges System „demokratischer" Formen, eine feste Überzeugung von der Güte der Menschen über ihm, um ihn und unter ihm. Das verrät sich noch deutlicher als i m staatlichen Handeln selbst i n dessen kulturellen Protuberanzen. Es beginnt schon auf jenem Höhepunkt des aufklärerischen Rokoko. Die Zynismen Friedrichs haben noch ein zugleich patriarchalisches und dichterisches Aroma. Ich entsinne aber, wie überrascht einmal Gustav Radbruch war, als er den Entwurf seines ideologischen Aufsatzes über Dr. Johnson (Gustav Radbruch, Gestalten, S. 50 ff.) vortrug und ich m i r erlaubte, ihn zu fragen, ob er den bewußten (wenn auch oft als Moralismus verkleideten) Immoralismus des großen englischen Rokoko-Romans kenne. Seitdem ist es i n der „freien westlichen Welt" um die Nachtseiten des Menschlichen literarisch nicht stiller geworden. I m Gegenteil wäre es kaum übertrieben, von unserer Jahrhundertmitte zu sagen: Die „Freiheit" der Rede und der Kunst äußert sich vornehmlich in einer immer zunehmenden Ausschmückung und Vertiefung des ideologisch Negativen, nicht, wie man annehmen könnte und wie es bisweilen i n den Anfängen neuzeitlicher Staatslehre auch vorkam, um auf diesem dunklen Grunde das Evangelium der Menschengüte desto heller erstrahlen zu lassen, sondern mit einer Herausarbeitung des Bösen und Schlechten bis zur Wollust, wenigstens bis zu einem alles andere als aktivistischen non liquet, wie es besonders dem dichterischen Existenzialismus eignet. Die Bekämpfung der „bourgeoisen", „amerikanisierten" Kunst und Literatur durch den östlichen Kommunismus erscheint von da aus bisweilen als ein Wandschirm vor etwas, dessen Aktualität und Virulenz man selbst kennt und nicht unmittelbar zu bestreiten wagt. Sicherlich kann auch die Überzeugung von menschlicher Schlechtigkeit als politisches Kampfmittel auftreten, das zeigt, freilich nicht nur i n autoritären Gesellschaften, die fast zwangsläufige Abwertung des politischen und sozialen Gegners (Denigration, „Anschwärzung", scheint auf

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Ursprung aus Rassenkämpfen zu deuten). Viel verwickelter und unerwarteter aber ist die Verwendung des Güte-Evangeliums i m politischen Kampf. Hier nimmt gleich bei Beginn der Neuzeit eine säkularisierte Philosophie die antike Theodizee als offenbare Umkehrung des Erbsündeglaubens auf: Jetzt w i r d nicht der Mensch nach seiner Schuld gegen Gott, sondern Gott nach seiner Schuld gegen den Menschen befragt, eben weil der Mensch gut und also sein Leiden aus Schuld unerklärlich ist. Und dieser Ansatz hat überraschende Auszweigungen auch i n eine entgötterte Menschenwelt: Aus der Vermutung einzelmenschlicher Güte erwächst die moderne Vorstellung von der Verantwortlichkeit der „Gesellschaft", d. h. ihrer schlechten Einrichtungen und Verfassungen, für Verbrechen und Asozialität. Schon Pareto hat das alles sehr scharf gesehen und beschrieben. Auch die noch heute typische Erscheinung der Parteinahme des „Publikums" gegen ordnungspolizeiliche Eingriffe aller Art. Das begann schüchtern (und nicht ohne Beteiligung i n der Tat tieferer seelischer Schichten) m i t dem Ruhm des „edlen Räubers" und endet mit einem platten Reaktionsmechanismus gegen Staat und „Bürokratie" schlechthin. Wo aus diesem W i r r w a r r theoretischer politischer Annahmen und praktischen wirklichen Verhaltens etwas wie ein Ausweg zu suchen wäre, zeigt jeder noch so kleine Rest dessen, was das „neuzeitliche" Verständnis von Staat und Gesellschaft aus dem „Einzelmenschen" vergißt und übersieht, das Leben i n menschlichen Gemeinschaften. Wie in gesunder Familie die Generationen und Geschlechter einander „unbewußt" und „unwillkürlich" für „gut" halten, wie von da über dauernde sowohl als „NotGemeinschaften" bis zum (mit Unrecht) so viel angefochtenen „Right or wrong my country" des Engländers immer der gleiche geheimnisvolle Zug geht, an Güte zu glauben, weil man sie dadurch hervorruft, das scheint etwas wie einen Schlüssel zur Beantwortung der Frage nach Güte oder Schlechtigkeit des Menschen zu enthalten. Sie ist wie so viele „vollständige Disjunktionen" des Rationalismus i n dieser alternativen Form falsch gestellt. „Der" Mensch ist, gerade auch für Staat und Gesellschaft, weder gut noch schlecht i n irgend einem substanziellen Sinn. Diese Prädikate erhalten vielmehr einen solchen Sinn erst von seiner Eingliederung i n eine Gemeinschaft, deren Bestand ihn gut, deren Zerfall ihn schlecht macht. Deshalb ist der atomistische Individualismus der neuzeitlichen politischen und sozialen Mechanismen so ohnmächtig, aus dem Güte-Dogma, dessen einzig mögliche, gemeinschaftliche Begründung i h m vielleicht i m Anfang vorschwebte, irgend eine reale Entscheidung abzuleiten. Die starken Seiten der beiden Europa überschattenden Gesellschaftssysteme, des amerikanischen und des russischen, liegen denn auch durchaus nicht i n der Jahrhunderte alten „Freiheits"-Parole, m i t der die europäische Zwischenwelt immer noch

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ihre Leiden beschwören zu können hofft. Sie liegen i n Amerika bei dem, soziologisch und programmatisch fast niemals näher analysierten, Kameradschaftsgeist dieses unfaßbaren Gemenges von Rassen und K u l t u ren, bei Rußland i n der i m Grunde sehr ähnlichen Kameradschaft eines Volkes, das gemeinschaftlich die ersten Erfolge des neuzeitlichen Rationalismus und das erste Elend des Versuchs seiner buchstäblichen Erfüllung erlebt. Nicht nur i n dem vielberufenen slavischen Volkscharakter, sondern, wenn auch i n ganz anderer Erscheinungsweise, i n dem amerikanischen Normalmenschen ist jene uns erstaunende Polarität von Bereitschaft zu primitiven Liebe- und Haßregungen, eben zu „Güte" und „Schlechtigkeit", deren Ausschlagsbreite und Reaktionsgeschwindigkeit so viel größer sind als alles, was w i r „alten" Europäer kennen. Daher beider so naiver wie unerschütterlicher Glaube an das eigene System. Er stammt aus den Tiefen menschlicher Motivation, die unendlich w i r kungsmächtiger sind als die „demokratischen" Formen, i n denen er ihnen zum Bewußtsein kommt. Die beiden eigene „Hero Worship" ist nur ein Symptom der Gemeinschaftskräfte, die dort unter täuschender Decke am Werk sind und machtvoller sein dürften als alle Atomwaffen. Der Weg der Analyse scheint von der Aufdeckung von Illusionen zurück ins Illusionäre und Ideologische geführt zu haben. Aber ich meine, für die Gestaltung zukünftiger Gesellschaft und Staatlichkeit w i r d viel davon abhängen, einzusehen, daß damit in Wahrheit das Urgestein menschlicher Gemeinschaftsbildung berührt ist.

D i e demokratische Ö f f n u n g i m neuen Organisationsgesetz des Staates* Von José Caamano Martinez, Santiago de Compostela I n Übereinstimmung mit A r t i k e l 1 des Gesetzes über den Volksentscheid (Ley de Referèndum Nacional) vom 22. Oktober 1945, der bestimmt, daß, „wenn die Bedeutung bestimmter Gesetze es ratsam erscheinen läßt oder das öffentliche Interesse es erfordert, der Staatschef zum besseren Dienst an der Nation die von den Cortes ausgearbeiteten Gesetzentwürfe einem Referendum unterziehen kann", wurde für das Organisationsgesetz des Staates (Ley Orgànica del Estado) ein Volksentscheid herbeigeführt. Das Referendum fand am 14. Dezember 1966 statt, und das neue Gesetz wurde mit einer über die Erwartungen weit hinausgehend großen Mehrheit angenommen. Eine Minderheit, die das Organisationsgesetz des Staates gelesen und verstanden hatte, stimmte dafür, weil sie — ohne mit allen Einzelheiten einverstanden zu sein — meinte, dieses Gesetz sei den gegenwärtigen Verhältnissen i n Spanien am angemessensten und stelle i m Demokratisierungsprozeß einen Schritt vorwärts dar. Zweifellos war aber für einen Großteil des spanischen Volkes das Vertrauen in die Person des Staatschefs entscheidend. Aus Dankbarkeit und Vertrauen stimmten viele Spanier für das von General Franco vorgeschlagene Gesetz, der sich am Vorabend des Referendums über das Fernsehen mit der Bitte an die spanische Bevölkerung wandte, „Ja" zu dem Organisationsgesetz des Staates zu sagen. Das Organisationsgesetz des Staates vom 10. Januar 1967 hebt die früheren Grundgesetze nicht auf, sondern läßt sie mit einigen, allerdings wichtigen Änderungen fortbestehen. Es stellt eine Ergänzung der genannten Gesetze dar und bedeutet i n gewissem Sinne die Vervollkommnung der Einrichtungen des Regimes und den Höhepunkt der 1936 eingeleiteten konstitutionellen Entwicklung Spaniens. Das Organisationsgesetz des Staates bildet sozusagen das, was i n der klassischen verfassungsrechtlichen Dogmatik der organisatorische Teil der Verfassung genannt wurde. I n dieser Hinsicht erinnert es an die französischen Verfassungsgesetze von 1875. Es enthält jedoch einige Grundsatzerklärungen in den vier ersten A r t i k e l n und an anderen Stellen * L a apertura democràtica de la nueva Ley Orgànica del Estado.

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des Textes. Die eigentliche Grundsatzerklärung — den dogmatischen Teil — findet man dagegen vor allem i n den anderen Grundgesetzen: Gesetz über die Grundsätze der Nationalen Bewegung (Ley de Principios del Movimiento Nacional) vom 17. Mai 1958, Charta der Spanier (Fuero de los Espanoles) vom 17. J u l i 1945 und Charta der Arbeit (Fuero del Trabajo) vom 9. März 1938. Von den i n den vier ersten A r t i k e l n des Organisationsgesetzes angeführten Prinzipien ist der hier gegebene Begriff der Nationalen Bewegung hervorzuheben. I n A r t i k e l 4 heißt es: „Die Nationale Bewegung, Gemeinschaft der Spanier i n den Prinzipien, auf die sich der vorhergehende A r t i k e l bezieht (die Grundsätze der Nationalen Bewegung verkündet i m Grundgesetz vom 17. Mai 1958)1, gestaltet die politische Ordnung, steht allen Spaniern offen und fördert zum besseren Dienst am Vaterland das politische Leben i m Wege eines geordneten Meinungswettstreits." Diese Legaldefinition scheint in die geltende verfassungsrechtliche Ordnung einen erweiterten Begriff der Nationalen Bewegung einzuführen — Gemeinschaft der Spanier i n den Prinzipien der Nationalen Bewegung —, der sich von dem Begriff der Nationalen Bewegung als politischer Partei — Falange Espanola Tradicionalista y de las J. O. N. S.2 — unterscheidet. I n dieser kurzen Abhandlung wollen w i r keine Darstellung des gesamten Inhalts des Organisationsgesetzes geben, sondern uns darauf beschränken, die Punkte herauszustellen, die einen Schritt vorwärts i m Demokratisierungsprozeß und eine Neuerung i n den früheren Grundgesetzen bedeuten. Der erste beachtenswerte Punkt ist die Trennung von Staatsführung und Regierungsvorsitz. Der Ministerpräsident (Presidente del Gobierno) w i r d vom Staatschef ernannt aufgrund eines Dreiervorschlags des Rates des Königreiches (Art. 14, I), seine Amtszeit w i r d auf fünf Jahre festgesetzt (Art. 14, II) und kann neben anderen Gründen auch „durch Entscheidung des Staatschefs i m Einvernehmen mit dem Rat des Königreiches" beendet werden (Art. 15, c). Der Staatschef ernennt und entläßt die übrigen Mitglieder der Regierung auf Vorschlag des Ministerpräsidenten (Art. 17, I), und obgleich die Regierung nicht vom Vertrauen der Cortes abhängig ist, „unterrichten der Ministerpräsident und die Minister die Cortes über die Tätigkeit der Regierung und ihrer verschiedenen Ministerien und müssen ihrerseits solche Bitten, Fragen und Anträge beantworten, die ordnungsgemäß eingebracht werden" (Art. 53) — eine Form der Gew altenunter Scheidung, die in diesem Punkt an den deutschen Konstitutionalismus des Kaiserreiches erinnert. 1 1

Zusatz des Verf. (der Übersetzer). J.O.N.S. = Juntas de Ofensiva Nacional Sindicalista (der Übersetzer).

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I n A r t i k e l 6 des Organisationsgesetzes des Staates heißt es, daß der Staatschef „die Nationale Führung der Bewegung innehat". Diese Führung ist jedoch nur nominell, denn ihre effektive Ausübung liegt aufgrund des Art. 14, V desselben Gesetzes beim Ministerpräsidenten, der „ i m Namen des Staatschefs die Nationale Führung der Bewegung ausübt mit Unterstützung des Nationalrates und des Generalsekretärs". Obgleich dem Staatschef weitreichende Vollmachten zustehen und er bis zu einem gewissen Grad als ein Staatschef präsidentiellen Charakters anzusehen ist, stellt die Trennung von Staatsführung und Regierungsvorsitz zweifellos eine wichtige Beschränkung seiner Macht dar. Der Ministerpräsident „repräsentiert die Regierung der Nation, bestimmt die allgemeine Politik und garantiert das Zusammenwirken aller Regierungs- und Verwaltungsorgane" (Art. 14, IV), und er „und die übrigen Regierungsmitglieder sind gemeinsam verantwortlich für die i m M i n i sterrat gefaßten Beschlüsse" (Art. 20,1). Der ursprüngliche Text des Organisationsgesetzes des Staates enthielt einige Zusatzbestimmungen, durch die mehrere frühere Grundgesetze abgeändert wurden. Nach Maßgabe der 4. Ubergangsbestimmung wurden binnen vier Monaten die neuen Fassungen der Grundgesetze veröffentlicht, i n denen diese Modifikationen enthalten sind. W i r wollen sehen, welches die wichtigsten davon sind. Der A r t i k e l 6 der Charta der Spanier lautete: „Das Bekenntnis und die Ausübung der katholischen Religion, welche die des spanischen Staates ist, genießen den offiziellen Schutz. Niemand w i r d wegen seiner religiösen Überzeugungen noch wegen der privaten Ausübung seines Kultes behelligt. Andere öffentliche Zeremonien oder Manifestationen außer denen der katholischen Religion sind nicht erlaubt." Der A r t i k e l 6 besagt i n der modifizierten Fassung: „Das Bekenntnis und die Ausübung der katholischen Religion, welche die des spanischen Staates ist, genießen den offiziellen Schutz. Der Staat übernimmt den Schutz der religiösen Freiheit, die durch einen wirksamen Rechtsschutz garantiert wird, der zugleich die Moral und die öffentliche Ordnung sichert." Wie man sieht, enthält der frühere Text eine Erklärung über die Konfessionalität des Staates und erlaubt ist nur, den K u l t der offiziellen Religion öffentlich auszuüben. Das ist die Formel der sogenannten religiösen Toleranz. Bereits i n A r t i k e l 11 der Verfassung von 1876 wurde diese Formulierung nach langer und leidenschaftlicher Diskussion i n den Verfassunggebenden Cortes durchgesetzt, bei der Canovas das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit für die religiöse Toleranz einsetzen mußte. Die Verteidiger der religiösen Einheit identifizierten diese m i t der nationalen Einheit. I m abgeänderten Text der Charta der Spanier bleibt,

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wie w i r gesehen haben, die Erklärung über die Konfessionalität des Staates aufrechterhalten, aber an die Stelle der religiösen Toleranz t r i t t die Religionsfreiheit, um, wie es in der Präambel heißt, „den Wortlaut an die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit vom 1. Dezember 1965 anzupassen". Die Charta der Arbeit wurde modifiziert in ihrer Präambel sowie i n den Deklarationen II, 3; I I I , 4; V I I I , 3; X I , 2 und 5 und X I I I , 1, 2, 3, 4, 5 und 6. I n der Präambel wurden alle Sätze und Ausdrücke weggelassen oder ersetzt, die einen totalitären oder revolutionären Charakter hatten oder sich auf die damaligen spanischen Verhältnisse bezogen — i m Jahre 1938 befand sich Spanien i m Bürgerkrieg. Ebenso verfuhr man mit den angeführten Deklarationen, obgleich hier infolge ihres konkreteren Inhalts die besagten Sätze und Ausdrücke viel weniger häufig waren. Ohne Zweifel die wichtigste aller Modifikationen der erwähnten Deklarationen ist die der Erklärung X I I I . Die alte Erklärung X I I I führte den sogenannten Vertikalsyndikalismus ein. Die syndikalistische Organisation umfaßte die Gesamtheit der Syndikate. Diese waren Vertikalsyndikate, weil jedes von ihnen alle Wirtschaftsfaktoren eines bestimmten Produktionszweiges oder Dienstleistungsbereichs i n sich vereinigte. Das Vertikalsyndikat wurde definiert als „eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die gebildet w i r d durch den Zusammenschluß aller sich der Erfüllung des wirtschaftlichen Prozesses widmenden Elemente innerhalb eines bestimmten Dienstleistungsbereichs oder Produktionszweiges in einer einheitlichen Organisation, die unter der Leitung des Staates hierarchisch geordnet ist" (Erkl. X I I I , 3). Es handelt sich demnach um einen Staatssyndikalismus. Das Syndikat ist ein Instrument, mit dessen Hilfe der Staat seine Wirtschaftspolitik realisiert. „Dem Syndikat obliegt es, die Produktionsprobleme zu erkennen und Lösungsvorschläge zu unterbreiten, die dem nationalen Interesse unterzuordnen sind. Das Vertikalsyndikat kann durch spezialisierte Organe i n die Regelung, Überwachung und Erfüllung der Arbeitsbedingungen eingreifen" (Erkl. X I I I , 5). Um einen Rang innerhalb des Syndikats innezuhaben, war es erforderlich, Kämpfer der F. E. T. y de las J. O. N. S. zu sein (Erkl. X I I I , 4). Die neue Erklärung X I I I versteht die syndikalistische Organisation ebenfalls als die Gesamtheit der „Industrie-, Agrar- und Dienstleistungssyndikate, nach Tätigkeitsbereichen auf territorialer und nationaler Ebene gegliedert, die sämtliche Produktionsfaktoren umfaßt" (Erkl. X I I I , 2). Die Syndikate bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechts, hinzugefügt w i r d aber, „auf repräsentativer Basis" und dem „Vertikalismus" w i r d der „Horizontalismus" gegenübergestellt. Innerhalb der Syndikate werden drei Vereinigungen von Unternehmern, Technikern und Arbeitnehmern gebildet, die sich organisieren, „ u m ihre speziellen Interessen zu verteidigen, frei und repräsentativ an den syndikalistischen A k t i v i t ä -

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ten und durch die Syndikate an den gemeinschaftlichen Aufgaben des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens teilzunehmen" (Erkl. X I I I , 3). Wie ersichtlich, w i r d von dem repräsentativen Charakter der Teilnahme an den sydikalistischen Aktivitäten gesprochen, und als Ziele der genannten Vereinigungen werden die Wahrung der beruflichen Interessen und die Teilnahme am politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben durch die Syndikate bezeichnet i m Einklang mit der diesen zugestandenen Rolle innerhalb der geltenden Verfassungsordnung. Weggelassen w i r d der Satz, daß das Syndikat „ein Instrument i m Dienst des Staates ist, durch das dieser seine Wirtschaftspolitik i m wesentlichen realisiert". A n seine Stelle t r i t t folgender Satz, der erneut den repräsentativen Charakter unterstreicht mit der Feststellung, daß die Syndikate „das Flußbett der beruflichen und wirtschaftlichen Interessen sind . . . und diese vertreten" (Erkl. X I I I , 4). Statt von den Syndikaten die Kenntnis der Produktionsprobleme zu fordern, ist jetzt nur von der Mitarbeit der Syndikate „beim Studium der Produktionsprobleme" die Rede (Erkl. X I I I , 5). Und schließlich entfällt auch das Erfordernis, Kämpfer der F. E. T. y de las J. O. N. S. zu sein, um einen Rang innerhalb eines Syndikats zu bekleiden. Das Gesetz über die Bildung der spanischen Cortes (Ley Constitutiva de las Cortes) vom 17. J u l i 1942 wurde in den A r t i k e l n 1, 2, 6, 7, 8, 12, 13, 14, 16 und 17 abgeändert und die 2. Zusatzbestimmung aufgehoben. Die Änderung des A r t i k e l 1 verdient hervorgehoben zu werden. I m früheren A r t i k e l 1 hieß es: „Hauptaufgabe der Cortes ist es, die Gesetze vorzubereiten und auszuarbeiten vorbehaltlich der dem Staatschef zustehenden Sanktion." Die neue Fassung lautet: „Hauptaufgabe der Cortes ist es, die Gesetze auszuarbeiten und zu beschließen vorbehaltlich der dem Staatschef zustehenden Sanktion" (Hervorhebung vom Verf.). Auf diese Weise w i r d der Charakter der Cortes als höchstes Gesetzgebungsorgan betont. Diese Modifikation spiegelt sich dann folgerichtig i n der Abänderung des Artikels 16 wider. I m alten Text hieß es: „Der Präsident der Cortes leitet den von diesen ausgearbeiteten Gesetzentwurf an die Regierung weiter, damit er dem Staatschef zur Sanktion vorgelegt wird." Der neue Text besagt: „Der Präsident der Cortes legt dem Staatschef zur Sanktion die von diesen beschlossenen Gesetze vor, die binnen eines Monats nach Eingang beim Staatschef verkündet werden müssen" (Hervorhebung vom Verf.). Man darf nicht außer acht lassen, daß gegenwärtig neben der Gesetzgebungsbefugnis der Cortes noch diejenige des Staatschefs nach Maßgabe der Gesetze vom 30. Januar 1938 und vom 8. August 1939 besteht, wie w i r bei der Behandlung der Übergangsbestimmungen sehen werden.

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I n A r t i k e l 2, der die Zusammensetzung der Cortes regelt, w i r d nach dem Wortlaut der Präambel „die Vertretung auf andere Kammern, Körperschaften und Vereinigungen ausgedehnt, während sich die Gesamtzahl der Abgeordneten i n den anderen Gruppen ausgleichend verringert", so daß die Zahl der Abgeordneten i n den Cortes insgesamt i m wesentlichen die gleiche bleiben wird. Um die Hälfte reduziert sich die Zahl der vom Staatschef ernannten Abgeordneten, die jetzt 25 beträgt (Art. 2,1, j). Die bedeutendste Änderung des Artikels 2 wie überhaupt des ganzen Gesetzes über die Cortes besteht aber i n der Einführung einer neuen Gruppe von Abgeordneten, „zwei Vertreter der Familie für jede Provinz, die von den i n der Wählerliste aufgeführten Familienvorständen und von den verheirateten Frauen i n der gesetzlich vorgeschriebenen Form gewählt werden" (Art. 2, I, f). Es handelt sich also um eine direkt vom Volk, genauer von den Familienvorständen und den verheirateten Frauen gewählte Gruppe von Abgeordneten. Insgesamt sind es 102 Abgeordnete, denn i n diesem Falle bilden die Städte Ceuta und Melilla zwei Wahlbezirke und wählen je einen Familien Vertreter (Art. 5, I I des Gesetzes 26 / 28. Juni 1967 über die Familienvertretung i n den Cortes — Ley de Representación Familiar en Cortes). Die Wahl dieser Abgeordneten wurde i n dem eben genannten Gesetz über die Familienvertretung i n den Cortes geregelt, und zwar i m Sinne einer Verschärfung der für die Kandidatenbenennung geforderten Voraussetzungen. Das Dekret 1796 / 20. J u l i 1967 enthielt Zusatzvorschriften für das Gesetz über die Familienvertretung i n den Cortes. Die ersten Wahlen dieser Abgeordneten wurden soeben am 10. Oktober 1967 abgehalten. Hinzu kommen einige weniger wichtige Änderungen. I m früheren A r tikel 7 hieß es, daß „der Präsident, die beiden Vizepräsidenten und die vier Sekretäre der Cortes durch Dekret des Staatschefs bestimmt werden". I n der neuen Fassung des Artikels 7, I ist festgesetzt, daß „der Präsident der Cortes vom Staatschef ernannt w i r d aufgrund eines ihm vom Rat des Königreiches aus den Reihen der Cortesabgeordneten unterbreiteten Dreiervorschlags" und daß „seine Ernennung vom amtierenden Präsidenten des Rates des Königreiches gegengezeichnet wird". (Zu beachten ist die Beteiligung des Rates des Königreiches einmal bei der Aufstellung des Dreiervorschlags und zum anderen durch seinen Präsidenten bei der Gegenzeichnung der Ernennung.) I m gleichen A r t i k e l 7, V ist vorgeschrieben, daß „die beiden Vizepräsidenten und die vier Sekretäre der Cortes i n jeder Legislaturperiode aus den Reihen der Abgordneten durch das Plenum gewählt werden". Damit t r i t t an die Stelle der Ernennung durch den Staatschef die Wahl durch die Kammer selbst. Die Gesetzgebung durch Rechtsverordnung erfährt gewisse Einschränkungen. Der frühere A r t i k e l 13 lautete in der durch das Gesetz vom

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9. März 1946 abgeänderten Fassung: „ I m Kriegsfall oder aus Gründen der Dringlichkeit kann die Regierung die in den A r t i k e l n 10 und 12 aufgeführten Materien durch Rechtsverordnung regeln. Unmittelbar nach Erlaß der Rechtsverordnung werden die Cortes hiervon i n Kenntnis gesetzt." Dagegen heißt es i m neuen A r t i k e l 13: „Aus Gründen der Dringlichkeit kann die Regierung dem Staatschef die Sanktion von Rechtsverordnungen zur Regelung der i n den A r t i k e l n 10 und 12 aufgeführten Materien vorschlagen. Die Dringlichkeit w i r d vom Staatschef festgestellt nach Anhörung der Kommission, auf die sich der vorhergehende A r t i k e l bezieht (Kompetenzfeststellungskommission der Cortes — Comisión de Competencia legislativa de las Cortes) 3 , die i m Falle der Rechtswidrigkeit die Ständige Kommission anrufen kann. Unmittelbar nach Erlaß der Rechtsverordnung werden die Cortes hiervon i n Kenntnis gesetzt." Wie man sieht, ergeben sich hier drei Begrenzungen. Es entfällt die Voraussetzung des Kriegsfalles, und die Rechtsverordnung w i r d damit auf Fälle der Dringlichkeit beschränkt. Zweifellos geschieht dies aus der Überlegung heraus, daß der Krieg eine „Ausnahmesituation" darstellt. Vorgeschrieben wird, daß der Staatschef zuerst die Kompetenzfeststellungskommission der Cortes über das Bestehen einer Dringlichkeitssituation hört, womit die Vorschrift des Artikels 10, Abs. 3 des Gesetzes über den rechtlichen Aufbau der Staatsverwaltung (Ley de Regimen Juridico de la Administración del Estado) vom 26. J u l i 1957 wieder aufgegriffen wird. Und durch die Rechtsbeschwerde w i r d die Möglichkeit eingeräumt, die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsverordnung zu überprüfen. Für die Ratifikation von Verträgen war i m früheren A r t i k e l 14 die Stellungnahme der Cortes vorgeschrieben. Er lautete: „Je nach Lage des Falles werden die Cortes i m Plenum oder i n einer Kommission bei der Ratifikation von solchen Verträgen gehört, die Materien betreffen, deren Regelung nach Maßgabe der vorhergehenden A r t i k e l in ihre Zuständigkeit fällt." Der abgeänderte A r t i k e l unterscheidet zwei Arten von Verträgen. Für die Ratifikation von Verträgen der ersten A r t ist die Zustimmung des Plenums der Cortes erforderlich. Für solche der zweiten A r t bleibt das Erfordernis der vorherigen Stellungnahme der Cortes aus dem früheren A r t i k e l bestehen. Der neue A r t i k e l lautet: „I. Die Ratifikation von internationalen Verträgen oder Abkommen, welche die uneingeschränkte Souveränität oder die territoriale Integrität Spaniens betreffen, erfolgt durch von dem Plenum der Cortes beschlossenes Gesetz. II. Bei der Ratifikation der übrigen Verträge, die Materien betreffen, deren Regelung nach Maßgabe der A r t i k e l 10 und 12 i n die Zuständigkeit der Cortes fällt, werden diese je nach Lage des Falles i m Plenum oder i n einer Kommission gehört." s Zusatz des Verf. (der

bersetzer).

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Die Befugnis des Staatschefs, Gesetze zu erneuter Beratung an die Cortes zurückzuverweisen, wurde i m früheren A r t i k e l 17 ausgesprochen. Darin hieß es: „Der Staatschef kann die Gesetze zu erneuter Beratung an die Cortes zurückverweisen." Dieses Recht erfährt i m neuen A r t i k e l zwei wichtige Begrenzungen: der Staatschef kann die Gesetze nur „ m i t begründeter Erklärung" zurückverweisen — zu berücksichtigen ist, daß die Erklärungen des Staatschefs an die Cortes i m Einvernehmen m i t der Regierung gemäß A r t i k e l 7, a des Organisationsgesetzes des Staates abgegeben werden müssen — „und nach vorheriger positiver Stellungnahme des Rates des Königreiches". Außerdem ist daran zu erinnern, daß der Staatschef die Zustimmung nicht verweigern kann, indem er die Verkündung unbegrenzt hinauszögert, weil die von den Cortes beschlossenen Gesetze „binnen eines Monats nach Eingang beim Staatschef verkündet werden müssen" (Art. 16). Wie man sieht, bedeuten die Abänderungen des Gesetzes über die Cortes eine gewisse Demokratisierung dieser Einrichtung — 102 von den Familienvorständen und verheirateten Frauen gewählte Abgeordnete — und eine Erweiterung der Gesetzgebungsbefugnis der Cortes bei entsprechender Einschränkung der Rechte des Staats- und Regierungschefs. Der repräsentative Charakter der Cortes w i r d weiter verstärkt durch das Verbot des imperativen Mandats, das i m neu hinzugefügten Absatz I I des Artikels 2 des Gesetzes über die Cortes ausgesprochen wird: „Alle Abgeordneten i n den Cortes sind Vertreter des spanischen Volkes, haben der Nation und dem Gemeinwohl zu dienen und dürfen nicht durch irgendein imperatives Mandat gebunden sein." Es stimmt, daß i m früheren Gesetz über die Cortes keine Vorschrift enthalten war, die das imperative Mandat begründete, aber bei dem organischen Charakter der Cortes konnten gewisse Zweifel bestehen. Das Verbot des imperativen Mandats klärt jetzt diesen Punkt und unterstreicht, wie gesagt, den repräsentativen Charakter der Cortes. Das Gesetz über die Nachfolge i n der Staatsführung (Ley de Sucesión en la Jefatura del Estado) vom 26. J u l i 1947 ist durch das Organisationsgesetz des Staates abgeändert worden in den A r t i k e l n 3, 4, 5, 8, 9, 11 und 15. Die Modifikationen dieser A r t i k e l mit Ausnahme des Artikels 4 zielen darauf ab, wie es i n der Präambel des abgeänderten Textes des Gesetzes über die Nachfolge i n der Staatsführung heißt, „einige Aspekte des Nachfolgemechanismus i m einzelnen darzulegen, um für alle möglichen Situationen Vorsorge zu treffen". Der frühere A r t i k e l 4 dieses Gesetzes schuf den Rat des Königreiches, legte seine Aufgaben fest und bestimmte seine Zusammensetzung. Neben den Ratsmitgliedern von Amts wegen gab es „je einen von den folgenden Gruppen der Cortes gewählten Vertreter: a) der Syndikate, b) der lokalen Verwaltung, c) der Universitätsrektoren und d) der Berufskammern". Außerdem existierten „drei vom Staats-

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chef bestimmte Ratsmitglieder: einer aus der Gruppe der geborenen Cortesabgeordneten, einer aus der Gruppe der von ihm direkt ernannten und der dritte frei ernannt". I m neuen A r t i k e l 4 gibt es die drei vom Staatschef bestimmten Ratsmitglieder nicht mehr, und die vier von den Cortesabgeordneten gewählten Vertreter werden wie folgt auf zehn erhöht: „Je zwei von den folgenden Gruppen der Cortesabgeordneten durch Abstimmung gewählte Ratsmitglieder: a) der Nationalratsmitglieder, b) der Syndikatsorganisation, c) der lokalen Verwaltung und d) der Familienvertretung. (Durch die M i t w i r k u n g dieser neuen Gruppen von Abgeordneten werden zwei Ratsmitglieder indirekt von den Familienvorständen und den verheirateten Frauen des spanischen Volkes gewählt.) 4 Je ein von den folgenden Gruppen der Cortesabgeordneten durch Abstimmung gewähltes Ratsmitglied: a) der Universitätsrektoren, b) der Berufskammern." Von den 17 Mitgliedern, aus denen sich der Rat des Königreiches zusammensetzt, sind demnach 10 gewählte Vertreter. I m Anschluß an das Organisationsgesetz des Staates hat der Rat des Königreiches i m Gesetz 48 / 22. J u l i 1967 — Organisationsgesetz des Rates des Königreiches (Ley Orgànica del Consejo del Reino) — eine ausführliche Regelung erfahren. Das Dekret vom 19. A p r i l 1937 ordnete an, daß die Falange Espanola und die Requetés sich unter der Führung S. Exz. des Staatschefs i n einer einzigen politischen Organisation nationalen Charakters zusammenschlossen unter der Bezeichnung „Falange Espanola Tradicionalista y de las J. O. N. S.". Die übrigen politischen Organisationen und Parteien w u r den aufgelöst. I n A r t i k e l 2 dieses Dekrets, des sogenannten Unifikationsdekrets (Decreto de Unificación), wurden als leitende Organe der neuen nationalpolitischen Vereinigung der Staatschef, ein Sekretariat oder Politischer Vorstand und der Nationalrat bestimmt. Das Dekret vom 31. J u l i 1939, durch das die modifizierte Satzung der Falange Espanola Tradicionalista y de las J. O. N. S. bestätigt wurde, legte i n den A r t i k e l n 34 und 35 die Zusammensetzung des Nationalrates fest. Später wurden diese A r tikel abgeändert durch das Dekret vom 23. November 1942, das Dekret vom 3. März 1955, wodurch eine neue Gruppe von 50 Ratsmitgliedern als 4

Zusatz des Verf. (der Ubersetzer).

7 Festschrift f ü r C a r l S c h m i t t

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Provinzvertreter, gewählt von den Lokal- und Provinzialräten der Falange, eingeführt wurde, und das Dekret vom 22. A p r i l 1964, das weitere 25 Ratsmitglieder als Vertreter der Syndikatsorganisation, der lokalen Körperschaften und der Familie bestimmte. Das Organisationsgesetz des Staates ändert i n A r t i k e l 22 die Zusammensetzung des Nationalrates erneut ab. Nach Maßgabe dieses Artikels „setzt sich der Nationalrat aus folgenden Mitgliedern zusammen: a) Je ein von jeder Provinz i n der i m betreffenden Organisationsgesetz vorgeschriebenen Form gewähltes Ratsmitglied. b) Vierzig durch den Caudillo aufgrund ihrer anerkannten Verdienste ernannte Ratsmitglieder. Bei Eintritt der Nachfolgeregelung werden diese vierzig bis zur Vollendung des 75. Lebensjahres ständige M i t glieder, und die künftig freiwerdenden Sitze werden durch Wahl aufgrund eines Dreiervorschlags dieser Mitgliedergruppe an das Plenum des Rates besetzt. c) Zwölf Ratsmitglieder als Vertreter der Grundstrukturen der nationalen Gemeinschaft: Vier, die von den Familienvertretern unter den Cortesabgeordneten aus ihrer Gruppe gewählt werden. Vier, die von den Vertretern der lokalen Körperschaften unter den Cortesabgeordneten aus ihrer Gruppe gewählt werden. Vier, die von den Vertretern der Syndikatsorganisation unter den Cortesabgeordneten aus ihrer Gruppe gewählt werden. d) Sechs Ratsmitglieder, die vom Präsidenten des Rates aufgrund ihrer bedeutenden Verdienste um die i m vorangehenden A r t i k e l bezeichneten Ziele (die Ziele des Nationalrates) 5 bestimmt werden. e) Dem Generalsekretär, der die Funktionen des Vizepräsidenten ausübt". Der A r t i k e l 25 des Organisationsgesetzes des Staates bestimmt, daß „der Ministerpräsident i n seiner ihm vom Staatschef delegierten Eigenschaft als Nationaler Führer der Bewegung den Vorsitz des Nationalrates und dessen Ständiger Kommission führt mit Unterstützung des Generalsekretärs, dem er die ihm geeignet erscheinenden Funktionen übertragen kann". Welches sind also die durch den A r t i k e l 22 des Organisationsgesetzes des Staates i n der Zusammensetzung des Nationalrates bewirkten Veränderungen? Es gibt keine geborenen Ratsmitglieder mehr, d. h. solche kraft des Amtes, das sie bekleiden, und auch keine sogenannten Ratsmitglieder auf Lebenszeit, Ratsmitglieder kraft des Amtes, das sie innegehabt haben. Die Zahl der die natürlichen Einheiten vertretenden M i t Zusatz des Verf. (der Übersetzer).

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glieder, die vorher, wie w i r gesehen haben, 25 betrug, reduziert sich auf 12. Die Anzahl der vom Caudillo ernannten Ratsmitglieder w i r d von 50 auf 40 herabgesetzt. Außerdem w i r d die bedeutsame Bestimmung angefügt, daß bei Eintritt der Nachfolgeregelung (d. h. wenn die Nachfolge des Caudillo nach Maßgabe des Gesetzes über die Nachfolge i n der Staatsführung durchgeführt wird) diese Vertreter zu ständigen Mitgliedern werden und die freien Sitze künftig besetzt werden „durch Wahl aufgrund eines Dreiervorschlags dieser Mitgliedergruppe an das Plenum des Rates". Hinzu kommt eine Gruppe von sechs durch den Präsidenten des Nationalrates bestimmten Mitgliedern. Bei den 40 vom Caudillo ernannten Ratsmitgliedern handelt es sich um Personen mit „anerkannten Verdiensten", während die sechs vom Präsidenten des Nationalrates bezeichneten Ratsmitglieder aus dem Kreis der Personen stammen müssen, „die sich um die Ziele des Nationalrates der Bewegung hervorragend verdient machen". Bestehen bleibt schließlich die Gruppe der als Provinz Vertreter gewählten Ratsmitglieder, wobei die Bestimmung des Wahlmodus, wie ersichtlich, dem betreffenden Organisationsgesetz vorbehalten wird. Dabei handelt es sich um das Gesetz 43 / 28. Juni 1967, Organisationsgesetz der Bewegung und ihres Nationalrates (Ley Orgànica del Movimiento y de su Consejo Nacional). Die die Provinzen vertretenden Ratsmitglieder werden wie bisher durch die Lokal- und Provinzialräte der Falange gewählt. I n seinem A r t i k e l 14, I ordnet das Gesetz an, daß „die Wahl der Nationalratsmitglieder für jede Provinz durch Wahlmänner erfolgt, die aus der Reihe ihrer Mitglieder i n der auf Vorschlag des Nationalrates vorgeschriebenen Form von den Provinzial- und Lokalräten gewählt werden". I n der 1. Zusatzbestimmung heißt es, daß „die Regierung das i n diesem Gesetz festgelegte Wahlverfahren den speziellen Regelungen der Sahara und Äquatorial-Guineas anpaßt". Und i n der 2. Zusatzbestimmung w i r d angeordnet, daß „ i m Sinne dieses Gesetzes Ceuta und Melilla zwei Wahlbezirke bilden, von denen je ein Nationalratsmitglied gewählt wird". Die Gesamtzahl der von den Provinzen gewählten Ratsmitglieder w i r d demnach 54 betragen, 50 für die 50 spanischen Provinzen und 4 für die afrikanischen Provinzen Sahara und Äquatorial-Guinea sowie die Städte Ceuta und Melilla. Hinzuweisen ist auch auf die i m Organisationsgesetz des Staates herbeigeführte Zunahme und Erweiterung der Befugnisse, die dem Rat des Königreiches zuerkannt werden. Schließlich — als Vervollkommnung und Höhepunkt des Rechtsstaates — schafft das Organisationsgesetz des Staates die Rechtsbeschwerde beim Staatschef, d. h. eine Beschwerde wegen Verfassungswidrigkeit von Gesetzen. Der A r t i k e l 59,1 definiert die Rechtswidrigkeit wie folgt: „Rechtswidrig ist jeder Gesetzgebungsakt oder jede generelle Regierungsanordnung, welche die Prinzipien der Nationalen Bewegung oder die übrigen 7·

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Grundgesetze des Königreiches verletzt." Die Rechtsbeschwerde weist gewisse Besonderheiten hinsichtlich der Fragen auf, wer die Beschwerde erheben kann, wer über die Beschwerde entscheidet und bei wem sie erhoben werden kann. Nur der Nationalrat und die Ständige Kommission der Cortes können die Beschwerde einlegen (Art. 60). Hier besteht also eine enge Begrenzung i n bezug auf diejenigen, die beschwerdeberechtigt sind. Die Berechtigung des Nationalrates hierzu steht i m Einklang mit den Zielen, die diesem i n A r t i k e l 21 zugeschrieben werden. Die Ständige Kommission der Cortes kann die Rechtsbeschwerde nur einlegen „gegen Regierungsanordnungen generellen Charakters (ausgeschlossen bleiben daher die Gesetzgebungsakte)6 mittels eines von der Zweidrittelmehrheit ihrer Mitglieder angenommenen Beschlusses" (ebenso wie der Nationalrat) 6 (Art. 60, b). Die Rechtsbeschwerde ist, wie gesagt, eine Beschwerde beim Staatschef, aber das Gremium, bei dem sie erhoben werden kann, ist der Rat des Königreiches (Art. 61,1). Der Rat des Königreiches spielt eine sehr wichtige Rolle bei der Behandlung und Entscheidung über die Beschwerde. Er holt das Gutachten eines Unterausschusses ein, „dessen Vorsitz ein Senatspräsident des Obersten Gerichtshofs führt und der sich zusammensetzt aus einem Mitglied des Nationalrates, einem ständigen Mitglied des Staatsrates, einem Richter des Obersten Gerichtshofs und einem Cortesabgeordneten. Diese werden ernannt von den Ständigen Kommissionen der betreffenden Institutionen sowie i m Falle des Obersten Gerichtshofs durch dessen Präsidium" (Art. 62,1). Und weiter heißt es, „ i n diesem Fall unter Vorsitz des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs schlägt der Rat des Königreiches dem Staatschef die für rechtmäßig erachtete Entscheidung vor" (Art. 62, II). Wenn die Entscheidung den Gesetzgebungsakt oder die Regierungsanordnung generellen Charakters als rechtswidrig aufhebt, w i r d i m Gesetzblatt (Boletin Oficial del Estado) umgehend „die festgestellte Nichtigkeit mit der i m Einzelfall gebotenen Wirkung" bekanntgemacht (und zwar je nachdem, ob mit der Beschwerde das Gesetz oder die Regierungsanordnung generellen Charakters als solche oder nur eine oder mehrere der darin enthaltenen Vorschriften angefochten werden) (Art. 64). Gegen die durch Referendum gebilligten Gesetze gibt es die Rechtsbeschwerde nicht, oder sie muß vorher erhoben werden. So bestimmt A r t i k e l 65: „I. Vor Durchführung eines Referendums über einen von den Cortes ausgearbeiteten Gesetzentwurf oder Gesetzesvorschlag veranlaßt der Staatschef den Nationalrat, innerhalb von zwei Wochen mitzuteilen, ob nach seiner Auffassung i n diesem Fall Gründe für das Erheben einer Rechtsbeschwerde gegeben sind. β

Jeweils Zusatz des Verf. (der Übersetzer).

Die demokratische Öffnung i m neuen Organisationsgesetz des Staates

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II. Wenn der Nationalrat das Vorhandensein besagter Gründe bejaht, w i r d er die Beschwerde gemäß Art. 61 erheben. I m anderen Fall wie auch bei Ablehnung besagter Beschwerde kann das Gesetz dem Referendum unterworfen werden und nach seiner Verkündung nicht mehr zum Gegenstand einer Rechtsbeschwerde gemacht werden." Das Organisationsgesetz des Staates ist nicht i n allen Teilen i n Kraft getreten. Die in diesem Gesetz dem Staatschef zuerkannten Funktionen und Aufgaben werden bei Eintritt der Voraussetzungen des Nachfolgegesetzes von derjenigen Person übernommen, die als König oder Regent zur Ausübung der Staatsführung berufen wurde (1. Übergangsbestimmung, I). I n der Zwischenzeit „bleiben die dem Staatschef durch die Gesetze vom 30. Januar 1938 und vom 8. August 1939 eingeräumten Befugnisse sowie die Vorrechte aus den A r t i k e l n 6 und 13 des Nachfolgegesetzes bestehen und behalten ihre Gültigkeit, bis der i n dem vorhergehenden Absatz vorgesehene Fall eintritt" (1. Übergangsbestimmung, II). Das Gesetz vom 30. Januar 1938 lautet i n A r t i k e l 17: „Dem Staatschef (General Franco) 7 , der aufgrund des Dekrets des Nationalen Verteidigungsrates vom 29. September 1936 (also zu Beginn des Bürgerkrieges) 7 alle Macht übernahm, steht die höchste Gewalt zum Erlaß von Rechtsnormen generellen Charakters zu." I n A r t i k e l 7 des Gesetzes vom 8. August 1939 w i r d bestimmt: „Da dem Staatschef die höchste Gewalt zum Erlaß von Rechtsnormen generellen Charakters gemäß A r t i k e l 17 des Gesetzes vom 30. Januar 1938 zusteht und er die Regierungsfunktionen auf Lebenszeit ausübt, können seine Anordnungen und Entscheidungen — gleichgültig ob es sich dabei um Gesetze oder Verordnungen handelt — ohne vorangehende Beratung des Ministerrates erlassen werden, wenn dies aus Gründen der Dringlichkeit geboten erscheint. I n solchen Fällen w i r d der Staatschef denselben allerdings nachträglich von solchen Anordnungen und Entscheidungen in Kenntnis setzen." Der A r t i k e l 6 des Nachfolgegesetzes besagt: „Der Staatschef kann den Cortes jederzeit die Person vorschlagen, die seines Erachtens eines Tages als König oder Regent zu seinem Nachfolger berufen werden soll unter den in diesem Gesetz aufgestellten Bedingungen, und ebenso kann er den Cortes den Widerruf eines solchen Vorschlags zur Billigung vorlegen, auch wenn dieser bereits von den Cortes akzeptiert worden ist." I n A r t i k e l 13 des Nachfolgegesetzes heißt es: „Der Staatschef kann nach Anhörung des Rates des Königreiches den Cortes vorschlagen, daß von der Nachfolge jene königlichen Personen ausgeschlossen werden, welche die zur Regierung erforderliche Befähigung nicht besitzen oder es auf7

Vermutlich jeweils Zusatz des Verf. (der Übersetzer).

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grund ihrer offenkundigen Ablehnung der Grundprinzipien des Staates oder ihrer Handlungen verdienen, die i n diesem Gesetz begründeten Nachfolgerechte zu verlieren." Die 1. Übergangsbestimmung, I I I überträgt Franco, intuitu personae, die Nationale Führung der Bewegung. „Die Nationale Führung der Bewegung liegt auf Lebenszeit bei Francisco Franco, dem Caudillo Spaniens. Bei Eintritt der Nachfolgeregelung geht die Führung auf den Staatschef über und durch Delegation von diesem auf den Ministerpräsidenten." Die Modifikationen der A r t i k e l 2, 6 und 7, Abs. 5 des Gesetzes über die Cortes werden bei Zusammentritt der nächsten Cortesversammlung i n Kraft treten und „nachfolgend die Änderungen, die den Rat des Königreiches betreffen, nach Maßgabe der neuen Fassung des Artikels 4 des Gesetzes über die Nachfolge i n der Staatsführung" (2. Übergangsbestimmung). Die 3. Übergangsbestimmung erklärt ganz allgemein, daß „ m i t den i n der vorangehenden Übergangsbestimmung vorgesehenen Ausnahmen das vorliegende Gesetz an dem Tag nach seiner Verkündung i n Kraft tritt". Das Organisationsgesetz des Staates bedeutet einen weiteren Schritt in dem Prozeß der Institutionalisierung und Demokratisierung. Die Anerkennung des Rechtes auf Religionsfreiheit, die Trennung von Staatsführung und Regierungsvorsitz, die Einführung einer neuen Gruppe von direkt vom Volk gewählten Cortesabgeordneten — deren Wahl bereits stattgefunden hat —, die Reduzierung der Zahl der vom Staatschef ernannten Abgeordneten auf die Hälfte, die Akzentuierung der Gesetzgebungsbefugnis der Cortes und die Verstärkung ihres repräsentativen Charakters bei entsprechender Einschränkung der Macht des Staats- und Regierungschefs, die Substituierung der Nationalsyndikalistischen Organisation des Staates mit den sogenannten „Vertikalsyndikaten" durch die einfache Syndikatsorganisation m i t den „horizontalen" Vereinigungen von Unternehmern, Technikern und Arbeitnehmern sowie die Einführung der neuen Rechtsbeschwerde — all dies sind Zeichen einer demokratischen Öffnung. Diese ist als „vorsichtig" oder „ängstlich" bezeichnet worden, je nach Standpunkt des Kritikers. Aber es besteht kein Zweifel, daß das Organisationsgesetz des Staates einen wenn auch kleinen Schritt i n Richtung auf die Demokratie hin bedeutet 8 . Aus dem Spanischen übersetzt von L i l y Blümel, Heidelberg 8

Die Revista de Estudios Politicos hat i h r Heft Nr. 152 (März—April 1967) dem Organisationsgesetz des Staates gewidmet. Darin befassen sich mehrere Autoren m i t den verschiedenen Aspekten dieses Gesetzes. A m Schluß sind der Wortlaut des Organisationsgesetzes des Staates u n d die Neufassungen der anderen Grundgesetze abgedruckt.

Das heutige Völkerrecht und seine Grenzen Von Luis Cabrai de Moncada, Coimbra Die Antinomien und Widersprüche, die w i r beim Studium des Staates hinsichtlich der inneren Beziehungen zwischen ihm und der Wertethik des Einzelnen in vielen Aspekten vorfinden, sind wesentlich genau die gleichen, die auch i m Leben der zwischenstaatlichen Beziehungen, d. h. i m heutigen Völkerrecht vorkommen, wenn man diesem Problem logisch und phänomenologisch etwas näher zu Leibe rückt. Nur muß man feststellen, daß hier diese Antinomien und Widersprüche tiefer und die Schwierigkeit, sie mit der bloßen Vernunft zu lösen, ziemlich größer sind als i m ersten Fall. Es darf uns tatsächlich nicht wundernehmen, daß eben i n dem Maß, wie w i r von der Betrachtung des Individuums und seiner Wert- und Ideenwelt als Ausgangspunkt zum Staat und von diesem hinwiederum zu einer Staatengemeinschaft hinübergehen, die Atmosphäre der rein individuellen Ethik, die sie alle sonst i n einem gewissen Quantum durchdringen muß, damit sie noch ein menschliches Gesicht behalten können, sich doch immer mehr und mehr verdünnt und unbestimmter wird. Man könnte etwa sogar sagen, daß hier i n diesem Entwicklungsprozeß, beim Übergang des Einzelnen zum Staat und von diesem weiter zur Staatengemeinschaft eine gewisse Entethifizierung und eine entsprechende immer fortschreitende Politisierung des Lebens stattfindet, die aber keineswegs einer krassen Leugnung der Moral i n der Politik gleichkommt. Es handelt sich eher um eine Beschränkung des Geistes, welchem die Moral angehört, durch das unaufhaltsame Gesetz einer i h m sonst untergeordneten aber stärkeren und ihn tragenden Schicht der Realität, welche Leben oder Bios heißt. M i t anderen Worten: i m Entwicklungsprozeß der aufeinanderfolgenden verschiedenen Formen des Homo politicus läßt der Bios seine Stimme immer lauter werden zu Ungunsten des geistigen Seins und folglich auch der rein individuellen Ethik. Gewiß w i r d die letztere sich niemals zum Schweigen bringen lassen, aber sie sieht sich fortwährend zu immer neuen Ausgleichen und accommodements mit dem Politischen genötigt, deren Ausbalancierung umso schwieriger wird, desto mehr man i n der Abstufung der politischen Formen der menschlichen Gesellschaft emporsteigt. Daß es, i n allgemeinen Ausdrücken, so ist und nicht anders sein kann, d. h. daß diese Vorherrschung des Bios i n den zwischenstaatlichen Beziehungen unter den Menschen ungeheuer größer ist als i n denen i m inneren Leben des Staates

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unter den Einzelnen und zwischen Individuum und Gesellschaft, liegt auf der Hand und braucht, so scheint es uns, keinen weiteren Beweis. Und wenn dem so ist, w i r d es uns vielleicht auch sofort einleuchten, warum es immer so schwer sein wird, eine befriedigende Antwort auf diese drei Fragen zu ermitteln, welche von Alters her die Menschen beunruhigen: nämlich, w i r d es je, zu irgend einer Zeit, möglich sein, ein vollkommenes, perfektes Völkerrecht zu konstruieren?; dürfen w i r hoffen, den verschiedenen Staaten oder politischen Gruppen i n ihren wechselseitigen Beziehungen je die reine Moral des individuellen Bewußtseins auf zwingen zu können?; und w i r d es je möglich sein, einen einzigen auf einem klar definierbaren Gemeinwohl der ganzen Menschheit gegründeten Weltstaat zu errichten? Das Leben der Menschen i n der Geschichte hat sich bis heute der vollständigen Verwirklichung von irgend einem dieser Ideale unbarmherzig widersetzt. Ob es sich hierbei lediglich um eine unwesentliche von außen herrührende Unmöglichkeit, oder eher um einen wesentlichen, notwendigen, i m innersten Kern der Dinge selbst ontologisch verwurzelten Widerspruch handelt, wollen w i r vorübergehend dahinstehen lassen. Aber jeder Wunsch, diese Probleme immer wieder neu in Angriff zu nehmen und sie philosophisch i n unserem Bewußtsein, so gut wie möglich, zu beleuchten, scheint uns eine unausweichliche Forderung unserer Zeit zu sein. Die größten Schwierigkeiten, die bis heute der wissenschaftlichen Ausbildung des Völkerrechts i m Weg gestanden haben, sind, wie bekannt, gerade jene, die aus der logischen Untersuchung des hierbezüglichen Begriffs selbst erwachsen. Seitdem es Staaten unter den Menschen gibt, sind es zweierlei Weisen, wie man begrifflich das Problem ihrer rechtlichen Verhältnisse zueinander zu bewältigen sucht. Entweder geht man von den einzelnen Staaten zur Staatengemeinschaft aus, oder umgekehrt von dieser zu den Staaten. Die erste betrachtet die verschiedenen Staaten als die primäre Realität, um dann vertraglich das Völkerrecht über sie zu gründen; die Staaten ersetzen hier die Individuen bei der individualistischen Auffassung des Staatsvertrags; sie gehen hierdurch i n eine Gemeinschaft ein, deren Gesetz nur durch Übereinstimmung und aus Nutzensrücksichten unter gewissen Entsagungen seitens derselben Staaten zustandekommt. Die zweite Denkweise geht genau den entgegengesetzten Weg: sie geht von der Staatengemeinschaft als einem prius aus und betrachtet die einzelnen Staaten als nur untergeordnete Glieder eines großen Ganzen; die Rechtsbefugnisse derselben sind nur als Zugeständnis dieses Ganzen zu erachten. Die erste Denkweise w i r d eine individualistische, die zweite eine universalistische genannt. Die letztere erlangte i m frühen Mittelalter zur Zeit der Communitas Christiana als eine kirchliche Nachfolgerin des römischen Kaiserreichs die Oberhand i n Europa

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und wurde damals fast zu einer nicht nur kulturellen, sondern auch, unter dem Papsttum, politischen Wirklichkeit. Die andere setzte sich erst i n der Neuzeit allmählich dann durch, als die europäischen Staaten damit anfingen, sich als völlig souverän und als Selbstzwecke zu betrachten und i n ihrer absoluten Souveränität gegeneinander feindselig aufzutreten. Nun gut. Keine dieser Auffassungen kann uns rationell zum Begriff eines wahren Hechts unter den Völkern führen, wie dieses, um Recht zu sein, zu wünschen wäre. Oder besser: das moderne Völkerrecht, wie es meistens noch heute verstanden wird, paßt nicht i n einen gediegenen Rechtsbegriff. Für die individualistische Auffassung, indem sie zuerst von der konkreten Individualität der unterschieden auf sich allein gestellten und absolut souveränen Staaten anhebt, kann in keiner Weise der Staat eine andere über sich stehende Herrschaft dulden, welche reell oder eventuell eine Leugnung oder erhebliche Einschränkung seiner eigenen absoluten Souveränität darstellt. Jedes Recht, das unter diesen Umständen mehr oder weniger konventionell unter den paktierenden Staaten zur Geltung käme, würde alles andere sein als ein perfektes Recht. Wir wissen nämlich aus der logischen und phänomenologischen Untersuchung des Rechtsbegriffs, daß es kein perfektes Recht geben kann, wenn die Begriffe einer Zu- und Unterordnung der individuellen Interessen unter einer höheren Instanz nicht m i t dabei zugedacht werden, welche diesen das suum quique zuteilt und gegebenenfalls auch zum Gehorsam zu nötigen imstande ist. Ohne diese ideellen Zutaten von einer Coordination und Subordination als unerläßliche Bestandteile des Rechtsbegriffs ist dieser also nicht möglich. Woraus zu schließen ist, daß auch ein auf einer solchen logischen Grundlage errichteter Völkerrechtsbegriff ein wahres Unding des Gedankens sein muß. Man muß wählen: entweder absolute Souveränität des einzelnen Staates und kein mögliches perfektes Völkerrecht; oder totale Souveränität der Staatengemeinschaft als Trägerin eines wahren Rechts, und dann ist es aus mit der modernen Staatsauffassung, welche w i r von dem späten Mittelalter geerbt haben. Hier, und nicht als Wesen des Politischen überhaupt, ist, nach unserer Meinung, die Formulierung des „Feind-Freund"-Gegensatzes von Carl Schmitt gänzlich am Platz; kein Zweifel, daß es heute bei dem modernen Gefüge der internationalen Beziehungen unter den Völkern so ist und nicht anders sein kann. Das ist eine unwiderstehliche Folge der individualistischen Auffassung des Völkerrechts unserer Zeit. Für die universalistische Auffassung, wie sie auch meistens gedacht wird, stehen aber die Dinge nicht besser, wenn auch die Schwierigkeit eine andere ist. Hier handelt es sich vor allem um ein kurioses Paradoxon oder logischen Unsinn. Zwar kann hier ein perfektes Recht der Staatengemeinschaft als das eines politischen Körpers mit allen seinen noematischen Anforderungen stattfinden. Nur läßt sich fragen, ob diese Staaten, welche in diesem Gan-

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zen aufgehen, nach dem althergebrachten Staatsbegriff noch als wahre Staaten anzusehen sind, da das Dogma ihrer absoluten Souveränität plötzlich ganz unauffällig entfallen ist. Ohne Zweifel kann die Souveränität der einzelnen Staaten willentlich sich zu gewissen mehr oder weniger weitgehenden Einschränkungen hergeben und somit ein allen passendes Zusammenleben oder coexistencia pacifica gewährleistet werden, wie es i n der Geschichte der zwei letzten Jahrhunderte und ganz besonders noch heute hin und wieder für einige Zeit vorkommt. Aber die innere Widersprüchlichkeit, die zwischen einer den einzelnen Staaten anerkannten absoluten Souveränität einerseits und der alle umfassenden Souveränität der Staatengemeinschaft auf der anderen Seite besteht, damit die letztere sich auf einem perfekten Recht gründen kann, ist begrifflich und praktisch keineswegs aufzuheben. Unsere Zeit mit dem schreienden Mißerfolg aller bisherigen Versuche nach dem ersten Weltkrieg, einen dauernden Frieden unter den Völkern zu stiften und ein wirksames Völkerrecht i n die Wege zu leiten, ist der beste Beweis dafür, daß man auf diesem Weg auch nicht zum Ziel kommt. Aber noch schlimmer: die logische Untersuchung dieses Begriffs führt uns unwiderstehlich zu diesem paradoxen Schluß, der schon mehrfach unterstrichen worden ist: wenn eine solche Rechtsordnung unter der Aufhebung der vollen Souveränität der einzelnen Staaten, oder der Verminderung derselben über eine gewisse Grenze hinaus, möglich wäre, dann würde es keine wahrhaftigen Staaten i m modernen Sinn des Wortes mehr geben und das sogenannte Völkerrecht von heute, i m Sinn eines internationalen, d. h. inter nationes oder Staaten, waltenden Recht, würde diesen Namen kaum mehr verdienen. Der Gedanke von einem supranationalen oder suprastaatlichen Recht mit allen ihm gehörenden Requisiten stünde hier, um wahres Recht sein zu können, eher am Platz, und das Problem um seinen begrifflichen Bestand als zwischenstaatliches Recht würde sich von selbst wie eine Rauchwolke auflösen. Man könnte sogar sagen: je mehr das Völkerrecht ein wahres perfektes Recht sein will, um so weniger international oder zwischenstaatlich w i r d ein solches Recht sein; andererseits, je mehr es mit allem Nachdruck international oder zwischenstaatlich i m heutigen Sinn des Wortes bleibt, desto weniger kann es ein wahres, perfektes Recht sein. Das gehört zur Tragik des heutigen Völkerrechtsbegriffs, wie es überhaupt verstanden wird. Freilich besteht das Leben nicht aus reinen Begriffen, sondern geht über diese, mit sonst aller Widersprüchlichkeit, die zu i h m gehört, weiter hinweg. Der Gedanke reicht manchmal nicht so weit wie das Leben. Aber den traurigen Schwierigkeiten gegenüber, die w i r heute, nach den zwei Weltkriegen, i m Zusammenleben der Völker erleben, können w i r nicht umhin, zu denken, daß zu der aktuellen Verwirrung der Geschehnisse zwar auch die logische Unzulänglichkeit des noch heute unserem Völkerrecht zugrundeliegenden rechtlichen Begriff

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i n einem nicht geringen Maß beiträgt. Die Grenzen und Hindernisse, die sich dem Frieden so bedauerlicherweise i n unserer Gegenwart überall entgegenstellen, sind größtenteils sogar auch ein bedenklicher Ausfluß der Hinfälligkeit und Widersprüchlichkeit dieses Begriffs. Und wenn der Begriff hierbei selbst hinkt, um uns zu einem wahren Recht unter den Völkern zu führen, auch mit dem Anspruch, die Staaten den Anforderungen der Moral des ethischen Bewußtseins des Individuums auf jeden Fall zu zwingen, sind die Dinge nicht besser bestellt. Auch hierdurch kann man zu keinem perfekten Völkerrecht gelangen. Die internationale Sittlichkeit kann sich mit der Ethik des Einzelnen in keinem Fall decken. Das war immer so und kann niemals aus einer inneren Notwendigkeit der Dinge heraus anders werden, auch wenn w i r als ehrliche Leute es immer wieder wünschen dürfen und sollen. Alles was w i r über die unvermeidbaren Konflikte zwischen politischen und ethischen Werten, zwischen Ethik und Leben, i m Inneren des Staates schon wissen, findet hier auch Anwendung, obgleich hier jedoch i n einem viel größeren Ausmaß. Hier ist eben der Ort, wo das Leben der individuellen Ethik des Bewußtseins seine düsterste Herausforderung stellt. Daß die Normen für die Beziehungen unter den Staaten nicht genau dieselben wie die der Beziehungen unter den Einzelnen und sogar auch nicht die zwischen Individuum und Staat sein können, w i r d ganz klar, wenn w i r folgende drei Seiten dieses Problems in Erwägung ziehen: erstens, die vollkommen ungleiche Natur der Subjekte des ethisch-juristischen Verhältnisses in beiden Fällen; zweitens, ihre auch tief verschiedene Berufung, die ethischen und religiösen Werte des individuellen Bewußtseins zu verwirklichen; und drittens, die gleicherweise ganz unähnliche Bedeutung des Gemeinwohlbegriffs für den einen Staat und für die universale Staatengemeinschaft. Während i m Staate nämlich die Subjekte allen Rechts meistens tatsächlich die einzelnen Menschen, die Söhne Adams und Evas, sind, und diese durch die Hand der Natur seit der Geburt bis zum Tode als Gotteskinder wohl bestimmt und markiert sind, um deretwillen nach den Römern omne ius introductum est, sind in der Staatengemeinschaft, wie sie heute besteht, die einzelnen Staaten diese Subjekte selbst. Diese sind i n der Tat die Völker, die Nationen, die politisch existentiellen Gebilde jeder A r t und Größe, die je i n der Geschichte und heute vorkommen und nach Unabhängigkeit und Wille zur Macht streben. Diese Rechtssubjekte haben aber nicht dieselbe ontische Festigkeit und Haltbarkeit wie die Individuen. Sie sind in keinem Fall, wie die letzteren, weder von Gott noch von der Natur ohne weiteres auf der Welt angelegt. Die Menschen, wenn auch auf die Natur gestützt, müssen sie erst aufbauen. Indem das Individuum als Person ontisch i n einem gewissen Sinn, wie Kant sagte, ein absoluter Selbstzweck ist, stellt jeder Staat immer, an Jahrhunderten

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gemessen, etwas höchst Vorübergehendes und geschichtlich Relatives dar. Der Hegeische Staat als objektiver Geist ist keine metaphysische Größe mehr, sondern nur eine kulturelle. Gott oder der absolute Geist hat i n keiner Weise mit seinem Finger die politische Karte der Welt gezeichnet. Weder die Geschichte noch die Geographie noch das Blut haben an sich, trotz ihrem unleugbaren Beitrag zur Staatsbildung, keine metaphysische oder theologische Bedeutung, wie der Nationalsozialismus etwa meinte. I n ihrer entsprechenden Seinsgeschichte befinden sich alle politischen Gebilde, welche die Historie aufweist, eher i n einem unaufhörlichen Wandlungsprozeß begriffen, zu welchem die verschiedensten Faktoren aller A r t unablässig beitragen. Die einen vergehen, andere tauchen auf, so wie Carthago und Rom, und es gibt sogar einige, deren Leben gerade aus dem Tode anderer emporwächst oder sich anders gestaltet wie Sanddünen i n d e r W ü s t e : corruptio

unius generatio

alterius.

So i s t der W e l t l a u f , seit-

dem es Menschen gibt. Die Wechsel des Schicksals bei der geschichtlichen Entstehung aller europäischen Länder nach dem Sturz des Römischen Reiches seit dem Mittelalter etwa könnte ein gutes Beispiel dazu liefern. Aber auch nicht nur das. Auch der tief verschiedene Berufungsgrad zu den ethischen und religiösen Werten, der für das Individuum und für den Staat gilt, ist ein sicherer Beweis dafür, daß die Norm ihrer Beziehungen zueinander und die unter den Staaten nicht die gleiche der Individuen i n jeder Hinsicht sein kann. Nur das Individuum ist, wie man weiß, zu der vollständigen Verwirklichung der geistigen Werte berufen. Er allein kann die ästhetischen, die ethischen und religiösen Anschauungen und Werttafeln hervorbringen, die später oft zu den großen Umwälzungen i m Leben der Völker führen. Diese, die Völker und die Massen, wenn auch notwendigerweise als mitwirkender Koeffizient oder bedingender Faktor alles geistigen Lebens des Einzelnen und der K u l t u r an deren Prozeß beteiligt, sind jedoch immer mehr Gerüst und „Umschweif", wie Nietzsche sagte, als wahrhafter Baumeister und Erfinder am Werke. I n ihrer Funktion als nur Mittel zum Zweck können sie nicht denselben A n forderungen wie der Geist i n dessen Eigengesetzlichkeit streng untergeordnet sein. Anderswoher müssen sie ihr Gesetz herausholen, um zu ihrem Ziel zu kommen. Dieses Ziel besteht darin, den Geist zu ermöglichen, aber nicht ihn direkt zu schaffen. Die Sittlichkeit ist nicht Substanz des Staates, wie Hegel behauptete, sondern nur des einzelnen Menschen. Für den Staat ist sie als individuelle Ethik lediglich eine Grenze, die des sogenannten minimum ethicum, auf die er Rücksicht nehmen muß, um sich von jedermann Achtung zu verschaffen und ein menschliches Gesicht noch wahren zu können. Nur daß die Schablone, an der dieses Mindeste von Ethik gemessen sein soll, nicht immer die gleiche in ihrer Anwendung auf die Beziehungen zwischen Individuum und Staat und noch weniger auf die zwischen einem Staat und den anderen Staaten sein darf. Dieses

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Ermessen w i r d immer i m zweiten Fall unfehlbar ein gröberes und unsicheres sein müssen, eben i n dem Maß, wie w i r vom Individuum zum Staat und darüber hinaus vom Staat zu den Beziehungen zu den anderen Staaten emporsteigen. Diese werden nie dazu aufgefordert sein, sich gegeneinander tugendhaft oder noch weniger als Heilige zu benehmen. Der größte Teil der Gebote des Zehntafelgesetzes sind offenbar nicht für sie bestimmt. Sie haben keineswegs, i m religiösen Sinn, eine Seele zu retten, wie es seinerzeit Friedrich der Große bei der Aufteilung Polens i n seiner Korrespondenz mit Maria Theresia unverblümt anerkannte. Für sie gibt es weder Himmel noch Hölle. Niemand würde jemals auf die Idee kommen, von einem reichen Land m i t zuviel Staatsgebiet zu verlangen, etwas davon einem anderen, und zwar ärmeren, aus Nächstenliebe zu lassen. Die Armuts- und Gehorsamsgelübde gelten nicht für die Staaten, und die Askese war auch nie für sie ein geeignetes Mittel, u m zu ihrem besten Gedeihen zu gelangen. Kann man von den Staaten verlangen, sie sollten sich unter allen Umständen enthalten, fremdes Gut zu begehren; und von den Diplomaten, sie sollten auch zu jeder Zeit nur die Wahrheit sagen und kein Ränke- und Lügenspiel zugunsten ihres Landes treiben? Und noch mehr: wenn i m normalen Leben des Einzelnen, wie manche Theologen lehren, dem casuismus und probabilismus je nach den Umständen ein bedeutender Spielraum schon überlassen sein soll, um die Artikulation zwischen den Werten und der übrigen Wirklichkeit praktisch zu vollbringen, was muß man denn denken über die gleiche A n passungsnotwendigkeit der individuellen Bewußtseinsethik an die politischen Anforderungen des Staates beim internationalen Verkehr unter den Völkern? Und was auch über den unglaublichen Scharfsinn und die gerechte Einschätzung, die nötig sind, um über gewisse Generalklauseln, wie die rebus sie stantibus, und gewisse Mängel des Willens, wie bei A n drohung und Gewalt, i n ihrer Anwendung auf die Haltbarkeit vieler internationaler Verträge richtig und moralisch urteilen zu können? Und ähnliches müssen w i r denken, wenn w i r endlich den Begriff eines Gemeinwohls aller Staaten oder der Menschheit als mögliche Grundlage für die Errichtung eines vollkommenen Völkerrechts ins Auge fassen. Auch hier steht die Frage ganz anders, wenn man vom inneren zum Außenrecht hinübergeht. Die Probleme, welche unter diesem Begriff entstehen, sind erheblich schwieriger auf der Ebene des Völkerrechts als i m inneren Staatsrecht. Während nämlich der Begriff eines Gemeinwohls sich formell und materiell leicht erfassen läßt, wenn er auf eine begrenzte Gemeinschaft von Menschen bezogen wird, w i r d er, politisch streng genommen, materiell fast unfaßbar, w i l l man ihn auf mehrere Staaten beziehungsweise auf die ganze Menschheit anwenden. Es ist, als ob unser politisches Sehorgan nur auf beschränkte Gruppen und Gemeinschaften und nicht auf das ganze Menschengeschlecht ausgerichtet wäre. Nur

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formell darf man von einem politischen Allgemeinwohl der Menschheit sprechen. I m inneren Leben eines einzigen Staates läßt sich das Gemeinw o h l oder bonum commune dieses Staates meistens genau umschreiben und fest einkalkulieren: es w i r d eben als das W o h l der Gesamtheit i m Gegensatz zum privaten Wohl ihrer einzelnen Mitglieder i n einer mehr oder weniger geschlossenen Gemeinschaft verstanden. Auch i m Leben einer begrenzten Staatengemeinschaft oder Staatenbundes kann der Begriff eines materiellen, ganz besonders wirtschaftlichen Gemeinwohles i n ihrer Gegenüberstellung zu anderen einen richtigen und deutlichen Sinn behalten; jeder der zusammengeschlossenen Staaten n i m m t hier die Stellung des privaten Individuums m i t seinem Eigennutz und die Gesamtheit diejenige des wahren, m i t der Wahrung des allen gemeinsamen Nutzen betrauten Staates. So etwas haben w i r , zum Beispiel, i n dem heutigen Europäischen Gemeinsamen Markt sowie i n der E F T A und i n noch anderen politischen und militärischen Vereinigungen der europäischen u n d amerikanischen V ö l k e r , w i e b e i der Otan u n d d e m Warschauer

Pakt.

Die Frage stellt sich aber ganz anders, wenn man von einem politischen und materiellen Gemeinwohl der Menschheit zu sprechen hat. Das würde dann die Existenz oder die Möglichkeit eines Weltstaates voraussetzen, innerhalb dessen der gleiche Unterschied zwischen den Belangen der einzelnen Staaten einerseits und denen des Ganzen auf der anderen Seite als einer allen Staaten übergeordnete Instanz stattfinden könnte. Z w a r würde dann auch ein vollkommenes oder perfektes Völkerrecht als ein universale Rechtsordnung unter einer einzigen Macht w o h l möglich sein. Das heutige imperfekte Völkerrecht sollte i n diesem F a l l kein internationales Recht i m eigentlichen Sinn des Wortes mehr genanntwerden, sondern ein überstaatliches Superrecht zur Wahrung eines auch über das private Wohl der einzelnen Staaten gelegenes Supergemeinwohl der Menschheit sein, wie schon oben gesagt. Wo ist aber der mögliche I n halt für ein solches Gemeinwohl aller Menschen? Hier kann wahrlich kein materielles, weder wirtschaftliches noch politisches Interesse für alle Menschen auf der Erde als ihnen gemeinsam gehalten werden. Die Formulierung unseres hochverehrten Kollegen Carl Schmitt („FreundFeind") t r i f f t i n diesem F a l l wieder vollkommen zu. Das Wesen der internationalen Beziehungen bei der heutigen Völkerrechtsauffassung (was doch nicht i n unserer Meinung dem Wesen des Politischen gleichkommt) setzt immer notwendigerweise eine, wenn nicht unfehlbar feindselige, jedoch stets krasse Gegenüberstellung zu D r i t t e n voraus, wobei die echten Belange der einzelnen Völker sich niemals auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Freilich darf und soll man auch von einem Gemeinwohl der Menschheit m i t vollem Recht sprechen. Das aber i n einem ganz verschiedenen Sinn: nämlich, nicht als ein Politicum, sondern als eine ethische und religiöse Größe. Dieses Gemeinwohl heißt die un-

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erschütterliche Liebe zum Menschen. Eben i m Licht dieser Idee sind alle Fortschritte i m moralischen Bewußtsein der Menschheit i n der Geschichte zustande gekommen. Alle großen Religionen, das Christentum an erster Stelle, sind zu allen Zeiten von ihr i n der Form der reinsten Nächstenliebe beherrscht worden. Die wahren, allen Menschen gemeinsamen Güter sind geistiger Ordnung, gehören ins Reich des Geistes. A n derweitige materielle Güter und Interessen aber, welche heute als allen Menschen gemeinsam angesehen werden könnten und uns mit Recht von einem wahrhaften Gemeinwohl aller Völker sprechen ließen — wenn man von der Erhaltung des Friedens, der Heilsamkeit der L u f t und des heute schon ziemlich bedrohten Bestehens unseres Planeten absieht —, gibt es kaum mehr. I m Gegenteil: man muß eher feststellen, daß, je bedeutender die Fortschritte i n Wissenschaft und Technik sind, je größer der Reichtum an Produktionsmitteln ist, desto mehr gehen die Interessen, die Meinungen und der Ehrgeiz der immer größeren Anzahl der selbständig gewordenen Völker i n der Welt auseinander und geraten i n Kampf. Je mehr man unter Anrufung des Friedens und eines möglichen Zusammenlebens unter den Nationen die Stiftung einer gültigen, gerechten Ordnung i n ihren Beziehungen anstrebt, um so viel größer w i r d jeden Tag überall die Anzahl der Konfliktzonen und der Kriegsherde auf allen Kontinenten. Niemals war vielleicht die Menschheit so zerrissen und kriegerisch gesinnt wie heute. Unter dem Vorwand, eine U n b i l l wieder gutzumachen, werden immer neue und größere Fehler und Verbrechen begangen. Das traurige Geschick des verstorbenen Völkerbundes beim Anfang des zweiten Weltkrieges und die eindrucksvolle Machtlosigkeit der Vereinten Nationen unserer Tage diesen Problemen gegenüber sind der beste Beweis dafür, daß sich auch auf dem edlen Gedanken eines politischen und sozialen Gemeinwohles der ganzen Menschheit kein perfektes Völkerrecht aufbauen läßt. Weder auf diesem Gedanken also, noch auf Grund einer ersehnten totalen Erweiterung der individuellen Moral auf das Gebiet der Beziehungen unter den Völkern, noch unter der Berufung der Logik bei der begrifflichen Konstruktion eines auf der vollen Souveränität der einzelnen Staaten basierenden Völkerrechts, wie es heute besteht, ist jemals, so scheint es, die Bildung eines wirklich vollkommenen Rechts zu erhoffen. Man stößt hier plötzlich auf eine scheinbar unüberbrückbare Grenze alles rechtlichen Denkens. Ein unwiderrufliches Entweder-Oder w i r d uns mit aller Stärke ins Gesicht geschlagen. Wie schon oben gesagt: entweder bleibt man bei dem klassischen Souveränitätsbegriff des öffentlichen Rechts, und dann ist es zu Ende mit der Möglichkeit eines anderen wahren Rechts über die einzelnen Staaten hinaus; oder ein wahres perfektes Recht w i r d einmal über die letzteren zur Wirklichkeit werden, und der klassische Souveränitätsbegriff w i r d kein unumstößliches Dogma des Jus publicum europaeum mehr sein. Wie kann

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man aus dieser Bedrängnis herauskommen? Wie sind diese schmerzlichen Aporien zu überwinden? Und sind sie überhaupt überwindbar? U m sie zu lösen hat es nie an Leuten gefehlt, die sich zu allen Zeiten dem edlen Traum eines zukünftigen Weltstaates hingegeben haben. Ein solcher Weltstaat würde die ganze Menschheit umgreifen und sollte über eine so große Exekutivgewalt verfügen, daß er immer imstande wäre, nicht nur ein universal gültiges Gemeinwohl für alle Völker mit aller Bestimmtheit zu definieren, sondern auch dieselben gegebenenfalls seinem Willen zu unterwerfen. Von Alters her glimmt ein solcher Traum i m Herzen vieler Menschen. Die Stoa, Virgil, mehrere Kirchenväter der ersten christlichen Jahrhunderte, bis näher an uns ein Castel de Saint Pierre und ein Kant unter anderen, haben auf irgend eine Weise dieser Vorstellung gehuldigt, und es fehlt auch noch heute nicht an vielen edlen Geistern, die weit davon entfernt sind, sie für reinen Wahn zu halten. Unsere Zeit, inmitten der unermeßlichen Krisis, die sie i n allen Bereichen des sozialen Lebens durchmachen muß, ist vielleicht viel empfänglicher als irgend eine andere geworden, um sich von diesem erbaulichen Ideal begeistern zu lassen. Und trotzdem tut es auch bitter Not, nie aus den Augen zu lassen, daß die oben erwähnten Aporien, auf die unser Denken stets stößt, wenn man mit dem Problem der Beziehungen zwischen Moral und Recht und zwischen Völkerrecht und Leben zu kämpfen hat, zu schwer sind, als daß w i r uns voreilig und unüberlegt darüber hinwegsetzen und jenem goldenen Traum rückhaltlos hingeben dürfen. Der echte religiöse Ursprung dieser S oliv or st eilung, der sie so wertvoll und wünschenswert macht, macht sie zugleich auch als Seinsvorstellung und mögliche Realität auf dieser Welt höchst fragwürdig. Jesus hat einmal gesagt, daß sein Reich nicht aus dieser Welt war. Und wie es auch immer sei, wie schon oben gesagt, bleibt es immer wahr, daß unser politisches, und zwar eben deshalb so kurzsichtiges Sehorgan, nie die Menschheit überhaupt, sondern lediglich begrenzte und gegeneinander wenigstens abgesonderte menschliche Gruppen zu Gesicht bekommt. Nur eine religiöse Weltanschauung kann uns die Menschheit an sich als ein weites Ganzes, als unmittelbares Objekt unseres moralischen Handelns und unserer Liebe erblicken lassen; sonst kennen w i r existentiell nur Menschen und ihre uns näherliegenden Gruppierungen, wie z. B. i n Familie und Heimat. Weder der Jurist, noch der Politiker, noch der Soziologe, noch der Wirtschaftsrechtler, noch der Philosoph oder irgendein anderer, der allein mit dem Verstand arbeiten muß, ist in der Lage, ausschließlich mit seinen rationellen Mitteln dieser Probleme und Schwierigkeiten Herr zu werden. Alles was von ihnen zu verlangen ist, besteht darin, daß sie sich nicht i n ihrem wissenschaftlichen Hochmut einsperren lassen, sondern eher demütig annehmen mögen, daß vielleicht noch einmal, morgen oder übermorgen, wer weiß wann, andere, uns heute unbekannte Kräfte ins

Das heutige Völkerrecht und seine Grenzen

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Spiel der menschlichen Geschicke eingreifen können, die uns diesem Ideal eines perfekten Völkerrechts und einer reichlicheren Ethifizierung der Beziehungen unter den Nationen, mehr nach dem Muster unseres individuellen Bewußtseins, näherzubringen vermögen. Wird es je dazu kommen? Der Idealist und ganz besonders der gläubige Christ — und das ist ihr höchster Ruhm — beharren i n dieser Hoffnung; sie halten daran fest, daß es noch einmal zu einer besseren sozialen Welt auf der Erde kommen wird. Vielleicht haben sie recht. Eben deshalb sucht der letztere einen immer höheren moralischen Vollkommenheitsgrad in sich selbst zu erreichen. Hat etwa Jesus nicht auch einmal gesagt: suchet i n euch zuerst das Reich Gottes und das übrige w i r d dann obendrein schon kommen? R. Dehmel hat einmal diese zwei seelischen Haltung des menschlichen Geistes i n diesem hübschen Gedicht geprägt: I m m e r wieder, wenn w i r sinnen, Stürzt die Welt i n wilde Stücke. I m m e r wieder, still von innen, Fügen w i r die schöne Brücke.

Der Idealist setzt alles auf die Karte der letzten zwei Verse. Die Hoffnung gilt für ihn soviel wie die Wirklichkeit selbst. Der Philosoph sieht i n den zwei ersten beim Sinnen und Denken die magna Charta aller ihrer Rechte und Pflichten, geschehe was geschehe, auch wenn die Welt i n wilde Stücke stürzen muß. Das ist sein Geschick. Er weiß sonst wohl, wie der französische Dichter-Philosoph Jean Marie Guyau auch eines Tages gesagt hat, daß die Wahrheit oft Leiden bringt („le vrai, je sais, fait souffrir"), ohne daß er deswegen darauf verzichten solle, sie unter allen Umständen zu suchen („qu'importe, oh mon oeil, regarde!") 1. Wie noch ein anderer tiefsinniger Geist vor kurzem auch geschrieben hat: — „ein Philosoph stellt Fragen und sucht nach möglichen Antworten. Die Fragen sind uns gestellt. Sie stoßen, ausgehend von aktuellen Problemen des Denkens, an Grenzen. Diese Grenzen verleihen den Fragen ihr eigentliches Gewicht. Sie offenbaren aber zugleich, daß das menschliche Denken immer nur vorläufig Antworten finden kann, und daß die Fragen, je eindringlicher sie gestellt werden, um so nachdrücklicher die Fragwürdigkeit der Wirklichkeit sichtbar machen" 2 .

1

Vers d'un Philosophe, Paris 1911, S. 44. Einführungswort zu einem Auszug des Buches von Weischedel, W.: W i r d der Mensch sich verlieren?, i n : Wissen und Leben, Verlag W. Kohlhammer, Nr. 21,1967. 2

8 Festschrift f ü r C a r l S c h m i t t

Chateaubriand u n d der soziologische Ästhetizismus Tocquevilles Von Luis Diez del Corral, Madrid I. A u f einer der dramatischsten Seiten seiner Souvenirs unterbricht Tocqueville auf einmal seinen Bericht über die Pariser Straßenkämpfe i m Juni 1848 und teilt uns mit, daß Chateaubriand gestorben ist. Die Abschnitte, die er ihm widmet, sind in großem Stil verfaßt, und der Autor der Mémoires d'outre-tombe , der seiner selbst so sicher war, hätte die ihm von seinem entfernten Verwandten gewidmete Grabschrift sicher gebilligt. „Genau um die Mitte der Junitage verschied der Mann, der vielleicht i n unserer Zeit den Geist der alten Stämme am besten am Leben erhalten hat: Herr Chateaubriand, mit dem mich so viele Familienbande und Kindheitserinnerungen verknüpften. Schon lange war er i n eine A r t von stummer Betäubung gefallen, und man konnte in manchen Augenblicken glauben, daß sein Verstand erloschen war. Doch hörte er i n diesem Zustand den Lärm der Februarrevolution und wollte wissen, was geschah. Man berichtete ihm, soeben habe man die Monarchie Louis-Philippes gestürzt; er sagte: ,Das ist richtig!' (C'est bien fait!) und schwieg. Vier Monate später drang auch das Getöse der Junitage an sein Ohr, und er fragte wieder, was das für ein Geräusch sei. Man erwiderte ihm, es gebe Kämpfe i n Paris, und das seien Kanonen. Da suchte er vergeblich, sich zu erheben, und sprach: ,Ich möchte hingehen. 4 Dann schwieg er, aber dieses Mal für immer, denn er starb am folgenden Tage 1 ." Chateaubriand hatte außerordentlich lange gelebt — genau wie andere große Autoren, zum Beispiel Voltaire oder Goethe; es war, als sollte dadurch die Bedeutung ihrer Herrschaft über ihre Zeit ganz offenbar werden; diese Herrschaft war so angemessen, so repräsentativ und so von den Betroffenen gebilligt, daß die Epochen ihre Träger anscheinend auf keinen Fall dahingehen lassen mochten — fast, als fürchteten sie, es müsse zugleich mit dem Leben dieser Männer ihre eigene historische Individualität erlöschen, deren Quintessenz sie gleichsam waren. Man spricht mit Recht vom Frankreich Voltaires und vom Deutschland 1 Souvenirs, i n Oeuvres complètes d'Alexis de Tocqueville, herausgegeben von J. P. Mayer, Paris, Gallimard, S. 177.

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Goethes, und ebenso kann mit einigem Recht vom Frankreich Chateaubriands die Rede sein. I m neunzehnten Jahrhundert war die Identifizierung eines Schriftstellers mit seiner Epoche genau so wie i n ruhigeren Zeiten möglich. Die bewegte Epoche, i n der Chateaubriand zu leben hatte, zwang ihm das unstete Leben eines Reisenden oder Emigranten, eines an die Etikette gebundenen Botschafters oder Ministers, eines Polemikers an allen Fronten auf; aber das allzu Bewegte verwandelte sich am Ende seines Lebens (weniger aus Ermattung als aus Hingabe) in die einsame Stille des großen Memoirenschreibers, der sein Leben noch einmal durchläuft. Der Bericht der Mémoires d'outre-tombe endet mit 1833, dem Jahr, in dem die Gruft sich öffnet, i n welche Chateaubriand die ihm noch verbleibenden Jahre wirft, denn er möchte der Sorge entrinnen, die jeder Tag der Existenz i h m auferlegt, und sich gänzlich der Erforschung der schon durchlebten Spanne widmen. I n der Préface testamentaire , die i n dem schon genannten Jahre 1833 geschrieben wurde, erklärt Chateaubriand: „Wäre ich zum Leben bestimmt, so repräsentierte ich in meiner Person, die meine Memoiren repräsentieren, die Prinzipien, die Ideen, die Ereignisse und die Katastophen, das Epos meiner Zeit, um so mehr, als ich eine Welt vergehen und entstehen sah und als die widerstreitenden Züge dieses Endes und dieses Anfangs in meinen Ansichten ineinander verfließen. Ich stand zwischen zwei Jahrhunderten wie am Zusammenfluß zweier Ströme; ich stürzte in ihre bewegten Fluten, entfernte mich zu meinem Leide von dem alten Gestade, an dem ich geboren war, und treibe voller Hoffnung auf das unbekannte Ufer zu, an dem die neuen Generationen landen werden." Der Roman René endet m i t einem Epos, in dem die Existenz des Helden sich mit der seines Landes, ja mit der ganz Europas vermischt, das damals i n einem so heftigen Wandel begriffen war. Schon i m ersten Buch Chateaubriands, dem Essai sur les Révolutions , ist der Stil der Mémoires vorweggenommen, denn auch dort verfließt die Biographie mit der allgemeinen Geschichte2. Je mehr Erfahrung er sammelt, desto stärker w i r d diese Implikation, und nach dem Sturz der Bourbonen verwandelt sich Chateaubriand in seinen Augen und i n denen der anderen i n ein Symbol, i n den bevorzugten Zeugen, ja fast den Helden der Verwandlung einer Welt. Der alte Schriftsteller vertraut auf die Jugend, die er der epischen Schau seines eigenen menschlichen Abenteuers verdankt, und widmet seine Hagiographie der künftigen Menschheit. Es ist eine musterhafte Autobiographie, denn die Intuition, die das so lebendige Bewußtsein seines 2 Vgl. Mourot , Jean: Etudes sur les premières œuvres de Chateaubriand, Paris, Nizet, 1962, S. 184.

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Alters ihm gab, schreibt André Vial 3 , „hat ihn nicht getäuscht: das Epos des alten René hat weniger Falten als der Roman des jungen: denn es hat gar keine". Eine wunderbare Wirkung des aesthetischen Wandels, den der große Schriftsteller hervorgerufen hat; das Ergebnis einer neuen romantischen Einstellung zur Existenz, die den alten Mythos von Orpheus, ja, säkularisiert, das Mysterium der Auferstehung Christi wieder aufleben läßt; entsprechende Behauptungen bereiten dem katholischen Schriftsteller überhaupt kein Kopfzerbrechen 4 . Er steigt hinab bis i n die Tiefe der Gruft, i n die er sich am Ende angesichts der unerbittlichen Zerstörung der Zeit, seiner eigenen Erfahrung und der Erfahrung der Menschheit seiner Zeit, ja der ganzen Weltgeschichte, zurückgezogen hat, um dieses alles auszulösen und es i m epischen und legendären Berichte zu verherrlichen, den der Enchanteur mit der keltischen Magie eines neuen Tristan zu schreiben weiß. Carl Schmitt hat gesagt, daß i n der Romantik alle geistige Tätigkeit auf die Ästhetik, die Kunst, die Theorie der Werte zurückgeführt wird. Diese Expansion des Ästhetischen führt i n erster Linie zu einer ungeheuren Expansion des künstlerischen Selbstbewußtseins; der Romantiker w i l l nur die Wahrnehmung des Erlebten erleben und diese Wahrnehmung auf eindrucksvolle Weise transponieren. Sobald die Leidenschaften von den äußeren Objekten erregt sind, die lediglich als occasionelle Vorwände dienen, erheben sie sich i n höhere Bereiche und ruhen allein i n sich selbst 5 . Die Mémoires d'outre-tombe sind ein großes Beispiel für die literarische Glorifizierung des Subjektes, das den Verlauf von einer der wichtigsten Epochen der Geschichte i n seine eigene Biographie hineinnimmt. Was ich oben angedeutet habe, ist i m Falle Chateaubriands keineswegs eine unbegründete Hypothese; zumindest hat es Frankreich nicht dafür gehalten. Als das Leben des großen Schriftstellers zugleich mit der Orléans-Monarchie und jenem halben Jahrhundert zu Ende ging, unter das die Revolution von 1848 den Schlußstrich setzte, da wußte das ganze Land, daß mit der Pünktlichkeit der Uhr der Geschichte der Mann dahingegangen war, der es am besten repräsentierte; und es erwies i h m eine feierliche posthume Huldigung (posthum wohl auch i n ihrem Stil) mit der romantischen Geste des großen Trauerkondukts nach dem Felsen von Saint-Malo. Jean-Jacques Ampère, der die Feierstunde i n der Académie française geleitet hatte, schrieb an Frau von Recamier: „Alles war 3

Chateaubriand et le temps perdu. Devenir et conscience individuelles dans les Mémoires d'outre-tombe, Paris 1963. 4 „ L e génie est u n Christ; méconnu, persécuté, b a t t u de verges, couronné d'épines, mis en croix pour et par les hommes, i l meurt en leur laissant la lumière et résuscite adoré." 5 Politische Romantik, München u n d Leipzig 1925 (2), S. 20 u n d 143.

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so, wie er es gern gesehen und geschildert hätte. Ich glaube nicht, daß jemals etwas Ähnliches die Laufbahn eines anderen Sterblichen krönte: der Ort der Szene, die Zeit, die Verfassung der Seelen und der Charakter der Feier, dies alles machte wirklich, was er hätte träumen können; er schien mit seinem dichterischen Genie noch dieses Schauspiel entworfen zu haben 6 ." Es war der Tribut der Nation an jenen Mann, der wie der wirkliche Monarch des Staats geherrscht hatte. So sieht ihn der bedeutendste K r i t i k e r des französischen neunzehnten Jahrhunderts, Sainte-Beuve, der Chateaubriand aus der Nähe kannte, obgleich er sich gerade bei seinen Urteilen von persönlichen Sympathien nicht leiten ließ. „Herr von Chateaubriand", schreibt er 1849, „ist und bleibt auch auf längere Sicht der Größte unter den gebildeten Franzosen seiner Zeit. Er und Bonaparte waren der zweifache Initialimpuls des neunzehnten Jahrhunderts 7 ." Wäre Bonaparte bei seiner Rückkehr aus Ägypten ertrunken oder Chateaubriand am Fieber gestorben, so wie es beinahe bei Namur geschehen wäre, als er das geschlagene Fürstenheer verließ, dann hätte das politische, literarische und kulturelle Gesicht des vorigen Jahrhunderts anders ausgesehen. Ein rühmlicher Vergleich, den Sainte-Beuve gewiß m i t hartem Tadel umgibt; doch nimmt er bloß den Vergleich wieder auf, den der Schriftsteller selber gleichsam besessen vorgelebt hatte; das zeigt sich auf sehr vielen anspruchsvollen Seiten der Mémoires. „Ich bin", schreibt er darin, „zwanzig Tage nach Bonaparte auf die Welt gekommen; er hat mich immer mitgenommen." Weshalb? Chateaubriand hat mehr oder weniger bewußt gemeint: um etwas wie das Duumvirat des Schwertes und des Geistes zu errichten. Aus unserer heutigen Sicht erscheint der Vergleich, den Sainte-Beuve bringt, nicht wenig erstaunlich. Heute lesen wenige Menschen die Werke, die Chateaubriand zu Lebzeiten am meisten berühmt gemacht haben; trotzdem erfreuten sich die Mémoires i n den letzten Jahren erneuter Aufmerksamkeit, und weil sie das literarische Werk und die gesamte Existenz des Autors umfassen, lassen sie ihn überleben und erhalten seinen Ruhm für die Zukunft. Neue Einstellungen haben Chateaubriands A r t der „Selbsterschaffung" aktuell werden lassen, ohne dessen Freude am Experiment die wirklichen literarischen Probleme des 19. und selbst des 20. Jahrhunderts nicht zu verstehen wären. „Chateaubriand", schreibt Manuel de Diéguez 8 , „ist vor allem ein außerordentlicher Zeuge für den poetischen Kreuzweg der Moderne; er hat alles gesehen und alles β André-Marie Ampère et Jean-Jacques Ampère. Correspondance et Souvenirs (1805 à 1864), gesammelt von Mme. H. C., Paris, J. Hetzel et Cie, 1875, Bd. I I , S. 167. 7 Sainte-Beuve , C. A. : Chateaubriand et son groupe littéraire sous l'Empire, Paris, Garnier, 1948, Bd. I, S. 37 und 116. 8 Chateaubriand ou le poète face à l'histoire, Paris 1963, S. 186.

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skizziert. Er deckt alle Probleme des literarischen Schaffens a u f . . Nicht nur die großen französischen Romantiker wie Lamartine und Victor Hugo gehen i n den Spuren Chateaubriands, sondern auch Flaubert, dessen Salambó ohne das Vorbild der Martyrs nicht zu verstehen ist. Selbst Nietzsche hält sich i n seiner kritischen und nihilistischen Phase eng an die Problematik Chateaubriands. Und kann man i n unserem Jahrhundert für Proust mit seiner Suche nach der verlorenen Zeit einen unmittelbareren Vorgänger suchen als Chateaubriand? Auch bei Claudel erklingen literarische Echos Chateaubriands, dieses epischen Dichters des Christentums, und auch bei Kafka findet sich ein Widerhall des gequälten bretonischen Dichters. Überraschender, jedoch nicht weniger gewiß, ist der Einfluß Chateaubriands auf die Wissenschaft. Augustin Thierry gibt zu, daß seine Berufung zum Historiker durch die Lektüre der Seiten über die Franken i n den Martyrs geweckt worden ist. Pascals (gewiß ein wenig eigenwillige) Entdeckung durch Chateaubriand birgt den Samen des PortRoyal von Sainte-Beuve, und die positivsten Seiten von Renans Arbeiten über das Christentum setzen Chateaubriands Offenbarung an eine „erstaunte und an dem Paradox der Existenz einer christlichen Ästhetik zunächst geärgerte Welt" voraus 9 . Gewiß hat sich Renan nicht von der Tradition des achtzehnten Jahrhunderts gelöst, aber er ergänzt und berichtigt sie mit der neuen Tradition aus dem Génie du christianisme. Chateaubriand hat i m Christentum das Gegenbild dessen gesehen, was Voltaire darin sah, „ a l l das Schöne, das Poetische", schreibt Renan. „Voltaire hätte Chateaubriand für verrückt gehalten, und Chateaubriand hielt Voltaire für einen Rasenden, und beide hatten recht 10 ." II. Hatte Chateaubriand, zumindest zum Teil, auch i n den Augen Tocquevilles recht? I n welchem Maße? Man kann und muß die Frage stellen, denn neben der herausragenden Gestalt Chateaubriands war Tocqueville nicht irgend ein Franzose seiner Zeit, weil er seit den Tagen seiner Kindheit mit ihm verbunden war. Noch i n dem zitierten Abschnitt aus den Souvenirs bemerkt man eine sehr nahe Verbindung; er greift ohne Zweifel auf Berichte von Jean-Jacques Ampère zurück, der mit beiden Schriftstellern eng befreundet war. Darüber hinaus jedoch ist bei dem eben zitierten Text die ähnliche Haltung der beiden augenfällig; und er unterbricht den Gang des Buches nicht, sondern fügt sich völlig i n das Gewebe der kriegerischen Geschehnisse ein, von denen dort berichtet wird. • Mélange d'histoire et de voyage i n Oeuvres complètes d'Ernest Renan, herausgegeben von Henriette Psicari, Caïman Lévy, Bd. I I , S. 460. 10 Cahiers de la jeunesse, I X e cahier, a.a.O., Bd. I X , S. 490.

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„Vom schmutzigsten Junker tief i n der Provinz", schreibt Tocqueville 11 , „bis hin zu den eleganten und unnützen Erben der großen Adelshäuser erinnerte sich i n diesem Augenblick ein jeder, daß er einmal zu einer Krieger- und Herrscherkaste gehört hatte, und überall gab man ein Beispiel von Aufbruch und Stärke; so groß ist die Lebenskraft dieser alten aristokratischen Gruppen. Denn sie bewahren noch eine Spur ihrer selbst, wenn sie anscheinend schon zu Staub zerfallen sind, und sie erheben sich bisweilen noch einmal aus dem Todesschatten, bevor sie dort für immer ruhen." Tocqueville erzählt, wie er einige Verwandte traf, die m i t ihren Bauern aus ihren normannischen Schlössern in die Hauptstadt gekommen waren, um gegen die Revolution zu kämpfen. Alexis de Tocqueville stand auf seine Weise auf der Seite der Aristokratie, und der Vicomte de Chateaubriand tat es (nach seiner gleichsam posthumen Intention) desgleichen. Chateaubriand beendete sein Leben mit einer sehr bedeutungsvollen Geste des ritterlichen Geistes, der i n ihm lebte und den man keineswegs allzu vereinfachend i m Sinne traditionellen Heldentums verstehen darf. Für den romantischen Menschen besitzen die realen Dinge oder Geschehnisse kein eigenes Sein; auch unterliegen sie nicht einer objektiven und kalkulierbaren Kausalität oder einer normativen Regel, sondern stellen sich lediglich als „Vorwände", als „occasions", als „Reize" oder „elastische Punkte" dar, die das Subjekt nach Belieben ausdehnen kann: eben dies hat Carl Schmitt „subjektivierten Occasionalismus" genannt 12 . Der bretonische Vicomte ist bis zu seiner letzten Stunde ein gutes Beispiel dafür; nachdem er radikal die Rolle des chevalier de l'autel und danach die des chevalier du trône gespielt hat, übernimmt er kurz darauf mit genau so viel Emphase und Opportunismus die Rolle des chevalier de la liberté , und zwar einer liberté , die sich schwer genau umreißen läßt, denn es war weder die alte Freiheit des Adels noch auch die neue Freiheit der liberalen Bourgeoisie. A n nicht wenigen Stellen der Mémoires d'outre-tombe begegnen w i r melancholischen Aussagen über die Zukunft der aristokratischen Gruppen, die mit dem Schlußsatz des angeführten Abschnitts von Tocqueville übereinstimmen. Obgleich aber beide gentilhommes wohl oder übel anerkennen mußten, daß die Geschichte unter die politische Rolle ihrer Vorfahren den Schlußstrich gesetzt hatte, war weder der eine noch der andere bereit, ihrer A b lösung durch die Bürger, diese neuen Protagonisten, zuzustimmen, die sich zu ihren Nachfolgern erklärten. Obgleich Tocqueville als Abgeordneter aus konservativem Instinkt alles i n seinen Kräften Stehende unternommen hatte, u m das Ende der Orléansmonarchie zu verhindern, schrieb er vermutlich nicht ohne Vergnügen das Wort, das er Chateau11 12

Souvenirs, S. 177. Politische Romantik, München u n d Leipzig 1925 (2), v. a. S. 122.

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briand i n den Mund legt, als dieser i n seiner Lethargie vom Sturz des durch Louis-Philippe verkörperten Bürgerkönigtums erfährt: „Das war richtig!" Zu der genannten Anspielung Tocquevilles auf Chateaubriand, „ m i t dem mich so viele Familienbande und Kindheitserinnerungen verknüpften", gehört als Gegenstück eine Anspielung des Verfassers der Mémoires d'outre-tombe auf Tocqueville. Eine der Seiten dieses Buches vergegenwärtigt ihn nicht in der Reife seines Lebens, sondern an dessen Beginn, ja noch vor seinem Anfang, denn Chateaubriand, der i m Datieren nicht sehr streng war, läßt Tocqueville schon 1804 auftreten, also ein Jahr vor seiner Geburt. „Herr von Tocqueville, der Schwager meines Bruders und Vormund meiner beiden verwaisten Neffen, bewohnte das Schloß Frau von Sénozans 13 ; das waren alles Erbschaften vom Schafott. Dort sah ich meine Neffen mit ihren drei Vettern von Tocqueville aufwachsen; unter diesen war Alexis, der Verfasser der Démocratie en Amérique. Er wurde i n Verneuil mehr verwöhnt als ich seinerzeit i n Combourg. Ist das der letzte Ruhm, den ich unerkannt i n seinen Windeln sah? Alexis von Tocqueville bereiste das zivilisierte Amerika, aber ich erlebte seine Wälder 1 4 ." Der genannte Datierungsfehler ist verzeihlicher als andere, die Chateaubriand begangen hat; er besuchte damals Verneuil aus den angegebenen familiären Gründen recht häufig. I n den Mémoires findet sich keine ausdrückliche Erwähnung späterer Besuche, aber w i r wissen davon durch Frau von Chateaubriand. „ I m Laufe des Sommers (1809) gingen w i r wie gewöhnlich auf einige Tage nach Méréville, darauf nach Verneuil zu Frau von Tocqueville; von da gingen w i r nach Mesnil zu Frau von Rosanbó, nach Champlatreux zu Molé, nach Le Marais zu Frau von La Briche und später nach Noisiel zur Herzogin von Lévis . . . Dieses Schloßleben war sehr angenehm und unter Bonaparte sehr modern; damals ging ein Teil der Gesellschaft, nämlich derjenige, der sich nicht an den neuen Hof begeben mochte, neun Monate i m Jahr aufs Land 1 5 ." Entsprechend der Mode der Zeit ließ sich Chateaubriand i n La Valléeaux-Loups ein angenehmes Landhaus bauen; es hatte einen Park, den er sehr pflegte, und als die wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihn zum Verkaufe zwangen, verbrachte er mit seiner Frau die „stürmischen Ferien 1817" als Gast auf fünf Schlössern; zwar war das damals von den Tocquevilles bewohnte nicht dabei, aber andere, die Verwandten von ihnen gehörten, zum Beispiel den Grafen von Colbert-Montboissier oder 13 Eine Schwester von Malesherbes, die er sehr liebte u n d der er als Opfer der Revolutionstribunale folgte. 14 Mémoires d'outre-tombe, Jahrhundertausgabe von Maurice Levaillant, 2. Aufl., Paris, Flammarion, 2. Bd., S. 184. 15 Z i t i e r t i n Mémoires d'outre-tombe I I , Anhang X V , S. 743.

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denen von Pisieux — beide Gräfinnen waren Urenkelinnen von Malesherbes. Man muß dieses Schloßleben zur Zeit Bonapartes und der Restauration durchaus beachten, wenn man die Mentalität Chateaubriands verstehen w i l l , der schon i n Combourg vor der Revolution für seine persönliche Entwicklung entscheidende Jahre verlebt hatte; und man muß es ebenfalls i m Falle Tocquevilles durchaus berücksichtigen. Seine Erziehung durch den Abbé Lesueur (der bereits seinen Vater unterrichtet hatte) nach den pädagogischen Methoden des Ancien Régime, seine ständige Berührung mit der Natur, das Lesen und die literarischen Feiern i n der Familie und dergleichen sind wesentliche Punkte für das Verständnis der geistigen und moralischen Entwicklung des Verfassers v o n L'ancien régime et la révolution.

Alexis' Vater berichtet uns, wie Chateaubriand i n seinem Schloß Verneuil einen Teil des Moïse schrieb. „Er saß i n einem Winkel des Salons, und während man spielte oder plauderte, sah man ihn nachdenklich und schweigsam, fremd gegenüber allem, das um ihn vorging. So hat er ganze Passagen seiner Tragödien verfaßt, die er danach ins Reine schrieb. I m übrigen war er immer fröhlich 1 6 ." A n diese Fröhlichkeit des Dichters w i r d auch Alexis selbst sich noch erinnern. „Eines Tages", erzählt er Nassau William Senior, „als ich noch ein K i n d war, veranstaltete man anläßlich der Heimkehr meines Vaters von einer kürzeren Reise ein Fest; alle Mitglieder der Familie verkleideten sich zu seinem Empfang, und darunter war Chateaubriand, der sich als alte Frau verkleidet hatte." „Niemand", fügt Tocqueville hinzu, „wäre heute imstande, für einen solchen Zeitvertreib so viel Zeit auf zuwenden. Damals war jedes Ereignis ein Vorwand für ein kleines Gedicht 17 ." Tocqueville spielt auf den ästhetischen Sinn des Lebens i n jenen Schlössern an, i n denen die Gepflogenheiten des Ancien Régime nach dem Eintritt der Revolution für einen Augenblick noch einmal aufzuleben schienen. Und wenn der Verfasser von der adligen Gesellschaft spricht, dann braucht er nicht i n die Ferne zu schauen oder auf Briefe, Memoiren und Berichte zurückgreifen, um ihre Lebensformen zu rekonstruieren; er braucht allein an seine eigene Kindheit zu denken. „Ich bin jetzt fünf und vierzig Jahre alt", erzählt er dem großen englischen Ökonomen 18 , „aber für die Veränderungen der Gepflogenheiten i n der Gesellschaft schiene m i r eigentlich, wenn ich an meine Kindheit denke, der Ablauf von mehreren Jahrhunderten erforderlich. Es war das einzige Ziel der Menschen, unter denen ich aufwuchs, sich selber zu ver1β Mémoires d u Comte de Tocqueville (unveröffentlicht, zitiert bei Antoine Redier: Comme disait Monsieur de Tocqueville, Paris, Perrin et Cie., 1925, S. 33). 17 Correspondence and Conversations of Alexis de Tocqueville w i t h Nassau W i l l i a m Senior from 1844 to 1859, herausgegeben von M. C. M. Simpson, L o n don, Henry S. K i n g & Co., 1872, Bd. I, S. 137. 18 Ebd.

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gnügen und die anderen zu vergnügen. Niemals redete man von Politik, und ich glaube, man dachte auch kaum daran. Die Literatur gehörte zum ständigen Gesprächsstoff. Jedes Buch von einiger Bedeutung, das erschienen war, las man laut vor und prüfte und kritisierte es mit einer Ausführlichkeit, die w i r heute als bedauerliche Zeitverschwendung ansehen würden. Die Leute bemühten sich u m die Methoden, angenehm zu wirken, genau so intensiv, wie man sich heute um die Methoden bemüht, Profit oder Macht zu erlangen. Causer und raconter sind vergessene Künste, desgleichen tenir salon. Frau Recamier war das Entzücken von Paris, doch sprach sie kaum ein Wort; sie hörte zu und lächelte intelligent, und manchmal warf sie eine Frage oder Bemerkung ein, nur um zu zeigen, daß man verstanden wurde." III. Gerade zu dem politisch neutralen Salon 19 Frau Recamiers, in dem hervorragende Persönlichkeiten aus Literatur und Gesellschaft verkehrten, verschaffte Chateaubriand zwei Monate nach der Veröffentlichung des ersten Teiles seines Amerikabuches Alexis de Tocqueville Zutritt. „Ich fand dort", schreibt der junge Autor an seinen Freund Gustave de Beaumont 20 , „ein ganzes Paket noch grünender oder überreifer Berühmtheiten: zunächst Chateaubriand, dann Ampère, Ballanche, SainteBeuve, den Herzog von Noailles und den Herzog von L a v a l . . . Herr von Chateaubriand stellte mich allen diesen Leuten so vor, daß die, die nicht schreiben, meine großen Freunde, und die, die schreiben, meine aufrichtigsten Feinde wurden. Aber die einen wie die anderen überschütteten mich mit Komplimenten." Tocqueville sollte m i t seinem Leben nicht recht behalten, denn von den Gästen, die die Feder führten, blieben zwei sehr eng mit ihm verbunden. Der erste war Sainte-Beuve, der Tocqueville eine Reihe von scharfsinnigen A r t i k e l n widmete; sie schwankten freilich zwischen Freundschaft und Feindschaft, weil es zwischen den beiden Schriftstellern i m Haus Frau Recamiers zu einer Verstimmung gekommen war, als Tocqueville mit einer Hartnäckigkeit, die Sainte-Beuve für Intransigenz halten mußte, die Prinzipien von 1789 vertreten hatte. Der zweite war Jean-Jacques Ampère, der Sohn des großen Physikers und der Verfasser wertvoller philologischer und literarhistorischer Werke. Tocqueville hatte ihn schon 1832 kennen gelernt 2 1 , aber ihre persönlichen Be19

Herriot, Edouard: Madame Recamier et ses amis, Paris 1948, S. 290. Brief v o m 1. A p r i l 1835 i n Oeuvres et Correspondance inédites d'Alexis de Tocqueville, herausgegeben von Gustave de Beaumont, Paris 1861, Bd. I I , S. 29. 21 s. das Billet von A. de Tocqueville an J. J. Ampère, „Ce vendredi m a t i n 1832", i n André-Marie Ampère u n d Jean-Jacques Ampère: Correspondance et Souvenirs, Bd. I I , S. 38. 20

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Ziehungen wurden aufgrund der Möglichkeiten, die Juliette Recamiers Salon bot, noch enger; Ampère hegte schon seit vielen Jahren eine platonische Liebe zu Frau Recamier und füllte schließlich auch den Platz Chateaubriands an ihrer Seite aus; am Ende waren Ampère und Tocqueville nach dem Tode der berühmten Dame i m Jahre 1849, der i n dem empfindsamen und edlen Herzen des Philologen eine große Leere hinterließ, einander i n herzlicher Freundschaft verbunden. Sicher war unter Tocquevilles Vertrauten Ampère der französische Freund m i t dem höchsten geistigen Niveau, und seine Bewunderung für Chateaubriand, die bis i n seine Kindheit zurückreichte, wurde ohne Zweifel durch die seines Freundes noch verstärkt. Die Meinung Tocquevilles über Chateaubriand, wie w i r sie dem zitierten Brief an Beaumont entnehmen können, ist nuancierter als die der Souvenirs. Einerseits bemerkt Tocqueville die Geschmacklosigkeit gewisser Stellen i n der Prosa des Autors, die „manchmal überaus gallig" ist, jedoch auch „tief bei der Schilderung der Schwierigkeiten Napoleons auf dem Thron, stets in sehr hoher Sprache verfaßt und überreich m i t Poesie geschwängert". Hinter dem Ausdruck „sehr hohe Sprache" verbirgt sich ohne Zweifel ironische Absicht, ebenso i n dem Vergleich zwischen Chateaubriand auf der einen und Homer und Tacitus auf der anderen Seite; aber Tocqueville sollte schließlich kapitulieren, als in dem genannten Salon das Fragment der Mémoires verlesen wurde, i n dem Chateaubriand die Schlacht bei Waterloo beschreibt. Wer wollte auch vor einer der schönsten Stellen der Mémoires d'outre-tombe nicht kapitulieren, bei der, wie Tocqueville schreibt, der Lärm der fernen Kanonen die Nerven des Lesers erzittern ließ? Tocquevilles Urteil über die Schriften und die Persönlichkeit Chateaubriands ist trotz der genannten k r i t i schen Vorbehalte, die bei diesem Autor gleichsam Gewohnheit sind, sehr günstig: der bretonische Schriftsteller verdient „die äußerste Bewunderung". Man muß sogleich hinzufügen, daß die Widersprüche i n Tocquevilles Urteilen über den Literaten, die i n dem wiedergegebenen Text und auch i n anderen Texten zum Vorschein kommen, nicht etwa auf Verachtung oder Kälte Tocquevilles gegen Chateaubriand zurückzuführen sind. I n einem Brief vom 5. J u l i 183422 an Gustave de Beaumont betont zwar Tocqueville, daß „Chateaubriands Eifersucht sogar bis i n die Konversation eindringt. Dieser Brief Herrn Chateaubriands ist i n der Tat geeignet, einen verdrießlichen Eindruck zu machen; ich betrachte ihn angesichts der Motive, die ihn diktierten, als eine üble Handlung, ja sogar, obgleich ich dies nicht ohne Verdruß sagen kann, als eine niedrige Hand" Correspondance d'Alexis de Tocqueville et de Gustave de Beaumont, i n Oeuvres complètes d'A. de T., Bd. I, S. 139.

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lung". Chateaubriand blieb nicht müßig, wenn es darum ging, seinem Ruhm neuen Glanz zu verleihen, und sein Egoismus, seine Eitelkeit und seine starke schauspielerische Begabung bewirkten, daß seine engsten Freunde einiges an i h m zu kritisieren hatten — eben die Freunde, die seine größten Schwächen am besten kannten. Vielleicht war niemand härter i n seinem Urteil über Chateaubriand als Joseph Joubert, der ihm i n der Entstehungszeit des Génie du Christianisme und auch i n späteren Jahren höchst wohlwollend und geschickt zur Seite stand. Der feine Moralist hat Chateaubriands Mangel an Aufrichtigkeit, seine Unfähigkeit, zuzuhören, seinen falschen ennui, sein Unvermögen, seinen Phantasien zu widerstehen, seine Verschwendungssucht, die keineswegs mit Großzügigkeit verbunden war, und vieles andere i n einem Brief an den Grafen von Molé hervorgehoben, der ebenfalls m i t Chateaubriand eng befreundet war; dieser Brief wurde geschrieben, als Chateaubriand seine literarische Laufbahn gerade begann 2 3 ; aber dennoch verhinderten es solche Urteile nicht, daß die Männer, die sie fällten, das Talent des großen Schriftstellers bewunderten, den Zauber seiner Feder und seiner Persönlichkeit, und daß sie i h m i n entschiedener Freundschaft behilflich waren. Bei den Äußerungen solcher Freunde ging es gar nicht u m persönliche Güte oder Bosheit, denn ihr Problem war allgemein bekannt. Man behandelte Chateaubriand überall wie einen Schauspieler, den man lobte und dessen Würde von der Maske, die er trug, nicht beeinträchtigt wurde. Wie der kluge Graf Molé bemerkte, „bietet dieses Schicksal Chateaubriands vielleicht das einzige Beispiel dafür, daß eine ganze Zeit sich zum Komplizen, ja beinahe zum Gevatter eines Schriftstellers macht und die falsche Rolle akzeptiert, die dieser Mensch beinahe fünfzig Jahre lang spielt, ohne ihn einen einzigen Augenblick Lügen zu strafen und ohne i h m irgendwo die Maske zu lüpfen" 2 4 . Aber kann man ein so schwieriges Spiel so lange spielen, an dem so viele Menschen beteiligt sind? Ist nicht vielleicht die Interpretation Jouberts, des zweiten engen Freundes von Chateaubriand, doch richtiger als die des zynischen Molé? Joubert schreibt i n der Überzeugung, dies sei der letzte Schlüssel zum Charakter Chateaubriands: „ E r verurteilt nicht einmal seine Schwächen, denn den Fehlern i n seinem Handeln hielt er immer das Bewußtsein von der Güte seines Wesens entgegen." So t r i t t damals der These vom Schauspieler Chateaubriand die These von einem Chateaubriand ohne Sündenbewußtsein und ohne Sinn für eigene Schuld gegenüber. Es macht ihm wenig aus, daß man die K l u f t zwischen dem, was er tut, und dem, was er sagt, als Heuchelei, Zynismus, 23 Marquis de Noailles: Le Comte Molé, 1781—1855. Sa vie — ses mémoires, 3. Aufl., Paris, Champion, Bd. V I , S. 291. 24 Zitiert bei Sainte-Beuve , a.a.O., Bd. I, S. 366.

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Gespaltenheit oder Inkonsequenz interpretiert. Chateaubriand ist so besessen von der Verteidigung einer seines Erachtens absoluten Sache, daß die völlige Hingabe, m i t der er sich ihr widmet, i h n frühere Formen des Dienstes ganz vergessen läßt. Das Streben nach Reinheit ist die Ursache seiner Treulosigkeit, und es ist auch der Grund dafür, daß sein Bewußtsein diese keineswegs als solche versteht, wie Louis Martin-Chauffier vor wenigen Jahren i n seinem Buch Chateaubriand ou l'obsession de la purete 25 gezeigt hat. W i r wissen, daß dieser Chateaubriand, der nach Joubert „durchaus nicht großzügig w i r k t , obgleich er der geborene Verschwender ist", dem Verfasser der Démocratie en Amérique außerordentliche Aufmerksamkeiten erwies. Während er angestrengt und verzweifelt den zweiten Teil seines Buches zu Ende zu bringen versuchte, erschien eines guten Tages Chateaubriand i n seiner Wohnung. „Ich war erstaunt", schreibt er am 31. Januar 1839 an Beaumont, „beschämt, verwirrt und ich weiß nicht, was sonst noch, als ich vorgestern Herrn von Chateaubriand zu m i r hereinkommen sah; er wollte sich, wie er sagte, Stücke aus meinem Manuskript anhören. Ich mußte i h m wohl oder übel daraus vorlesen. Wissen Sie, nachdem er (aus welchen Gründen, weiß ich nicht) einen solchen Schritt getan hatte, wollte er mit der K r i t i k nicht beginnen. Er machte m i r also ungeheure Komplimente. Ich habe drei Viertel davon abgezogen, aber es bleibt noch genug, um mich hoffen zu lassen, daß sein Eindruck, obgleich seine Worte ihn außerordentlich übertrieben, tatsächlich gut war. Ich bin also i n diesem Augenblick wie ein Pferd, dem man erst die vier Beine festgebunden hat und dem man darauf einen Schlag mit der Peitsche gibt. Der Vergleich ist unglücklicherweise in allen Punkten zutreffend 2 0 ." Dies war keine ungewöhnliche Geste Chateaubriands. Schon i n einem etwas früheren Brief vom 23. März 1838 hatte Beaumont seinem Freund von Chateaubriands Interesse an ihm berichtet. „Ich habe i n Paris unter anderen noch Herrn von Chateaubriand gesehen, der m i r ankündigte, daß seine Memoiren über den spanischen Krieg von 1823 am 15. A p r i l des kommenden Jahres erscheinen sollen; ,diese Veröffentlichung', sagte er mir, ,wird den wirklichen Geist der Revolution offenbaren; sie w i r d zeigen, was sie hätte retten können und was sie zugrunde gerichtet hat.' Obgleich man sicher ist, daß dieses Werk zu viel Persönliches enthalten wird, nehme ich an, es w i r d ungeheuer interessant. Das Genie des Erhabenen hat mich nach Neuigkeiten über Sie gefragt und hat mich sehr ermuntert 2 7 ." Dieselbe Mischung von Ironie, Interesse und Bewun25

Paris, Gallimard, 1943. Correspondance d'Alexis de Tocqueville et de Gustave de Beaumont, Ο. C. I, S. 337. 27 Ebd. S. 289. 28

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derung gegenüber Chateaubriand, wie w i r i n Tocquevilles Briefen finden. I n diesem Punkte stimmten die beiden engen Freunde wie i n so vielem anderen völlig überein. IV. Chateaubriand war für Tocqueville ein ständiger Ansporn. Er verschaffte i h m Zutritt zu den besten literarischen Zirkeln von Paris und trug m i t seiner Autorität wie wenige zu dem Erfolg des ersten Teils der Démocratie en Amérique bei; er machte i h m Mut, wie w i r soeben sahen, den zweiten Teil des Buches zu Ende zu schreiben, der ihn noch so viel Arbeit kosten sollte; er versprach i h m seine Hilfe bei der Aufnahme i n die Académie Française und bei der Vorbereitung dieses Schrittes. „Ich war daüber lebhaft gerührt", schreibt Tocqueville an Ampère 2 8 , „und ich bewahre ihm dafür so lebhafte Dankbarkeit, als hätte ich davon Gebrauch gemacht." Als Chateaubriand i n den Mémoires d'outre-tombe das Kapitel über Les Lettres aux Etats Unis neu schreibt, das er nach Skizzen von seiner Reise i m Jahre 1791 entworfen hatte, fordert er i n einer Anmerkung zur Rechtfertigung seiner doch grundlegenden Änderungen, man sollte nur „l'ouvrage capital d'Alexis de Tocqueville" lesen. Selbst wenn er i n den Mémoires über bestimmte Urteile i n dem Buch über die Demokratie i n Amerika Bedenken äußert, behandelt er seinen Verfasser doch höchst rücksichtsvoll. „Vor allem Herr Alexis von Tocqueville hat dies m i t seiner hohen Vernunft und mächtigen Beredsamkeit behauptet. Ich bin stets bereit, der Autorität des Talentes zu weichen, sofern sie vom Adel des Charakters getragen ist; doch mag es mir vielleicht nichtsdestoweniger gestattet sein, dem jungen und schon berühmten Neffen meines Bruders hier einige Bedenken vorzutragen 29 ." Die gegenseitige Sympathie der beiden Schriftsteller beruhte auf ähnlichen häuslichen Traditionen und engen Familienbanden. Ich habe schon erwähnt, daß Alexis' Vater der Vormund der Söhne Jean-Baptistes war, des älteren Bruders von François-René de Chateaubriand, den man zugleich mit Malesherbes guillotiniert hatte. Sein Schwager hatte sie Tocqueville anvertraut, als er das Gefängnis von Port-Libre verließ; jedoch auch ohne einen solchen Auftrag hätte Louis-Hervé de Tocqueville vermutlich ihr Vormund werden müssen; denn als die Zeit des Terrors vorüber war, hatten die überlebenden Angehörigen der von Malesherbes abstammenden Familien kein anderes Oberhaupt als ihn, der erst zweiundzwanzig Jahre alt war, „die Welt kaum kannte und", wie er uns selber erzählt, „nichts anderes besaß als die Erfahrung seines Unglücks". 28 29

Ebd. S. 96. Mémoires d'outre-tombe I I , S. 587.

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Was die Familie der Chateaubriands angeht, so beschränkte Tocqueville sich nicht darauf, über die Interessen und die Erziehung seiner beiden Neffen zu wachen, sondern hielt enge Beziehungen zu vielen ihrer Mitglieder aufrecht. Was die Mutter des Dichters betrifft, so gingen beider Erlebnisse von einer gemeinsamen Tragik aus, denn man hatte Frau von Chateaubriand gewaltsam von der Bretagne nach Paris gebracht, weil man glaubte, sie sei i n den Prozeß gegen die Familie von Malesherbes verwickelt, und es hatte ernste Gefahr bestanden, daß sie dasselbe Schicksal erlitt wie ihr ältester Sohn. Die fünfzig erhaltenen Briefe aus ihrer Korrespondenz m i t Alexis' Vater zeigen nicht nur ihre bretonische Hartnäckigkeit i n der Verteidigung der den Waisen nach der Adelsgesetzgebung ihres Landes zustehenden Erbrechte, sondern auch ihr Vertrauen zu dem Vormund und ihre innige Liebe zu ihm. I h r ältester Sohn war gestorben, der zweite i m E x i l und so gut wie verloren; da schien es ihr, als hätte sie in dessen Schwager ihren dritten Sohn gefunden. „Ich habe auf Sie", schreibt sie ihm 3 0 , „und auf meine liebe Louise die ganze Liebe übertragen, die ich zu meinem unglücklichen Sohn empfand. Ich sehe ihn i n Ihnen wieder auferstehen, weil Sie mir so viele Beweise Ihrer Liebe geben." Häufig unterzeichnet sie die Briefe mit „votre Maman Bédée de Chateaubriand" und i n den letzten Monaten ihres Lebens einfach m i t „maman". Angesichts so herzlicher Gefühle unterrichtet Frau von Chateaubriand Tocqueville über Familienangelegenheiten aller A r t und bittet ihn um seinen Rat. Sie informiert ihn über die ungleiche Vermählung ihrer Tochter Lucille und über deren traurigen Ausgang; Tocqueville ist an der Verwaltung des kargen Nachlasses beteiligt, den Lucilles Gatte, Herr von Caud, ihr hinterlassen hat. Auch die pekuniären Ansprüche gegen den Dichter und die Wechselfälle seines Lebens in England erfordern die Aufmerksamkeit des wachsamen öffentlichen und privaten Vermögensverwalters, der Alexis' Vater sein Leben lang gewesen ist. 1804 schreibt Chateaubriand an Frau von Marigny: „Ich kenne Herrn von Tocqueville gut genug, um dir i m voraus zu versichern, daß er alles tun wird, was die Ehre und die Freundschaft unter Verwandten erfordert." Die engen Beziehungen zwischen den Neffen Chateaubriands und der Familie des Vormunds endeten nicht, als diese großjährig wurden. Wie uns Alexis de Tocqueville erzählt, rief seine Mutter, als sie am 9. Januar 1836 starb, ihre Söhne und Louis de Chateaubriand zu sich und segnete sie gleichermaßen. Louis' jüngerer Bruder Christian befand sich damals i n Italien, wo er i n den Jesuitenorden eingetreten war; und es ist durchaus bezeichnend, daß dieser Neffe i m Jahre 1817 auf die Ländereien der Malesherbes eine Hypothek aufnahm, um die schwierige finanzielle Si30 s. Collas , Georges: La vieillesse douloureuse de Mme. de Chateaubriand, d'après des documents inédits, Paris, Lettres Modernes, 1961, Bd. I I , S. 645—573.

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tuation des Literaten zu beenden 31 ; auf diese Ländereien, die der Minister Ludwigs X V I . so liebte und die er so sorgfältig verwaltete; i n seinem Schloß hatten sich Alexis' Eltern auch vermählt. I n den schwierigen Jahren der Revolution zogen sich Malesherbes' beide Nichten mit ihren Männern Jean-Baptiste Graf von Chateaubriand und Hervé Louis Clérel de Tocqueville i n seinen Schatten zurück. Malesherbes lenkte durch seinen Rat wie ein Patriarch nicht nur das Leben seiner Enkelinnen und ihrer Männer, sondern auch das ihrer Angehörigen. Der künftige Literat wollte die Ansicht Herrn von Malesherbes' hören, bevor er sich i n die Emigration begab, und diese Ansicht lautete günstig, denn „ein Mann, der den Degen trägt, kann nicht umhin, die Brüder seines unterdrückten und seinen Feinden ausgelieferten Königs zu begleiten" 3 2 . Nach der Niederlage des Prinzenheeres änderte Malesherbes seine Meinung und riet dem älteren Bruder des Literaten, nach Frankreich zurückzukehren. Er sah ihn i n Brüssel, von wo er sich nach England einschiffen wollte, zum letzten Mal. Schon früher hatte Malesherbes Chateaubriand zu einer anderen und friedlicheren Emigration ermuntert. „ I n der Unterhaltung mit ihm", schreibt er i n seinen Mémoires* 3, „bekam ich die Idee zu einer Reise nach Nordamerika, um das Meer zu erforschen, das Hearne und nach i h m Mackensie gesehen hatten." „Was mich aber schließlich am meisten", fügt Chateaubriand hinzu, „ m i t dem erlauchten Greis verband, war seine Vorliebe für meine Schwester; trotz Lucilles Furchtsamkeit konnten w i r sie mit Hilfe von etwas Champagner dazu bringen, daß sie i n einem kleinen Stück aus Anlaß des Geburtstages Herrn von Malesherbes' eine Rolle übernahm; sie erwies sich als so rührend, daß dem guten großen Mann davon der Kopf verdreht war." Wieder ein Familienfest wie die, die Tocqueville uns beschrieben hat, auf dem freilich angesichts der wachsenden Bedrohung durch die Revolution unter Malesherbes' Schutz der große A u f t r i t t des Vaters der Romantik auf der Bühne der Neuen Welt vorbereitet wird. Entsprechend den Neigungen des Ministers Ludwigs X V I . sollte die Reise geographischen Entdeckungen und wissenschaftlichen Untersuchungen dienen. „Herr von Malesherbes setzte mir diese Reise i n den Kopf. Ich besuchte ihn am Morgen; w i r steckten die Nase i n Karten und verglichen die verschiedenen Zeichnungen der arktischen Kuppel miteinander; w i r berechneten die Entfernung von der Behringstraße bis zum 31 s. Levaillant, Maurice: Splendeurs, misères et chimères de M. de Chateaubriand, d'après des documents inédits, Paris 1948, S. 78. 32 H e n r i Guillemin glaubt (a.a.O., S. 43), daß Malesherbes Chateaubriand den entscheidenden Anstoß zum E i n t r i t t i n das Prinzenheer gab: „Sous peine de se couler moralement, de se v o i r maudire par son frère et reprouver par Malesherbes, Chateaubriand dut, en gémissant, se prêter à l'aventure sinistre où sa mauvaise étoile le jettait." 33 Mémoires d'outre-tombe I, S. 188.

9 Festschrift f ü r C a r l S c h m i t t

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Ende der Hudson-Bay 34 ." Zusammen lasen sie die Berichte englischer, holländischer, spanischer, französischer, russischer, schwedischer und dänischer Seefahrer und Reisender und suchten die besten Routen zu den Gestaden des Polarmeeres heraus; denn sie wußten, welche Schwierigkeiten es zu überwinden galt, und bedachten die unerläßlichen Vorkehrungen gegen die Härte des Klimas, gegen Angriffe wilder Tiere und Lebensmittelknappheit. Der hohe Herr sprach zu Chateaubriand nach dem Bericht i n den Mémoires: „Wenn ich jünger wäre, reiste ich mit Ihnen und ersparte mir das Schauspiel, das mich hier so viel Verbrechen, Feigheit und Torheit erblicken läßt. Jedoch i n meinem Alter muß man sterben, wo man i s t . . . Es ist sehr schade, daß Sie nichts von Botanik verstehen." Nach diesen Gesprächen vertiefte sich Chateaubriand i n die Lektüre botanischer Werke, ging in den Jardin du Roi und hielt sich „schon für einen Linné". Es handelt sich um mehr als eine neue Großsprecherei Chateaubriands. Unter den unendlich vielen Notizen, die er auf seiner Reise durch die Neue Welt geschrieben hat, behandeln nicht wenige, die für Herrn von Malesherbes bestimmt waren, botanische Fragen. Aber bald erkannte François René, daß er das Ziel seiner ersten Reise nicht erreichen konnte und daß seine Streifzüge nur das Vorspiel einer zweiten und längeren Reise sein konnten. „Ich schrieb i n diesem Sinn an Herrn von Malesherbes, und indem ich der kommenden Dinge harrte, versprach ich der Dichtung, was für die Wissenschaft verloren war. Wahrhaftig, wenn ich i n Amerika nicht fand, was ich suchte, nämlich die Polarwelt, so fand ich dort doch eine neue Muse 35 ." Malesherbes, dessen Neigungen zwischen der Jurisprudenz, der Naturwissenschaft und dem Literarischen schwankten, hat diesen Wandel in den Ansichten Chateaubriands gewiß nicht mißbilligt. Jedenfalls blieb Chateaubriand in enger Verbindung mit dem alten Parlementär, und als er schließlich hingerichtet war, erwies sich seine Bewunderung für ihn i n dem Vorsatz, das „Leben Herrn von Malesherbes" zu schreiben; er hat ihn angekündigt i m Essai sur les Révolutions

v o n 179 7 3 6 .

V. Tocquevilles tiefe Bewunderung für seinen Urgroßvater Malesherbes ist bekannt. Unter seinen unveröffentlichten Papieren hat man kürzlich 34

Ebd. S. 241. Ebd. S. 287. Seine Beziehungen zu Malesherbes waren für Chateaubriand während seiner Emigration nach England von nicht geringem Vorteil. I n London Schloß er enge Freundschaft m i t einem Verwandten des Ministers Ludwigs X V I . , Christian Vicomte de Lamoignon, der i h n i m Sommer 1799 nach Richmond begleitete, während er die erste Fassung von Le génie du christianisme schrieb. Auch stand er i n enger Verbindung m i t dessen Geschwistern Auguste Marquis de Lamoignon u n d Marie-Cathérine, vermählt m i t dem Marquis d'Aguesseau. 35

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eins gefunden, das folgende feierliche Erklärung enthält (man hört aus ihm unwillkürlich den Ton des pascalschen Mémorial heraus): „Ich bin ein Enkel Herrn von M.s. Jeder weiß, daß Herr von M., nachdem er das Volk gegen König Ludwig X V I . verteidigt hatte, König Ludwig X V I . gegen das Volk verteidigt hat. Er ist ein doppeltes Vorbild, das ich nie vergessen habe und auch nie vergessen werde." Vielleicht hing das Gedenken an seinen Vorfahren mit seinem Wunsch nach einer Reise durch die Neue Welt zusammen, während sich die Alte Welt i n einer ähnlichen Lage befand wie damals, als Malesherbes Chateaubriand zur Überquerung des Atlantik ermutigte. Höchstwahrscheinlich hörte Alexis als Junge, wie Chateaubriand farbige Schilderungen seiner Streifzüge durch Nordamerika gab und wie er berichtete, welche Rolle der Minister Ludwigs X V I . bei ihrer Vorbereitung spielte. Jedenfalls konnte Tocqueville i n der Vorrede zur ersten Auflage von Atala nachlesen, wie sein Urgroßvater nicht allein die schließlich verwirklichte Reise angeregt hatte, sondern wie er es außerdem noch auf sich nahm, der Regierung die Pläne für eine zweite Reise zu unterbreiten, „und damals hörte er die ersten Fragmente des kleinen Werkes, das ich heute dem Publikum übergebe". Atala war durch die archetypische Gestalt geheiligt, die Malesherbes in Tocquevilles Augen war, nicht nur, weil er die Reise gefördert hatte, deren Ergebnis dieses Buch werden sollte, sondern auch, weil er sein erster Leser und K r i t i k e r war. Es ist keineswegs verwunderlich, daß Tocqueville bei seiner Ankunft i n Amerika „voll von Erinnerungen an Herrn von Chateaubriand war". Das erklärt er ausdrücklich auf den Seiten mit dem Titel Quinze jours dans le désert* 7. Häufig fällt i n Tocquevilles amerikanischer Korrespondenz der Name Atala. Was Gustave de Beaumont betrifft, so erklärt er i n einem Brief an einen Freund, er „hätte ihm eine Beschreibung der Ufer des Mississippi geschickt, wenn Chateaubriand nicht zur Entmutigung der Amateure die seinige geschrieben hätte" 3 8 . Noch 1835, als Beaumont die K a p i t e l v o n Marie

ou V esclavage aux Etats Unis ü b e r a r b e i t e t ( j e n e m

Werk, das gleichzeitig mit La Démocratie en Amérique entstand), schrieb er an seinen Reisegefährten: „Zwei Stellen sind Reminiszenzen an Chateaubriand, wie sehr ich mich auch bemühte, das zu vermeiden. Sie stehen auf den Seiten 6 und 20. Hier habe ich die Stellen Chateaubriands, damit Du siehst, ob ich meine so lassen kann 3 9 ." Beaumont bat seinen 37

Voyage en Sicilie et aux Etats Unis i n Oeuvres complètes d'A. de T., Paris, Gallimard, S. 343. 38 Zitiert von Pierson, George Wilson: Tocqueville and Beaumont i n A m e rica, Oxford University Press, New Y o r k 1938, S. 594; s. auch S. 570. 39 I n der Korrespondenz zwischen Tocqueville und Beaumont finden sich noch weitere ehrenvolle Erwähnungen Chateaubriands. Als Tocqueville seinem Freund die Druckfahnen von L'Ancien Régime et la Révolution schickt, u m seine Meinung zu erfahren, erwidert i h m Beaumont am 26. März 1856: „Die beste Form ist m. E. die von H e r r n von Chateaubriand gewählte, der nicht 9*

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Freund um Hilfe, weil er sich von einer A r t literarischer Herrschaft befreien wollte, die Chateaubriand zunächst über beide ausgeübt hatte, von der sich aber Tocqueville befreien konnte, weil er sich für eine weniger literarische A r t von Arbeiten zur Darlegung und Interpretation seiner Reiseeindrücke auf dem amerikanischen Kontinent entschieden hatte. Wäre die angedeutete Wahl Beaumonts nicht gewesen und hätte er m i t i h m wetteifern und ihn mit seinen Arbeiten i n den Schatten stellen mögen, dann hätte Tocqueville sehr wahrscheinlich seiner Feder mehr Freiheit i m Literarischen gelassen. A n Begabung und Neigung fehlte es i h m n i c h t , w i e d i e A r b e i t e n Voyage au Lac Onéida u n d Quinze jours dans

le désert beweisen, die ihr Verfasser nicht veröffentlichen wollte, und zwar gewiß aus den angedeuteten Gründen. Sicherlich war die Absicht, die die beiden Freunde auf den neuen Kontinent trieb, viel fachlicher und weniger abenteuerlich als die Chateaubriands, und sie blieben ihr mit einer geradezu juristischen Strenge treu; das beweist das von ihnen z u s a m m e n herausgegebene Système

pénitentiaire

aux Etats Unis. A b e r

zugleich machte sie trotz dieser Arbeit ihre Zugehörigkeit zu der großen romantischen Generation empfänglich für den Zauber der amerikanischen Natur, deren Echo sich bei Tocqueville nicht nur i n den Kapiteln der Démocratie en Amérique über Geographie und Ästhetik, sondern schon i n dem bloßen Plan des großen Werkes findet 40. Als Tocqueville seinen Brief aus Sing-Sing vom 3. J u l i 1831 an seinen Vater schrieb, in dem zum ersten Mal von seinem Vorhaben die Rede ist, das Buch zu schreiben, das einmal De la démocratie en Amérique werden sollte, befand er sich i n einer überaus romantischen Stimmung; sie entsprach keineswegs derjenigen der Insassen des berühmten Gefängnisses, das er damals kennen lernen wollte. Der Brief beginnt mit der Beschreibung der Ufer des breiten Hudson River, der von Segeln bedeckt ist; „er breitet sich nach Norden und entschwindet zwischen hohen blauen B e r g e n . . . Nichts ist köstlicher als jenes Schauspiel, das seine Gestade b i e t e n . . . Das Ganze ist erleuchtet von einer bewunderungswürdigen Sonne, die ihre Strahlen i n die feuchte Atmosphäre dieses Landes schleudert und alle Gegenstände mit einer süßen, durchscheinenden Färbung allein die A n m e r k u n g i m Text bezeichnete, sondern am Ende des Bandes noch einmal die Textseite u n d die Zeile angab, zu der die A n m e r k u n g gehörte." Tocqueville w i r d diesen Rat befolgen. 40 Die Ähnlichkeit i n der Situation Chateaubriands u n d Tocquevilles ist i m allgemeinen den politologischen Spezialisten entgangen, aber nicht einem so klugen Literaturhistoriker wie A l b e r t Thibaudet: „Chateaubriand entdeckt nicht mehr die Nord-West-Passage, als Columbus Indien entdeckte. Aber w i e Columbus entdeckt er Amerika. Er bringt davon eine malerische Idee m i t nach Hause, genau wie ein anderer Verwandter von H e r r n von Malesherbes, ein anderer Vicomte, Herr von Tocqueville, davon eine Idee der Demokratie m i t nach Hause b r i n g t " (Histoire de la littérature française de 1789 à nos jours, Paris 1936, S. 25.

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überzieht. Sie können an der Länge der Beschreibung merken, daß der, der sie gibt, es sich bequem gemacht hat, u m die Landschaft zu beobachten. Tatsächlich findet sich am Fuß des höchsten Hügels eine riesige Platane; ich habe mich i n ihre Äste gesetzt, um der Hitze zu entgehen, und von dort aus schreibe ich Ihnen. Beaumont, der unten am Fuße sitzt, zeichnet das, was ich zu schildern versuche 41 ." Bereits bei seiner ersten Begegnung mit der Neuen Welt verrät der Reisende i n seinen Briefen sein Interesse an der Landschaft; das ist für einen Kenner Chateaubriands bezeichnend, der sich nicht wie so viele Menschen seiner Generation damit begnügte, die reichlich konventionellen Bilder in Atala zu bewundern, sondern sicherlich die präziseren und spontaneren Seiten des Voyage en Amérique gelesen hat, eines Buches, das vierzig Jahre vor der Reise des Juristen zu dem neuen Kontinent erschien. Die Reaktion auf die Küsten, die Städte und Wälder Amerikas i n Tocquevilles Briefen gleicht der i n dem genannten Buch seines angeheirateten Verwandten. Offensichtlich gibt es eine Reihe gemeinsamer Gründe für die ähnliche Reaktion beider Reisender mit ihrer ähnlichen Tradition und Bildung gegenüber Städten, die „kalt und monoton" aussehen wie jenes Philadelphia, das Chateaubriand entdeckt. „Fast nichts i n Philadelphia und i n New York und Boston ragt über die Masse der Mauern und Dächer hinaus. Das Auge w i r d von dieser Gleichförmigkeit traurig." Auch Tocqueville findet New York „bizarr" und wenig angenehm. Man sieht dort keine Kuppel, keinen Turm und nicht ein einziges großes Gebäude, so daß der Reisende glaubt, er sei in einer Vorstadt. Die Innenstadt ist aus Ziegelsteinen gebaut, und das sieht sehr monoton aus, namentlich i m Kontrast zu dem bewundernswürdigen Panorama, das die Stadt umgibt. „Stellen Sie sich überaus glücklich gewunde Ufer vor", schreibt er 4 2 , „Abhänge, die mit Rasen und blühenden Bäumen bedeckt sind und bis zum Meer hinunterreichen." Ergibt sich diese Übereinstimmung in den Beschreibungen aus der Ähnlichkeit der Umstände und der Mentalität? Setzen sich die Empfindungen des älteren und literarischeren Schriftstellers doch bei dem jüngeren durch? Sicher kommt es zu diesen ästhetischen Reaktionen und zu entsprechender K r i t i k an der amerikanischen Gesellschaft schon gleich, nachdem Tocqueville den Boden der Neuen Welt betreten hat. Beurteilungen, wie sie hinsichtlich der Künste und der Wissenschaften i n den ersten Kapiteln des zweiten Teils von De la démocratie en Amérique stehen, finden sich in großer Zahl vom ersten Tag seiner Ausschiffung an. 41 Nouvelle correspondance entièrement inédite d'Alexis de Tocqueville, Paris, Michel Lévy Frères, 1866, S. 19. 42 Lettre à Mme. la Comtesse de Tocqueville v o m 14. M a i 1831 i n Nouvelle Correspondance, S. 10.

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„Alexis de Tocqueville", schrieb Chateaubriand, wie w i r gesehen haben, „bereiste das zivilisierte Amerika, aber ich erlebte seine Wälder." Dies ist eine wenig richtige Bemerkung. Erstens, weil Chateaubriand die amerikanischen Wälder mehr mit der Einbildungskraft als mit den Füßen durchwandert hat. Zweitens, weil Tocqueville intensiver und methodischer als der Vicomte die einsamen Unendlichkeiten der Neuen Welt durchstreifte (unter anderem deshalb, weil vierzig Jahre später das Reisen leichter war), obgleich er durch das, was er von dem früheren Reisenden las und hörte, sehr angespornt worden ist, freilich auch von einem Antrieb, der beiden Schriftstellern gemeinsam war: dem B i l d des guten Wilden bei Rousseau. Der Einfluß Rousseaus auf Chateaubriand ist bekannt, obgleich er die Seiten von Atala mit Pater Aubrys Predigten taufte, weil er nach seiner Reise geistige Wandlungen durchgemacht und weil er sich nicht uneigennützig ausgerechnet hatte, was das Publikum des Kaiserreiches gern lesen mochte. Tocquevilles Sympathie für Rousseau ist bekannt. Nach seinem eigenen Bekenntnis gehörte dieser zusammen mit Pascal und Montesquieu zu seinen liebsten Autoren. Aber das Wasser der rousseauschen Quelle gelangte auf verschiedenen Wegen zu dem einen und anderen Autor. Vieles von dem, was Tocqueville noch erreichte, hatte vorher Chateaubriand geschüttelt und gefärbt; und seine Wirkung auf die Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts i n der Anschauung der Natur ist so offensichtlich, daß selbst die feindseligsten K r i t i k e r des Verfassers von Atala sie anerkannt haben; dies findet sich aber bereits i n seinem ersten Buch, dem Essai sur les Révolutions, geschrieben aufgrund der Erfahrung eines Emigranten, dem sich die englische Gesellschaft verschließt und der seinen Trost i m Schoß der Natur sucht. „Glücklich", schreibt er i n diesem Buch mit sichtlicher Aufrichtigkeit, „wer die Natur liebt. Er findet sie und findet nur sie in den Tagen des Unglücks." Eine schmerzliche und nicht geringe Neuerung, viel größer, als w i r es uns heute vorstellen können, denn die Menschen des achtzehnten Jahrhunderts gingen aus „vom Abstrakten und von der Gesellschaft Hervorgebrachten, um zum Natürlichen zurückzukehren, und . . . mußten sich hier alles neu erobern", schrieb Sainte-Beuve 43 . „Man mußte buchstäblich das Hôtel de Rambouillet verlassen, wenn man den Mont Blanc und selbst das Tal von Montmorency entdecken wollte." Wie viel schwerer und länger war der Weg zum Mississippi! VI. Man muß i n jenem Tocqueville, der unermüdlich m i t seinem gebrechlichen Körper die Wälder, Seen und Flüsse des amerikanischen Kontinents bereist, eine neue Version des literarischen Helden Chateaubriands 43

a.a.O., B. I, S. 197.

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erblicken. So erscheint er uns besonders auf den Seiten, die den Titel Voyage au Lac Onéida tragen; dort erzählt er uns von einem Ausflug, den er unternahm, um den fernen Zufluchtsort eines jungen französischen Adligen und seiner Frau zu besuchen, die die erste Revolution aus ihrem Land vertrieben hatte, so, wie es bei den ebenfalls adligen Tocqueville und Beaumont die zweite tat. Die Erinnerung an das Buch, i n dem ein ähnliches Abenteuer berichtet wird, war nicht aus seinem Gedächtnis geschwunden. „Wie häufig hatte ich sie um die ruhige Wonne ihrer Einsamkeit beneidet. Das häusliche Glück, der Zauber der ehelichen Eintracht, die Liebe selbst vermischte sich i n meinem Geist m i t dem B i l d der einsamen Insel, auf der meine Einbildungskraft ein neues Paradies erschaffen hatte 4 4 ." Tocqueville und Beaumont durchwanderten auf ihrer Suche eine üppige Natur und hatten nach romantischer Manier das Empfinden, „daß w i r einen Ort wiedersahen, an dem ein Teil unserer Jugend sich abgespielt hatte"; aber statt des Gesuchten entdeckten sie mitten auf der Insel die Ruinen der Farm, die jener Franzose gebaut hatte; vielleicht hatten ihn die Indianer getötet wie den, den Chateaubriand erfunden hatte. I n Quinze

jours dans le désert beschreibt T o c q u e v i l l e d e n j u n g f r ä u -

lichen Urwald mit Ausdrücken von klarer und tiefer Schönheit; er läßt sich von einem Gefühl des Erhabenen tragen, das seine Bilder nie sprengt. Wie die Masten eines Schiffes ragen die Bäume auf; ihre Äste verschlingen sich und bilden „einen unermeßlichen Baldachin über der Erde, die sie trägt. Unterhalb dieses feuchten und unbeweglichen Gewölbes ändert sich das Bild, und die Szene bekommt ein neues Gesicht. Eine majestätische Ordnung herrscht zu Ihren Häupten. Dagegen bietet i n der Nähe der Erde alles ein B i l d des Chaos und der W i r r n i s . . . I n Amerikas Einöden ist die Natur i n ihrer Allmacht die einzige Kraft, die zerstört und neu hervorbringt. So schlägt dort i n den Wäldern, die dem Bereich des Menschen unterworfen sind, der Tod unablässig zu: aber niemand kümmert sich darum, die Trümmer fortzuschaffen, die er hinterläßt. Alle Tage bringen neue; sie stürzen und türmen sich übereinander; die Zeit kann sie nicht schnell genug zu Staub verwandeln, um neuen Platz zu schaffen. Dort liegen Seite an Seite mehrere Generationen von T o t e n . . . Inmitten dieser verschiedenartigen Trümmer geht das Werk der Reproduktion unaufhörlich f o r t . . . Als wären hier Leben und Tod zugleich präsent, als hätten sie ihre Werke vermischen und vermengen wollen 4 5 ." I n diesen Sätzen klingen außerordentlich viele literarische Themen der Romantik an, doch finden sie ihren Ausdruck i n Worten, die auf ein 44 45

Voyage en Sicile et aux Etats Unis i n Oeuvres complètes d'A. de T., S. 338. Ebd. S. 369.

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soziologisch-historisches Interesse des Betrachters schließen lassen. Das bedeutet nicht Mangel an echtem ästhetischem Empfinden oder Unfähigkeit zu literarischer Interpretation, die beim Vergleich des Blicks auf den Urwald mit der Aussicht auf den Ozean so klar zutage t r i t t (ein Thema, das Chateaubriand sehr lieb war), auch bei der Art, das Schweigen zu beschwören. „Abgebrochene Bäume, zersplitterte Stämme, alles zeigt, daß hier die Elemente dauernd i m Kampfe liegen. Aber der Kampf ist unterbrochen. Man möchte sagen, daß auf Befehl einer übernatürlichen Macht die Bewegung plötzlich zum Stillstand gekommen i s t . . . Er horcht, er hält mit Mühe seinen Atem an, um besser den leisesten Nachhall des Seins zu erlauschen; kein Ton, kein Murmeln dringt an sein Ohr 4 6 ." Wieder begegnen w i r ästhetischen Kategorien, die von einem historischsoziologischen Interesse geprägt sind; aber dennoch (und zwar allein, weil ein solches Stück Literatur rasch auf dem Schiffsdeck hingeworfen wurde) ist Sainte-Beuves Behauptung unannehmbar 47 , daß „keine Muse — nicht einmal eine jener strengen Musen, die Montesquieu beschwor — bei der Geburt von Tocquevilles Denken zugegen war und lächelte". Nach der Meinung des berühmten Kritikers bietet Tocqueville, wenn er schreibt, „ i n überaus guter Prosa das, wovon uns vorher in gewagten und sublimen Strichen Chateaubriand die Poesie gegeben hat" 4 8 . Man sollte zugeben, daß Tocqueville auf den Spuren Chateaubriands gewandelt ist, wie es die angeführten Stellen zeigen, auch seine Worte über die Pracht der Indianerinnen oder über die Stämme der Chactas; aber niemals gab er lediglich eine Übersetzung chateaubriandscher Poesie i n Prosa, sondern stützte sich auf seine eigene ästhetische Erfahrung; gerade deshalb konnte er entdecken, wie viel Konventionelles i n Chateaubriands klassisch-romantischen Personen- und Landschaftsbeschreibungen à la Fontanes und Canova verborgen war — nicht auf den Seiten, die er spontan geschrieben, sondern auf denen, die er für das große Publikum hergerichtet hatte. Daß Tocqueville etwas davon bemerkt hat, sieht man an einigen seiner in Amerika abgefaßten Schriften, z. B. an seinem Brief über die Auswanderung des Stammes der Chactas, bei dessen Stil Sainte4e

Ebd. S. 370. Nicht wenige Themen dieser Beschreibungen finden sich i m Journal sans date, dem lebendigsten und persönlichsten Teil des Voyage en Amérique von Chateaubriand. „Die Geräusche haben die Geräusche geweckt. Der Wald ist ganz Harmonie. Sind es die feierlichen Töne der Orgel, die ich vernehme, während leichtere Töne durch das Gewölbe des Grüns umherirren? . . . Uberall muß man über gestürzte Bäume klettern, über denen sich neue Generationen von Bäumen erheben. Ich suche umsonst einen Ausgang i n diesen E i n s a m k e i t e n . . . Alles bringt uns auf irgend eine Vorstellung vom Tod, denn diese Vorstellung liegt am Grunde des L e b e n s . . . Bald werden die Geräusche schwächer; sie sterben i n beinahe imaginären Fernen: das Schweigen rückt von neuem i n der Einöde vor." 47 Nouveaux Lundis, Paris, Michel Lévy Frères, X , S. 324. 48 Causeries du Lundi, Paris, Garnier, X V , S. 98.

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Beuve gewiß in Widerspruch mit sich selber gerät, denn er kommentiert ihn so: „Man möchte sagen, daß Chateaubriand nicht dagewesen ist 4 9 ." Ein Widerspruch, der sich an der folgenden Stelle noch einmal findet 50: Tocqueville „hat selbst in vorzüglichen Worten das Urteil gesprochen, daß diese Poesie der Einöde ein wenig arrangiert und ganz chateaubriandesk ist", als er schrieb: „Selbst Herr von Chateaubriand hat die wahre Einöde, zumindest die, die ich kenne, mit falschen Farben geschildert. Er scheint i n Amerika diesen ewigen, feuchten, kalten, trüben, düsteren und stummen Wald durchstreift zu haben, ohne ihn zu sehen: den Wald, der einem auf den Bergkamm folgt, mit einem i n die Täler herniedersteigt und einem stärker als selbst der Ozean die Vorstellung von der Unermeßlichkeit der Natur und von der lächerlichen Kleinheit des Menschen einflößt 51 ." Aber man darf das Datum dieses Briefes nicht vergessen, der am 14. Februar 1851 geschrieben wurde, auch nicht den Satz, der den zitierten vorausgeht: „Die Menschen sind so rasend, daß sie das Wahre wollen, anstatt nur zu versuchen, es gut zu malen. Die größten Schriftsteller sind bisweilen i n diesen Fehler verfallen. Selbst Herr von Chateaubriand . . . " . Gewiß verbirgt sich hinter dieser K r i t i k eine realistischere ästhetische Anschauung als die Chateaubriands, aber auch eine Anerkennung seiner außergewöhnlichen literarischen Größe. Auch sollte man sich erinnern, daß dieser Brief i n Sorrent geschrieben ist; daß Tocqueville nach der Mühsal seines Ministeramtes gerade diesen Ort zum Ausruhen wählte, verrät ein ästhetisches Empfinden, das auch Ampère hervorhebt; er hat ja Tocqueville auf dieser Reise i n die Einsamkeit Italiens begleitet. Bei ihrer beider Ausflügen durch diese großartige Landschaft zeigte Tocqueville deutlich, wie Ampère beschreibt, „ein lebendiges und dichterisches Gefühl für die Natur, wie es selten ist bei Menschen, die ihr Leben der Welt der Ideen und der Besorgung der öffentlichen Angelegenheiten gewidmet haben. Er empfand eine leidenschaftliche Bewunderung für schöne Aussichten, für das Licht, die Berge, das Meer. Wenn sich auf unseren Streifzügen ein herrlicher Horizont vor uns auftat, sah ich ihn stehen bleiben und i n Ekstase geraten. Damals erinnerte er mich an Herrn von Chateaubriand . . . Der Publizist wurde i n Sorrent i m Angesicht des wunderbaren Schauspiels, das sich seinen Augen bot, für Augenblicke so sehr Dichter wie der große Dichter." Dieses Zeugnis wiegt besonders schwer, denn Ampère kannte die beiden Schriftsteller, die er vergleicht, sehr gut und brachte ihnen beiden eine lebhafte Sympathie entgegen. 49

Nouveaux Lundis, S. 288. Causeries d u Lundi, X V , S. 98. Brief aus Sorrent, 14. Februar 1851, i n Oeuvres et correspondance inédites d'Alexis de Tocqueville I I , S. 164. 50

51

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VII. Man muß Tocquevilles poetischen Sinn nicht nur beachten, wenn man die Qualität seines Stils und das Gewicht seines Urteils i n Literatur und Kunst erkennen w i l l , sondern auch, wenn man sein eigenstes politisches Denken verstehen möchte, seinen Versuch, den mühsamen Ausgleich von Gleichheit und Freiheit aus der Sicht der höchsten Menschenwürde zu verwirklichen. Der poetische Sinn zeigt sich oft deutlich i n seinen Briefen, der Autor der Bücher aber möchte ihn gern zum Schweigen bringen, ja i h n m i t juristischen und soziologischen Betrachtungen verdecken, obgleich der aufmerksame Leser i h n aufspüren wird. Letzten Endes liegt ja bei den Staatstheoretikern, die Tocqueville am meisten bewunderte, bei Machiavelli, Montesquieu und Rousseau, der poetische Sinn bereits am Ursprung ihres politischen Denkens. Hier könnte das Beispiel des früheren Chateaubriand erhellend sein, gerade w e i l bei i h m die Dinge ganz anders liegen. Bekanntlich schließt i n den Mémoires d'outre-tombe der zweite Teil, der dem literarischen Werk gewidmet ist, m i t dem Kapitel Fin de ma carrière littéraire ; das Buch w i r d fortgesetzt i m umfangreicheren Dritten Teil, i n dem Chateaubriand seine politische Karriere darlegt. Die Historiker der Politik und der politischen Ideen, die sich m i t Chateaubriand beschäftigen, pflegen diese seine Version für bare Münze zu nehmen; entsprechend läßt Emmanuel Beau de Loménie i n seinem Buch La carrière politique de Chateaubriand de 1814 à 1830 52 die Untersuchung i m Jahre 1814 beginnen und übersieht vollkommen den vorigen Lebensabschnitt. Richtiger scheint m i r die These Albert Cassaignes, der diese Periode i n seinem B u c h La vie politique

de François de Chateaubriand.

Consulat , Empire,

Première Restauration 53 sehr gründlich untersucht; er widmet der Betrachtung der politischen Intention, die den literarischen Werken Chateaubriands zugrunde liegt, fast fünfhundert Seiten. Nach Cassaigne war Chateaubriand „seinem Wesen nach ein Mann der Tat und nebenher ein Dichter . . . Chateaubriand ist eher vom Geblüt der La Rochefoucauld und Retz als von dem der reinen Literaten." Gewiß sind zahlreiche Romantiker i n gewisser Hinsicht politische Menschen, z. B. Lamartine oder Victor Hugo, aber Chateaubriand war ein Fall für sich: „Bei i h m liefert unablässig der Mann der Tat die Erklärung für den Dichter, und seine literarischen Werke kann man nur verstehen und nur i n ihrer vollen Bedeutung erfassen, wenn man sie i m Lichte seines Denkens und seiner politischen Anschauungen sieht 5 4 ." 52

Paris, Plön, 1929. Paris, Plön, 1911. s. auch André-Vincent, Philippe: Les idées politiques de Chateaubriand, Montpellier, Imprimerie de la Presse, 1936, und Diez del Corral , Luis: Doktrinärer Liberalismus, Neuwied 1964, S. 80 ff. 54 a.a.O., S. 1 und 3. 53

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Man kann eine solche These für übertrieben halten, aber nicht für abwegig, solange man die wesentliche Beziehung nicht aus den Augen verliert, die nach Chateaubriand zwischen Politik und Dichtung besteht. Für Chateaubriand war Bonaparte „ u n poète en action". Literarisches Genie und politisches Genie sind nach ihm nicht voneinander zu trennen: „alle großen politischen Talente Griechenlands, des alten und des modernen Italiens, Deutschlands und Englands sind zugleich auch große literarische Talente gewesen . . . Man w i r d heute anerkennen müssen, daß der Konsul Cicero nicht nur ein großer Redner, sondern außerdem ein großer Schriftsteller war, genau, wie Caesar ein großer Historiker und ein großer Dichter war 5 5 ." A m Anfang des neunzehnten Jahrhunderts war i n Frankreich der Platz des großen avocat poétique nicht besetzt, aber die Gesellschaft brauchte ihn, die sich soeben unter Bonaparte konsolidierte. Fontanes, der Mann seines Vertrauens i n Sachen der K u l t u r und zugleich ein alter Freund Chateaubriands, zeigte diesem, welche Fähigkeiten der Mann besitzen mußte, der jenen Platz einnehmen wollte, und drang in ihn, sich à la tête des gerade beginnenden Jahrhunderts zu stellen. Er begnügte sich nicht damit, ihm zuzuraten; der erlesene neoklassizistische Autor Fontanes schliff beharrlich die Grobheiten des rauhen Bretonen i n Stil und Wortwahl ab, der nach seinem langen E x i l i n England gerade nach Frankreich zurückgekehrt war. Und i n einem A r t i k e l i m Moniteur feierte er den Verfasser des Génie du christianisme i m Tone offiziellen Lobes; die Veröffentlichung dieses Buches fiel aber mit einem festlichen Te Deum in Notre Dame unter dem Vorsitz des Ersten Konsuls zusammen, das zur Feier des allgemeinen Friedens und der Wiedereinführung des katholischen Kultus begangen wurde. Thiers kommentiert diese Gleichzeitigkeit und bemerkt i n seiner Histoire du Consulat et de l'Empire, das Génie du christianisme sei das einzige Buch seiner Zeit, das „leben wird, weil es fest mit einer denkwürdigen Epoche verbunden ist: es w i r d leben, wie die i n den Marmor eines Bauwerkes eingemeißelten Friese mit dem Monumente leben, das sie trägt". Aber sobald sich die politische Lage verändert, stellt Chateaubriand mit seinem großartigen Instinkt für das joint des choses sich an die Spitze der neuen Zeit, die mit der Niederlage der napoleonischen Armeen beginnt, und veröffentlicht 1814 das Pamphlet De Bonaparte, des Bourbons, et de la nécessité de se rallier

à nos princes légitimes.

A b e r seine L i e b e

zu diesen hindert ihn nicht daran, kurze Zeit danach aus taktischen Gründen die Schwächung der königlichen Gewalt zu verlangen, als er i n La Monarchie selon la Charte ein radikaleres parlamentarisches System verficht als das, welches Benjamin Constant verteidigt; und dieser Umstand hindert ihn wiederum nicht, eine Rolle i n der Politik der Ultras 55

Poésies diverses, Préface, 1836.

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zu spielen, sobald sich ihm die Gelegenheit zur Machtausübung bietet, und als Außenminister zum europäischen Vorkämpfer eines antiliberalen Interventionalismus zu werden. Nach seinem Sturz von der Höhe der Macht t r i t t er wieder als chevalier de la liberté auf und w i r d am Ende zum extremen Verteidiger der legitimen Dynastie, nachdem diese ins E x i l gegangen ist: er opfert sich „zum letzten Mal für eine undankbare Familie". Dies sind sehr tiefe Wandlungen, die keineswegs auf einem Wechsel i n seiner politischen Einstellung beruhen, sondern m i t der innersten Persönlichkeit des Autors und ganz entscheidend mit seiner literarischen Berufung zusammenhängen. I n Deutschland war der romantische Occasionalismus weniger radikal als i n Frankreich. Die deutschen Autoren blieben spekulativer als die französischen; sie suchten ihre Zuflucht i m Bereich der Kunst, weil ihnen die Beteiligung an der Politik verboten war, und drangen von dort i n den Bereich der Philosophie oder den der Geschichte und Theologie. Auf diesem hohen Niveau entwickelten sie denkerisch außerordentliche Möglichkeiten und konfrontierten sie mit der Wirklichkeit, gelangten aber nie dazu, sie zu realisieren, unter anderem deshalb, weil sie die Ebene, auf der sie standen, für höher hielten als die der W i r k lichkeit. I n Frankreich hatte demgegenüber die Erfahrung der Revolution mit ihren tiefen Erschütterungen infolge der Verwirklichung utopischer Theorien die Türen für ein wirkliches Spiel der romantischen Denker mit der Realität geöffnet. Das ist mehr; der Dichter konnte den Anspruch erheben, die Route seines Lebens zu ändern und seinen Dienst an den schönen Künsten mit dem Dienst i n der praktischen Politik zu vertauschen. Der Abschied von der Muse am Ende des Buches Martyrs ist bekannt: „O M u s e , . . . kehre nun heim in die himmlischen Wohnungen. Ich sehe das Ende der F a h r t . . . Man muß die Leier lassen mit der Jugend." Eine ähnliche Anrufung kehrt am Ende des Intinéraire de Paris à Jérusalem wieder. Das ist mehr als ein gelegentlicher dichterischer Seufzer; es deutet einen entscheidenden Wechsel des existentiellen Kurses an; er zeigt sich in den Mémoires d'outre-tombe an dem tiefen Einschnitt, den das Kapitel Fin de ma carrière littéraire für die Bahn dieses Lebens bedeutet. Auch bei Lamartine entdeckt man einen ähnlichen Gegensatz von literarischer und politischer Laufbahn. A m Ende seiner Novissima Verba sagt dieser Autor: Après l'amour éteint, si j ' a i vécu encore, c'est pour la vérité, soif aussi qui dévore.

Beide Dichter möchten die Welt der literarischen Fiktion verlassen, um den Rest ihrer Tage der Wahrheit zu widmen; i n beiden Fällen handelt es sich eher um praktische als um spekulative Wahrheit; sie besteht in

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der direkten Teilnahme an der Ausübung der Gewalt. Nicht nur Chateaubriand und Lamartine — der größte Teil der französischen Romantiker ist dieser Versuchung mehr oder weniger erlegen. Diese Versuchung, der sich die Literaten gern ergeben, setzt einerseits die Offenheit des Weges zur Ausübung der Gewalt voraus, die es i n früheren Epochen nicht gab, auch in den gleichzeitigen Regimes der anderen Länder nicht; auf der anderen Seite (oder besser: an erster Stelle) setzt sie ein Bewußtsein der Erschöpfung voraus, die Überzeugung, daß die Kraft zu literarischem Schaffen genau mit der Kraft der Jugend zusammenfällt; das ist an der Romantik ein neuer Zug, den die großen Literarhistoriker kaum beachtet haben. Nicht einmal die Autoren, die sich am meisten für politische Themen interessierten, Vergil, Dante, Milton oder Voltaire, sind es müde geworden, bis zum Ende ihres Lebens die Leier zu schlagen. Es handelt sich bei den französischen Romantikern viel weniger um eine Teilung ihres Lebens in zwei Hälften, um eine Verwandlung ihrer aus zwei Teilen bestehenden Existenz, nämlich aus einem poetischen und einem politischen, als um einen inneren und unausgetragenen Widerspruch zwischen einsamer Introversion und gesellschaftlicher Extraversion. Wie sich gezeigt hat, ließ Chateaubriand sich bei der Abfassung der Werke, die ihn am meisten berühmt gemacht haben, konkret von öffentlichen oder politischen Zwecken leiten, und als er Berufspolitiker wurde, blieb er der einfallsreiche Literat, der nun in einer Botschafteroder Ministeruniform auftrat. Die dichterische Mentalität setzt sich i n Reden und Depeschen, ja selbst bei der Planung militärischer Expeditionen durch. Chateaubriand brilliert weiterhin mit seinem literarischen Talent, das nun bei der direkten Gestaltung des Geschehens noch häufiger erglänzen kann. Es scheint, als sollte die Realität der literarischen Geste Applomb und Ernst verleihen, aber meistens dient sie dazu, ihn noch weiter ausholen zu lassen und seine Rhetorik noch tönender zu machen. Der politische Literat begibt sich auf ein höheres Piedestal, um herzustellen, was i h m am meisten bedeutet: schöne Reden über Napoleon i n Sankt Helena, über das vollkommene Gemeinwesen der Zukunft und über den Zerfall und den Zusammenbruch der alten Welt. So erscheint i m Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts ein neuer Typ des politischen Menschen, der phantasieverhaftet und zugleich entschlossen tätig ist, der zwischen innerlichster Privatheit und prunkvollster Publizität, zwischen stiller Seelenführung und Rhetorik für die Menge schwankt. Chateaubriands Freund Chenedollé, der ihn sehr gut kannte, hat von i h m gesagt: „Herr von Chateaubriand möchte eine Zelle, allerdings eine Zelle auf dem Theater 50 ." Einer der Schlüssel zum Ver56

s. Sainte-Beuve: Chenedollé i n Chateaubriand et son groupe littéraire sous l'Empire, a.a.O., I I , S. 177.

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ständnis der Mémoires d'outre-tombe ist gerade der ständige Übergang von dem stillen Kämmerlein persönlichen Bekenntnisses zu der prächtigen Bühne des großen historischen Theaters. Aber die Mémoires liefern ebenfalls einen Schlüssel zum Verständnis des Schicksals ihres Autors und seiner innersten Berufung, denn wenn er darin von seinen diplomatischen und politischen Erfahrungen berichtet, tut er es nicht so sehr als Memoirenschreiber oder als Historiker wie als echter literarischer Schöpfer, der auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist, um sie aus ihrem radikalen persönlichen und kollektiven Zerfall zu erlösen und um sie in die Transzendenz ästhetischer Unsterblichkeit auferstehen zu lassen. „Die Existenz, an sich ein Nichtwert, w i r d zum künstlerischen Wert erhöht", schreibt André Vial 5 7 . „Das ist der innerste Sinn und das Beispiel der Mémoires d'outre-tombe

"

Vili. Tocqueville als Historiker und als Verfasser der Souvenirs ist von solchen Ansprüchen weit entfernt; er beschränkt sich auf die Beschreibung des konkreten Geschehens, der psychologischen Züge und der sozialen Strukturen, und obgleich man bei ihm gewiß auch großartige, von einer mehr oder weniger ästhetizistischen Metaphysik geprägte Passagen findet, w i l l und kann er auf dem festen Boden der wissenschaftlichen Historie verbleiben. A u f Tocqueville läßt sich der Satz Chenedollés nicht anwenden. Er liebt die Zelle seines romantischen Schlosses und die ländliche Einsamkeit mit einem sicher romantischen Pathos, und er liebt auch das Theater, die Welt der großen öffentlichen Angelegenheiten; das zeigt beinahe naiv seine Korrespondenz aus den wenigen Monaten, i n denen er Außenminister war und glaubte, das Steuer des Schiffes Europa i n der Hand zu haben. Aber beide Bereiche vermischen sich nicht, oder besser gesagt, es kommt zu keinem Widerstreit und deshalb auch zu keinem zerstörerischen Anspruch des einen Bereichs gegenüber dem anderen. I m Leben Tocquevilles liegt der Ton seit seiner Jugend entschieden auf seiner politischen Berufung als Denker und Staatsmann. Dieser Berufung dient er mit all seiner geistigen und emotionalen Kraft und folglich ohne jeden Impuls von Eitelkeit oder Prestigebedürfnis, ganz anders als sein angeheirateter Verwandter. I n jedem Falle nehmen Tocquevilles bislang veröffentlichte Bücher oder Briefe auf Chateaubriands politische Schriften kaum Bezug. Vermutlich hat Tocqueville die liberalen Äußerungen des Literaten gegen Ende der Restauration nicht ungern gehört, als er sich für politische Probleme 67

a.a.O., S. 90.

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zu interessieren begann; doch handelte es sich schwerlich um systematische Gedankengänge. Chateaubriand hat sie i m Lauf der Restauration i n einer Reihe von Gelegenheitsschriften verbreitet, an deren Stelle bald andere traten und die nicht lange gültig blieben. Keine war es noch, als Tocqueville sein Buch über Amerika schrieb. Die jähen Schwankungen i n der Haltung Chateaubriands konnten auf einen in Denken und Haltung so konsequenten Mann wie Tocqueville nicht anziehend wirken. Dennoch entdeckte er bei all den mehr oder weniger deutlichen Sinneswandlungen des Schriftstellers und Politikers doch die Konstanz bestimmter Ideale, die Treue zu ganz bestimmten Prinzipien, die wesentlich auch seine eigenen waren. I n einem neueren Buche wurde gezeigt, wie immer unter solchen Schwankungen die politische Treue des romantischen Schriftstellers sich durchhält. I m Gegensatz zu mehr oder weniger verallgemeinernden Thesen w i r d in diesem Buch behauptet, daß Chateaubriand trotz seiner ephemeren Begeisterungen, trotz einer Reihe von oberflächlichen Bindungen, die i m Grunde eher „une série de refus" gewesen sind, und trotz seiner ständigen Treulosigkeiten Untreue haßte. „Zumindest i n der Politik ist seine Untreue nur scheinbar. Das Gesamtbild seiner Ideen enthüllt tatsächlich beachtliche Treue zur Monarchie und zur Freiheit 5 8 ." Sogar die Hingabe, die er eine Zeit lang Bonaparte bezeugte, war nur ein Ausdruck dieser Treue, denn der Erste Konsul hatte die monarchische Regierungsform wieder eingeführt, die der von ihm erhofften Restauration der Bourbonen den Weg bereitete; dieser wurde von Bonaparte durch die politisch so absichtsvolle Exekution des Herzogs von Enghien wieder versperrt, und diese begründete denn auch den Verzicht des Schriftstellers auf seine politische Mission i m Wallis. Chateaubriands Treue zur Monarchie beruhte auf vier enracinements , wie Barrés geschrieben hätte: dem bretonischen Boden, seiner „Provinzjunkerfamilie", der Geschichte und dem Katholizismus. I n etwas anderer Tönung und ohne das Ergebnis einer eben so starken Treue zur Monarchie wie bei Chateaubriand spielen die genannten enracinements auch bei Tocqueville ihre Rolle. Beide politischen Denker entstammen dem Provinzadel und besitzen Liegenschaften in ihrer Heimat (der Bretone i n einer theoretischeren Weise als der Normanne); beide interessieren sich für die Geschichte und betrachten die Religion, wie immer die persönliche Tiefe ihres Glaubens gewesen sein mag, als entscheidende Grundlage gesellschaftlicher Ordnung, nicht nur i m Sinne ihrer Erhaltung, sondern auch i m Sinne ihrer Entwicklung und ihres Fortschritts.

58 Politique de Chateaubriand, présentée par G. Dupuis, J. Georgel et J. Moreau, Collection U, A r m a n d Colin, Paris 1967, S. 12.

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Welche Stellung Tocqueville zu diesen Fragen i n seinem Buch über die Demokratie i n Amerika einnimmt, ist bekannt, und obgleich der Verfasser des Génie du Christianisme seinen Thesen fernzustehen scheint, weiß man immerhin, daß er später über das „Génie" eines „Christ républicain" schreiben wollte und daß Gedanken Lammenais' den späteren Chateaubriand sehr stark beeinflußt haben. Neben seiner Treue zur Monarchie steht seine Treue zum Prinzip der Freiheit. Wie ultrakonservat i v Chateaubriand auch i n bestimmten Abschnitten seines politischen Lebens gewesen sein mag, er blieb seiner Liebe zur Freiheit immer treu, besonders der Liebe zur Pressefreiheit. „Er steht Montesquieu, Alexis de Tocqueville, ja selbst Bertrand de Jouvenel viel näher als La Bourdonnaye, Clausel de Coussergues oder Corbière ... Er gehört i n die Reihe jener Aristokraten, die leidenschaftlich die Freiheit lieben, von Mäßigung durchdrungen sind und jenen Realismus besitzen, der i n Frankreich eine der bezeichnendsten Konstanten in der Geschichte der politischen Ideen ist 5 9 . Die Parallelität der politischen Thesen beider Schriftsteller wurde in jüngster Zeit noch hervorgehoben 80 , sofern sie die Notwendigkeit der Dezentralisierung und der intermediären Organe betonen und auf die Gefahren einer übertriebenen demokratischen Nivellierung trotz oder gerade wegen der notwendigen Entwicklung zu sozialer Gleichheit hinweisen; sie sind sich ähnlich in ihrer Einstellung zum Parlamentarismus und in ihrem Vorurteil gegenüber der „Wohlstandsideologie", die für die Julimonarchie so eigentümlich war. Beide Autoren haben sehr ähnliche klassische Quellen. Schon früher wurde auf Rousseau verwiesen, und ich habe an anderer Stelle 8 1 den Einfluß Pascals auf Tocqueville erwähnt, der sich, vielleicht aufgrund einer Anregung seines Verwandten, zu diesem Autor hingezogen fühlte, denn Chateaubriand war einer der ersten Wiederentdecker jenes großen Denkers, den die Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts so sehr verlästert hatten. Vielleicht geht auch Tocquevilles lebenslanges Interesse für Montesquieu auf Chateaubriand zurück, der diesen Autor überaus schätzte. „Er liebt seine mächtige Kürze", sagt P. Moreau, „und eifert ihr nach, jener souveränen Kunst, i n gebieterischen Formeln die ganze Geschichtsphilosophie zusammenzudrängen . . . Ob er schnitzt oder meißelt — er ahmt dem männlichen Medaillenschneider Montesquieu nach 02 ." Dasselbe gilt auch für Tocqueville, der sich den Stil wie auch die wissenschaftlichen Methoden des gascognischen Denkers zum Vorbild nimmt. 59

Politique de Chateaubriand, a.a.O., S. 42. I n dem soeben zitierten Buch, das die Grundthese des vorliegenden A u f satzes bestätigt. Diese wurde i n einem Vortrag an der Universität Freiburg i m Breisgau i m J u n i 1966 erstmals vorgetragen. 61 L a mentalidad politica de Tocqueville con especial referencia a Pascal, Madrid, Real Academia de Ciencias Morales y Politicas 1965. 62 Chateaubriand, connaissance de l'être, Paris, Hatier, 1967. 60

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Aber gerade, weil Montesquieu Chateaubriand wie Tocqueville angeregt hat, kann er als fester Punkt bei der Zuordnung des politischen Denkens der beiden Autoren dienen. Chateaubriand steht Montesquieu i n seinen Ansichten über Monarchie und Aristokratie sowie i n seiner Einschätzung der intermediären Organe und der gemischten Regierungsform viel näher. Tocqueville geht entschieden weiter; er schlägt zwar den Weg ein, den Montesquieu gewiesen hat, gelangt darauf jedoch ganz selbständig zu seinem Verständnis für die neuen Realitäten des neunzehnten Jahrhunderts. Obgleich Chateaubriand die unzweifelhafte Kraft der neuen gesellschaftlichen Mächte anerkennt, die die französische Revolution herbeigeführt oder hervorgebracht und denen das Ancien Regime schon vorgearbeitet hatte, zeigt er eine betonte Abneigung gegen die Demokratie, während Tocqueville trotz des i m Grunde aristokratischen Charakters seiner Auffassung von Freiheit sich als weitaus aufgeschlossener für den neuen Typ einer demokratischen Gesellschaft und für die Anerkennung ihrer ethischen Werte erweist. A m deutlichsten zeigt sich das Verhältnis beider Autoren zu Montesquieu bei ihrer Einschätzung der Demokratie, wenn man folgenden Abschnitt aus den Mémoires d'Outre-tombe liest, i n dem Chateaubriand gewiß die Haltung Tocquevilles übertrieben zeichnet, der aber gerade deshalb besonders bezeichnend ist: „Man hat gesagt, ein Staat, dessen Bürger völlig gleich begütert und erzogen sind, biete dem Auge der Gottheit ein höheres Schauspiel, als es das Schauspiel des Staates unserer Väter war: vor allem Herr von Tocqueville hat das gesagt... Ist es nicht möglich, die i n einigen unermeßlichen Geistern konzentrierte Intelligenz so zu bewundern wie die kleinen Portionen derselben Intelligenz, wenn sie gleichmäßig auf alle verteilt ist? Ist nicht ein höherer Menschentyp, den man unablässig zur Schau stellt, ein ständiger Gegenstand von Stolz und Eifer? Die Synthese der Gesellschaft ist genau so wunderbar wie die Analyse der Gesellschaft. Gäbe es keine großen Einzelexistenzen mehr, so könnte ich mich aufgrund der generischen Größe unserer A r t darüber freuen; doch möchte ich zu meiner Beschämung gestehen, daß ich mein Leben genau so gern mit Aristoteles und Alexander wie mit dem zufriedensten Bürger der Vereinigten Staaten verbrächte 63 ." IX. Die Ähnlichkeiten und Parallelen i m politischen Denken Chateaubriands und Tocquevilles sind eben dieses: Ähnlichkeiten und Parallelen. Auf keiner der bisher veröffentlichten Seiten zeigt Tocqueville eine ähnliche Bewunderung für den Historiker und politischen Theoretiker Chateaubriand wie etwa für Guizot und vor allem Royer-Collard. 63

a.a.O., I I , S. 587.

10 Festschrift f ü r C a r l S c h m i t t

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Die interessantesten Beziehungen zwischen Tocqueville und Chateaubriand entdeckt man nicht im Bereich des politischen Denkens dm engeren Sinne, sondern in einem anderen und tieferen, auf den schon früher angespielt war; ich möchte jetzt davon allein die Melancholie hervorheben. I n Tocquevilles Seiten schwingt bereits sehr früh ein Ton von tiefer Melancholie, und darin muß man — mittelbar oder unmittelbar — den Einfluß Chateaubriands erblicken, dieses „Homers der Melancholie". Chateaubriand war der Führer einer Jugend, die nicht jung sein konnte und der es nicht gelang, mit den Jahren älter zu werden; die emphatisch von den Mysterien des Lebens redete, bevor sie noch gelebt hatte. „Je crois", sagte Chateaubriand, „que je me suis ennuyé dès le ventre de ma mère." „Mensch", behauptet er i m Epilog zu Atala, „du bestehst allein in der Betrübnis deiner Seele und i n der ewigen Melancholie deines Denkens." Das ist der Schrei, der immer wieder i m René erschallt; Chateaubriand erschuf nach den Worten von Sainte-Beuve „diesen unheilbaren, melancholischen, grundlosen ennui , der so häufig süß und bezaubernd i m Ausdruck i s t , . . . das Leiden Renés, das zum Leiden unserer ganzen Zeit geworden ist." Für diesen K r i t i k e r ist René die schönste Schöpfung Chateaubriands, „die unwandelbarste und überdauerndste; er ist sogar sein Portrait. Er ist das unsere. Die Krankheit Renés gibt es seit ungefähr vierzig Jahren 6 4 ." Tocqueville l i t t an diesem Leiden Renés. „Es kommt nur", schreibt er 1839 an Beaumont 65 , „ i n so elenden Zeiten wie unserer vor, wo niemand weiß, wohin er geht und mit wem er geht. Das ist die Krankheit, die unheilbare Krankheit, die an uns nagt." I n Tocquevilles Briefen gibt es viele Aussprüche wie diesen, auch noch verzweiflungsvollere. Sehr viele Klagen über das Schwinden einer Jugend, der ein von früh auf schwacher Körper schlecht gedient hat. Sehr viele Enttäuschungen und Hoffnungslosigkeiten, nicht nur i n seinen letzten Briefen, sondern auch schon zwischen den Zeilen seiner Bücher. Aber wie man annehmen möchte, bekommt die Krankheit Renés bei Tocqueville eine ganz besondere Note. Sie w i r d mit der Intensität eines unbeirrbaren politischen Interesses auf die Gesellschaft projiziert oder verbreitet sich und erstarkt in seiner Seele durch die mehr oder weniger zuverlässigen Bestätigungen, die ihr von außen kommen. Sie rührt weniger von einer Unausgeglichenheit in seinem Inneren her als von seinen Ansichten über die Zeit, in der er lebte. So war es bei Chateaubriand gerade nicht, dessen Freund Joubert an seinen Freund Molé schrieb: „Ein Kern von ennui, der offenbar in dem unendlichen leeren Raum zwischen ihm und seinen Gedanken verborgen ist, verlangt unablässig Zerstreuungen von ihm, die keine Beschäftigung und keine Gesellschaft i h m je zu seiner Zufriedenheit w i r d 64 65

Ebd. I, S. 314. Correspondance I, S. 371.

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verschaffen können 6 6 ." Bei Tocqueville gibt es keinen leeren unendlichen Raum zwischen ihm und seinen Gedanken. Seine ausgesprochene Berufung zur Politik identifiziert ihn mit dem Gegenstand seines Denkens. Aber vielleicht gibt es deshalb am Grunde seiner Seele eine viel wahrere und radikalere Melancholie als bei den Literaten, die sich darin gefielen, ihren ennui i n den lieblichen Balanceakten ihrer Verse oder ihrer poetischen Prosa zur Schau zu stellen. Wie groß jedoch der Unterschied i m Ton auch sein mag, man sollte die fundamentale Ähnlichkeit bemerken. Lektüre Chateaubriands i n jungen Jahren wie auch persönliche Beziehungen zu ihm konnten i n Tocqueville die Entwicklung eines Keims befördern, der in ihm selber oder in seiner Generation angelegt war. Die ähnliche Erfahrung der amerikanischen Reise trug ohne Zweifel ebenfalls dazu bei, diese Einflüsse noch zu erleichtern oder zu verstärken. Entsprechungen in Empfinden und Temperament wurden durch das Beispiel des berühmten Schriftstellers verstärkt, wie w i r gesehen haben. Wie dem auch sei, Tocqueville ist weitgehend ein geistiger Sohn Renés, eine Wiederholung seines psychologischen Typs. Das w i l l auf keinen Fall besagen, daß man Tocqueville als einen romantischen Theoretiker der Politik i m strengen Sinne des Wortes bezeichnen darf. Sein romantisches Empfinden, das als solches außer Zweifel steht, unterlag stets der strengsten ethischen und geistigen Disziplin. Es gibt wenig Romanhaftes i n den Schriften Tocquevilles, die zu Lebzeiten ihres Autors erschienen sind; die Arbeiten, die sich am meisten dem literarischen Genus nähern, nach dem der Terminus „Romantik" gebildet wurde, hat er (als der Veröffentlichung nicht wert) verworfen. Tocqueville ließ sich nicht von der occasio tragen, sondern bemühte sich, einen festen Leitstern zur Orientierung in den wechselnden historischen Situationen zu finden, und weil er ein Intellektueller war, bediente er sich höchst präziser soziologischer und juristischer Kategorien zur Einordnung und Gliederung der Masse von Daten, mit der ihn seine aufmerksame Beobachtung versah. Die Gegenwart und sein Verantwortungsbewußtsein ihr gegenüber waren ihm ein ständiger Ansporn; er ergab sich nicht dem ironischen Spiel mit mehreren Realitäten, sondern entsprach den Forderungen einer zwar sich wandelnden, aber immer mit sich identisch bleibenden Realität, die ein ernsteres und tragischeres Problembewußtsein i n ihm weckte als das des typischen romantischen Denkers. Auch gegenüber der Vergangenheit nahm er diese Haltung ein. Das vergangene Faktum ist für den Romantiker etwas Plastisches und Formbares, ein bequemes Material zur Bildung von Kombinationen. Und die Geschichte ist für ihn ein Bereich, in den man vor der Gegenwart 66

io*

Zitiert bei Marquis de Noailles: Le Comte Molé, Bd. V I , S. 292.

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flieht. Aber die Geschichte, die Tocqueville interessiert, ist nah und drängend, w e i l sie die unheilvolle Gegenwart erzeugt hat, der er sich gegenüber sieht — jene Gegenwart, die auch die Überwindung seiner eigenen Gesellschaftsschicht besiegelt hat 6 7 . Aber wenn auch Tocqueville durchaus kein romantischer Theoretiker der Politik gewesen ist, muß man dennoch anerkennen (das möchte ich noch einmal wiederholen), daß i m gegebenen Rahmen ein romantisches Empfinden und entsprechende Stilformen i n der Ökonomie seines Denkens und seines wissenschaftlichen Werkes eine bedeutende Rolle spielten. Hätte Tocqueville nicht den Boden Amerikas durchwandert, um auf den Spuren Chateaubriands jungfräuliche Wälder und wilde Indianer zu sehen, dann wäre er nie zu jener geographischen Anschauung des Kontinents gelangt, die für die Interpretation der Demokratie bei i h m entscheidend ist. „Bei den Nordamerikanern", erklärt er, „ist alles außergewöhnlich: ihr sozialer Zustand wie ihre Gesetze; das Alleraußergewöhnlichste ist freilich der Boden, der sie trägt." Aber wenn auch Chateaubriand für ihn der Ansporn war, viele Tausende von Kilometern amerikanischen Bodens zu durchwandern, so entdeckten seine Augen doch i n Wirklichkeit ein Bild, das von dem romantischen B i l d i n den ersten Büchern Chateaubriands sehr verschieden war — obgleich sein letztes Buch über die Neue Welt, Voyage en Amérique (das Tocqueville bestimmt gelesen hat, bevor er seine Reise unternahm), bereits die mangelnde Übereinstimmung zwischen der wahren Realität und dem damals schon vor über dreißig Jahren entstandenen Bilde dieser Welt ans Licht gebracht hat 6 8 . Es wurde jedenfalls Tocqueville bald klar, wie rapide der Wald und die Indianer vor dem Triumph des weißen Mannes wichen — eines Mannes, der m i t der Natur viel härter umging als ein Franzose und der unfähig war, sich i n einen wirklichen Bauern zu verwandeln, denn er hatte einen viel tyrannischeren Sinn für die Ausbeutung des Bodens als irgend jemand auf dem alten Kontinent — unter anderem, weil man i n Europa den Boden pflegen mußte, wenn er tragen sollte, während er i n Amerika so groß und überfruchtbar war, daß man i h n schlecht behandeln durfte. Tocqueville hörte häufig die unerbittliche A x t des Pioniers, die anders klang als die der Holzhauer i n der Normandie und der Ile de France; und er hörte i n ihren verheerenden Schlägen so etwas wie einen Hymnus auf diese Gesellschaft, die eher eine Handels» und Industriegesellschaft als eine gesetzte Agrargesellschaft werden sollte. Einen Augenblick lang erwog er die Möglichkeit auch dieser Gesellschaft, wie sie i n Französisch-Kanada mit seinen Dörfern und Türmen i m 67 Schmitt, Carl: Historiographia i n nuce: Alexis de Tocqueville, i n Ex Captivitate Salus, K ö l n 1950, S. 25—33. 68 Oeuvres complètes de Chateaubriand, a.a.O., Itinéraire I I , S. 246.

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Stil des vorrevolutionären Frankreichs verwirklicht war; doch er bemerkte bald, daß eine solche Ancien-Régime-Gesellschaft keine Zukunft hatte. Diese Entdeckung war i h m schmerzlich — doch mußte er ihre Richtigkeit anerkennen, selbst wenn sie so schmerzte wie andere Erkenntnisse auch. Ein patriotisches Mitleid angesichts der dürftigen Zukunft Französisch-Kanadas 69 und eine wehmütige Freude an der Natur lagen diesem Schmerz zugrunde. Das sieht man an dem Manuskript von Quinze jours dans le désert, i n d e m n i c h t w e n i g e chateaubriandsche M o -

tive auftauchen, unter anderem der Name Miltons, jenes Dichters, den der Verfasser von Le génie du christianisme so gut kannte und so sehr bewunderte. „Das einzige, was man empfindet, wenn man diese blühenden Einöden durchstreift, i n denen alles wie i n Miltons Paradies bereitet ist, den Menschen zu empfangen, ist eine ruhige Bewunderung, ein süßes, melancholisches Gefühl, ein undeutliches Mißbehagen an der Zivilisation; eine A r t von wildem Instinkt, bei dem man nur mit Schmerz den Gedanken erträgt, daß diese köstliche Einsamkeit bald ihr Gesicht verändert. Schon dringt die weiße Rasse wirklich i n die Wälder ein, die sie umgeben, und binnen weniger Jahre hat der Europäer die Bäume gefällt, die sich i m lauteren Wasser der Seen spiegeln, binnen weniger Jahre hat er die Tiere an ihren Ufern gezwungen, in neue Einöden zurückzuweichen 70 . " Die europäischen Besucher sind fähig, eine solche Wehmut zu empfinden; wer i n Amerika wohnt, der kann es nicht. Die Natur der Neuen Welt kann nur auf die Bewohner der Alten Welt poetisch wirken. „Man beschäftigt sich in Europa", schreibt Tocqueville 71 , „viel mit den Einöden Amerikas, die Amerikaner aber denken nicht daran. Sie haben keinen Sinn für die Wunder der unbelebten Natur und bemerken die wunderbaren Wälder, die sie umgeben, i m Grund nur dann, wenn sie unter den Hieben ihrer Äxte fallen. Ihr Auge ist von einem anderen Schauspiel gefangen. Das amerikanische Volk sieht sich selber über diese Einöden marschieren, Sümpfe austrocknen, Flüsse kanalisieren, die Einsamkeit bevölkern und die Natur bezwingen." Die Landschaft und das Volk, das i n ihr wächst, ergänzen einander bei der Verwirklichung einer demokratischen Gesellschaft. „ I n den Vereinigten Staaten", erklärt Tocqueville, „arbeitet nicht nur die Gesetzgebung für das Volk, sondern auch die Natur ist demokratisch." Diese so pauschale und abstrakte Behauptung setzt eine höchst konzentrierte und geschärfte Empfänglichkeit für die Landschaft voraus. Genau so ist ββ Vgl. v o m Verf.: Imagen de Europa en las Utopias americanas de Tocquev i l l e i n Homenaje al Profesor Luis Legaz y Lacambra, Universidad de Santiago de Compostela, 1960. 70 Voyage en Sicile et aux Etats Unis, S. 360. 71 De la démocratie en Amérique i n O. C. d'A. de T. I I , S. 79.

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es bei vielen anthropologischen und soziologischen Erwägungen, die scheinbar höchst abstrakt sind, jedoch auf einen überaus scharfen Blick für menschliche Charaktere und Typen schließen lassen. Villemain w i r f t i n einem kritischen A r t i k e l über die beiden letzten Bände der Démocratie en Amérique i m Journal des Savants Tocqueville nach vielen ehrenvollen Bemerkungen seine allzu absoluten Verallgemeinerungen vor. Villemain vergleicht die Beschreibungen Tocquevilles, die dem sozialen Verhalten so große Aufmerksamkeit schenken, den Individuen dagegen wenig oder keine, mit jenen Bildern, die den Muslim trotz des religiösen Bilderverbotes erlaubt sind: „Man sieht darauf zwar Darstellungen von Dingen, Musketen, die losgehen, Kanonen, die schießen, und alle Requisiten eines Kampfes, jedoch nicht eine Gestalt." Sainte-Beuve denkt über diese Beobachtung Villemains nach und fragt sich: „Tocqueville verfügt über solche Gestalten, sein Tagebuch beweist es: aber weshalb behielt er sie i m Portefeuille 72 ?" Die Antwort hätte er finden können, wenn er die Souvenirs gelesen hätte, die freilich erst 1893 erschienen sind. Denn die Souvenirs enthalten eine glänzende Galerie von Personenschilderungen, die nicht geringer sind als die des Herzogs von Saint-Simon, des Kardinals von Retz oder selbst Balzacs; aber die Souvenirs sind ja auch ein Buch, das zur klassischen Gattung der Memoiren gehört. De la Démocratie en Amérique dagegen gehört zu der neuen Gattung der soziologischen Untersuchungen. Schilderungen von Individuen und Analysen von Personen und Persönlichkeiten, die Tocqueville kannte, fehlen zwar darin nicht gänzlich, sind aber stark typisiert: die Einzelprofile werden auf soziologische Kategorien gebracht. Genau so verhält es sich mit der geographischen Anschauung des amerikanischen Kontinents, die eine streng geopolitische Anschauung ist — zwar fundamental für Tocquevilles soziologisches System, aber doch durchdrungen von der poetischen Empfänglichkeit des Reisenden. Und schließlich verhält es sich ebenso mit Tocquevilles Anschauungen von der neuen demokratischen Literatur, die das gerade Gegenteil eines abstrakten Schemas ist, weil nach ihm demokratische und romantische 72 Nouveaux Lundis X , S. 297. U m seine Behauptung zu belegen, f ü h r t Sainte Beuve an (Causeries du L u n d i X V , S. 119), daß Tocqueville, der ein eifriges u n d aktives M i t g l i e d der Académie des sciences morales et politiques war, recht wenig zu den Sitzungen der Académie française kam, obgleich der K r i t i k e r sich entsinnt, „ i h n dort zweimal m i t einem bemerkenswerten Talent reden gehört zu haben". Aber man darf nicht vergessen, daß i n den beiden Akademien w ä h rend der zehn Jahre von 1840 bis 1849 eine ganz verschiedene Atmosphäre herrschte: i n der Académie française „la notabilité politique et la notabilité sociale l'emportent sur la valeur littéraire", während die von Guizot 1832 wiedergegründete Académie des sciences „Beweise einer geistigen Freiheit gab, die i n den ersten drei Vierteln des zwanzigsten Jahrhunderts sehr selten w a r " (Tudesq, André-Jean: Les grands notables en France (1840—1849), Paris, Presses Universitaires, 1964, Bd. I, S. 463 und 465.

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Literatur dasselbe ist; auch darin finden w i r wieder eine Verbindlichkeit Tocquevilles gegenüber Chateaubriand 73 . Sainte-Beuve (und auch der eine oder andere Spätere, der i n seinen Spuren ging und sich i m Schutze seiner größeren Autorität bewegte) war zu hart gegen Tocqueville und auch zu inkonsequent gegenüber sich selbst, als er behauptete, daß „keine M u s e . . . bei der Geburt des Denkens Tocquevilles zugegen war und lächelte". Ich sollte besser sagen, daß dieser K r i t i k e r der Literatur die Musen mit den gleichsam archaischen Augen des Dichters sah — so, wie sie Hesiod auf dem Helikon erschienen, aber nicht, wie sie später die Römer und nach ihrem Vorbild die Humanisten erblickten. Denn i n der späteren römischen Geschichte hatte man die Musen differenziert und jeder eine von neun verschiedenen Aufgaben zugeschrieben; einige davon waren kaum i m strengen Sinne künstlerisch, z. B. Geschichte und Astronomie, die man K l i o und Urania anbefahl. Sainte-Beuve könnte dagegen sagen, daß keine der römischen Musen über die Kunst der Politik zu wachen hatte, obgleich die Lateiner i n ihr vollendete Meister waren. Vielleicht, weil sie meinten, sie hätten es nicht nötig, sich zu diesem Tun inspirieren zu lassen, vielleicht auch, weil sie dachten, es sei doch allzu praktisch — die Römer haben jedenfalls die Politik nicht unter den Schutz einer Muse gestellt und damit nicht nur sich allein ein Unrecht zugefügt, sondern auch die Nachwelt der Hilfe beraubt, die ihr die klassische Mythologie stets bot, wenn sie imaginativ durch ein Stichwort, durch eine Transponierung oder eine Inversion die Bedeutung ihrer eigenen Intentionen oder einen überraschenden Umschlag in der Geschichte verstehen wollten 7 4 . Wir verständen ohne Zweifel die Bücher Montesquieus viel besser, wenn auf ihrem Titelblatt die Vignette der politischen Muse stände (jener strengen politischen Muse, die er angerufen hat); und wenn sie in der Hand ihr Instrument hielte und durch lange Traditionen geheiligt wäre. I m Fall Rousseaus t r i f f t das noch stärker zu. Die französische Revolution vollzog sich (erklärt Tocqueville) nach der Richtschnur und nach 73 Vgl. die interessante Analyse der K a p i t e l des Buches über die amerikanische Demokratie, die Kunst und Wissenschaft betreffen, von Teddy Brunius (Alexis de Tocqueville. The Sociological Aesthetician, Upsala I960). Brunius begnügt sich damit, den Namen Chateaubriands zu nennen, ohne sich m i t seinem literarischen Einfluß auf Tocqueville zu beschäftigen — obgleich er die Verschwägerung zwischen den beiden Autoren i n eine Blutsverwandtschaft (Onkel) verwandelt. Irrige Ansichten über die A r t der Verwandtschaft v e r t r i t t auch George Wilson Pierson (a.a.O. S. 4), der die beiden Schriftsteller zu Cousins macht. 74 Vgl. vom Verf.: Die Umkehrung des Klassischen Mythos i n der heutigen Literatur, i n Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Neue Folge, Erster Band (1960), S. 259—272, und La función del mito clâsico en la literatura contemporanea, Madrid, Gredos, 1957.

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den Maßstäben der Literaten — nicht nur, was ihre Ideen, sondern auch, was ihren besonderen geistigen Stil betrifft. „Die ganze Nation hatte schließlich dadurch, daß sie sie las, die Instinkte, die Denkart, den Geschmack und sogar die natürlichen Fehler der Männer angenommen, die diese Bücher geschrieben hatten." Aber Tocqueville fügt hinzu: „Sonderbar, daß w i r die Gewohnheiten bewahrten, die w i r der Literatur entnahmen, doch völlig unsere alte Liebe zu den schönen Wissenschaften verloren haben 75 ." Tocqueville hat sich diese Liebe trotz seiner eindeutigen Berufung zum politischen Theoretiker i m Grund und i n der Form seines Denkens bewahrt. Er konnte zwanzigmal einen Satz von neuem formulieren, damit er die Idee zum Ausdruck brachte, ohne daß ihre Grenzen unklar bleiben, und damit er sie i n konziser Form mit der brillianten Kürze eines Epigrammes zu äußern vermochte. Henry Reeves, der das Werk Tocquevilles ins Englische übertragen hat, der eng mit ihm befreundet war und den Stil seiner Prosa gut kannte, erklärt: „Alles ist daran gediegen wie ein Kunstwerk, und ich finde i n ihr die A n m u t und Wahrheit griechischer Plastik wieder 7 6 ." Wenn die Muse der Politik (gesetzt, daß es sie wider Erwarten gibt) je einen Denker des neunzehnten Jahrhunderts zu höchster intellektueller Verantwortung inspiriert hat, dann war es Alexis de Tocqueville. Aus dem Spanischen übersetzt von Rainer Specht, Mannheim

75 L'Ancien Régime et la Révolution, i n Oeuvres complètes d'A. de T. I, S. 200 u n d 201. 76 Correspondance anglaise, i n Oeuvres complètes d'A. de T., S. 169.

Theoderich u n d Clodwig Ein Brief an Carl Schmitt Von Walter Elze, Freiburg i. Br. Sehr verehrter Herr Carl Schmitt: ob die Form eines Briefes für meinen Beitrag zu der Ihnen gewidmeten Festschrift das rechte ist, muß der Brief selbst erweisen. Dem Gespräch verwandt erlaubt er besinnende Äußerungen auch über Erscheinungen und Meinungen, die scheinbar endgültig festgelegt sind. I n meinem Brief geht es um den Plan einer „concordia" des Abendlandes, den Theoderich unter der von i h m als Welteinheit empfundenen Oberhoheit des Augustus verfolgte und i h m gegenüber um die rheinische Neuschöpfung des Reiches durch Clodwig. Die Lebensgeschichte beider Männer darf ich als bekannt voraussetzen, muß aber sofort betonen, daß ich beide als Deutsche sehe. Gewiß hat sich die Bezeichnung „Germanen" — wenn auch erst i n der Neuzeit — durchgesetzt. Für das Erfassen der Einheit des damaligen Geschehens wie überhaupt unserer Geschichte m i t ihren Verwandtschaften vom hohen Norden bis tief i n den Süden führt sie besonders dann leicht zu I r r tümern, wenn man die Germanen zu scharf i n Nord-, Ost-, Süd- und Westgermanen unterteilt. I n Wirklichkeit waren es Menschen eines U r sprungs und einer Artung, die sich weder damals noch später je Germanen genannt haben, es sei denn i n einem nicht feststellbaren Kleinstgebiet oder etwa i n römischen Diensten. Wenn w i r unsere Vorfahren erst dann Deutsche nennen, wo sie sich selbst so nannten und wenn w i r ebenso bei den Germanen verfahren wollten, kämen w i r i n die reizvolle Verlegenheit, daß es nie, kaum oder erst i n der Neuzeit Germanen gegeben hat. Man darf auch nicht an der Tatsache vorbeisehen, daß i m Gegensatz etwa zu Skandinaviern, Indern, Persern, Griechen, Römern, Spaniern, Franzosen, Engländern und Amerikanern auch die bestimmende Schicht in Deutschland nicht eingewandert, sondern bei freilich wechselnden Grenzen von je her heimisch ist. Die Deutschen sind eines der Urvölker, wobei ich die Frage nach dem Ursprung der irrtümlich als Indogermanen bezeichneten Weltbewegung nur soweit andeuten w i l l , daß viel für die auch vertretene Ansicht spricht, daß der Strahlungskern dieser Bewegung i m Rhein-Donaugebiet lag. Auch wenn unsere Vorfah-

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ren für die Verwandtschaft ihrer Stämme und Völkerschaften wirklich keine gemeinsame Benennung gehabt haben, bleibt immer noch diese Verwandtschaft, die, wie w i r noch sehen werden, gerade für Theoderichs größten Plan eine entscheidende Rolle spielte. Eine Verwandlung der Goten, die sie aus der Einheit der Verwandschaften herausgelöst hätte, ist nicht zu erkennen. Auch die ursprüngliche Deutschheit der Franken ist unbezweifelbar. Zudem weisen die Namen etwa der Franken und Goten wie anderer auf eine wohl zu beachtende Einheit. Die Ausro- oder Austrogoten, also Ostrogoten, bedeuten die „Glänzenden", die Wisi- oder Wisugoten, also die Wesegoten, bedeuten die „Tüchtigen" und Franken bedeuten die „Kühnen". I n den etwa gleichzeitig angenommenen, neuen Namen sind Eigenschaften ausgedrückt, so daß sich ein i m Wesen einheitliches Namenband von den am Schwarzen Meer auf dem linken Flügel stehenden Goten hinzieht zu den auf dem rechten Flügel stehenden Franken. Theoderich war ostrogotischer Königssohn, war Geisel am Kaiserhof i n Konstantinopel, wo er allen Glanz, alle Künste und alle Gefahren des Cäsarentums i n sich aufnahm. M i t etwa 18 Jahren kehrte er aus der Vergeiselung zurück und trat mit zwanzig Jahren die Nachfolge seines Vaters als König der Ostrogoten an. Er nahm den alten Kampf gegen Ostrom wieder auf, versuchte ein Zwischenreich i n Griechenland zu errichten und kämpfte um Konstantinopel, wo er einsah, daß er an den Kräften scheitern mußte, die dem Augustus noch i n Kleinasien verfügbar waren. Er gab den Kampf gegen Ostrom auf und versöhnte sich mit dem Augustus. Als der i n Westrom herrschende Skirenfürst Odoakar mit Wendung gegen Ostrom die Rugier an der Donau besiegte, erhielt Theoderich vom Kaiser die Vollmacht zum Eingreifen in Westrom. Das Einschwenken Theoderichs von der Donau nach Italien hatte weltgeschichtliche Folgen, weil mit Preisgabe der unteren Donau die für unsere Vorfahren bis dahin gültige Einheit der Stromgebiete von Rhein und Donau aufgegeben wurde. Als Theoderich nach Italien aufbrach, war er kaiserlicher Beamter und Offizier als Statthalter und Oberster Befehlshaber. Zugleich stand er als angestammter König an der Spitze seines ostrogotischen Volkes. Nach der Besiegung und meuchlerischen Ermordung Odoakars ließ er sich zum Heerkönig aller teils mit ihm gezogenen, teils i n Italien noch befindlichen nichtgotischen Kräfte wählen. Später erreichte er vom Augustus die Übertragung der Regierungsgewalt derart, daß er i m Bereich Westroms i n eigener Verantwortung handelte, wurde aber nie Cäsar oder Augustus. Er trug das Purpurgewand und die imperatorischen Würdezeichen, prägte aber seinen Namen nur auf die Rückseite der Münzen und rechnete nicht nach seinen Regierungsjahren, sondern nach Konsulatsjahren. Er fügte sich ein i n die Einheit des Imperiums unter dem Augustus. I n einem späteren Schreiben an den Augustus heißt es:

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„Uns, Allergnädigster Kaiser, steht es an, den Frieden zu suchen... Ihr seid die schönste Zier aller Reiche, I h r seid der heilvolle Schutz aller Welt, auf Euch blicken mit Recht alle Regenten, weil sie erkennen, daß Euch etwas Einzigartiges i n n e w o h n t . . . Unsere Regierung ist das Nachbild der Euren, Eure das Muster rechten Vorhabens, das Inbild des einigen Imperiums . . . Eins i m Willen soll immer die Losung des römischen Reiches sein. Was W i r vermögen, w i r d immer nach Eurem Willen gerichtet sein." Dem Wesen nach war Theoderichs Ziel ein Friedensregiment gegenseitiger Annäherung, und „consolidanda concordia" war sein Streben. I n solchem Sinn blickte er auf die damals deutsch überzogenen Gebiete i n Afrika, Spanien, Gallien und weiter von da auf die Deutschen am Rhein und jenseits des Rheines. Die Befriedigung und Ordnung Westroms wollte er zur Friedenswelt des Abendlandes erweitern. I m Süden stehend und den Süden liebend glaubte er — erlauben Sie mir den Ausdruck — seine und des Imperiums „Freundschaftslinie" schirmend um das Abendland ziehen zu können, freilich eine Linie Roms. Die Stellung und die Macht wie das Ansehen, das er gewann, schienen ihn zum Befrieder und Schiedsrichter des Occidentes zu berufen. I m eigenen Geschlecht selbst göttlicher Abkunft nahm Theoderich i n sein jetzt zum Teil verdecktes Heidentum die vor i h m ausgebreitete Südwelt mit ihrem Imperium und ihrem Christengott so in sich auf, daß das Wunschbild einer erfüllten Weltordnung des Friedens i m Heil in ihm eine Verkörperung fand. Und bedurfte nicht gerade der Occident endlich nach seinen Schrecken und Wirren solches Friedens i m Heil? Gerade hier lagen Größe, Tragik und Grenze Theoderichs beschlossen: die Größe, weil er ganz erfaßte, was das Ganze bot; die Tragik, weil der Augustus, Rom und die katholische Kirche ihm schließlich unheimlich entglitten; die Grenze, weil trotz des Imperiums, trotz aller Uberlieferung und trotz des neuen Gottes Rom und das römische Imperium nicht mehr die bestimmende Geschehensmitte waren, seitdem der Osten des Erdteils durch die Hunnen aufgerissen wurde. Die Betrachtung Theoderichs und Clodwigs scheint mir so bedeutsam zu sein, weil auf der einen Seite eine wohl noch bestehende Welt i n der Gestalt eines großen und mächtigen Mannes ein Friedensbild der Welt auf höchster Ebene zur Erscheinung brachte und weil auf der anderen Seite der Wandel des Geschehens gerade ihm den Mann gegenüberstellte, der dem Rom-gebundenen Wunschbild des Endes schöpferisch die Rheingeborene Wirklichkeit einer neuen Gründung entgegensetzte. Clodwig war wesentlich jünger als Theoderich. Auch sein Königsgeschlecht der Merowinger war wie das der Amaler göttlichen Ursprungs. Wir kennen Clodwig nur als König. M i t 16 Jahren folgte er seinem Vater

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als einer der Teilkönige der Franken und mit 45 Jahren starb er als einziger König aller Franken, König des von ihm geschaffenen Reiches und als Schöpfer des Frankentums, das vom Rhein ausstrahlend die neue Welthaltung des Abendlandes bestimmte. Clodwig wäre allenfalls mit mythischen Gründern zu vergleichen. Ich wüßte nicht, welcher Gestalt der Geschichte er vergleichbar wäre. Kennzeichnend für ihn sind seine Unwiderstehbarkeit und sein Maßhalten. Er kannte die Gewalt, aber auch die Grenze seiner Kraft. Nie blieb er einen Schritt hinter seiner Mächtigkeit zurück, tat aber auch nie einen Schritt über sie hinaus: er vollstreckte. Seine Gründung, das Reich, hat das neue Europa mit allen Möglichkeiten freier Entfaltung seiner Völkerschaften entstehen lassen. Er bewahrte der Strahlungsmitte, dem Rhein, i m Gegensatz zu jeder A r t römischen Cäsarentums das überkommene Wesen deutscher Lenkung und deutschen Königtumes: die Verbürgung des Gedeihens durch den Bürgen des Heils. Alle späteren Wandlungen, Einflüsse und Renovationen können dieses Merkmal der Gründung Clodwigs nicht austilgen. Das Reich hat durch das Gründungselement der Bürgschaft nichts mit dem cäsarisch-römischen Imperium gemein. Alle späteren Versuche, dieses Grundelement zugunsten irgendeines Cäsarentumes abzuwandeln, sind stets gescheitert. Seinen entscheidenden Kampf hatte Clodwig mit den Alemannen zu bestehen, denn hier entschieden Sieg oder Niederlage darüber, wer über den Rhein verfügte. Nicht nur diese Entscheidung fiel durch Clodwigs Sieg, sondern hier fiel zugleich die Entscheidung über den Wirkungsbereich des neuen Gottes, denn vor diesem schwierigen Sieg entschied sich Clodwig i m Gegensatz zu den anderen christlich gewordenen Deutschen, auch Theoderich, für den Christus der römisch-katholischen Kirche. Diese Entscheidung barg i m Innersten eine vollkommene Folgerichtigkeit. I n ihren zähen Kämpfen um die Freiheit der Kirche i m Glauben haben die Bischöfe von Rom dem neuen Europa einen entscheidenden Dienst erwiesen: die Wahrung der Freiheit in den zartesten, aber bestimmenden Wirkungen des Göttlichen — für sie selbstverständlich i n römisch-katholichem Sinn. Es besteht da eine Kernverwandtschaft zwischen dem Königtum Clodwigs mit seiner innersten Feinheit der Verbürgung und diesem zentralen Punkt des römischen Papsttums, wenn auch besonders später diese weltbewirkenden Feinheiten überdeckt, verkannt oder mißachtet wurden. Wichtig ist nur, daß i n dem vordringenden christlichen K l i m a der Heide Clodwig den damals freiesten und zugleich stärksten Christus zum neuen Heilsgott seines Reiches erwählte. Die Entfaltung des Papsttums und die Geschicke Europas beruhen auf diesem Entschluß. Alle Zukunftswege des Abendlandes und damit weithin in der Welt wurden durch Clodwig bestimmt.

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M i t Theoderich stieß Clodwig vornehmlich durch seinen Kampf m i t den Wesegoten zusammen, einem Kampf, der alte Gegensätze austrug. Den Kampf mit Theoderich ließ Clodwig diplomatisch vorüberziehen und er behielt recht. Das Reich des Rheines war die ausstrahlende Mitte des sich neu formenden Europas, als Clodwig noch vor Theoderich starb. Zur Beleuchtung der beiden Gestalten möchte ich hier zwei Schreiben Theoderichs anführen. Zu deren Verständnis ist zu erwähnen, daß Theoderich i m Sieges jähr über Odoakar die Schwester Clodwigs heiratete. I m Jahr darauf gab er eine Tochter früherer Ehe dem Wesegoten Alarich II., eine andere einem Burgunder-König, seine Schwester dem Vandalen Trasamund und schließlich eine Nichte dem Thüringer König zur Frau. I n diesen von Nordafrika bis Mitteldeutschland reichenden Ehen eine „dynastische Heiratspolitik" zu sehen, kann leicht irreführen. I n der Welt unserer Vorfahren war das „Heil" die A l l k r a f t jeden Gedeihs und jeder Ordnung, der Götter, Menschen und Welt anheimgegeben waren, um gegen die polare Gegenkraft des „Unheils" bestehen zu können. Königsheil war der i m Königsgeschlecht vererbbare Anteil am Weltheil des Alls. Königsheil mit Königsheil zu vereinen, schuf eine bis i n das Kosmische reichende Verbindung. Weder i n Theoderich noch i n Clodwig darf man trotz ihrer christlichen Bekenntnisse die Gewärtigkeit ihres Heidentumes unterschätzen, was viele ihrer Handlungen beweisen. Die Heiraten, die Theoderich einging oder stiftete, waren für ihn Heilsvorgänge zugunsten seiner geplanten „concordia" des Abendlandes, denen freilich Clodwig mit seinem Königsheil gegenüberstand, das sich als das gesündere und stärkere Heil erweisen sollte. I n einem Schreiben, das Theoderich an Clodwig richtete, heißt es: „Darum wollten die göttlichen Rechtsamkeiten der Verwandtschaft zwischen den Königen zusammenwachsen, dass durch ihren versöhnlichen Geist die ersehnte Ruhe der Völker gediehe. Das nämlich ist heilig, was durch keine Bewegung verletzt werden darf . . . M i t dem Recht des Vaters und des Gefreundeten trete ich zwischen Euch. Der w i r d uns und unsere Freunde als Gegner finden, der — was W i r nicht glauben — sich solcher Mahnungen überhoben glaubt." Sind in diesem Schreiben Auffassungen und Gegensätze schon deutlich ausgesprochen, so geschieht das noch ausführlicher und schroffer i n einem Schreiben Theoderichs an nichtfränkische Könige am Niederrhein. Das Schreiben lautet: „Überheblichkeit — der Gottheit immer verhasst — muss von der Einmütigkeit der Allgemeinheit verfolgt werden, denn Der ist nicht gesonnen, den Übrigen das Rechte zu wahren, der mit bewusster Unbilligkeit ein Volk, das i h m i n den Sinn kommt, zu unterwerfen gewillt ist. Schlimmste Gepflogenheit ist es, die wahre Lebensordnung zu missachten. Der Hoffärtige, der i n einem verabscheuungswürdigen Kampf obsiegte, meint, i h m müsse alles weichen. Sendet deshalb Ihr, die selbstbewusste Tüchtigkeit aufrichtet

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und das Mitanschauen nichtswürdiger Anmassung ereifert, Eure Gesandten zugleich mit den Meinen und denen Unseres Bruders Gundobad (Burgund) zu Clodwig, dem König der Franken, m i t der Forderung, dass er entweder von der Billigkeit überzeugt in seinem Zusammenstoss mit den Wesegoten innehält und das Völkerrecht (leges gentium) achtet oder dass er das Eingreifen Aller zu gewärtigen habe, der sich dem Schiedsspruch so Vieler überhoben wähnt. Was hat denn Der noch weiteres zu suchen, dem volle Billigkeit angeboten wird? Klar heraus w i l l ich sagen, was ich denke: wer ohne Gesetz zu handeln gewillt ist, geht darauf aus, die Reiche allesamt zu zerschlagen. Aber es ist besser, dass solche gefährliche Anmassung schon i m Keim erstickt wird, damit Alle gemeinsam mühelos erreichen, was für die Einzelnen vielleicht ein ungewisser Kampf sein würde. Und erinnert Euch doch an das Wohlwollen des greisen Eurich (des grossen Wesegoten), wie er Euch beistand und wie oft er für Euch Kriege mit Euren Nachbarn beilegte. Jetzt erweist seinem Sohn den Dank, der zugleich Eurem eigenen Heil dient. Denn wenn Clodwig über einen so grossen König das Übergewicht gewönne, dann nimmt er sich ohne Zweifel den Angriff auf Euch vor. Darum grüssen Wir Eure Exzellenzen in diesem Handschreiben durch Unsere Gesandten und haben die Überbringer angewiesen, Euch mündlich noch Einiges zu sagen, damit Ihr mit Gottes Hilfe Unserem Vorschlag folgt, volle Übereinstimmung erzielt w i r d und Ihr i n fremden Gebieten das Ziel erreicht, um das Ihr sonst wohl in den Eurigen kämpfen könntet." Beide Schreiben sind völlig klar. Das Wunschbild Theoderichs, Stifter der concordia des Abendlandes und selbst der Schiedsrichter zwischen den damals allenthalben deutschen Königen zu sein, gibt den Schreiben die Grundlage. Dabei ist zu erinnern, daß Theoderich i n der Überlieferung und der noch bestehenden Wirklichkeit des römischen Imperiums die „wahre Lebensordnung" sah, deren letzter Vervollkommnung i n der „ersehnten Ruhe der Völker" er selbst diente. Ein Reich des Rheines außerhalb der concordia und außerhalb der Einheit des Imperiums war für ihn eine „der Gottheit immer verhaßte Überheblichkeit". Clodwig w i r d als Verbrecher an der Heiligkeit dessen dargestellt, was „durch keine Bewegung gestört werden darf". Für den ohne Maß übertriebenen und wohl nur imperial-römisch zu erklärenden Vorwurf, daß Clodwig „die Reiche allesamt zerschlagen" wolle, fehlt i n Clodwigs Verhalten jede Begründung. Clodwig bewies immer wieder — auch gegenüber Theoderich —, daß er wohl einen Umkreis seiner Gründung absteckte, ihn aber nicht überschritt. Der Gründer einer neuen Entfaltung ist etwas anderes als der Friedensfürst eines Endzustandes. Von Clodwig sind keine Schreiben erhalten. Außer wenigen blitzartigen Aussprüchen i n anderen Zusammenhängen steht nur seine Gründung des Reiches i n der Weltgeschichte. So lassen sich auch nicht Worte gegen Worte setzen. Es bleibt

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nur i m ewigen Wandel der Dinge der ewige Gegensatz zwischen Enden und Beginnen. Theoderichs Leben Schloß umdüstert und sein Wirken mündete ein i n den heidnisch-heldischen Untergang seiner Goten. Clodwig starb, als er sein Werk wandlungsfähig und zukunftskräftig vollbracht hatte. Nehmen Sie, verehrter Herr Carl Schmitt, diesen Brief nur als einen Gruß von mir, den Männer von mir erbaten, die auch i n Plettenberg zu Ihnen stehen. Gedenkend und grüßend W.E

D i e politische Theologie Louis-Claude de Saint-Martin's Von K a r l Epting, Heilbronn Franz von Baader vergleicht i n der Vorrede zum zweiten Band der Schubert'schen Übersetzung von Louis-Claude de Saint-Martin's „Vom Geist und Wesen der Dinge", die 1811 und 1812 in Leipzig erschien, das Werk des „Philosophe inconnu" mit „einem stillen tiefen See i m Frühling, auf dessen Spiegel die Gedanken wie schöne Wasserblumen zwar nur lose zu schwimmen scheinen, deren aber doch jede von dem Grund des Sees sich erhebend tief i n selbem wurzelt". Baader freut sich darüber, daß gerade i n Frankreich, wo „jener Froschlaich der sogenannten Aufklärung am frühesten und erspießlichsten fruktifizierte", von wo aus „ganz Europa mit der Brut dort ausgeheckter materialistischer und Gottund Naturläugnender Systeme überschwemmt worden ist", und zu einer Zeit, „wo diese Irrlehrer am frechesten ihre Stimme erhüben", ein Schriftsteller auftrat, „welcher die alte, von den sogenannten Mystikern und Theosophen aller Zeiten bekannte — den Pharisäern zum Ärgernis und den Sadduzäern zur Thorheit dienende — Lehre der harmonia luminis naturae et gratiae, wie Baco sich ausdrückte" 1 , vorgetragen habe. Baader hinterließ eine Fülle von Erläuterungen zu den Schriften Saint-Martin's, die von Friedrich von der Osten-Sacken i n der Leipziger Ausgabe von 1860 der „Sämtlichen Werke" Baaders gesammelt worden sind 2 . Zu gleicher Zeit hat sich K. A. Varnhagen von Ense mehrfach mit Saint-Martin beschäftigt. I n seinen „Denkwürdigkeiten" 3 nahm er den Bericht über zwei Gespräche Saint-Martin's auf, „des edlen Jüngers einer wahrhaft liebenswürdigen Weisheit", dessen „Andenken i n Deutschland durch Rahel, in Frankreich durch Custine, Sainte-Beuve, und andere höhere Schriftsteller, zu steigender Verehrung ausgebreitet worden" ist. Auch seine Übersetzung der „Lettre à un ami, ou considérations politiques, philosophiques et religieuses sur la Révolution française" ist in die „Denkwürdigkeiten" aufgenommen worden 4 . Varnhagen klagt darüber, daß 1

V o m Geist und Wesen der Dinge, I I . Theil, Leipzig 1812. von Baader, Franz Xaver: Erläuterungen zu sämtlichen Schriften von Louis-Claude de Saint-Martin. Herausgegeben u n d m i t Einleitung von Friedrich von der Osten-Sacken, Bd. 12 des Gesamtwerkes, Neudruck der Ausgabe Leipzig 1860, Aalen 1963. 3 Varnhagen von Ense, Κ . Α.: Denkwürdigkeiten und Vermischte Schriften. 2. Aufl., I V . Bd.: Vermischte Schriften, Erster Theil, Leipzig 1843, S. 33 ff. 4 a.a.O., Bd. 6, S. 411 ff. 2

11 Festschrift f ü r C a r l S c h m i t t

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Saint-Martin's Schriften „sich selten irgendwo beisammen finden und manche gar nicht zu bekommen" sind 5 . Diese Klage ist auch heute noch berechtigt. A m Ende des achtzehnten Jahrhunderts und i n der ersten Hälfte des neunzehnten sind zwar eine ganze Reihe der Werke SaintMartin's übersetzt worden, aber sie verschwanden schnell wieder aus der öffentlichen Auseinandersetzung. Vorhanden ist eine Übersetzung des Werkes „Des erreurs et de la vérité" aus der Feder von Matthias Claudius, 1782, eine 1783—1785 i n Reval und Leipzig bei Albrecht erschienene Übersetzung des „Tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l'Homme et l'Univers", eine Übersetzung des „L'Homme de désir" durch Adolph Wagner, erschienen vermutlich 1813 in der Joachim'schen Buchhandlung i n Leipzig, eine Übersetzung des „Ecce homo", erschienen i n Leipzig 1819, die bereits zitierte Übersetzung von „De l'esprit des choses" durch G. G. Schubert, ferner eine Übersetzung des „Le Ministère de l'Homme-Esprit", Münster 1845, und ein von W. A. Schickedanz 1833 herausgegebener Auszug aus den nachgelassenen Schriften. Erst 1922 findet sich eine weitere Übersetzung der Schrift „Ecce homo" durch A. W. Sellin. I n Frankreich hat die Beschäftigung m i t Saint-Martin durch die erstmalige Veröffentlichung des integralen Textes von „Mon portrait historique et philosophique (1789—1803)" durch Robert Amadou i m Jahre 1961 einen neuen Auftrieb erhalten. Seitdem sind mehrere Schriften i n kleineren Verlagen neu gedruckt worden. Aber auch i n Frankreich ist SaintMartin, seit den Studien von L. Moreau, E. Caro und M. Matter 6 i n den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts und seit der Besprechung von Sainte-Beuve i m zehnten Band der „Causeries du lundi", 18547), fast hundert Jahre vergessen gewesen. Der Grund hierfür mag in der Tatsache liegen, daß Saint-Martin's persönliches Wirken vor und während der Revolution fast ausschließlich auf die großen Adelshäuser und den i n ihren Salons verkehrenden Personenkreis beschränkt war, daß seine Bücher sich von vornherein nur an die wenigen richteten, die seinen spekulativen Gedankengängen zu folgen vermochten, und daß er auf die tragende Kraft und den Schutz einer größeren Gemeinschaft verzichten mußte, nachdem sich sein persönlicher Glaube vom offiziellen Katholizismus mehr oder weniger entfernt hatte, wenn auch die abwertende Bemerkung de Maistre's in den „Soirées de Saint-Pétersbourg", Saint-Martin habe nicht an die „Legitimität des christlichen Priester5

a.a.O., Bd. 4, S. 33. • Moreau, L.: Le Philosophe Inconnu. Réflexions sur les idées de LouisClaude de S a i n t - M a r t i n le Théosophe, suivies de fragments d'une correspondance inédite entre S a i n t - M a r t i n et Kirchberger, Paris 1850. Caro, E.: Essai sur la vie et la doctrine de S a i n t - M a r t i n Le Philosophe inconnu, Paris 1852. Matter, M.: Saint-Martin, le Philosophe inconnu. Sa vie et ses écrits. Son maître Martinez et leurs groupes d'après des documents inédits, Paris 1862. 7 Sainte-Beuve: Causeries du lundi, Paris s. d. T. 10, S. 235 ff. u n d 257 ff.

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turns" geglaubt, unrichtig ist 8 . Saint-Martin hat die Gedanken der Enzyklopädisten, den „philosophischen Atheismus" und den „revolutionären Materialismus", wie es J. B. M. Gence in seiner „Notice biographique" 9 formuliert, stets bekämpft, ohne i m eigentliche Sinne zu den gegenrevolutionären Schriftstellern zu gehören. Die Wirkung des Philosophen mag i n verschiedenen Kreisen sehr bedeutend gewesen sein, wenn sie auch i m wesentlichen unsichtbar und kaum faßbar geblieben ist. Varnhagen von Ense hebt mit Recht hervor, daß sein „Verhältnis zur Herzogin von Bourbon, der Tante des jetzigen Königs der Franzosen" wohl für sich allein einer Darstellung wert gewesen wäre 1 0 , denn Saint-Martin ging nicht in erster Linie als Schriftsteller, sondern als Berater und geistlicher Führer der Menschen, die ihm nahestanden, durchs Leben. Er hat i n vielen der frivolen, dem Untergang geweihten Salons eine stille, den bewahrenden Kräften dienende Wirkung ausgeübt. Von früher Kindheit an erhielt Saint-Martin eine strenge, religiöse Erziehung. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt, in Amboise, am 18. Januar 1743, gestorben, aber eine zweite Mutter weckte i n ihm jene Liebe und Verehrung, die für sein ganzes Leben charakteristisch werden sollte; sein religiöses Wort war immer auch an bedeutende Frauen gerichtet, die ihn aufnahmen und förderten und die er aus der Distanz des Gentilhomme einfacher Herkunft verehrte. Sein Vater ließ ihn nach dem Collège Rechtswissenschaft studieren, vermutlich an der Ecole de droit i n Orléans. Dort lernte er die Werke von Montesquieu, Voltaire, Rousseau und der anderen Zeitgenossen kennen, die i m Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen und die dann den Hintergrund bildeten, auf dem er i n seinem ersten Werk „Des erreurs et de la vérité" seine eigenen Gedanken entwickelte. I n der „Magistrature", in die er nach Abschluß seiner Studien als „Avocat du roi" am „Siège présidial" von Tours aufgenommen wurde, hielt es ihn nur sechs Monate. Er verließ die Beamtenlaufbahn und trat i n die Armee ein, vom Duc de Choiseul, der mit der Familie Saint-Martin befreundet war, mit einem Offizierspatent versehen. Das „Régiment de Foix", dem er zugewiesen wurde, war in Bordeaux stationiert. Einige Offizierskameraden führten ihn hier einem Kreise zu, der sich um den konvertierten jüdischen Mystiker orientalischer Herkunft Martines de Pasquallys gebildet hatte. Es läßt sich bis heute nicht feststellen, welches der eigentliche Kern der Botschaft von Martines de Pasquallys gewesen ist, da von ihm keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen worden sind. Die Neigung der Menschen des 18. Jahrhunderts zu Geheimgesellschaften 8

Les Soirées de Saint-Pétersbourg ou Entretien sur le gouvernement temporel de la Providence suivis d'un traité sur les sacrifices par M. le Comte Joseph de Maistre, Anvers 1821, Tome second, S. 243. 9 Notice biographique sur Louis-Claude de S a i n t - M a r t i n ou Le Philosophe inconnu, Paris 1824, S. 6. 10 a.a.O., Bd. 4, S. 33. 1

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mit ihren Meister-Schülerverhältnissen, ihren sukzessiven Einweihungen und Graden, wie sie sich auch i n der sprunghaften Entwicklung der Freimaurerei und des Illuminatenordens offenbarte, kam seiner Botschaft, die zu einem großen Teil wohl auf gnostische und kabbalistische Traditionen zurückging, entgegen. Noch Jahrzehnte nach seinem einsamen Tod 1779 auf San Domingo gab es i n Frankreich, i n Deutschland, i n den Niederlanden und i n den nordischen Ländern Kreise, die sich auf ihn beriefen, wobei innerhalb dieser schwer faßbaren Gruppen wieder gewisse Unterschiede auftraten zwischen „Martinesisten" und „Martinisten". SaintMartin galt bei manchen als Nachfolger von Martines de Pasquallys, obwohl er sich schon i n Bordeaux von den mehr äußerlichen Praktiken seines ersten Meisters zu lösen begonnen hatte. Martines de Pasquallys verließ 1768 Bordeaux. I n den folgenden Jahren bis 1778 hielt er sich abwechselnd i n Paris und Lyon auf, ohne daß über sein Leben und seine weitere Tätigkeit genaueres bekannt geworden wäre. Sein Pariser Kreis spaltete sich nach seinem Weggang i n zwei Gruppen, die „Grands-Profès" und die „Philalèthes". Saint-Martin, der nach längeren Aufenthalten i n den Garnisonen von Lorient und Longwy 1771 den Dienst quittierte, um sich ganz seiner nach innen gerichteten Aufgabe zu widmen, gehörte keiner dieser Gruppen an. Ein bescheidenes Vermögen erlaubte ihm, unabhängig zu bleiben. I n Lyon und Paris erhielt er bald Z u t r i t t zur höchsten Gesellschaft. Er verkehrte bei den Duc d'Orléans, Duc de Bourbon, Duc des Bouillon, beim Maréchal de Richelieu, den er schon von Bordeaux her kannte und der ihn mit Voltaire zusammenbringen wollte, i n den Häusern der Lusignan, Choiseul, Noailles, Flavigny, Montulé, Montaigu, Clermont-Tonnerre, Chabanais und vielen anderen. 1775 erschien i n Lyon sein erstes Werk „Des erreurs et de la vérité" unter der Autorenbezeichnung „Philosophe inconnu", unter der er später i n die Literaturgeschichte eingehen sollte. Über den Titel und die Tradition der „Philosophes inconnus" hat Robert Amadou eine historisch-kritische Studie veröffentlicht 11 , aus der deutlich wird, daß sich Saint-Martin mit diesem Titel i n keiner Weise einer obskuren alchimistischen Tradition, i n der die Bezeichnung schon lange verwendet worden war, anschließen wollte — er hatte eine tiefe Abneigung gegenüber allem Okkulten, das i n Frankreich in eben diesen Jahren durch die Kunde von den Erfahrungen Swedenborgs einen starken Auftrieb erhalten hatte —, sondern daß ihm daran gelegen war, dem Begriff des Philosophen die alte Würde des Welt- und Gottesweisen zurückzugeben, i n einer Zeit, i n der sich jeder für einen „Philosophen" hielt. 1782 erschien, ebenfalls in Lyon, das zweite Werk „Tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l'Homme et l'Univers". 11 Amadou , Robert: Le „Philosophe Inconnu" et les „Philosophes Inconnus". Etude historique et critique i n „Les Cahiers de la Tour Saint-Jacques" V I I , H. Roudil, Editeur, Paris s. d. S. 65 ff.

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Saint-Martin reiste i n jenen Jahren zweimal nach Italien, 1778 und 1787, das zweite Mal i n Begleitung und auf Kosten des Fürsten Alexis Galitzin, den er i n Begleitung anderer Russen, die mit dem „Martinismus" sympathisierten, kurz vorher i n London kennengelernt hatte. I n London war er dem Werk W i l l i a m Laws begegnet, der in der Überlieferung von Jane Leade und der von ihr gegründeten „Philadelphischen Gesellschaft" die Werke Jakob Boehmes ins Englische übertragen und dessen Gedanken mit großem Erfolg auch unter den Mitgliedern der Anglikanischen Kirche verbreitet hatte 1 2 . Auch i n England verkehrte Saint-Martin, eingeführt von der Marquise de Coislin, der Frau des französischen Botschafters, i n den Kreisen des höchsten Adels. Es ist unbekannt, warum er nach verhältnismäßig kurzer Zeit London wieder verließ und sich von Fürst Galitzin zu einer zweiten Reise nach Italien mitnehmen ließ. Die Neigung des Russen zu mystischer Frömmigkeit mag einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben. Außerdem muß er beim Fürsten, wie bei dessen Begleiter Thiemann, die gleiche Leidenschaft für die „grands objets" des meditativen christlichen Lebens, denen er selbst sein ganzes Leben widmete, entdeckt haben. Unbekannt ist auch, zu welchem Zeitpunkt er sich nach einem römischen Aufenthalt mit Begegnungen i n der glänzendsten kurialen Gesellschaft von Fürst Galitzin trennte. 1788 sehen w i r ihn jedenfalls i n Begleitung eines anderen Russen, de Kachelof, den er ebenfalls i n London kennengelernt hatte, auf dem Sommerschloß der Herzogin von Württemberg i n Etupes bei Mömpelgard. Die Herzogin empfing ihn mit großer Freundlichkeit; sie war ihm bereits vorher i n der Pariser Gesellschaft begegnet. I m Juni 1788 treffen w i r Saint-Martin i n Straßburg, wo er dann drei Jahre blieb. Wer ihn auf Straßburg hingewiesen hat, die englischen Anhänger Jakob Boehmes oder die Baronin von Oberkirch, die mehrmals nach Etupes gekommen war, oder ob es sein Wunsch war, über Straßburg nach Deutschland zu reisen und er i n Straßburg hängen geblieben ist, wissen w i r nicht. I n Straßburg begegnet er dem eingesessenen elsässischen Adel, den Familien der dorthin versetzten französischen Notabein und vor allem auch den „Stillen i m Lande", für die Straßburg i n jenen Jahren ein Mittelpunkt war, i n dem verschiedene Ströme mystischer und pietistischer Frömmigkeit zusammentrafen. Saint-Martin hat später, als er nach dreijährigem Aufenthalt 1791 von seinem kranken Vater nach Amboise zurückgerufen wurde, Straßburg als sein Paradies, Paris als sein Purgatorium und Amboise als seine Hölle bezeichnet. I n Straßburg fand er einen Kreis gleichgesinnter Menschen, unter ihnen Charlotte von Boecklin von Boecklinsau, geborene von Roeder, die ihn zum zweitenmal nach den englischen „Behmenists" nachhaltig auf Jakob Boehme hinwies. U m Boehmes willen lernt er Deutsch, und von nun an 12 Hutin, Serge: Les disciples anglais de Jacob Boehme au X V I I e et X V I I I e siècles, Paris 1960, S. 152 ff.

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ist der protestantische Mystiker sein zweiter großer Meister, um dessen Verständnis er sich Zeit seines Lebens bemühen wird. I n dem damals einsetzenden jahrelang geführten Briefwechsel m i t dem der Berner Regierung angehörenden Baron Kirchberger von Liebisdorf bildet Boehme den Mittelpunkt. Saint-Martin w i r d später versuchen, Boehme durch eigene Übersetzungen den Franzosen nahezubringen 13 . I n Straßburg erlebt er auch die ersten Auswirkungen der Revolution. Die Revolution erhebt all das auf den Thron, was er selbst durch Jahrzehnte bekämpft hatte. Aber er nimmt sie i n seinem persönlichen Leben an als ein Teil des von Gott über ihn verhängten Schicksals, und später w i r d er in einer besonderen Schrift versuchen, das Rätsel dieses Ereignisses geschichtstheologisch zu entziffern. Die Jahre von 1791 an verbringt er abwechselnd i n Amboise, Paris und auf den Landsitzen seiner Pariser Freunde. I n all diesen Jahren ist der Mensch i m Verhältnis zu seinem „Prinzip" und i m Verhältnis zur Welt das einzige Thema seines Denkens: 1790 erscheint „L'Homme de désir", eine Folge zum Teil hymnischer Betrachtungen, 1792 „Ecce homo", das er für die Duchesse de Bourbon verfaßt, 1796 „Le Nouvel Homme" und 1802 das vierte seiner Homo-Bücher „Le Ministère de l'Homme-Esprit". Dazwischen liegen verschiedene politische Schriften: 1795 „Lettre à un ami, ou considérations politiques, philosophiques et religieuses sur la Révolution française"; 1797 „Eclair sur l'association humaine"; 1798 „Réflexions d'un observateur sur la question proposée par l'Institut,Quelles sont les institutions les plus propres à fonder la morale d'un peuple'" und 1798 „Le Crocodile, ou la guerre du bien et du mal, arrivée sous le règne de Louis X V " , eine groteske Prosadichtung halb mythologischen, halb allegorischen Charakters, i n die Saint-Martin manche seiner naturwissenschaftlichen Auffassungen mit hineingearbeitet hat. Die weithin aphoristischen Betrachtungen der 1800 erschienenen zwei Bände des Werks „De l'esprit des choses, ou coup d'oeil philosophique sur la nature des êtres et sur l'objet de leur existence" fassen noch einmal i m Anschluß an Jakob Boehmes „De signatura rerum" seine mystischen Gedanken zusammen, wie denn der geistige Schwerpunkt des letzten Jahres bis zu seinem Tode am 18. Oktober 1803 ganz wesentlich auf der Beschäftigung mit seinem deutschen Meister ruht. Das Verhältnis zwischen den einzelnen Werken, die Saint-Martin i n dem Vierteljahrhundert schriftstellerischen Wirkens veröffentlicht, ist nicht das der Entwicklung, sondern der Entfaltung. Die Gedanken der letzten Bücher finden sich bereits i n den ersten, obwohl jede einzelne Schrift ein besonderes Anliegen ausspricht und einen eigenen Charakter 13

L ' A u r o r e naissante, ou la Racine de la philosophie, traduite sur l'édition allemande de Gichtel, avec une notice sur Boëhm, 1800; Les Trois Principes de l'essence divine, 2 vol, 1802; De la t r i p l e vie de l'homme, traduction revue par M. Gilbert, Paris 1809; Quarante Questions sur l'âme, suivies des six points et des neuf textes, traduction revue par M. Gilbert, Paris 1807.

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besitzt. Saint-Martin umkreist die gleichen Fragen i n immer neuen Spiralen, bemüht, das göttliche Licht ohne Trübung immer klarer i n die Welt einstrahlen zu lassen, die Wahrheit immer transparenter und faßlicher zu machen. Das „höchste Prinzip" ist nach i h m der Ausgangspunkt alles Seins, „die Quelle aller Mächte, derer, die das Denken i m Menschen lebendig machen, wie derjenigen, die die sichtbaren Werke der materiellen Natur zeugen; dieses Wesen, das allen andern Wesen nötig ist, Keim allen Handelns, von dem unaufhörlich alle Existenzen ausgehen, das Endziel, auf das hin sie wie i n einem unwiderstehlichen Bemühen ausgerichtet sind, weil alle das Leben suchen; dieses Wesen, sage ich, ist jenes, welches die Menschen gemeinhin Gott nennen. Welches auch die engen Vorstellungen sein mögen, die grobes Unwissen sich bei den verschiedenen Völkern von diesem Wesen gebildet haben mögen, alle Wesen werden, wenn sie i n sich selbst hinabsteigen und des unzerstörbaren Gefühls, das sie von diesem Prinzip haben, innewerden, erkennen, daß das Prinzip seinem Wesen nach das Gute ist und daß jedes Gut von i h m ausgeht; daß das Übel nichts anderes ist als das, was dem Prinzip entgegensteht; daß es also das Böse nicht wollen kann, sondern daß es i m Gegenteil seinen Werken, infolge der Herrlichkeit seiner Natur, das ganze Ausmaß an Glück verschafft, zu dem diese nach ihren verschiedenen Klassen fähig sind, obgleich die von i h m verwendeten M i t t e l unsern Blicken noch verborgen sind" 1 4 . Durch den Willen des höchsten Prinzips ist das Universum entstanden, das gleichsam „ u n être à part" ist: „Es ist der Gottheit fremd, obwohl es dieser weder unbekannt, noch gleichgültig ist. Es hat am göttlichen Wesen keinen Anteil, obwohl Gott sich damit befaßt, es zu unterhalten und zu regieren. Es nimmt aber auch nicht teil an der Vollkommenheit, die der Gottheit zugehört; es bildet keine Einheit mit ihr, infolgedessen ist es auch nicht i n der Schlichtheit der Gesetze einbegriffen, die der göttlichen Natur wesentlich und eigentümlich sind 1 5 ." Der Mensch nun ist mitten zwischen Gott und die Natur gestellt, denn es gibt drei Arten von Wesen: Gott, die geistigen Wesen und die physische Natur. Der Mensch hat die hohe Aufgabe empfangen, das ewige Licht als Gottes Ebenbild aufzunehmen. Denn er ist „das einzige von der Hand Gottes geschriebene Werk" und deshalb auch „das natürlichste und einzige Medium zwischen Gott und der Welt". „Er ist das Gesetzbuch Gottes und war ursprünglich bestimmt über die Erhaltung des göttlichen Gesetzes bei den Bewohnern aller verschiedenen Regionen zu wachen. Er ist das einzige Wesen, i n welchem Gott wohnen kann, w e i l er das einzige Buch ist, welches der lebendige Geist Gottes erfüllt, während alle andern, 14 Tableau naturel des rapports q u i existent entre Dieu, L ' H o m m e et l ' U n i vers, 2 vol, A Edimbourg 1782,1, S. 16 f. 15 a.a.O., I, S. 19.

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auch die besten Bücher, nur Zeugnisse geben von seinem Erkennen 1 6 ." Der Mensch hatte den Auftrag, Gott da „fortzusetzen, wo er sich nicht mehr durch sich selber erkennbar macht. Nicht in seiner radikalen und göttlichen Ordnung, i n seinem undurchdringlichen Ursprung, setzt er ihn fort, weil Gott hier nie aufhört, sich durch sich selbst erkennbar zu machen, weil er dort seine geheime und ewige Erzeugung bewirkt, sondern i m Bereiche der Offenbarungen und Ausströmungen, weil Gott sich hier nur durch seine Ebenbilder und seine Repräsentanten erkenntlich macht" 1 7 . Das ist der ursprüngliche Stand des Menschen. Nun hat aber der Mensch durch seinen Sündenfall diesen Stand verloren. Das Böse kam i n die Welt, nicht durch Gott, „der ausschließlich die Quelle alles Guten" ist, auch nicht durch die physische Natur, die „weder frei noch denkend ist". Man muß dessen Ursprung notwendigerweise, da es nur drei Arten von Wesen gibt, dem Menschen oder „jedem andern Wesen, das wie er eine Mittelstellung innehat", zuschreiben 18 . Das höchste Prinzip ist seinem Wesen nach Ordnung, Friede, Harmonie; es kann deshalb für das Durcheinander, das „ i n allen Teilen unserer dunklen Behausung" 19 herrscht, nicht verantwortlich gemacht werden. Infolge des Sündenfalls „haben alle sinnenhaften Kräfte des Universums, die i m Bereich der Zeit in einer dem Menschen untergeordneten Weise hätten tätig sein sollen, auf ihn eingewirkt und ihn m i t ihrer ganzen Kraft und all ihrer Macht zusammengedrückt. Umgekehrt fanden sich alle geistigen Kräfte, mit denen er i m Einverständnis hätte handeln und die ihm eine Einheit des Wirkens hätten vermitteln sollen, gegen ihn geteilt und von ihm getrennt; jede Schloß sich i n ihre eigene Sphäre und Region ein; so daß das, was einfach und eines für ihn war, nun vielfach und geteilt wurde; das, was geteilt und vielfach war, aber zusammenschoß und ihn mit seinem Gewicht erdrückte; das heißt, daß für ihn das Sinnenhafte (le sensible) den Platz des Geistigen und das Geistige den des Sinnenhaften einnahm 2 0 ." Aber Gott hat den Menschen nicht aufgegeben. Er hat ihm den Mittler und „réparateur" geschickt. I n jedem Augenblick wendet er sich auch an jeden einzelnen Menschen, um ihn wieder zu sich zu ziehen. „Wenn der Mensch einige Augenblicke das betrachtet, was i n dem verborgenen Wesen seines Innern vorgeht, w i r d er 16 Vom Geist u n d Wesen der Dinge oder philosophische Blicke auf die N a t u r der Dinge und den Zweck ihres Daseyns wobei der Mensch überall als die Lösung des Räthsels betrachtet w i r d . Aus dem Französischen des H e r r n von St. M a r t i n übersetzt von Dr. G. G. Schubert, Direktor des Realinstituts zu Nürnberg, 2 Bde., Leipzig 1811 u n d 1812,1, S. 105. 17 Einleitung von Friedrich von der Osten-Sacken zu Band X I I der „Sämtlichen Werke" von Franz Xaver von Baader, X I I , S. 34. 18 Tableau naturel, I, S. 34 f. 19 a.a.O., I, S. 25. 10 a.a.O., I, S. 113 f.

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bald finden, daß die Strahlen des Göttlichen noch immer i n dasselbe hineindringen, daß sie ohne Unterlaß i m ganzen Menschen das Dunkel seines Innern durchbrechen, sich hier ausbilden, jeden nach seiner Eigentümlichkeit und seiner A r t ordnen, und wenn sie dann von diesem wunderbaren Spiegel aufgefaßt werden, strahlen sie auf ihre höchste Quelle zurück, und stellen sich dieser i n einer A r t von Verkörperung als etwas selbständig Unterschiedenes dar, was sie vorher nicht vermochten und wodurch sie ihr gleichsam fühlbarer werden 2 1 ." Die freien Wesen, die vom „großen Prinzip" unterschieden sind, können zwar den geistigen Einflüssen, die beständig auf sie herabsinken, ausweichen. Es kann auch sein, daß diese geistigen Einflüsse auf ihrem Wege eine Gegenwirkung erfahren, aber der, der den Menschen „diese heilvollen Geschenke zusendet, schließt niemals seine wohltätige Hand. Er hat immer dieselbe Tätigkeit. Er ist immer i n gleicher Weise stark, i n gleicher Weise mächtig, i n gleicher Weise rein, i n gleicher Weise unbewegt gegenüber den Verirrungen seiner freien Hervorbringungen, die von sich aus i m Verbrechen untertauchen und das Böse zur Welt bringen können unter dem ausschließlichen Hecht ihres eigenen Willens" 2 2 . I n dieser Bewegung zur Reintegration i n den ursprünglichen Zustand liegt für Saint-Martin die ganze Dramatik des menschlichen Daseins. Der Mensch muß durch sein Tun und seine Sehnsucht zurückstreben zu seiner ersten Natur, die sich mit ihrem „Prinzip" in Harmonie befand. Er muß seinen Willen mit dem Willen des „Réparateur" vereinigen, indem er sich von den äußeren Dingen löst, sich sammelt und i m Gebet und in der Meditation mit dem Wort vereint, dessen Ebenbild er seinem Ursprung nach ist. I n diesem Vorgang w i r d der „Mensch ein wahrhaftes Licht inmitten der Finsternisse; er w i r d dieses wahrhafte Licht aber nur, weil er das lebendige Prinzip offenbart, das ihm das Licht verschaffen und durch sein Herz hindurchgehen lassen w i l l " 2 8 . Es ist dies derselbe Gedanke, den Franz von Baader i n die Formel „Cogito quia cogitor" gefaßt hat: weil Gott mich denkend mein Denken durchdringt und ich mich durch ihn gedacht finde, ist Gottes Gedanke auch mein Gedanke. Der Weg Saint-Martin's ist der Weg der Mystik, die vom Menschen verlangt, i n eigener Anstrengung Schritte zu unternehmen i n der Richtung auf die Reintegration. „Erwäge ernstlich, Gemüt v o l l höheren Sehnens, diesen Punkt, und lasse nicht nach zu ringen, bis alle Kräfte deines denkenden Wesens ohne Ausnahme von dem wirkenden und schaffenden Leben ergriffen sind: er ist der allgemeine Baum, der sich immer selber neu erzeugt, i n welchem Dasein und Harmonie zu einem einzigen Wesen verschmolzen sind, du Mensch! bist ein Baum untergeordneter und einge21 22 23

V o m Geist und Wesen, I, S. 34. Tableau naturel, I, S. 34. Le Nouvel Homme, Paris, L ' a n 4e de la Liberté, S. 8 f.

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schränkter Art, dem von oben her Leben gegeben worden, der sich aber nun mit selbständiger Anstrengung zu der i h m angemessenen Vollendung erheben soll. Der ursprüngliche Quell war von Ewigkeit das Göttliche. D i r ist die Sorge überlassen es zu werden, und wie bist du unglücklich, wenn du nicht dieses erhabene Vorrecht, das du mit deinem unaussprechlichen Urbild gemeinschaftlich besitzest, anzuerkennen weißt 2 4 ." Saint-Martin's Homo-Bücher bewegen sich fast ausschließlich u m das Geschehen des Sündenfalls und um die Rückkehr des Menschen. Da mit dem Sündenfall die Zeit begann und diese erst mit der von Gott — durch seinen Sohn und dessen Apostel — angekündigten Wiederbringung zu Ende kommen wird, unterliegt auch alles, was in der Zeit geschieht, dieser Grundbewegung. So vollzieht sich Geschichte für Saint-Martin immer auf dem Hintergrund der Heilsgeschichte. Die Geschichte ist von diesem Hintergrund nicht zu lösen. Deshalb müssen auch alle Elemente und alle Formen, i n denen sich Geschichte abspielt, auf die Heilsgeschichte bezogen sein. Wer heilsgeschichtlich auf dem richtigen Wege ist, auf dem Rückweg zur Harmonie des ursprünglichen Zustands, w i r d von den Vordergrundsereignissen nicht erschüttert werden. Hier liegen die Wurzeln des Vertrauens, das Saint-Martin erlaubte, innerlich unberührt fast wie ein K i n d durch die Revolutionszeit, die für die meisten seiner Freunde mit Schrecken und Angst erfüllt war, hindurchzugehen. I n seinem ersten Werk „Des erreurs et de la vérité" versucht SaintMartin auf dem Hintergrund der Lehren von Hobbes, Locke, Montesquieu und Rousseau, die i n den Kreisen, i n denen er verkehrte, lebhaft diskutiert wurden, auch zu einer eigenen Gesellschaftslehre zu kommen. Er geht dabei von dem Gedanken aus, daß man zuerst untersuchen müsse, was der Mensch unter seinem politischen Aspekt i m Stand der Gesellschaft sein könnte und müßte und was er i n Wirklichkeit i n diesem Stande ist. Diese Gegenüberstellung ist nach ihm das einzige Mittel, „die Geheimnisse zu entfalten, die heute noch den Ursprung der Gesellschaften verhüllt, die Rechte der Souveräne zu bestimmen und die Regeln für die Verwaltung aufzustellen, nach denen die Reiche erhalten und regiert werden könnten und müßten" 2 5 . Die größte Schwierigkeit, der die bisherigen politischen Schriftsteller begegnet sind, beruht auf dem Gegensatz der gesellschaftlichen Einrichtungen und den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Gleichheit, die i n den Menschen zu beobachten sind. Aus dieser Beobachtung zogen sie den Schluß, daß der Mensch für die Unabhängigkeit geschaffen sei und daß infolgedessen jedes Untertanenverhältnis dem wahren Wesen des Menschen widerspreche. Beim Suchen 24

V o m Geist und Wesen, I, S. 46 f. Des Erreurs et de la Vérité, ou les hommes rappellés au principe universel de la Science. Par u n Ph Ine , 2 Bde., A. Edimbourg, 1782, I I , S. 3. 25

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nach den Gründen für das gestörte Verhältnis, das sich i n der Abhängigkeit des Menschen und i n dem Vorhandensein einer Autorität, die den Menschen i n diesem Abhängigkeitsverhältnis hält, zeigt, kam diese Gruppe politischer Schriftsteller i n ihren „vains raisonnements" zu der Schlußfolgerung, daß die „souveräne Macht nur auf der Schwäche derer, die sich unterjochen ließen, begründet sei". Die „puissance souveraine" fällt in die Hand des jeweils Stärksten. Der Usurpator ist gezwungen, Gesetze zu erlassen und Strafen einzuführen. Der Geschickteste, der Mutigste und Erfindungsreichste w i r d Meister bleiben und seine Despotie verankern. Eine andere Gruppe von Denkern sucht für jenen Gegensatz zwischen den dem Menschen eingeborenen Grundsätzen der Gerechtigkeit und Gleichheit und den bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen eine Erklärung i m „commun accord" und i n der „volonté unanime" der Individuen, die sich zu einer Gesellschaft zusammengeschlossen und einem einzelnen oder einer kleinen Gruppe jene „Rechte ihres Naturzustandes" übergeben haben, nachdem sie „die gefährlichen Folgen der Freiheit und der natürlichen Unabhängigkeit" nicht mehr ertrugen. Da der A k t der Übergabe freiwillig ist, liegt nach dieser Auffassung i n der Autorität, die aus i h m hervorgeht, keine Ungerechtigkeit. Saint-Martin gesteht zu, daß der Gedanke der freiwilligen „association" am ehesten der „natürlichen Vorstellung "entspricht, die „man uns von der Gerechtigkeit der Regierungen geben will, wo Personen und Güter unter dem Schutz des Souveräns stehen, und wo der Souverän, der als einziges Ziel das allgemeine Wohl i m Auge zu behalten hat, nur damit beschäftigt ist, das Gesetz aufrecht zu erhalten, von dem das allgemeine Wohl ausgeht" 2 6 . Trotzdem ist für Saint-Martin die „association volontaire" ebenso illusionistisch wie die „association forcée". Der freiwillige Zusammenschluß eines ganzen Volkes ist kaum denkbar. Außerdem müßte auch die Art, i n der die Beweggründe und die Bedingungen der neuen gegenseitigen Verpflichtung aufgefaßt werden, einstimmig sein. Aber das war und w i r d nie möglich sein, „ i n einem Bereich und i n Dingen, die nur das Sinnenhafte zur Grundlage und zum Gegenstand haben, denn man darf nicht mehr daran zweifeln, daß i m Bereich des Sinnenhaften alles relativ und i n i h m nichts Festes vorhanden ist" 2 7 . I n jedem einzelnen Glied der „association volontaire" müßte der Ehrgeiz, selbst Führer zu sein oder der Führung anzugehören, zum Schweigen gebracht werden. Ferner wäre die Übereinstimmung einer unendlichen Zahl von Meinungen notwendig: i m Hinblick auf die vorteilhafteste Form der Regierung, auf das allgemeine und das individuelle Interesse und auf eine Unzahl anderer Fragen, die Gegenstand des Gesellschaftsvertrages sein müßten. Aber eine solche Übereinstimmung hat es bei den Menschen noch nie gegeben. 26 27

a.a.O., I I , S. 5. a.a.O., I I , S. 7.

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Der Haupteinwand Saint-Martin's geht jedoch dahin, daß dem Menschen nach allem, was man von ihm weiß, niemals das Recht zu einer solchen Verpflichtung zugestanden worden ist, und daß infolgedessen der Vertrag n u l l und nichtig wäre. Der Mensch hat in sich einen unveränderlichen Kompaß. Jeder Schritt, den er ohne diesen Kompaß tut, wäre unsicher, denn ohne diesen Kompaß hat der Mensch kein „Licht". „Der Kompaß ist i h m durch sein ureigenes Wesen vorgesetzt, u m ihn zu führen und allen seinen Handlungen vorzustehen 28 ." „Der freiwillige Gesellschaftszusammenschluß ist also weder gerecht, noch sinnvoll, noch überhaupt ausführbar, weil der Mensch durch diesen A k t einem andern Menschen ein Recht übergeben würde, das er selbst nicht besitzt, das Recht über sich selbst zu verfügen 2 9 ." Der Ursprung der menschlichen Gesellschaft muß i n dem Unvermögen des Menschen gesucht werden, i n den ersten Jahren seines Leben, sowohl i m „sensible" wie noch viel mehr i m „intellectuel", isoliert und unabhängig zu leben. Saint-Martin zieht hier zwischen Tier und Mensch dieselbe Linie, die i n der neueren A n thropologie von Adolf Portmann gezogen worden ist. Ist das menschliche Leben nicht eine Kette von ununterbrochenen Abhängigkeiten? Wächst der Mensch nicht i n einer „absoluten Ohnmacht und i n einer wahrhaft schandbaren Schwachheit" auf? Braucht er nicht bis zum Alter, i n dem er über seinen Körper frei verfügen kann, „Hilfen ohne Zahl", und das nicht nur i m Körperlichen, sondern gerade auch i m Geistigen? Die Beobachtungen des menschlichen Verhaltens i n den ersten Lebensjahren zeigt, wie Saint-Martin meint, daß der Mensch nicht für sich selbst allein leben kann. Er sucht immer seinesgleichen, auch wenn sein Körper ihre Hilfe nicht mehr nötig hat, und i m Alter bedarf er von neuem der Unterstützung der andern. Das beweist, daß der „Mensch nicht dazu bestimmt ist, allein und ohne jede gesellschaftliche Bindung seine Tage zu verbringen" 3 0 . Der Ursprung der Gesellschaft liegt i n diesen natürlichen, sinnenhaften, physischen wie geistigen Verhältnissen, und das Urmodell der Verpflichtungen des einzelnen gegenüber der Gesellschaft ist das Modell des Menschen, „der sich zum Vater macht". I n der einfachen, natürlichen Gesellschaft gibt es immer Wesen, die geben und die empfangen. Es gibt für immer Überlegenheit und Abhängigkeit. Deshalb ist die „natürliche Gesellschaft" auch das Vorbild für die „politische Gesellschaft". Das politische Denken der Vergangenheit wie der Gegenwart hat nun aber die wahren Verhältnisse verwischt und verdunkelt, weil es das „Prinzip m i t seiner Hülle", die „konventionelle K r a f t des Menschen mit seiner w i r k lichen K r a f t " verwechselt und i m „vereinzelten Menschen" die „Grundsätze der Regierungen" gesucht hat. 18 19 80

a.a.O., I I , S. 9. a.a.O., I I , S. 10. a.a.O., I I , S. 15.

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Der Mensch befindet sich nicht mehr in seinem ersten Stande. Wenn er darin geblieben wäre, „hätte er niemals über Menschen regiert, und die politische Gesellschaft hätte niemals für ihn existiert, weil es für ihn keine sinnenhaften Bindungen oder geistige Entbehrung gegeben hätte, sondern sein einziges Ziel wäre gewesen, seine Fähigkeiten in der Fülle auszuwirken, und nicht wie heute i n mühsamer Weise an ihrer Wiedererneuerung zu arbeiten" 3 1 . I n seiner späteren Schrift über die französische Revolution macht Saint-Martin den Unterschied zwischen einer Gesellschaft vor jener Zeit, i n der der Mensch „eine Veränderung i n den anfänglich gegebenen Eigenschaften seines ursprünglichen Wesens" erfahren hatte und i n welcher die „association" eine „brüderliche Gesellschaft" gewesen wäre, i n der er sich der Entwicklung aller reinen Gefühle seines geistigen Wesens, in der Unschuld und Wahrheit seiner Natur, hätte erfreuen können, und der natürlichen „association" nach der „offensichtlichen Veränderung, die er erlitten hat" 3 2 . Aber auch in dieser „natürlichen Gesellschaft" kann er sich an einem seiner neuen Situation angemessenen Glücksanteil erfreuen, denn eines „der größten Wunder, das sich denen, die beobachten können, zeigt, ist der Blick auf die Tatsache, daß sich i n der Vielheit der Stufen, zu denen die Wesen absteigen können, alle Verhältnisse aufrechterhalten und bewahrt bleiben, bis zu welchem Punkt das B i l d sich auch zusammenziehen möge; tiefes Geheimnis der Weisheit, die auf diese Weise will, daß die Wahrheit, auch wenn sie durch die Nachlässigkeiten des Menschen verdunkelt wird, niemals für ihn ganz verloren gehen kann, weil es immer Mittel gibt, sie zu unterscheiden und zu erkennen" 3 3 . Aber wenn auch diese schon „veränderte und verminderte" Gesellschaft, anstatt den „ t u gendhaften und heilbringenden Pfaden" zu folgen, die ihr die göttliche Vorsehung in der Erinnerung an ihren ursprünglichen Zustand zeigt, den entgegengesetzten Weg einschlägt, kommt es zur „société civile naturelle", zu einer Gesellschaft, i n der „die Gesetze der ewigen Gerechtigkeit sprechen müssen, da die Stimme der ewigen Tugend i n ihr fremd geworden ist" 3 4 . Diese „zivile Gesellschaft" gleicht nicht unsern bürgerlichen Gesellschaften, denn man würde i n ihr nur „positive und fest begründete Gesetze vorfinden", an Stelle der „blinden Gesetze, ohne Grundlagen und ohne Kraft, von denen das bürgerliche Leben der Nationen überschwemmt ist". „Diese zivile Gesellschaft könnte sogar hoffen, daß infolge der Entwicklung ihrer positiven Gesetze, die Gesetzesbrecher auf die Pfade der Tugend zurückkehren, und also jene A r t 31

a.a.O., I I , S. 31. Gnostiques de la Révolution. Claude de Saint-Martin. Choix de textes et introduction par André Tanner. Le C r i de la France, Collection dirigée par Pierre Courthion, Paris 1946, S. 175 ff. 33 a.a.O., S. 177. 34 a.a.O., S. 179. 32

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brüderlicher, natürlicher Gesellschaft, für die w i r noch ein Gefühl haben, wiederhergestellt w i r d 3 5 . " Die „zivilen Gesetze" dürfen ihrem w i r k lichen Wesen nach nicht Zwangsgesetze sein, sondern Unterweisungen, Ordnungsrufe und Hinweise auf die geeigneten Mittel, die bewirken, daß i n der natürlichen brüderlichen Gesellschaft die Summe des Glücks, die i n ihr überhaupt zu verwirklichen ist, wieder aufleben kann. Aber wenn die Gesellschaft diesen Weg nicht einschlägt und die Gesetzesbrecher sich i n einem neuen Verbrechen vergessen und der Gesellschaft trotzen und somit „Kräfte der Unterdrückung und des Zwangs" wachrufen, die uns ebenso eingeboren sind wie die „positiven Grundsätze der Gerechtigkeit", die dem Menschen die Gewalt geben, allen Forderungen dieser Gerechtigkeit zum Respekt zu verhelfen, t r i t t i n der Gesellschaft eine neue Veränderung ein i n der Richtung auf einen Zustand, den SaintMartin m i t dem Ausdruck „société politique naturelle" bezeichnet. I m Gegensatz zur „société civile", die versuchen muß, den Schädigungen, die die „société naturelle" erfahren kann, zuvorzukommen, um diese zu heilen, hat die „société politique" die Gewalt, schädigende Handlungen an ihren eigenen Mitgliedern oder an andern politischen Gesellschaften, die ihre Existenz bedrohen könnten, zu bestrafen. Nach innen wie außen befindet sich die politische Gesellschaft i n einem „état hostile" oder in einem Zustand der Wachheit und des gewohnheitsmäßigen Mißtrauens, was nichts anderes ist als ein an Deutlichkeit geringerer „état hostile" 3 6 . Diese verschiedenen Gesellschaften folgen sich nicht i n der Zeit. Sie befinden sich vielmehr vom Ursprung an gleichsam ineinander, und w i r finden auch ihre Elemente und Grundsätze i n der Geschichte nur vereint. Die natürlichen Eigenschaften des Menschen, seine Recht-schaffenden Fähigkeiten und sein Vermögen, zu zwingen und zu unterdrücken, haben schon i n der ersten irdischen Familie des Menschengeschlechts ihre Zweige getrieben. Weil aber i n deren Schoß die heilbringenden Zweige nicht erkannt wurden, geschah jener jammervolle Brudermord, der ein Modell ist aller Kämpfe zwischen guten und bösen Kräften, von denen die Geschichte erfüllt ist. Einen Ausschnitt aus diesen Kämpfen hat Saint-Martin selbst i n seinem „poème épico-magique" „Le Crocodile" festzuhalten versucht. Verändert sich der Zustand der natürlichen Gesellschaft, so muß, damit ihre Auflösung verhindert wird, an jene Kräfte appelliert werden, bei denen „die Bewegungen der Gerechtigkeit, die dem ganzen Menschengeschlecht eingeboren ist, i n einer stärker hervortretenden Weise erwacht sind, und bei denen der Widerspruch gegenüber der Ungerechtigkeit am meisten die positiven Grundsätze, die allein zu jener das Gegengewicht bilden können, i n Bewegung gebracht haben", » a.a.O., S. 179. M a.a.O., S. 181.

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denn je mehr Unordnung und I r r t u m hervortreten, desto mehr sind Ordnung und Wahrheit nötig, um ihnen entgegenzuwirken 37 . Von diesem Gedanken her bestimmt sich auch, wer die Regierung innehaben soll. I m ersten Stande waren „Rechte eines Menschen über einen andern Menschen unbekannt", weil solche Rechte außer jeder Möglichkeit standen zwischen gleichen Wesen i m „Stand des Ruhms und der Vollkommenheit" 3 8 . I m Stand der Sühne, i n dem sich der Mensch nach dem Sündenfall befindet, ist er nicht nur i n der Lage, seine früheren Gewalten, deren alle Menschen sich hätten erfreuen können, ohne daß ihre Untertanen aus ihrem eigenen Stamm gekommen wären, wiederzugewinnen, sondern auch ein neues Recht, das er i n seinem ersten Stande nicht kannte, hinzuzuerwerben: das Recht, wahrhafte Autorität über andre Menschen auszuüben. Derjenige, der am innigsten die Erinnerungen an seinen „Stand des Ruhms" bewahrt hat, der am stärksten die Sehnsucht i n sich trägt, dorthin wieder hinaufzusteigen, der die Vorstellung seines „Prinzips" am wenigsten i n sich entstellen ließ, soll höher stehen als die andern Menschen und soll sie regieren. Er ist ihnen überlegen durch die „wirkliche Verschiedenheit der Fähigkeiten und Kräfte". Er muß über ihnen stehen, notwendigerweise, weil sich die meisten Menschen weniger geübt haben und weil sie nicht die gleichen Früchte ernten konnten wie er, ihn also i n „der Bedürftigkeit und der Verdunkelung ihrer eigenen Fähigkeiten" notwendig brauchen. „Wenn i n einem Menschen die Verdunkelung bis zur Entartung geht, w i r d derjenige, der sich von beidem freihielt, sein Herr, nicht nur tatsächlich oder zwangsläufig, sondern sogar aus dem Gebot der Pflicht. Der zweite muß sich des ersten bemächtigen und darf ihm i n seinem Handeln keine Freiheit lassen, einmal, um den Gesetzen seines Prinzips Genüge zu tun, dann um der Sicherheit und um des Beispiels für die Gesellschaft willen; er muß ihm gegenüber alle Rechte der Sklaverei und der Knechtschaft ausüben, Rechte, die i n diesem Fall so gerecht und wirklich sind, wie unerklärlich und nichtig in jedem andern Zusammenhang" 39 . Hier liegt der wahrhafte Ursprung der zeitlichen Herrschaft des Menschen über andere Menschen. Diese Herrschaft zwingt und bedrückt die „natürliche Gesellschaft" nicht, sie muß vielmehr als ihre stärkste Stütze und das sicherste M i t t e l ihrer Erhaltung gegen die Verbrechen ihrer M i t glieder und die Angriffe ihrer Feinde betrachtet werden. Das „Licht", das den Menschen i n seinem ursprünglichen Zustand erleuchtet, ist eine unerschöpfliche Quelle der Fähigkeiten und Kräfte. Je mehr sich der Herrschende diesem „Licht" nähert, desto weiter muß er seine Herrschaft über die Menschen, die sich von diesem „Lichte" entfernen, aus37 38 39

a.a.O., S. 182. Des erreurs, I I , S. 19. a.a.O., I I , S. 22.

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breiten, und desto besser kennt er auch die Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Sicherung der staatlichen Fundamente. M i t der Hilfe dieses „Lichts" umfaßt er alle Gebiete des staatlichen Lebens und lernt die wahren Grundsätze, die auf den einzelnen Gebieten zur Anwendung kommen sollen, kennen. Der erste Ursprung gesellschaftlicher und staatlicher Macht liegt also weit jenseits menschlicher Gewalten und menschlichen Willens. Er befindet sich oberhalb der Ursprünge, die die Staats- und Gesellschaftslehre, gegen die Saint-Martin polemisiert, für die Macht gesucht hat. Die Oberhäupter der etablierten Gesellschaften geben uns aber eine Vorstellung von den zahllosen Fähigkeiten und Kräften, die sich i n den Königen, die ihr ursprüngliches „Licht" wiedererlangt haben, finden sollten, denn auch sie handeln so, als ob sie über all das, was nach diesen Überlegungen i n ihnen sein sollte, i n Wirklichkeit verfügten. SaintM a r t i n macht hier eine Anspielung auf die Erscheinungs- und Darstellungsformen der absoluten Monarchie. Welche Beweise haben nun die Nationen für die Legitimität ihrer Oberhäupter? Die gleichen Beweise, die ihnen die Oberhäupter der „ i n stitutions sacrées" geben, also ihre Nähe zum ursprünglichen Zustand, ihre „Erleuchtung". Die „institution sacrée" und die „institution politique" sollten das gleiche Ziel, den gleichen Führer und das gleiche Gesetz haben; deshalb sollten sie auch immer i n einer Hand vereinigt sein. Wenn sie sich getrennt haben, so haben sie beide ihren wahren Geist aus dem Blick verloren, der i n „einer vollkommenen Übereinstimmung und i n der Einheit besteht" 40 . Diese Gedankengänge sind später von Maistre, der Saint-Martin's politische Theologie sehr wohl kannte und von ihr tief beeinflußt worden ist, i n den Mittelpunkt seiner eigenen Staatslehre gerückt worden. Aber gibt es i n der Geschichte solche wahrhaften Souveräne überhaupt? Saint-Martin bittet seine Leser zu glauben, daß solche Regierungen nicht Gespinste der Phantasie sind, sondern daß es sie zu allen Zeiten gegeben hat und auch geben wird, „ w e i l dies zu der Ordnung des Universums gehört, weil es m i t dem großen Werk, das etwas anderes ist, als der Stein der Weisen, zusammenhängt" 41 . Weiter erhebt sich die Frage: Werden nicht alle Menschen eines Tages König sein, da i n alle Menschen die Fähigkeit gelegt ist, das „Licht" wiederzuerlangen? Hierauf antwortet Saint-Martin m i t dem Hinweis auf den Stand des Gefallenseins und der Sühne, i n dem so viele Menschen immer wieder den Widerständen erliegen: solange das Werk der Heimholung, der récupération, réhabilitation, nicht zu ihrem Ende gekommen ist, was erst am Ende der Zeiten sein wird, w i r d es immer Ungleichheit unter den Men40 41

a.a.O., I I , S. 28. a.a.O., I I , S. 29.

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sehen geben, aber „eine Ungleichheit, die ihnen nicht mühevoll ist und sie nicht demütigt, weil die Größe i n jedem von ihnen wirklich und nicht relativ sein wird, wie jene herkömmliche und willkürliche" 4 2 . Wenn es Unterschiede unter den bestehenden Regierungen gibt, so nur, weil die einzelnen von dem „Licht" verschieden weit entfernt sind, oder weil diejenigen, die politische Körperschaften gegründet haben, die wahren Grundsätze nicht kannten oder ihre Nachfolger deren Reinheit trüben ließen. Regierungen, die aus einer solchen Feststellung Verdacht gegen etwaige aufrührerische Absichten des Autors schöpfen könnten, gibt Saint-Martin die Versicherung, daß er nur auf Ordnung und Frieden bedacht sei, daß er allen Untertanen die Unterwerfung unter ihre Oberhäupter zur unerläßlichen Pflicht mache und daß jede Insubordination und jede Revolte den von i h m vertretenen Grundsätzen diametral entgegengesetzt seien, selbst wenn die Ungerechtigkeit des Oberhauptes und der Regierungen den höchsten Punkt erreicht haben sollte. Da nicht der Untertan die politischen Gesetze einführt und die Oberhäupter einsetzt, kommt es auch ihm nicht zu, sie zu stürzen. Wenn die Unordnung nur von der Verwaltung ausgeht, ist es Sache des Oberhauptes, die Ordnung wiederherzustellen; geht sie vom Oberhaupt und der Verwaltung zusammen aus und hat der Untertan sich vor ihr dadurch bewahrt, daß er dem „unveränderlichen Gesetz", das auch ihn führen soll, treugeblieben ist, dann kann er sich vor Quälereien i n Schutz bringen, ohne Gewalt anzuwenden, oder er versucht zu erkennen, ob die Geißel nicht von einer höheren Hand über ihn verhängt ist. I n diesem Fall w i r d er schweigen und sich der Gerechtigkeit nicht entgegenstellen. Geht das Unheil aber gleichzeitig vom Oberhaupt, von der Verwaltung und vom Untertan aus, dann gibt es keine Regierung mehr, dann ist nur noch eine Räuberbande vorhanden, und für Räuberbanden gibt es bekanntlich keine Gesetze. Welches ist nun die bessere Regierung, diejenige, die i n einer Hand liegt oder diejenige, die von mehreren gebildet wird? Eine muß dem „Prinzip" entsprechen, die andere i h m entgegengesetzt sein. Saint-Martin polemisiert gegen die Relativierung der Verfassungen durch Montesquieu i m Hinblick auf die verschiedene Herkunft der Völker und auf die geographischen Gegebeneiten. Die Bedeutung sekundärer Ursachen für die Verfassung eines Staates widersprechen den Vorstellungen, die er selbst über das konstituierende Prinzip der Gesellschaft und der Regierung vertritt. „Ich kann nicht umhin, zu gestehen, daß die Regierung eines einzelnen ohne Widerrede die natürlichste und einfachste und den wahrhaften Gesetzen, die ich i m Vorstehenden als wesentlich für den Menschen dargestellt habe, die entsprechendste ist." Die „Regierung mehrerer" ist nicht die vollkommenste Form. Sie hat den „Fehler" der 42

a.a.O., I I , S. 30.

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Überflüssigkeit, der „superfluità", aber i n einer „wahren Regierung" darf es keine „Fehler" geben. Saint-Martin verwendet hier auch ausgiebig den historischen Beweis, nach dem Monokratien eine längere Dauer haben sollen als Oligarchien und Republiken 43 . Er w i l l allerdings nicht darüber entscheiden, ob alle „Regierungen eines einzelnen" „wahre Regierungen" sind. Es gibt „unendliche Unterschiede": bei den einen hat das Oberhaupt keinerlei Autorität, bei andern die absolute, bei wieder andern hält das Oberhaupt die Mitte zwischen Abhängigkeit und Despotismus; „nichts ist fest, nichts ist beständig auf diesem Gebiet" 4 4 . Ein wichtiges Bedenken gegen die Legitimität der Regierungen eines einzelnen oder auch mehrerer Personen liegt i n der Tatsache, daß sie einander Feind sind. Wenn aber das gleiche Prinzip der Bildung aller „associations" zu Grunde liegen und dieses kontinuierlich deren Weg bestimmen würde, könnte es keine Feindschaft geben, denn das Anliegen des „Prinzips" ist die Ordnung, i m Allgemeinen wie i m Einzelfall. A l l e „établissements" müßten dann dasselbe Ziel haben. Dieses Ziel könnte nicht sein, übereinander herzufallen, sondern einander gegen die natürliche und allgemeine Verderbtheit, die zur Zerstörung führt, zu unterstützen. I n einer Notiz „Sur le Gouvernement divin ou le Théocratisme" 45 , die i n den Monaten des Terrors niedergeschrieben wurde, erklärt SaintMartin, daß er, als er seine theokratischen Meinungen über die Regierung niederlegte, nicht die Überzeugung gehabt habe, daß sie allgemein angenommen werden würden, denn der Mensch sei von der wahren Straße, die ihn zu seinem „Prinzip" zurückführe, abgekommen. Aber er habe damit weniger verlangt, als was die meisten Sterblichen i m allgemeinen zu billigen bereit seien: nur eine sehr kleine Zahl von Menschen leugne Gott und sehe i n i h m nicht die universelle Quelle aller Dinge. Man gestehe wohl zu, daß es einen Gott-Vater gäbe, obwohl sich die wenigsten Menschen entsprechend aufführten; warum also leugnen, daß w i r einen Gott-Regent, „ u n gouvernement Dieu", haben könnten. Es sei nicht schwieriger zuzugestehen, daß Gott der Führung unserer Gesellschaftszusammenschlüsse vorstehe, als i n ihm den Ursprung unseres Daseins zu sehen und den Leiter der Ordnung der Natur. Damit sich eine Regierung der theokratischen nähere, genüge es, daß die Regierenden davon überzeugt seien, daß sie nur als Verwalter der Vorsehung fungieren und daß sie i n allen ihren Unternehmungen die Vorsehung anrufen und sich auf sie beziehen, was eigentlich selbstverständlich sei, wenn sie behaupten, ihre Krone von Gott zu haben. Ebenso 43 D u Gouvernement naturel et du Gouvernement politique. Ecrit à Paris en 1778, i n : Oeuvres posthumes de Mr. de St. Martin, 2 vol, A Tours 1807, I, S. 388 ff. 44 Des erreurs, I I , S. 47. 45 Oeuvres posthumes, I, S. 396 ff.

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spricht er sich i n dem zwei Jahre später geschriebenen „Brief" über die französische Revolution aus: „Gott ist der einzige Monarch und der einzige Souverän der Wesen. Er w i l l der einzige sein, der über die Völker herrscht, i n allen Gesellschaftszusammenschlüssen und allen Regierungen. Die Männer, die sich an der Spitze der Nationen oder der Verwaltungen befinden, sollten nur seine Stelle vertreten, oder wenn man will, seine Kommissare sein 46 ." Obgleich diese „Stellvertreter der Vorsehung" oder „göttlichen Kommissare" ihrer Natur nach den andern Menschen gleich sind, würden sie gegenüber dem Rest der Nation doch „unterschieden sein und höher stehen" dank ihrer Gaben und ihrer Erleuchtungen (lumières). I n dieser ursprünglichen geistigen Überlegenheit liegt für Saint-Martin auch die Begründung dafür, daß selbst noch i n entarteten Regimen die Regierten „wirkliche oder scheinbare Ehrfurcht" zeigen für die Mächte, die sie regieren. Die französische Revolution hat Saint-Martin's Gedanken nicht gewandelt, wenn er auch zu ihr ein eigenes Verhältnis gefunden hat. I n seinen zwei ersten Werken hatte er sich mit den Autoren der Vorrevolutionszeit auseinandergesetzt, ohne sie i m einzelnen zu nennen, unter ihnen auch mit Rousseau. Trotz der geistigen Gegensätze sah er i n Rousseau immer eine verwandte Seele, i n den „Stimmungen", i m „Charakter", i m „Geschmack", i n den „Leidenschaften", wie in den „Schwächen", vor allem von Rousseau's „Confessions" her, die seinem eigenen „Portrait historique" von ferne her Pate gestanden haben mögen. Die Umstände haben nach Saint-Martin bewirkt, daß Rousseau i n den „unteren Regionen" geblieben ist; von seiner Natur her hätte er sehr viel weiter kommen müssen. Saint-Martin betrachtet ihn als den Propheten des „sensible naturel"; er hatte aber auch den Keim zum „sensible divin" in sich, mehr noch als zum „sensible spirituel". „Wenn die Vorsehung es zugelassen hätte, daß er den zehnten Teil dessen empfing, was sie in ihrer Güte bis zu mir gelangen ließ, hätte er aus dieser Gabe solchen Nutzen gezogen, daß er, glaube ich, Gott i n die Welt hätte herabsteigen lassen. Ohne Zweifel war der Augenblick hiefür noch nicht gekommen 47 ." Das Vermögen, i n allen Menschen und allen Geschehnissen den auf Gott bezogenen Kern zu sehen, mag auch die Ursache gewesen sein, warum Saint-Martin, selbst dem Adel zugehörend, trotz seiner vielen Beziehungen zu gefährdeten Personen des Hochadels nicht emigrierte, sondern als ein „Robinson Crusoë de la spiritualité", wie er selbst sagt, mit 46

Gnostiques de la Révolution, S. 193 f. Mon Portrait Historique et Philosophique (1789—1803), publié intégralement pour la première fois, d'après le manuscrit original, avec une préface, une introduction et des notes critiques, Paris 1961, Nr. 497. 47

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Jakob Boehme und dem Briefwechsel m i t dem Berner Baron Kirchberger von Liebisdorf über diesen beschäftigt, durch die stürmischen Zeiten hindurchging. „Die französische Revolution hat mir geholfen, in meinem Wesen zu mir selbst zurückzukehren und zu dem Gang, den die göttliche Weisheit mir gegenüber einschlägt. Ohne die Fährnisse, die diese Revolution verursacht, und seien es auch nur die Beängstigungen, die sich tagtäglich aus ihr ergeben, würde ich allein auf dem Wege meines eigenen Geistes auf Gott gerichtet gewesen sein, aber Gott wollte mich fühlen lassen, daß ich nur durch ihn selbst zu i h m kommen konnte 4 8 ." Saint-Martin nahm alle Pflichten des Citoyen auf sich: er stand als M i t glied der „Nationalgarde" Wache, wo es von i h m verlangt wurde, i n Straßburg, Amboise und Paris. So hatte er i m Mai 1794 Dienst i m „Temple" vor den Fenstern des dort gefangengehaltenen Dauphin, nachdem er drei Jahre zuvor auf einer Vorschlagliste als möglicher Erzieher des Dauphin gestanden hatte. Er stellte seiner Gemeinde Amboise Mittel für die Nationalarmee zur Verfügung, obwohl sein eigenes Vermögen durch die Konfiskationen und die Geldentwertung so zusammengeschmolzen war, daß er i n den letzten Jahren nur noch das Leben eines armen Mannes führen konnte. Er ließ sich von seiner Gemeinde anstellen, um die aus den Nationaldepots stammenden beschlagnahmten Bücher zu einer Bibliothek zusammenzufassen. Später wurde er als Vertreter der Gemeinde trotz seines Alters zur „Ecole normale" nach Paris geschickt; ein Experiment, das Frankreich zu Lehrern für die überall auf dem Lande entstehenden Schulen verhelfen sollte, das aber bald wieder aufgegeben werden mußte. Oft stand er den blutigen Ereignissen sehr nahe. Aber überall, wo er hinkam, war nach seinem eigenen Geständnis Friede: „Ich glaube, daß man mich bewahrt, weil man weiß, wie teuer mir der Friede ist und wie sehr ich das Vorrücken der Herrschaft meines Gottes ersehne 49 ." Nach den Aufzeichnungen des „Portrait" ist zu erkennen, daß er i m wachsenden Maße die sozialen und politischen Voraussetzungen der Revolution durchschaut hat. A m 1. August 1793 kam er von Amboise her i n Petit-Bourg an: „Ich werde nie vergessen", sagt er bei dieser Gelegenheit, „daß in einiger Entfernung vom Schloß mich plötzlich ein solcher Abscheu vor Schlössern packte, daß ich mir gelobte, niemals i n ihnen meine gewöhnliche Behausung aufzuschlagen." Auf einmal sieht er, der einen großen Teil seines Lebens in den Schlössern seiner Freunde zugebracht hat, i n ihnen „eine der stärksten Beweise des Verdorbenseins all unserer Grundsätze": „Die Schlösser, sie sind nicht nur eine Beleidigung gegenüber dem Elend der Armen, sie beanspruchen nicht nur sinnlos riesige Gelände, die nützlicher verwendet werden könnten, sondern sie setzen auch unsere Fähigkeiten und Begabungen falsch 48 49

a.a.O., Nr. 431. a.a.O., Nr. 288.

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ein, die i n der Architektur wie i n allen andern Künsten nur dazu beitragen sollten, Gott zu ehren und nicht den Menschen 50 ." Etwas später macht er i m „Portrait" die Bemerkung, daß die Schrecken der Revolution ihn zu der Überlegung geführt hätten, daß das Priestertum mehr wert sei als die Priester, daß aber der Adel schlechter gewesen sei als die Adligen. „Deshalb war ich auch nicht erstaunt, daß das Gericht m i t den Priestern viel strenger umging, denn sie waren schlecht geworden durch eine gute Sache, die Adligen durch eine schlechte 51 ." Umgekehrt verschließt er seine Augen auch nicht vor den Greueln der Revolutionäre: „Es war der Wille, daß ich alles auf Erden sehen sollte. Ich hatte auf ihr lange den Mißbrauch der Macht der Großen gesehen; es war wohl nötig, daß ich hernach den Mißbrauch der Macht der Kleinen sah 52 ." Die französische Revolution hat i n seinen Augen einen chiliastischen Charakter. U m diese seine Auffassung begreiflich zu machen, schreibt er seine „Lettre à un ami, ou considérations politiques, philosophiques ou religieuses sur la Révolution française", i n der er noch einmal seine politischen Theorien zusammenfaßt. Er muß sich hier auch m i t dem Gedanken der Volkssouveränität auseinandersetzen, die bisher i n seinem System keinen Platz gefunden hatte. Die Volkssouveränität steht i n Parallele zu der Souveränität des Einzelnen: „Denn wenn das Dasein des Menschen nur ein einziges Ziel hat, nämlich die Pflege der ewigen Bereiche der Wahrheit, kann auch das Volk nur souverän sein i m Hinblick auf das gleiche Ziel und den gleichen Sinn, i n dem es uns zur Ahnung wurde, daß der Mensch einst Eigentümer hätte sein sollen: deshalb können wir, auch wenn w i r die Völker nach dem ursprünglichen Plan rechtens als souverän anerkennen, doch nicht umhin zu sagen, daß sie den Tatsachen nach nicht weniger tief unter ihre ursprüngliche Bestimmung hinabgestiegen sind, als der Mensch 53 ." Die „Souveränität" beschränkt sich also für die Völker darauf, „ein Gefühl zu haben für ihr ganzes Elend", und „die Augen auf diejenigen unter ihnen zu richten, von denen sie glauben, daß sie am wenigsten unfähig sind, ihnen als Befreier zu dienen; diese durch ihre Stimmen und Wünsche der wohltätigen und klarsehenden Gerechtigkeit anzuempfehlen und zu warten, ob die von ihnen gewählten Personen zum Thron der Gerechtigkeit Z u t r i t t erlangen, um ihnen von dort die Schätze zurückzubringen, die sie notwendig brauchen, um ihre Vorrechte wiederzuerlangen und sie i n leuchtender Weise kund tun zu können" 5 4 . „Das hauptsächliche Besitztum des Menschen ist seine Armseligkeit; ebenso wahr ist, daß der erste Grad der Souveränität der Völker ihre Ohnmacht und Knechtschaft ist 5 5 ." 60 51 52 53 54 55

a.a.O., Nr. 424. a.a.O., Nr. 509. a.a.O., Nr. 973. Gnostiques de la Révolution, S. 195. a.a.O., S. 196. a.a.O., S. 196.

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Die französische Revolution ist nun i m Zuge der Wiedererlangung der ursprünglichen Privilegien, die Menschen und Völker einst hatten, ein Ereignis von heilsgeschichtlicher Bedeutung. Das Denken des Menschen allein hätte ein solches Geschehen nicht entwerfen können. Es begann ohne festen Plan und führte zu Ergebnissen, die nicht vorausberechnet sein konnten. Die Revolution mußte i n einem großen Lande wie Frankreich beginnen, denn wenn sie von einem Land geringerer Bedeutung ausgegangen wäre, wie hätte sie dann allein allen angreifenden Feinden Widerstand leisten können? Hier erhebt Saint-Martin i n der Verteidigung des providentiellen Ereignisses die Stimme: „Haben die Feinde nicht gesehen, daß die heutige Epoche die Krise und der Kampf der sterbenden menschlichen Mächte ist und daß sie gegen eine neue, natürliche und lebensvolle Macht kämpfen; daß die Vorsehung erlaubt, daß die blinden Sterblichen die Binde über den Augen haben, damit sie selbst die Verordnung ausführen, die die Herrschaft der eitlen Macht des Menschen auf der Erde zu Ende bringen will? Es war nicht schwierig vorauszusehen, daß unsre ganzen Feinde, als sie die Wirkungen des erstaunlichen Sternes spürten, der über unserer Revolution wacht, zuletzt die Flucht vor uns ergriffen und gleich den Magiern Pharaos vor den Wundern Moses' ausriefen: Das ist der Finger Gottes. Aber sie werden es bereuen, daß sie dieses Geständnis nicht schon früher gemacht haben und daß sie glaubten, sie könnten sich m i t einer großen und freien Nation, die selbst über ihre Interessen wacht, so aufführen, wie sie es einst gegenüber den Kabinetten getan haben 56 ." Es hat i n der Geschichte des Menschengeschlechts nur zwei wahre Religionskriege gegeben: der Krieg der Hebräer, der von Moses bis Titus gedauert hat, und die französische Revolution 5 7 . Der eigentliche Gegenstand der Revolution ist die Funktion des Menschen schlechthin. Saint-Martin sieht i n der Revolution die klare Absicht der Vorsehung, das französische Volk und nach i h m andere Völker den „wahrhaften Gebrauch unserer Fähigkeiten zu lehren" und den Augen der Nationen das „erhabene Ziel" zu enthüllen, das die menschliche Gesellschaft als Ganzes angeht und den Menschen i n all seinen Aspekten berührt. „Deshalb empfindet das philosophische Auge ein geheimes Vergnügen, zu sehen, wie unsere Regierung, wie von selbst, die nationale Institution i n der Richtung der Sitten lenkt, ohne die es eine natürliche Gesellschaft nicht gibt; das Gesetz hin auf die Gleichheit und universale Gerechtigkeit, ohne die es keine zivile Gesellschaft gibt; die Vernunft aber auf ein höchstes Wesen hin, als dessen wahrer Tempel das Herz des Menschen öffentlich anerkannt wird, weil es ohne dieses höchste Wesen keinen wohlbegründeten natürlichen, zivilen oder politi-

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a.a.O., S. 199. a.a.O., S. 200.

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sehen Gesellschaftszusammenschluß geben könnte, da es keine Weisheit, keine Gerechtigkeit und keine Macht gäbe 58 ." Das i n allen Schriften, vor allem i n den Notizen des „Portrait" immer wieder geäußerte Vertrauen i n die persönliche Führung der Vorsehung ist von Saint-Martin auch für die Vorbestimmtheit der geschichtlichen Ereignisse übernommen worden. Die zuletzt angeführte Bemerkung setzt eine „List des Prinzips" voraus, das sich der Menschen, ohne daß sie es wissen und gegen ihren Willen, zu seinen Zwecken bedient. Saint-Martin hat mit diesem Gedanken manchen seiner alten Freunde, die unter dem Direktorium und dem Konsulat aus den Gefängnissen oder der Emigration zurückkehrten, eine Deutung ihres persönlichen Geschicks zu geben versucht. Die Restauration hat später seine Integration der Revolution i n die französische und i n die Menschheitsgeschichte abgelehnt: das ist nicht der letzte Grund, warum i n der ersten Hälfte des Jahrhunderts seiner nur noch vereinzelt gedacht wurde. Wahrscheinlich ist Saint-Martin der größte französische Mystiker der neueren Zeit. Zu dem rationalen und materialistischen Jahrhundert bildet er ein wichtiges Gegengewicht. Dies haben die deutschen Romantiker sehr wohl herausgespürt. Sein Gesamtwerk wäre es wert, dem Bewußtsein unserer eigenen Zeit neu erschlossen zu werden. Werke Louis-Claude de Saint-Martin's Des Erreurs et de la Vérité, ou les hommes rappellés au principe universel de la Science par un P h Ine ,2. vol, A Edimbourg 1782. — Tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l'Homme et l'Univers, 2 vol, A Edimbourg 1782. — L'Homme de Désir. Par l'auteur des Erreurs et de la Vérité, A L y o n 1790. — Ecce homo, an I V (1796), opuscule composé à l'intention de Madame de Bourbon, réfutation des écoles de thaumaturges et de la théurgie violente (Benützt: die Ubersetzung von A. W. Sellin, Stuttgart 1922). — Lettre à u n ami, ou considérations politiques, philosophiques et religieuses sur la Révolution française. A n I I I (1795). (Benützt: Übersetzung von Varnhagen von Ense u n d Auszüge i n den „Gnostiques de la Révolution" s. u.). — Le Nouvel Homme, A Paris, L ' a n 4e de la Liberté (1796). — Eclair sur l'association humaine. A n V (1797). (Benützt: Auszüge i n „Gnostiques de la Révolution" s. u.). — Le Crocodile ou la guerre d u Bien et d u Mal, arrivée sous le règne de Louis X V ; Poème épico-magique en 102 chants; oeuvre posthume d'un amateur des choses cachées. A n V I I de la République Française (1799). — Le Crocodile ou la guerre du bien et d u m a l arrivée sous le règne de Louis X V . Poème épico-magique en 102 chants. Seconde édition. Texte intégral authentique d'après l'édition originale de 1799. Préface par Robert Amadou. Analyse par S. Rihouët-Coroze, Paris 1962. — De l'Esprit des choses, ou coup d'oeil philosophique sur la nature des êtres et sur l'objet de leur existence, 2 vol, Paris, an V I I I (1800). (Benützt Ubersetzung: Vom Geist u n d Wesen der Dinge oder philosophische Blicke auf die N a t u r der Dinge u n d den Zweck ihres Daseyns wobei der Mensch überall 58

a.a.O., S. 209.

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als die Lösung des Räthsels betrachtet w i r d . Aus dem Französischen des H e r r n St. M a r t i n übersetzt von Dr. G. G. Schubert, Direktor des Realinstitutes zu Nürnberg, 2 Bde., Leipzig 1811 u n d 1812). — Le Ministère de l'Homme-Esprit. Par le Philosophie Inconnu. A Paris A n X I (1802). — Oeuvres posthumes de M r . de St. Martin, 2 vol, A Tours 1807. — Pensees Mythologiques, Cahier des Langues, publiés pour la première fois, avec une étude sur le „Philosophe Inconnu" et les „Philosophes Inconnus" par Robert Amadou. Les Cahiers de la Tour Saint-Jacques V I I , Paris s. d. — Gnostiques de la Révolution. Claude de Saint-Martin. Choix de textes et introduction par André Tanner. Le Cri de la France, collection dirigée par Pierre Courthion, Paris 1946. — Mon Portrait Historique et Philosophique (1789—1803), publié intégralement pour la première fois, d'après le manuscrit original, avec une préface, une introduction et des notes critiques par Robert Amadou, Paris 1961. — Maximes et Pensées. LouisClaude de S a i n t - M a r t i n 1743—1803. Choix de Robert Amadou, Paris 1963.

Z u r heutigen Situation einer Verfassungslehre Von Ernst Forsthoff, Heidelberg Die rechtsstaatliche Verfassung ist nicht das Ergebnis einer historischen Entwicklung i n dem Sinne, daß sie nach und nach i m Zuge eines geschichtlichen Prozesses entstanden wäre. Sie war vielmehr fertig und i n sich abgeschlossen, als sie durch die französische Revolution i n Geltung gesetzt wurde. Als Schöpfung des Geistes war und ist die rechtsstaatliche Verfassung ein systematisch aufgebautes und i n seinen einzelnen Elementen logisch kohärentes Gebilde. Das ist sie durch wechselnde politische Gestaltungsformen wie Monarchie und Republik hindurch geblieben, und das konntè auch nicht anders sein. Ein Gebilde von solcher logischen Geschlossenheit läßt für Differenzierungen Spielraum, aber es läßt sich nicht wesentlich umgestalten, ohne seine Logik zu tangieren und damit seine spezifische Wirkungsweise zu verändern. Systematik und Logik der rechtsstaatlichen Verfassung finden sich i n Carl Schmitts Verfassungslehre 1 klassisch und unüberholbar dargestellt. Es muß verwundern, daß die rechtsstaatliche Verfassung, deren Struktur zur systematischen Konzeption einer Verfassungslehre geradezu einlud, erst so spät wissenschaftlich i n ein System gefaßt worden ist; zu einer Zeit, als ihr Stern bereits i m Sinken begriffen war. Die Verfassungslehre stellt ihren Gegenstand nicht abstrakt, sondern i m Bezug auf die gegebene politische Realität dar. Darüber belehrt das Vorwort. Dort heißt es: „ I n der Hauptsache ist die Verfassungslehre des bürgerlichen Rechtsstaats dargestellt... denn diese A r t Staat ist heute i m allgemeinen noch vorherrschend und die Weimarer Verfassung entspricht durchaus diesem Typus." Aber, so heißt es weiter, dieser Typus soll nicht verabsolutiert werden. „Es gehört i m Gegenteil zu den Aufgaben einer Verfassungslehre, nachzuweisen, wie sehr manche überlieferten Formeln und Begriffe ganz von früheren Situationen abhängig und heute nicht einmal mehr alte Schläuche für neuen Wein, sondern nur noch veraltete und falsche Etiketten sind." Man muß das genau lesen, um zu erkennen, daß hier von der Verfassung i m weiten Sinne, nicht aber von ihren rechtsstaatlichen Elementen die Rede ist. Das zeigt die Ausführung i m Werk selbst und es genügt, auf die Abhandlung „Rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug" (1952) zu verweisen, um darzutun, m i t welcher 1

1928, jetzt dritter Nachdruck, 1957.

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Folgerichtigkeit Carl Schmitt an den rechtsstaatlichen Grundsätzen und Institutionen festgehalten hat 2 . Die invariable Strenge, die den rechtsstaatlichen Verfassungselementen innewohnt, rechtfertigt den ersten, auf die Grundreche bezogenen Teil der nachfolgenden Ausführungen. Der zweite Teil, welcher der politischen Verfassung gewidmet ist, beschränkt sich darauf, die beiden unverzichtbaren Elemente jeder politischen Verfassung, Repräsentation und Identität zur heutigen Verfassungswirklichkeit in Beziehung zu setzen, auch insoweit der systematischen Konzeption der Verfassungslehre folgend. Die Verfassungslehre ist ohne Nachfolge geblieben. Der Untergang der Weimarer Verfassung bietet dafür keine zulängliche Erklärung. Es gibt keine Verfassungslehre auf der Grundlage des Grundgesetzes, obgleich dieses äußerlich die Merkmale einer rechtsstaatlichen Verfassung aufweist. Immerhin fehlt es nicht an charakteristischen Unterschieden zur Weimarer Reichsverfassung, die Veranlassung geben könnten, eine am Grundgesetz orientierte Verfassungslehre zu entwickeln. Das ist nicht geschehen. Gelegentliche Usurpationen des bloßen Titels ändern daran nichts. Der Grund ist nicht ein Versagen der Wissenschaft. Vielmehr ist eine systematische Verfassungslehre vom Gegenstand her nicht mehr möglich. Das zu erweisen ist der Sinn der folgenden Ausführungen. Das Verteilungsprinzip Als Verteilungsprinzip ist in der Verfassungslehre die Abschichtung individueller Freiheit und staatlichen, hoheitlichen Handelns gemeint. Anders ausgedrückt: der Umfang der staatlichen Befugnisse und ihres Rechts, in die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter Freiheit und Eigentum einzugreifen. Dieses Verteilungsprinzip w i r d heute weithin verworfen 8 . Man wendet dagegen ein, daß die Beziehung des Einzelnen zum Staat sich gegenüber der Ursprungszeit der Grundrechte wesentlich verändert habe und — was auf das gleiche hinausläuft — daß das sogenannte Eingriffsdenken, das früher für die Auslegung der Grundrechte bestimmend war, überwunden sei oder doch überwunden werden müsse4. 1 Vgl. auch die Vorbemerkung zu den späteren, unveränderten Auflagen der Verfassungslehre, i n der es heißt: „Das Buch behält deshalb, ohne Rücksicht der von i h m als Beispiel herangezogenen Verfassungsbestimmungen, seinen praktischen u n d theoretischen Wert, solange der Typus der rechtsstaatlichdemokratischen Verfassung positive Geltung hat." I n diesem Nachsatz steckt das aktuelle Problem. 3 Statt aller etwa Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik, 1967, S. 118 ff. 4 Häberle: Die Wesensgehaltgarantie des A r t . 19 Abs. 2 Grundgesetz, 1962.

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I n der Tat: die Antiquiertheit der rechtsstaatlichen Verfassung ist unbezweifelbar. Wer wollte bestreiten, daß der Freiheitsbegriff, der m i t der rechtsstaatlichen Verfassung verbunden ist, einer Zeit entstammt, die von den heutigen Gegebenheiten denkbar weit entfernt ist. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, festzustellen, welche Änderungen sub specie der Freiheit eingetreten sind und welche Folgerungen daraus zu ziehen sind. Als die französische Revolution mit der Deklaration der Menschenrechte den Einzelnen in die Freiheit des gesellschaftlichen Lebens entließ, stellte sie keinen Freibrief für W i l l k ü r und Chaos aus. Sie war vielmehr von der praestabilierten Harmonie der gesellschaftlichen Zustände überzeugt: le monde va de luimême. Diese Harmonie glaubte sie mit der Beseitigung der Feudalordnung i n Funktion gesetzt. Es kann dahinstehen, ob diese Konzeption je richtig war. Sicher ist, daß sie durch die spätere Entwicklung überholt wurde. Die industriell-technische Entwicklung führte nämlich ein Phänomen herauf, das die französische Revolution mit der Beseitigung des Feudalismus überwunden glaubte: die gesellschaftliche Macht i n einer neuen, unbekannten Form. Marx hat sie als einer der ersten beschrieben und erkannt, daß die Grundrechte nicht auf der Seite der Machtunterworfenen, sondern der Machthaber standen. Diese Tatsache hat die Grundrechte nicht ihrer Überzeugungskraft beraubt. Während die rechtsstaatliche Verfassung sich gegenüber den A n griffen von sozialistischer Seite behauptete, setzte andererseits ein Prozeß der Entschärfung der gesellschaftlichen Macht ein. Er begann mit einzelnen Aushilfen: Arbeiterschutz- und Arbeitszeitregelungen, Gründung und Ausbau der Sozialversicherung und anderes mehr. Unter der Weimarer Reichsverfassung, welcher die wechselseitige Anerkennung der Sozialpartner i m November 1918 und damit die Schaffung der Voraussetzungen für ein modernes Arbeitsrecht voranging, waren die mannigfachen Aushilfen bereits zu einem System zusammengewachsen, das man meinte, wenn man den Staat als Sozialstaat bezeichnete. Diese soziale Ausgestaltung der Rechtsordnung machte den Übertritt der Sozialdemokratie auf den Boden der rechtsstaatlichen Verfassung i m Jahre 1919 möglich. Die sozialstaatlichen Elemente, die weite Teile der Rechtsordnung durchdringen, wie etwa das Steuerrecht, und neue Rechtsprovinzen wie das Arbeitsrecht und das Sozialrecht hervorgebracht haben, sind zu einem eigenständigen Teil der Staats- und Rechtsverfassung geworden. Daß die Sozialordnung ein Teil, und wahrlich nicht der unwichtigste, der materiell, nicht formell verstandenen Verfassung ist, w i r d sich schwerlich bestreiten lassen. Das erweist schon der Umstand, daß die sozialen Elemente der Rechtsordnung von unübertroffener Konsistenz sind, die

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sich über die Verfassungsumbrüche hinweg behauptet hat; sie ernsthaft infrage zu stellen oder gar anzutasten liegt außerhalb aller politischen Möglichkeit. Gleichwohl: Teil des förmlichen, i m Grundgesetz geregelten Verfassungsrechts sind sie nicht. Dieser Umstand stellt die Verfassungsrechtswissenschaft vor eine neue Lage. Die Konsequenzen, die man aus ihr zieht, sind je nach der dogmatischen Grundeinstellung verschieden. Es muß immer wieder in Erstaunen versetzen, festzustellen, wie wenig diese Gegensätzlichkeit i n der Verfassungsrechtswissenschaft zur Kenntnis genommen worden ist. Dafür ist die Erörterung des Themas Rechtsstaat — Sozialstaat 5 ein eindrucksvoller Beweis. I n Wahrheit aber reicht die heutige Problematik des Verteilungsprinzips wesentlich weiter und ist insbesondere i n der Auslegung der Grundrechte sichtbar. Alle Versuche nämlich, die gewandelte Sozialordnung i n die Verfassung hineinzuholen, sehen sich auf die Grundrechte verwiesen, da der organisatorische Teil der Verfassung sich ihnen von vornherein versagen muß 6 . Für sie ist es charakteristisch, daß sie nicht durch praktische Notwendigkeiten der Gesetzgebung oder der Rechtsprechung ausgelöst w u r den. Sie haben keine rechtlichen Lösungen angestrebt, die mit den überkommenen Methoden der Verfassungsauslegung nicht erreichbar gewesen wären, wohl aber Schranken weggeräumt und Wege geebnet, die auf den warten, der sie beschreitet. Sofern sie aus den Grundrechten mehr oder anderes herauslesen als individuelle Freiheit, Gleichheit und die Gewährleistung bestimmter Rechtsinstitute, sind sie darauf verwiesen, entsprechendes hineinzulegen. Dafür zahlen sie einen hohen Preis: Die Verunsicherung des Verfassungsrechts. Ein besonders sprechendes Beispiel dessen bietet die Auslegung des Gleichheitssatzes i n dem von Triepel, Leibholz und Aldag inaugurierten Sinne einer Bindung des Gesetzgebers. Es ist auch heute noch nicht unnütz daran zu erinnern, daß Anschütz i n der letzten, 1933 erschienenen Bearbeitung seines Kommentars zur Weimarer Reichsverfassung dieser Auslegung entschieden entgegengetreten ist 7 . I n der Tat verläßt diese Auslegung die Logik der rechtsstaatlichen Verfassung. Indem sie den Gesetzgeber der Anforderung einer materialen Gleichheit unterwirft, führt sie ein ethisches Element i n das Verfassungsrecht ein, das mit dem Willkürverbot negativ umschrieben, aber keineswegs definiert ist. Es ist aber das hervortretende Merkmal der rechtsstaatlichen Verfassung, auf 5 Dazu Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, hrsg. v. Ernst Forsthoff, Darmstadt 1968. β Die durch die Ausbildung der Industriegesellschaft (Verbände!) bewirkte Veränderung der Staatswillensbildung soll damit nicht verkannt werden. 7 a.a.O., S. 528 f.; vgl. auch Thoma i n der Festschrift für das Preußische Oberverwaltungsgericht, 1925, S. 221 ff.

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dem ihre Evidenz und damit die Sicherheit und Klarheit ihrer Handhabung beruht, daß sie sich auf ethische Begriffe, die je nach dem Standpunkt des Beurteilers unterschiedlicher Deutung unterliegen, nicht einläßt. Wenn Anschütz gegen die Vertreter dieser Auslegung des Gleichheitssatzes eingewandt hat, daß sie „sich mit anerkennenswerter Sorgfalt aber m. E. ohne Erfolg bemühen, streng objektive Maßstäbe dafür aufzustellen, was mit dem Gleichheitssatz verträglich und was mit ihm unverträglich, ,Willkür 4 i n diesem Sinne ist", so darf man heute hinzufügen, daß die Verfassungspraxis unter dem Grundgesetz eine einzige Bestätigung dieser Feststellung ist. Nur die Tatsache, daß dem Bundesverfassungsgericht die Kompetenz zugewiesen wurde, den Gleichheitssatz i m Sinne des an den Gesetzgeber gerichteten Willkürverbots verbindlich auszulegen, hat ihm zu einer Praktikabilität verholfen, die weit davon entfernt ist allen Zweifeln entrückt zu sein. Nicht exegetische oder logische Erwägungen, sondern allein die Präjudizien des Bundesverfassungsgerichts belehren darüber, was Gleichheit und W i l l k ü r i m konkreten Falle bedeuten. Die Verfassung ist damit i n hohem Maße verunsichert, da nicht mehr sie selbst, sondern eine i n der Verfassung vorgesehene Instanz darüber befinden muß, was unter Gleichheit und W i l l k ü r i m konkreten Falle zu verstehen ist. Das ist auch insofern bemerkenswert, als hier deutlich wird, daß ein solches Ausbrechen aus der rechtsstaatlichen Logik nicht auf sich selbst beschränkt bleibt, sondern Weiterungen nach sich zieht wie hier eine besondere Funktion und Stellung der Justiz, wozu Anschütz kritisch bemerkte, daß auf diese Weise der eine Absolutismus durch den anderen ersetzt werde, der des Gesetzgebers durch den des Richters. Das wäre, auf die heutige Verfassungspraxis angewandt, gewiß zu hoch gegriffen; aber die Funktionsverschiebung auf Kosten der Gewaltenteilung ist unübersehbar. Diese Überlegungen und Reminiszenzen sind nicht als eine K r i t i k an der modernen Handhabung des Gleichheitssatzes gemeint. Es sind einsehbare Gründe, die ihr zum Durchbruch verholfen haben. A u f das angebrachte Mißtrauen gegenüber dem parteienstaatlichen Gesetzgeber ist öfter hingewiesen worden. Wesentlicher und zwingender ist aber doch die außerordentliche Ausweitung der staatlichen Ingerenz i n die private Sphäre hinein und daraus resultierend das Bedürfnis nach einer Rechtskontrolle, die naturgemäß materialer Kriterien bedarf. So stellt die heutige Auslegung des Gleichheitssatzes einen Fall — und wie vorwegnehmend bemerkt sei: den einzigen Fall — dar, i n dem eine dem rechtsstaatlichen Konzept nicht mehr kongruente Wirklichkeit eine aus diesem Konzept heraustretende Auslegung eines Grundrechts angezeigt erscheinen läßt. Gleichwohl sollte man das Besondere dieser Auslegung nicht übersehen. I m übrigen bleibt zu bedenken, daß der Gleichheitssatz außerhalb der Durchführung des Verteilungsprinzips steht. Aber eine mittel-

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bare Auswirkung der Auslegung des Gleichheitssatzes auf das Verteilungsprinzip ist insofern festzustellen, als die für den Gleichheitssatz entwickelte Methode der Sinnerfassung auf die Interpretation der Freiheitsrechte nicht ohne Einfluß geblieben ist, obgleich ein logisch-hermeneutischer Zwang dazu nicht bestand. Die heute wohl nachhaltigste Negation des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips stellt die heutige geläufige Umdeutung der Freiheitsrechte i n Werte oder gar ein Wertsystem dar. Damit w i r d die in die Subjektivität gebundene Freiheit durch die Objektivität des Wertes ersetzt, die sich aber alsbald als eine Scheinobjektivität erweist. Denn wer sich auf die Werte einläßt, kann (methodisch) der Auf-, Um- und Abwertung nicht widersprechen. Das hat niemand klarer erkannt als der Jubilar, dem diese Zeilen gewidmet sind 8 . U m ein Beispiel einer solchen Umwertung zu geben: Art. 1 GG ließe sich nach Anschauungen, die eine lange Tradition haben und keineswegs auf den Nationalsozialismus beschränkt sind, dahin verstehen, daß erst der i m Gehorsam geleistete Dienst für den Staat oder das gemeine Beste die Menschenwürde zur vollen Entfaltung bringe. Damit würde die Unantastbarkeit der Menschenwürde einen entscheidend veränderten Sinn erhalten. Das Gedankenspiel ließe sich fortsetzen. Hätte der Nationalsozialismus 1933 die Grundrechte als Werte vorgefunden, dann hätte er sie nicht abzuschaffen brauchen. M i t anderen Worten: es ermangelt der Folgerichtigkeit, einerseits die Entscheidung für die Grundrechte für eine Fundamentalentscheidung des Verfassunggebers und andererseits die Grundrechte für Werte zu erklären. Denn damit liefert man die Grundrechte den manipulatorischen Möglichkeiten des Auf-, Ab- und Umwertens aus und verwandelt auf diese Weise die Fundamentalentscheidung des Verfassunggebers in eine Globalermächtigung an die Verfassungsinterpreten. Das Ergebnis ist die Verunsicherung der Verfassung, von der noch nicht abzusehen ist, welche Folgen sich daraus ergeben. Bemerkenswert bleibt, daß bisher keine Notwendigkeit ersichtlich ist, welche zur Preisgabe des Verteilungsprinzips zwingen würde. Welche neuen Möglichkeiten durch die neuen Interpretationsweisen erschlossen werden, zeigt als sprechendes Beispiel die aktuelle Diskussion um die Auslegung der Garantie der Pressefreiheit in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG. Es mehren sich die Stimmen, die dieser Garantie einen institutionellen Gehalt i n dem Sinne geben wollen, daß der Staat durch seine Garantie verpflichtet wäre, eine bestimmte Struktur der Tagespresse zu schützen, indem er Maßnahmen für ihren Fortbestand trifft, Maßnahmen, die sich insbesondere gegen Konzentrationserscheinungen i m Pressewesen zu richten hätten. Die Frage, m i t welchem Recht eine solcher8 Vgl. Carl Schmitt: Die Tyrannei der Werte, jetzt i n erweiterter Fassung i n Säkularisation u n d Utopie, Ebracher Studien, 1967, S. 37 ff.

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maßen staatlich regulierte Presse noch als frei bezeichnet zu werden verdient, scheint in solchen Überlegungen keine sonderliche Rolle zu spielen. Die Erörterungen um den Sinn der Garantie der Pressefreiheit sind besonders aufschlußreich für die Einbeziehung der grundrechtlichen Freiheitsräume i n das soziale Ganze, das mit dem Wort Staat nicht mehr ganz zutreffend bezeichnet ist. Davon w i r d noch zu handeln sein. Den massivsten, zugleich auch fragwürdigsten Versuch, die Sozialordnung i n die Verfassung hineinzunehmen, stellt die These von der D r i t t w i r k u n g der Grundrechte dar 9 . Sie schöpft den intellektuellen Manövrierraum, den sich die moderne Verfassungsauslegung zuerkannt hat, voll aus, indem sie die freiheitgewährenden Normen des Grundrechtsteils in Bindungsnormen umdeutet. Die nahezu einhellige Ablehnung, die diese These gefunden hat, erübrigt ihre nähere Darstellung und Widerlegung. I n diesem Zusammenhang w i r d sie lediglich erwähnt, weil auch sie die Verunsicherung der Verfassung vermehrt; denn die D r i t t w i r k u n g soll nicht generell allen Grundrechten zuerkannt sein, sondern einzelnen von ihnen vorbehaltlich näherer Untersuchung und nach Maßgabe des jeweiligen Falles. Zieht man das Résumé aus diesen nur beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit genannten neuen Weisen der Grundrechtsauslegung, so ist ihnen die Ablehnung des Verteilungsprinzips gemeinsam, die mit der Verunsicherung der Verfassung erkauft wird. Anders ausgedrückt: der Freiheitsraum der Grundrechte w i r d nicht i m Vorfelde der Staatlichkeit belassen, sondern — unter Verwandlung i n objektive Ordnungsgehalte — i n den von der Verfassung umgriffenen Funktionsraum des Staates einbezogen. Die Freiheit hört auf, eine vorstaatliche zu sein, sie erhält einen Stellenwert innerhalb des Staatssystems 10 . Die Frage stellt sich, wie diese radikale Wendung i m Verständnis der Grundrechte zu erklären ist, sie stellt sich um so mehr, als kein konkreter Anlaß bestand, die Freiheit i m Sinne der klassischen Grundrechte über Bord zu werfen. Man könnte daran denken, daß man sich von dem Verteilungsprinzip getrennt hat, weil man in der vorstaatlich verstandenen Freiheit ein Relikt des Naturrechts zu erkennen meint, was es freilich nicht ist bzw. nicht zu sein braucht. Aber dann sähe man sich der seltsamen Tatsache gegenüber, daß Autoren, die den Grundrechten aus Art. 1 GG einen übergesetzlichen Rang zuerkennen, gleichwohl die Freiheit i m Sinne des Verteilungsprinzips ablehnen 11 . 9

Nipperdey, i n : Die Grundrechte, Bd. I I , S. 18 ff. Der Terminus sei hier beibehalten, obgleich er, wie noch zu zeigen sein w i r d , die heutige Wirklichkeit nur noch bedingt t r i f f t . 11 Statt aller Diirig i m GG-Kommentar von Maunz-Dürig, zu A r t . 1 Rdn. 73, 46. 10

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Immer wieder berufen sich die Vertreter der neuen Grundrechtsauslegung auf den Satz aus dem Investitionshilfe-Urteil 1 2 des Bundesverfassungsgerichts: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten, souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum—Gemeinschaft i m Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten." Ein erstaunlicher Satz. Denn was er dem Grundgesetz als Entscheidung attestiert, hatte schon für die Verfassungen der konstitutionellen Monarchie wie für die Weimarer Reichsverfassung seine banale Richtigkeit. Abgesehen davon, daß er ein Musterbeispiel der Verunsicherung ist (denn was bedeutet genau die Gemeinschaftsgebundenheit ohne Antastung des Eigenwerts der Person?), ist sein Erkenntnisgehalt gleich Null. Lediglich dies ist an ihm bemerkenswert, daß er zum Incitamentum der modernen Grundrechtsinterpretation werden konnte. Hat die neue Grundrechtsinterpretation keinen auslösenden konkreten Anlaß, dann w i r d man ihren Grund und Motor i n den allgemeinen Tendenzen der Zeit zu suchen haben, mag man ihn als sozialen Trend oder wie sonst immer charakterisieren. Nun ist gewiß zu keiner Zeit die Rechtswissenschaft, zumal die Verfassungsrechtswissenschaft von zeitlichen Einflüssen unberührt geblieben. Aber zur gegenwärtigen Verfassungslage wäre die Frage zu stellen, ob der soziale Trend die Verabschiedung des Verteilungsprinzips und damit der liberalen Freiheit mit Notwendigkeit erfordert. Das ist zu verneinen. Ich habe an anderer Stelle dargelegt, daß sich ein weithin perfektionierter Sozialstaat und die liberal-rechtsstaatliche Verfassung nicht nur nicht ausschließen, sondern sinnvoll ergänzen 13 . Auf dem heutigen Stande von Industrie und Technik sind die sozialen Umverteilungen großen Stils mit den Mitteln der Besteuerung möglich geworden, ohne i n das System der Güterverteilung einzugreifen. Die schützende Kraft der weit gespannten liberalen Eigentumsgarantie ist ungebrochen geblieben. Es ist schlechterdings nicht einzusehen, warum es hinsichtlich der sonstigen Grundrechte dabei nicht ebenso sein Bewenden hätte haben können. Dazu hätte es freilich der richtigen Einordnung der Verfassung i n das soziale Ganze bedurft. Diese Einordnung hätte sich von Sinn und Wortlaut des Grundgesetzes her angeboten. Dahin nämlich, daß sich das Grundgesetz, ungeachtet des Sozialstaats-Bekenntnisses, als eine ihrer logischen Struktur nach auf Freiheit angelegten Verfassung abweisend gegen soziale Gehalte erweist und erweisen muß. 12 13

BVerfGE 4, 7 (15 f.). Rechtsstaat i m Wandel, 1964, S. 27 ff., 197 ff.

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Versteht man unter der Verfassung diejenige Ordnung eines politischen Gemeinwesens, welche die wesentlichen Elemente der organisierten Existenz dieses Gemeinwesens zum Inhalt hat, dann w i r d man an der Feststellung nicht vorbeikommen, daß das Grundgesetz dieser Beschreibung nicht entspricht. Diese Feststellung gilt unabhängig davon, welche Auslegungsmethode man befolgt. Denn auch die extensivste sozialrechtliche Interpretation ist nicht i n der Lage, die gewiß zur organisierten Existenz der Bundesrepublik zu zählenden Normen und Institutionen, die i m Dienste sozialer Zwecke stehen, i n das Grundgesetz zu inkorporieren. Man w i r d sich deshalb der Einsicht nicht verschließen können, daß die moderne Verfassungswirklichkeit von dem überkommenen Verfassungsbegriff nicht mehr umschlossen wird. Die moderne Verfassungswirklichkeit stellt sich somit i n zwei Teilen dar: dem förmlichen Verfassungsgesetz und denjenigen Normen und Institutionen, die mit der generellen Kennzeichnung Sozialstaat gemeint sind (ohne daß es hier auf eine genaue Abgrenzung ankäme). Beide Teile sind strukturell verschieden. Die rechtsstaatliche Verfassung ist auf Freiheit angelegt, die sozialstaatliche auf Leistung und Sicherheit. Beide sind jedoch zu einer sinnvollen Einheit verbunden. Freilich: die sozialstaatliche Verfassung nimmt an der Gewährleistung des Art. 79 GG nicht teil, und der Versuch, ihr oder ihren einzelnen Instituten diese Gewährleistung über die Sozialstaatsklausel (Art. 20, 28 GG) zu verschaffen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn da die Grundsätze des Art. 20 GG nach Art. 79 Abs. 3 GG der Abänderung entzogen sind, würde ein solcher Versuch dazu führen, die sozialstaatlichen Normen und Institute in den unveränderbaren Kernbestand der Verfassung zu überführen, was des Guten gewiß zu viel wäre. Für ein realistisches Denken kann aber das Fehlen einer verfassungsnormativen Bestandsgarantie der Sozialverfassung nicht ins Gewicht fallen. Denn die tägliche Erfahrung zeigt die unwiderstehliche Kraft, mit welcher der soziale Prozeß sich selbst produziert. Er hat alle Verfassungsumbrüche überdauert, und längst weiß man, daß er irreversibel ist. Die sozialstaatliche Verfassung trägt also ihre Bestandsgewähr i n sich selbst und ist darin der kodifizierten rechtsstaatlichen Verfassung, die ihr insoweit keine zusätzliche Sicherheit bieten kann, eindeutig überlegen. So steht nichts i m Wege, das Grundgesetz auch unter den heutigen Verhältnissen als eine liberal-rechtsstaatliche Verfassung so zu verstehen und auszulegen, wie rechtsstaatliche Verfassungen eh und je ausgelegt worden sind. Wer gleichwohl glaubt, das Verteilungsprinzip und die Orientierung am Eingriffsdenken aufgeben zu sollen und die Freiheit durch objektive Werte oder Ordnungen ersetzen zu müssen, sollte sich wenigstens Rechenschaft darüber ablegen, was das i n der gegenwärtigen Situation bedeutet. 13 Festschrift für Carl Schmitt

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Die häufigste Begründung für diese Wendung in dem Verständnis der Grundrechte geht dahin, daß der Dualismus Staat—Gesellschaft nicht mehr bestehe, und damit auch das Verteilungsprinzip überholt sei. Demgegenüber ist jedoch folgendes zu bedenken. Unbezweifelbar befinden sich Staat und Gesellschaft i n einem Prozeß der Umbildung, der, obgleich seit Jahrzehnten i m Gange, sein Ende noch nicht erreicht hat. Das heißt, die neuen Strukturformen, denen dieser Prozeß zustrebt, sind noch nicht erreicht. So ist es nicht einfach, diesen Prozeß, in dem sich übrigens Phasen unterscheiden lassen (die jeweils auf technische Standards bezogen sind), i n seinen jeweiligen Auswirkungen zu deuten. I m Jahre 1960 glaubte ich feststellen zu können, daß der Staat zu einer Komplementärfunktion der Industriegesellschaft geworden sei 14 . Die neuere Entwicklung hat weitere Einblicke i n den Ablauf dieses Prozesses ermöglicht. Sie rechtfertigt eine umkehrende Erweiterung der 1960 getroffenen Feststellung: mit gleichem Recht läßt sich sagen, daß die Industriegesellschaft zu einer Komplementärfunktion des Staates geworden ist, was bedeutet, daß Staat und Industriegesellschaft i m Begriffe sind, zu einer funktionalen Einheit zu verschmelzen. Das Medium dieser Verschmelzung ist die Technik und eine durch die Technik bedingte spezifische Struktur, von der Staat und Industriegesellschaft i n gleicher Weise überformt werden. Das Ergebnis dieser Überformung w i r d von dem amerikanischen Ökonomen und Soziologen J. K. Galbraith als Technostruktur bezeichnet 15 . Damit ist folgendes gemeint. Die moderne Wirtschaft w i r d nicht mehr durch den Unternehmerbetrieb, sondern durch den von einem Managerteam geleiteten Betrieb bestimmt. Die wirtschaftlichen Vorgänge werden nicht mehr durch eine unternehmerische Entscheidung ausgelöst, sondern beruhen auf Planung, die das Werk von Fachmännern (Technikern, Kaufleuten, Organisatoren usw.) ist. Solche Planung großen Stils, und auf sie kommt es an, weil sie strukturbestimmend ist, bleibt nicht auf das w i r t schaftliche K a l k ü l früherer Zeiten beschränkt. Sie greift, indem sie Fragen des Außenhandels, der Außenpolitik, der Heranbildung von Nachwuchs, der Gesetzgebung auf den jeweils einschlägigen Gebieten mit einbeziehen muß, in den staatlichen Bereich über. Entsprechendes gilt i m umgekehrten Sinne für den modernen Staat. Er ist schon als Verteilerstaat der Wirtschaft auf das engste verbunden. Er kann sich gegenüber einer auf Planung beruhenden Wirtschaft immer weniger durch punktuelle Entscheidungen zur Geltung bringen und steht deshalb unter dem Zwang, eigene planerische Konzeptionen zu entwickeln, die nun auch ihrerseits nicht auf den Rahmen herkömmlicher staatlicher Funktionen 14 15

Rechtsstaat i m Wandel, S. 201 ff. Die moderne Industriegesellschaft, 1968, S. 76 ff. u. pass.

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beschränkt bleiben können, sondern in die gesellschaftlichen Verhältnisse hinein ausgreifen müssen. Selbstverständlich bedürfen solche sich notwendig überschneidenden Planungen der Koordination. Auf diese Weise wachsen Staat und Industriegesellschaft ineinander. Dieser Prozeß, in den Vereinigten Staaten offenbar weit fortgeschrittener, zeichnet sich sichtbar in der deutschen Wirklichkeit ab. Anders als i n den traditionell weniger belasteten und in der Organisation der staatlichen Funktionen ungleich elastischeren Vereinigten Staaten steht ihm auf deutschem Boden die festgefügte überkommene Staatsstruktur entgegen, was zu mancherlei Aushilfen geführt hat, von denen i n späterem Zusammenhang noch zu handeln ist. Das Ziel aber, dem sich die Entwicklung zubewegt, ist unverkennbar: ein soziales Ganzes von wesentlich technisch bestimmter Struktur, in dem überkommene Sachbereiche wie Staat, Wirtschaft, Bildung wenn nicht aufgelöst so doch in den Grenzen unscharf und relativiert werden. Vor dem Hintergrund dieser Gegebenheiten gewinnen die Grundrechte eine neue Bedeutung. Von ihrer Auslegung hängt es ab, ob der Einzelne mit der gesamten Person in dieses technisch strukturierte soziale Ganze einbezogen ist oder ob ihm noch ein Freiheitsreservat bleibt, das die Verfassung ihm zusichert. Die heute vorherrschende Richtung in der Staatsrechtswissenschaft hat sich für diese Einbeziehung entschieden. Daß dies i m Zeichen der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit geschieht, ist eine Pointe, die der Ironie nicht entbehrt. Die an dem herkömmlichen Verständnis der Grundrechte festhaltende Auslegung, die zugegebenermaßen diesen ethisch aufgeladenen, pausbäckigen Begriffen ferner steht, kann jedenfalls, indem sie sich zur subjektiven, individuellen Freiheit als alleinigen Gehalt der Grundrechte (soweit sie der Person gelten) bekennt, für sich in Anspruch nehmen, sich gegenüber einer konkreten Lage entschieden zu haben und nicht verflossene Ideen und Begriffe zu galvanisieren. Welche praktische Bedeutung die grundrechtlich gesicherte Freiheit als Reservat der Person in Zukunft behalten wird, hängt vom Staat ab. Es besteht insoweit kein Anlaß, allzu optimistisch zu sein. Aber wie dem auch sei: denjenigen, die am überkommenen Grundrechtsverständnis festhalten, bleibt in jedem Falle die Genugtuung, den Marsch in den Kollektivismus nicht mit intellektueller Begleitmusik illustriert zu haben. Damit soll nicht i m mindesten verkannt sein, in welchem Maße das Verteilungsprinzip der rechtsstaatlichen Verfassung relativiert ist. Es ist i m gleichen Maße relativiert wie die Verfassung selbst. Die Verfassung hat ihren Rang als Ausdruck der Form der politischen Existenz des Volkes durch die geschilderten Umstände weitgehend verloren. Die Autonomie der Verfassung baut sich i m Zuge des technischen Prozesses un1

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aufhaltsam ab. Die das soziale Ganze bewegenden und verändernden Kräfte sind nicht mehr i n die Verfassung eingebunden, sondern innerhalb wie außerhalb ihrer wirksam. Welche Folgerungen sich daraus für die Verfassungslehre — sofern sie nicht nur eine Beschreibung, sondern ein System sein soll — ergeben, ist klar. Die Verfassungslehre als System steht und fällt mit dem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip. M i t seiner Preisgabe sinkt die Begrenzung der staatlichen Funktionen gegenüber dem Einzelnen i n die Jeweiligkeit des Empirischen ab und entzieht sich dem systematischen Konzept. Aber wo dieses systematische Konzept mit dem Verteilungsprinzip aufrechterhalten wird, darf kein Zweifel daran bestehen, daß das System der Verfassung und ihrer Lehre i n Grenzen verwiesen ist, die i h m die heutige Wirklichkeit gezogen hat. Die der Rechtsstaatlichkeit ursprünglich wesentliche Ausschließlichkeit der Verfassung und ihres Verteilungsprinzips gehört der Geschichte an.

Die politische Verfassung. Repräsentation und Identität I. Es ist nicht die Absicht, i n eine kritische Würdigung der organisatorischen Prinzipien der rechtsstaatlichen Verfassung (Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Rechtspflege, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung usw.) einzutreten. Das würde den Rahmen dieses Beitrages bei weitem übersteigen. Ausgehend von der Feststellung 16 , daß auch der rechtsstaatlich verfaßte Staat nicht darauf verzichten könne, Staat zu sein, gelten die folgenden Überlegungen der Staatlichkeit der Bundesrepublik. Alle politischen Verfassungen einer vorgeschrittenen Kulturstufe stellen die Realisation von zwei Grundprinzipien dar: dem der Identität und dem der Repräsentation. Diese Prinzipien kommen, wie Carl Schmitt (S. 244 ff.) des näheren ausführt, in den Verfassungen nicht „rein" vor. Reine Identität und reine Repräsentation sind utopische, i n der konkreten Wirklichkeit der Verfassung nicht realisierbare Begriffe. Deshalb sind i n den modernen Verfassungen notwendig beide Grundprinzipien enthalten. A r t und Grad ihrer Verwirklichung machen die Besonderheit der jeweiligen Verfassung aus. Repräsentation und Identität sind damit die konstituierenden Elemente nicht nur der politischen Verfassung, sondern auch einer zum System gebrachten Verfassungslehre. Der Versuch einer Analyse der i m Grundgesetz formierten politischen Verfassung auf der Basis dieser methodisch-systematischen Einsichten sieht sich alsbald einer Fülle von Zweifelsfragen gegenüber. 1β

Verfassungslehre, S. 125.

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I m Mittelpunkt jeder demokratischen Verfassung steht naturgemäß die Repräsentation 17 des Volkes selbst. Die repräsentative Stellung des Parlaments ist seit langem zum Problem geworden. Leibholz stellte für die Parlamente unter der Weimarer Reichsverfassung fest: „Vor allem befindet sich das Repräsentationssystem selbst gegenwärtig in einer schweren Krise 1 8 ." Grund der Krise war die Abhängigkeit der Mandatsinhaber von den zu immer größerer Mächtigkeit aufgestiegenen Parteien; also der Untergang des freien Mandats: „ohne Entschließungsfreiheit ist aber . . . von Seiten der politisch-dezidierenden Persönlichkeiten eine Repräsentation nicht möglich" 1 9 . M i t diesem Repräsentationsdefekt hat man sich i n dem Maße abgefunden, i n dem man erkannte, daß die Parteien für die politische A k t i vierung des Volkes unentbehrlich sind 2 0 . A r t . 21 GG hat diesen Defekt sozusagen verfassungsgesetzlich bekräftigt. Die Verfassungspraxis zeigt, daß sich das Staatsvolk nach wie vor durch das Parlament vertreten sieht. Und es erweist sich, daß die moderne parlamentarische Funktion der repräsentativen Stellung des Parlaments nicht mehr bedarf. Ein Parlament, i n dem nicht mehr mit dem Ziel öffentlich diskutiert wird, durch Austausch von Argumenten, also durch einen dialektischen Prozeß den hohen Ideen der Wahrheit, Gerechtigkeit und Richtigkeit näher zu kommen, in dem stattdessen Interessen abzugleichen und zweckrationale Lösungen zu suchen sind, bedarf des freien Mandates nicht mehr i n gleichem Maße. Denn wenn man dem Parlamentarier die Interessenvertretung als legitime Aufgabe zugesteht — und daß das heute geschieht, läßt sich schwerlich bestreiten —, dann kann man die kollektive Interessenvertretung nicht für illegitim erklären. Sie bestimmt die Zusammensetzung des heutigen Parlaments, wobei die Parteien, wie man weiß, keineswegs die einzigen und vielleicht nicht einmal die wirksamsten Formen der interessenmäßigen Solidarisierung sind 2 1 . M i t diesen Feststellungen soll natürlich dem freien Mandat (Art. 38 GG) nicht jede Bedeutung abgesprochen werden. Der Schutz, den es dem Abgeordneten zum Beispiel in dem heute freilich seltenen Fall des Fraktionswechsels gewährt, ist nach wie vor ein wesentliches Element der modernen Parlamentsstruktur. 17 Repräsentation w i r d hier i m herkömmlichen Sinne als die seinsmäßige Vergegenwärtigung eines als abwesend gewußten Seins verstanden. Die u m deutende Ausweitung, die Herbert Krüger: Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 234 ff. dem Begriff der Repräsentation gegeben hat, „als Weg zur Richtigkeit von Sinn und Handeln des Staates", weist der Repräsentation eine andere F u n k t i o n zu, von der hier nicht zu handeln ist. 10 Begriff und Wesen der Repräsentation, 1929, S. 98. 19 a.a.O., S. 100. 20 Statt aller Leibholz: Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1958, 571 ff. 21 M a n denke etwa an den Einfluß sozialer oder beruflicher Gruppierungen innerhalb der Fraktionen.

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Kann man den Repräsentationsdefekt durch das Aufkommen der Parteien und den Untergang des freien Mandats noch den vielfachen Strukturwandlungen des Staates i n unserer Zeit zurechnen, so trifft das für die politische Formierung der modernen Industriegesellschaft in den Verbänden nicht mehr zu. M i t ihnen ist die der Repräsentation wesentliche Ausschließlichkeit der Vergegenwärtigung des politischen Volkes zerstört — und mehr als das. Damit ist ein viel erörtertes Thema berührt. Es besteht jedoch weder Veranlassung noch Absicht, es i n extenso zu behandeln. Die folgenden Überlegungen müssen sich auf diejenigen Aspekte beschränken, die für die Thematik dieses Beitrags wesentlich sind, das heißt sie müssen der Frage gelten, welche Folgerungen aus der Wirksamkeit der Verbände für die Möglichkeit einer als System gefaßten Verfassungslehre zu ziehen sind. Das ist freilich ohne eine Vorverständigung über die politische Rolle der Verbände nicht möglich. I n der Beurteilung dieser Rolle werden die Phasen der historischen Entwicklung sichtbar. Unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung bestand kaum eine Meinungsverschiedenheit darüber, daß der politische Anspruch der Verbände einen unerlaubten Einbruch in die verfassungsrechtlich geregelten Prozeduren der staatlichen Willensbildung darstelle und eine krisenhafte Schwächung nicht nur des parlamentarischen Systems, sondern auch der Staatlichkeit schlechthin signalisiere. Daran hat man unter dem Grundgesetz nicht mehr festgehalten. Die in einer gegenüber der Weimarer Zeit veränderten Struktur nach 1945 sich ausbildende Industriegesellschaft 22 machte eine Korrektur dieses Urteils unabweislich. Man gestand den Verbänden die Beteiligung an der „Vorformung des politischen Willens" zu, die i n einem breiten, das Parlament umgebenden Bereich unter Beteiligung von Presse, Rundfunk, Sachverständigen, Beiräten usw. stattfindet 23 . Scheuner weist den Verbänden folgende Aufgabe zu: die Sammlung und Vorprüfung der Interessen und ihre Darstellung i n der Öffentlichkeit, Verständigung und Ausgleich innerhalb einer Gruppe und die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte untereinander, die Erziehung der Mitglieder und schließlich die Geltendmachung der Teilinteressen „ i m ganzen" durch Sachberatung, Einflußnahme auf Öffentlichkeit und Parlament und durch Verbindung zu den politischen Parteien. Inzwischen ist die Entwicklung weiter gegangen. Für Scheuner bewegt sich die A k t i v i t ä t der Verbände i m Vorfeld der politischen Willensbildung. Er hält daran fest, daß es der Staat ist, der diese Willensbildung letztlich autonom zu vollziehen habe. Das freilich mit einem besorgten 82

Dazu Forsthoff : Rechtsstaat i m Wandel, 1964, S. 200 ff. Scheuner: Verbände u n d verfassungsrechtliche Struktur, i n : Der Staat und die Verbände, 1957, S. 14. 28

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Blick auf die Wirklichkeit: „Die Stärkung einer unparteiischen Autorität des Staates in diesen Fragen ist das Ziel 2 4 ." Diese Kennzeichnung t r i f f t die heutige Wirklichkeit nicht mehr. Inzwischen ist erkennbar geworden, daß das Verhältnis Staat—Verbände nicht einseitig ist, wie Scheuner es als das Streben der Verbände nach Einflußnahme auf die Staatswillensbildung beschreibt. Es ist zweiseitig in dem Sinne, daß der Staat auf die M i t w i r k u n g der Verbände bei der Erfüllung seiner Aufgaben unbedingt angewiesen ist. Das gilt nicht nur für die Information und fachliche Beratung, welche die staatlichen Stellen durch die Verbände erhalten. Die Vollziehung von Wirtschaftsgesetzen hängt vielfach von der Unterstützung ab, welche die Verbände durch die Einwirkung auf ihre Mitglieder gewähren. Angesichts der Entwicklung, die das Verhältnis von Staat und Industriegesellschaft genommen hat 2 5 , ist es nicht mehr angängig, die Verbände lediglich i m Vorhof der staatlichen Willensbildung zu sehen. I n den Verbänden hat die Industriegesellschaft ihre Organe ausgebildet; neue, technisch bedingte Formen der Unternehmensführung, die der Notwendigkeit der Planung Rechnung tragen, greifen weit über den Bereich der Wirtschaft hinaus und sind von Faktoren abhängig (Nachwuchs, also Leistungsfähigkeit des Bildungssystems, Besteuerung, Außenhandel, Außenpolitik, Heeresausrüstung usw.), die zur Kompetenz des Staates gehören. Umgekehrt sieht sich der moderne Staat als Verteilerstaat auf das ständige Steigen des Sozialprodukts angewiesen und ist deshalb i n allen Fragen der Wirtschaft auf das empfindlichste engagiert. Angesichts dieser Fälle wechselseitiger Bedingtheiten und Abhängigkeiten ist es irreal, i m Verhältnis Staat—Industriegesellschaft noch von Herrschaft i m überkommenen Sinne zu sprechen. Es handelt sich u m ein Verhältnis der Koordination, wobei die beiden Parteien einander mit je eigenen Mitteln ergänzen. Freilich: die Mittel, welche die Verfassung für die Aktivitäten des Staates vorsieht und regelt, sind unverändert die des 19. Jahrhunderts: Das Gesetz, die Rechtsverordnung und der aus gegebenem Anlaß ergehende Regierungsakt, sie alle i m Schöße der zuständigen Organe vorbereitet, beschlossen und verantwortet. So w i l l es die Verfassung, und sie muß es um der parlamentarischen Demokratie willen. Denn ihr entspricht es, daß das Parlament entweder selbst entscheidet oder die Entscheidungen kontrolliert. Der parlamentarischen Kontrolle können aber nur Entscheidungen der Staatsorgane zugänglich sein, die dem Parlament gegenüber verantwortlich sind. " a.a.O., S. 18. I n dieser Hinsicht wesentlich kritischer und skeptischer Werner Weber, a.a.O., S. 19 ff. 25 Näheres dazu bei Forsthoff, in: „ M e r k u r " , M a i - H e f t 1968.

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Wie wenig ein solches System der Staatswillensbildung den heutigen Notwendigkeiten entspricht, zeigt die Staatspraxis. I n den Geschäftsordnungen der obersten Bundesorgane ist die Kommunikation mit den Verbänden ausdrücklich geregelt. § 77 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien, Allgemeiner Teil, vom 8. Januar 1958 bestimmt: „Die Ministerien verkehren grundsätzlich nur mit Zentral- oder Gesamtverbänden, nicht mit örtlichen oder gebietlichen Unterverbänden oder Geschäftsstellen." § 73 der Geschäftsordnung des Bundestages vom 28. Januar 1952 sieht vor, daß zu den Ausschußsitzungen nach Bedarf „Interessenvertreter, Auskunftspersonen und Sachverständige" zugezogen werden können. Entsprechende Möglichkeiten eröffnet § 10 der Geschäftsordnung des Bundesrates vom 31. J u l i 1953. Wesentlicher als diese Vorschriften, von denen intensiver Gebrauch gemacht wird, ist die Einsetzung von Beiräten und Sachverständigengremien zur Vorbereitung staatlicher Entscheidungen. Sie erfüllen i n der Regel einen doppelten Zweck: der Aktivierung von Fachwissen und der Koordination zwischen Staat und Verbänden. Während i n dieser Praxis noch die Vorstellung bewahrt bleibt, daß es schließlich der Staat ist, der entscheidet, macht das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967 (BGBl. I S . 581) die wahre Verfassungsrechtslage offenbar. § 3 des Gesetzes lautet: „(1) I m Falle der Gefährdung eines der Ziele des § 1 (seil. Aufrechterhaltung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts) stellt die Bundesregierung Orientierungsdaten für ein gleichzeitiges, aufeinander abgestimmtes Verhalten (konzertierte Aktion) der Gebietskörperschaften, Gewerkschaften und Unternehmensverbände zur Erreichung der Ziele des § 1 zur Verfügung. Diese Orientierungsdaten enthalten insbesondere eine Darstellung der gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge i m Hinblick auf die gegebene Situation. (2) Der Bundesminister für Wirtschaft hat die Orientierungsdaten auf Veranlassung eines der Beteiligten zu erläutern." Das Gesetz bekennt sich also für den zentralen Bereich der Wirtschaftspolitik, die Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, zur Koordination m i t den Sozialpartnern. Zwar ist das Zurverfügungstellen von Orientierungsdaten an die Beteiligten zugleich die Aufforderung, sich diesen Daten entsprechend zu verhalten. Aber hinter dieser Aufforderung steht keine Sanktion. Die Orientierungsdaten haben keine Rechtsverbindlichkeit 2 6 . Steht also die Befolgung oder Nichtbefolgung i m Ermessen der Beteiligten, so hat die Bundesregierung nur dann eine reale Chance auf die Beachtung der Orientierungsdaten, wenn sie sich der Zustimmung der Beteiligten i m voraus versichert hat. Damit liegt bei der konzertierten Aktion der wesentliche Akzent auf der vorherigen Abte

Stern-Münch:

Kommentar zum Stabilisierungsgesetz, 1967, S. 106 ff.

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Stimmung, der Koordination. Die Orientierungsdaten sind also nicht das Ergebnis einer Entscheidung der Bundesregierung, sondern Resultat der von ihr zu führenden Verhandlungen 27 . Der Zwang zur Planung t r i f f t die Bundesrepublik einigermaßen unvorbereitet. Ideologische Voreingenommenheit hat es lange verhindert, der heute unübersehbaren Notwendigkeit planmäßiger Steuerung der staatlichen Funktionen Rechnung zu tragen. Das hat dazu geführt, daß der Staat sich auf die Kooperation mit einer Wirtschaft verwiesen sieht, die längst über die Mittel, Methoden und Organe der Planung verfügt, deren sie sich ständig bedient, während entsprechende Voraussetzungen der Planung auf seiner Seite fehlen. Denn daß die herkömmliche Organisation der Regierung und Verwaltung, die i n Struktur und Funktion auf die Erfüllung herkömmlicher Staatsaufgaben ausgerichtet sind, für Planungsaufgaben größeren Stils nicht geeignet sind, ist eines näheren Nachweises nicht bedürftig. Gewiß ist die Struktur und Funktion von Regierung und Verwaltung auf deutschem Boden i n zu hohem Maße traditionell geprägt, als daß man jene Beweglichkeit erwarten dürfte, mit der die Vereinigten Staaten durch Schaffung oft lockerer gefügter Gremien oder Behörden neuen Lagen Rechnung zu tragen vermögen, wobei das Fehlen eines Beamtenrechts und die deshalb mögliche Fluktuation der Funktionäre zwischen Gesellschaft und Staat eine erhebliche Rolle spielt. Immerhin bietet 27 A u f die zahlreichen Zweifelsfragen, die durch das Gesetz ausgelöst w e r den, ist hier nicht einzugehen. Dazu n u r ein Hinweis: Stern-Münch, a.a.O., S. 107 bemerken: „Da die Orientierungsdaten n u r informierenden, beratenden und empfehlenden Charakter besitzen, also beachtet werden können, aber nicht beachtet werden müssen, können etwaige verfassungsmäßig garantierten Rechte der Gebietskörperschaften (Art. 28, 30 GG) oder der Sozialpartner (Art. 9 I I I GG) schon aus diesem Grunde nicht verletzt werden, so daß sich die weitergehende Frage, ob der Gesetzgeber und auf seiner Grundlage die Regierung die autonome Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen überhaupt antasten d a r f . . . gar nicht stellt." Das mag formal richtig sein, w o m i t deutlich w i r d , wie sich neue, öffentliche Funktionsmodi von größter Wichtigkeit abseits und jenseits der Verfassung ihren Weg bahnen. Es bleibt aber die Frage, ob die Feststellung von Stern-Münch den Vorgang w i r k l i c h t r i f f t . Das gilt schon für die Terminologie. Die Kennzeichnung der Orientierungsdaten als „ i n f o r mierend", „beratend" u n d „empfehlend" n i m m t ihnen nahezu jedes Gewicht, indem sie ihre Beachtung oder Nichtbeachtung i n das Belieben der Adressaten stellt. Das aber dürfte die Sache nicht ganz treffen. Es gibt außer dem Rechtszwang auch einen Zwang, der i n den Umständen liegt. Vergegenwärtigt man sich das Verfahren, u m das es sich hier handelt: die I n i t i a t i v e der Bundesregierung, die Verhandlungen der Beteiligten m i t dem Ergebnis der „ A b s t i m mung", die daraufhin erfolgende Zurverfügungstellung der Orientierungsdaten, dann darf man sich durch die vorsichtige Terminologie des Gesetzes nicht zu der Meinung verleiten lassen, es bleibe alles unverbindlich und die Beteiligten behielten die effektive Freiheit der Entscheidung. Planerische A k t i o n e n dieser A r t gewinnen eine Verbindlichkeit, die der Anlehnung an rechtsnormative Pflichtenkataloge nicht bedarf. So bilden sich neue A k t i o n s formen aus, die den K o n f l i k t m i t dem Verfassungsrecht vermeiden können.

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Frankreich das Beispiel eines Staates traditionaler Fügung, der in großem Stile plant und sich das dazu notwendige Instrumentarium geschaffen hat, ohne i m übrigen die traditionelle Struktur des Staates aufzugeben. Frankreich ist es gelungen, Trägerschaft und Verfahren der Planung so zu regeln, daß die Planung nicht aus der Zuständigkeit des Parlaments ausgeschieden ist. Der Plan bedarf der gesetzlichen Bestätigung. Diese kann freilich vom Parlament nur i n toto erteilt oder verweigert werden 2 8 . Eine entsprechende Regelung für die Bundesrepublik Deutschland fehlt. Auch § 3 des Stabilisierungsgesetzes enthält sie nicht. Die Vorschrift läßt das Verfahren der Abstimmung, aus dem die Orientierungsdaten hervorgehen, ungeregelt. Das hat zur Folge, daß das Parlament an dem Zustandekommen der Orientierungsdaten, gewiß eines der wichtigsten Planungsmittel, nicht beteiligt ist. Nur das ist i m Zusammenhang der hier anzustellenden Überlegungen wichtig. Man kann die Situation des Parlaments angesichts dessen wohl am besten dahin kennzeichnen, daß seine Autorität und seine Kompetenz gegenüber der Planung ins Leere fallen. Denn die Terminologie des indikativen Plans, der nur Daten übermittelt und Empfehlungen ausspricht, stellt ihn außerhalb der parlamentarischen Kompetenz. Die Tatsache aber, daß auf diese Weise wichtige Sozialabläufe ausgelöst und gesteuert werden, läßt den Verlust i n der Sache erkennen, den das parlamentarische System damit erlitten hat. Dieser Verlust würde immerhin gemildert, jedoch nicht aufgehoben, wenn der Bundestag an dem Zustandekommen der Planung nach französischem Beispiel beteiligt würde. Denn daß eine Versammlung von der Zusammensetzung eines gewählten Parlaments Planungen nur billigen oder verwerfen kann, versteht sich von selbst. Eine dem Gesetzesinitiativrecht des Parlaments entsprechende Planungsinitiative des Parlaments wäre utopisch. Ob und wie die Wendung zur Planung, die keineswegs auf das hier beispielhaft herangezogene Stabilisierungsgesetz beschränkt ist, mit einem zu läuternden Begriff von Demokratie i n Einklang zu setzen ist, etwa i n der Weise, daß man den an der Planung beteiligten Verbänden eine demokratische Legitimation zuerkennt, muß hier unerörtert bleiben. Sicher ist jedoch, daß die repräsentative Stellung des Parlaments dadurch eine weitere, erhebliche Schwächung erfahren hat. Das mag diejenigen wenig berühren, die den Begriff der Repräsentation bereits aus dem Verfassungsrecht eliminiert haben, und das nicht aus den hier dargelegten Gründen, sondern weil er ihnen offenbar nichts mehr besagt. So bleibt das Wort Repräsentation i n der Darstellung des Bundestages als Volks" Vgl. die anschauliche Darstellung i n Roger Houin: La Planification Française i n Planung I I , hrsg. von Joseph H. Kaiser, 1966, S. 149 ff.

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Vertretung bei Konrad Hesse leer 2 9 , i n den Ausführungen über das freie Mandat fehlt es überhaupt. Der Begriff der Repräsentation ist jedoch zu bedeutungsvoll i n die Geschichte der parlamentarischen Demokratie verflochten, als daß man sein Verschwinden aus der Verfassungswirklichkeit unreflektiert hinnehmen könnte. Denn dieses Verschwinden beraubt das politische Volk seiner Darstellung als des tragenden politischen Faktors. Es verwandelt das Volk i n eine Wählerschaft und Interessentenschaft mit jeweiligen Optionen für bestimmte Parteien. Damit ist dem Volk als einer geschichtlich-politischen Potenz ein Ende gesetzt, jedenfalls soweit es sich um die Verfassung als Aktivierung und Formung dieser Potenz handelt. Unter diesen Umständen ist es einigermaßen verwunderlich, wie leicht man die Repräsentation aus dem Verfassungsrecht verabschiedet hat 8 0 . Diese Verabschiedung ist allerdings die notwendige Folge der Entwicklung, die das Staats- und Verfassungswesen i n unserer Zeit genommen hat. Nachdem zu den klassischen Aufgaben des Staates als eines Herrschaftsverbandes die sozialen Funktionen der Umverteilung getreten sind, vollzieht sich das Wirken des Staates auf den zwei Ebenen der Herrschaft und der Verteilung. Daß es sich um zwei verschiedene Ebenen, die der Herrschaftsverfassung und die der Sozialverfassung handelt, wurde bereits eingangs dargestellt. I m Rahmen der Sozialverfassung t r i t t das Volk als geschichtlich-politische Potenz nicht i n die Erscheinung. I n der Umverteilung kann es nur Gebende und Nehmende geben. Hier von Repräsentation zu sprechen wäre sinnlos, weil es sich auf dieser Ebene nur um den Antagonismus von nicht repräsentierbaren Interessen handeln kann. Diese beiden Ebenen sind zwar unterscheidbar, aber praktisch keineswegs geschieden. Sie durchdringen einander und jeweils der stärkere Teil auf Kosten des schwächeren. Daß die sozialstaatlichen Elemente der Umverteilung und die Implikationen der Daseinsvorsorge ein eindeutiges Übergewicht über die politische Herrschaftsstruktur des Staates haben, liegt offen am Tage 31 . Sie binden den Staat i n toto an das Sozialprodukt und damit an die wirtschaftliche Prosperität. Diese Bindung steht aller staatlichen Politik nach außen wie nach innen voran. Sie schlägt durch als Zwang zur Vermeidung von Risiken und ist damit ein wesentlicher Grund für den fortschreitenden politischen Immobilismus. 19

Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1967, S. 213. I n der Fußnote w i r d der Begriff der Repräsentation unter L i t e r a t u r h i n weisen als „vieldeutig" bezeichnet. Damit hat es sein Bewenden. ao Zutreffend weist Leibholz, A r t . Repräsentation i m Evangelischen Staatslexikon darauf hin, daß über der Entwicklung zur Parteidemokratie plebiszitäre Elemente die Repräsentation verdrängt und ersetzt haben. 51 Dazu Hans Freyer: Schwelle der Zeiten, 1965, S. 258 ff.

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Nicht die Repräsentation formiert das heutige Parlament zu einem einheitlichen Körper, sondern die Funktion. Auch die heutige Gesellschaft kann auf Gesetz und Legalität nicht verzichten. Die Legalisierungsaufgabe ist es, die dem Parlament nach wie vor eine zentrale Stelle vermittelt. Der Unterschied zur parlamentarischen Demokratie früherer Zeiten besteht darin, daß früher der Gesetzesbeschluß des Parlaments auch die Entscheidung i n der Sache einschloß, was heute nur noch bedingt zutrifft. Heute fallen die Entscheidungen i n den Vorverhandlungen, an denen auch die Verbände beteiligt sind, jedenfalls bei Gesetzen von größerer Tragweite. Deshalb verbietet sich auch der Versuch, an der Vorstellung der repräsentativen Demokratie i n der Weise festzuhalten, daß dem Parlament die Repräsentation als Organ der politischen Einheit zuerkannt wird, ergänzt um die Verbände, i n denen i m dialektischen Gegensatz zur politischen Einheit die partikularen Interessen innerhalb der Gesellschaft zur Wirkung gebracht werden. Eine solche Betrachtung muß zunächst schon daran scheitern, daß die Öffentlichkeit nicht mehr besteht, innerhalb deren Repräsentation nur möglich ist. Die Funktion des Parlaments ist weithin — und gerade i n ihrem wichtigen Teil der Sachberatung — der Öffentlichkeit entzogen. Von Repräsentation zu sprechen ist auch wenig sinnvoll, wenn der Anspruch auf Repräsentation nicht mehr erhoben wird, so daß es auch zur Anerkennung dieses Anspruchs auf Seiten der Repräsentierten, auf deren Bedeutung Leibholz zutreffend hingewiesen hat 3 2 , überhaupt nicht kommen kann. Vor allem aber: das dialektische Verhältnis von repräsentativem Parlament und Verbänden würde eine Sonderung und Selbständigkeit auf beiden Seiten voraussetzen, die in Wirklichkeit nicht besteht. Parlament und Verbände sind in persönlicher und sachlicher Beziehung i n solchem Maße ineinander verschränkt, daß sie i n einer dialektischen Wechselbeziehung schwerlich zu denken sind. So darf als Ergebnis festgehalten werden, daß i n einem m i t der Industriegesellschaft verklammerten Sozialstaat für die tragende Bedeutung der Repräsentation kein Raum bleibt. II. Die politische Form der Bundesrepublik w i r d somit i m wesentlichen durch die Identität bestimmt. I n der Tat hat Leibholz die moderne Parteiendemokratie als auf dem Identitätsprinzip beruhend beschrieben: „Hier w i r d der Gemeinwille nicht m i t Hilfe des politischen Prinzips der Repräsentation, sondern des Identitätsprinzips (ohne Beimischung repräsentativer Elemente, und zwar dadurch gebildet, daß der Wille der jeweiligen Parteienmehrheit in Regierung und Parlament mit dem Volksund Staatswillen identisch wird." Dem kann jedoch nur mit einem gewissen Vorbehalt beigepflichtet werden. Geht man davon aus, daß nur 32

A r t . Repräsentation, a.a.O., Ziff. 13.

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das selbst votierende oder handelnde Volk m i t sich identisch sein kann, so ist bereits die durch Wahl erfolgte Bestellung eines Volksvertreters nicht ohne die Beteiligung eines repräsentativen Elements erklärbar. Das gilt auch noch dann, wenn die Wahl, wie Leibholz zutreffend hervorhebt, i n neuerer Zeit mehr und mehr plebiszitären Charakter angenommen hat. Das unmittelbar demokratische Plebiszit kommt dem Identitätsprinzip besonders nahe, enthält jedoch ebenfalls noch ein Element der Repräsentation. Es gibt ein Minimum an Repräsentation, ohne das eine politische Formgebung überhaupt nicht möglich ist, jenes Minimum, das es nicht zuläßt, Identität rein zu verwirklichen 3 3 . Dieses M i n i m u m als notwendiges Element jeder politischen Formgebung ist aber zu scheiden von jener Repräsentation, die das Ziel einer bewußten Verfassungsgestaltung ist, wie das repräsentative Parlament. Wenn also i m folgenden von dem Identitätsprinzip gehandelt wird, dann geschieht das i n dem Sinne, daß das unerläßliche repräsentative Minimum mitgedacht, aber nicht besonders berücksichtigt wird. Unter dem Gesichtspunkt der Identität betrachtet befinden sich die Parteien und die Verbände auf gleicher Ebene. Das bedeutet, daß sich die Zahl der Organisationen, die an der politischen Willensbildung teilhaben, außerordentlich vermehrt hat und ohne eine bestimmbare Grenze ist, zumal je nach der A r t der Entscheidung, um die es geht, verschiedenartige Organisationen ins Spiel treten. Diese Vielzahl der Beteiligten entspricht der Vergesellschaftung von Staat und Verfassung. Denn mit dieser Vergesellschaftung wurde das Interesse und der Ausgleich partikularer Interessen zum Gegenstand der Politik. Nicht, daß erst mit der Vergesellschaftung das Interesse ins politische Spiel getreten wäre. Aber die nahezu vollständige Ausschließlichkeit, mit der es heute das politische Feld beherrscht, nachdem die geistige Signatur des Staates verlorengegangen ist, ist neu. Die Formen, in denen sich das mit sich selbst identische Volk politisch zur Wirkung bringt, haben sich, wie hier deutlich wird, nachhaltig verändert. I m 19. Jahrhundert hatte sich die öffentliche Meinung als das wirksamste Organ des Volkes herausgebildet und galt seitdem als das Mittel schlechthin, m i t dem das Volk selbst unmittelbar auf das politische Geschehen einwirkte 3 4 . Inzwischen ist die öffentliche Meinung aus verschiedenen Gründen gefährdet und auch problematisch geworden. U m nur die wichtigsten zu nennen: erstens sind die Gegenstände der politischen Entscheidung so 33 34

Verfassungslehre, S. 204 ff. So auch die Verfassungslehre, a.a.O.

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kompliziert geworden, daß sie nur noch dem fachmännischen Urteil zugänglich sind. Sie ermangeln jenes Grades von Sinnfälligkeit, die es jedermann ermöglicht, an ihnen urteilend teilzunehmen. Zweitens sieht sich der Einzelne auf Informationen angewiesen, die ihm teils aus staatlich organisierten Quellen (Hundfunk, Fernsehen), teils durch die privaten Massenmedien zugeleitet werden, ohne daß er ihre Vollständigkeit und Richtigkeit kontrollieren könnte. Drittens erzwingen technisch-wirtschaftliche Bedingungen, denen die privaten Medien unterworfen sind, eine Konzentration der Medien. Darin erblickt man eine Gefahr für die Bildung der öffentlichen Meinung. Es ist hier nicht der Ort, dazu i m einzelnen Stellung zu nehmen. Wesentlich ist vielmehr, zu sehen, wie die Formen, i n denen sich das mit sich selbst identische Volk zur Wirkung bringt, sich verändert haben. Bei der Erörterung der gegenwärtigen Bedingungen der Bildung der öffentlichen Meinung geht man heute noch davon aus, daß sie das gleiche bedeute oder jedenfalls bedeuten könne und deshalb auch solle wie i m 19. Jahrhundert. Dabei w i r d aber nahezu ausnahmslos eines übersehen. Die frühere öffentliche Meinung war bezogen auf den Staat und sein demokratisches Element, das Parlament. Unformiert und unorganisierbar stand sie i m dialektischen Bezug zu den i n Wahl und Parlament institutionalisierten Formen demokratischer Staatswillensbildung und hatte insofern die Bedeutung eines gelegentlich unüberhörbaren Korrektivs. Diese Lage ist nicht mehr gegeben. I n dem Maße aber, in dem sich das politische Geschehen der öffentlichen Meinungsbildung und auch der öffentlichen Wahrnehmung entzog, traten die Verbände als neue, auf Identität beruhende Organisationen auf, um auf ihre Weise Funktionen der öffentlichen Meinung, freilich i n stark abgewandelter Form, zu übernehmen. Daß darüber die der öffentlichen Meinung eignende Einheitlichkeit der Vielfalt der verbandsmäßig wahrgenommenen Interessen weichen muß, entspricht der weitgehenden Ablösung des politischen Volkes durch die interessenmäßig aufgegliederte moderne Gesellschaft. Inwieweit diese und andere Umstände die öffenliche Meinung zu einer „institutionalisierten F i k t i o n " 3 5 haben werden lassen, mag dahinstehen. Gewiß ist, daß sie die Bedingungen der Bildung einer öffentlichen Meinung außerordentlich verengt haben. Gibt es doch kaum noch Themen von einiger (wirklicher oder vermeintlicher) Sinnfälligkeit, die der öffentlichen Meinung zugänglich sind, wie Tierschutz und Todesstrafe. Und das ist nur einer der Gründe. Deshalb ist es unrealistisch, den Versuch zu machen, die öffentliche Meinung dadurch zu galvanisieren oder gar wiederherzustellen, daß die 35

Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1962, S. 257.

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Bedingungen ihrer Entstehung mit hoheitlichen Mitteln abgesichert werden. Ganz abgesehen davon, daß eine solchermaßen staatlich manipulierte „öffentliche Meinung" notwendig aufhören würde, eine solche zu sein, liegt solchen Bestrebungen eine Verkennung der realen Situation zugrunde. Die öffentliche Meinung als politische Aktivitätsform des m i t sich selbst identischen Volkes ist weitgehend überholt und durch die i n den Verbänden wirksame A k t i v i t ä t abgelöst worden. Das aber bedeutet: die auf Identität beruhenden Aktionsformen richten sich nur noch zu einem bescheidenen Teil direkt auf den Staat. M i t ihrem eigentlichen Gewicht werden sie innerhalb der Gesellschaft wirksam und machen auf diesem Wege ihren Einfluß auf den Staat geltend.

Folgerungen Die Analyse der heutigen Staatswirklichkeit hat erbracht, daß weder das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip noch die beiden Grundprinzipien der politischen Ordnung: Repräsentation und Identität zu den konstruktiven Merkmalen der Bundesrepublik gehören. Dies freilich aus unterschiedlichen Gründen. Während die Repräsentation von der Wirklichkeit überholt wurde, ist das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip von Rechtsprechung und Wissenschaft ohne zwingenden Anlaß — denn welcher hätte es gewesen sein können? — aufgegeben worden. Darauf ist zurückzukommen. Das Grundgesetz gilt noch als Verfassungsgesetz und es steht i n A n wendung. So mag man fragen, welchen Sinn es hat, Erwägungen über Repräsentation und Identität anzustellen, zumal Friktionen fehlen, die zu solchen grundsätzlichen Erwägungen Anlaß geben. Die Antwort ist jedoch mit den angestellten Beobachtungen und Überlegungen bereits gegeben. Diese erweisen nämlich, daß die Verfassung, so wie sie gilt und gehandhabt wird, nicht mehr das ist, was sie zu sein beansprucht (und beanspruchen muß): die abschließende Regelung der politischen Willensbildung des Gemeinwesens. Schwund an Repräsentation und Ausweitung der Identität haben die verfassungsmäßige Ordnung nach der Gesellschaft hin geöffnet und der Kooperation beider Raum geschaffen. Denn während die Repräsentation, jedenfalls i m politischen Bereich, streng auf den Staat beschränkt ist, gilt das für die Identität nicht. Das mit sich selbst identische Volk kann sich beliebige Organe schaffen, um sich zur Wirksamkeit zu bringen. Freilich ist die Identität ein politischer Begriff i n dem Sinne, daß er auf politische Aktivitätsformen des Volkes beschränkt ist. Aber das Staatliche und das Politische sind nicht gleichbedeutend. Die Politisierung der Gesellschaft, eine Folge der Kooperation

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von Staat und Gesellschaft, macht die Gesellschaft zum Entfaltungsraum volklicher A k t i v i t ä t auf der Grundlage der Identität. So umgreift die Verfassung nicht mehr, wie sie beansprucht, das Ganze der politischen Willensbildung, sondern nur noch einen Teil derselben, der sich nicht in fester Relation ermitteln und ausdrücken läßt, und auch von Fall zu Fall schwanken dürfte. Die Verfassung läßt sich deshalb nicht mehr i n das geschlossene System einer Lehre fassen. Das wäre freilich einigermaßen belanglos, wenn es sich um nicht mehr handeln würde als um den Verlust eines systematischen wissenschaftlichen Konzepts. In. Wahrheit zeigt aber gerade die systematische Besinnung auf, was i n Wirklichkeit auf dem Spiel steht: der Realitätsverlust der Verfassung und damit natürlich des Staates selbst. Dieses Ergebnis muß diejenigen beunruhigen, die sich dessen erinnern, daß der Staat dazu berufen ist, nicht nur i n der Wahrung garantierter Grundrechte, sondern auch dort, wo er Herrschaftsrechte ausübt, die Bedingungen für den Genuß individueller Freiheit zu sichern. Daß diese Aufgabe durch die geschilderte Entwicklung nicht überholt, sondern auf neue Weise akzentuiert ist, w i r d inzwischen mehr und mehr erkannt. So schreibt R. Herzog 36 : „Es mag sein, daß mit dieser neo-etatistischen Staatsund Gesellschaftsauffassung 37 die Gefahr einer erneuten Totalisierung des Staates eng verbunden ist. Richtig ist aber auch, daß ein starker, zugegebenermaßen ständig der Kontrolle gegen ein Abgleiten i n den Totalitarismus bedürftiger Staat das kleinere Übel gegenüber einer mit Sicherheit totalitär werdenden Gesellschaft ist." Das ist gewiß ein starkes und mutiges Wort. Aber man w i r d bezweifeln müssen, daß es auch realistisch ist. Der Grad von Unabhängigkeit und wirklicher Macht, der es dem Staat ermöglichen würde, die Gesellschaft i n ihre Schranken zu verweisen, ist in den gegenwärtigen Zuständen nicht anzutreffen. I m Gegenteil: nach den heutigen Gegebenheiten spricht alles dafür, daß sich Staat und Gesellschaft in einer beide überformenden „Technostruktur" (Galbraith) noch enger ineinander verklammern. Gegenkräfte, die dem entgegenwirken, sind nicht erkennbar. Ob sie einmal entstehen und wirksam werden, muß die Zukunft lehren. Unter diesen Umständen fällt die Preisgabe des Verteilungsprinzips i n der modernen Grundrechtsinterpretation um so stärker ins Gewicht. Diese Auslegung geht davon aus, das Verteilungsprinzip für das Grundgesetz von vornherein zu verwerfen. So hat Scheuner 38 gegen die hier vertretene Auffassung eingewandt: „Wer freilich an einem formaltech36

Evangelisches Staatslexikon, Einleitung S. X X X V I I . Seil, die dem Staat die Aufgabe zuweist, die Gesellschaft i n Schranken zu halten. 38 Hundert Jahre deutsches Rechtsleben. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. 2,1960, S. 230. 37

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nischen Rechtsstaatsbegriff festhält wie Forsthoff (Festgabe für Carl Schmitt, 1959, S. 61) und i n ihm nur ein ,System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit', d. h. eine bloße Gesetzlichkeit erblickt, w i r d sich den Weg zu einem richtigen Verständnis des Grundgesetzes und seiner inhaltlich geformten Vorstellung nicht erschließen können." Hier stehen sich in der Tat zwei weit voneinander geschiedene Auffassungen von Rechtsstaat und Grundgesetz gegenüber. Es ist angezeigt, sie in ihrer Verschiedenheit genau zu präzisieren. Beiden gemeinsam, wie wohl allen verfassungstheoretischen Bemühungen unserer Tage, ist die Erinnerung an die nationalsozialistische Zeit und der Wille, Verfassungsordnungen anzustreben, die eine Wiederholung dieser oder entsprechender Zustände so weit ausschließen, als das i n den Möglichkeiten des Juristen liegt. Dann aber trennen sich die Wege. Nachdem die von Radbruch und Wintrich i n Bewegung gesetzte naturrechtliche Welle, wie vorauszusehen, bald verebbt war, glaubte man doch, auf eine ethische, sittliche oder sonstwie materiale Aufladung des Rechts, zumal der Verfassung, nicht verzichten zu können. Auch der Verfassunggeber war von diesem Gedanken erfüllt. Termini wie „Menschenwürde" und „freie Entfaltung der Persönlichkeit" zeigen das. Für diese Aufladung bot sich die geisteswissenschaftliche Methode an. Sie ermöglichte die Umdeutung der Freiheitsrechte i n objektive Werte und Wertordnungen. Natürlich bedeutete diese Methode, präzedenzlos wie sie ist, i n dem Heraustreten einer Jahrtausende alten juristischen Methode einen Verlust nicht nur an Rationalität, sondern auch an wissenschaftlichem Niveau 3 9 . Darüber wäre nicht zu rechten, wenn dieser Verlust der Preis wäre, um den ein den heutigen Gegebenheiten gemäßes Verfassungsverständnis erkauft würde. Aber das ist nicht nur nicht der Fall, sondern das Gegenteil trifft zu. Die geisteswissenschaftliche Methode, welche die Grundrechte i n objektive Ordnungen umdeutet und als Werte versteht, kann diese Objektivation und das Wertverständnis nur i m Ausgriff auf die jeweilig umlaufenden und anerkannten Anschauungen und Überzeugungen gewinnen. Es läßt sich nicht bestreiten, daß sich auf diese Weise ethische und sittliche Gehalte in die Verfassung hineinlegen lassen. Kategorisch zu verneinen ist jedoch, daß der Verfassung auf diese Weise zu einer größeren Gewähr verholfen wird. Wer daran glaubt, muß sich entgegenhalten lassen, daß er die Besonderheit dieses Jahrhunderts (das noch nicht zu Ende ist) mit seinen Ab- und Umwertungen, seinen Hosiannah und Cruzifige, seinen unendlichen geistigen Fluktuationen noch nicht begriffen hat. Vielleicht w i r d i n der Tat der formale Bestand einer so verstandenen Verfassung 39

Dazu Forsthoff : Rechtsstaat i m Wandel, 1964, S. 188 ff.

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erhöht. Denn die Verfassung als Gefäß variierbarer Gehalte ist schließlich niemandem i m Wege, so daß es sich nicht lohnt, sie abzuschaffen. Aber ist das wirklich die Verfassung, die gemeint ist? Dazu kommt ein weiteres. Bisher waren es die Interpreten, welche die Werte und Objektivierungen bestimmten, die sie i n die Verfassung hineinlegten. Das braucht nicht so zu bleiben. Die weitere Entwicklung könnte einen Punkt erreichen, und R. Herzog hat ihn bereits ins Auge gefaßt, an dem die Industriegesellschaft neue und andere Werte setzt und auf ihnen beharrt. M i t welchem Recht dann den Wertsetzungen der Interpreten der Vorrang gebühren soll, ist schlechterdings nicht einzusehen, und die Hoffnung, daß der Staat in diesem Falle die ihm von Herzog zugedachte Rolle des Verteidigers der Grundrechte übernehmen werde, ist darum illusorisch, weil er auf dem Boden einer Verfassung wirksam werden muß, deren Essenz von Werten bestimmt wird, deren Austauschbarkeit schlechterdings nicht bestritten werden kann. Demgegenüber setzt sich die hier vertretene Auffassung vom Rechtsstaat ein wesentlich bescheideneres Ziel. Wenn sie an dem Verteilungsprinzip festhält und Freiheit als Freiheit versteht, und nichts weiter, ist sie zunächst von dem Gedanken geleitet, daß kein Anlaß irgendwelcher A r t besteht, von dieser Anschauung, die man ehedem als eine zutreffende Interpretation des Rechtsstaatsbegriffs erkannt hat, abzugehen. Dazu t r i t t die Einsicht, daß es für ein distinktes Verfassungsbewußtsein entscheidend darauf ankommt, die Rationalität der Verfassung zu wahren, das heißt aber die Prozeduren der Verfassungsauslegung wie der Verfassungsanwendung in den Bahnen der Logik zu halten, mit der Folge der Voraussehbarkeit und der Nachvollziehbarkeit. Das aber (und nicht nur das) macht es notwendig, die Verfassung den Fluktuationen des geistigen und sozialen Lebens, in denen sich der Jurist notwendig als Laie zurechtfinden müßte, also in Wahrheit nicht zurechtfinden kann, zu entziehen und damit den Verfassungsjuristen auf das zu beschränken, was er gelernt hat und versteht. Man wende dagegen nicht ein, daß auch der Jurist in seiner Zeit lebe und sich ihr nicht entziehen könne. Das t r i f f t gewiß zu. Aber darum geht es nicht. Denn es macht einen wesentlichen Unterschied aus, ob der Verfassungsinterpret i n seinen logisch-juristischen Prozeduren, von seiner Zeit berührt, ihr bewußt oder unbewußt seinen Tribut leistet, was immer der Fall war und wogegen um so weniger etwas zu erinnern ist, als der Verfassungsinterpret wie jeder Jurist zum konkreten Denken verpflichtet ist, oder ob der Verfassungsinterpret seine Resultate in bewußter Methode aus den geistigen und sozialen Befindlichkeiten der Zeit ableitet. Man pflegt die hier vertretene Methode als positivistisch zu bezeichnen, und dabei mag es auch sein Bewenden haben. Aber wer diesen Einwand erhebt, sollte sich der Zeit und der Umstände erinnern, unter denen das

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Wort zum Schimpfwort wurde. Das geschah i n Wendung gegen einen Normativismus, der in bewußter Abkehr von der Realität die Norm aus der Norm erklären wollte, der bestritt, daß es erlaubt sei, bei der Norminterpretation die Wirklichkeit mit in Betracht zu ziehen. Konkret gesprochen: der Positivismus auf deutschem Boden zerbrach an der i m Jahre 1923 geradezu irrsinnig gewordenen Gleichung Mark gleich Mark. Niemand kann im Ernst behaupten, daß es hier um ähnliches ginge. Die Methode, die auf diesen Seiten verfolgt wird, ist weit davon entfernt, zu behaupten, daß das Grundgesetz ohne Zusammenhang mit der W i r k lichkeit verstanden werden müsse. Der Rechtsstaatsbegriff, wie er durch das Verteilungsprinzip bestimmt wird, ist alles andere als ein ideologisches Relikt, als das man ihn gerne darstellt. Seinen Bezug zur heutigen Wirklichkeit einsichtig zu machen, ist einer der Zwecke der hier angestellten Überlegungen. Die Überwindung des Positivismus hat — bis an unsere Tage heran — nie bedeutet, die Verbindlichkeit einer Norm zu bestreiten, noch eine Norm dadurch variabel zu machen, daß man sie mit normtranszendenten variablen Gehalten anreichert. Nur eine Auslegungsmethode, der die disziplinierende Ausstrahlung der Staatlichkeit fehlt, kommt in die Lage, mit der Verfassung so zu verfahren. Das Ergebnis ist eine flexible Verfassung, die in Wahrheit keine Verfassung ist. Gerade angesichts der durch Technik und Wirtschaft vermehrten Gefährdung der individuellen Freiheit würde es einer auf dem Verteilungsprinzip beruhenden Verfassung bedürfen, die klar, scharf und logisch voraussehbar und nachvollziehbar den Bereich staatlichen Handelns abgrenzt. Die der geisteswissenschaftlichen Methode folgende Staatsrechtslehre hat die ihr in dieser Zeit gestellte Aufgabe nicht begriffen. Diese Aufgabe war und ist: dem Einzelnen ein Reservat an Freiheit zu sichern. Das aber ist nur möglich, wenn dieses Reservat nicht in das staatliche Ganze einbezogen wird, sondern außerhalb verbleibt. Das ist der eminent aktuelle Sinn des Verteilungsprinzips. M i t seiner Ablehnung macht sich die Staatsrechtswissenschaft zum Schrittmacher der Entwicklung, die sie gerade verhindern will. Das Fehlen einer Verfassungslehre auf der Basis des Grundgesetzes erweist sich damit als in der Sache begründet. Die Öffnung der staatlichen Willensbildung nach der Seite der Gesellschaft, das Schwinden der Repräsentation und die Preisgabe des Verteilungsprinzips haben die Verfassung als logisches System zerstört. Die politische Einheit der Bundesrepublik hat ihren alleinigen Grund nicht mehr in der Verfassung und der verfassungsmäßigen Ordnung. Sie kommt vielmehr durch das Zusammenwirken zahlreicher staatlicher und gesellschaftlicher Faktoren zustande, die sich einer systematischen Erfassung entziehen. 14*

D i e Idee der „auctoritas" : Genesis u n d Entwicklung* Von Jesùs Fueyo, Madrid Der historischen Forschung ist es gelungen, die grundsätzliche Unterscheidung zwischen auctoritas und potestas ziemlich klar herauszustellen. Von einem theoretischen Gesichtspunkt — und vielleicht nicht nur von einem solchen — hat sich die methodische Verwirrung der beiden Begriffe und ihre endgültige Auflösung in dem modernen Begriff der Souveränität konstituiert, die letzte Ursache der philosophischen Inkonsistenz einer jeden modernen Staatstheorie. Diese Verwirrung indes ist durchaus nicht nur eine akademische, sondern sie ist eng mit dem realen Prozeß der Gestaltung der modernen politischen Ordnung verbunden. Notwendigerweise muß von einer Eigenständigkeit der beiden Begriffe gesprochen werden, da es sich um zwei Ideen handelt, die tief i m Lebensgrund wurzeln, i m politischen Ethos eines Volkes, dessen Art, das Zusammenleben zu verstehen, stark auf der Tradition und dem politischen Denken des Abendlandes beruht. Es handelt sich hier um zwei Begriffe, die den ursprünglichen Sinn ausdrücken, i n dem das römische Volk das Zusammenleben verstanden hat. Die römische Idee der libertas meint keineswegs eine metaphysische Eigenschaft des Menschen, sie enthält weder einen Hinweis auf die Natur des Menschen noch drückt sie einen ontischen status aus, auf Grund dessen der Menschen i n irgendeiner Weise besonders zwischen die Dinge gestellt ist. Unabhängig davon, was der Kömer in dieser Hinsicht dachte, war mit dem Wort libertas keine derartige Bedeutung verbunden. Libertas bedeutete für den Römer eine Form der politischen Existenz, die eigentliche Form des römischen Zusammenlebens als res publica. Es handelt sich sicherlich um einen Ausdruck ideologischen Charakters, mit dem der Römer nicht mehr und nicht weniger als die römische A r t und Weise der Gemeinschaft bezeichnen wollte. Entscheidend für das Verständnis der grundlegenden Begriffe der römischen Staatslehre ist, daß die Religion für den Römer keine Gemeinschaft — keiner ecclesia spiritualis — bedeutete, i n der der Einzelne sich mit den anderen vom tiefsten und innersten Grund der Persönlichkeit verbunden weiß, sondern daß das ursprüngliche Zentrum des religiösen * Originaltitel: La Idea De „Auctoritas": Genesis y Desarrollo.

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Gefühls die Gemeinschaft selbst war 1 ; die eigentliche Grundlage des Zusammenlebens innerhalb der römischen Gesellschaft war das Gefühl einer lebendigen und festen Verbindung zwischen der civitas und den Göttern. Die römische Religion und der K u l t bedeuteten also ein geistliches Verständnis der politischen Existenz und gerade deswegen etwas absolut Römisches, das außerhalb des Rahmens der römischen Gemeinschaft politisch unmöglich war. Libertas ist die Teilnahme des Individuums an dieser so verstandenen civitas und deshalb ist sie etwas, das dem Menschen von der civitas und nicht von der Natur gegeben ist. Anders ist es — wie Wirszubski in einer wirklich erschöpfenden Untersuchung zeigt — unmöglich, die rechtliche Handhabung der Sklaverei in Rom zu verstehen. Die Freilassung ist nicht nur eine Aufhebung der Herrschaft, die der dominus über den Sklaven ausübt. Eine Handlung mit nur diesem Inhalt betrifft nicht die juristische Stellung des Sklaven, sondern die konkrete herrschaftliche Beziehung, deren Gegenstand sie ist; sie macht aus ihm eine res nullius, jedoch kein freies Wesen, was für den Römer die Voraussetzung bildete, zur römischen civitas zu gehören. Deshalb ist die Freilassung, die die Freiheit gewährt, die Freilassung „vindicta aut censu aut testamento" ein politischer A k t der Eingliederung in die Gemeinschaft, die der dominus hinsichtlich des Sklaven als Organ der civitas setzt 2 . Während für den Römer seine Stellung als freies Wesen durch die civitas begründet ist, ist der Gebrauch dieser Freiheit immer auf die Gruppe bezogen. Der Römer begreift die Freiheit als eine Möglichkeit, sein Leben mit den anderen zu gestalten; und in der Entfaltung seiner Freiheit, in der eigenen Gestaltung seines Lebens für die anderen und mit den anderen, besteht die dignitas, der honos, streng aristokratische Begriffe. Diese Begriffe bilden die römische Verfassung auf einer Basis, die der des griechischen Ideals der Isonomie bewußt konträr ist 3 . I m öffentlichen Leben tätig zu sein, eine wichtige Rolle zu spielen, war für den Römer der gehobenen Gesellschaft das einzige Ziel seines Ehrgeizes; das Heraustreten aus dem Kreis des Privatlebens, die Schaffung eines festen status und die Erringung einer bedeutenden Stellung i m gesellschaftlichen Leben durch öffentliche Anerkennung — hierin verstand der Römer die Fülle seiner Freiheit. Genau diese Anerkennung meint der Begriff honos; würde man ihn heute mit Ehre übersetzen und mit deren moralischen Assoziationen verbinden, so würde 1 Hierzu Altheim, Franz: Römische Religionsgeschichte, Verl. für Kunst und Wissenschaft, Baden-Baden 1951. 2 Wirszubski , Ch.: Libertas as a Political Idea at Rome during the Late Republic and Early Principate, Cambridge University Press, Cambridge 1950, S. 3. 3 Wirszubski , op. cit., S. 13 ff.; Hirzel , R.: Themis, Dike u n d Verwandtes: ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsidee bei den Griechen, Leipzig 1907; Strohm, G.: Demos und Monarch. Untersuchungen über die Auflösung der Demokratie, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1922, S. 15 ff.

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er fast ganz seiner ursprünglichen Bedeutung entkleidet 4 . Und das ist genau die Sinnverbindung, die unter dem Begriff der auctoritas stattfindet. Auctoritas ist ein Begriff, der sowohl i m privaten wie i m öffentlichen Leben eine Rolle spielt 5 . Der paterfamilias ist sui juris, das bedeutet: er hat auctoritas, ist auctor seiner Entscheidungen. Der Rechtsakt, durch den der Vormund mit seiner Anwesenheit bei den Rechtsgeschäften des der Vormundschaft unterliegenden Minderjährigen m i t w i r k t , w i r d i n den Quellen als auctoritas interpositio bezeichnet; der A k t kann juristisch dem Minderjährigen zugerechnet werden. Wenn aber der Vormund nicht m i t w i r k t — „si tutoris auctoritas non interveniat" — kann der A k t dem Minderjährigen nicht zugerechnet werden, man kann ihn nicht als sein eigenes Rechtsgeschäft betrachten. Für den Begriff der auctoritas ist es von größter Bedeutung, daß folgendes berücksichtigt wird: Jede juristische Zurechnung ist eine Zurechnung auf eine auctoritas hin oder benötigt die Zwischenschaltung einer qualifizierten auctoritas. Der paterfamilias repräsentiert keine Personen alieni juris, über die er Gewalt hat; was diese erwerben, erwerben sie für ihn, aber nicht wegen eines Repräsentationsmechanismus, sondern weil sie i n der Gemeinschaft nur als alieni juris existieren. Soweit ihre Handlungen r e l e vant sein können, sind sie es kraft der auctoritas, der sie unterworfen sind, der auctoritas, die das einzig juristisch Sichtbare für die übrigen Rechtsgenossen ist. Nur derjenige sui juris lebende, der aus irgendeinem Grund — Unmündigkeit, Verschwendungssucht usw. — keine volle Handlungsfähigkeit hat, bedarf eines Vormundes; aber dessen Tätigkeit beruht auch nicht auf dem Begriff der Repräsentation. Damit das Rechtsgeschäft für ihn verbindlich wird, muß er es persönlich vollziehen. Die auctoritas interpositio gibt ihm facultas, potestas über das, was er hat; was er nicht hat, ist: auctoritas. Es handel sich also nur um ein technisches Mittel, welches das Recht ergänzt, indem es zum Verkehr mit den anderen befähigt 6 . Der öffentliche Begriff der auctoritas entwickelte sich auf dieser Grundlage. Der Titel sui juris ermöglicht es, privatrechtlich anderen gegenüber tätig zu werden und an der Regierung der res publica teilzunehmen. Aber die Römer begriffen nie, daß dieses letztere Recht ohne weiteres als bloße Möglichkeit empfunden werden konnte. Die zutiefst aristokratische Mentalität, die mit der römischen Tradition einhergeht, verlangte als gesellschaftliches Kriterium, daß jede Entscheidung solcher A r t einer auctoritas unterworfen werden sollte, d. h. einer 4 Meyer, Ernst: Römischer Staat u n d Staatsgedanke, Artemis Verlag, Zürich 1948, S. 250. 5 Fürst, Fritz: Die Bedeutung der auctoritas i m privaten u n d öffentlichen Leben der römischen Republik, Diss., Marburg 1934; Heinze, R.: Auctoritas i n Hermes L X (1925), S. 348—366; Wegehaupt, H.: Die Bedeutung u n d Anwendung von Dignitas, Schriften der republikanischen Zeit, Diss., Breslau 1932. β Sohm, R. : Instituciones de Derecho privado romano, span. Übers. W. Roces, Revista de Derecho Privado, S. 217.

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öffentlich wegen ihrer dignitas bekannten Persönlichkeit. Auf diese Weise ergab die libertas nicht so sehr das Recht auf Handeln i m öffentlichen Leben aus eigener Initiative als vielmehr das Recht, einen auctor zu wählen, dessen auctoritas frei angenommen wird 7 . So werden die optimates unter der republikanischen Verfassung die einzigen aktiv Beteiligten am öffentlichen Leben. Und so konzentriert sich i m Senat die auctoritas des römischen Volkes. Aber gerade i n der Analyse der Verfassung des republikanischen Senates w i r d die Unterscheidung zwischen auctoritas und potestas deutlich, eine Unterscheidung, die w i r übrigens schon i m Privatrecht beobachtet haben. Die potestas ist ein Titel, auf den sich jede Behörde beruft, sie bezeichnet ganz einfach die Gesamtheit der öffentlichen Befugnisse, die einem officium zustehen, eine zum Wohle der res publica verliehene Vollmacht; sie hat nichts mit der auctoritas zu tun. Die römische Staatsauffassung der republikanischen Epoche, wie sie in den Werken Ciceros Pro Sestio, De Re Publica und De Legibus vertreten wird, hat als wesentlichen Inhalt die Anerkennung der auctoritas i m Senat. Auch wenn Cicero als homo novus auftritt 8 und i m Gegensatz zu der alten erblichen Aristokratie mit ihrer altehrwürdigen dignitas steht, so vertritt er doch nachdrücklich die volle Autorität des Senats. „Die Beschreibung der römischen patrios politeia, einer ,civitas a maioribus nostris sapientissime constituta' " — schreibt Wirszubski — „ist ebenfalls sehr bezeichnend: der Senat w i r d immer als das dominierende Element der Verfassung charakterisiert... I n Ciceros Konzeption findet die Verfassung eines freien Staates ihren Mittelpunkt und ihre Grundlage i n der Autorität des Senates9." Nun, praktisch gesehen hat der Senat keine potestas. Er hat keinen Rahmen für seine Funktionen, wie sie der Begriff imperium beinhaltet. Potestas und imperium haben die Magistratsangehörigen als die Inhaber des officium, das ihnen übertragen worden ist. Auctoritas haben die Senatoren. Nur zwei konkrete Funktionen sind dem Senat vorbehalten: die creatio des höchsten Magistratsbeamten i n den Fällen des interregnum und die auctoritas patrum — ein spezielles Abstimmungsquorum, das für die höchsten Ämter vorgeschrieben ist. Diese Funktionen deuten bezeichnenderweise auf das Vorhandensein nicht nur einer Macht und einer Entscheidungsgewalt hin, sondern auf das lebendige Bewußtsein von dem Ursprung der Macht, für dessen Träger sich der Senat hält 1 0 . I n gleicher Weise ist das senatus7

Wirszubski , op. cit., S. 34—35: „ I t was a deep-rooted habit of thought and behaviour w i t h the Romans to consult competend advisers before undertaking anything of importance whether i n private or i n public life. Libertas is not so much the right to act on one's own initiative as the freedom to choose an ,auctor 4 whose,auctoritas' is freely accepted." 8 Voßrt, J.: Homo novus. E i n Typus der römischen Republik, Stuttgart 1926. • Wirszubski, op. cit., S. 42. 10 Hierzu Siber, Heinrich: Römisches Verfassungsrecht, Verlag Moritz Schauenburg, L a h r 1952, S. 138 ff.

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consultum weder ein Gesetz noch technisch eine Deklaration, die i m Hecht wurzelt. Es geht zurück auf die Befragung eines Magistratsmitgliedes und ist an sich nur A n t w o r t aufgrund höchster Autorität, wenngleich es kraft Gewohnheit allgemein verbindlich ist. Es fehlt dem Senat jedoch an Initiative. Der Senat war damit die Institutionalisierung des ursprünglichen Sinnes der römischen Gemeinschaft, wie er sich i n der Tradition bestätigte und aus der sich jede dignitas herleitete. Das entspricht sicherlich einem tiefen aristokratischen Empfinden, das meistens zu einer Ideologie wird, gegen die die Volksschichten der römischen Gesellschaft i m Namen einer absolut demokratischen Bestrebung kämpften. Jedoch die Idee der auctoritas als Erlebnis des ursprünglichen Gefühls der Gemeinschaft und als öffentliche Anerkennung dessen, was sie bedeutet, w i r d hier der Schlüsselbegriff für die abendländische Idee der politischen Ordnung. Das Prinzip, das den ursprünglichen Sinn der Gemeinschaft ausdrückt, das Prinzip, das sich auf das Zusammenleben i n seiner ursprünglichen Form beruft und das sich als Macht manifestiert, die die öffentliche Anerkennung erreicht als Trägerin dieser Bedeutung, i n der die Errichtung, die Gründung, das schöpferische Faktum der politischen Existenz die Richtschnur des Lebens ist, das ist es, was die europäische Tradition unter „Autorität" versteht. Die auctoritas besteht aus zwei Faktoren, die primär Ausdruck der politischen Existenz sind. Genauso wie die private auctoritas die Eigenschaft des Individuums ausdrückt, sein Leben mit den anderen in eigener Regie (als auctor) zu führen, so drückt die öffentliche auctoritas ursprünglich die Idee aus, daß die politische Existenz als Modalität des Zusammenlebens die Gemeinschaft als auctor hat, selbstverständlich nicht nur in dem Sinne, daß die Entscheidung nicht außerhalb der Gruppe verlagert wird, sondern grundsätzlich gilt als Besonderheit des Zusammenlebens, als ursprüngliche Ordnung, als konkretes Prinzip, auf das die Gruppe ihre Einheit zurückführt. So w i r d i n der auctoritas das Pathos der grundlegenden Idee des Zusammenlebens sichtbar, eines Zusammenlebens, das notwendigerweise i n der ursprünglichen Vorstellung von der Gemeinschaft impliziert ist, und in diesem Sinne w i r d eine tiefe Verehrung dem Ursprung gegenüber offenbar. Diese Besinnung auf den Ursprung t r i t t i n der Terminologie hervor. Auctoritas ist eine Eigenschaft des auctor, auctoritas patrum ist Autorität dessen, der uns das Sein gibt, auctoritas princeps ist die Autorität, die sich auf den Ursprung beruft. Der Zusammenhang zwischen auctoritas und princeps zeigt sich darin, daß princeps i n der republikanischen Epoche weder ein Titel ist, der eine Amtszugehörigkeit bezeichnet, noch ein officium, das den Bereich der Machtausübung kennzeichnet; der Terminus meint den Primat in der dignitas, den ersten Mann Roms, primus inter pares, den ersten in

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der auctoritas. Das führt dazu, daß man den Begriff im Senat zu verwenden beginnt, um den ersten zu bezeichnen, der seine Meinung zu der zur Debatte stehenden Frage zum Ausdruck bringt, nachdem zunächst die Konsuln von Amts wegen gesprochen haben, nämlich als: princeps senatus 11 . Sodann sehen wir, wie sich Augustus zur Befestigung seiner Macht der traditionellen Vorstellung bedient, indem er seine Überlegenheit auf den Primat seiner auctoritas stützt und nicht auf den Inhalt seiner potestas. Offensichtlich sind diese Termini alle durch eine Einheit der Bedeutung verbunden, die auf den Ursprung verweist. Es ist klar, daß hier ein starkes aristokratisches Lebensgefühl mit einer Feinheit der juristischen Betrachtungsweise und des Ausdrucks verschmilzt, wie es kein anderes Volk i n dem Maße wie Rom hervorgebracht hat. Diese Begriffsstruktur ist nicht so sehr die rationalisierte Version des lebendigen Bewußtseins, das das römische Volk von seiner Gründung, der Gründung der Stadt, hatte, als vielmehr der große politische Mythos, mit dem jede Ordnung des Zusammenlebens gefühlsmäßig verbunden ist. Der andere Faktor der auctoritas ist die öffentliche Anerkennung. Gerade weil die auctoritas nur ein Wert in der Gemeinschaft ist, hat sie nichts mit einer natürlichen Tugend zu tun, noch ist sie irgendwie charismatisch, noch ein Wert der Person an sich. Autorität hat man nur im Hinblick auf andere, oder genauer gesagt, auctoritas ist die dignitas, die andere als vox populi auf einen der ihrigen projizieren. Die politische Existenz ist gleichbedeutend mit der öffentlichen Existenz. „Öffentlichkeit ist das Wesenselement der Gemeinschaft. Was nicht öffentlich, gehört nicht in die Geschichte und nicht zur Gemeinschaft, höchstens zur Gesellschaft." Diese treffende Beobachtung von Alois Dempf 1 2 ist eine Verallgemeinerung der römischen A r t des Zusammenlebens, das später den Katholizismus aufnehmen sollte und erst i m Lauf der Reformation zerbricht. Um zu verstehen, was für den Römer diese öffentliche Anerkennung bedeutete, muß man begreifen, daß er im Gegensatz zum modernen Menschen nicht zwischen seiner Wahrheit und der öffentlichen Wahrheit unterschied. Institutionen wie die affectio maritalis zeigen, daß i m Zusammenleben nur das, was öffentlich und offenkundig geltend gemacht wird, wirklich gilt. Der Ehegatte verstößt seine Ehegattin nur wegen einer öffentlichen Beleidigung der affectio maritalis. Der strenge Formalismus der juristischen Formen und Institutionen der klassischen Epoche drückt diese eminent öffentliche Auffassung des Lebens aus. So ist auch die auctoritas vor allem die öffentliche Beachtung des Vorranges 11 Seignobos , Ch.: A n t i q u i t é romaine et Pré-Moyen Age Colin, Paris 1913, S. 127. 12 Dempf , Alois: Sacrum Imperium. Geschichte u n d Staatsphilosophie des Mittelalters und der politischen Renaissance, Oldenburg, München, Berlin 1929, S. 21.

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i m Gemeinschaftsleben. Das Wort Autorität w i r d zum Beispiel noch in diesem Sinn angewendet, wenn man von einer wissenschaftlichen Autorität spricht. Jedoch hat auch diese öffentliche Anerkennung nichts zu tun mit einem juristischen A k t der Anerkennung im modernen Sinn, zum Beispiel mit einer plebiszitären Akklamation. Die auctoritas ist kein quantum an Zustimmung einzelner, sondern Ausdruck einer allgemeinen Wertschätzung, eine A r t gesellschaftlichen Erlebens, eine spontane Manifestation der Gemeinschaft als Gemeinschaft und nicht eine Form der Bejahung der Wertschätzung des Individuums als Individuum. Indem Augustus den Vorrang seiner auctoritas erklärt und sich als princeps bezeichnet, beruft er sich nicht auf einen A k t der Übertragung dieser Befugnisse, was der potestas eigentümlich wäre, sondern darauf, daß er öffentlich als eine so große Autorität betrachtet wird. Nur, innerhalb der politischen Welt der Vernunft sind diese Unterschiede nicht mehr greifbar, und w i r können mit unserer rationalen Mentalität denjenigen nicht verstehen, der nicht darauf besteht, auch das effektive und mathematische quantum an Zustimmungen zu haben. Das Prinzipat des Augustus ist eine politische Erfahrung von höchstem Interesse, nicht nur vom historischen Gesichtspunkt, sondern auch für die Genealogie einiger grundlegender politischer Begriffe der abendländischen K u l t u r 1 3 . Der ideologische Kern seiner Konstruktion liegt in der erfolgreich durchgeführten Absicht, eine neue politische Ordnung einzuführen, jedoch unter Beibehaltung der und sogar Identifizierung mit den traditionellen Kriterien der Rechtfertigung der Macht. Grundsätzlich befreit Augustus den Begriff der auctoritas von jedem formalen Zusammenhang mit der Struktur der republikanischen Macht und bestärkt erneut ihre ursprüngliche Bedeutung der öffentlichen Anerkennung der i n einer Person hervorragenden dignitas. Das Ziel dieser Manifestation ist klar: Bekundung der Vereinbarkeit einer persönlichen auctoritas mit den Idealen der res publica als Freiheit in der Ordnung. Der Titel eines princeps, wie weiter oben erwähnt, drückt eine verstärkte auctoritas aus und ist deshalb keine Neuerung von Augustus. Der Titel war schon während der republikanischen Epoche verwendet worden, speziell um die Hervorragenden in der auctoritas zu kennzeichnen. Die ideologische 13 Hierzu das wahrhaftig glänzende Buch von Cochrane , Ch. Norris : Cristianismo y Cultura clâsica, span. Ubers. J. Carner, F. C. E., México 1949; Rostovt zeff , M.: Historia social y econòmica del Imperio romano, span. Übers. L. LópezBallesteros, Espasa-Calpe, M a d r i d 1937, Bd. I, S. 94 ff.; Dessau, Η . : Geschichte der römischen Kaiserzeit, Bd. I, B e r l i n 1924; Hammond , M.: The Augustan Principate i n Theory and Practice during the Julio-Claudian Period, Harvard University Press, Cambridge, Mass. 1933; Weber, M a x : Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken K u l t u r i n Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Mohr, Tübingen 1924, S. 289—311; Weber, W.: Princeps, Studien zur Geschichte des Prinzipats, Stuttgart, B e r l i n 1936; Grant, M.: From I m p e r i u m to auctoritas. A historical Study of Aes coinage i n the Roma Empire, Cambridge 1946.

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Richtungsänderung besteht darin, daß, während die individuelle auctoritas der republikanischen Zeit letztlich die soziale Stellung und den i n der Versammlung erreichten Einfluß bedeutete und gerade deswegen schwankend war, die auctoritas des princeps dagegen, wie sie unter der Ägide Augustus' entstand, von Dauer ist, sich an die Person bindet und i n ihrem Rang geistig-politisch absolut unvergleichbar mit einer anderen auctoritas ist. A u f dieser Ebene ist die auctoritas „augusta". Die Bezeichnung oder der Titel Augustus kennzeichnet charakteristisch den Beginn des Prozesses, der zur Vergötterung der Kaiser führen sollte. Diese setzt ohne weiteres voraus, daß i m Unterschied zur auctoritas des republikanischen Zeitalters, die — wie Lucrez sagt — aus dem contendere nobilitate hervorgegangen ist, die auctoritas augusta außerhalb jeder Konkurrenz steht. Sie begründet das Prinzip der Gemeinschaft als freier Ordnung, die politische Gemeinschaft findet in der einzigartigen auctoritas die Sinnmitte ihrer Bestimmung. Dennoch ließ der Eifer, mit dem Augustus die Gründung eines neuen Prinzipats innerhalb des geistigen Klimas der republikanischen Tradition verfolgte, ihn die sorgfältigste Unterscheidung zwischen den Begriffen auctoritas und potestas beibehalten. Diese Unterscheidung ist eine Folge der dialektischen Notwendigkeit, die Existenz einer Machtkonzentration zu verneinen, die der gesamten Struktur der republikanischen Verfassung zuwiderlief. I n den Res Gestae, der großen Rechtfertigung der Legitimität der neuen Ordnung, behauptet Augustus, daß, auch wenn irgendjemand ihn an auctoritas übertreffe, seine potestas der der übrigen Magistratsmitglieder gleich sei: „Post id tempus auctoritate omnibus praestiti, potestatis autem nihilo amplius habui quam ceteri qui m i h i quoque i n magistratu conlegae fuerunt 1 4 ." Wie E. Meyer meint, ist es unmöglich, daß ein so wichtiger Absatz i n einem mit größter Sorgfalt abgefaßten Dokument, eine Behauptung, eine Unstimmigkeit, enthalten könnte, die eindeutig nachgewiesen werden könnte. Augustus verwendet das Wort auctoritas i m streng traditionellen Sinn und bezeichnet sich als princeps innerhalb dieser Tradition. Dieser Begriff bezeichnet nicht eine offizielle Stellung i n der Organisaton der Gewalt — was sozusagen Magistratszugehörigkeit wäre —, sondern die Stellung i n der römischen Gesellschaft, d. h. einen privaten Titel 1 5 . Augustus rechtfertigt die Verfassungsmäßigkeit seines Prinzipats damit, daß er Titel, die mit ihr unvereinbar sind, wenigstens i m Normalfall — wie z. B. Konsul auf Lebenszeit, Diktator oder dominus für sich ablehnt. Die ganze Betonung liegt auf auctoritas. Wie Cochrane zeigt, setzt sich die Entwicklung dieses Begriffes durch, offensichtlich i m Hinblick auf die Legitimierung des ordo novus als Rekonstruktion der ursprünglichen Ordnung der römischen 14 15

Res Gestae 34, 3 cit. Wirszubski, op. cit., S. 109. Meyer, op. cit., S. 343; Siber, op. cit., S. 272.

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Gemeinschaft, als ursprüngliche Legitimität. „ A n dieser Stelle" — so schreibt der erwähnte Autor — „müssen zwei Besonderheiten festgestellt werden. Erstens, der Kaiser behauptet, daß seine Stellung formal korrekt sei: tatsächlich letzte Manifestation des imperium legitimum und so authentische Lösung des Problems der Spitze eines freien Staates. Zweitens leitet er seinen Anspruch auf die Autorität aus spezifischen Eigenschaften der Vollkommenheit her, aufgrund derer er den wesentlichen Inhalt der lateinischen politischen Tugend personifiziert. Man kann hier feststellen, daß die Eigenschaften, die der Kaiser fordert, virtus, dementia, justitia und pietas sind. I n dieser Form stellt die Aufzählung eine offensichtlich überlegte interessante Modifizierung der konventionellen Kardinaltugend dar. Zum Beispiel ist die Verwendung von dementia an Stelle von magnanimitas vielleicht darauf gerichtet, den jungen Caesar an seinen Vorläufer zu binden, eine Bindung, durch die ein besonderer Aspekt der julianischen Tradition entstehen sollte. Andererseits ist die Ersetzung von prudentia durch pietas ein aufschlußreiches Charakteristikum, das — wenn auch nicht nur für Octavian geltend — wenigstens in seiner Laufbahn von ungeheurer Bedeutung war. Die pietas blieb also die vierte und letzte Säule der politischen Weisheit des Augustus. So liegt es nahe, daß seine politische Weisheit nicht so sehr i n irgendeiner Fähigkeit, die zukünftige Entwicklung vorauszusehen, lag, sondern darin, die willkommenen Funde der vorausgegangenen Entwicklung zu nutzen. I n diesem Sinne erinnert das an den Geist, den Vergil dem pius Aeneas zugeschrieben hat, der Verkörperung der gleichen Eigenschaften. Die gleiche konservative Gesinnung zeigt sich auch bei Livius. Und hier manifestiert sich ein besonderes und entscheidendes Charakteristikum der Pax Augusta 1 0 ." So nimmt die politische K u l t u r des Abendlandes als römisches Erbe den Begriff der auctoritas streng unterschieden von dem der potestas auf, ein idealer Begriff, der auf den ursprünglichen Sinn des Zusammenlebens hinweist, ein gültiges Symbol für den politischen Ausdruck der Legitimität des Ursprungs. Während potestas nur den Bereich der an die Magistratur übertragenen Befugnisse definiert — einschließlich jener der obersten Magistratur der Gemeinschaft — bringt die auctoritas ein geistiges Pathos jenseits des Rechtes hervor, i n dem ständig die Tatsache der politischen Gruppe als konkrete historische Form des Zusammenlebens zu spüren ist. Das ist daher der eigentliche Beziehungspunkt, auf den jede politische Bedeutung — und i n erster Linie potestas — zurückgeführt werden muß, der eigentliche Ursprung der Gruppenbildung. Das Christentum verwischt alle diese objektiven Bedeutungen und stellt sie auf eine Ebene, die der römischen Mentalität absolut fremd war. Die christliche politische Philosophie der Spätantike und die nach16

Cochrane , op. cit., S. 114.

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folgende Tradition des mittelalterlichen und scholastischen Denkens ist eine allmähliche Neuerarbeitung dieser Begriffe der neuen theologischen Vorstellung vom Universum und insbesondere des neuen metaphysischtranszendenten Verständnisses des Menschen. Da es sich nicht nur um eine Wendung i n der Theorie handelt, sondern auch — und das gilt auch für die Entwicklung der politischen Philosophie — um einen gewaltigen Integrationsprozeß neuer Formen des Zusammenlebens, um einen jahrhundertelangen Versuch, eine civitas Christiana zu errichten, w i r d die Geschichte der Begriffe auctoritas und potestas nicht nur durch starke transzendentalistische Behauptungen der Offenbarung angegriffen. Sie sieht sich darüber hinaus — sogar auf dieser Ebene — einem ideologischen Spiel der Kräfte ausgesetzt, die eine christliche Neuordnung der Welt erreichen wollen. Die letzte Konsequenz dieser Auseinandersetzung ist gerade die Enttheologisierung des existentiellen Bereichs des Politischen und damit die Aufhebung des Begriffs auctoritas, oder genauer gesagt, seine Auflösung i m funktionalen Begriff der Souveränität, eines Begriffs, der nicht mehr diskriminiert, i n dem sich vielmehr auctoritas und potestas schließlich auflösen. Dieser Prozeß, dessen entscheidende Bedeutung für unsere heutige K u l t u r eine zunehmende Beachtung in der wissenschaftlichen Literatur findet, kann hier nur ganz schematisch aufgezeichnet werden, und zwar insoweit, als an ihm die genaue Herkunft einiger der wichtigsten Begriffe, mit denen die heutige juristisch-politische Wissenschaft arbeitet, aufgezeigt werden kann. Er ist jedoch zweifellos eines der wichtigsten Kapitel der Geschichte, nicht nur wegen seines historischen Interesses, sondern gerade heute wegen der dringenden Notwendigkeit, die Bedeutung von Begriffen herauszuarbeiten, bevor man mit ihnen wissenschaftlich die heutige politische Realität konstruiert, eine Realität, deren Erscheinungsform vielleicht letzten Endes mit ihren Inhalten unvereinbar ist. Welcher A r t war die Vorstellung des Christentums vom politischen Zusammenleben? Diese Frage muß vor allen anderen beantwortet werden. Es ist freilich auch hier unmöglich, sich ab ovo einem von allen Gesichtspunkten her heiklen Problem, dessen Literatur zum großen Teil durch sektiererische Schlagworte bestimmt ist, zu stellen. Zusammengefaßt aber genügt das Folgende zur Bestimmung der Grundlage der Bedeutungen, auf der sich die theoretisch-politische Geschichte der Begriffe, die man erforscht, entwickelt. Die christliche Offenbarung ist die Offenbarung des neuen Statuts der Beziehungen zwischen Gott und Mensch, das i n der Erlösung durch Christus besteht. Das bedeutet, daß mit dem messianischen Epos sich für den Menschen ein neuer metaphysischer Horizont eröffnet, der als Ziel die Erlösung in Gott hat. Hiermit bestätigt sich der Mensch in seiner Wesenheit bis zu einem Grad, in

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dem sein spezifisches Sein, seine Persönlichkeit und sein Schicksal alle gesellschaftlichen Strukturen des Zusammenlebens überschreiten. Die große historische Tat des Christentums liegt i n der Auslösung und i n der Erhebung des Menschen in seiner Person über die Ordnung der Natur und auch über die objektiven Richtlinien des Zusammenlebens, der politisch-gesellschaftlichen Strukturen, in denen sein Leben verankert ist. Seit dem Christentum ist es unmöglich — das ist auch der Sinn der Polemik von Augustin und Varrò — das Schicksal der Person nur innerhalb der politischen Gemeinschaft zu sehen, weil sie aus sich heraus zu einer Fülle, die weit über die Welt hinausgeht, berufen ist. Die Idee einer religiösen Begründung der politischen Gemeinschaft erfährt eine bedeutende Wendung, die von der Verdrängung des Menschen aus der Beziehung zu dem höchsten Prinzip bestimmt wird. Auf dieser Grundlage entsteht eine Idee des Seins in der Gemeinschaft, die politisch nicht mehr i n diesem engen historischen Rahmen gesehen werden kann, der jedem einzelnen in dieser Welt gegeben ist, sondern die sich unbegrenzt erweitert, bis sie die ganze Menschheit umfaßt in der christlichen Liebe des Menschen für den Menschen. Diese Gemeinschaft ist die mystische Verkörperung der Einheit in Christo, Ecclesia, und ihre Erfüllung und ihre transzendente Bestimmung ist das Reich Gottes. Durch diese transzendentale Bestätigung des Menschen und der Gemeinschaft in Gott entsteht unausweichlich eine Entwertung der politischen Gemeinschaft vom Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für den Menschen. Wenn diese Abwertung zu einer Betrachtung des Staates und der gesellschaftlichen Institutionen der Hierarchie des Lebens in der Welt zu etwas Sündigem wird, wenn sie hierin die gesetzte Ordnung nur als ein Heilmittel in der Welt für die gefallene menschliche Natur betrachtet — oder noch einfacher und richtiger — wenn das Ergebnis der notwendigen Unterordnung dieser Ordnung in ihrem Inhalt und in ihren Strukturen unter das ontologische Gesetz des Menschen in der Erlösung begründet ist, dann ist das ein Problem, das exakt zu klären hier nicht der Ort ist. Auf jeden Fall aber ist klar, daß der Staat und die gesetzten Institutionen der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens in der Welt nur Formen eines in Sünde geratenen Lebens sein können, was von der Definition her i n der Vorstellung einer politischen Gesellschaft, die auf der religio civilis aufbaut, nicht möglich ist. Damit ist gesagt, daß die richtige Ordnung der politischen Gesellschaft, ihr Ursprung, ihr unsprüngliches Paradigma, kurz gesagt, ihre auctoritas, nicht in sich selbst begründet ist, nicht in der Tiefe ihrer legendären Tradition, sondern daß sie auch transzendental verstanden werden und ihren Ursprung in Gott, dem Ursprung aller Dinge, finden muß. Die Herrschaft Gottes über alles Seiende bedeutet für den Christen nicht nur eine neue Ordnung der Dinge, sondern zum ersten Mal eine Ordnung, eine bedeut-

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same Struktur der Geschichte 17 . Es ist die Geschichte als Schicksal der Menschheit, der neue christliche Begriff der Zeit, als ein von Gott i m Plan der Erlösung festgelegtes Stadium 1 8 . Dies ist der theologisch-historische Hintergrund der paulinischen; Lehre, nach der jede Macht ihren Ursprung i n Gott hat. Diese Lehre ist das Ergebnis der Erleuchtung durch die Offenbarung in Bezug auf die politische Realität i n kritischer wie i n positiver Hinsicht. Für die k r i t i sche Betrachtung ist das Dogma der Erbsünde Bedingung, denn die so geschädigte Natur des Menschen wendet teuflischerweise alle ihre Formen des Lebens dem Bösen zu und errichtet eine Ordnung, die eine A n t i these zum Reich Gottes ist. Die Sünde führt ein universales Prinzip der Unordnung ein. So schreibt G. Thils: „Non est seulement l'homme et les sociétés humaines, mais le cosmos entier ressent le contre-coup de la tare originelle et gémit. Saint Paul a prononcé des paroles mystérieuses, dans Rom. V I I I , 19; et la critique ne pourra jamais dire, sans doute, si l'on doit entendre ce verset au sens littéral, ou bien si l'on est en présence d'une personnification de la nature inanimée, subhumaine plus exactement. Mais i l reste que les exégètes ont généralement v u dans ce passage une affirmation non équivoqué de la solidarité qui existe entre le monde humaine et le monde subhumaine. La création visible est au service de l'homme afinque, assumée en lui, elle puisse glorifier Dieu; cette même création subit le contre-coup de l'esclavage peccamineux qui a marqué d'un sceau la première de créatures viciables 19 ." Georg Feuerer bietet i n seinem ausgezeichneten Buch „Adam und Christus" eine sehr profunde Sicht dieses Problems i m Licht der Lehren von Paulus und Thomas. Er sagt: „ N u r weil i n Adam wurzelhaft die ganze Menschheit enthalten ist, kann die Tatsache der Erbsünde von ihm ausgehen und sich über die ganze Menschheit verbreiten. Die Menschheit w i r d also i n Adam objektiv zurückgeführt auf ihren ersten Anfang, auf ihre innerste Mitte. Adam steht in der Mitte der Menschheit, und seine Sünde hat einen objektiv-religiösen Umkreis, spiegelt die Ordnung wider, i n der die Menschheit steht, ist eine Sünde an dieser Ordnung. Eine objektive Gesetzlichkeit des Lebens drückt i n der Sünde Adams sich aus, die, wenn sie verletzt wird, zur Schuld und weiterhin zur Strafe wird. Diese Gesetzlichkeit bricht nicht i m Bezirk des einzelnen auf, i n 17 Hierzu Löwith, K . : Weltgeschichte u n d Heilsgeschehen, Europa Verlag, Z ü r i c h - W i e n 1952; Cullmann, O.: Christus u n d die Zeit, 2. Aufl., Evangelischer Verlag, Zollikon - Zürich 1948; Bauhof er, O.: Das Geheimnis der Zeiten. Christliche Sinndeutung der Geschichte, Kösel, München 1935; Milburn, R. L. P.: Early Christians Interpretations of History, Black, London 1956; Kamlah, W.: Christentum u n d Geschichtlichkeit, 2. Aufl., Kohlhammer, Stuttgart - K ö l n 1951. 18 Dempf , op. cit., S. 73. 19 Thils, G.: Théologie des réalités terrestres. Desclée de Brouwe, Paris 1946, S. 100—101.

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ihr spiegelt sich der geistige Abgrund des objektiven Lebensganzen wider 2 0 ." I n dieser objektiven Struktur der Sünde, unter der der Christ die Welt ohne Christus, das saeculum, versteht, erscheint die rein politische Ordnung als selbständige Form dieser Welt, die sich i n allen ihren Formen und Anordnungen insgesamt als das System der Sünde zeigt 21 . Die Welt i m Sinne des jüdischen Messianismus und des Urchristentums ist mehr als nur ein kosmologischer Begriff, nämlich ein politischer und sozialer Begriff verstanden als historische Erscheinung. Sie bedeutet das heidnisch-ungläubige Milieu, den institutionellen Rahmen und die objektiven Lebensformen, die aus dem Stigma der Sünde entstanden und ihr satanisches Symbol i n der Vergöttlichung der Kaiser fanden 22 . Die positive Fundierung des christlichen Begriffes der politischen Ordnung beruht auf der Lehre von der Erlösung. Die Erlösung ist der Primat Christi über das Universum: „Instaurare omnia in Christo" (Paulus, Ephes. I, 10), eine neue Ordnung errichten, die die Ordnung der Vergangenheit abschafft. Dies ist die christliche Instauration und der Ansatzpunkt der neuen auctoritas. Der oben erwähnte Christologe Feuerer findet einen unübertroffenen Ausdruck für diese Idee: „Erlösung bedeutet ferner das Neuanheben der menschlichen Geschichte aus Gott. I n diesem Neubeginn ist eingeschlossen, daß sich der Mensch aus göttlichen Kräften auf alles das hin entfaltet, das als natürliches Gut anerkannt und sittlich aufgegeben ist. Damit sind alle Bereiche der Natur als sittliche Notwendigkeiten i n der Gnade neugesetzt, und zwar in einer Allgemeinheit, die dem natürlichen Dasein seiner „Herzenshärte" wegen von Gott nicht mehr positiv gesetzlich zugemutet wurde. Es ist deshalb unmöglich für einen Christen, daß er verantwortungslos an den natürlichen Ordnungen der Familie, des Volkes, des Staates vorbeilebe 23 ." Die Erlösung bedeutet also auch, und das ist entscheidend für das christliche Verständnis der politischen Realität, eine Aufwertung der Macht von neuen transzendenten Voraussetzungen aus. Die Hegemonie Christi über jede Realität fixiert Macht in einem ganz anderen Sinn. Das sind die theologischen Prämissen des berühmten Absatzes bei Paulus über 20 Feuerer, G. : A d a m u n d Christus als Gestaltkräfte und i h r Vermächtnis an die Menschheit, Herder, Freiburg 1939, S. 10—11. 21 Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen u n d Gruppe, ital. Übers. G. Sanna, L a Nuova Italia, Florenz, 2. Aufl., Bd. I, S. 123 ff. 22 Troeltsch, op .cit., Bd. I, S. 198—199. I m allgemeinen jedoch betont die protestantische L i t e r a t u r diese negative Seite zu sehr u n d übergeht die positive A u f w e r t u n g durch Christus, u m an die Lehre Luthers von den ,zwei Reichen' anzuknüpfen. Diese L i n i e ist k l a r erkennbar i n Werken u n d Studien von Cullmann, O. : Christus u n d die Zeit. Die urchristliche Zeit u n d Geschichtsauffassung, Zollikon-Zürich 1948; Gollwitzer, H.: Die christliche Gemeinde i n der politischen Welt, Mohr, Tübingen 1954; Barth, K . : Christengemeinde und B ü r gergemeinde, Kohlhammer, Stuttgart 1946; Berkhof, H.: Kirche u n d Kaiser, Evangelischer Verlag, Zollikon-Zürich 1947. 23 Feuerer, G., op. cit., S. 237.

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den göttlichen Ursprung der Macht. Ein so gewissenhafter Forscher der paulinischen Theologie wie M. Goguel drückt das wie folgt aus: „Pour l'Apôtre, la cause pour laquelle le monde est mauvais l u i est extérieure, elle ne consiste pas dans le caractère même de son être, mais dans le fait qu'il est soumis à des puissances mauvaises. Une transformation de ce monde qui le rendra conforme à la volonté divine est donc concevable quand les puissances hostiles, ayant été anéanties, n'auront plus d'action sur lui 2 4 ." Die i n der Erlösung implizierte Bedeutung besteht politisch betrachtet in der Transzendierung der Idee von der Ordnung. Die beständige Berufung auf Gott als höchstes ordnendes Wesen und auf die göttliche Ordnung als Muster jeder positiven Ordnungsvorstellung prägte für mehr als ein Jahrtausend den metaphysischen Stil des politischen Denkens. Die Termini polis, civitas und regnum, die auch zur Bezeichnung der himmlischen Ordnung des Reiches Gottes übernommen w u r den, machen die enge Verbindung zwischen den beiden Ebenen der Realität offenbar, die untrennbare Verwandtschaft von Transzendentalem und Historischem, dem Jenseits und dem saeculum, der civitas Dei und der civitas terricola. I n diesem christlichen B i l d der von der Herrschaft Christi regierten Welt fand die alte römische Idee der auctoritas ihre neuen Inhalte und ihre Verwirklichung. Jede Macht kommt von Gott, da ja i n Gott die absolute auctoritas ewig und ganz umschlossen ist. Aber dieser noch von einer Einheit des transzendentalen Sinnes bestimmte Dualismus ist ein tatsächlicher Dualismus, ein Dualismus der Strukturen des Zusammenlebens, eines Zusammenlebens in der Gnade und im Glauben — Gemeinschaft der Heiligen — und Zusammenleben i n der christlichen moralischen Ordnung der Welt und innerhalb derer i n der Ordnung des Cäsar, einerseits Ecclesia, andererseits Imperium. Auch dieser Dualismus baute sich auf dem römischen politischen Begriffsschema auf, das durch auctoritas und potestas bestimmt war. Er 24 Goguel, M.: Le caractère et le rôle de Télement cosmologique dans le sotériologie paulinienne i n Revue d'Histoire et de Philosophie religieuse, 1935, S. 339. Trotz seines protestantischen Gesichtspunktes gelangt Ο. Cullmann zu einem ähnlichen Schluß: „Durch ihre Unterwerfung unter Christus haben die unsichtbaren Mächte vielmehr ihren bösen Charakter gerade verloren und stehen auch unter und i n Christi Herrschaft, solange sie i h m Untertan sind und sich nicht aus dem Dienstverhältnis zu emanzipieren s u c h e n . . . Der Apostel w i l l erklären, wieso trotzdem gerade die Glieder der Kirche diesem Staate zu gehorchen haben. Von diesem zunächst negativen Hintergrund aus ist nach dem Zusammenhang das positive Gebot, sich dem Staat zu unterwerfen, zu verstehen. Der ganze Zusammenhang zeigt, daß über diese Ausführung zunächst das Wort trotzdem zu setzen ist. Obwohl der Staat ein dem christlichen Wesensgesetz der Liebe entgegengesetztes Prinzip anwendet, sollen w i r i h m dennoch gehorchen, j a mehr, w i r sollen i h m gerade deshalb gehorchen: denn wenn er als Rächer auftritt, so t u t er dies n u r i n seiner F u n k t i o n als Diener des Gottes, dem die Rache gehört. Diesem Diener obliegt es, die göttliche Rache u n d das gerechte Zornesgericht Gottes auszuführen" (op. cit., S. 174,178).

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wurde aber in die tranzendente Atmosphäre der gesamten christlichen Auffassung gestellt und mit neuem Inhalt gefüllt. Unser Interesse ist jedoch i m Augenblick weniger auf die Festlegung der Begriffe auf dieser Grundlage als vielmehr auf den Prozeß der Relativierung gerichtet, den eben dieser Dualismus wegen der ihm eigenen Dialektik vollenden mußte 25 . Dieser Prozeß beginnt etwa im X I I . Jahrhundert. Die Konstruktion des Dualismus gab es schon lange vorher, sie wurde in der berühmten Lehre des Papstes Gelasius in dessen Episteln und Kommentaren schon Ende des V. Jahrhunderts entwickelt 2 6 . Gelasius geht i m Tractatus I V von einer Präzisierung zwischen dem status ex ante und dem status ex post der Beziehungen zwischen den Gewalten aus, indem er das Erscheinen Christi als Achse nimmt. Vor diesem entscheidenden Ereignis „pariter reges existerent et pariter sacerdotes, quod sanctum Melchisedech fuisse sacra prodit historia" 2 7 , sowie auch unter dem Einfluß des Satans entstand zuweilen die religio civilis, die Gelasius als eine teuflische geistliche Sublimierung der Tyrannei betrachtet: „ . . . ut pagani imperatores iidem et maximi pontifices dicerentur." So formuliert Gelasius die Lehre von der universalen auctoritas Christi. Christus als oberster König und Priester: „Sed quum ad verum ventum est eundem regem atque pontificem, ultra sibi nec imperator pontifices nomen imposuit, nec pontifex regale fastigium vindicavit: quamvis enim membra ipsius, id est, veri regis atque pontificis, secundum participationem naturae magnificae utrumque in sacra generositate sumpsisse dicantur, ut simul regale genus et sacerdotale subsistant." Die universale auctoritas Christi ist also weder eine geistliche Ausdehnung des Imperiums, noch eine politische Ausweitung des sacerdotium, sondern „enim membra ipsius, id est, veri regis atque pontificis". Wie kann man also von diesem qua definitione einzigartigen Primat auf die dualistische Struktur der Ordnung der Welt kommen? Die Erklärung des Gelasius lautet, daß Christus, der die menschliche Schwäche kannte und für das Wohl seiner Herde sorgte, die zwei officia potestates trennte. Die Konstruktion des Dualismus ist in der X I I . Epistel zu lesen: „Duo quippe sunt, imperatur auguste, quibus principaliter mundus hic regitur: auctoritas sacrata pontificum, et regalis potestas." Die Unterscheidung auctoritas — potestas entspricht methodisch der Unterscheidung sacerdotium — Imperium. Gelasius nimmt den sakralen Begriff der auctoritas auf und stellt 25 Holtzmann, Robert: Der Weltherrschaftsgedanke des mittelalterlichen Kaisertums und die Souveränität der europäischen Staaten, Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, Darmstadt 1953. 26 Ulimann, Walter: The G r o w t h of Papal Government i n the Middle Ages. A study i n the ideological relation of clerical to lay power, Methuen, London 1955. 27 F ü r diese Texte siehe Carlyle, R. W. und Carlyle, A. J.: A History of Mediaevale Political Theory i n the West, 4. Aufl., Blackwood, Edinburgh London 1950, Bd. I, S. 190 ff.

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ihn i n die neue geheiligte Auffassung von der Ordnung, i n der kraft Definition nur die Stelle des Pontifex heilig ist, und folglich gebührt ihm allein die auctoritas. Die Institutionaliserung des Christentums in seinen historischen Ordnungsstrukturen war zwangsläufig mit dem Lauf der Geschichte selbst verbunden, der m i t dem Sturz des Kaiserreiches einen Abgrund i n der Weltordnung eröffnete. Das gesamte nachfolgende historische Geschehen ist von dem Ideal der Wiederherstellung des Kaiserreichs i n der geistigen Substanz der Christianitas als Sacrum Imperium beherrscht. Gelasius' Lehre wendet sich gegen die Exzesse des Cäsaropapismus im byzantinischen Kaiserreich, der gemäß der römischen Tradition das Christentum zur Staatsreligion machen wollte. Konstantin benutzte noch den Titel pontifex maximus 2 8 . Wenn auch die Lehre des Gelasius praktisch einen entscheidenden Einfluß auf das mittelalterliche Denken ausüben konnte, so stand sie doch i m Gegensatz zu einer historischen Strömung, die zu stark war, um ihr einen effektiven Einfluß auf die politische Ordnung zu geben. Andererseits verlegten die geschichtlichen Ereignisse den Mittelpunkt des Kaiserreichs nach Osten, und dort machte sich der Cäsaropapismus noch stärker bemerkbar, unterstützt von theologisch abweichenden Meinungen und Kontroversen. Justinian, der sacratissimus imperator, formuliert i n der berühmten Novela I V eine Lehre i m Hinblick auf den Dualismus von sacerdotium und imperium, die stark von der des Gelasius abweicht. „Maxima quidem i n hominibus sunt dona dei a superna collata dementia sacerdotium et imperium; i l l u d quidem divinis ministrans, hoc autem humanis presidens ac diligentiam exhibens; ex uno eodemque principio utraque procedentia humanam exornam vita. Ideoque n i h i l sic erit studiosum imperatoribus, sicut sacerdotum honestas, cum utique et pro illis ipsis semper deo supplicent. Nam si hoc quidem inculpabile sit undique et apud deum fiducia plenum, imperium autem recte et competenter exornet traditam sibi rempublicam, erit consonantia quadam bona, omne quicquid utile est humano conferens generi 2 9 ." Die alte Tradition der religio civilis w i r d am Anfang des Codex offenbar: „Cunctos populos, quos clementiae nostrae regit temperamentum, i n tali volumus religione versari, quam divinum Petrum apostolum tradidisse Romanis religio usque ad nunc ab ipso insinuât declarat.. . 8 0 ." Schließlich schreibt man die Entscheidung den Dogmen und der kirchlichen Disziplin zu: . . . Nos igitur maximam habemus sollicitudinem circa vera dei dogmata et circa sacerdotum honestatem .. . 3 1 ." 28 Greenslade, S. L. : Church and State fom Constantine to Theodosius, SCM Press Ltd., London 1954, S. 12 ff. 29 cit. Calasso: Medioevo del Diritto, cit. S. 140. 30 ib., S. 141. 31 ib., ib.

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Wie Calasso bemerkt, sind diese beiden Auffassungen antithetisch, denn während Justinian nur eine Staatskirche sieht, hält sich Gelasius i n orthodoxer Weise an eine universale Kirche mit dem Anspruch auf geistliche Führung und Leitung der Welt 3 2 . Dieser zwischen den Lehren klaffende Spalt wird, begünstigt durch die historischen Umstände, immer tiefer. Das gab einem neuen Ideal des Kaiserreiches Kraft, einer renovatio Imperii 3 3 , deren nie ganz erreichte Verwirklichung von anderen Richtungen her die Konstruktion des Dualismus der Ordnung, auf der unsere ganze politische K u l t u r beruht, wieder hervorbrachte. Die spätere Entwicklung stand unter dem Zeichen der Einheit, reductio ad unum. Der transzendente Mittelpunkt dieser Einheit ist eben die heilige Lehre von der auctoritas Christi. Christus ist „caput omnis princ i p a l s et potestatis". Dadurch ist die Vorstellung von einer rein weltlichen politischen Ordnung dem Mittelalter völlig fremd. Sie würde ganz in das augustinische B i l d von der teuflischen civitas terricola passen. Aber diese Einheit der Christianitas i n der Welt sucht historisch ihre Verwirklichung auf zwei Wegen: dem des Papsttums und dem des Kaisertums. Für uns moderne Menschen ist es nicht so schwierig, diese dualistische Alternative zu verstehen, der der Aufbau der Ordnung des Zusammenlebens i m Mittelalter unterworfen war. Bis zu einem gewissen Grad ist unsere Lage ähnlich. Einerseits sind w i r bereit zuzugeben, daß nur ein Wiederaufbau der Formen des christlichen Lebens auf den ihm eigenen transzendentalen Prämissen uns aus dem Chaos der Angst, in der w i r leben, befreit. Andererseits jedoch verknüpfen w i r das Gefüge dieses ordo novus mit dem Ansehen und mit der Tradition des Abendlandes und verstehen einen solchen Wiederaufbau als eine renovatio Europas. Die Geschichte verläuft nicht nur unter dem Antrieb großer Projektionen der Zukunft, sondern diese verknüpfen sich immer i n irgendeiner Weise mit den erlebten Idealvorstellungen vergangener Zeiten. Für den Menschen des X I I . Jahrhunderts setzt sich die ideale Synthese der Fülle der Zukunft und der Sehnsucht nach einer erhabenen Vergangenheit in den Ausdruck Sacrum Imperium um, genauso wie unsere gegenwärtige Synthese ein christliches Europa ist. I n diese Formeln sind jedoch unter dem christlichen Druck einer Ideologie in sich vollkommen differenzierte Elemente verflochten: die unvergängliche Botschaft Christi und konkrete Formen des historischen Lebens; zwischen beiden kann es notwendigerweise nur einen schmalen Raum geben 34 . ~~ 32 ib M ~ïbT~ 33 Über die Bedeutung der renovatio Kantorowicz, E.: Kaiser Friedrich II., Berlin 1929—1930, S. 176 ff.; Heer, F.: Die Tragödie des Heiligen Reiches, K o h l hammer, Wien - Zürich 1952, S. 184 ff.; Schramm, P. E.: Kaiser, Rom u n d Renovatio, Berlin 1929; Kaegi, Werner: Himmlische und irdische Bürgerschaft, K ö n i g t u m als geistliches Ritterleben. I n Chronica Mundi, Johannes Verlag, Einsiedeln 1954, S. 7—29; Ullmann, W.: The G r o w t h of the Papal Government i n the Middle Ages, cit. S. 112 ff. 31 Brockmöller, Klemens: Christentum am Morgen des Atomzeitalters,

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Die Geschichte der mittelalterlichen Weltpolitik und mit ihr die Geschichte der Dogmatik der grundlegenden politischen Begriffe ist der wechselseitige Prozeß des aufreibenden Ringens von Pontifikat und Kaiserreich i n ihrer Rivalität um die geistige Vorherrschaft i n der christlichen Welt. Die Geschichte endet mit einer fortschreitenden Stärkung der auf konkreten Gebieten wirkenden politischen Ordnungen und mit der Abschaffung der politischen Vorstellung von der Welt als Universum durch das Entstehen zahlreicher konkurrierender souveräner Staaten. Die geistige Hegemonie, die den eigentlichen Inhalt der auctoritas ausmacht, zeigt sich als mit diesen beiden Positionen vereinbar. I m X I I . Jahrhundert stellt Rufinus die Lehre auf, daß der Papst über jede zivile Gewalt einen auf der auctoritas beruhenden Vorrang hat, der sowohl den Kaiser wie die Könige umfaßt, denen einzig das officium amministrandi zuerteilt ist, das heißt die potestas 35 . Der Papst, der über die kirchliche Gemeinde auctoritas und potestas hat, hat über die weltliche Ordnung nur Autorität. Dieser Vorrang w i r d betont als auctoritas superlativa, auctoritas summa. Hier beginnt eigentlich der Prozeß der Relativierung der Begriffe, die w i r untersuchen. Eine auctoritas summa setzt eine andere nicht hervorragende auctoritas voraus. Und so ist es i n der Tat. „Seit der Zeit der späten Karolinger gibt es bei einigen unrechtmäßigen Inhabern einer teilweisen oder völligen potestas auch eine gewisse auctoritas, so z. B. bei den Bischöfen, obgleich sie dem Papst unterstanden, wie auch bei den einfachen Königen, die dem Kaiser untergeordnet waren. Wem gebührt nun diese auctoritas? Die Lehre des X I I . Jahrhunderts hat als Antwort auf diese Frage die Situation einiger dieser politischen Gebilde detailliert untersucht. Man kam damals darauf, daß diese auctoritas nur eine Form der potestas sei, die durch zwei Züge gekennzeichnet ist: die Autonomie und die Machtfülle 3 0 ." Es war nicht nur eine terminologische Leichtfertigkeit, die die Relativierung der Begriffe hervorbrachte, sondern man wollte auf irgendeine Weise dem geistigen Primat der auctoritas einen spürbaren Gehalt an Effektivität geKnecht, F r a n k f u r t a. M. 1954, S. 76—77: „Die enge Verbindung zwischen dem germanischen Reichsgedanken und dem christlichen Gedanken v o m Reiche Gottes i n der augustinischen Prägung der civitas Dei hat sich sowohl für die Entfaltung der mittelalterlichen abendländischen K u l t u r wie auch f ü r die E n t faltung des Christentums i n i h r befruchtend ausgewirkt. Absolut gesetzt aber wurde sie für die universale Sendung des Christentums eine Fessel und eine Einengung, die i n dem Augenblick zu w i r k e n begann, als sich die Gleichstellung des Abendlandes m i t der Welt schlechthin als I r r t u m herausstellte. Außerhalb dieser ,Welt des Abendlandes' lebte sogar der größere Teil der Menschheit. I n anderen Fragen ist aber innerhalb des Abendlandes die Zueinanderordnung von Christentum u n d K u l t u r keineswegs eine einheitliche F o r m gewesen u n d geblieben." 35 Onory, Mochi: Fonti canonistiche dell'idea moderna dello stato, cit. S. 256. 36 David , M.: L a souveraineté et les limites juridiqes d u pouvoir d u I X e siècle, S. 35.

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ben, indem man als dessen notwendiges Gegenstück ein volle potestas schuf. Die Behauptung einer relativen auctoritas führte zu der logischen Folgerung, daß eine solche auctoritas, d. h. die plenitudo potestatis, in der auctoritas superlativa enthalten sein muß. So entstand durch eine Fülle fein abgestufter Theorien ein tiefes Eindringen des geistigen Primats, verbunden mit dem Prinzip der Ordnung, — was auctoritas bedeutet — in den materiellen Ausdehnungsbereich der Machtausübung, in das officium administrandi. I n der Lehre des X I I . Jahrhunderts bejaht man ζ. B. die Befugnis des Papstes, die kaiserliche oder königliche Gewalt während eines Interregnums auszuüben, um sich an die Stelle der säumigen Kurfürsten, die die Designierung des Kaisers verzögern, zu setzen oder um Streitigkeiten bei der Wahl zu schlichten, über Kreuzzüge zu entscheiden, ja sogar um sich zum judex Ordinarius in heiklen Angelegenheiten, zum Hüter des öffentlichen Friedens, zu erheben 37 . Der spezifische Inhalt der auctoritas superlativa ist jedoch ein anderer. Er weist hin auf die Bedeutung des Ordnungsprinzips, der ursprünglichen Legitimität und der höchsten Entscheidungsgewalt, die der römische Begriff der auctoritas unter dem Prinzipat erreichte. Nach der Summa von Rufinus umfaßt die auctoritas pontificum in erster Linie die Heiligung der kaiserlichen Autorität „ . . . sua auctoritate imperatorem regno consecrando confirmât ..." und an zweiter Stelle die richterliche Gewalt über den Kaiser und die Macht, ihn zu richten, ohne von ihm gerichtet werden zu können: „et maxime quia apostolicus, cum sit major augusto non ab eo judicari, sed eum judicare debet 38 ." Die Bejahung des geistlichen Primats, die Projektion der auctoritas auf plenitudo potestatis und die Festlegung der konkreten Inhalte der auctoritas superlativa selbst zeigen deutlich, gegen welchen anderen Anspruch auf höchster Hegemonie sich das Pontifikat wenden will. Andererseits entsteht eine Abwertung dieser Hegemonie durch die Tendenz, das Imperium und die Könige auf die gleiche Ebene zu stellen, direkt der auctoritas suprema unterworfen. Das ist wohl der Ursprung der Lehre: „rex imperator est in regno suo 39 ." Gregor V I I . unterstreicht das Papsttum als einziges hegemoniales Prinzip der Christenheit, als einzige universale auctoritas über das Volk der Christen, und er zerstört von Grund auf die ideologische Konstruktion, daß die politische Ordnung des Imperiums etwas in sich selbst Heiliges sei. Ja noch mehr, indem Gregor den Anspruch auf Vorrang der Könige über die Bischöfe zurückweist, entdeckt er in einem berühmten Text zum ersten Mal i m 37

ib., S. 52. David , M., op. cit., S. 47. Onory, Mochi, op. cit., S. 50; von der Heydte: Die Geburtsstunde des souveränen Staates, cit. S. 58 ff. s. auch meine A r b e i t : E l sentido del Derecho y el Estado moderno i n Anuario de Filosofia del Derecho, cit. S. 377 ff. u n d die dort erwähnte Literatur. 38 39

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Ursprung der beiden Gewalten den spezifisch heiligen Charakter der einen: „Sed forte putant, quod régula dignitas espiscopalem praecella. Ex earum principes colligere possunt, quantum a se utraque differunt. Illam quidem superbia humana repperit, hanc divina pietas instituit. Illa vanam gloriam incessanter captat, hanc ad coelestem vitam semper aspirat" und er zitiert Ambrosius: „Honor inquiens et sublimitas episcopalis nullis poterit comparationibus adaequari. Si regnum fulgori compares et principium diademati, longi erit inferius, quam si piombi metall u m ad auri fulgorem compares 40 ." Hierin sieht Friedrich Heer den neuen Ansatzpunkt Gregors: bis zum Investiturstreit bleibt die alte Idee des Reiches Gottes ungebrochen. Als Führer der Christenheit, der Ecclesia, erscheint der Kaiser an der Spitze des Abendlandes und das Kaiserreich als Bollwerk der Christenheit. Der Streit des X I . Jahrhunderts verursacht den großen Bruch; die Anhänger Gregors sind der Meinung, daß das Christentum dem Kaiserreich keineswegs inhärent sei, sondern daß das Reich seine christliche Einstellung zeigen und in allen möglichen Situationen beweisen müsse. Es ist deshalb keine von Gott eingesetzte, in sich selbst geheiligte Ordnung 4 1 . So seiner spezifischen charismatischen Überlegenheit beraubt ist das Imperium ganz einfach regnum; es gibt außerhalb des rein quantitativen Rahmens der potestas keine Grundlage für eine Unterscheidung nach Rang und Bedeutung. Später unterstreichen die Kirchenrechtler, die über die Lehre Innozenz III. arbeiten, die Gleichheit von Kaiser und Königen. Die auctoritas superlativa ist auctoritas plena, sie schließt auch die potestas ein, obwohl die geistliche Macht es tatsächlich vorziehen würde, die executio der weltlichen Macht zu überlassen. Bei Hugo von St. Viktor w i r d sogar eine Lehre angedeutet, nach der die zivile potestas ihren Ursprung von Gott herleitet, allerdings über das sacerdotium 42 . Die kaiserliche auctoritas hat ihrerseits einen analogen Prozeß der Totalisierung erfahren. I m Grunde war ihr Stimulanz immer ein cäsaropapistischer Anspruch. Das römische Reich ist schließlich daran zugrunde gegangen, daß ihm die Grundlage für eine geistige Integration fehlte und es kein universalistisches Prinzip hatte, das der Tradition des römischen Bürgersinns entgegengewirkt hätte. Die renovatio Imperii kann nur wirksam werden unter einer unbestrittenen geistlichen Hegemonie, die alle Machtpositionen unter einer anerkannten auctoritas beherrscht. Die Betonung der Heiligkeit des Kaiserreichs und dessen Missionsanspruch war eine politisch-ideologisch lebenswichtige Notwendigkeit: einzig und allein auf der Grundlage einer göttlichen Institution konnte das Trachten nach einer universalen Oberherrschaft 40

Carlyle-Carlyle, op. cit., Bd. I V , S. 188. Heer, Friedrich: Die Tragödie des Heiligen Reiches, cit. S. 145. 41 David, op. cit., S. 50; über Hugo von St. V i k t o r s. Dempf: Sacrum Imperium, cit. S. 243 ff.; Schneider, W. Α.: Geschichte u n d Geschichtsphilosophie bei Hugo von St. Viktor, Münster i. W. 1933. 41

Die Idee der auctoritas': Genesis und Entwicklung

233

beibehalten werden 4 3 . Der englische Bischof Cathulfus formulierte die erste ideologische Konstruktion einer auctoritas superlativa des Kaisers i m Hinblick auf K a r l den Großen. Der Kaiser steht an Stelle Gottes, der Bischof von Rom an zweiter Stelle, an Stelle Christi: „Memor esto ergo semper, rex mi, Dei regis t u i cum timore et amore, quod t u es in vice illius super omnia membra ejus custodire et regere, et rationem reddere i n die judicii, etiam per te. Et episcopus est in secundo loco, in vice Christi tantum est 44 ." Sedulius Scotus begreift in seinem De Rectoribus Christianis den politischen Körper als regimine Ecclesiae und den Kaiser als Statthalter Gottes 45 . Dawson, ein hervorragender Kenner der mittelalterlichen Geschichte, beschreibt das karolingische Reich wie folgt: „Das neue Kaiserreich war i m wesentlichen eine theokratische Institution. Es drückte zur gleichen Zeit die neue Auffassung von der Christenheit als höchster gesellschaftlicher Einheit aus, wie auch die geheiligte Stellung des Regierenden als ein von Gott für das Volk der Christen eingesetztes Oberhaupt. Die traditionellen Ausdrücke, die den geheiligten, numinosen Charakter der kaiserlichen Macht beinhalten — sacrum imperium, sancta ma j estas, di vus Augustus und ähnliche, die das byzantinische Reich bewahrt hatte — erhielten i m Abendland neue Bedeutung . . . Die Gesetzgebung Karls des Großen, die so bedeutend für die Entfaltung der abendländischen K u l t u r war, ist der höchste Ausdruck einer theokratischen Auffassung von der Autorität. Es ist die Gesetzgebung eines einheitlichen Kirchenstaates und umfaßt alle Aspekte des Lebens in der Gemeinschaft des Christenvolkes von der Wirtschaft und Politik bis zur Liturgie, der Erziehung und der Predigt 4 6 ." Die höchste auctoritas, die auf diese Weise auch i n dem umfassenden Charakter des Imperiums zum Ausdruck kommt, hat einen der auctoritas pontificium analogen Inhalt. Die kaiserliche auctoritas umschließt sedt Otto I. auch die Führung der Kirche. Auch der Begriff Ecclesia ist jetzt der Polemik ausgesetzt, und das Kaiserreich argumentiert mit dem Begriff der Christianitas als Reich Gottes und m i t dem der weltlichen civitas Dei von Augustin, die von einem gewissen Gesichtspunkt aus seine Ansprüche unterstützt. Analog der Auslegung bei der auctoritas superlativa w i r d von Seiten des Kaiserreichs behauptet, daß i n der kaiserlichen auctoritas die Bestätigung der Legitimität der Könige enthalten sei und als höchste Stufe der Jurisdiktion die Befugnis, sogar die Könige selbst zu richten 47 . Genauso wie es auf Seiten des Pontifikats eine Durch43

Heer , op. cit., S. 146. Carlyle-Carlyle, op. cit., Bd. I, S. 215; Wahl, Rudolph: K a r l der Große. Der Vater Europas. Fischer, Hamburg, Neuaufl. 1954, S. 32 ff. 45 Carlyle-Carlyle, op. cit., Bd. I, S. 259. 46 Dawson , Christopher: L a religion y el origen de la cultura occidental. Span. Ubers. M. E. Vela, Ed. Sudamericana, Buenos Aires 1953, S. 93. 47 David , op. cit., S. 54. 41

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dringung der auctoritas und der potestas zur Stärkung des päpstlichen Anspruchs auf Hegemonie gibt, so gibt es auf Seiten des Kaiserreiches eine gleiche gedankliche Verbindung mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Vorstellung Ottos I. vom Kaiserreich entwickelte sich ausgehend von einem imperiale regnum, aus der effektiven potestas über die deutsche Stammesgruppe unter den übrigen gotischen Völkern und aus der Anerkennung einer nicht nur geistigen Überlegenheit. „Als König war der Führer der Deutschen eigentlich immer nur Herr eines Stammes und konnte seine Führerschaft nur auf die Hegemonie seines Stammes gründen; als Kaiser (rex i n imperio) hatte er die militärische Gewalt über das Gesamtaufgebot aller Stämme, und das erst ermöglichte ihm eine w i r k liche Reichsführung 48 ." Jedoch ist später dieses „nationale Kaiserreich" auf eine universale Ausdehnung gerichtet im Bewußtsein einer heiligen Mission i m Dienst der Christenheit. Das impliziert Prärogativen, die an eine Einheit der politischen Ordnung gebunden sind: Legitimität der Macht und der Anspruch, letzte Entscheidungsinstanz zu sein. Hierin liegt jedoch „die Tragödie des Heiligen Reiches" (Heer). Es bestand ein unlösbarer Widerspruch zwischen dem Anspruch auf effektive Führung der christlichen Ordnung und den fast rein ideologischen Mitteln, die in den Dienst dieser Idee gestellt wurden. Es gab gewiß Versuche, in den Bereich der effektiven Ausübung der potestas einzudringen, die taktische Linie jedoch, wie sie sich i m Verlauf der Ereignisse zeigt, besteht in der systematischen Gewährung von Autonomie und voller Unabhängigkeit der regna, und das betraf nicht nur die Territorien, die als Integrationszentren für die großen Nationalstaaten dienen sollten, sondern auch alle Feudalherrschaften. „Les segneurs, laies ou ecclêsiatiques, individuels ou collectifs ont accaparé le plus clair des attributs normaux de la potestas regalis. Mais, à l'inverse des autres rois, qui ont travaillé patiemment à reconstituer leur potestas, la plupart des empereurs ont cru préférable de se désintéresser de la puissance publique pour centrer tous les efforts sur l'autorité suprême 49 ." Das Ergebnis des Prozesses gegenseitiger Aufhebung der jeweiligen Ansprüche auf die geistliche Hegemonie war die Zerstörung des einheitlichen Bildes des politischen Universums und der Aufbau des Systems souveräner Nationalstaaten. Dieser Vorgang in der institutionellen Ordnung bringt einen Prozeß des Verschleißes der geistlichen Idee der auctoritas und eine Stärkung der potestas regia mit sich. Doch es ist nicht nur eine Fundierung der Macht als neutrales Ordnungsprinzip, was mit der Einsetzung des Begriffes der Souveränität als Schlüsselbegriff der modernen politischen Welt geschieht. Die Macht für sich allein sagt hier nichts aus. Auch i m Begriff der Souveränität ist die Macht mit einer objektiven Ordnungsvorstellung verbunden. Seine mo48 Mitteis, Heinrich: Der Staat des hohen Mittelalters. Böhlaus, Weimar, 4. Aufl., 1953, S. 120. 49 David , op. cit., S. 56.

Die Idee der auctoritas': Genesis und Entwicklung

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derne Instaurierung schließt eine Berufung auf die Autorität ein. Dieser Berufung jedoch fehlt es schon i n der modernen Welt an einer einheitlichen transzendentalen Grundlage, und ihr absolutes Gesetz ist ihre eigene Relativität. Aus dem Spanischen übersetzt von Gudrun Forsthoff, Heidelberg

Die politische F u n k t i o n der Streitkräfte* Von Luis Garcia Arias, Zaragoza I. I n der Theorie der Gewaltenteilung von Montesquieu kann man den Ursprung der Lehre von der Unterordnung des Militärs unter die sogenannte zivile Gewalt erkennen. Denn indem man den Vorrang der gesetzgebenden Gewalt über die ausführende und richterliche Gewalt anerkennt — da das Heer ja nur ein A r m der Exekutive ist —, ergibt sich daraus dessen Unterordnung unter die Legislative, die vornehmlich zivilen Charakter hat. Indem die Französische Revolution die Souveränität der Nation an Stelle der des Königs einführt — i n dessen Person es keinen Unterschied zwischen Zivilem und Militärischem gab, verkörperte er doch beide an der Spitze des Staates — und die Volksheere durch Massenaushebung schafft, versucht sie, die bewaffnete Gewalt, der sie mißtraut, absolut unterzuordnen et pour cause führt sie das Dogma ihrer Unterordnung unter die sogenannte zivile Gewalt ein und identifiziert diese mit der höchsten und allgemeinen Staatsgewalt. Dieses Dogma spiegelt sich deutlich in der Entwicklung der französischen Verfassung; die Unterordnung des Heeres zeigt sich i n allen Revolutionsverfassungen, und diese Tendenz kann i n den folgenden französischen Verfassungstexten bis zur heute gültigen Verfassung von 1958 verfolgt werden, i n der nur angegeben ist, daß die Regierung, „die die Politik der Nation entscheidet und führt", „über die Streitkräfte verfügt" (Artikel 20), und der Präsident der Republik „der Chef der Streitkräfte" ist (Artikel 15). Das gleiche Prinzip verkörpert auch die Verfassung der USA, in der — obwohl der Präsident Oberbefehlshaber des Heeres und der Marine ist — der Kongreß die Streitkräfte kontrolliert, insbesondere durch die zwingend vorgeschriebene Bewilligung ihrer Mittel und Etatposten. I n Nachahmung dieser beiden Musterverfassungen stimmen alle demokratisch-liberalen Regierungsformen i n den einzelnen Ländern i n zwei wesentlichen Normen überein: 1. Die Streitkräfte sind der zivilen Gewalt völlig untergeordnet und haben ihr unbedingten Gehorsam zu leisten, wobei zu bemerken ist, daß der Staatschef der Oberbefehlshaber des Militärs ist, und 2. müssen die Streitkräfte ein Organ sein, das ohne Diskussion unpolitisch handelt. * La Función Politica de la Fuerzas Armadas.

Luis Garcia Arias

238 1. Die Unterordnung zivilen Gewalt.

und

der Gehorsam

des Militärs

gegenüber

der

Seit der französischen Verfassung von 1791, die i n Titel IV, A r t i k e l 12 verfügte: „ L a force publique est essentiellement obéissante" haben zahlreiche Verfassungstexte diese Formulierung wiederholt. Ihre gedankliche Grundlage beruht auf der notwendigen Achtung vor dem vom allgemeinen Willen gesetzten Gesetz, das ja ein der bewaffneten Gewalt eigentümliches Prinzip darstellt, welche immer eine Haltung des Gehorsams gegenüber den Gesetzen und der zivilen Gewalt, von der sie abhängt, einnehmen muß, zuweilen durch Eingreifen eben dieser bewaffneten Gewalt, jedoch immer unter dem Befehl der zivilen Gewalt. Aus diesem Prinzip ergeben sich zwei Folgerungen: a) Der Oberbefehl

über die Streitkräfte

muß in zivilen Händen

liegen.

Wenn auch nicht ausdrücklich, so verlangt doch das politische System der USA, daß der Präsident ein Zivilist ist oder wenigstens als solcher auftritt. Aus diesem Grunde schrieb General Eisenhower kurz vor Annahme der Präsidentschaftskandidatur: „Es ist meine Überzeugung, daß die notwendige und weise Unterordnung des Soldaten unter die zivile Gewalt stärker gefördert w i r d und daß unser Volk ein größeres Vertrauen in diese Tatsache gewinnen wird, wenn diejenigen, die ihr Leben lang Berufssoldaten gewesen sind, davon absehen, sich ohne einleuchtenden und überzeugenden Grund um ein hohes politisches A m t zu bewerben." Jedoch schon der erste Präsident, George Washington, war Oberbefehlshaber der nordamerikanischen Armee, die die Unabhängigkeit erkämpfte. I n der Folgezeit war die Hälfte aller Präsidenten der Vereinigten Staaten irgendwann einmal Offizier der Streitkräfte, 10 von ihnen sogar Generäle. Und seltsamerweise war kein Berufssoldat in Kriegszeiten Präsident der Vereinigten Staaten: Madison, Polk, Lincoln, McKinley, Wilson, Roosevelt, Truman und Johnson. Auch die militärischen Departements müssen an ihrer Spitze Zivilpersonen haben. Nie hat ein Berufsoffizier der Marine das Marinedepartement geleitet. Wenn auch Generäle an der Spitze des Kriegsdepartements gestanden haben, wie Knox und Schofiel, so sah man sie nicht als Militärs, sondern als Politiker an. Als Präsident Truman 1950 General Marshall zum Staatssekretär für die Verteidigung der Vereinigten Staaten ernennen wollte, mußte das Gesetz für nationale Sicherheit von 1947 ergänzt werden, das vorsah, daß „eine Person, die 10 Jahre lang im aktiven Dienst als ordentlicher Offizier den Streitkräften angehört hat, nicht für das A m t des Staatssekretärs für Verteidigung ernannt werden darf". Der Präsident wurde nun ermächtigt, General Marshall als einzige Ausnahme

Die politische F u n k t i o n der Streitkräfte

239

zu ernennen, dieser Fall sollte aber nicht als Abschaffung der Vorschrift betrachtet werden. Was die französischen Verfassungsnormen angeht, muß hervorgehoben werden, daß die Verfassung von 1793 in A r t i k e l 110 lapidar feststellte: „ I I n'y a point généralissime", und in A r t i k e l 289 der Verfassung des Jahres I I I wurde verfügt: „Le commandement général des armées de la République ne peut être confié à un seul homme." Die französische Republik wollte aber nicht nur verhindern, daß ein Militär Chef des Heeres wird, sondern — selbst wenn sie zuläßt, daß der Staatschef gleichzeitig Chef des Heeres sein kann — sie wollte ihn wenigstens der effektiven Befehlsgewalt berauben; so sagt die französische Verfassung von 1848 i n A r t i k e l 50: Der Präsident der Republik „verfügt über die Streitkräfte, jedoch ohne sie jemals persönlich befehligen zu können". I n Erläuterung dieses Textes schrieb Léon Duguit in seinem klassischen Traité: „Wenn nichts dagegen spricht, daß durch eine besondere Verordnung dem Präsidenten der Republik der Oberbefehl über die französischen Streitkräfte übertragen wird, so stünde sicher eine solche Entscheidung i n geringer Übereinstimmung mit den republikanischen Prinzipien, gemäß derer die militärische Befehlsgewalt von der zivilen Gewalt unterschieden und ihr völlig untergeordnet sein muß." Ein anderer bedeutender französischer Verfassungs jurist, Maurice Hauriou, warf in seinem Précis scharfsinnig die Frage auf: „Seitdem die Nation fast ganz mobilisiert und unter die Befehle der Militärgewalt beim geringsten ernsten A l a r m gestellt werden kann und das Militär i n diesem Fall über eine große Menge von Befehlenden verfügt und die Truppen des aktiven Heeres ständig in der Hand behält, handelt es sich darum, zu erreichen, daß diese Organisation, die über schreckliche Aktionsmittel verfügt und gegenüber der die zivile Gewalt völlig wehrlos ist, dennoch dieser zivilen Gewalt untergeordnet bleibt." Und so präzisiert sich die 2. Folgerung: b) Die Streitkräfte müssen sich auf die Ausführung zivilen Gewalt beschränken.

der Befehle

der

Duguit schrieb über die französische Verfassung von 1875, deren A r tikel 3 folgendermaßen lautet: „Der Präsident der Republik verfügt über die Streitkräfte", folgendes i n seinem Précis: „Das Militär muß ein passives Instrument in der Hand der Regierung sein. Diese kann ihre Aufgabe nicht erfüllen, wenn sie nicht über die Streitkräfte verfügt. Über die Streitkräfte zu verfügen aber heißt, sich ihrer als eines Werkzeugs ohne Eigenbewußtsein zu bedienen. Das schließt für die Befehlshaber der Streitkräfte die Möglichkeit aus, unter irgendeinem Vorwand den Gehorsam den Anordnungen der Regierung gegenüber zu verweigern." Der alte Doyen der Fakultät in Bordeaux fügt noch hinzu: „Der General, der den Gehorsam gegenüber den Befehlen der Regierung unter dem Vor-

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Luis Garcia Arias

wand, sie ständen i m Gegensatz zur Verfassung, verweigert, verstößt gegen die erste seiner militärischen Pflichten: den Gehorsam. Es obliegt ihm nicht zu beurteilen, ob die erteilten Befehle i m Einklang mit dem Gesetz stehen oder n i c h t . . . Die Verfügungsgewalt über das Militär bedeutet die eigentliche Mobilisierung der materiellen Macht, was die Voraussetzung für das Vorhandensein einer Regierung i m eigentlichen Sinne ist. Es ist sogar die Voraussetzung für die Existenz eines Staates. Ja, es w i r d keinen Staat geben, wenn die militärischen Befehlshaber die Befehle der Regierung diskutieren können. Ideal wäre es, wenn das Militär eine unbewußte Maschine wäre, die von der Regierung durch einen Knopfdruck in Bewegung gesetzt werden könnte." 2. Die Streitkräfte sein.

müssen ein nicht diskutierendes,

unpolitisches

Organ

Um die verfochtene unpolitische Haltung der grande muette , des unbeweglichen stummen Kolosses, wie Alfred de Vigny das Heer nannte, zu erreichen, begann man, das militärische vom zivilen Leben zu trennen, und es wurde verboten, daß die Angehörigen der Streitkräfte i n irgendeiner Form am politischen Leben teilnehmen konnten. Wenn auch die Uniformierung des Heeres anfangs wirtschaftliche Gründe hatte: es war vorteilhaft, gleiche Stoffe in großen Mengen herzustellen, und später das Tragen einer Uniform eine Ehre und persönliches Ansehen bedeutete, so lief doch für die Angehörigen der Streitkräfte die Verpflichtung, die Uniform zu tragen, auf eine — wie Aurelio Guaita feststellt — äußerliche Manifestation ihres militärischen Standes hinaus, wodurch gleichermaßen die notwendige Absonderung gegenüber den politischen wie den zivilen Angelegenheiten unterstrichen wurde. „Die Uniform stellt den Soldaten ein wenig abseits von der übrigen Gesellschaft und schafft einen Graben um ihn herum", so schrieb J. de Soto. Andererseits w i r d i n den französischen Verfassungstexten nicht nur unterstrichen, daß das Heer ein nicht diskutierbares Organ sein soll, und dies nicht so sehr i m Hinblick auf den Dienst als vielmehr i m Hinblick auf das öffentliche Leben, sondern eine unpolitische Haltung w i r d den Streitkräften auch zur Pflicht gemacht. Und als Ausdruck dieses unpolitischen Status des Heeres wurden seinen Angehörigen besondere Verbote auferlegt, die nicht für die Zivilbevölkerung galten: so wurde die freie Meinungsäußerung streng reglementiert, die Beteiligung an politischen Versammlungen wurde ihnen untersagt, das Petitionsrecht wurde eingeschränkt, die Vereinigungsfreiheit wurde ihnen verweigert, das Stimmrecht wurde ihnen aberkannt und das passive Wahlrecht blieb ihnen vorenthalten. Dies war kurzgefaßt das theoretische Gerüst des liberal-demokratischen Staates des X I X . Jahrhunderts zur Sicherung der absoluten Kon-

Die politische F u n k t i o n der Streitkräfte

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trolle der Streitkräfte durch die sogenannte zivile Gewalt. M i t gleicher Kürze wollen w i r nun eine kritische Analyse vornehmen und vor allem den Gegensatz zu den Realitäten des X X . Jahrhunderts herausstellen. II. Diese Lehre geht von einer von Anfang an falschen Identifikation der Staatsgewalt mit der zivilen Führung der Regierung aus, ohne in Betracht zu ziehen, daß die Einheit der Staatsgewalt genauso von zivilen Personen wie auch Militärs vertreten und ausgeübt werden kann, obwohl gewöhnlich die Regierung des Staates i n den Händen der zivilen Politiker liegt. Es ist jedenfalls ein terminologischer Mißbrauch, von ziviler Gewalt zu reden, da doch die Staatsgewalt unteilbar ist. Diese Doktrin wurde außerdem für eine politische Situation des X I X . Jahrhunderts formuliert, die sich heute substantiell geändert hat. Denn damals empfand man das Heer als eine Institution, die keinerlei innenpolitische Funktion hatte, sondern die rein nach außen gerichtet war: Kriege gegen den Feind jenseits der Grenzen. Aber schon die liberalen Regierungen des X I X . Jahrhunderts begannen — wie Oehling bemerkt —, die Streitkräfte zur Unterdrückung der Volksaufstände einzusetzen, wobei diesen von den Regierungen befohlen wurde, auf das Volk hinter den Barrikaden zu schießen. Hierdurch wurde wohl zum erstenmal bei den Militärs eine A r t Gewissenskonflikt und eine immer größere Abneigung dagegen hervorgerufen, lediglich ein passives Instrument i n den Händen der bourgeoisen Regierungen zur Niederwerfung der nach sozialen Reformen verlangenden Volksmassen zu sein. Denn die Streitkräfte waren immer davon überzeugt gewesen, daß die ganze Nation i n ihren Reihen integriert sei, um die Werte, die über Parteien und Klassen stehen, zu verteidigen. Die Streitkräfte fühlen sich mehr als ein Instrument der Nation, höchster Ausdruck der nationalen Einheit, denn als ein Werkzeug einer jeweilig durch die Staatsgewalt regierenden Gruppe. Zu diesem Gefühl kam eine zweifache Erfahrung: einerseits gewährte man den Heeren mit der kolonialen Expansion die Aufgabe, diese überseeischen Territorien direkt zu regieren; so gewöhnte sich der Soldat daran, Völker zu regieren. I n seiner Verwaltungstätigkeit unterschieden sich die zivilen und militärischen Kompetenzen nicht. Andererseits erforderte i m 1. Weltkrieg die kriegerische Entwicklung eine immer komplexere Organisation, die sich bis zum zivilen Bereich hin erstreckte, mit einer einheitlichen Verantwortung i n der Kriegsführung, die sicher nicht nur die totale Mobilmachung von Menschen und Material notwendig machte, sondern auch ihre Verteilung auf die militärischen Einheiten und die Produktionsstätten von Kriegsmaterial einschloß. I m 2. Weltkrieg hat sich dieser Prozeß durch das Hinzukommen eines schwerwiegenden Phänomens noch beschleunigt: die Politisierung des Krieges, die schon 1917 begonnen hatte, wobei gleichzeitig aber noch die 16 Festschrift für Carl Schmitt

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unpolitische Rolle der Streitkräfte betont wurde, lief, nachdem man eine strafrechtliche Verantwortlichkeit politischer A r t gefordert hatte und die höchsten gegnerischen Militärs hingerichtet hatte, auf ein Schauspiel großer ideologischer Konflikte hinaus, die den nationalen Horizont übersteigen. Diese Politisierung gelangt auf ihren Höhepunkt im sogenannten kalten Krieg und in den subversiven und revolutionären Kriegen. Angesichts dieser Kriege müssen die Streitkräfte bereit sein, i n Kämpfe einzugreifen, die der Sache nach politische Kriege sind. Es handelt sich für das Militär nicht mehr darum, den Feind zu schlagen und das Land zu besetzen, sondern es muß i n diesen Kolonial- oder Revolutionskriegen versuchen, die Zivilbevölkerung des Kampfgebietes zu gewinnen, insbesondere, wenn diese A r t Krieg i m Zusammenhang mit einem weitergreifenden Weltkonflikt ideologischen Charakters steht. Es sind die Regierungen selbst, die die Streitkräfte politisieren, indem sie den militärischen Apparat umwandeln, um ihm politische Aufgaben übertragen zu können, angefangen mit der politischen Funktion der nationalen Verteidigung bis zur Anwendung und Kontrolle der Informationstechniken. Unter diesen Umständen gewinnen die Streitkräfte — i m Bewußtsein ihres inneren Zusammenhangs und ihrer hierarchischen Organisation, in Kenntnis ihres wirklichen Wertes und auf das Vertrauen und das Ansehen i m Volk zählend — ein immer stärkeres Bewußtsein dafür, daß ihre Rolle nicht nur die eines bloß unbewußten Instrumentes der Politik der Regierungen sein kann, die zuweilen schwach ist, dann wieder wenig Zusammenhalt zeigt i m äußeren wie i m inneren gegenüber Rebellion und Subversion. So kam es, daß die klassische unpolitische Rolle der Streitkräfte erlosch und sich der Begriff des Gehorsams gegenüber der konstituierten Gewalt wandelte, eines Gehorsams, der nicht mehr unbewußt und automatisch, sondern bewußt, widerruflich und bedingt ist. I n diesem Sinn haben sich die Streitkräfte aller Staaten politisiert, und i n vielen haben sie direkt oder indirekt teil an der Politik des Landes. Dies sind i n groben Zügen die Hintergründe des in jüngster Zeit so häufigen Eingreifens des Militärs i n das politische Leben: einmal direkt in Ländern mit einer geringeren Entwicklung und geringeren politischen Stabilität, zum anderen indirekt in den übrigen Ländern. I I I . Zweifellos haben die Streitkräfte insgesamt einen ausgesprochen konservativen Charakter. Die hohen Militärs identifizieren sich gewöhnlich wegen ihrer hohen gesellschaftlichen Stellung mit den Interessen der konservativen Gruppen, und die Offiziere entstammen i m allgemeinen dem Mittelstand und streben danach, ein stabilisierendes Element des gesellschaftlichen Lebens ihres Landes zu sein. Vor allem aber haben sie alle einen ausgeprägten Sinn für Disziplin und für die absolute Not-

Die politische F u n k t i o n der Streitkräfte

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wendigkeit der Aufrechterhaltung der Ordnung. I m gleichen Maße bekennen sie sich auch zu der Pflege der nationalen Werte. Ist dies der Fall i n den alten Nationen, so ist es in den jungen Nationen anders. Denn hier kommen die militärischen Befehlshaber oft aus den Revolutionskadern, die die Unabhängigkeit erkämpften, und entstammen gewöhnlich dem Volke. Da zudem in den jungen Nationen eine lebendige Tradition fehlt, verkörpern sich die nationalen Werte in den fortschrittlichen Gruppen, die die Unabhängigkeit erreicht haben. Dennoch w i r k t auch i n den Armeen der jungen Nationen ein Abglanz des Sinnes für Ordnung und Disziplin, und sie treten als Garanten der nationalen Einheit auf. Daher kommt es, daß man auf dem heutigen Schauplatz direkter m i l i tärischer Interventionen sowohl konservative als auch progressive Kräfte feststellen kann, die entweder auf die Aufrechterhaltung einzelner politischen Strukturen oder auf deren Umstürzung gerichtet sind. Man muß aber unterstreichen, daß bei Machtübernahme durch einen Staatsstreich von Seiten der Streitkräfte sich diese i m allgemeinen nicht darauf beschränken, die ihrer Meinung nach gestörte Ordnung wieder herzustellen und danach das Land zu dieser selben politischen Ordnung zurückkehren zu lassen, sondern den Anspruch erheben, ein neues Regime zu errichten. Sie sehen ihre Aufgabe nicht nur in der Beseitigung der Unordnung, um dann wie die Feuerwehr nach dem Brand i n ihre Unterkünfte zurückzukehren, sondern sie versuchen i m allgemeinen, eine neue politische Ordnung zu schaffen, i n der sich die Ursachen, die den Brand hervorriefen, nicht wiederholen können. Was die indirekten Interventionen des Militärs in das politische Leben eines Staates angeht, so ist ihr Sinn nicht darin zu sehen, die verfassungsmäßige Regierung en bloque zu ersetzen, sondern einen Druck auf sie mit einem bestimmten Ziel auszuüben. I n den hochentwickelten Ländern haben die Streitkräfte innerhalb des Staates eine wichtige Stellung. Sie üben einen starken Einfluß auf die Entwicklung des politischen Lebens aus. Man spürt jedoch ihren Einfluß auf die Regierungen i m allgemeinen nur i m Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung, zumindest unter normalen, alltäglichen Umständen. Manchmal versucht das Militär die Regierung von der Notwendigkeit der Änderung der nationalen Verteidigungspolitik oder sogar der Außenpolitik zu überzeugen, manchmal fordern die Militärs die Ersetzung einer Persönlichkeit, die sie für einen Vertreter der Opposition gegen ihre Politik halten, manchmal sogar hat der Druck der Streitkräfte auf die Regierung den Sinn, sich gegen bestimmte politische Verbindungen, die die Regierung verlangt, oder gegen politische Entwicklungen zu stellen, die sie für schädlich halten. I n diesen letzten Beispielen könnte man von einer warnenden Funktion des Militärs gegenüber der Regierung sprechen. 10*

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Aber es sollte beachtet werden, daß w i r i n diesem Abschnitt auf Tatsachen anspielen, die man von der Doktrin her billigen kann oder nicht, die jedoch unleugbar sind. Unter dem heutigen weltpolitischen Aspekt erscheint es evident, daß es eine „politische Funktion der Armee" gibt — so die These von Hermann Oehling — oder eine „außermilitärische Rolle der Armee" — Thema der entretiens von Dijon, die von Léo Hamon geleitet wurden. Aus den Tatsachen kann man folgern, daß es gegenüber der klassischen liberalen Doktrin Gelegenheiten gibt, i n denen es natürlich ist, daß die Armee i n das politische Leben der Nationen eingreift. Selbst Salvador de Madariaga mußte neuerdings zugeben, daß „die Intervention der Armee i n das politische Leben nicht nur erlaubt, sondern unter gewissen Bedingungen unerläßlich ist". Zwar sollen die Streitkräfte unter normalen Umständen dienen und der Regierung Gehorsam leisten. Wenn diese aber den Staat gegen die Gesellschaft oder die Nation stellt, also unter außergewöhnlichen und nicht normalen Umständen, kann der Gehorsamskonflikt nicht zugunsten der Regierung gelöst werden. Als sich vor ungefähr 30 Jahren einige Militärs u m das Problem der Grenzen der Loyalität zur verfassungsmäßigen Gewalt stritten, schrieb José Antonio Primo de Rivera treffend: „Normalerweiser sollen die M i l i tärs sich nicht zu politischen Meinungen bekennen, aber dies gilt nur dann, wenn die politischen Diskrepanzen Unwesentliches betreffen, wenn das vaterländische Leben sich auf dem Boden gemeinsamer Überzeugungen entfaltet, die die Basis für seine Dauer ist. Die Armee ist der Wächter für die Dauer, deshalb soll sie sich nicht i n unwesentliche Konflikte einmischen. Aber wenn die Dauer selbst gefährdet ist, wenn die Dauer des Vaterlandes selbst i n Gefahr ist, hat die Armee keine andere Wahl als zu beraten und zu entscheiden." Man könnte das Ungewöhnliche einiger gegebener Umstände und die Natur außergewöhnlicher Bedingungen erörtern, aber man kann die Legitimität einer Intervention der Streitkräfte in außergewöhnlichen Fällen sogar i n Übereinstimmung mit der rechtlich-politischen Ordnung selbst nicht i n Zweifel ziehen. Denn — wie Guaita bemerkt — „wenn die Zivilverwaltung sich spaltet, sind die Streitkräfte dazu berufen, alles was verloren scheint, zu retten auf Befehl ihres eigenen Gesetzes . . . (in diesen Fällen) hat das Militär nicht das Gesetz aufgehoben, sondern es erfüllt". I n solchen außergewöhnlichen Fällen ist die Intervention der Streitkräfte eine Funktion eigener Art, die als politisch bezeichnet werden kann, sofern zwei Begriffe unterschieden werden, die sich für schwerwiegende Verwechselungen anbieten: Politik und Parteiwesen. Was heute das Militär kennzeichnet, ist nicht seine unpolitische Haltung, sondern seine Distanz vom Parteiwesen. Aus dem Spanischen übersetzt von Gudrun Forsthoff, Heidelberg

Fünfzig Jahre R u n d f u n k f r e i h e i t u n d die Normstruktur der neuen Fernseh-Betriebe Von Carl Haensel t, Tübingen

A. Rundfunkfreiheit I. Rund junk freiheit

und Neutralität

Als i m Jahre 1920 dem preußischen Innenminister K a r l Severing von dem Leiter des Funkwesens i m Postministerium, Hans Bredow, zum ersten Male ein Rundfunkempfang vorgeführt wurde, rief er entsetzt aus: „Wenn jeder einen derartigen Apparat i m Hause hat, ist es eine Kleinigkeit, die Monarchie auszurufen." Bredow bringt diese Episode i n dem Kapitel seiner Memoiren, das er „Furcht der Politiker vor dem Rundfunk" überschreibt. Man könnte diesen Ausruf als Motto vor eine Darstellung der Geschichte des Deutschen Rundfunks setzen, der i m Jahre 1967 fünfzig Jahre alt geworden ist. Aber die offiziöse Rundfunkgeschichte läßt ihn nicht mit der Betätigung der Funkgeräte seitens der Kriegsfunker ab 1917 beginnen, die aus den Unterständen und Schützengräben in den langen Pausen, i n denen nicht geschossen wurde, Musik, wenn auch schlechte, und Unterhaltung, die keine Kriegsgeheimnisse verriet, an ihre Kameraden aussandten. Die Pressefreiheit ist Jahrhunderte älter als unsere Pressegesetze, der Dichter des „Verlorenen Paradieses", John Milton, hat unter Cromwell die gefährdete paradiesische „liberty of unlicensed printing" verteidigt. U m zum staatlich organisierten Rundfunk (1923) zu gelangen, muße erst einmal durch Bredow „die Beseitigung des Funkerspuks" erfolgen. Aber Bredow gibt selbst zu, daß der Rundfunk keine Erfindung sei, sondern „die selbstverständliche Ausnutzung der Rundfunkwirkung der von Heinrich Hertz 1880 entdeckten elektromagnetischen Wellen". Die amerikanischen Funker, die mit ihren Geräten heimkehrten, entwickelten den Werbefunk, die Engländer den Sport der Amateure, Bredow aber lud in Berlin die demobilisierten Funker ein, ihre rebellische Eigenbrödelei aufzugeben, i n den Postdienst zurückzukehren und sich so zu verhalten, wie es eine gute Durchführung des Funktelegrafendienstes erfordert. Die Funker nahmen seine Einladung an. Der von Hans Bredow eingerichtete deutsche Rundfunk wurde nicht

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gewerkschaftlich organisiert, sondern als öffentliche Aufgabe unter dem staatlichen Hoheitsrecht der Fernmeldehoheit seit 1923 entwickelt 1 . 20 000 Kriegsfunker protestierten telegrafisch bei den Volksbeauftragten gegen den Reaktionär Bredow. Bredow aber verstand es, die revolutionäre „Zentralfunkleitung" an sich zu ziehen und mit seiner ministeriellen Reichsfunkbetriebs-Verwaltung zu vereinen. Als er dann an die Organisation regelmäßiger Rundfunkausstrahlungen ging, überließ er die Herstellung dieser Programme dem neuen privatwirtschaftlich aufgezogenen „Unterhaltungsrundfunk". Der große Kampf, den Bredow nun führte, hatte das Ziel, diesen Unterhaltungsrundfunk von der politischen Beeinflussung freizuhalten — die Post wollte sowieso von der Programmherstellung nichts wissen — und eine Rundfunkfreiheit zugunsten derer, die ihren Geist, ihre Arbeitskraft und ihr Geld einsetzen wollten, zu garantieren. Die Meinung über die Rolle Hans Bredows, der bis vor kurzem als der Vater des deutschen Rundfunks gefeiert wurde, dessen B i l d aber dann einer Ent-Bredowisierung unterlag, ist geteilt. Er ist aus einer technischen Lehre hervorgegangen, in preußischer Tradition unter einem Vater aufgewachsen, der einen großen Bart trug wie sein Kaiser Friedrich, hegte aber eine romantische Verehrung für Kunst und Bildung, deren Leistungen durch den Rundfunk übermittelt werden sollten. Er wurde Staatssekretär i m Postministerium, Aufsichtsratsvorsitzender der Reichsrundfunkgesellschaft, der Dachorganisation aller privaten Programmhersteller, und der Winkelried für die stumme Masse der Hörer. Er war der erfolgreiche Repräsentant des deutschen Rundfunks i m Ausland, mußte sich am 1. Juni 1926 aber, als die Kollision seiner verschiedenen Stellungen zu eklatant wurde, für einen dieser Posten entscheiden und traf seine Wahl für die private Betätigung als Reichsrundfunkkommissar unter Ausscheiden aus dem Staatsdienst. Ich glaube i n Bredow den Mann sehen zu sollen, der dem Kaiser geben wollte, was des Kaisers war, nämlich den Fernmeldedienst mit seiner militärischen Bedeutung, die Programmgestaltung des Unterhaltungsrundfunks aber von jedem politischen Einfluß freihalten wollte. Die Definition dessen, was der parlamentarische Rat unter Rundfunkfreiheit i m Sinne des Artikels 5 seines Grundgesetzes verstand, ist nicht von der Stellungnahme für oder gegen Bredow abhängig, aber man kann sie nur geben, wenn man die Problemstellung kennt, unter der der Parlamentarische Rat seinen Gesetzestext schuf 2 . Bredow saß nicht i m Parlamentarischen Rat und hatte auf den A r t i k e l 5 keinerlei Einfluß. Wohl aber stammen die grundlegenden An1 Denkschrift des Reichspostamtes vom Januar 1919, Bredow Archiv. — Bredow, Hans: I m Banne der Ätherwellen I I , S. 104 ff. 2 Haensel, Carl: Volksbewegung Rundfunk, Ufita Bd. 36 (1962), S. 176—205. Bredow, a.a.O., S. 277.

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regungen für die Neutralität des Rundfunks, die die Länder i n ihren Gesetzen 1948 und 1949 verordneten, von ihm. Die Besatzungsmächte forderten, daß der deutsche Rundfunk nie wieder eine ähnliche politische Rolle wie unter Hitler spiele, er sollte nach dem Befehl des Generals Clay „diffus" organisiert werden. Auch die einzelnen Landesregierungen waren von jedem Einfluß auszuschließen. Da die Möglichkeit zur Eröffnung privater Gesellschaften nach amerikanischem Muster nicht bestand, regte Bredow die Schaffung eines Perpetuum mobile an, eines Selbstverwaltungskörpers, der sich selbst ergänzte, ohne staatliches Ernennungsrecht, und den Intendanten bestimmte, der den Rundfunk in alleiniger Verantwortung unter Beratung dieses Selbstverwaltungskörpers betreiben sollte. Er ließ eine Denkschrift drucken „Über die Neuregelung des Rundfunks", von Dr. h. c. Hans Bredow, Staatssekretär a. D., ehemaliger Rundfunkkommissar, Wiesbaden im Oktober 1947, dort heißt es (Seite 17): „Der Gesetzentwurf sieht vor, daß der Staat auf seine Aufsichtsbefugnisse, soweit sie sich auf das Rundfunkwesen erstrecken, zugunsten eines Selbstverwaltungskörpers verzichtet (Abs. 4). Z u diesem Zweck ist die schon früher von m i r vorgeschlagene Errichtung eines Rundfunkrates, u n d zwar m i t öffentlichrechtlichen Befugnissen, vorgesehen worden. Der Rundfunkrat ist als eine A r t Rundfunkbehörde gedacht, die für die Lenkung und Überwachung des Rundfunkwesens des Landes allein zuständig ist, soweit es nicht unter den Begriff des öffentlichen Nachrichtenverkehrs fällt."

Bredow sah zwei Verwaltungseinheiten vor, den Intendanten m i t seiner Rundfunkanstalt und den Rundfunkrat als getrennte Körperschaft. Die Länder haben i n ihren Gesetzen, die unter dem Einfluß der Besatzungsmacht und unter den Anregungen Bredows zustande kamen, aus den beiden getrennten Verwaltungseinheiten eine einheitliche gemacht und damit den Rundfunkrat m i t dem Intendanten zusammengekoppelt, i n ein Schiff gesetzt, zu gemeinsamen Erfolg oder Mißerfolg. Die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten wurden aus der Staatsverwaltung herausgehoben, aber die Befugnisse ihrer Organe gesetzlich geregelt, dem Intendant und seinem Rundfunkrat wurde zur Pflicht gemacht, „bei der Programmgestaltung weder einseitig einer politischen Partei oder Gruppe noch Sonderinteressen, seien sie wirtschaftlicher oder persönlicher Art, zu dienen" (Art. 4 des Bayerischen Rundfunkgesetzes vom 10. 8.1948). Diese Neutralität des Rundfunks wurde i n das Hessische Gesetz vom 2. Oktober 1948, in das Gesetz über Radio Bremen vom 22.11. 1948, in das Gesetz über den Süddeutschen Rundfunk vom 21.11.1950, i n den Staatsvertrag über den Südwestfunk vom 27. 8.1951 und i n die späteren Gesetze und Staatsverträge über Westdeutsche Rundfunkanstalten übernommen. Diese Neutralität des Rundfunks ist eine gesetzgeberische

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Maßnahme der Länder, beruhend auf dem Staatsvorbehalt „unwiderstehlicher Gewalt", also jenem Institut, das die Entstehung von Staaten i m Staate verhindern soll 3 . Hierdurch soll dem Bürger nicht ein subjektives öffentliches Recht eingeräumt werden, sondern es handelt sich um einen Staatsbefehl, einen Gesetzgebungsakt zur Sicherung des Gemeinschaftslebens, über deren Durchführung die Exekutive entscheidet. Das Recht des Bayerischen Rundfunks, Sendungen über Rundfunkanlagen zu veranstalten, beruht auf dem Art. 2 des Bayerischen Gesetzes vom 10. 8. 1948. Die Neutralität ist eine Auflage, eine Einschränkung der Programmfreiheit der Bayerischen Anstalt. Ebenso ist die Verpflichtung zur Gegendarstellung (Art. 17) eine solche Auflage. Wird sie verweigert, so verweist das Bayerische Gesetz auf den Zivilrechtsweg. Der Rundfunkrat hat zwar die Verpflichtung und die Aufgabe, den Intendanten bei der Einhaltung der Neutralität zu überwachen. Stellt er sich aber auf den Standpunkt des Intendanten, so ist seine Entscheidung kein Schiedsspruch, sondern eine anfechtbare Verwaltungsanordnung. Auch die Maßnahmen des Intendanten sind Verwaltungsakte. Auf einem ganz anderen Blatte steht die Rundfunkfreiheit aus Art. 5 des Grundgesetzes. Als der Bayerische Landtag das erwähnte Rundfunkgesetz 1948 beriet, begrüßte er mit großem Beifall die Darlegung: „Das Bayerische Volk ist doch der Eigner des Rundfunks. Der Staat und der Rundfunk sind ja schließlich ein und dasselbe4." Die Vokabel Rundfunkfreiheit kam in diesen Debatten nicht vor. Freiheit bedeutete hier kein Grundrecht, sondern das Ergebnis staatlicher Machtentfaltung, die den Bürgern Frieden, Sicherheit und Ordnung gewährleistet und die Möglichkeit, den Gesetzen zu gehorchen. Die Rundfunkfreiheit aus Art. 5 GG ist für die Eigner des Rundfunks i m Sinne des Bayerischen Landtags von 1948 eine Hypothek aus diesem Eigentum, hier geht es um die Rechte des Einzelnen gegen die Allgemeinheit, falls diese ihn überwältigen will. Erst nach der Verkündung des Bayerischen, des Hessischen und des Bremer Rundfunkgesetzes hat der Redaktionsausschuß des Parlamentarischen Rates am 2. 5. 1949 aus dem Art. 6 des Entwurfes den Art. 5 des Grundgesetzes zusammengestrichen, i n dem es heißt: „Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet." Das Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichtes 5 spricht von einer institutionellen Freiheit der Presse und der gleichen Freiheit des Rundfunks. Es hat sich allgemein durchgesetzt, Pressefreiheit und Rundfunkfreiheit trotz gewisser Unterschiede nebeneinander zu stellen. Die Rund8

Krüger, Herbert: Der Rundfunk i m Verfassungsgefüge, S. 60 ff. Reichert, Hans Dietrich: Der K a m p f u m die Autonomie des deutschen Rundfunks, 1955, S. 21. 5 Bundesverfassungsgericht, U r t e i l v o m 28. 2.1961,12, 205. 4

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funkfreiheit ist wie die Pressefreiheit ein Grundrecht, ein gesetzlicher Eingriff gegen dieses Grundrecht kann weder durch den Bund noch durch die Länder geschehen, ohne als eine prinzipiell begrenzte und meßbare Ausnahme gewertet zu werden. II. Der Verfassungsauftrag

aus Art. 5 GG

Als das Grundgesetz am 23. 5.1949 i n Bonn in öffentlicher Sitzung des Parlamentarischen Rates festgestellt und in der Woche vom 16. bis 22. Mai 1949 durch die Volksvertretungen von mehr als zwei Drittel der beteiligten deutschen Länder angenommen worden ist, standen diese unter der alliierten Militärregierung, es gab weder eine Rundfunk- noch eine Pressefreiheit im Bundesgebiet. Erst am 21. September 1949 stellten die alliierten Militärregierungen ihre Tätigkeit ein. M i t diesem Tage begann die HICOG (High Commission for Germany) ihre Amtstätigkeit. Das Gesetz Nr. 5 über die Presse, den Rundfunk, die Berichterstattung und die Unterhaltungsstätten vom 21. 9.1949 engte die Souveränität des Bundes wesentlich ein, die Lizenzierung von Rundfunksendern unterlag der Genehmigung der HICOG. Erst am 5. 5.1955 entfiel diese Einschränkung der Funkhoheit 6 . Der Parlamentarische Rat garantierte die Rundfunkfreiheit i n einem Zeitpunkt, i n dem sie nicht verwirklicht war und nicht verwirklicht werden konnte. Es bestanden Rundfunkanstalten öffentlichen Rechtes, deren gesetzliche Grundlage unter dem Schutze der Besatzungsmächte entstanden waren. Der Kommentator des Grundgesetzes, Hermann von Mangoldt, berichtet (S. 66 der Auflage von 1953), daß sein Antrag, wonach Sendeunternehmungen nur als Anstalten des öffentlichen Rechtes betrieben werden sollten, ausdrücklich abgelehnt worden sei. Der eindeutige Wille des Gesetzgebers ging also dahin, auch privatwirtschaftliche Unternehmungen zuzulassen. I m Presserecht unterscheidet man eine materielle und eine formelle Pressefreiheit. Die materielle Pressefreiheit ist das Recht der freien Meinungsäußerung in Anwendung auf die Presse. Sie hat ihre ersten Wurzeln i n den Religionskämpfen des 16. Jahrhunderts. Wir werden an die Feststellung Carl Schmitts erinnert, daß unsere staatsrechlichen Grundbegriffe aus der Theologie stammen. Die formelle Pressefreiheit ist das Ergebnis der Barrikadenkämpfe von 1848, i m Reichspressegesetz von 1874 verankert, seitdem weiter entwickelt, jetzt Landesrecht, sie richtet sich gegen Eingriffe des Staates, die Institution w i r d geschützt 7 . Der Parlamentarische Rat hinterließ eine Situation, für die i m Rundfunk i n besonderer Weise der Gesetzesauftrag galt, „ i n freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden" (Prä8 7

Amtsblatt der A H K I, S. 3272. Löf fier, M a r t i n : Presserecht, 1955, S. 63 ff.

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ambel). Kein Mitglied des Parlamentarischen Rates konnte die Augen gegenüber der Tatsache verschließen, daß durch die Landesgesetze mit Rundfunkrat und Neutralitätspflicht die „Freiheit der Berichterstattung über Rundfunk" nicht verwirklicht war, es war ein Verfassungsauftrag, sie zu verwirklichen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat i n dem schon erwähnten Fernsehurteil keinen Zweifel darüber gelassen, daß die Rundfunkfreiheit durch neue Gesetze nach organsatorischen und sachlichen Grundsätzen geregelt werden muß. „ A r t . 5 GG fordert deshalb den Erlaß solcher Gesetze" (viertletzter Absatz des Urteils). Wenn man von der älteren Pressefreiheit auf die jüngere Rundfunkfreiheit schließen darf, würde auch für den Rundfunk der Anspruch des Bürgers gegeben sein a) Rundfunkbetriebe zu errichten, unter Einhaltung der allgemeinen Gesetze, insbesondere der gesetzlichen Bestimmungen fernmeldebenutzungsrechtlicher Art, b) seine Meinung über Rundfunk zu äußern, die „Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk". Zu a): Es besteht kein Verbot i m Bundesgebiet, Rundfunkbetriebe zu errichten. Aber das Ausstrahlen von Sendungen bedarf der Genehmigung gemäß dem immer noch geltenden Gesetz über Fernmeldeanlagen vom 14.1.1928, das die Hitlerzeit, Krieg und Besatzung überdauert hat. Die Meinung ist unwidersprochen, daß seit dem Stockholmer Frequenzplan 17 neue UKW-Kanäle für Bundessender erschlossen wurden. Selbst bei großen Reserven für ein drittes und viertes Fernsehprogramm sind fernmeldetechnische Möglichkeiten gegeben, daß neben den Anstalten ein kommunaler und privater Rundfunk und Fernsehen betrieben werden könnte 8 . I n Auswirkung des Fernsehurteils bedarf es aber nach Ansicht der Landesregierungen auch einer Lizenz zur Programmveranstaltung. Es ist noch keine solche Lizenz erteilt worden. Eines der Argumente für die Ablehnung ist, daß keine Gesetze erlassen sind, die die Rundfunkfreiheit i m einzelnen regeln. Der Landesgesetzgeber, der kein Ausführungsgesetz zu Art. 5 GG erläßt, verletzt den Verfassungsauftrag. Das Bundesverfassungsgericht könnte allerdings diesen Gesetzgebungsakt i m Wege der „Ersatzvornahme" nicht nachholen, schon deshalb nicht, weil es nach dem Grundsatz der Trennung der Gewalten sich als Rechtsprechung nicht i n die Legislative einschalten kann, es könnte auch nicht i n vollstreckbarer Form einen Landesgesetzgeber zum Erlaß eines bestimmten Gesetzes verurteilen. Es kann nur mit der moralischen Kraft wirken, daß ein Bundesstaat nur regiert werden kann, wenn seine Glieder sich gesetzestreu verhalten. Aber auch ohne ein solches ausführliches Landesgesetz genügt die 8

Krause-Ablass,

in: DÖV X V (1962), 249.

R u n d f u n k r e i h e i t und Normstruktur der F e r n s e h - B e t r i e b e 2 5 1

Rechtsnorm i n A r t . 5 GG i n Verbindung mit dem Gewohnheitsrecht und der Judikatur zur Pressefreiheit, einen Anspruch auf Programmlizenz durchzusetzen, wenn der Antragsteller die zu fordernden Voraussetzungen erfüllt. Eine höchstrichterliche Entscheidung liegt noch nicht vor, ist aber zu erwarten. Das Saarland hat am 7. 6.1967 eine Novelle zu seinem Rundfunkgesetz erlassen (Amtsblatt S. 512 ff.), wonach die Landesregierung einer Aktiengesellschaft die Konzession zur Veranstaltung von Rundfunk- und Fernsehsendungen erteilen kann. Die Landesregierung ist die Aufsichtsbehörde. Die Aktiengesellschaft muß außer ihren sich aus dem Aktienrecht ergebenden Organen einen Beirat bilden, der genauso zusammengesetzt ist, nur weniger Mitglieder hat als der Rundfunkrat des Saarfunks. Die Aufsichtsbehörde kann unter M i t w i r k u n g des Beirats i n gewissem Umfange die Konzession an die Aktiengesellschaft zurücknehmen, wenn die i n der Konzession enthaltenen Auflagen nicht erfüllt werden (§ 45). Der Beirat der Saarländischen Novelle hat nicht die Funktionen des Rundfunkrates i n der Bredow'schen Konzeption, die den Länderrundfunkgesetzen zugrunde liegt, er ähnelt mehr dem Programmbeirat gemäß § 17 des Westdeutschen Rundfunkgesetzes vom 25. 5.1955 oder dem des Norddeutschen Rundfunks (§ 16 des Staatsvertrags vom 16. 2.1955). Die Konzession erhält der Betrieb, die Aktiengesellschaft, und ihr w i r d sie entzogen, während der Rundfunkrat nach Bredows Muster den Intendanten bestellt und absetzt. Die Bestellung des Vorstandes und seine A b berufung sind interne Vorgänge der Aktiengesellschaft, die ihrerseits gegenüber der Aufsichtsbehörde als verantwortlicher Betrieb erscheint. Aber auch ohne die Saarnovelle wäre es möglich, eine solche Aktiengesellschaft mit Beirat gemäß den Vorschriften des Handelsrechtes zu errichten und durch die Landesregierung zu konzessionieren. Es ist aber bisher nicht geschehen. Die in der „Dokumentation" von der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik herausgegebenen offiziellen und offiziösen Äußerungen zeigen, daß den Bemühungen des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger, ein privatrechtliches Sendeunternehmen aufzuziehen, widersprochen wird, weil jedes privatwirtschaftliche Unternehmen darauf angewiesen sei, zu verdienen, „d. h. Profit zu machen", und damit sei einem nur noch auf den Massengeschmack abgestellten Programm Tür und Tor geöffnet (Dok. 1, 222). Die Gegenmeinung spricht von einem „lamentablen Informationszustand des Deutschen Fernsehens" und von der Notwendigkeit, bis zum Jahre 1980 überall in Europa 6 bis 10 Programme zur Verfügung zu stellen, und daß dies ohne Mobilisierung aller Kräfte, auch der in der freien Wirtschaft, nicht möglich sei 0 . 9

Silbermann,

Alfons: Bildschirm u n d Wirklichkeit, 1966, S. 102 u n d 354.

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Zu b): Man hat sich darüber den Kopf zerbrochen, ob i n der Formulierung „die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk" i m Gegensatz zur „Pressefreiheit" eine „Drehscheibe" zu sehen sei, mittels deren das Rundfunkrecht seine Wendung bekommen solle 10 . Drehscheibe ist eine höflich Version für das vulgäre „Dreh", also Ausdruck des Verdachtes, daß man das Recht der Rundfunkfreiheit durch diese Ausdrucksweise einschränken wolle. Wenn man die Worte nimmt, wie sie gesetzt sind, muß man i m Gegenteil zu der Auffassung kommen, daß außer der Institution Rundfunk, die jedem Bürger offenstehen soll, auch noch eine Berichterstattung ermöglicht werden sollte, nicht über seinen institutionellen Sender, sondern über die anderen, bestehenden Rundfunksender i n den Händen der öffentlichen Hand seine Berichterstattung zu bewerkstelligen. Der Bürger hat also qua Rundfunkfreiheit das Recht, den öffentlichen Sender, Post oder Anstalt gehörend, zu seiner Berichterstattung zu benützen, und die den Sender verwaltende Anstalt hat i h m gegenüber nur die Einwände, daß sie keine Sendezeit für ihn habe, sein Vorhaben nicht der Aufgabe des Rundfunks zu unterhalten oder zu unterrichten, genüge und die dem Intendanten zur Pflicht gemachte Aufrechterhaltung der Vitalität seiner Anstalt i m Interesse der allgemeinen Hörerschaft sein spezielles Privatanliegen verbiete. Der Unterschied gegenüber dem Zustand, daß der Intendant seine Mitarbeiter aussucht und beschäftigt, besteht i n der verschiedenen Ausgangsposition und ferner i n der Möglichkeit eines abgelehnten Informanten, gegen diese Entscheidung des Intendanten die Verwaltungsklage zu erheben, weil ein Ermessensmißbrauch vorliege und er den Anspruch auf fehlerfreie Ermessensbetätigung habe. Daß der einzelne Informant gegen die Rundfunkanstalt eine solche Klage praktisch nicht durchführen kann, wenn ihm nicht sein Berufsverband zur Seite steht und zwei wirtschaftlich gleichgestellte Organisationen miteinander streiten, liegt auf der Hand. Die theoretische Rechtslage ist aber für weitere Erörterungen von Wichtigkeit.

B. Der Fernsehbetrieb I . Rundfunk

und Fernsehen

Die rechtliche Gleichbehandlung von Rundfunk und Fernsehen hat zu organisatorischen Unzulänglichkeiten geführt. I m Bundesgebiet wurde das Fernsehen durch den Fernsehvertrag der ARD-Anstalten als „eine besondere Aufgabe" übernommen. Das Fernsehen ist aber nicht ein bebilderter Hörrundfunk. Nur die Technik der Ausstrahlung elektromagnetischer Wellen ist beim Fernsehen und Hörrundfunk die gleiche, 10

Klein, unter Zitierung von Peters, i n : Ufita, Bd. 36 (1962), S. 439.

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der Inhalt ist grundverschieden. Auch die Erfindung des Fernsehens vollzog sich nicht als Bebilderung der Worte i m Rundfunk, sondern als Entwicklung bewegter Bilder ohne Worte zunächst, anfangs hatte man mechanische Scheiben und ging dann erst zum elektronischen Fernsehen über und zur Verbindung von B i l d und Wort. Art. 5 des Grundgesetzes garantiert die Freiheit der Berichterstattung über Rundfunk und Film. Es ist manchmal erstaunlich, welche divinatorische Voraussicht ein Gesetzgeber beschieden bekommt: die Formulierung Rundfunk und F i l m nimmt das damals i n Deutschland nicht existierende Fernsehen voraus, denn das Fernsehen ist sinnvoll bewegtes Bild, also Film mit einem begleitenden Ton. Als ich 1951 i n den Vereinigten Staaten mich um die Organisation des Fernsehens bemühte („Fernsehen — nah gesehen") hörte ich von einem amerikanischen Kinde, das vor dem Bildschirm nachdrücklich äußerte: „Wohin haben w i r eigentlich früher geguckt, als es noch kein Fernsehen gab?" Der Zauber, der Kinder und Erwachsene vor dem Fernsehschirm festhält, ist nicht das B i l d an sich, sondern die Bildfolge, die i n einem Zusammenhang steht und i n uns ein Geschehen wieder entstehen läßt. Zum Lobe des Gesetzgebers sei auf das neue deutsche Urheberrecht verwiesen, wonach unter F i l m die Bildfolge verstanden wird, die den Eindruck eines bewegten Spiels entstehen läßt. Live-Sendungen i m Fernsehen sind Filme i m Sinne des Urheberrechtsgesetzes, einerlei ob sie aufgezeichnet werden oder nicht 1 1 . Die vor kurzem zu Ende gegangene Stockholmer Konferenz über die Berner Übereinkunft hat endgültig klargestellt, daß Fernsehwerke den gleichen Bestimmungen unterliegen wie die herkömmlichen Filmwerke. Ob nicht aufgezeichnete Live-Sendungen den Filmwerken gleichgestellt werden, wurden den nationalen Gesetzgebungen zugewiesen, i m Bundesgebiet bleibt es also dabei. I n den ARD-Anstalten w i r d das Fernsehen i n der Programmorganisation völlig getrennt vom Rundfunk verwaltet, aber der zur Kontrolle des aus jedem Staatseinfluß herausgelösten Intendanten von Bredow konzipierte Rundfunkrat wurde auch für die Abteilungen des Fernsehens beibehalten. Es entstand eine Situation wie etwa die, daß man einem Langstreckenläufer einen Gardehelm mit Federbusch aufsetzt. Seit 1961 haben w i r i m Zweiten Deutschen Fernsehen einen auf das Fernsehen allein abgestellten Betrieb. Pläne des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger beschäftigten sich nicht mit dem Hörrundfunk, sondern mit der Herstellung des Programms des Zweiten Deutschen Fernsehens auf ausschließlich privatrechtlicher Grundlage, wogegen das Zweite Deutsche Fernsehen wie die ARD Stellung nahmen (Dok. 1 S. 215). 11 Fromm-Nordemann: Urheberrecht, Vorbemerkung vor § 87. — Dittrich: Das Filmrecht i n der Stockholmer Fassung, F i l m u n d Recht 1967, S. 183.

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Fernsehprogramme können nicht i n einem Ministerialbüro mit Aktenverfügungen, Wiedervorlagen und Similes dekretiert werden, sie entstehen nur i n einem „Betrieb". K a r l Holzamer bekennt i m Vorwort zum Geschäftsbericht des ZDF für 1966, daß Pflicht und Aufgabe den Intendanten zum „Management zwingen". Er ist also ein Manager, ein Unternehmer, ein Betriebsführer. Eine Drittelmilliarde w i r d von ihm nach dem Haushaltsplan 1967 umgesetzt, davon w i r d das bestritten, was man „Produktion" nennt, Eigen- oder Fremdproduktion, es w i r d der „Ankauf" getätigt — Geschäftsbericht S. 96. Die Zahl der i n festem Vertragsverhältnis stehenden Beschäftigten betrug am 31.12.1966 2245, a.a.O., S. 141. Die Zahl der nicht fest angestellten Autoren, die Honorare erhalten, ist „erheblich" größer (S. 143). M i t verschiedenen Gruppen der Mitarbeiter bestehen Tarifverträge. I n Mainz besteht ein Verband der Rundfunk- und Fernseh-Union, der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeitnehmer und freien Mitarbeiter, der der Gewerkschaft Kunst i m Deutschen Gewerkschaftsbund angegliedert ist. Wo immer auf der Erde Fernsehprogramme produziert und gesendet werden, entsteht ein Betrieb. Das Jahrbuch der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft spricht von Betriebserträgen, Betriebskosten, Personalkosten — S. 4 ff. —, wie jeder andere Geschäftsbericht eines Betriebes. Der Betrieb Deutschlandsender wurde 1946 von der i n der Zone begründeten „Deutschen Verwaltung zur Volksbildung" übernommen und unter Titulierung des Betriebsleiters als Vorsitzenden des staatlichen Rundfunkkomitees weitergeführt. Die künstlerische Programmgestaltung ist relativ frei, die politische Programmgestaltung vorgeschrieben durch die jeweilige Parteiintention 1 2 . Nach unserer offiziösen Darstellung hat das Fernsehen in der Bundesrepublik keine effektive Machtfunktion, nur eine Dienstfunktion, und diese w i r d wiederum von der organisierten Vielfalt der freien Gesellschaft kontrolliert. „Der Rundfunk und das Fernsehen i n der Bundesrepublik haben außer dieser Gesellschaft keine Besitzer 13 ." Nach diesen Formulierungen wäre also die Rundfunkfreiheit verwirklicht, denn jedes Mitglied der Gesellschaft kontrolliert den Rundfunk, der keinen anderen Besitzer hat. Der Anspruch, über einen Sender zu berichten, dürfte für ein Mitglied dieser Gesellschaft, der nichts anderes auszuweisen hat als sein Bekenntnis zum Pluralismus, bereits am Pförtner scheitern, der ihn fragt, i n welcher Betriebsabteilung er etwas anordnen wolle. Der Kompetenzstreit zwischen Bund und Ländern und die heutige Erörterung der Streitfrage, ob neben den öffentlich-rechtlichen Anstalten auch private Unternehmer Rundfunk machen können, haben an dem Grundproblem vorbeigeführt: Rundfunk und Fernsehen kann nicht Freizeitbeschäftigung politisch in12 13

SBZ A bis Z, 1966, S. 139 und 407. Massenmedien, die geheimen Führer, 1965, S. 151.

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teressierter Persönlichkeiten sein, sondern kann nur i n einem Betriebe veranstaltet werden, der eine Vielzahl von Betriebsangehörigen hat und für dessen Funktionieren entscheidend ist, wer den Betrieb führt und wie dieser Führer bestimmt wird. Seit etwa 150 Jahren hat sich die europäische Arbeitsverfassung von der Bindung an Haus und Familie des Arbeitgebers oder der Heimarbeit gelöst. Es mußten Maschinen angeschafft werden, i m Fernsehen nennt man sie Studios. Die Zusammenarbeit von mehreren tausend Menschen i n solchen Anlagen ist nur möglich, wenn Ordnung herrscht, wenn einer die Macht hat, für Ordnung zu sorgen. A n Max Webers Definition der Macht sei erinnert: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen 14 ." Wenn i m folgenden das Wort Macht gebraucht wird, denke ich nicht an Hitler, sondern an Max Weber. Die Willensbildung des Fabrikherrn bestimmte den Führungsstil in der industriellen Frühzeit 1 5 . 1897 äußerte bereits ein konservativ gerichteter Mann w i r Gierke: „Die Fabrik ist nicht mehr das Haus des Arbeitgebers, sondern die Fabrik ist ein großer öffentlicher Organismus 16 ." Es entwickelte sich ein neuer „betrieblicher Führungsstil: der gesprächsfähige Unternehmer ist heute an die Stelle des absoluten Herren i m Hause und des einseitig harten Konkurrenten getreten" 1 7 . I n SowjetRußland hat sich der Industrie-Manager entwickelt, der nach Überwindung des frühkommunistischen Dreierkollegiums aus „Spezialisten", kommunistischem Betriebsdirektor und Sekretär der Parteizelle zum faktischen Leiter des Betriebes aufgrund der notwendigen technischwirtschaftlichen Vorbildung wurde. Zu jedem Betriebe gehört eine Arbeitsdisziplin unter Einschluß der Unfallverhütungsvorschriften, die die grundrechtliche Menschenwürde und Freiheit nicht antastet, aber die körperliche Bewegung und die gedankliche Betätigung aufgrund des Arbeitsvertrags i n den Dienst des Unternehmens stellt. Hierher gehört auch die Rundfunkfreiheit. Der Angestellte oder Mitarbeiter eines Fernsehbetriebes verzichtet i n seiner Betriebsarbeit auf die Entwicklung seiner eigenen Meinung, die er außerhalb des Betriebes betätigen und befolgen kann, i m Betrieb aber kann er eine Anweisung der Betriebsleitung unter Bezugnahme auf seine Rundfunkfreiheit nicht sabotieren. Die Angehörigen eines Betriebes entwickeln ein Verhalten, dessen Gesetzmäßigkeit wissenschaftlich untersucht worden ist, es gibt die Part14

Weber, M a x : Wirtschaft und Gesellschaft, 1956. Der Mensch i m Betrieb, Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung, Bd. 3,1962, S. 234. 10 Herkner, Heinrich: Die Arbeiterfrage, Bd. 1, S. 440. 17 a.a.O. wie 15, S. 241. 15

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nerschaft, die Aufgabenteilung unter den Angestellten, die Stellung des Meisters, die gehobenen Führungskräfte, den Unternehmer, dessen Menschenführung unter Förderung von Freiheit und Persönlichkeit, die politische, religiöse, kirchliche, pädagogische, sozialpolitische, sozialpsychologische Sicht, das Verhalten der Geschlechter i m Betrieb, die Technisierung und Automatisierung, das Gewinnproblem und vor allem die Betriebsverbundenheit, das Zusammenwachsen einer Menschengruppe durch eine gemeinsame Aufgabe, die sich bis zu dem Kampf um die Betriebserhaltung, nicht nur zur Sicherung des Arbeitsplatzes, sondern zu einer gefühlsmäßigen Verbundenheit steigern kann. Das Betriebsklima, das sich entwickelt, ist für diese neue Gemeinschaft wichtiger als der Kompetenzstreit, ob der Föderalismus, der Partikularismus oder Zentralismus allein selig machend ist. II. Die Grundrechtsfähigkeit

Dieser Betrieb mit seinem Zusammengehörigkeitsgefühl und allen Spannungen, die sich zwischen mehreren tausend Menschen entwickeln, sobald man sie zu einer Gesamtleistung womöglich auf engem Raum zusammendrängt, soll Träger der Rundfunkfreiheit sein, wenn man der Meinung folgt, den Bürgern stünde nur das passive Recht des Informations« und Meinungsempfangs zu, während die aktive Seite der Rundfunkfreiheit aus Art. 5 GG und das institutionelle Grundrecht der Informations» und Meinungsäußerungsfreiheit allein den Rundfunk unternehmen zuerkannt bleibe 18 . Noch eine weitere Einschränkung w i r d gemacht: die Unternehmen, die sich m i t Werbefernsehen befassen, sind nicht durch Art. 5 GG geschützt, weil sie nicht an der geistigen Auseinandersetzung mitwirkten, die Rundfunkfreiheit des A r t . 5 aber nur diese umfassen soll 1 9 . Da ein privatwirtschaftlicher Fernsehbetrieb seine Betriebsmittel aus dem Verkauf der Sendezeiten ziehen muß, ist gerade diese Einschränkung für die aktuelle Frage von Bedeutung, obwohl sich der Werbefachmann bei Behinderung der Berufsausübung auch auf Art. 3, 9 und 14 und die Berufsfreiheit, garantiert i n A r t . 12, als Grundrecht berufen kann 2 0 . Über Art. 5 GG liegt eine aller jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes v o r 2 1 : „Die Pressefreiheit umfaßt auch den Anzeigenteil." Auch eine Anzeige stellt nach der Auffassung des BVerfG eine Nachricht dar. Auch wenn das Inserat keine eigene Meinungsäußerung der Redaktion 18

S. 19 97.

Krause-Ablass:

Die Zuständigkeit zur Ordnung des Rundfunkwesens,

Fröhler, L u d w i g : Werbefernsehen u n d Pressefreiheit, Heft 4 der Beiträge zum Rundfunkrecht, S. 22. 20 Badura: Das Verwaltungsmonopol, S. 321 m i t L i t . 21 M D R J u l i 1967, S. 558.

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enthalte, werde es doch von der Pressefreiheit erfaßt. Die Pressefreiheit beginne nicht erst mit der pressemäßigen Verbreitung einer eigenen Meinung, sondern umfasse bereits die Beschaffung der Information und deren Verbreitung. Diese Voraussetzung liege aber bei der Anzeige vor, die nicht bekannte mögliche Leser auffordere, dem Inserenten ein A n gebot bezüglich des in der Anzeige angepriesenen Gegenstandes zu machen. Fröhler begründet die Ausschließung des Werbefernsehens vom Schutz des Art. 5 GG gerade damit, daß das Inseratengeschäft zwar ein Teil der Presse sei, aber nicht Teil der durch Art. 5 GG geschützten Pressetätigkeit, ebenso sei das Werbefernsehen Teil des Rundfunks, aber nicht Teil der i n Art. 5 GG geschützten Rundfunktätigkeit. Das BVerfG sieht i n seiner jüngsten Entscheidung eine Fortsetzung seiner ständigen Rechtsprechung, daß die Beschaffung der Information und deren Verbreitung bereits zur Pressefreiheit gehöre, eine Definition, die auch auf die Reklame zutrifft. Auch für das andere Problem, ob die Rundfunkunternehmen, w i r haben derzeit nur Anstalten des öffentlichen Rechtes i n der Bundesrepublik, sich auf die Rundfunkfreiheit berufen können, hat eine jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Gegenmeinung, daß Verwaltungseinheiten dies nicht tun könnten, bestätigt. „Die Grundrechte gelten grundsätzlich nicht für juristische Personen des öffentlichen Rechtes, soweit sie öffentliche Aufgaben wahrnehmen 2 2 ." Daß der Rundfunk zur öffentlichen Aufgabe gezählt wird, sagte bereits das Fernsehurteil. Ausnahme w i r d nur für Universitäten und Kirchen anerkannt, weil sie „nicht vom Staat geschaffen sind, sondern i m außerstaatlichen Bereich wurzeln und i n ihrem Eigenbereich weder staatliche Aufgaben wahrnehmen noch staatliche Gewalt ausüben" 23 . Auch der Intendant, der die Anstalt gerichtlich und außergerichtlich vertritt, kann seine persönliche Rundfunkfreiheit nicht auf seine Anstalt übertragen. Sobald er als Rechtsvertreter seiner Anstalt handelt, ist er an die landesrechtlich verordnete Neutralität gebunden, er darf eben als Intendant in der Regel nicht eine Eigenmeinung propagieren, sondern muß sich dieser enthalten und die anderen Meinungen zu Wort kommen lassen. Bei der Behandlung von Fragen, für die ein öffentliches Interesse besteht, ist beispielsweise nach Art. 4 Ziff. 2 des Bayer. Rundfunkgesetzes den Vertretern der verschiedenen Richtungen die gleiche Sendezeit zu gewähren. Ich beziehe mich auf den Sinn, nicht die Einzelregelung in dieser Vorschrift. Die Angestellten des Intendanten aber sind an seine Weisungen gebunden und haben i m Betrieb keine Rundfunkfreiheit gegen ihren Intendanten. 22 23

NJW1967, S. 1411. BVerfGE 18, 385 und 19,1.

17 Festschrift für Carl Schmitt

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Die Fachmänner nehmen an, daß der Europäer i m Jahre 1980 wöchentlich noch zwischen 30 und 35 Stunden arbeitet und eine Fernsehanlage besitzt, die in jedem Zimmer seiner Wohnung auf eine weiße Wand Fernsehbilder projiziert. Man sagt ihm voraus, daß er mittels der Satelliten bald jedes Ereignis miterleben könne, beispielsweise die Olympischen Spiele, aber eines hat er nicht: Fernsehfreiheit, d. h. alles das zu sehen, was er sehen möchte. Er bekommt nur auf seinen Bildschirm, was ihm sein Staat durch seine Fernsehbetriebe wiederzugeben erlaubt. Seine Information, Erziehung und sein Kunstgenuß hängt also von dem Programm ab, das ihm die Betriebsführer der Fernsehsender über den Äther liefern. Es liegt i n der Macht des Staates, inwieweit er und wem er die Programmgestaltung überläßt und ob er sich selber Einschränkungen auferlegt, die dann dem zugute kommen, der die Programmmacht erhält. Der Beveridge-Report stellt für das freiheitliche England fest: „Die formale Macht der heutigen Regierung über die BBC ist absolut 24 ." I n der französischen Ordonnanz vom 5. 2. 1959 heißt es: „Die Radio-Télévision Française steht unter der Amtsgewalt des für das Informationswesen zuständigen Ministers. Sie bildet eine öffentliche Anstalt des Staates industriellen und wirtschaftlichen Charakters. Sie ist mit einem selbständigen Haushalt ausgestattet 25 ." Eine gute Definition des „Betriebes", des Staatsbetriebes, dessen Generaldirektor, wie der der BBC, das Programm macht, aber sich eine Aufsicht mit Eingriffen gefallen lassen muß. Er steht nicht unter der Sorge um sein Vermögen und seine wirtschaftliche Existenz als Träger des Betriebsrisikos, er ist ein Unternehmer, dem nicht der Konkursrichter, aber seine Regierung die Verfügung über seinen Betrieb entziehen kann. C. Die Leitung des Fernseh-Betriebes W i r haben i m Bundesgebiet einen Fernsehbetrieb (das ZDF) und ein Konsortium (die ARD), das auf Grund eines Gesellschaftsvertr ages ein Programm zusammenbringt, die Gesamtleistung von neun selbständigen vertraglich gebundenen Betrieben. Eine Redaktion stellt es aus Einzelbeiträgen zusammen, wobei der Redakteur, der Koordinator, keine Weisungen geben, sondern nur zusammensetzen kann. Das Internationale Jahrbuch bringt für das ZDF als Organe in Sperrdruck drei Überschriften: Fernsehrat — Verwaltungsrat — Personalbesetzung (C. 187). Unter Personal erscheint zunächst der Intendant mit seinen Referenten, danach die „Direktionen" für Verwaltung, Programm, und dann die „Hauptabteilungen". Nach § 20 des Staatsvertrages vertritt der Intendant — allein — die Anstalt gerichtlich und außergerichtlich. 24 25

Report of the Broadcasting-Committee 1949, London 1951, S. 7. Rundfunk und Fernsehen, 1964, S. 343.

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„Er ist für die gesamten Geschäfte der Anstalt einschließlich der Gestaltung des Programms verantwortlich." Betriebsleiter ist also der Intendant. Bestimmend für ein Unternehmen ist es, ob der Betriebsleiter auch Eigentümer der Betriebsmittel ist, also ein Unternehmer, wie es in den ersten Zeiten der Industriewirtschaft die Regel war. Diese Betriebsform ist heute überholt. Wir haben es gerade miterlebt, daß der letzte große Einzelunternehmer aus dem Hause Krupp diese Betriebsform als nicht mehr durchführbar bezeichnete und die Überleitung in eine Aktiengesellschaft beschloß. Die Vermögenswerte der Aktiengesellschaft gehören wirtschaftlich den Aktionären, sie bestimmen ihren Vorstand und den Verwaltungsrat, der ihn überwacht. Nach dem Aktiengesetz von 1937 (§ 70) hat der Vorstand unter eigener Verantwortung die Gesellschaft so zu leiten, „wie das Wohl des Betriebes und seiner Gefolgschaft und der gemeine Nutzen von Volk und Reich es fordern". Die entsprechende Bestimmung in § 73 des Regierungsentwurfs zum neuen Aktiengesetz enthielt diese Sozialklausel nicht mehr. Hier hieß es nur: „Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft zu leiten." Die Funktionen des Vorstandes sind also ähnlich denen des Fernsehintendanten. Seine Verantwortung gilt dem Betriebe. Vergleicht man die Rundfunkanstalten mit der Aktiengesellschaft, so findet man bei beiden eine privatwirtschaftlich ausgerichtete Tätigkeit mit Bilanzen, die nicht nur Einnahmen und Ausgaben, sondern auch ein Vermögen ausweisen samt Rücklagen und Rückstellungen und „Eigenkapital". Auch eine Verlustund Gewinnrechnung w i r d aufgemacht. Aber bei der Anstalt w i r d kein Gewinn ausgeschüttet, es gibt keine Aktionäre, sondern der Betrieb gehört einer hoheitsrechtlich verfaßten Institution. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes in Sachen Bayerischer Rundfunk gegen Freistaat Bayern vom 5. 11. 1965 hat festgestellt, daß jede Rundfunkanstalt ein Muttergemeinwesen hat. Der Landesgesetzgeber kann neben einer bestehenden Anstalt eine andere errichten, und er kann das Gebührenaufkommen zwischen diesen Anstalten verteilen, es handelt sich um Staatsvermögen. Die geltenden Rundfunkgesetze, auch der Staatsvertrag über das ZDF haben die Regierungen i n ihren Aufsichtsrechten beschränkt, auch die den Ministern zustehenden Befugnisse 26 . Es wäre denkbar, daß der Gesetzgeber die Ausübung aller Befugnisse, die der Staatsgewalt über sein Rundfunkunternehmen zustehen, dessen Intendanten überträgt, wie Herr Krupp von Bohlen und Halbach seine Unternehmerrechte dem Generalbevollmächtigten Beitz übertrug. Dann hätte der Intendant die Stellung eines seinen eigenen Betrieb leitenden Unternehmers, dem das finanzielle Risiko abgenommen und dessen Betriebsmittel durch das Gebührenaufkommen bestimmt werden. 26

17*

B V e r w G vom 5.11.1965, Rundfunk und Fernsehen, 1966, S. 182.

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Der Staatsvertrag über das ZDF bestimmt aber i n § 24: „Die Hauswirtschaft richtet sich nach der Finanzordnung, die der Verwaltungsrat erläßt." Die Haushalts- und Wirtschaftsführung unterliegt der Prüfung durch den Rechnungshof. Der Fernsehrat genehmigt den Haushaltsplan, den der Verwaltungsrat feststellt und an den der Intendant gebunden ist. Zu einer Reihe von Geschäften bedarf der Intendant auch innerhalb des Haushaltsplanes der Zustimmung des Verwaltungsrates. Der Intendant ist also nicht Unternehmer, der selbständig disponiert, sondern i m Großen ein Weisungsempfänger bezüglich der ihm anvertrauten Mittel. Dem Verwaltungsrat gehören drei Vertreter der Länder, ein Vertreter des Bundes und fünf Mitglieder an, die der Fernsehrat bestimmt. M i t dem Inhalt der Sendungen hat der Verwaltungsrat nichts zu tun, es ist Aufgabe des Fernsehrates, für die Sendungen Richtlinien aufzustellen und den Intendanten bei der Programmgestaltung zu beraten. Der Fernsehrat überwacht die Einhaltung seiner Richtlinien und der Grundsätze des Staatsvertrages (§ 13). Der Fernsehrat wählt den Intendanten und kann ihn mit Zustimmung seines Fernsehrates entlassen. „ M i t der Entlassung scheidet der Intendant aus seiner Stellung aus" (§ 19). Der Fernsehrat besteht aus 66 Mitgliedern. Der Fernsehrat hat verschiedene Ausschüsse gebildet, die sich mit einzelnen Programmsparten befassen. Der Ausschuß für Politik und Zeitgeschehen ζ. B. besteht aus 20 Mitgliedern, die i m Jahre 1965 viermal, i m Jahre 1966 fünfmal tagten, während der gesamte Fernsehrat (nach dem Jahrbuch) jeweils viermal zusammentrat. Bezüglich der Zusammensetzung des Fernsehrates muß man die vorsichtige Formulierung des Jahrbuchs 1965 (S. 23) bestätigen: „Der staatliche Einfluß ist somit nicht ungebrochen." Elf Mitglieder entsenden die Länder, drei der Bund, zwölf die Parteien, fünf die religiösen Verbände. Die Ministerpräsidenten, die sich nach dem Staatsvertrag bemühen werden, möglichst einmütig vorzugehen, berufen 21 Mitglieder aus einer dreifach größeren Vorschlagsliste der kommunalen, wirtschaftlichen, kulturellen und sportlichen Verbände und weitere zehn M i t glieder aus freien Berufen und kulturellen Verbänden nach ihrer uneingeschränkten Wahl, die lediglich die von den Ministerpräsidenten festzustellende Zugehörigkeit zur Frauenarbeit, Jugendarbeit, Familienarbeit oder zu einem freien Berufe zur Voraussetzung hat. Sicherlich bestehen Unterschiede zwischen der „formalen Macht der britischen Regierung über die BBC" oder der Amtsgewalt des Informationsministers über das Französische Fernsehen und dem staatlichen Einfluß i m Fernsehrat des ZDF, dies ist hier jedoch nicht unser Thema. Hier handelt es sich um die Programmgestaltung und die Frage, wer sie letzten Endes bestimmt, der Intendant oder der Fernsehrat m i t seinen Ausschüssen. Ich zitierte schon die Ansicht, daß das Fernsehen in der

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Bundesrepublik außer der pluralistischen Gesellschaft keine Besitzer habe. Hieran ist jedenfalls so viel richtig, daß der Intendant nicht der Programmbesitzer ist. Es ist zuzugeben 27 , daß „die eminent moderne und eminent demokratische Struktur des Rundfunks i n der Bundesrepublik komplex und differenziert ist". Wenn man sich nach bösen Erfahrungen von Ideologien freimachen w i l l , also von Systemen, die das Leben absorbieren, muß man sich an gesunde Widersprüche selbst bei den Gesetzen, an „Antinomien" gewöhnen. Man kann auch mit komplizierten Fernsehräten ein gutes Fernsehen machen. Hier geht es uns aber um das Problem, wo denn hier unsere Rundfunkfreiheit zum Zuge komme. Nach der Vorstellung des Fernsehurteils soll ein solcher Fernsehrat garantieren, daß „alle gesellschaftlich relevanten Kräfte zu Wort kommen und die Freiheit der Berichterstattung unantastbar bleibt", ferner, daß „alle i n Betracht kommenden Kräfte i n ihren Organen Einfluß haben und i m Gesamtprogramm zu Wort kommen können" (viert- und fünftletzter Absatz des Urteils). Zwei Vertreter des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger und zwei Vertreter des Deutschen Jounalistenverbandes sollen von den Ministerpräsidenten berufen werden, von einem Vertreter der Schriftstellerverbände, der Filmschaffenden, seien es Autoren, Produzenten oder Verleiher, von Komponisten oder Musikern ist i m Staatsvertrag keine Rede. Diese Kreise aber sind mehr an der Berichterstattung über Rundfunk interessiert als der Deutsche Sportbund oder der Zentralausschuß der Deutschen Landwirtschaft. Schon i n dieser Zusammensetzung des Fernsehrates zeigt sich, daß die Organisatoren dem Gedanken eines subjektiven öffentlichen Rechtes des Informanten auf Sendung über den Rundfunk völlig ablehnend gegenüberstehen. Staatsvertrag und Statut sind auf der Konzeption aufgebaut, daß Intendant und Fernsehrat ebenso wie bei den Rundfunkanstalten der Rundfunkrat ein Programm machen, das „alle Interessen i n einem Unternehmen integriert; dieses Unternehmen repräsentiert alle, dieses System ist das der Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik" 2 8 . Rundfunkfreiheit kann man nicht übertragen, keine Anstalt öffentlichen Rechtes kann sie beanspruchen. Dieses System bedeutet also die Negierung der Rundfunkfreiheit aus Art. 5 GG, soweit ein Anspruch des Informanten gegen den Staat und seine Anstalten besteht. Bleibt allein also der zweite Weg einer Verwirklichung der Rundfunkfreiheit durch die Errichtung neuer privatwirtschaftlicher Betriebe. Zur Begehung dieses Weges sind die Rechtsträger der bestehenden Anstalten nicht zuständig, solche Regelungen und Neu-Lizenzierungen sind Aufgabe der Länder für das Programm und des Bundes für die Frequenz. 27 28

Massenmedien, die geheimen Führer, S. 151. Internationales Handbuch, a.a.O., S. 4 C.

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Diese Auffassung ist nach dem Fernsehurteil unbestritten, die Saarbrückner Novelle vom 7. 6.1967 setzt sie in die Gesetzespraxis um. Umstritten ist lediglich noch, ob es i m Einzelfalle eines formalen Landesgesetzes bedarf oder ob die Landesregierung kompetent ist, das Nebeneinanderbestehen von Anstalten und Fernsehaktiengesellschaften i n ihrem Staatsgebiet zu regeln. Rosa Luxemburg meinte, daß man die Freiheit erst richtig verstehe, wenn man sie verloren habe, jedenfalls w i r d sie dann erst virulent, weil man um sie kämpft. Die Pressefreiheit setzt nicht voraus, daß jeder Autor, der seine Manuskripte abgelehnt zurückbekommt, nun selber eine Zeitung begründet, daß er es ohne Einspruch der Behörden kann, genügt, um die Institution der Pressefreiheit zu bejahen. Das Eigentum ist grundgesetzlich geschützt, auch ohne daß jeder Bürger Grundbesitzer ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Zeitungsverleger ein eigenes Fernsehprogramm über Postsender in den Äther schicken. Es ist durchaus möglich, daß die Filmindustrie sich einigt, um ein Fernsehprogramm zu senden, das nur aus ihren Filmen besteht. Dies würde zur Aufgabenteilung führen, die politischen Nachrichten und Dokumentationen von der Unterhaltung abheben, Maßnahmen, die erst eine Vielzahl von 6 bis 8 Programmen sinnvoll machen. Das wesentliche Hemmnis, das einer Fernsehorganisation bei uns entgegensteht, die diese das Leben umwälzende Erfindung nicht einengt, weil „nun einmal das Erworbene nicht aufs Spiel gesetzt werden sollte" (Dok. 1, S. 220), ist unser bisheriges Unvermögen, die großen Realdimensionen, die rasant wachsenden Stromstärken mit ganz neuen, niveaueigenen Gesetzen der modernen Weltwirtschaft zu begreifen. Arnold Gehlen meint, es handele sich i m Unterschied zu den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion um eine Lokaleigentümlichkeit, die ihre Herkunft noch i m Kleinstaatenfeudalismus hat 2 9 . Uns Deutschen ist ein mittelständisch orientiertes Denken historisch anerzogen, so daß „ w i r uns nur zögernd und unbehilflich inmitten großer Realitätsdimensionen bewegen". Bei Georg Friedrich Jünger heißt es noch 1946 kritisch, die Macht, die das Zeitalter der Technik uns anbiete, müsse mit dem Blut und der Nervenkraft von Hekatomben von Menschen bezahlt werden. I n Urteilen, die Wirtschaftsprobleme entscheiden, w i r d erfreulicherweise die Absicht festgestellt, dem wirtschaftlich Schwächeren zu helfen, aber die Prämie des Unternehmers für sein Risiko auf gewagtes erfinderisches Handeln, die andere Verluste ausgleicht, w i r d als Profitgier verdächtigt. Die Tendenz zur traditionellen Nahrungs- und Versorgungssicherheit der Bürokratie i n Staat, Verbänden und Kommunen w i r d als Ziel anerkannt, i m Gegensatz zu Risiko und Erfolg, die perhorresciert werden, dadurch 29

Der Mensch i m Betrieb, Veröff. der W.-Raymond-Stiftung, Bd. 2, S. 117.

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ist der Zug bei der Organisation solch neuer M i t t e l wie des Fernsehens „zu den mittleren Maßeinheiten gegeben", die nach Max Weber überhaupt im Wesen der Bürokratie liegt. Vielleicht öffnet die Erkenntnis, daß das Fernsehen nur als Betrieb organisiert werden kann und daß der Rundfunkintendant zum Filmproduzenten geworden ist, wie es das neue Urheberrecht herausgefunden hat, die Tür i n eine neue Zukunft auch der Rundfunkfreiheit. Der Hinweis Gehlens auf den noch in unserer Erbmasse sitzenden Kleinstaatenfeudalismus läßt sich für das Rundfunkrecht praktisch exemplifizieren. Für die Landesherren bildeten die Regalien staatsrechtlich die Grundlage ihrer Macht und ihrer Finanzen 30 , und das Postregal mit dem Telegrafenwesen und dem Nachkömmling Rundfunk gehörten dazu. Selbst das dem Funk wohlwollende, unter dem Einfluß Bredows stehende Reichspostministerium hat in den Jahren 1924 bis 1932 von den Rundfunkgebühren 246 Mill. R M an die Programmgesellschaften abgeführt und 261 Mill. R M für seine Zwecke behalten. Goebbels hat sich damit gebrüstet, daß der gesamte Etat seines Propagandaministeriums aus den dem Reichshaushalt überwiesenen Rundfunkgebühren gedeckt würde 3 1 . Es w i r d „unterstellt", daß jedes „Öffentliche Unternehmen ein vorbildlich geführtes und leistendes ist", aber jeder Profit eines Werbeunternehmens grenzt schon an Untreue an dem Programm, dem er ihn entzieht 3 2 . Ein Landesgesetzgeber, der sich entschließt, dem Verfassungsauftrag aus Art. 5 GG nachzukommen und eine gesetzliche Regelung für private Fernsehbetriebe zu treffen, nimmt keinen Anstoß daran, dem privaten Veranstalter „unbeschadet sonstiger Abgaben eine besondere Abgabe (Konzessionsabgabe) zuzüglich einer Pauschgebühr für die Kosten der Staatsaufsicht i n Höhe von 1 °/o..." aufzuerlegen (§ 43 des Saarl. Ges.). Der Staatsvertrag über das ZDF hat i n § 23 angeordnet, daß die neue Anstalt 30 °/o der anfallenden Fernsehgebühren erhält und zusätzlich Einnahmen aus Werbesendungen erzielt. Das Bundesverwaltungsgericht hat bestätigt, daß der Gesetzgeber über das Gebührenaufkommen verfügen kann, auch in der Weise, daß ein Anteil an eine neue Anstalt übertragen wird. Es muß keine öffentlich-rechtliche Anstalt sein. Es besteht also die Möglichkeit, das Fernsehen zu koordinieren und die Aufgaben so zu verteilen, daß jeweils das Optimum an Leistung und das Minimum an Unkosten herauskommt. Die gleiche Lage ist i n den Nachbarländern gegeben, i n der Schweiz und in Frankreich sind die Diskussionen eröffnet. Alle Rundfunkleute, alle Bürger, die in der Gestaltung des Fernsehens ihre Berufsaufgabe gefunden haben, kennen 30

Badura: Das Verwaltungsmonopol, S. 52 m i t L i t . Pohle: Der Rundfunk als Instrument der Politik, S. 193 m i t 197. Krüger, Herbert: Die öffentlichen Massenmedien, Heft 5 der Beiträge zum Rundfunkrecht, S. 91. 31 32

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ebenfalls kein anderes Interesse, und die i n Art. 5 GG garantierte Rundfunkfreiheit kann nur verwirklicht werden, wenn „homogen zur Staatsund Gesellschaftsstruktur eine i n ihrer Auswahl, Gliederung und Verfahrensweise freiheitliche Vereinigung von Veranstaltern geschaffen wird"33.

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Arndt, Adolf: Die Rolle der Massenmedien, S. 20.

Benito Cereno Ein moderner Mythos* Von Sava Klickovic, Belgrad Als Herman Melville seine Erzählung Benito Cereno i n Putnam's Monthly Magazine veröffentlichte, fand er keinen Anklang i n der damaligen Literaturwelt. Man empfand die Geschichte als eine zu kühne Erfindung, gekünstelt, an deren Wahrhaftigkeit selbst der Teil mit angeschlossenen Gerichtsdokumenten nichts zu ändern vermochte. Das war i m Jahre 1855. Fast ein Jahrhundert später, nachdem diese Erzählung zur allgemeinen Geltung gelangt war, entdeckte Herald H. Scudder die „Narrative of Voyages and Travels" von Kapitän Amasa Delano, die Melville als Quelle für seinen Benito Cereno benutzte. Er stellte fest: „He (Melville) merely rewrote this Chapter including portion of one of the legal documents there appended, supressing a few items, and making some small additions 1 ." Anfänglich für einen Phantasten erklärt, entwich Melville jetzt kaum der Gefahr, des Plagiats eines wahren Ereignisses angeklagt zu werden. Beide K r i t i k e n sind ungerecht und gehören zum tragischen Schicksal großer mißverstandener Geister, zu denen H. Melville i m X I X . Jahrhundert zählte. Es steht fest, daß Melville den Reisebericht Delano's reichlich benutzt hat. Das zieht aber den Wert seines Werkes keineswegs in Verdacht. Was er der „Narrative of Voyages and Travels" entnahm, war eigentlich nur das wirkliche Geschehnis mit einem spanischen Schiff, so wie er es i m Logbuch, i n den Gerichtsdokumenten und i m Reisebericht Delano's vorfand. Ihm lag fern, Amasa Delano als Erzähler nachzuahmen, oder, wie es oft i n der Literaturkritik angenommen wird, aus dem Vorfall ein Seeabenteuer und somit „a Gothic Masterpiece" zu machen. I m Gegenteil, abge* Dieser Aufsatz stellt einen Auszug aus dem Vortrag dar, den der Verfasser am 28. Dezember 1956 auf der Jahresversammlung der Melville's Society i n Washington gehalten hat. Bei dem Anlaß wurde er zum Ehrenmitglied der Gesellschaft gewählt. (Anmerkung der Redaktion.) 1 Scudder, Herald H.: Melville's Benito Cereno and Captain Delano's Voyages, i n : Modern Language Publications, 1928, Tom 43, p. 502—532. Z w e i Jahrzehnte später hat ein anderer K r i t i k e r Melville offen beschuldigt, „eines andern Mannes Erzählung abgeschrieben zu haben". Siehe Arvin, Newton: Herman Melville, New Y o r k 1950, p. 139.

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sehen von zahlreichen Episoden mit einer reichen Symbolik, die Melville i n die Geschichte hineintrug und sie dadurch literarisch auf ein hohes Niveau brachte, hat er seinem Werk auch grundsätzlich einen völlig anderen Charakter gegeben. Während bei Delano das Hauptinteresse für das Zufällige besteht, hat Melville absichtlich und mit Nachdruck das Schwergewicht auf die Situation auf dem Schiff verlegt. M i t der Kraft seines Genius hat er das Zufällige und das Vorübergehende in Delano's Bericht zu einem dauerhaften und in gewisser Hinsicht unvergänglichen Thema i n der Literatur erhoben. Nicht „a Gothic Tale", sondern eine großartige „Tale of Situation" ist daraus entstanden. Hinter dem Mißverständnis der K r i t i k liegt also gerade eine besondere Qualität der Erzählung Benito Cereno: ihr spezifisches Verhältnis zur Wirklichkeit. M i t der Übernahme der authentischen Geschichte aus „Narrative of Voyages and Travels" findet das Werk seinen Weg zu der Heraklitischen Wahrheit, die ihre Kraft aus der Einmaligkeit eines wahren Geschehnisses schöpft. Auf der anderen Seite öffnet Melville das Tor für den Einbruch der geschichtlichen Wirklichkeit i n seine Erzählung durch die dichterische Symbolisierung einer Situation, die, wie w i r noch sehen werden, nicht erdacht, sondern entdeckt und um ein Jahrhundert antizipiert ist. Damit wurde die Grundlage für eine Entwicklung geschaffen, die später zu einem modernen Mythos führen sollte 2 . Wie verhält sich das geschichtliche Akzidens zu der Situation in der E r z ä h l u n g Benito Cereno?

Darüber hat Melville selbst eine interessante Aufklärung gegeben. Man findet sie i m Gespräch, das nach der Rettung Benito Cereno's beide Kapitäne abschließend führen. Dort fordert Delano den erschöpften Don Benito auf, den Vorfall zu vergessen. „The past is passed", sagt er, „ w h y moralize upon it". Er verweist ihn auf die liebe Sonne, das blaue Meer und den blauen Himmel, die inzwischen alles vergessen und schon längst ein neues Blatt aufgeschlagen haben. Das ist wahr. Aber das kann Benito Cereno nicht beruhigen, denn er fürchtet nicht das Geschehene als Ereignis, das Akzidens. Es hat ihn nicht zugrundegerichtet. Jedes Geschehnis, so wie es sich i n der Natur manifestiert, ist unwiederholbar und wäre leicht zu vergessen. Den Spanier erschrickt vielmehr die fürchterliche Situation, die er soeben i n ihrer abgründigen und tragischen Tiefe erkannt hat. Sie ist aber, und darin liegt das Schreckliche, i n der menschlichen Gesellschaft wiederholbar und daher immer gegenwärtig. Diese Wahrheit liegt, sozial-geschichtlich gesehen, um eine ganze Stufe höher. Deshalb w i r d Benito Cereno dem Amerikaner eine überlegene Antwort 2 Uber die Beziehung von Mythos, Tragödie und Wirklichkeit, u n d insbesondere über den ganz modernen Erfolg, daß der Dichter aus der Wirklichkeit einen Mythos stiftet, vgl. Schmitt, Carl: Hamlet und Hekuba, E i n Einbruch der Zeit i n das Spiel, Düsseldorf - K ö l n 1956, S. 33 ff.

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geben. Ja, sagt er, sie können vergessen, „because they have no memory", „because they are not human". Er, Benito Cereno, und m i t i h m alle Menschen, die ein Gedächtnis haben, können diese Situation (die Melville m i t der Klarheit eines echten Visionärs aus dem Aspekt des Jahres 1848 über der ganzen Welt hängen sieht) nicht i n Vergessenheit fallen lassen. Noch mehr, sie dürfen sie nicht vergessen. Damit wächst die tiefsinnige A n t w o r t des spanischen Kapitäns über eine bloße Feststellung hinaus: i n ihr ruft uns H. Melville eine Prophezeiung und Warnung zu; oder, um ein treffenderes B i l d zu gebrauchen, i n i h r hat der große Amerikaner ein historisches Deposit für unsere Zeiten hinterlegt. Für eine gewisse Zeit schien Melville's Warnung i n Benito Cereno überflüssig zu sein. Der verhältnismäßig ruhige Verlauf der Dinge i m liberalen Zeitalter ließ die wahre Situation nicht zum Vorschein kommen. Eine augenfällige Änderung i n der Weltlage trat erst m i t der Wende des X X . Jahrhunderts ein, als der Maelstrom- Wirbel (das B i l d stammt von Edgar A l l a n Poe, einem anderen Seher aus der Zeit u m 1848) sich zuerst Europas und dann, die beiden Weltkriege einbegriffen, auch der übrigen Welt bemächtigte. N u n segelte die Menschheit immer deutlicher i n eine Situation hinein, die Herman Melville i n seiner Geschichte von Benito Cereno beschrieben hatte: ein hafenloses, treibendes Schiff; und auf dem Schiff ein verantwortungsvoller, aber entmächtigter Kapitän, der, von einer simulierten Schiffsordnung aus gesehen, nach außen als ein Monstrum erscheint, während er i n Wirklichkeit, wie H. Melville sagt, „the most pitiable of all men" ist. Wie der ursprüngliche Kapitän von der „San Dominick", sind auch neue Benito Cerenos gezwungen, gegen ihren Willen an ihrem eigenen Verderb teilzunehmen. M i t der neu entstandenen Lage hat sich auch das Verständnis für H. Melville wesentlich verändert. Man kann sagen, daß u m 1930 die Stille, die um den vergessenen Amerikaner mehr als sieben Jahrzehnte herrschte, endgültig durchbrochen war. Das gilt für das Gesamtwerk H. Melville's, kann aber auch für die Erzählung Benito Cereno im einzelnen angenommen werden. Sie ist i n der Zeitspanne zwischen den beiden Weltkriegen fast i n alle Weltsprachen übersetzt und in ihrer Problematik allgemein zugänglich geworden. I m Jahre 1942 stand dem Melville-Forscher Carl van Dören nichts mehr i m Wege, ein folgendermaßen hohes U r t e i l darüber auszusprechen: „Benito Cerenosagt er, „ranks as high among short novels of the sea as Moby Dick among long ones. Both are unsurpassed by anything of their k i n d i n any language 3 ." U m dieselbe Zeit setzte auch der Werdegang dessen ein, was man heute unter einem modernen Mythos versteht. Er begann m i t einer wichtigen 3 Van Dören, Carl: S. V I I i m Vorwort zu Herman Melville: B i l l y Budd, Benito Careno and the Enchanted Islands, New York 1942.

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und kennzeichnenden Identifikation: der mißverstandene Herman Melville als Benito Cereno. Es war John Freeman, soviel ich weiß, der als erster darauf hinwies, daß die Geschichte von Don Benito in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Person des Autors stehe. Heute w i r d diese Ansicht nicht mehr angezweifelt. Ganz i m Stil seines Jahrhunderts habe Melville einen Mythos über sich selbst geschrieben, α personal myth , wie es die englisch schreibende K r i t i k bezeichnet. Darüber ist man sich einig. Offen ist eher die Frage geblieben, ob Benito Cereno einen persönlichen Mythos für sich bildet, oder ist es nur ein Teil eines umfassenderen mythischen Bildes, das aus dem Gesamtwerk H. Melville's entspringt 4 . Das war der Anfang. Zu einer völligen Geltung ist Benito Cereno erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelangt, als er i m besten Sinne dieses Wortes ein Gemeingut der ganzen Welt wurde. Wie das vor sich ging, sollen einige Beispiele zeigen, in denen sich die mythische Kraft der Erzählung bewährt hat. Sie sind frei gewählt und erheben keinen Anspruch auf Vollzähligkeit. Aus ihnen soll ersichtlich werden, wie die tiefgründige Symbolik i n Benito Cereno, die erfroren zu sein schien, sich i n zwei Jahrzehnten entfaltet hat und, wie ein Dornbusch, zu einem bleibenden mythischen Bild aufgeblüht ist. Ein Jurist von europäischem Format, Carl Schmitt, hat 1946 von sich gesagt: er sei der letzte bewußte Vertreter des Jus publicum europaeum, sein letzter Lehrer und Forscher in einem existentiellen Sinne; das Ende des Jus publicum europaeum erlebe er so, wie Benito Cereno die Fahrt des Piratenschiffes erfuhr 5 . Das war ein Wendepunkt i n dem Verständnis von Benito Cereno. Ich sehe darin den ersten wissenschaftlichen Versuch, die Situation aus dieser Erzählung auf die neu geschaffene Lage der Alten Welt zu applizieren. I n demselben Buch, das die Erfahrungen einer wichtigen Zeit spiegelt, hat Carl Schmitt noch einen entscheidenden Vorstoß i n einer anderen Richtung gemacht. Er hat Benito Cereno zu einem Symbol für die Lage der Intelligenz in einem Massensystem erhoben 6 . Damit war die Deutung von Melville's Erzählung aus der individuellen i n die gesellschaftliche Sphäre vorgerückt. Beide Momente sind später zur Plattform für die Erweiterung und Vertiefung des Mythos zu einem Aspekt der Weltgeschichte Europas geworden. Einmal in Bewegung gesetzt, konnte der Siegeszug der Melvilleschen Symbolik nicht mehr aufgehalten werden. Aus verschiedenen Teilen der 4

Leyris, Pierre: „Réflexions sur Benito Cereno", i n : Herman Melville: Benito Cereno, Paris 1937; Pavese , Cesare: Benito Cereno, Torino 1940; Chase, Richard: Herman Melville, A Critical Study, New Y o r k 1949, usf. 5 Schmitt, Carl: Ex Capti vitate Salus, Erfahrungen der Zeit 1945/47, K ö l n 1950, S. 21 und 75. 6 I n Ernst Jüngers Strahlungen, Tübingen 1949, findet sich ebenfalls ein Hinweis auf Benito Cereno.

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Welt wurden Stimmen hörbar, die Benito Cereno als Sinnbild für ihr eigenes Schicksal und ihre Situation beanspruchten. Den kühnsten Versuch i n diesem Entwicklungsprozeß stellt die Interpretation dar, die, wie angedeutet, in Benito Cereno einen Mythos Europas sieht. Sie ist langsam und zögernd aus dem wachsenden Bewußtsein unseres Kontinents über seine eigene Lage entstanden. A n ihrem Zustandekommen haben mehrere Verfasser aus einigen Ländern Europas und ein Autor aus den Vereinigten Staaten von Amerika mitgewirkt. Der erste bescheidene Anfang geht auf den Franzosen Pierre Leyris zurück 7 . I m Jahre 1937 nannte er das Europa symbolisierende Schiff, San Dominick, „ u n vaisseau majestueux à la course incertaine et comme blessé" und spracht bewußt von einer Gegenüberstellung der Alten und der Neuen Welt i n dem mythischen B i l d der Erzählung. Auch erkannte er in Don Benito das Bewußtsein der europäischen Elite, „noblesse morale, indépendamment de toute considération de classe ou de race", was dann als Metapher i n allen späteren Deutungen seinen Platz fand. — Der zweite Forscher war ein Amerikaner, Richard Chase, der unlängst verstorbene Professor von der Columbia University in New York 8 . I n seinem Zugang zum Mythos hat er das Schwergewicht auf den transatlantischen Aspekt verlegt. Nicht Benito Cereno, dessen tragisches Ende aus der Erzählung bekannt ist, sondern der amerikanische Kapitän Delano, der, wie Richard Chase sagt, „auch weiterlebt", interessiert ihn. Von dem Gedanken ausgehend, daß die Vollendung der Neuen Welt i m voraus zum Scheitern verurteilt ist, falls der Amerikaner die geistigen Tiefen der Alten Welt nicht durchschaut, kommt er zum Schluß, daß die Begegnung beider Schiffe, „San Dominick" und „Bachalor's Delight", für Amerika als Feuerprobe verhängnisvoll ausfiel. Der Kapitän Delano war Zeuge der Begebnisse, doch konnte er kaum etwas verstehen. — I n Deutschland hat sich der Soziologe Nicolaus Sombart, in Anlehnung an C. Schmitt und E. Jünger, an einer Weiterführung dieses Mythos versucht 9 . I n seinem erdachten Gespräch i m Abendstudio des Hessischen Rundfunks hat er i m Jahre 1954 die Erzählung Benito Cereno als „Quintessenz der europäischen Geschichtserfahrung von 150 Jahren" bezeichnet. Sie sei eine A r t Soziologie der Revolution, und zwar der sozialen Revolution i n dem Sinne, i n dem K. Marx politische und soziale Revolution unterscheidet: eine mythisch-bildlich wiedergegebene Situation des Bürgerkrieges. I n Hinsicht auf die Lage Europas zur Außenwelt, d. h. gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika, hat N. Sombart auf den Zusammenhang mit der Monroedoktrin hingewiesen. Damit hat er dem mythischen B i l d 7

Leyris, Pierre, a.a.O., S. 201 und 205. Chase, Richard, a.a.O., S. 158 ff. Sombart, Nicolaus: Benito Cereno — ein Mythos?, als Auszug aus dem Gespräch abgedruckt i n Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton, v o m 30. O k tober 1954. 8

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H. Melville's eine wichtige Seite abgewonnen. Die Erzählung steht zeitlich zwischen der Verkündigung der Monroedoktrin und dem Ausbruch des Sezessionskrieges. „Sie ist ebenso sehr als Warnung Mei villes an Amerika wie als Plädoyer für Europa aufzufassen." Erst in der Konfrontation mit Delano w i r d das spezifisch Europäische in der Situation Benito Cereno's sichtbar. — A m weitesten ist der spanische Professor Enrique Tierno Galvan gekommen. I n seiner Abhandlung, die schon i m Titel Benito Cereno oder der Mythos Europas seine Thesis zum Ausdruck bringt, hat er eine systematische und abgeschlossene Interpretation der mythischen Erzählung Melville's geschaffen 10 . Europa ist die alte Galeere „San Dominick", die weder i n einem Hafen vor Anker liegt, noch auf irgend einen Bestimmungsort hin navigiert wird, noch auf offenem Meer ist. Ein nur noch treibendes Schiff. Diese unklare Situation nach außen ergibt sich aus einer genau so trostlosen Lage auf dem Schiff. „San Dominick" ist ein herabgekommenes, i n Unordnung geratenes Schiff. Doch täuscht die Situation auf der Galeere i n demselben Maße, i n welchem nach außen der irreführende Eindruck eines regulären Schiffes erweckt wird. Eine Maske vielleicht? Enrique Tierno Galvan bricht den Nebel der Situation um eine Sicht weiter. Es ist weder eine Maske, sagt er, noch eine Verstellung, sondern etwas anderes, Tieferes, eine fundamentale Verfälschung, von der aus das Wahre nicht verdeckt, sondern ersetzt und ergänzt wird: eine simulierte Ordnung. Benito Cereno bedeutet i n dem Mythos die europäische Elite. I n seinem Bestreben, das Allerschlimmste zu verhüten und das Übriggebliebene noch zu retten, t r i t t er gezwungenerweise i n die Farce ein. Da er weiß, daß das Schiff nirgendwo hinfährt und daß es zwecklos ist, es zu steuern, schwankt er fortwährend zwischen Emigration und Widerstand. Wie die kontinentale Elite, kann sich auch Don Benito nicht für die Flucht entscheiden; dazu ist er zu sehr an die Tradition Europas gebunden. Und für den Widerstand reichen die Kräfte nicht aus, da er keines Heroismus und keiner Tragik mehr fähig ist. Er sieht und leidet und ersetzt schließlich beides, Emigration und Widerstand, durch eine müde Würde. Der schwarze Diener Babo ist das unbestechliche Bewußtsein der Elite. Anstatt eines Rasiertuches hat er seinem Herrn die Fahne als Sinnbild seines Pflichtgefühls vor die Brust gesetzt. Er ist dem Kapitän Cereno, sagt E. Tierno Galvan, so sehr wie seine eigene Vergangenheit verhaftet. Und der i n Ketten geschlagene Riese Atufal, eine unten i m Schiffe zusammengefaßte Kraft, w i r d als Symbol des Terrors gedeutet. Immer zu bestimmter Zeit kommt er mit unerbittlicher Genauigkeit nach oben, seine Ketten schleifend. Damit erinnert er Benito Cereno, daß er seine Fesseln jederzeit abschütteln kann. Denn, wie uns 10 Tierno Galvan, Enrique: Benito Cereno oder der Mythos Europas, i n spanischer Sprache m i t einer W i d m u n g „ A l Profesor Carlos Schmitt" i n der Zeitschrift „Cuadernos Hispano Americanos", X I I I , Nr. 36, S. 115—125.

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Melville erklärt, befindet sich an der Kette ein Hängeschloß, aufgesperrt, dessen Schlüssel der spanische Kapitän um den Hals trägt. Die enorme Kraft Atufal's kennt also keine anderen Grenzen als seinen eigenen Willen und seine W i l l k ü r : ein moderner Terror, der Norm, Hierarchie und Ordnung simuliert. Zum Unterschied von dem mittelalterlichen Terror, der einer bestimmten Ordnung diente und sie erzwang, hat der Terror von heute seine eigene Gestalt angenommen und w i l l nur noch terrorisieren. Vor die Wahl gestellt, sich dem untragbaren Druck des Terrors zu beugen, oder auf das (auf allen Weltmeeren fahrende) Handelsschiff Amerikas zu fliehen, entscheidet sich Don Benito für den Sprung in das Boot des amerikanischen Kapitäns Amasa Delano. Doch w i r d mit diesem Durchbruch seiner umgrenzten Situation kaum etwas erreicht, denn er kann nicht mehr dem Wahnsinn und dem Tod entweichen. „Eine wahnsinnige", schließt Enrique Tierno Galvan seine Ausführungen, „unsagbar traurige Angelegenheit." Damit hat Benito Cereno, einst eine unbekannte und verkannte Erzählung, den Höhepunkt ihres Erfolges erreicht. Sie hat die Geltung dessen errungen, was man heute als einen modernen Mythos zu bezeichnen pflegt. Als solche steht sie in derselben Reihe mit jenen seltenen Gipfelschöpfungen der neueren Weltliteratur, welche die mythosbildende Kraft in sich tragen, wie z. B. Don Qui jot, Hamlet und Faust, oder, um einen groß Dichter des europäischen Ostens zu nennen, den Roman Der Idiot mit seinem krankhaften Fürsten Mischkin von F. M. Dostojewski. M i t Benito Cereno schließt sich der sonderbare Kreis dieser blassen und unschlüssigen, „vom Geiste aus der Bahn geworfenen" 11 symbolhaften Figuren, die alle, obwohl in verschiedenen Teilen Europas und zu verschiedenen Zeiten entstanden, ihre Wurzel tief in einer und derselben Grundsituation unserer Epoche haben, von der aus das Schicksal Europas bestimmt wurde: sie sind authentische Vertreter des europäischen Geistes. Soll das ein Ende sein? Ich glaube nicht. Die Potenz eines mythosstiftenden Werkes kann nie vollständig erschöpft werden: die wahre Symbolik ist nicht ausgedrückt, sie ist implizit. Benito Cereno ist i n gewisser Hinsicht weniger als das, was irgend einer von Melville's Deutern in das Werk hineininterpretiert hat, denn letzten Endes ist es nur eine Geschichte; und zur gleichen Zeit ist es viel mehr, eben mehr als die Summe aller bisherigen Deutungen, denn es ist ein Mythos. Dieser Überschuß bildet eine Quelle, aus der immer neue Ideen befruchtet und genährt werden. Darin liegt, nehme ich an, auch die Kraft für die räumlich allerletzte Generalisierung der Symbolik von Benito Cereno. Diese würde Herman Melville und seine Erzählung 11

Schmitt,

Carl: Hamlet und Hekuba, Düsseldorf - K ö l n 1956, S. 54.

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i n den Rahmen einer globalen, dem neuen Raum- und Weltbild angepaßte und entsprechende Interpretation setzen, die in der ganzen Erde ein taumelndes, küsten- und hafenloses Schiff erblickt. Steht eine solche Auffassung i m Einklang mit der Weltanschauung Herman Melville's? I n der insularen Tradition der anglo-sächsischen Länder erscheint die Erde, i n der Wissenschaft und i n der Literatur, immer wieder als ein Schiff. Und H. Melville ist einer der größten Söhne dieser maritimen Überlieferung. I n seinem umfangreichen Opus, von dem Erstling Typee über Moby Dick bis zu seiner letzten, erst nach dem Tode veröffentlichten Arbeit Billy Budd, spielt sich alles, die ganze Handlung, auf einem Schiff ab. Darin wendet sich Melville unzähliche Male an seine Leser als Weltbürger und spricht sie bewußt mit shipmates, also als Schiffskameraden an. Und i n seinem Roman Moby Dick hat er diese Vision von der Welt als einem Schiff ganz deutlich ausgesprochen: „Yes", sagt er, „the world's a ship on its passage out, and not a voyage complete." Der ganze Globus ist also „San Dominick", auf der w i r als Menschen unwiderruflich eingeschifft sind. Die meisten begnügen sich mit dem absurden Faktum eines bloßen Treibens, indem sie sich an die nackte Existenz i m Sinne von Albert Camus klammern, während seine Elite vergeblich versucht, die Umlagerung dieser Situation zu durchbrechen. Wie der spanische Kapitän Cereno, der einen Schlüssel als Sinnbild seiner angeblichen Macht nach außen und zugleich als Symbol seiner völligen Machtlosigkeit i n der Situation selbst um den Hals trägt, kann sie nicht umhin, das Schiff gegen ihren Willen i n die dem menschlichen Geist feindlichen Regionen, nach „Senegal" zu navigieren. Auch die ganze Erde hat ihren Babo, das schwarze Gewissen, das uns, indem w i r es mit uns schleppen, wie ein Schatten begleitet. A m mächtigsten ist aber Atufal geworden, den Enrique Tierno Galvan so faszinierend als den Terror von heute gedeutet hat. I n seiner majestätischen Haltung steht er noch immer, freiwillig und selbstzufrieden, i n simulierten Ketten seiner Selbstbindung: ein stolzer Sklave, der seine Herren besser kennt als sie sich selbst. M i t dem einen riesigen Bein fußt er i n der Möglichkeit einer atomaren Weltvernichtung; hier k l i r r t er mit Ketten seiner völkerrechtlichen Legalität, die er jederzeit abwerfen kann. Sein anderer Fuß steckt i n der wachsenden Drohung eines Weltbürgerkrieges; da rasselt er mit Ketten seiner Illegalität, indem er uns zu wissen gibt, daß diese auch legalisiert, d. h. dirigiert werden kann. So hält er, ein zielloser Selbstzweck, sich selber die Waage — i n der Drohung einer allseitigen Entfesselung... Der schwarze Riese hat eine über alle Kontinente hinausragende Gestalt angenommen. Offensichtlich ist er der Erde über den Kopf gewachsen. Es fehlt ihm nur noch ein fester Punkt i m Weltall, um — von unserer Welt losgelöst — den ganzen Erdball als einen Apfel in die Hand zu nehmen.

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Offen bliebe dann noch die Frage, wie es mit dem letzten Sprung i n „das rettende Boot" bestellt sei? Die globale Interpretation von Benito Cereno gibt eine klare Antwort auf diese Frage. Sie lautet radikal verneinend. Wenn die ganze Erde „San Dominick" ist, dann gibt es kein zweites Schiff mehr und folglich auch keinen Sprung in das rettende Boot. Der Mensch ist in seiner fortschreitenden Entortung an den äußersten Rand seines Planeten gelangt. Da bleibt nichts anderes übrig, als Halt zu machen und umzukehren. Indem w i r uns unserer irdischen Herkunft besinnen, versetzen w i r uns i n die Lage, i n einem umgekehrten Vorgang den Weg zu einer neuen Erdenund Raumordnung und Ortung zu finden. Der Mensch ist (so lautet i m Lichte dieser globalen Deutung der letzte Zuruf H. Melville's aus seinem historischen Deposit, das i n der Erzählung Benito Cereno aufbewahrt ist) unwiderruflich auf einem Schiff eingeschifft, das Erde heißt. Alle Probleme seiner Existenz sind irdisch und können nur von einer irdischen Ordnung aus und auf der Erde gelöst werden.

Ideologie u n d Staat Von Luis Legaz-Lacambra, Madrid Unser Thema ist die Beziehung zwischen „Ideologie" und Staat. Es gilt festzustellen, ob es Staaten ohne Ideologie gibt, ob es sie geben kann und ob es sie geben soll. Der Umstand, daß man von „agnostischen" Staaten spricht, deutet auf die faktische Möglichkeit nicht ideologischer Staaten hin. Andererseits scheint die Tatsache, daß dieser Agnostizismus seinerseits wiederum der Ausdruck einer Ideologie sein mag, darauf hinzuweisen, daß unsere Frage negativ zu beantworten sein wird. Nun offenbart aber bereits der Umstand, daß auf eine Frage hinsichtlich desselben Objekts — z. B. hinsichtlich des „agnostischen Staates" — zwei gleichermaßen eingängige, jedoch kontradiktorische Antworten möglich sind, daß diese beiden Antworten nicht den gleichen logischen Rang haben. Die eine Antwort besagt: Es gibt Staaten ohne Ideologie (weil sie auf eine solche verzichtet haben und keine als die ihnen gemäße akzeptieren). Die andere Antwort besagt: Es gibt keine Staaten ohne Ideologie (weil jede Form des Verzichts auf Ideologie bereits wieder eine Form der Ideologisierung darstellt. I n der Tat gibt es ja die Ideologie der Entideologisierung). Hier zeigt sich etwas jenem berühmten Paradox ähnliches, das sich in dem bekannten Beispiel darstellen läßt: Alles, was innerhalb dieses Feldes geschrieben steht, ist falsch. Wenn es nun auch falsch sein sollte, daß es falsch ist, — wenn es demnach wahr ist — so ist es doch das Gegenteil von dem, was es behauptet. A u f ein und derselben logischen Stufe ist das Paradox mithin nicht zu lösen. Ebenso kann es zwar auf einer bestimmten logischen Stufe wahr sein, daß es Staaten ohne Ideologie gibt, doch ist diese Aussage auf einer anderen logischen Stufe bereits nicht mehr richtig, weil jeder Staat — auch derjenige, der auf sie verzichtet — eine gewisse Ideologie besitzt. Daher kann man auch von ein und derselben historischen Realität — z. B. vom „liberalen Staat" — mit Recht unter einem bestimmten Aspekt behaupten, er sei ein agnostischer, ideologiefreier Staat, während man 18*

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i n einer anderen Hinsicht mit nicht geringerem Recht sagen kann, daß auch der liberale Staat eine Ideologie besitzt, nämlich die liberale, zu deren integrierenden Elementen eben der „Agnostizismus" gehört. Diese Unterscheidung der Ebenen ist eine Voraussetzung für die logische Möglichkeit der Frage nach dem „Sein-Sollen". Letztere nämlich hat auf der Ebene des „jeder Staat ist ideologisch" keinen Sinn, während sie ihn andererseits auf der Ebene der Behauptung „es gibt Staaten ohne Ideologie" durchaus besitzt. Allein hinsichtlich dieser Staaten nämlich ist die Fragestellung möglich, ob sie eine Ideologie besitzen sollten. Die erste große historische Erscheinung eines ideologischen Staates, d. h. eines Staates, der eine Ideologie aufnimmt und sich i n ihren Dienst stellt, beginnt wohl mit der Konversion Konstantins zum Christentum, das dann zur bewegenden geistigen Kraft des Imperiums wird. Während des Mittelalters wurde der sogenannte „politische Augustinismus" in dem Maße seiner praktischen Verwirklichung zur charakteristischen Idee der politischen Realität der Respublica Christiana. I m Spanien des 16. Jahrhunderts w i r d — bereits i n den Strukturen des modernen Staates — das Ideal der Verbindung von Staat und Kirche verwirklicht. Ähnliches wiederholt sich, wenn auch mit nicht identischem religiösem Gehalt, in dem anglikanischen Staate bis zum Jahre 1929 und i n den totalitären Staaten faschistischer oder kommunistischer Prägung. I n ihnen hat die politische Ideologie, in deren Dienst der Staat steht, den totalen Charakter einer religiösen Ideologie, hinsichtlich deren der Staat dieselbe instrumentale bzw. dienende Stellung einnimmt wie i n den historischen Verwirklichungen des Gedankens der Verbindung von Staat und Kirche. I n allen diesen Fällen ist die Nichtunterscheidung von „Staat" und „Gesellschaft" die Voraussetzung der völligen Ideologisierung des Staates, die sich als totale Politisierung „von oben" auswirkt, sei es, daß die Gesellschaft noch nicht jenes Selbstbewußtsein besitzt, das das Aufkommen der Soziologie ermöglichte, und sie infolgedessen allein als „politische Gesellschaft" verstanden wird, sei es, daß sich eine — offene oder versteckte — axiologische Entwertung der Gesellschaft vollzieht, die zur Gewinnung einer leitenden und paternalistischen Funktion des Staates ihr gegenüber führt, sei es schließlich, daß sich die Gesellschaft selbst (nach dem von Carl Schmitt aufgezeigten Schema) als Staat organisiert und ihn i n ihren Dienst nimmt, was bedeutet, daß dieser den Schutz jener sozial beherrschenden Kräfte übernimmt, die über die Möglichkeiten politischer Macht verfügen. Die formelle Unterscheidung von Staat und Gesellschaft hat man i n der Philosophie und politischen Wissenschaft zuweilen als stillschweigend akzeptierte Voraussetzung übernommen, zuweilen als bewußt ausgearbeitete Theorie angesehen. Diese Voraussetzung hat natürlich eine

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Geistesgeschichte hinter sich. Es ist die Geschichte der klassischen Doktrin bonum commune und der allmählichen, jedoch bereits mit Aristoteles beginnenden Entdeckung einer sozialen Realität, die nicht ohne weiteres mit der politischen Realität zu verwechseln ist, i m Zusammenhang mit der wachsenden Bewertung der individuellen Persönlichkeit, insbesondere i m Sinne der Renaissance, und ihres Höhepunktes i m Liberalismus und i m Humanismus unserer Tage. Auf dem Hintergrund eben dieser geistesgeschichtlichen Entwicklung sind natürlich auch die üblichen Theorien über die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zu verstehen. Jedenfalls besitzt diese Unterscheidung neben ihrer objektiven Richtigkeit nicht allein eine klare ideologische Dimension, sondern übernimmt auch, soziologisch betrachtet, eine bestimmte, wenn auch nicht notwendigerweise in nur einer Richtung wirkende ideologische Funktion. So fordert beispielsweise die politische Theorie des spanischen Traditionalismus eine „Konfessionalität" des Staates. Sie befürwortet so i n Übereinstimmung mit dem Liberalismus die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft und zieht dem ersteren enge Grenzen, während sie ihm eine Konfessionalität i m Dienste der „katholischen Einheit" auferlegt. Der Liberalismus seinerseits entideologisiert von dieser Unterscheidung ausgehend den Staat in dem Sinne, daß er keine andere Aufgabe besitzt als den Pluralismus der sozialen Ideologien zu respektieren und sich der Interventionen im Bereich der Wirtschaft zu enthalten, die ihre eigene, immanente Gesetzmäßigkeit besitzt. Der „agnostische" Staat verzichtet demnach darauf, sich eine bestimmte Ideologie zu eigen zu machen, weil er die Ideologie für gesellschaftliche Hervorbringungen hält, die im Räume der Gesellschaft auch ihr freies Kräftespiel entfalten können. Er betrachtet unbeteiligt dieses Spiel, das zuweilen ein Kampf ist, und greift lediglich als Moderator oder Schiedsrichter ein, um die Beachtung der „Regeln" des Wettstreits durch alle Teilnehmer zu sichern. Bereits diese Haltung aber ist als Übernahme bestimmter ideologischer Postulate zu kennzeichnen, da nur innerhalb derselben die Respektierung jener Vielfalt der Positionen Sinn hat. Hier liegt das logische Paradox, auf das w i r anfangs hinwiesen. Der Liberalismus ist nicht allein eine Ideologie, die i m Wettstreit mit anderen Ideologien liegt, sondern auch die Ideologie, die dieses I m Wettstreit-sich-Befinden erst möglich macht. Vielleicht kann man sagen, daß die Demokratie die ermöglichende Ideologie ist und daß der Liberalismus seinerseits die ermöglichte Ideologie ist, oder, daß der Liberalismus eine der wetteifernden Ideen und die Demokratie die Ideologie ist, die dies gestattet. I n der politischen Geschichte des Westens ist diese so verstandene Demokratie mit der „liberalen Demokratie" identisch, die sich i m liberalen Rechtsstaat ihre Form gab. Das bedeutet, daß es sich

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um eine Demokratie handelt, die von einer der konkurrierenden Ideologien durchtränkt ist, um einen Staat, der alle Ideologien respektiert und sich hütet, eine von ihnen durchzusetzen, allein aus dem Grunde, weil er aus einer Ideologie lebt, die diese Achtung gebietet. Gerade deswegen hat aber auch die Entideologisierung des liberalen Staates in dem gleichen Maße, in dem er sich einer pluralistischen und stark ideologisierten Gesellschaft gegenübersah, das Prinzip seiner Selbstzerstörung herausgestellt. Wenn nämlich der Liberalismus nicht mehr die sozial herrschende Idee ist, müssen der Agnostizismus und die Zurückhaltung des Staates die Herrschaft jener nicht liberalen Ideologien gestatten, die darauf warten, den Staat unter ein ganz anderes ideologisches Zeichen zu stellen. Die paradoxe Situation des liberalen Staates rührt nun daher, daß er als formal agnostischer Staat, der der Gesellschaft das Spiel der Ideologien und ihre Beherrschung durch sie überläßt, während er die Rolle des Zuschauers und, wenn es hoch kommt, die des neutralen Schiedsrichters übernimmt, sich i n dieser Position nur in dem Maße halten kann, in dem er an der Ideologie, in deren Dienst er sich stellt, Teil hat. Dies kann nun auf zweierlei Weise geschehen: Die liberale Ideologie kann sich eine naturrechtliche Basis verschaffen, die die Akzeptierung bestimmter Werte als „absoluter" Werte voraussetzt, obgleich der „Rationalismus" eine Relativierung der religiösen Wertvorstellungen zur Folge hat, die lediglich als historische, nicht der Dimension des Übernatürlichen zuzurechnende Größen anerkannt werden. Als Folge dieser Säkularisierung vollzieht sich in wachsendem Maße ein Abbau metaphysischer Vorstellungen, der bis zur Aufgabe der naturrechtlichen Basis geht und den Liberalismus i n eine bloße Technik relativistischer Demokratie verwandelt, die die Herrschaft der Meinung der Mehrheit unter der Bedingung sichert, daß die Minderheit respektiert wird. A n diesem Punkte zeigt sich das ganze Problem. Man verzichtet darauf, irgend einer Ideologie absoluten Wert zuzubilligen — was für die Relativisten gleichbedeutend mit der Notwendigkeit wäre, sie diktatorisch und total durchzusetzen. — Gleichwohl ist aber das Prinzip der Respektierung der Meinung der Minorität nicht allein eine bloße Spielregel, weil man an seine absolute Gültigkeit glaubt. Wer an dieses Prinzip nicht glaubt, muß Gewalt anwenden oder Gewalt leiden. Aus diesem Grunde ist der agnostische, entideologisierte liberale Staat i n demselben Maße, in dem der Glaube an diesen absoluten Wert geschwunden ist, teils nach „rechts", teils nach „links" hin Kompromisse eingegangen. Aus diesem Grunde erleben w i r es i n unseren Tagen, daß der liberale Staat als Reaktion auf diese schwankende Haltung es bewußt und mit allen Konsequenzen auf sich nimmt, die Ideologie, die seine Seinsbasis bildet, zu verteidigen. Die Ideologie bleibt demnach nicht allein auf den außerstaatlichen „gesellschaftlichen" Bereich beschränkt. I n der Gesell-

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schaft herrscht der Kampf der Ideologie, doch der Staat gewinnt selbst und auf Grund eigener Entscheidung nunmehr eine ideologische Dimension. Ein i n hohem Maße charakteristisches Beispiel dieser Haltung findet sich in dem Grundgesetz der deutschen Bundesrepublik. Dort nimmt man sogar zu einer „naturrechtlichen" Begründung der menschlichen Grundrechte seine Zuflucht und bestimmt, daß kein Gesetz ihren „Wesensgehalt" ändern kann. Dies führt zu ganz bestimmten Konsequenzen. Es ist kein Raum für eine Freiheit, die sich gegen die Freiheit selbst richtet. Aus diesem Grunde werden bestimmte politische Parteien, die politische Organisationen gewisser Ideologien — und zwar jener, die grundsätzlich die menschlichen Rechte und die demokratische Organisation des Staates in Frage stellen — für unerlaubt und illegal erklärt. Die Kommunistische Partei ist für ungesetzlich erklärt worden und gleiches kann Parteien zustoßen, die den Versuch machen sollten, die mit der Niederlage von 1945 gestürzten Ideen zu neuem Leben zu erwecken. Handelt es sich nun hierbei nicht um einen Widerspruch zur Natur eines demokratischen und liberalen Staates? Ist dies nicht eine Konzession an einen konfessionalisierten, politisierten Staat, der im Dienste einer Ideologie steht? So ist es tatsächlich, doch die Unauflöslichkeit dieses Widerspruches erklärt sich aus den verschiedenen logischen Stufen, auf denen sich das Problem der Beziehung von Staat und Ideologie stellt. Meinen w i r tatsächlich dasselbe, wenn w i r das Wort „Ideologie" im Hinblick auf zwei verschiedene Bezugspunkte gebrauchen? Konkret: Meint dieses Wort dasselbe, wenn w i r davon sprechen, daß es „agnostische" Staaten gibt — d. h. solche, die sich zu keiner Ideologie bekennen — und dann, wenn w i r sagen, daß es keinen Staat ohne Ideologie gibt? Das historische Beispiel des liberalen Staates hat die Duplizität der Bedeutungsebenen zur Genüge klar gemacht. Allerdings mag die dabei mitwirkende, für sein Fortbestehen erforderliche Ideologisierung die unterschiedlichen Bedeutungen des Ideologischen selbst nicht genügend hergestellt haben. Vielleicht t r i t t dieser Unterschied reiner und vollständiger am Beispiel anderer Staatstypen hervor, die zu immer stärkerer Entideologisierung neigen. Ein Staat kann aus ideologischen Gründen, wegen der Herrschaft einer Ideologie, die in einem bestimmten Augenblick über die politische Macht völlig verfügt, eine, beispielsweise „syndikalistische", Struktur übernehmen. Dabei handelt es sich dann nicht allein um ein Resultat der Ideologie, sondern ebensosehr um ein Instrument, das in ihrem Dienste steht, um ein lebendiges Zeugnis ihrer Prinzipien und Wertvorstellungen. Die Ideologie w i r k t dann beständig in ihrem Inneren und, um dies sicherzustellen, w i r d die Organisation völlig politisiert. Es w i r d dann erforderlich, in ihr eine Befehlszentrale politischen Charakters einzufüh-

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ren. Nun kann aber derselbe Staat, der diese Struktur aufgebaut hat und sie sogar beizubehalten wünscht, weil er an ihre Werte glaubt, eine Entideologisierung einleiten, die den Charakter der Ideologie als Organ oder Instrument i m Dienste des Staates aufhebt, ihre politische Führungsrolle unterdrückt und das reine Repräsentationsprinzip auf allen organischen Stufen der Institution einführt. I m Gegensatz zum Fall des agnostischen liberalen Staates, der, um sich zu erhalten, zur Proklamation überzeitlicher Werte übergeht, haben w i r es dann mit einem völlig ideologisierten Staate zu tun, der, u m fortbestehen zu können, auf einen großen Teil seiner Ideologie verzichten zu können glaubt — dabei aber die Strukturen aufrechterhalten will, die die Ideologie schuf. U m aber nicht den Anschein zu erwecken, hier eine unüberprüfbare Hypothese aufstellen zu wollen, sei gesagt, daß w i r gerade ein solches Beispiel in Gestalt des augenblicklichen spanischen Staates vor Augen haben. Um den dort in dieser Hinsicht eingetretenen Wandel wahrzunehmen, vergleiche man die Deklarationen des Fuero de Trabajo 1 von 1938 und des Syndikatsgesetzes mit der Neufassung dieser Vorschriften i n der Ley Organica del Estado 2 vom 14. Dezember 1966. Auch andere Umstände können die Entideologisierung eines ideologisierten Staates begünstigen. Auch heute noch ist vom religiösen Standpunkt aus ein konfessioneller Staat möglich, z. B. ein Staat, der die „katholische Einheit" proklamiert. I n dem Maße, in dem dieses Bekenntnis über seine „Institutionalisierung", seine Umsetzung i n Rechtsnormen hinausgeht und die den Staat beherrschende politische Ideologie duchdringt, ist dieser i n einem bestimmten religiösen Sinne zuinnerst ideologisiert. Der Totalitätsanspruch der Religion, ebensosehr aber auch der der Politik — der durch Carl Schmitt so treffend hervorgehoben worden ist — bewirkt, daß sich beide gegenseitig durchdringen und so das politische Leben unter das Gesetz einer religiösen Politisierung oder einer politischen Religiosität stellen. Gegenwärtig kann nun ein sich zum Katholizismus bekennender Staat die politischen Implikationen der Lehren des II. Vatikanischen Konzils nicht übersehen. Aus Treue zur Kirche muß er die politisch-religiöse Spannung i n seinem Bereich mildern, d. h. eine Entideologisierung des politischen Lebens hinsichtlich seiner religiösen Komponenten einleiten. Daneben gibt es auch jene andere Form der Entideologisierung, die sich i n dem Verbot politischer Parteien niederschlägt. Der liberale Staat ist ein Mehrparteienstaat, identifiziert sich aber mit keiner Partei. Aus diesem Grunde betrachtet er jede Partei in erster Linie als eine soziale Er1

Zusammenfassung der „Grundrechte der Arbeit", Anm. d. Übers. „Organisches Staatsgesetz", letztes und die anderen harmonisierendes einer Reihe von Verfassungsgesetzen (Anm. d. Ubers.). 1

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scheinung, wenn er auch i n seiner staatlichen Struktur von ihrem Vorhandensein ausgeht. Der totalitäre Staat hingegen ist ein Einparteienstaat. Die allein zugelassene Partei ist i n jeder Hinsicht ein staatliches Organ. Es gibt aber auch Staaten, die darauf verzichten, eine Partei oder Parteien überhaupt zuzulassen. Viele Diktaturen verbieten die Parteien für einen gewissen Zeitraum. Dieses Verbot kann jedoch auch Dauercharakter annehmen und zwar in solchen Regimen, i n denen die Erscheinung der Einheitspartei sich angesichts der Realiät der Vielfalt der Meinungen über die gemeinsame Basis in Gestalt einiger Fundamentalprinzipien auflöst. Der Grund des Verbotes kann aber auch die Unmöglichkeit sein, diese ideologische Vielfalt i n einem Parteienstaat zu institutionalisieren. Da i m liberalen Staat die ideologische Vielfältigkeit mehr ein soziales als ein politisch relevantes Faktum darstellt, ist sie fähig, den Staat zu entideologisieren, weil sie ihn von eigener Ideologie freistellt. Auf der anderen Seite beweist die Existenz einiger Fundamentalprinzipien, deren Anerkennung notwendige Voraussetzung für die aktive Beteiligung am politischen Leben ist, daß es einen Staat ohne Ideologie nicht geben kann. Hier w i r d bereits deutlich, daß man auf der „Parteienebene" — gleich ob es sich um Einheitsparteien oder andere handelt — unter Ideologie ein mehr oder weniger zusammenhängendes Geflecht von Sätzen über den Bereich der menschlich-sozialen Realität und ihrer politischen, w i r t schaftlich-sozialen, rechtlichen und sonstigen Erscheinungsformen versteht. Dabei geht man von der Annahme von — häufig i n Gestalt von „slogans " trivialisierten — Grundprinzipien aus, die gewisse Gruppen als „Panier" übernehmen, um sich so von anderen zu unterscheiden und gegen sie Stellung beziehen zu können. Auf jenem Niveau aber, auf dem eine Ideologisierung unausweichlich erscheint — sei es i m Falle des liberalen Staates, der als solcher fortbestehen w i l l , sei es i m Fall des auf „Fundamentalprinzipien" aufbauenden Staates — bedeutet Ideologie nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Anerkennung gewisser Wertvorstellungen, in denen man trotz unterschiedlicher Interpretationen übereinstimmt, und die die Spielregeln der jeweiligen politischen Existenzform sind. So sind die anglo-amerikanischen Demokratien, mit dem ihnen eigenen Glauben an die Lebensform der liberalen Demokratie ebenso wie die deutsche Bundesrepublik in dem oben dargelegten Sinne, und auch der spanische Staat seit Erlaß der Ley Organica , i n einem besonderen Sinne Beispiele für das, was unter „Ideologie" auf der Ebene des Überparteilichen verstanden werden kann, wo i n dem einen Sinne mehr, i n dem anderen Sinne weniger von dem enthalten ist, was „Ideologie" normalerweise bedeutet. Der Ausdruck kann ohnehin nicht von jenem abschätzigen Beigeschmack befreit werden, den ihm die Wissenssoziologie mit Recht verschafft hat, und der i h m i m Zusammenhang m i t

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den Parteien (sowohl des pluralistischen wie des Einparteienstaates) zukommt. Auf der anderen Seite kann man nicht übersehen, daß in den wichtigsten Staaten heute die Parteien, die früher Ausdruck und Träger totaler und damit unvereinbarer Ideologien waren, eine wesentlich rationalere Haltung einnehmen und so die Unterschiede zwischen ihnen verringern, da diese nur noch in unterschiedlichen Meinungen bestehen, die man fast als „technologisch" bezeichnen könnte. Soziologisch gesehen handelt es sich dabei um das Ergebnis einer hinsichtlich ihres Entwicklungsstandes und ihres Wohlstandes in höchstem Maße homogen gewordenen Massengesellschaft. I n diesem Sinne ist es richtig, daß eine entwickelte Gesellschaft nur noch ein Minimum an Ideologie aufweist und daher auch die Parteien in dem Sinne als entideologisiert zu bezeichnen sind, daß heute die Sozialdemokratie sich vom Marxismus befreit und das Privateigentum und das freie Unternehmertum anerkennt, während der heutige „Liberalismus" die Planifizierung und eine umfassende Sozialversicherung akzeptiert. Gerade deswegen kann die Kraft der Ideologien in den unterentwickelten Ländern heute mit sicherer Aussicht auf Erfolg w i r k sam werden. Eine totale oder radikale Entideologisierung ist demnach insgesamt gesehen nicht möglich. Aber schon die bloße Tendenz kann zu einer geistigen Katastrophe führen. Die Ideologie muß durch die Wissenschaft abgelöst werden. Das Irrationale in der Ideologie muß, soweit es allein an die Gefühle und Leidenschaften des Menschen appelliert, einer überlegten und rationalen Haltung Platz machen, die das Zusammenleben der Bürger ermöglicht. Die Hinwendung zu einer rein technischen Rationalität, zu einer rein naturalistischen Wissenschaftlichkeit, die auf gewisse Werte und auf eine gewisse „poetische", schöpferische (poiesis: Poesie, Schöpfung) Dimension in der Politik verzichtet, kann sich aber als die große Gefahr der entwickelten Gesellschaften erweisen. Der Verstand nämlich ist etwas, das benutzt wird, und seine Benutzung kann in den Dienst sehr verschiedener Zwecke gestellt werden, wie auch Wissenschaft und Technik sich in Instrumente der Zerstörung verwandeln können. Aus diesem Grunde ist zwar den Ideologien gegenüber Rationalität geboten, jedoch eine Rationalität, die im Dienste transzendenter Ideale und unzerstörbarer menschlicher Werte steht. Das Beharren auf diesen Werten und Idealen ist, wenn man so will, Ideologie, jedoch nicht im Sinne einer Ideologie, die w i r ablehnen oder überwinden müßten. Nur dieser letzteren Ideologie gegenüber ist es daher als Antwort auf unsere Eingangsfrage erlaubt, die Meinung zu vertreten, daß ein Staat „sie nicht haben dürfe" und daß er sich um eine möglichst weitgehende Entideologisierung zu bemühen hat. Dies darf natürlich nur unter der

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Bedingung geschehen, daß er von soziologischen Voraussetzungen ausgeht, die seinem Vorgehen „Authentizität" verleihen und daß es sich nicht um ein diktatorisches Negieren oder Ersticken eines sozialen Pluralismus handelt. Auf jener anderen Ebene des Ideologieverständnisses aber muß der Staat sich um die gesellschaftliche Anerkennung und Geltung der religiösen und sittlichen Werte und um die Respektierung der menschlichen Würde und Freiheit bemühen. Dann kann sich die soziale Entwicklung an der Gerechtigkeit orientieren und so die von diesem Ziel noch entfernte Wirklichkeit verbessern oder sie vor einem Abfall vom Ideal und vom „Gesollten" bewahren, da letzteres niemals, und selbst in den am höchsten entwickelten Gesellschaften nicht, ohne weiteres mit dem „Gegebenen" und dem, was „ist", gleichgesetzt werden darf. Aus dem Spanischen übersetzt von Raimund Beck

Die innerstaatliche Sicherung des äußeren Friedens durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Von Theodor Maunz, München I. 1. Kriegsverhütungsakte durch innerstaatliche Maßnahmen können stets nur Stückwerk bleiben. Ohne die zusätzliche Tätigkeit internationaler Organe sind ihnen nur Teilerfolge beschieden. Sie stellen zunächst nur Selbstgespräche und allenfalls Selbstbindungen des Staates dar, über deren Fortbestand er wieder selbst entscheidet. Der Widerhall anderer Staaten oder supranationaler Einrichtungen auf die innerstaatliche Normierung bleibt zunächst unbestimmt. Dennoch sind sie ein beachtlicher Baustein i m Gesamtsystem der Kriegsverhütung. Die Bundesrepublik Deutschland hat eine Reihe rechtlicher Regelungen über Kriegsverhütung m i t verfassungsrechtlicher Kraft getroffen. I m Kern dieser Regelungen stehen die Rechtssätze über die Verfassungswidrigkeit von Handlungen zur Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker (Art. 26 Abs. 1 GG), über die Einschränkung der Kriegswaffenherstellung (Art. 26 Abs. 2 GG), über die Geltung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts als innerstaatliches Recht (Art. 25 GG) und über den Beitritt zu einem kollektiven Sicherheitssystem (Art. 24 GG). Sie werden ergänzt durch eine Reihe einfacher Gesetze oder durch Verzichtserklärungen, die zwar einseitig abgegeben, aber von den Adressaten angenommen und einer einseitigen Aufhebung entzogen worden sind, ζ. B. der Verzicht auf die Atomwaffenherstellung (BGBl. I I 1955 S. 269). Das Grundgesetz legt an verschiedenen Stellen Gewicht auf die feierliche Bekundung der friedlichen Einstellung der Bundesrepublik. Dabei begnügt es sich nicht m i t Proklamationen oder Programmen wie i n der Präambel zum Grundgesetz — die sicherlich ebenfalls ihren guten Sinn haben —, sondern stellt darüber hinaus auch unmittelbar rechtliche Bindungen auf. Ihre Auslegung mit den traditionellen Mitteln innerstaatlicher Rechtsanwendung, wie sie nachstehend versucht werden soll, mag angesichts ihres Zusammenhangs mit zwischenstaatlichen Regelungen als fremdartig oder sogar als unangebracht erscheinen. Indessen läßt sie zum mindesten den Nutzen (oder den nur beschränkten Nutzen) solcher Regelungen i m einzelnen erkennen und spornt dadurch an, ihre Schwächen

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zu beheben. Ihre Vervollständigung und Verbesserung liegt sowohl i m nationalen wie im internationalen Interesse. 2. Bestimmte Handlungen werden vom Grundgesetz als „verfassungswidrig" bezeichnet (Art. 26 Abs. 1 GG). Verfassungswidrig soll vermutlich eine Steigerung gegenüber rechtswidrig sein, also etwa „erhöht rechtswidrig" oder „ i n besonderem Maße rechtswidrig" bedeuten. Eine Verstärkung der Rechtsfolgen t r i t t dabei aber beim Bürger nicht ein. Bei Verfassungsorganen könnte allenfalls an die Anklage wegen Verletzung der Verfassung gedacht werden. Warum gerade in diesem Zusammenhang, nämlich beim Versuch der Verhinderung von Handlungen, der Ausdruck verfassungswidrig verwendet worden ist, ist aus Vorgeschichte und Sachzusammenhang nicht erkennbar. Denkbar wäre es, daß das Grundgesetz von der Vorstellung ausging, solche Handlungen könnten nur von der hoheitlichen Gewalt veranlaßt sein. Ihre Verfassungswidrigkeit führe danach zur Nichtigkeit. Offen bleibt aber dann, wie es sich mit Handlungen außerhalb des Behördensystems verhält. Eine Stempelung von Handlungen privater Personen zu nichtigen Handlungen würde rechtlich wenig besagen. Würde es sich um Verträge handeln, so wäre die Nichtigkeit kraft Gesetzes verständlich. Aber es handelt sich ja, von seltenen Ausnahmen abgesehen, nicht um Verträge, sondern um Aktionen. Handlungen von Privatpersonen sind entweder erlaubt oder verboten. Sind sie faktisch vorgenommen worden, so würde ihre Nichtigkeitserklärung praktisch ins Leere stoßen. Danach w i r d eine den Vorstellungen des Grundgesetzes vermutlich nahekommende Deutung die Erklärung als verfassungswidrig und nichtig i n ein Verbot der Vornahme umdeuten dürfen. Verfassungswidrig einerseits, verboten anderseits ist zwar nicht immer identisch, soll sich aber nach der Meinung des Grundgesetzes wohl in der Regel decken. Allerdings ist dieses Verbot i m Grundgesetz ohne Sanktionsandrohung geblieben. Eine Strafbarkeit ist bisher nur in einem Verfassungsauftrag an den Gesetzgeber erwähnt, aber nicht geltendes Recht geworden. Indessen w i r d man nicht unterstellen können, daß das Verbot erst dann rechtliche Wirkung haben soll, wenn eine Strafdrohung vorliegt. Mag auch durch das Verbot allein noch keine Strafbarkeit entstehen können, so werden doch andere Rechtsfolgen aus ihm abgeleitet werden dürfen. Verbotene Handlungen dürfen ζ. B. durch staatliche Behörden mit legalen Mitteln verhindert werden, sei es durch Vorbeugung oder durch Unterbindung. Durch das Geschehenlassen von Seiten der Behörden können dienststrafrechtliche oder amtshaftungsrechtliche Verantwortlichkeiten ausgelöst werden. Von Privatpersonen, die verbotene Handlungen vornehmen, kann gegebenenfalls Schadensersatz verlangt werden. Nach alledem ist es kein nutzloses Unterfangen, zu prüfen, welche Handlungen nach dem Willen des Grundgesetzes unter die Verfassungs-

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Widrigkeit und damit unter das Verbot und die Verbotsfolgen fallen sollen. Verboten sind alle Handlungen, die objektiv geeignet und subjektiv in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören. Da eine unübersehbare Zahl von Handlungen das friedliche Zusammenleben der Völker stören kann, muß eine Abgrenzung zwischen verbotenen und gestatteten Handlungen versucht werden. Sie kann weniger in dem Begriff „geeignet", wohl aber i n der Beschränkung auf Handlungen liegen, die in einer bestimmten Absicht unternommen werden. Daß in der grundgesetzlichen Vorschrift kein absolutes Kriegsverbot enthalten ist, folgt schon aus dem ausdrücklich geregelten Sonderfall des Angriffskrieges. Damit w i r d gleichzeitig der Verteidigungskrieg aus dem Verbot herausgelöst. Auch aus Art. 59 a GG ergibt sich die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Verteidigungskrieges. Die Erlaubtheit und Notwendigkeit eines Verteidigungskrieges gegenüber einem Angriff w i r d von allen Staaten der Welt anerkannt, insbesondere sowohl von den Staaten der westlichen Welt wie von denen des Warschauer Paktes. Aus der Sondererwähnung des Angriffskrieges ist ohne weiteres ableitbar, daß nicht nur Angriffskriege verfassungsrechtlich verboten sind, sondern auch andere Akte in das Verbot einbezogen werden, die, ohne Krieg zu sein, friedensstörend wirken können und als Friedensstörung gewollt sind. Die Abstufung zwischen friedensstörenden Handlungen als dem umfassenderen Begriff und dem Angriffskrieg als dem Sonderfall bereitet zwar Schwierigkeiten, muß aber um so mehr als möglich angesehen werden, als die Richtung klar ersichtlich ist, in der sich nach dem Vorstellungsbild des Grundgesetzes die Auslegung bewegen soll. Man w i r d davon ausgehen müssen, daß nicht einmal jede Zuwiderhandlung gegen einen Vertrag, etwa über Handelsbeziehungen oder Wirtschaftsgemeinschaften, bereits eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker bedeuten muß, wenn auch bei solchen Unternehmungen auf die Empfindlichkeit der internationalen Lage Rücksicht genommen werden muß. Völkerrechtsgemäße Handlungen jedenfalls, selbst wenn sie anderen Staaten unangenehm sind, können nicht friedensstörend sein. Was erlaubt ist, kann nicht als störend i m Sinne des Grundgesetzes angesehen werden. Sonst würde eine mit legalen Zielen und Mitteln arbeitende außenpolitische Aktivität, wie sie jeder Staat für sich in Anspruch nimmt, schlechterdings unterbunden sein. Eine wirkliche Störung braucht durch die verbotene Handlung nicht eingetreten zu sein. Doch w i r d wenigstens eine Gefährdung als notwendiges Element der Störungseignung vorausgesetzt werden müssen. Entscheidend w i r d vor allem sein, ob einer außenpolitischen A k t i v i t ä t eine friedliebende Tendenz zugrunde liegt. Ist dies der Fall, so kann die einzelne Handlung schwerlich störungsgeeignet sein. Immerhin dürfte sich ein Ausführungsgesetz der Bundesrepublik empfehlen, das profilierte

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Grenzziehungen zwischen den möglichen Falltypen vornimmt. Es darf dabei über das i m Grundgesetz gekennzeichnete Mindestmaß der Friedenssicherung hinausgehen. Das Friedensgebot des Grundgesetzes führt den Begriff des Angriffskrieges in das innerstaatliche Recht ein. Sowohl Vorbereitung wie Durchführung eines Angriffskrieges sind verboten. Den Umfang der unerlaubten Vorbereitung eines Angriffskrieges von dem der erlaubten Vorbereitung eines Verteidigungskrieges abzugrenzen, ist freilich eine kriegs- und waffentechnisch kaum vollziehbare Aufgabe, da sich alle Angriffsmittel auch als Verteidigungswaffen — mindestens beim Gegenangriff gegen einen Angriff — verwenden lassen. Das Grundgesetz hält aber, wenn auch vielleicht nicht die Abgrenzung der Vorbereitung, so doch die der Führung eines Angriffskrieges gegenüber dem eines Verteidigungskrieges für möglich, ja für geboten. I n der Tat besteht diese rechtliche Möglichkeit dann, wenn man sich über die begrifflichen Merkmale eines Angriffskrieges verständigt. Versuche sind bereits nach den verschiedensten Richtungen unternommen worden. Dabei kommt es gar nicht so sehr darauf an, welche Merkmale als solche eines Angriffskrieges bezeichnet werden, als vielmehr darauf, daß man sich über diese oder jene einigt. Man kann unter Angriffskrieg etwa den Einfall mit Streitkräften in das Gebiet eines anderen Staates verstehen, den der Staat als erster unternimmt, oder auch den ersten Angriff mit Streitkräften auf das Gebiet, auf die Schiffe oder auf die Luftfahrzeuge eines anderen Staates. Für völkerrechtliche Verträge steht es bei Einverständnis der Partner frei, auch andere Handlungen einzubeziehen, insbesondere auch den sogenannten nichtmilitärischen Angriff, ζ. B. die Blockade gegenüber einem anderen Staat oder die innere Aushöhlung eines anderen Staates durch gewaltsame subversive Tätigkeit. Undenkbar ist die Begriffsbestimmung eines Angriffskrieges durch gegenseitige Verständigung nicht. Unerträglich wäre es nur, wenn der eine Staat seine Auffassung vom Begriff des Angriffs dem anderen Staat aufdrängt und ihn dann etwa des Angriffs beschuldigt oder den eigenen Angriff abstreitet, während der andere Staat eine andere Vorstellung von Angriff hat. Bei Zweifel, ob ein Angriff vorliegt, ist es i m Verhältnis zwischen den Staaten gegenwärtig Aufgabe des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, das Vorliegen eines Angriffs festzustellen. Ob freilich diese Feststellung von den Beteiligten anerkannt wird, ist fraglich. Das für das Grundgesetz Beachtliche und wohl sogar Seltsame besteht darin, daß hier der Verfassunggeber eines Staates für sich das Verbot eines Angriffskrieges mit erhöhter innerstaatlicher Kraft ausstattet, ohne des näheren darlegen zu können, welche Elemente des Angriffskrieges nach seiner Auffassung gegeben sein müssen. Eine stillschweigende Verweisung auf angebliches Bekanntsein des Begriffs genügt nicht, da über diesen unter den Staaten der Welt

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bisher keine einheitliche Auffassung vorliegt. Was nicht feststeht, kann aber nicht als bekannt vorausgesetzt werden. I m konkreten Fall müssen letztlich doch wohl der Staat und seine Organe selbst entscheiden, ob i n diesem Sinn ein Eingriff vorliegt. Während die Führung eines Angriffskrieges nur i n der Hand von Staatsorganen liegen kann, könnten an seiner Vorbereitung unter Umständen auch Privatpersonen beteiligt sein. Das Verbot der Vorbereitung hat also eine doppelte Adressierung. Eine Strafbarkeit von Einzelpersonen wegen einer solchen Vorbereitung ist gegenwärtig i n der Bundesrepublik nicht Gesetzesinhalt. Die Regelung, die für das internationale Militärtribunal i n Nürnberg galt, bezog sich nur auf diesen einmaligen Vorgang. Durch A r t . 26 Abs. 1 GG ist aber der Vorstellungskreis des Briand-Kellog-Paktes vom 27. 8. 1928 (RGBl. 1929 I I S. 97) i n das verfassungsrechtliche Gefüge des Grundgesetzes einbezogen worden. Das Grundgesetz ist auch aus ihm heraus zu verstehen und auszulegen. Daneben gilt der Pakt als ein in innerstaatliches Recht umgesetzter völkerrechtlicher Vertrag m i t dem Charakter eines einfachen Gesetzes fort. Falls die Kriegsächtung bereits über den Geltungsbereich des Paktes hinaus als allgemeine Regel des Völkerrechts angesehen w i r d (Art. 25 GG), gehen seine Rechtssätze den einfachen Bundesgesetzen vor. Andererseits hebt seine Einbeziehung in Art. 26 Abs. 1 GG die Kriegsächtung i m Umfang jenes Paktes sogar in den Rang von deutschem Verfassungsrecht. Danach ist Inhalt des Grundgesetzes, daß der Angriffskrieg als Lösung internationaler Streitfragen verurteilt und auf ihn als Werkzeug internationaler Politik verzichtet wird. Durch das grundsätzliche Verbot nicht nur der Vorbereitung und der Führung eines Angriffskrieges, sondern darüber hinaus aller friedensstörenden Handlungen, sind auch die sogenannten angriffsähnlichen Handlungen mit einbezogen. Dazu gehört die Drohung mit Gewalt. Jedoch kann man nicht annehmen, daß bereits der Aufbau einer Streitmacht eine Drohung mit Gewalt darstellt; denn sie kann nicht minder der reinen Verteidigung dienen. Die Abschreckung eines anderen Staates, einen Angriff zu wagen, ist keine Drohung mit Gewalt. Doch w i r d die Verletzung zwischenstaatlicher Rüstungsbeschränkungen oder Entmilitarisierungsvorschriften mindestens als angriffsähnliche Handlung zu werten sein, ebenso die Herstellung oder der Besitz verbotener Waffen. Dagegen ist nach übereinstimmender Auffassung die Drohung mit dem Abbruch diplomatischer Beziehungen und der Abbruch selbst nicht eine angriffsähnliche Handlung. Man kann vielleicht die Formel wagen: Die Drohung mit Gewalt w i r d dann eine friedensstörende Handlung, wenn eine etwaige Anwendung der angekündigten M i t t e l völkerrechtswidrig wäre. Kein Angriff und auch kein angriffsähnlicher A k t liegt vor, wenn der Angriff oder der angriffsähnliche A k t eines anderen Staates lediglich 19 Festschrift für Carl Schmitt

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pariert oder abgewehrt oder mit Gegenmaßnahmen beantwortet wird, oder wenn ein Staat gemäß den Beschlüssen der Vereinten Nationen handelt. Wenn diese eine Aktion als Nichtkrieg oder Nichtangriff bewerten, kann einem demgemäß handelnden Staat nicht ein Angriffsvorwurf gemacht werden. Dies gilt auch für die Auslegung des Art. 26 GG. Ein Auseinanderfallen einheitlicher völkerrechtlicher Vorstellungen einerseits und innerstaatlicher Hegelungen anderseits kann keinesfalls als Inhalt und Wille des Grundgesetzes angesehen werden. 3. Die Pflicht des Staates, friedensstörende Handlungen privater Personen zu unterbinden, w i r d von anderen staatlichen Pflichten und Bindungen überlagert, wenn die Tätigkeit deutscher Staatsangehöriger i m Ausland i n Frage steht. Eine Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit ist i m früheren Staatsangehörigkeitsrecht bei Verletzung der Treuepflicht vorgesehen gewesen (§§ 27, 28 RStAngG). I m geltenden Recht steht einer Aberkennung das Verbot des Art. 16 Abs. 1 GG entgegen. Nach § 27 RStAngG konnte ein Deutscher, der sich i m Ausland aufhält, seiner Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt werden, wenn er i m Falle eines Krieges oder einer Kriegsgefahr der Aufforderung des Staates zur Rückkehr keine Folge leistete. Die Verlustig-Erklärung wäre eine Entziehung, die in das Ermessen der Exekutive gestellt ist. Gerade einen solchen A k t wollte das Grundgesetz der Bundesrepublik i n A r t . 16 Abs. 1 GG verhindern. Da ferner das Grundgesetz eine Verwirkung der Staatsangehörigkeit nicht zuläßt, auch nicht wenn die i n Art. 18 GG aufgestellten Voraussetzungen erfüllt sind, ist auch unter diesem Gesichtspunkt eine „Aberkennung" nicht möglich; das wäre eine Erweiterung der Gründe für die Verwirkung, die nur durch Grundgesetzänderung zulässig wäre. Eine Aufforderung zur Rückkehr eines i m Ausland lebenden deutschen Staatsangehörigen w i r d zwar auch nach geltendem Recht als zulässig angesehen werden dürfen. Aber als Sanktion bei Nichtbefolgung des Rückrufs kommt nicht mehr ein Verlust der Staatsangehörigkeit i n Betracht. Auch dann kann ein Deutscher nicht seiner Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt werden, wenn er ohne Erlaubnis seiner Regierung i n ausländische Staatsdienste getreten ist, falls er einer Aufforderung zum Austritt keine Folge leistet ( früher § 28 RStAngG). Da die gesetzliche Grundlage für einen Rückruf nicht unzweifelhaft ist, wäre zu erwägen, ob bei der heutigen verfassungsrechtlichen Lage gegebenenfalls eine neue Rückrufnorm erlassen werden könnte. Ein einfaches Bundesgesetz dieses Inhalts dürfte nur dann dem Staat grundrechtseinschränkende Befugnisse einräumen, wenn das Grundgesetz entsprechende Vorbehalte enthielte. Aus Art. 11 GG (Freizügigkeit) w i r d zwar i m Anschluß an das BVerfG keine Ausreisefreiheit (E 6, 32 ff.), wohl aber eine Einreisefreiheit und damit auch eine Nichteinreisefreiheit gefolgert werden können. Handlungen, die dem Art. 26 Abs. 1 GG zuwiderlaufen, sind ver-

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boten und demgemäß ein Handeln ohne Recht. Rechtloses Handeln ist durch Grundrechte nicht gedeckt. Einem den Rückruf zulassenden Gesetz könnte daher wohl nicht Art. 11 GG entgegengehalten werden. Aber auch wenn die Freiheit der Einreise nicht unter Art. 11 GG fiele, wäre die Rechtslage keine andere. Dann würde Art. 2 GG (Handlungsfreiheit) mit einem weitgehenden Gesetzesvorbehalt eingreifen, demzufolge jedes verfassungsmäßig zustandegekommene Gesetz die Freiheit einschränken darf. Der Verfassungsauftrag des Art. 26 Abs. 1 GG richtet sich unmittelbar nicht auf den Erlaß eines Rückrufgesetzes, sondern auf die Strafbarkeitserklärung einer Zuwiderhandlung gegen das Verbot friedensstörender Handlungen. Aber auch mittelbar (aus dem Sinn und Zweck der Verbotsnorm) w i r d eine so weitgehende Folgerung, wie eine Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß eines Gesetzes, nicht abgeleitet werden können. Es besteht daher vom Grundgesetz her nur eine beschränkte Möglichkeit, aber nicht eine verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers. Doch ist auch bereits eine i n das Ermessen des Gesetzgebers gestellte Möglichkeit von rechtlicher Bedeutung. Eine wenn auch ebenfalls beschränkte Möglichkeit der Einwirkung deutscher staatlicher Stellen folgt weiter aus der Befugnis zur Paßversagung und Paßentziehung, zu denen gemäß § 7 I Buchstabe a und § 8 „sonstige erhebliche Belange" berechtigen. Jedenfalls kann der Staat, wenn er von dieser Befugnis legalen Gebrauch macht, zum Ausdruck bringen, daß es ihm ehrlich um die Hintanhaltung von Friedensstörungen zu tun ist. 4. Ungelöst ist das Verhältnis der Pressefreiheit zur Eignung einer Äußerung als friedensstörend. Das gleiche gilt auch von der Tätigkeit anderer Massenmedien. Das Verbot der Friedensstörung verpflichtet auch die Presse. Es beeinträchtigt nicht ihre grundgesetzlich gewährleistete Freiheit. Aber das innerstaatliche Verbot w i r k t auch hier nur bei gleichzeitiger Absicht der Friedensstörung. Verboten sind also ζ. B. Kriegshetze und kriegsanfeuernde Stimmungsmache. Einer freien Presse muß anderseits nicht nur die Berichterstattung, sondern auch die Meinungsäußerung gestattet sein. Meinungsäußerung an sich kann nicht friedensstörend wirken. Drei mögliche Formeln für die Grenzziehung zwischen Meinungsäußerung und Friedensstörung bieten sich an: Entweder ist der Presse gegenüber einem anderen Staat das zu sagen erlaubt, was auch der Presse dieses anderen Staates erlaubt ist. Diese Formel leidet freilich darunter, daß dann die Presse eines freien Staates den etwaigen Einengungen eines diktatorischen Staates unterworfen wäre, aber nicht umgekehrt. Unter diesem Gesichtspunkt kann sie nicht als annehmbar bezeichnet werden. Oder die Presse darf gegenüber dem anderen Staat das sagen, was ihr über ihren eigenen Staat und ihre eigene Regierung zu äußern gestattet ist. Wird danach verfahren, so kann jedenfalls die eigene Regierung keine 19*

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Verantwortlichkeit gegenüber dem anderen Staat treffen und sie darf sich diesem gegenüber auf die Pressefreiheit i m eigenen Staat berufen. Schließlich ist als dritte Version denkbar, daß das zu sagen erlaubt ist, was i m zwischenstaatlichen Leben als üblich oder angemessen angesehen wird. Diese Formel wäre am ehesten akzeptabel, da sie die harmonischste wäre und am wenigstens friedensstörende Elemente enthielte. Sie wäre freilich nur praktikabel, wenn es dafür einen klaren, zwischenstaatlich anerkannten Maßstab gäbe. Da dies, soweit ersichtlich, nicht der Fall ist, bietet sie gerade für Grenzfälle — und auf diese kommt es an — keine brauchbare Lösung an. 5. Weit weniger zweifelhaft ist der Fragenkreis, der sich um das Verbot der Kriegswaffenherstellung gruppiert. Nach Art. 26 Abs. 2 GG dürfen Waffen, die zur Kriegführung bestimmt sind, nur mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und i n Verkehr gebracht werden. Damit w i r d ein Spezialfall der Friedensgefährdung geregelt, zwar nicht durch Verbot, aber durch Genehmigungsvorbehalt. Der Vorbehalt als die speziellere Regelung geht einem generellen Verbot vor, wie es etwa aus Abs. 1 entnommen werden könnte. Anderseits ergreift der Vorbehalt bemerkenswerterweise auch Fälle, die nach Art. 26 Abs. 1 GG nicht verboten sind, ζ. B. die Kriegswaffenherstellung für einen Verteidigungskrieg. Die Einführung des Genehmigungsvorbehalts ist nicht ein Verfassungsauftrag an den Gesetzgeber, sondern unmittelbar anwendbares Recht. Die Erteilung der Genehmigung durch die Bundesregierung ist in deren Ermessen gestellt. Allen außenpolitischen Rücksichten kann also von der Bundesregierung Rechnung getragen werden. Wie in manchen der einschlägigen Begriffe, so tauchen auch hier wieder mannigfache Abgrenzungsschwierigkeiten auf. Die Eigenschaft von Waffen, zur Kriegführung bestimmt zu sein, stellt auf die objektiv bestehende Verwendungsmöglichkeit, nicht auf die subjektive Willensrichtung der Verwender ab. Sie schließt nicht aus, daß die Waffen auch für andere Zwecke gebraucht werden können. Doch müssen sie primär für die Kriegführung geeignet sein. Die unerläßlichen Abgrenzungen in diesen Fragen setzen ein Ausführungsgesetz voraus. Dem Verfassungsauftrag in bezug auf die unter Genehmigungsvorbehalt gestellte Kriegswaffenherstellung ist der Bundesgesetzgeber i m Kriegswaffenkontrollgesetz vom 18. 3. 1958 (BGBl. I S. 265) nachgekommen. Durch dieses Gesetz sind die zur Kriegsführung bestimmten Waffen i n einer Anlage zum Gesetz, der sogenannten Kriegswaffenliste, erschöpfend aufgeführt. Die Liste w i r d jeweils nach dem Stand der wirtschaftlichen, militärischen und technischen Erkenntnisse geändert und ergänzt. Das Gesetz erstreckt die Kriegswaffenliste auf „alle Gegenstände, Stoffe und Organismen", die „geeignet sind, allein, i n Verbindung miteinander oder mit anderen Gegenständen, Stoffen oder Organismen, Zerstörungen oder Schäden an Personen oder Sachen zu

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verursachen und als Mittel der Gewaltanwendung bei bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Staaten zu dienen". Da nicht beabsichtigt sein kann, die gesamte chemische Industrie unter Genehmigungsvorbehalt zu stellen, w i r d man das mit Genehmigungsvorbehalt versehene Verbot auf das Stadium der Fertigung beschränken müssen, nicht auf das Stadium der Forschung beziehen dürfen. Der Genehmigungsvorbehalt ist zwar unter Erweiterung des i m Grundgesetz selbst gezogenen Mindestumfangs, aber doch wohl unter zulässiger Erweiterung auch auf die Einführung von Waffen erstreckt, die i m Ausland hergestellt sind, sowie auf den Verkehr mit Waffen für fremden Gebrauch. Auch die Beteiligung an einer ausländischen Kriegswaffenherstellung i m Sinn einer Fertigung, sei es i m Inland oder i m Ausland durch Deutsche, ist ohne Genehmigung rechtswidrig. II. Während sich die Betrachtung des Art. 26 GG letztlich i m Detail des Verbots der Kriegswaffenfertigung zu verlieren droht, führt die andere Säule des Kriegsverhütungsplanes des Grundgesetzes mit Art. 25 GG zu den grundsätzlichen Fragen des Verhältnisses von Staatsrecht und Völkerrecht zurück. Wie Art. 26 so enthält auch Art. 25 GG ein förmliches Bekenntnis der Bundesrepublik zu einer völkerrechtsgemäßen Haltung. Verletzungen der allgemeinen Regeln des Völkerrechts durch staatliche Organe oder durch Einzelpersonen werden nicht nur mißbilligt. Sie sollen vielmehr unmöglich gemacht werden, soweit das innerstaatliche Recht dazu i n der Lage ist. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind unmittelbar durch das Grundgesetz selbst zu innerstaatlichem Recht gemacht, und zwar mit der Wirkung, daß unterverfassungsrechtliches Recht, das gegen jene allgemeinen Regeln verstößt, nichtig ist. Die Regeln stehen sogar über dem Gesetzesrecht der Bundesrepublik; der Verstoß von Rechtssätzen gegen höheres Recht führt aber zur Nichtigkeit. Durch diese unmittelbare Transformierung w i r d die Kriegsächtung, wenn man sie über die Partner des Kellogpaktes hinaus als geltendes Völkerrecht ansieht, also zu den allgemeinen Regeln rechnet, auch auf diesem Wege zu innerstaatlichem Recht der Bundesrepublik. Demnach erfolgt die Kriegsächtung i n der Bundesrepublik auf drei rechtlichen Stufen: durch das Verbot des Art. 26 Abs. 1 GG auf der Stufe des Verfassungsrechts; durch Art. 25 GG auf der Stufe zwischen Verfassungsrecht und Gesetzesrecht; und durch die i m Gesetz vom 27. 8.1928 erfolgte Übernahme des Kellogpaktes in das innerstaatliche Recht auf der Stufe des Gesetzesrechts. Gleichzeitig w i r d über Art. 25 GG auch die allgemeine Regel des Völkerrechts innerstaatliches Recht, wonach jeder Staat befugt ist, Maßnahmen zu seiner Selbstverteidigung zu treffen und das Recht

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der Selbstverteidigung wahrzunehmen, wenn er angegriffen wird. Außervertraglich w i r d dadurch offenbar der gleiche materielle Gehalt gewährleistet, wie es durch Art. 26 GG verfassungsrechtlich geschieht, und überdies w i r d der Inhalt des Kellogpaktes auch auf dem Wege über jene allgemeine Regel des Völkerrechts gesichert, wonach die von den Staaten geschlossenen rechtsgültigen Verträge gehalten werden müssen, sofern nicht ein völkerrechtlich anzuerkennender Grund besteht, die Erfüllung verweigern zu dürfen. Der Satz, daß Verträge zu halten sind, w i r d i n der Form und mit dem Inhalt innerstaatliches übergesetzliches Recht, wie er i m Völkerrecht anerkannt ist, auch mit der Wirkung und m i t den Einschränkungen, wie ihn das Völkerrecht versteht. Auch er steht — ebenso wie Art. 26 GG — nicht i m Wege, einem anderen Staat, der angegriffen ist, zu helfen. III. Der Wahrung des Friedens und der Illegalisierung von Krieg und Gewalt durch innerstaatliche Maßnahmen dient das Grundgesetz auch an einem dritten Ansatzpunkt. I n A r t . 24 Abs. 2 und 3 sagt es i m Falle der Einordnung der Bundesrepublik i n ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit zu, daß die Bundesrepublik i n die Beschränkungen ihrer Hoheitsrechte einwilligen werde, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern. Die Zusage der Bundesrepublik, i n eine Beschränkung ihrer Hoheitsrechte einzuwilligen, bedeutet nicht, daß eine Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen stattfinden müßte, wie sie Abs. 1 vorsieht. Gedacht ist vielmehr an eine Selbstbeschränkung, die auch ohne jegliche „Integration" denkbar ist. Zusätzlich spricht das Grundgesetz eine innerstaatliche Pflicht der Bundesrepublik aus, Vereinbarungen über die internationale Schiedsgerichtsbarkeit, und damit wohl überhaupt jeder internationalen Gerichtsbarkeit, sei es über rechtliche oder politische Streitfragen, beizutreten. Diese Pflicht besteht nur dann, wenn die Gerichtsbarkeit allgemein, umfassend und obligatorisch ist. Allgemein ist sie, wenn sich ihr alle Staaten oder doch wenigstens die überwiegende Zahl, darunter die wesentlichen Mächte der Gegenwart, unterwerfen. Umfassend ist sie, wenn sie sich tunlichst auf alle oder alle wesentlichen zwischenstaatlichen Streitigkeiten erstreckt. Obligatorisch ist sie, wenn die beteiligten Staaten aufgrund der Vereinbarung ohne zusätzlichen Unterwerfungsakt i m Einzelfall dem Spruch des Gerichts unterliegen. Die Einordnung in ein kollektives Sicherheitssystem ist vom Grundgesetz nicht vorgeschrieben, sondern i n das politische Ermessen der Bundesorgane gestellt. Bestimmte politische Konzeptionen werden nicht

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zu einer verfassungsrechtlichen Pflicht erhoben, sondern lediglich ermöglicht, soweit es dazu überhaupt einer Ermöglichung unter rechtlichen Aspekten bedurfte. Gemeint sind dabei sowohl weltumspannende wie auch regionale Sicherheitssysteme. Beide sollen den Frieden i m Umkreis der Mitgliedstaaten wie auch darüber hinaus die Sicherheit gegen andere Staaten verbürgen. Gemeint kann ferner ebenso die kollektive Selbstverteidigung durch eine Mehrheit von Staaten gegen außenstehende Staaten sein (Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen), wie es auch die Regionalpakte gegen jeden beliebigen Friedensstörer (Art. 52 der genannten Satzung) sein können. Das Grundgesetz bietet keinen Anhalt dafür, daß es über diese von den Vereinten Nationen gebilligte Unterscheidung zu neuen Ergebnissen vorstoßen oder sie fördern wolle. Es läßt die Entwicklung sowohl nach der einen wie nach der anderen Richtung offen. Für die Zielsetzung des Grundgesetzes ist es aber bezeichnend, daß die Einordnung in jedes kollektive Sicherheitssystem nur zur Wahrung des Friedens erfolgen, nicht der Vorbereitung eines Angriffs dienen darf. Falls die Bundesrepublik aus freien Stücken einem System kollektiver Sicherheit zur Wahrung des Friedens beitritt und dieses System eine Beschränkung staatlicher Hoheitsrechte vorsieht, w i r d die Bundesrepublik i n eine solche Beschränkung einwilligen. Gedacht ist wohl vor allem an die Abrüstung, d. h. die Verringerung oder Beseitigung militärischer Vorbereitungen und Truppeneinheiten. Art. 24 GG ist als Ansatzpunkt für die innerstaatliche Sicherung des Friedens wohl die elastischste, aber auch die tiefgründigste. Sie birgt weittragende Möglichkeiten i n sich. Es kann aber auch sein, daß diese Chancen unentwickelt bleiben. Der Begriff der kollektiven Sicherheit ist ein Ergebnis eines von Machtpolitik absehenden Rechtsdenkens. Ob er i n der rauhen Welt von Machtblöcken lebensfähig ist, hängt von der Einstellung der ihn anwendenden Organe und Personen ab. Der Kampf um den Wehrbeitrag vor dem Bundesverfassungsgericht (1952) hat manche nützliche Überlegungen zu Art. 24 GG gebracht, aber doch den Vollgehalt des Artikels nicht ausschöpfen können. Die Schwierigkeit beruht wohl auch darin, daß die Beseitigung von militärischen Rüstungen, falls sie realisierbar ist, zu einer völlig neuen Ordnung i m Völkerleben führen muß. Die Durchsetzung von völkerrechtlichen Rechtsansprüchen könnte dann nicht mehr den einzelnen Staaten obliegen, sondern müßte i n die Hand überstaatlicher Machtträger gelegt werden. Der Aufbau einer internationalen Streitmacht als Vollstreckerin des Rechts wäre nur die eine Seite dieser grundlegenden Umstellung. Weit schwieriger ist es, das herausfordernde Ergebnis zu verarbeiten, daß zum Zwecke der Erhaltung des Friedens zum kriegerischen Einschreiten geschritten werden muß, und zwar mit Streitkräften, die nicht für die Anliegen des eigenen Staates zu streiten hätten. Eine weitere Schwierig-

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keit enthielte das Problem, wer über das Bestehen oder Nichtbestehen berechtigter Ansprüche zu entscheiden hätte, i n welche Hand also die Entschlüsse zu legen wären, die zu fassen sind, um dem Recht Geltung zu verschaffen, und wer sich dafür zur Verfügung stellt, falls eine Vollstreckung stattfinden muß. Das Grundgesetz läßt hierzu allen Entwicklungen Raum, ohne die notwendigen politischen Entscheidungen aus der Hand der Bundesorgane zu nehmen. Die Bundesrepublik wartet sozusagen zuversichtlich ab, ob über kollektive Sicherheitssysteme der Friede besser gewahrt werden kann als ohne sie, und sie stellt in Aussicht, daß sie sich auch hier allen mutigen und aussichtsreichen Bestrebungen um eine friedliche und dauerhafte Ordnung anschließen werde. IV. Dem Versuch einer knappen Übersicht über das Kriegsverhütungsrecht der Bundesrepublik sollen noch einige abschließende Bemerkungen angeschlossen werden. 1. Die Ächtung des Angriffskrieges und die Erlaubtheit der Verteidigung, das Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges und sonstiger friedensstörenden Handlungen sind unbestreitbar Inhalt der Rechtsordnung der Bundesrepublik, und zwar mit verfassungsrechtlicher Bindungswirkung. Grundsatzfixierung und Einzelregelung i m Grundgesetz lassen wenig zu wünschen übrig, soweit überhaupt innerstaatliches Recht kriegsverhütende Normierungen treffen kann. Eine weitere Regelung in Ausführungsgesetzen ist innerstaatlich nützlich, allerdings völkerrechtlich nicht geboten. Gegen die Kriegsverhütungsnormen, wie sie in der Bundesrepublik gelten, kann nicht der Vorwurf erhoben werden, das einzelstaatliche Recht zeige ein Zurückbleiben gegenüber den völkerrechtlichen Erfordernissen (vgl. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, I I I , S. 129 in bezug auf andere Staaten). Wenn es unabweisbar ist — und es ist in der Tat unabweisbar —, daß Staaten, die sich völkerrechtlich zur Einhaltung bestimmter Abmachungen verpflichtet haben, ihren Organen auch innerstaatlich die Befolgung der völkerrechtlichen Bindungen auferlegen, dann ist die Bundesrepublik dem in einer Weise nachgekommen, wie sie völkerrechtlich erwartet werden konnte und kann, sogar über das hinaus, was manche andere Staaten innerstaatlich unternommen haben. Ein Auseinanderklaffen zwischen völkerrechtlichen Verpflichtungen und innerstaatlicher Verwirklichung besteht danach nicht. Die Rechtsordnung der Bundesrepublik übertrifft dabei auch die Weimarer Verfassung (Art. 4 WV), die seinerzeit zwar die Transformierung von Völkerrecht in Reichsrecht bewirkt, aber die transformierten Rechtssätze nur dem einfachen Reichsrecht gleichgestellt, nicht überordnet und überdies durch das Erfordernis der „Anerkennung" ein einschränkendes Element i n die

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Verfassung gebracht hat. M i t den Art. 25 und 26 GG ist die Bundesrepublik i n die Reihe der Staaten getreten, die ihr innerstaatliches Recht i n höchstmöglicher Weise am Völkerrecht ausrichten. A n eine „gefährliche Unvollkommenheit" des innerstaatlichen Rechts i m Verhältnis zur völkerrechtlich gebotenen Kriegsverhütung kann man bei der Rechtsordnung der Bundesrepublik nicht denken. 2. Aus Art. 26 GG ergibt sich nicht deutlich, ob mit i h m auch an den Fall gedacht worden ist, daß ein Staat den Frieden zwischen anderen Staaten in der Weise verhindert oder verzögert, daß er die eine Seite oder sogar beide Seiten mit Kriegsmaterial unterstützt. Eine Friedens-,, Verhinderung" w i r d wohl als eine Friedens-„störung" verstanden werden müssen. Man kann den Frieden nicht nur stören, solange er noch besteht, sondern auch dann, wenn er nicht mehr besteht, aber wahrscheinlich bestehen würde, falls nicht sein Wiederzustandekommen gestört wird. Bei dieser Deutung würde auch die Hilfeleistung vom Friedensstörungsgebot des Art. 26 GG erfaßt werden. Freilich wachsen die Schwierigkeiten der richtigen Handhabung, wenn man bedenkt, daß es erlaubt sein muß, der angegriffenen Seite zu helfen, wie es erlaubt ist, einen Angriff abzuwehren. Die Notwendigkeit einer Abgrenzung von Angriff und Verteidigung taucht auch hier auf. Sie ist unausweichlich, wenn ein Verteidigungsbündnis abgeschlossen ist und ein Bündnispartner angegriffen ist. Eine Hilfeleistung w i r d hier sogar zur Pflicht. Ihr kann Art. 26 GG nicht entgegenstehen wollen. Es ist höchst fragwürdig, ob die Belieferung zweier miteinander kriegführender Staaten, also gleichzeitig beider Staaten, mit der Begründung gerechtfertigt werden kann, daß gerade dadurch ein Gleichgewicht der Abschreckung hergestellt und damit ein Stillstand der Kampfhandlungen erreicht werden kann. Eine generell gültige Lösung mag unmöglich sein. Zu beachten w i r d aber stets sein, daß A r t 26 GG gebietet, den i m konkreten Fall am meisten der Friedensförderung dienenden Entschluß zu fassen. 3. Ein Zurückbleiben anderer Staaten mit ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung hinter den völkerrechtlichen Erfordernissen, die sich aus der Kriegsächtung ergeben, w i r f t weitere Fragen von politischer und rechtlicher Tragweite auf. Zu erwägen ist etwa, ob Staaten, die in ihren Verfassungen oder Gesetzen die völkerrechtlichen Kriegsverhütungsgebote zu einem alle Staatsorgane und Bürger bindenden Recht erhoben haben, nicht i m rechtlichen Nachteil gegenüber anderen Staaten sind, die dies unterlassen. Solange der Verteidigungsfall nicht eingetreten ist, kann ein Nachteil für jenen Staat nicht bestehen, der es innerstaatlich allen zur Pflicht macht, friedensstörende Handlungen zu unterlassen. Wenn sich andere Staaten nicht i n gleicher Weise verhalten, dann liegt das nicht an der eigenen Verfassung oder Rechtsordnung, sondern an einem Verhalten der anderen, auf die der eigene Staat rechtlich ohnehin keinen

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Einfluß hat. Einer Gefahr von Seiten anderer Staaten ist jeder Staat ohne Rücksicht auf die Gestaltung seiner Rechtsordnung ausgesetzt. Ist aber der Verteidigungsfall eingetreten, so ist das verfassungsrechtliche Verbot friedensstörender Handlungen gegenüber dem Angreifer ohnehin überholt und gegenstandslos. Vom Genehmigungsvorbehalt der Kriegswaffenherstellung kann die Bundesregierung überdies den der jeweiligen Situation angepaßten Gebrauch machen. Die Frage, ob i m Wege von Gegenmaßnahmen auf das friedensstörende Verhalten anderer Staaten vom Kriegsverhütungsgebot des Grundgesetzes abgewichen werden darf, w i r d zu verneinen sein. Es wäre weder eine zulässige noch eine wirksame Repressalie oder Retorsion, wenn etwaigen friedensstörenden Handlungen anderer Staaten gleichsam zur Abwehr eigene friedensstörende Handlungen entgegengesetzt würden. Die Abwehr kann nur durch erlaubte Mittel erfolgen, die das Völkerrecht anbietet und das Grundgesetz nicht ausschließt. Verständlicherweise liegt es aber i m Interesse des eigenen Staates, darauf hinzuweisen, daß auch andere Staaten, insbesondere die Nachbarstaaten und die führenden Weltmächte, ihr innerstaatliches Recht am völkerrechtlichen Kriegsverhütungsgebot ausrichten. Dies kann ζ. B. durch den Abschluß von Verträgen, etwa Nichtangriffspakten oder Gewaltverzichtsverträgen, geschehen. Ungeachtet der völkerrechtlichen Kriegsächtung i m allgemeinen können daher auch heute Verträge dieses Inhalts von Bedeutung und von Nutzen sein. 4. Ein Verbot friedensstörender Akte durch innerstaatliches Recht ist noch keine aktive Friedensförderung. A k t i v kann der Friede vor allem durch präventive Beseitigung friedensgefährdender Situationen gefördert werden. Dieses Ziel anzustreben ist wohl weniger eine Aufgabe, die die Verfassung zu lösen vermag, als vielmehr ein Anliegen der Außenpolitik. Es w i r d sich jedenfalls überwiegend um Einzelaktionen der auswärtigen oder der innerstaatlichen Staatsgewalt handeln. I n Betracht kommt hier vor allem die M i t w i r k u n g bei der Entwicklungshilfe, beim sogenannten Friedensdienst einzelner i m Ausland tätigen Gruppen, bei den Maßnahmen zur Bekämpfung des Hungers in der Welt, bei der Rohstoff- und Energieversorgung durch gegenseitige Verständigung, bei der Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Der Gesetzgeber kann durch Spezialregelungen miteingreifen, beispielsweise durch Gestaltung des Wehrpflichtgesetzes, indem der Friedensdienst von Entwicklungshelfern als Ersatz für den Wehrdienst anerkannt wird. Schließlich öffnet sich für die Außenpolitik das Tor für alle Maßnahmen der „friedlichen Veränderung" (peaceful change), der Anpassung der Rechtssätze an die neuen Voraussetzungen aufgrund gegenseitiger Verständigung, bei denen freilich zu beachten ist, daß möglicherweise das Streben danach als eine Störung des status quo und von betroffenen Staaten selbst wieder als friedensgefährdend empfunden wird. Das kann

Die innerstaatliche Sicherung des äußeren Friedens

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zu dem seltsamen Ergebnis führen, daß Handlungen, die geeignet wären und zu dem Zweck unternommen werden, Kriegsursachen zu beseitigen, ihrerseits als Gefahr für das friedliche Zusammenleben der Völker und damit unter A r t . 26 GG fallend angesehen werden. Die Außenpolitik muß, da es hier um zwei sich widersprechende oder ausschließende Positionen gehen kann, die beide ein begrüßenswertes Ergebnis verheißen, eine vernünftige und gerechte Abwägung vornehmen und danach ihre Entscheidung treffen. Sie handelt damit auch i m Sinne der innerstaatlichen Sicherungen des äußeren Friedens, wie sie das Grundgesetz versteht.

Uber Volkesouveränität Von Yoshio Onishi, Kyoto I. Der Begriff der Souveränität ist zunächst ein politisch-ideologischer. M i t ihm ist gemeint, daß der moderne Monarch außer- und innerstaatlich die höchste und unbegrenzte Gewalt innehat. Der Begriff der Volkssouveränität w i r d angewendet, wenn das Volk die Herrschaft des absoluten Monarchen vernichtet und den modernen bürgerlichen Staat begründet hat. Auch der Begriff der Volkssouveränität ist politisch-ideologisch. Souveränität bedeutet die absolute staatliche Gewalt. Aber wenn das Wort i m Verfassungsgesetz vorkommt, muß Souveränität nicht mehr politisch-ideologisch, sondern rechtstheoretisch verstanden werden. Einige Verfassungen enthalten die Bestimmung, daß der König die Souveränität hat oder das Volk Subjekt der Souveränität ist. Die Japanische Verfassung vom 3. November 1948 enthält folgende Bestimmung: „Wir, das japanische Volk . . . erklären hiermit, daß die souveräne Gewalt beim Volk ruht und geben diese Verfassung" (Präambel) und: „Der K a i s e r . . . seine Stellung ist auf den Willen des japanischen Volkes gegründet, bei dem die souveräne Gewalt ruht." Die Weimarer Reichsverfassung hatte die Bestimmung: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus" (Art. 1). Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bestimmt: „ . . . hat das Deutsche Volk . . . kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen" und Art. 20 bestimmt: „ A l l e Gewalt geht vom Volke aus." I n der französischen Verfassung vom 4. Oktober 1958 heißt es: „Das französische Volk erklärt feierlich seine Verbundenheit m i t . . . den Grundsätzen der nationalen Souveränität..." (Präambel) und „Die nationale Souveränität liegt beim Volk, das sie durch seine Vertreter und durch Volksentscheid ausübt." Diese Bestimmungen werden nur verständlich, wenn man den Begriff Souveränität nicht politisch-ideologisch, sondern rechtstheoretisch versteht. Dabei ist die Souveränität des Königs einigermaßen leicht begreiflich, weil der König die gesamte und höchste Staatsgewalt innehat. I n der konstitutionellen Monarchie hat der König zwar nicht die aktuelle, wohl aber die rechtliche Gewalt. Er ist der höchste Gewalthaber. Daher bedeutet Souveränität die höchste staatliche Gewalt.

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Aber in den Staaten mit Volkssouveränität hat das Volk die Staatsgewalt nicht inne, geschweige, daß es i n sich die Staatsgewalt vereinigt. Das Volk hat normalerweise nur das Recht, die Abgeordneten oder den Staatspräsidenten zu wählen, allenfalls das Abstimmungsrecht i m Gesetzgebungsverfahren. Das Volk ist nicht i n dem Sinne souverän, wie es der Monarch ist. Das hat seinen Grund i n der Tatsache, daß der Monarch ein lebender Mensch ist, der m i t einem Willen ausgestattet ist. I m Gegensatz dazu ist das Volk eine Vielzahl von Menschen und hat keinen einheitlichen Willen. Als unorganisierte Menschenmasse kann sie nicht Subjekt der Staatsgewalt sein. So ist der Sinn des Wortes Souveränität i n Ansehung des Monarchen und des Volkes verschieden. II. I n der Monarchie, der absoluten wie der konstitutionellen, hat der Monarch die höchste Staatsgewalt inne; er vereinigt i n sich alle Rechte der Staatsgewalt, er hat das letzte Entscheidungsrecht i n den Staatsgeschäften. Das heißt der Begriff der Souveränität bezeichnet diejenige Position, der alle staatsrechtliche Gewaltübung zugerechnet wird. I n der alten japanischen Verfassung vereinigte der Kaiser (Tenno) i n sich alle Rechte der Staatsgewalt und darum wurde er als „Der Souverän" anerkannt. Zweifellos übte er diese Rechte nicht tyrannisch aus, aber rechtlich betrachtet hatte er das Recht, in allen Staatsgeschäften endgültig zu entscheiden. I n der japanischen Verfassung von 1948 vereinigt niemand in sich alle Rechte der Staatsgewalt, auch hat niemand das Recht, i n allen Staatsangelegenheiten endgültig zu entscheiden. Das Volk ist als souverän anerkannt (Präambel und § 1 der Verfassung), aber es hat nur das Recht, Abgeordnete zu wählen und der Volksabstimmung i n den Fällen des Rücktritts des Präsidenten des obersten Gerichts und der Verfassungsänderung. Die Gesetzgebung liegt beim Parlament, die Verwaltung bei der Regierung, die rechtsprechende Funktion bei den Gerichten. Die Verfassung folgt dem Gewaltenteilungsprinzip. I n den übrigen demokratischen Staaten hat das Volk oder die Nation weder die oberste Gewalt, noch die gesamte Staatsgewalt inne. Man könnte bürgerlich-ideologisch sagen, daß das Volk den Monarchen seiner Souveränität beraubt hat. Aber i n rechtstheoretischer Sicht kann die Souveränität des Volkes nicht ebenso verstanden werden wie die des Monarchen. Wie oben bereits dargelegt, ist das Volk eine Vielheit von Menschen, die nicht als Subjekt eines einheitlichen Willens handeln können. Die Angehörigen des Volkes, i m strengen Sinne, wandeln sich mit jedem Augenblick, weil i n einem großen Staat i n jedem Augenblick Menschen sterben und geboren werden. Die Volksangehörigen von heute sind nicht die gleichen wie die von morgen; nicht alle Volksangehörigen

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sind willens- und handlungsfähig. Das Frauenwahlrecht w i r d erst seit dem zweiten Weltkrieg i n vielen Staaten anerkannt i m Zuge der Bemühungen, den Begriff der Volkssouveränität neu zu gestalten. A m Anfang stand die Lehre von der Staatssouveränität. Sie entwickelte sich i m Zusammenhang mit der Theorie von der Hechtspersönlichkeit des Staates. Diese Lehre übernahm den auf den Monarchen bezogenen Souveränitätsbegriff. Laband ζ. B. definiert die Souveränität wie folgt: „Es ist unbestritten, daß es eine oberste und höchste Gewalt geben muß, die keiner anderen irdischen Gewalt unterworfen ist, die i n Wahrheit die potestas suprema ist. Das K r i t e r i u m der obersten höchsten Gewalt besteht darin, daß sie nur sich selbst bestimmt und von keiner anderen Gewalt rechtlich verpflichtende Vorschriften empfangen kann 1 . Zur Frage: wer ist souverän? sagt Laband: „Die juristische Persönlichkeit des Staates besteht darin, daß der Staat selbständige (eigene) Herrschaftsrechte behufs Durchführung seiner Aufgaben und Pflichten und einen selbständigen Herrschaftswillen hat 2 ." Diese Lehre vermeidet es, die Frage zu entscheiden, ob der Monarch oder das Volk souverän ist; sie rechnet die Souveränität einem Dritten, dem personifizierten Staat zu. Aber für den Souveränitätsbegriff Labands gilt das, was oben ausgeführt wurde: auf den Begriff der Volkssouveränität ist er nicht anwendbar. III. Diese Lehre von der Staatssouveränität ist i n folgerichtiger Entwicklung zur Lehre von der Rechtssouveränität gelangt. Ist doch die Staatsgewalt nichts anderes als die Befugnis der Staatsorgane und die Vollziehung der Staatsgewalt recht eigentlich die Entfaltung der Rechtsordnung. Daß der Staat souverän ist, bedeutet also, daß das Recht souverän ist. Das ist die Lehre von Krabbe. Kelsens Reine Rechtslehre, obgleich einer anderen Logik folgend, kommt zum gleichen Ergebnis. Bei Kelsen ist der Staat nichts anderes als die Rechtsordnung. Die Staatsrechtsordnung w i r d als ein geschlossenes Normensystem konstruiert. A n der Spitze dieses Systems steht die Grundnorm. Sie ist die höchste Norm, die nicht der Legalisierung durch eine höhere Norm bedarf. I n diesem Sinne ist die Grundnorm souverän. I n diesen Lehren w i r d die eigentliche Frage nach der Souveränität: wer ist souverän, der Monarch oder das Volk? vermieden. I m Staat der Volkssouveränität hat das Volk nur das Wahl- und Abstimmungsrecht. Das Parlament hat die gesetzgebende Gewalt und die 1 2

Laband, P.: Deutsches Reichsstaatsrecht, 7. Aufl., 1917, S. 18. a.a.O., S. 17.

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Aufsicht über die Verwaltung. Damit scheint die Ansicht zu Recht zu bestehen, daß das Volk die Gewalt durch seine Repräsentanten ausübt und deshalb souverän ist. Dagegen ist folgendes zu sagen. Erstens ist die Wählerschaft nicht das Volk selbst; die Jugend unter dem Wahlalter, selbst wenn sie politisch urteilsfähig ist, und i n einigen Staaten auch die Frauen, haben kein Wahlrecht. Zweitens muß Identität zwischen dem Volk und seinen Repräsentanten bestehen. Diese Identität soll durch die Wahl garantiert oder fingiert werden. Aber die Wahl vermittelt keine rechtliche Beziehung zwischen Volk und Mandat. Die Wahl ist rechtlich betrachtet eine Handlung, durch die bestimmte Personen an bestimmte Stellen der Staatsorganisation gesetzt werden; sie ist nichts anderes als eine Ernennung. Zwischen Volk und Abgeordneten ist keine Beziehung des Auftrages oder Mandats vorhanden. I m feudalistischen Ständerat war dessen Mitglied Vertreter des Wahlkreises und durch imperatives Mandat gebunden. Aber die Abgeordneten der modernen Parlamente sind nicht die Beauftragten oder Vertreter der Wähler. Sie sind auch nicht Vertreter des Volkes wie der Präsident einer Aktiengesellschaft diese vertritt. Die Handlung des Präsidenten w i r d rechtlich der Aktiengesellschaft zugerechnet, die Handlung des Abgeordneten aber, ζ. B. die Gesetzgebung, dem Staat und nicht dem Volk. M i t einem Wort: der Abgeordnete ist nur Geschäftsführer; er muß m i t der Sorgfaltspflicht des guten Verwalters für das Volk und seinen Namen handeln. So ist die Beziehung zwischen dem Abgeordneten und dem Volk die der Geschäftsführung ohne Auftrag. Damit ist der Satz, der Abgeordnete oder das Parlament seien Vertreter des Volkes, eine Allegorie oder eine politische Ideologie. Daher kann die Auffassung, welche die Volkssouveränität als Innehabung der höchsten Gewalt durch Volksvertreter verstehen w i l l , nicht aufrecht erhalten werden. IV. I m Staat der Volkssouveränität kann das Volk als Inhaber der Staatsgewalt nur verstanden werden, wenn man die Gewalt des Volkes nicht als die gewöhnliche (gesetzgebende, rechtsprechende Gewalt, Verwaltung), sondern als eine höhere versteht. Das ist die Auffassung von Carl Schmitt. Er unterscheidet die Verfassung vom Verfassungsgesetz. Die ordentlichen Gewalten wie Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung sind Befugnisse, die durch das Verfassungsgesetz verliehen werden. Oberhalb der Verfassungsgesetze steht die Verfassung. Die Verfassung ist die Entscheidung des Volkes. Das Volk als politische Einheit entscheidet über A r t und Form seiner politischen Existenz. Diese Entscheidung ist die verfassunggebende Gewalt. I m Staat m i t Volkssouve-

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ränität hat das Volk diese verfassunggebende Gewalt. Diese Gewalt bedarf nicht der Legalisierung durch eine höhere Autorität. Sie begründet und legitimiert die Verfassung und die Verfassung legalisiert das Verfassungsgesetz. Schmitts Lehre von der verfassunggebenden Gewalt entgeht der K r i tik, die an der Theorie vom Volk als dem Inhaber der höchsten oder absoluten Staatsgewalt geübt wird. Aber diese Lehre ist gewissen Zweifeln ausgesetzt. Zunächst: die verfassungsgebende Gewalt ist, nach Schmitt, eine politische Entscheidung. Der übliche Begriff der Verfassung ist, nach Schmitt, der des Verfassungsgesetzes. Die Verfassung gibt dem Verfassungsgesetz seine Rechtsverbindlichkeit. Der Geltungsgrund des Verfassungsgesetzes ist die Verfassung. Aber die Frage, wie die konkrete politische Entscheidung als eine Tatsache die Normativität des Verfassungsgesetzes hervorbringen kann, bleibt ungelöst. Sie ist ebenso schwierig wie Jellineks Lehre von der „normativen Kraft des Faktischen". Sodann setzt Schmitt das Volk als eine politische Einheit voraus. Die verfassunggebende K r a f t des Volkes erschafft die Verfassung und dann die Verfassungsgesetze; aber das Volk selbst, als das „formlos Formende" erschafft die politische Existenzform aus sich selbst. „Die verfassunggebende Gewalt betätigt sich durch den A k t der grundlegenden politischen Entscheidung . . . Sie bleibt der Möglichkeit nach immer vorhanden und steht neben und über jeder aus ihr abgeleiteten Verfassung und jeder i m Rahmen dieser Verfassung geltenden verfassungsgesetzlichen Bestimmung 3 ." Die verfassunggebende Gewalt ist eben nicht die rechtmäßig bestimmte Gewalt, nämlich die rechtliche Befugnis, sondern hat ihren Geltungsgrund i n der politischen Existenz des Volkes. Aber andererseits muß das Volk als Subjekt oder Träger der verfassunggebenden Gewalt, nämlich als politische Einheit, um eine politische Entscheidung zu treffen, notwendig einen politischen Willen haben und muß, u m diesen politischen Willen zu haben, selbstverständlich über irgendeine Organisation der Willensbildung verfügen. Die bloße, unorganisierte Masse kann nicht aktiv handeln. Schmitt erkennt selbst, daß Volk und Verfassung gleichzeitig bestehen. Er unterscheidet die dynastische von der demokratischen Legitimität. Er führt aus: „Die demokratische Legitimität beruht auf dem Gedanken, daß der Staat die politische Einheit eines Volkes ist. Subjekt jeder Definition des Staates ist das Volk. Staat ist der politische Status eines Volkes. A r t und Form der staatlichen Existenz werden nach dem Prinzip der demokratischen Legitimität durch den freien Willen des Volkes bestimmt 4 ." Wenn das Volk den Willen hat, über A r t und Form 3 4

Verfassungslehre, S. 91. a.a.O., S. 90.

20 Festschrift für Carl Schmitt

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seiner politischen Existenz zu entscheiden, dann w i r d das Volk eine politische Einheit. Gerade weil das Volk seinen eigenen Staat hat, kann es die verfassunggebende Gewalt ausüben. Volk und Staat stehen i n einem Wechselverhältnis. Deshalb ist es schwierig, das Volk als eine politische Einheit vorauszusetzen, die über die Verfassung entscheidet (verfassunggebende Gewalt). Schließlich ist es schwierig, daran festzuhalten, daß es das Volk selbst ist, das über A r t und Form der politischen Existenz und damit über die Verfassung entscheidet. Die Weimarer Reichsverfassung ζ. B. wurde von der Nationalversammlung geschaffen, genau gesprochen war sie das Produkt eines Vergleichs zwischen drei Parteien, der Sozialdemokratischen, der Demokratischen Partei und des Zentrums. Die Nationalversammlung war nicht die Vertreterin des Volkes als Ganzes und das Volk selbst entschied nicht über diese Verfassung. I m jetzigen 20. Jahrhundert ist das Volk nicht mehr, wie i m 19. Jahrhundert, eine homogene Gesellschaft. Es teilt sich i n pluralistische Klassen, unterschiedliche Interessen und einander widersprechende Weltanschauungen. Es ist als volonté générale nicht so homogen, wie Rousseau meinte. Es ist, als Typus gesehen, eine heterogene Gesellschaft, i n der unterschiedliche Verbände und Kräfte ihre Machtbereiche erweitern oder durch wechselseitige Kompromisse ihre Ziele erreichen. Alles Politische ist durchdrungen von diesen Prozessen. Insofern ist es nicht das Volk als politische Einheit, das über die Verfassung entscheidet. Aus diesen Erwägungen kann die folgende Konsequenz gezogen werden. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes besteht nicht aus tatsächlichen Handlungen oder der Gewalt des Volkes, das als willens- oder handlungsfähige Einheit vorausgesetzt werden könnte. Sie muß vielmehr als der Begriff verstanden werden, der es ermöglicht, die von einer Partei geschaffene Verfassung dem Volk als ganzem zuzurechnen. Andernfalls würde eine Verfassung, die lediglich unter der Führung einer Partei oder als Kompromiß von zwei oder drei Parteien entstanden wäre, nicht beanspruchen können, als Volksverfassung zu gelten. Das ordentliche Gesetz kann, auch wenn es unter der Führung einer Partei gemacht sein sollte, als objektives Gesetz verstanden werden, sobald es von der Hand des tatsächlichen Urhebers gelöst ist. Und zwar deshalb, weil das Gesetz nach Form und Inhalt gemäß den Bestimmungen der Verfassung verabschiedet w i r d : Die Legalität begründet die Geltung des Gesetzes. Aber hinsichtlich der Verfassung fehlt die höhere Norm, die ihre Geltung begründen würde. Deshalb kann das die Geltung der Verfassung begründende Element nicht die Legalität sein; es ist die Legitimität. Die Verfassung w i r d nicht als geltend anerkannt, weil sie von einer Partei geschaffen wurde und deren Willen ausdrückt, sondern weil sie i m Namen des Volkes und für das Volk geschaffen wurde. Anders ausge-

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drückt: die Legitimität der Verfassung bleibt beim Volk. Die verfassunggebende Gewalt ist der Begriff, der die Volks-Legitimität der Verfassung aufzeigt. Die verfassunggebende Gewalt meint also nicht eine sachliche Gewalt oder eine tatsächliche Entscheidung, sondern muß dahin verstanden werden, daß die Verfassung ihren Geltungsgrund i n der VolksLegitimität hat; sie ist damit der Begriff, der aufweist, daß die Verfassung dem Volke zugerechnet wird. V. Wenn die Volkssouveränität weder als höchste, letztentscheidende Staatsgewalt des Volkes noch als verfassunggebende Gewalt des Volkes verstanden werden kann, liegt es nahe, darauf zu verzichten, sie als aktive Gewalt zu verstehen und zu versuchen, sie als passive Funktion zu erklären. Das ist die Lehre von Maurice Hauriou. Hauriou erklärt die Souveränität des Volkes als die Macht des allgemeinen Volkswillens, welcher dem staatlichen Regierungsakt zustimmt. I m Volkssouveränitätsstaat haben nicht alle Staatsangehörigen direkten Anteil an der Herrschaftsgewalt. Diese w i r d vielmehr von einem beschränkten Personenkreis ausgeübt. Das Volk selbst regiert nicht, sondern es gehorcht der Staatsherrschaft. Es ist nur wesentlich, daß dieses Gehorchen seinen Grund i m Willen des Volkes hat. So w i r d die Volkssouveränität als der Wille definiert, der den Inhaber der Staatsgewalt mit Zustimmung des Volkes herrschen läßt. Die Volkssouveränität bedeutet die Herrschaft der volonté générale i n dem Sinne Rousseaus. Volonté générale ist der einstimmige und gemeinsame Wille des ganzen Volkes. Aber die volonté générale ist einer aktiven Handlung, ζ. B. eines Gesetzgebungsaktes, nicht fähig. Um Subjekt der volonté générale sein zu können, bedarf das Volk einer Organisation. Sobald es organisiert ist, entstehen Gegensatz und Kampf und der Wille muß zum spezifischen (spéciale) werden. Man sagt zwar, daß das Volk durch das Parlament als seinen Vertreter handelt, aber tatsächlich ist die Vertretung des souveränen Willens nur eine Fiktion. Das Parlament übt lediglich ein Geschäftsführungsrecht aus und entscheidet frei im Namen des Volkes. Rousseau verwechselte den allgemeinen Willen (volonté générale) mit dem gesetzgebenden Willen. Rousseaus volonté générale ist der Wille, der auf das Gesamtwohl des Volkes gerichtet ist; er unterscheidet sich von der volonté spéciale, die auf dem spezifischen Interesse jedes Individuums beruht und auch von der volonté des tous, welche die Summe aller volontés spéciales ist. I m Falle der Gesetzgebung w i r d der Gesetzeswille gewöhnlich durch die Methode des Majoritätsbeschlusses gebildet. Dabei 20*

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steht der spezifische Wille der Majorität dem spezifischen Willen der Minorität gegenüber und das Gesetz, das aus diesem Prozeß hervorgeht, ist eben der spezifische Wille der Majorität. Rousseau sucht diesen Umstand dahin zu erklären, daß die Minorität das Gemeinwohl des ganzen Volkes mißversteht. Aber diese Erklärung Rousseaus ist mit den Tatsachen unvereinbar und auch unvernünftig, denn i n der heutigen heterogenen Gesellschaft sind absolute Gegensätze der Interessen vorherrschend. Deshalb muß zwischen der gesetzgebenden Gewalt und der volonté générale unterschieden werden. Die volonté générale kann nicht als gesetzgebende Gewalt fungieren. Volonté générale ist der Wille zur Genehmigung oder volonté d'adhision, aber nicht volonté „d'action" 5 , das heißt der allgemeine Wille kann nicht als aktiver Handlungswille wirksam sein, sondern ausschließlich in der passiven Funktion der Genehmigung. Es ist die Souveränität als pouvoir de contrôle, nicht als pouvoir d'action 6 . Auch die staatliche Regierungsfunktion, die von Vertretern des Volkes ausgeübt wird, ist noch Gewalt, die vom Volk Gehorsam verlangt und erzwingt; i m Staat mit Volkssouveränität garantiert die Genehmigung des Volkes dieser Gewalt die Wirksamkeit ihrer Ausübung. Die Ausübung der Gewalt, die als ungerecht oder mit dem Gemeinwohl unvereinbar erkannt ist, kann durch die Reaktion des Volkes, die auf das wirkliche Gemeinwohl gerichtet ist, vereitelt oder beendet werden. Die Genehmigung der volonté générale des Volkes w i r d i n der öffentlichen Meinung sichtbar, die aufgrund der verfassungsmäßig garantierten Freiheit von Meinungsäußerung und Presse entsteht. Diese Lehre Haurious von der Volkssouveränität als einer passiven Funktion entgeht der K r i t i k , der die Lehre von der Volkssouveränität als aktiver Gewalt ausgesetzt ist. Kann aber die Realität der heutigen Gesellschaft durch Begriff der passiven Souveränität erklärt werden? Nach dieser Lehre w i r d die Ausübung öffentlicher Gewalt i n der Gesetzgebung, die zunächst dem spezifischen Willen der Majorität entspricht, allmählich durch die Souveränität der Genehmigungskraft der volonté générale des Volkes zum allgemeinen Willen assimiliert und absorbiert, mit der Folge, daß einzelne Gesetze ihre Geltung behalten, andere ihre Wirksamkeit verlieren und weitere ihren Inhalt gewohnheitsrechtlich verändern. Nun sind aber viele Gesetze das Produkt eines Gegensatzes und des Kampfes unterschiedlicher Mächte. Manchmal überwältigt die eine Macht die andere, zuweilen schließen die Mächte einen Vergleich. Solche Gesetze werden ohne Rücksicht auf den Willen einer Minorität durchgesetzt; die Genehmigung der volonté générale w i r d hier nicht wirksam; denn in einem solchen Falle kann eine Bekundung der volonté 5 6

Hauriou, M.: L a Souverainité Nationale, S. 38, 39. a.a.O., S. 38, 39.

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générale nicht zustande kommen. So ist die Lehre, daß die zum spezifischen Gesetzgebungswillen hinzutretende volonté générale dessen Macht i n Recht verwandle, optimistisch und abstrakt. Auch muß die Behauptung, daß alle Gesetze i m Staat m i t Volkssouveränität ihre Wirksamkeit von der Genehmigung durch die volonté générale empfangen, als unbeweisbarer und metaphysischer Dogmatismus abgelehnt werden. Deshalb muß der Versuch, die Bedeutung der Souveränität aus der Welt der Tatsachen zu bestimmen, aufgegeben werden. Damit bleibt nur der Versuch, sie i n der Welt der Idee zu suchen. VI. Um es noch einmal kurz zusammenzufassen: weder das Volk noch die verfassunggebende Gewalt, die die einzelnen Staatsgewalten konstituiert, hat jede Staatsgewalt und übt sie aus. Es geht darum, wie die verfassunggebende Gewalt legitimiert ist. Der eigentliche Urheber der Verfassung ist eine Partei oder eine Vereinigung von Parteien. Die Frage stellt sich, warum eine Verfassung, die eine Partei gibt, als Verfassung gilt. Das Recht geht nicht aus bloßer Macht hervor. Die Pflicht w i r d nicht vom Zwang geboren. Es sei denn, daß der Inhalt der Verfassung dem Gerechtigkeitsgefühl des Volkes entspricht. Eine sogenannte Verfassung ist nicht mehr als eine Proklamation, die keine Rechtsgeltung begründet. Was die Rechtsgeltung der Verfassung hervorbringt, ist weder die Grundnorm i m Sinne Kelsens noch die bloße Macht. Die Wirksamkeit der Verfassung w i r d durch die Tatsache garantiert, daß die Idee der Verfassung dem Gerechtigkeitsgefühl des Volkes entspricht. I n diesem Falle hat das Gerechtigkeitsgefühl des Volkes nicht einen bestimmten Inhalt, der jenseits von Zeit und Raum existiert, sondern kann je nach der geschichtlichen Situation und der völkischen Eigentümlichkeit verschieden sein. Weil die Verfassung diese geschichtliche und völkische Eigenart hat, hat sie Geltung und Wirksamkeit als Recht. Carl Schmitts Abhandlung „Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens" (1934) liefert einen bedeutenden Beitrag zu diesem Problem. Er klassifiziert das rechtswissenschaftliche Denken i n die drei Typen: Normativismus, Dezisionismus und konkretes Ordnungs- und Gestaltungsdenken. Normativismus meint das Recht als bloße Norm und deshalb auch ihren letzten Geltungsgrund als bloße Norm. Naturrechtslehre und Kelsens Reine Rechtslehre usw. gehören zu dieser Denkungsart. Demgegenüber versteht der Dezisionismus das Recht als Entscheidung des Gewalthabers und deshalb auch ihren letzten Geltungsgrund als Entscheidung des Gewalthabers. Er ist der Auffassung, daß „analytical jurisprudence" und seine eigene Vorstellung von der gesetzgebenden Gewalt dieser Denkungsart angehören.

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Das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken meint, wie ζ. B. das englische common law, daß das, was aus dem Leben des Volkes erwächst, damit auch den Charakter des Rechts erwirbt. Es ist das Recht, von dem ein bestimmtes Volk i n einer bestimmten Situation glaubt, daß es die richtige Regelung des Lebens darstellt. Carl Schmitt deutet selbst an, daß diese dritte Denkweise das richtige Rechtsdenken ist und daß seine Lehre von der verfassungsgebenden Gewalt einer Übergangsperiode zugeordnet ist. Diese dritte Denkart weist meines Erachtens i n die richtige Richtung. Das heißt: wenn sich das Gerechtigkeitsgefühl eines Volkes i n Übereinstimmung mit seiner Lage befindet, kommt Recht zustande. M i t anderen Worten: das Recht gewinnt Geltung, wenn es die Idee der Gerechtigkeit des Volkes i n sich trägt und diese Idee sich personifiziert und dadurch ins Bewußtsein tritt. Die Herrschaft des Papstes wurde durch seine Anerkennung als Stellvertreter Christi legitimiert; der Monarch durch „the divine right theorie of kings" oder die Theorien der Aufklärungszeit. Die Herrschaft des Papstes oder der Könige wurde von dem Gerechtigkeitsgefühl der damaligen Völker als mit der Gerechtigkeit i m Einklang anerkannt. Wenn die Herrschaft das Gerechtigkeitsgefühl nicht mehr befriedigte, errichtete die Revolution ein neues Gewaltsystem. Die Stellung des Japanischen Kaisers (Tenno) gibt eine Andeutung zu diesem Problem. Während etwa 1500 Jahren, vom Anfang bis zur Niederlage i m zweiten Weltkrieg, hielt das Volk den Tenno für den Souverän. Die Zeit aber, i n welcher der Tenno die oberste Staatsgewalt innehatte und ausübte, war kurz. I n der überwiegenden Zeit der japanischen Geschichte wechselten unterschiedliche Machthaber einander ab: mächtige Familien und feudale Fürsten übten i m Wechsel die Staatsgewalt aus. Immer aber bedurfte die Familie oder der feudale Fürst notwendig der Sanktion des Kaisers; ohne sie wurden sie nicht als legitime Herrscher anerkannt. Diese durch die ganze Zeit hindurch unverändert gebliebene Stellung des Tenno war nicht die eines Gewalthabers, sondern gerade die der Autorität, welche die Macht als die Staatsgewalt legitimiert. Jeder Gewalthaber erlangte die Rechtfertigung durch die Sanktion des Tenno. Das heißt der Tenno war der Grund für die Legitimierung der Gewalt. I n der Meija-Restauration (1867) machten die Reformer die Selbstherrschaft des Tenno zur Parole. Aber es war i n Wahrheit die Vereinigung der feudalen Kräfte, welche die Fürsten entmachtete. So hatte die Restauration die Herrschaft dieser Kräfte zur Folge. Dagegen erhob sich das verratene Gerechtigkeitsgefühl des Volkes und erzwang die Schaffung eines Parlaments und die Verfassunggebung. So entstand die konstitutionell-monarchische Verfassung nach preußischem Vorbild i m Jahre 1887. Nach dieser Verfassung war der Tenno Souverän, aber er „reigns but not governs".

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Diese Geschichte zeigt, daß der Tenno nicht Gewalthaber war, sondern die Autorität besaß, welche die Gewalthaber zum rechtmäßigen Gebrauch der Staatsgewalt legitimierte. Der Tenno war die Personifikation der Autorität, welche die Gewalt legitimiert. Diese Stellung des Tenno wurde aus seinem Ursprung abgeleitet, welcher zu den Göttern zurückführt, die den japanischen Staat gegründet haben. W i r müssen uns der Tatsache erinnern, daß es immer die Stellung des Tenno war, die man benutzte, wenn es sich darum handelte, einen Machthaber zu entmachten, der seine Macht mißbrauchte. Diese Stellung des Tenno beruht auf der Besonderheit der japanischen Geschichte und der japanischen Mentalität. Aber diese Besonderheit ist kein bloßer Sonderfall. Es gibt den Fall, daß die Allgemeinheit i n die Besonderheit eingeschlossen ist. Ich bin nicht der Ansicht, den Begriff der Souveränität durch eine gewisse Verallgemeinerung der spezifischen Stellung des Tenno bestimmen zu können. Aber man darf diese Besonderheit nicht als eine spezifisch japanische Eigentümlichkeit betrachten, sondern sollte sie als Material bei der Bestimmung des Souveränitätsbegriffs heranziehen. VII. Der Staat der Volkssouveränität ging aus einer Revolution hervor, welche die monarchische Souveränität des absolut-monarchischen Staates vernichtete. Dies geschah, weil man glaubte, daß die absolute Herrschaft des Monarchen gegen das Gemeinwohl des Volkes verstoße und weil man den souveränen Monarchen als Verkörperung der Idee der Gerechtigkeit nicht mehr anerkannte. Man war vielmehr der Auffassung, daß das Wohl des ganzen Volkes i m Staat mit Volkssouveränität garantiert sei. Rousseau schreibt, daß die volonté générale immer gerecht ist und nie irrt. Er meint also, daß die volonté générale die Idee der Gerechtigkeit immer für sich hat. Volkssouveränität ist nichts anderes als die Personifikation der Idee der Gerechtigkeit. I n Wirklichkeit ist es das Parlament, welches das Volk vertritt, oder genauer die Mehrheitspartei, welche die Gesetze macht und herrscht. Aber ihre Gewalt w i r d legitimiert, weil allgemein anerkannt ist, daß sie sie um des Volkes willen und als Vertreterin des Volkes gebraucht. Wenn aber eine bestimmte Partei i m eigenen Namen herrscht, kann ihre Gewaltausübung nie legitim sein. Das ist nur der Fall, wenn sie i m Namen des Volkes herrscht. Das Volk leiht in Wahrheit zur Herrschaft nicht mehr als seinen Namen. Das Volk hat nämlich die Autorität, Herrschaft zu legitimieren. Daß das Volk Autorität hat bedeutet, daß die Selbstherrschaft des Volkes als Methode zur Verwirklichung der Gerechtigkeit anerkannt wird. M i t anderen Worten: die Volksherrschaft ist die Idee des Rechtes, die Gewalt zu legitimieren.

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Yoshio Onishi

Aber die Idee ist anders als das Ideal, da sie nur unvollkommen verwirklicht wird, der Stern, der die Wirklichkeit leitet. I n dieser Bedeutung existiert die Idee über der Wirklichkeit, indem sie durch die Wirklichkeit fundiert wird. Daß die Idee der Volkssouveränität durch die Wirklichkeit fundiert wird, erfordert Einrichtungen, welche einer möglichst weiten Mehrheit des Volkes Einfluß auf die Regierung geben. Die Nationalversammlung, das Parlament, das Wahlrecht der Abgeordneten und direktdemokratische Einrichtungen (ζ. B. Volksinitiative, Volksentscheid, Referendum etc.) fundieren die Idee der Volkssouveränität, die ohne diese Institutionen nicht bestehen kann.

Das römische Gesetz als A k t des Magistrats* Von Alvaro d'Ors, Universität von Navarra, Pamplona I. Schlagwörter, die i m modernen Verfassungsrecht dominieren, trüben zuweilen den Blick des Historikers für vergangene politische Realitäten. Das ist meiner Ansicht nach dort der Fall, wo die Gesetzgebungskompetenz den altrömischen Volksversammlungen (comitia, concilia) zugeschrieben wird 1 . Das B i l d des gewaltenteilenden Staates überlagert eine andersartige Wirklichkeit, die mit den Maßstäben des modernen Verfassungsrechts nicht sachgemäß zu erfassen ist 2 . I n diesem bescheidenen Beitrag zur Ehrung des großen Meisters des Jus Publicum Europaeum w i l l ich zeigen, daß die Gesetzgebungskompetenz i n Rom dem Magistrat zugeschrieben werden muß, unbeschadet einer gewissen M i t w i r k u n g der Volksversammlung in bestimmten Abschnitten der römischen Geschichte. II. Daß die Lex i m ursprünglichen Sinn ein A k t imperativer Gewalt ist, steht unbestreitbar fest. Gleichviel welcher Etymologie man folgt 3 : stets ist die Lex die imperative Erklärung eines Gewalthabers, die von den zur Befolgung Verpflichteten akzeptiert wird 4 . Die ältesten uns bekannten * L a Lex Romana Acto del Magistrado. Die Gewohnheit, die Gesetzgebung zu den Funktionen der K o m i t i e n zu rechnen, ist so tief eingewurzelt, daß sogar diejenigen Autoren bei i h r v e r bleiben, die an sich anerkennen, daß die K o m i t i e n dem W i l l e n des Magistrats unterworfen waren, z. B. F. De Martino: Storia della constituzione romana I, 2. Aufl. (1958), S. 405. 2 Es handelt sich u m einen ähnlichen Sachverhalt w i e bei E. W. Böckenförde: Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung i m 19. Jahrhundert (1961). 3 Vgl. die verschiedenen Versuche bei Walde-Hofmann: Latein, etym. W ö r terb., s. v. lex. Die Abteilung von legere („possible, mais non évidente" nach Ernout-Meillet: Diet, étym., s. v. lex) scheint m i r am wahrscheinlichsten, vgl. meinen Vortrag Las declaraciones juridicas en derecho romano, i n Anuario de Hist, del Der. Espanol, 1964, S. 570 ff. De Francisci, Primordia civitatis (1959), S. 578, neigt zur Annahme einer Verwandtschaft m i t einer Wurzel, die „setzen" oder „anordnen" bedeutet. 4 Mommsen: Staatsr. I I I 1, S. 311; U. Coli: Regnum, i n Stud, et Doc. Hist, et Iuris, 1951, S. 111 ff.; De Martino: Storia (oben Anm. 1) I, 2. Aufl., S. 241 f. Über den kasuistischen Grundzug der archaischen lex: Käser: Das altrömische ius (1949), S. 578. Nach P. Frezza: Preistoria e storia della „lex publica" i n 1

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römischen Gesetze, die leges regiae, waren Anordnungen der Könige, hauptsächlich auf dem Gebiet des Sakralrechts. Wenn ihre Existenz bezweifelt worden ist, weil man sich Volksabstimmungen in so weit zurückliegender Zeit nicht vorstellen konnte, so beruht das auf einer verfehlten Perspektive, die an dieser Stelle berichtigt werden soll. Natürlich hatten die alten Kuriatkomitien, die zur Zeit der Könige allein existierten, keine beschließende Funktion, sondern beschränkten sich auf die Entgegennahme der vom König erlassenen Erklärungen. Das hindert aber in keiner Weise, daß diese Erklärungen echte leges waren 5 . Bei einzelnen feierlichen Akten, wie der adrogatio (zwecks Adoption einer Person sui iuris) oder dem völlig analogen testamentum calatis comitiis, hatte die M i t w i r k u n g der Kurien lediglich rechtsbezeugenden Charakter 6 . Wenn in geschichtlicher Zeit die Kurien durch 30 Liktoren ersetzt wurden, so w i r d dadurch das Volk nicht einer Kompetenz enthoben, sondern ihm nur die Unbequemlichkeit eines alten Rituals erspart. Zur Bezeugung eines feierlichen Aktes bedurfte es, unbeschadet seiner Wichtigkeit, nicht mehr der Anwesenheit des ganzen Volkes, sondern nur noch derjenigen einiger weniger Zeugen. I n dieser symbolischen Form der 30 Liktoren stoßen w i r auf die Markscheide zwischen der Bezeugung durch das Volk, wie sie für öffentliche Akte erforderlich war, und der Bezeugung durch eine begrenzte Anzahl von Zeugen, wie sie für private Rechtshandlungen genügte — i m Grunde die Grenzlinie zwischen öffentlichem und privatem Recht im ältesten Sinne dieser Unterscheidung 7 . Der Begriff der lex erleidet keine Spaltung durch die Unterscheidung i n lex publica und lex privata. Auch die letztere stellt sich dar als „einseitige" Erklärung einer Person, die als dominus oder Eigentümer Macht hat, Anordnungen zu treffen, als lex rei suae dicta. Diese leges privatae sind als Bedingungen eines privaten Rechtsgeschäfts von der einen Partei gesetzt und von der anderen angenommen 8 . Archives de Droit Privé (Athen) 16 (1953 = i n hon. F. Pringsheim), S. 54-76, w a r die Unterwerfung unter das Gesetz ursprünglich i n einem Eid formalisiert, dessen Verletzung die sacratio nach sich zog; i n späterer Zeit sei an Stelle der Sanktion des ius sacrum eine weltliche getreten; diese Entstehung sei Gesetzen u n d Plebisziten (leges sacratae) gemeinsam. 5 Dazu Coli, a.a.O. (Anm. 4). • Die rogatio der Arrogation w a r der legislativen sehr ähnlich, und man k a n n unbedenklich sagen, daß auch sie ein Gesetz darstellt (Käser: Das römische Privatrecht I, S. 58), aber das schließt die rechtsbezeugende F u n k t i o n nicht aus, da j a auch das Gesetz keine Abstimmung voraussetzt. Auch die Zeugen müssen rogati sein, und die Ablehnung des Gesetzes ist i m Grunde nicht sehr verschieden von der Weigerung, einen A k t zu bezeugen. 7 Hierzu meine Relektion De la „privata l e x " al derecho privado y al derecho civil, i n (Boletim da Faculdade de Direito de Coimbra, 1949 = ) Papeles del oficio universitario (1961), S. 243—263. 8 I n gewissem Sinn „öffentlich" sind auch die leges censoriae, obwohl hier die K o m i t i e n nicht m i t w i r k e n , diese leges vielmehr von den Zensoren bei der Verpachtung des i n öffentlichem Eigentum stehenden Landes an Private er-

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III. Wenn man in diesem Sinne von „einseitigem" Gesetz spricht, ist das freilich nicht erschöpfend. Immer bedarf es einer Annahme, womit die Handlung doch als vertragsmäßige erscheint. Sicher ist aber, daß die Stellung der beiden Mitwirkenden eine ungleiche ist: der eine diktiert, der andere akzeptiert. Diese Erläuterung ist zum Verständnis der geschichtlichen Entwicklung nötig. Obwohl man den originären Charakter der lex, der lex publica, anerkennt, nimmt man an, daß sich diese vom Magistrat auferlegte lex data i n einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt zu einer lex umformt, die zunächst nur „rogata" ist, nämlich vom Magistrat, und erst durch die Volksversammlung zur lex wird 9 . Man spricht alsdann von gesetzgebender Gewalt der Komitien und beschränkt die M i t w i r k u n g des Magistrats auf die Einbringung einer Vorlage 10 . Obwohl anerkanntermaßen nur der Magistrat solche Vorlagen einbringen konnte und niemand i n Rom je darauf verfiel, daß die Initiative von der Volksversammlung, letztlich von jedem Bürger, ausgehen könnte, blieb — so sagt man — die Vorlage doch bloßer Antrag — rogatio — an das Volk, das allein befugt war, die Vorlage entweder zum Gesetz zu erheben oder scheitern zu lassen. Hiernach gäbe es einen klaren Bruch i n der Geschichte der lex data. Die libera res publica wäre diejenige der lex rogata. Das alte „unilaterale" Gesetz des Magistrats wäre dem „bilateralen" Gesetz des Volkes gewichen. I m Zusammenhang mit dieser Zweiseitigkeit der lex rogata begegnet der Vergleich mit der Stipulation des Privatrechts, die aus Frage — stipulatio — und Antwort — promissio — besteht 11 . Der Verlassen werden. A u f der anderen Seite sind die leges dictae der kaiserlichen Vermögensverwaltung entgegen dem Anschein Gesetze eines privaten Eigentümers, die n u r infolge der hohen Stellung des Princeps i n den Rang des öffentlichen erhoben sind. 9 I n diesem Sinne unterscheiden Mommsen: Staatsr. I I I 1, S. 310 ff. u n d andere i h m folgende Autoren zwischen leges datae u n d leges rogatae, aber der Ausdruck lex data begründet keine besondere Gattung innerhalb des Gesetzesbegriffs, wie G. Tibiletti: Sulle „leges" romanae, i n Studi De Francisci 4, S. 595—645, gezeigt hat; vgl. auch s. v. lex i n Dizionario epigr. De Ruggiero 4 (1957); zustimmend V. Arangio Ruiz: Storia del d i r i t t o romano, 2. Aufl., S. 418 Anm. m. Dagegen unterscheidet De Francisci: Per la storia dei „comitia centuriata", Studi Arangio Ruiz 1, S. 17 f., und Primordia civitatis, S. 578, die alten leges datae von den neuen leges rogatae. Das sind i n Wahrheit n u r konventionelle Unterscheidungen, denn dieselben Gesetze erscheinen ohne U n t e r schied als latae, datae u n d rogatae. Die Stelle bei Varrò, L. L. 6, 66, leges . . . ad populum latae quas observet, worauf sich De Francisci stützt, kann ebenso gut auf eine lex rogata bezogen werden. 10 So z.B. Coli (oben A n m . 4), S. 112 Anm. 74: „ i l magistrato si l i m i t a a presentare la legge al popolo; non è l u i a legiferare". Natürlich ist „legiferare" hier etwas ganz anderes als „legem ferre", was immer n u r vom Magistrat gesagt w i r d . 11 Mommsen: Staatsr. I I I 1, S. 303 f.; Arangio Ruiz (oben A n m . 9), S. 90; Nocera: I l potere dei comizi e i suoi l i m i t i (1940), S. 25, der von „cooperazione

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gleich ist zutreffend 12 , scheint mir aber gerade das Gegenteil der üblichen Auffassung der lex rogata zu beweisen, ja darüber hinaus, daß die rogatio wie die stipulatio einer Situation der Überlegenheit entspringt und viel mehr ist als eine bloße Bitte. Denn die stipulatio ist zwar vertragsmäßig, nicht aber zweiseitig i m Sinne einer Gleichheit der Vertragschließenden, vielmehr ein typischer A k t des Gläubigers, also desjenigen, der stipuliert. Zum Unterschied von echten vertragsmäßigen Akten, die zweiseitige Verpflichtungen auf der Grundlage der bona fides der Vertragspartner erzeugen, besteht die stipulatio einerseits aus einem A k t , der Ausdruck der Überlegenheit des Gläubigers ist, anderseits aus dem A k t der Unterwerfung, einer Anschlußerklärung, der promissio dessen, der zum Schuldner wird. Die stipulatio w i r d unverständlich, wenn man außer acht läßt, daß sie ein nicht auf Gleichheit beruhendes Geschäft ist. Auch ihre Wirkungen sind nicht gegenseitiger Art. Der Stipulant w i r d reiner Gläubiger und erhält eine actio iuris stricti, der Promittent w i r d reiner Schuldner und stellt sich dem Angriff jener actio dar. Obwohl die stipulatio als abstraktes Geschäft erscheint und die causa 13 der durch sie geschaffenen Verpflichtung weder i n der Form der stipulatio selbst noch i n der durch sie begründeten Klageformel hervortritt, ist nicht zu verkennen, daß die causa vorhanden und eine gerade durch vorgängige Unterwerfung des Schuldners begründete Beziehung ist. Mag äußerlich beim A k t der stipulatio der Promittent frei erscheinen, sich zu unterwerfen oder nicht, also dem Stipulanten mit einem Versprechen zu antworten oder nicht — die Wirklichkeit ist, daß er sich wie ein Schuldner benimmt, der sich bereits unterworfen hat. Das ist der Grund, warum er anwesend ist. Auch wenn der Promittent dem Gläubiger rechtlich noch nicht selbst verpflichtet ist paritetica" spricht. Der Vergleich m i t der Stipulation stammt schon von Papinian (wenn man annimmt, daß D. 1, 3, 1 von i h m herrührt), der das Gesetz als sponsio communis der res publica definiert; doch scheint es sich an dieser Stelle u m einen philosophischen Gesetzesbegriff zu handeln, ebenso wie i n der anschließenden (D. 1, 3, 2) Marcians, wo Demosthenes u n d Chrysipp ausdrücklich zitiert sind. Über die Fehlübersetzung von Nomos durch Lex : meine Einführung zur Ausgabe von Ciceros De legibus, Inst, de Estudios Politicos, M a d r i d 1953, S. 30 ff. 12 Weniger glücklich scheint m i r dagegen der Gedanke Colis (oben Anm. 4), S. 113, daß das Gesetz stets einseitig sei und es einer Annahme durch den i h m Unterworfenen nicht bedürfe: das Volk der Republik habe sich i n Freiheit selbst Grenzen gezogen, während die Könige der älteren Zeit ihren Untertanen Gesetze gegeben hätten, die der Annahme durch die Untertanen nicht bedurften. Vgl. oben A n m . 6. Nach Coli ändert die M i t w i r k u n g des Magistrats nichts daran, daß das Gesetz ein einseitiger A k t des Volkswillens ist, da diese M i t w i r k u n g lediglich Erfordernis dafür sei, daß der Volkswille sich äußern könne. 13 Über den Begriff der „causa": meine Relectio i n Festschrift für Carl Schmitt (1959), S. 145—157.

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und aus freiem Entschluß als neuer Schuldner eintritt, setzt sein Erscheinen vor dem Stipulanten, der die Frage an ihn richtet, die vorgängige Eingehung einer Bindung voraus, die nun förmlich begründet wird. So ist es auch bei dem typischsten, originärsten Promittenten, dem Bürgen (in der ältesten Form: sponsor). Sein Erscheinen vor dem Gläubiger ist unerklärlich ohne vorherige Bindung, die in der persönlichen Gewährübernahme besteht. M i t anderen Worten: der Stipulant stellt seine Frage nicht ins Ungewisse, u m zu sehen, ob sein Gegenüber versprechen w i l l oder nicht, sondern er weiß voraus, daß sich der andere als Schuldner ihm unterwerfen will, sei es zur förmlichen Begründung, sei es zur persönlichen Absicherung einer vorgängigen Verpflichtung. Die Stipulation, eine Handlung des Gläubigers, ist eine Form feierlicher Bekräftigung von Verpflichtungen, nicht ein Vertrag. Das w i r d noch klarer bei stipulatorischen Versprechen, die zwar äußerlich als frei erscheinen, i n Wahrheit aber durch die Zwangsgewalt eines Magistrats auferlegt sind — gewöhnlich unter dem Druck angedrohter Vermögensbeschlagnahme, falls das Versprechen verweigert w i r d —, den stipulationes praetoriae. IV. Der Vergleich der rogatio des Gesetzgebungsverfahrens mit der privatrechtlichen stipulatio zeigt also, daß die Überordnung eines Teiles über den anderen beiden gemeinsam ist. Doch wie schon angemerkt: das wäre für sich allein überspitzt. Wohl liegt, wie w i r sehen, bei der stipulatio eine vorgängige Unterwerfung dessen vor, der antwortet, und kommt ein Nein nicht in Betracht. Bei der rogatio des Magistrats begegnet eine vorgängige Unterwerfung allgemeiner Art, i m Hinblick auf die verfassungsmäßige Überordnung des Magistrats und seinen Vorsitz i n der Versammlung. Doch kann die Antwort der Abstimmenden, nachdem einmal eine wirkliche Abstimmung zugelassen ist, durchaus auch negativ sein. Zwar kann der abstimmende Bürger den Gesetzestext der rogatio i n keiner Weise ändern. Er kann aber seine Zustimmung verweigern, und wenn das die Mehrheit tut, ist das Gesetzgebungsvorhaben des Magistrats gescheitert. Die Frage des Magistrats fordert zur Abstimmung auf, mit den feierlichen Worten: velitis iubeatis haec ita ut d i x i ita vos, Quirites, rogo. Die Bürger können Ja (uti rogas) sagen, aber auch, daß sie es beim alten lassen wollen (antiquo), und damit die Gesetzesvorlage ablehnen. Der imperative Charakter der rogatio liegt also nicht, wie bei der stipulatio, darin, daß eine bejahende Antwort gefordert wird, sondern darin, daß überhaupt eine Antwort gefordert wird, Ja oder Nein. Das ist keine bloße Bitte, die man auch unbeachtet lassen könnte. Der Antwortende kann für die eine oder die andere Alternative optieren; gleichwohl ist die rogatio i n stren-

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g e r e m S i n n Imperativisch als die s t i p u l a t i o ; sie r u f t noch z w i n g e n d e r z u r E n t s c h e i d u n g auf, als die s t i p u l a t i o d e n P r o m i t t e n t e n n ö t i g t , d e r d e m Stipulanten gegenübertritt. D i e r o g a t i o der i n a b s t i m m e n d e n K o m i t i e n beschlossenen Gesetze ist n i c h t a r t v e r s c h i e d e n v o n der r o g a t i o der alten, n i c h t a b s t i m m e n d e n K u r i a t k o m i t i e n 1 4 . D i e F o r m e l w a r dieselbe. Das W o r t rogare erscheint v e r w a n d t m i t r e g e r e 1 5 ; es ist d a h e r n u r n a t ü r l i c h , w e n n es h e i ß t : r e x rogat. Rogare h e i ß t i m e i g e n t l i c h e n S i n n : eine E r k l ä r u n g u n m i t t e l b a r a n j e m a n d e n „ d i r i g i e r e n " ; erst s e k u n d ä r h e i ß t es: eine F r a g e an j e m a n d e n richten, w i e es auch der S t i p u l a n t t u t : r o g a v i t T i t i u s , s p o p o n d i t M a e v i u s . So stößt m a n i n W e n d u n g e n w i e rogare s a c r a m e n t u m , w a s E i n t r i t t i n s H e e r b e d e u t e t 1 6 , a u f e i n u n b e d i n g t i m p e r a t i v e s rogare, das k e i n e A l t e r n a t i v e zuläßt. So k a n n rogare dieselbe B e d e u t u n g h a b e n w i e f o r d e r n , w e n n es auch i n a n d e r e m Z u s a m m e n h a n g i n v i e l schwächerer B e d e u t u n g a u f t r i t t , n ä m l i c h als b i t t e n oder einfach f r a g e n 1 7 . D e m v o n G r u n d auf i m p e r a t i v e n S i n n v o n rogare e n t s p r i c h t auch das B i l d des A k t e s d e r B i l l i g u n g d u r c h das V o l k : sciscere 1 8 . Dieses i n c h o a t i v e V e r b h e i ß t zunächst: sich i n f o r m i e r e n , a l s d a n n a b s t i m m e n u n d beschließen. A u c h dieses V e r b d r ü c k t aus, daß die F u n k t i o n des V o l k e s i n der Hauptsache r e z e p t i v ist, i m Gegensatz z u m a k t i v e n rogare des M a g i s t r a t s . 14

Daß die ursprünglichen K u r i e n w o h l über die Arrogation, nicht aber über die Gesetze beschlossen hätten (so De Francisci: Studi Arangio Ruiz 1, S. 18 ff.), scheint m i r unvereinbar; vgl. oben Anm. 6. Das Wort rogatio zwingt nicht zu dieser Annahme. 15 Ernout-Meillet: Diet. étym. s. ν. rogo. 18 Wenn ζ. Β. Caesar , Β. G. 6, 1, den Pompejus Mannschaften ausheben läßt, setzt dieser Ausdruck sacramentum rogare voraus, daß die Männer schon bereit waren, i n den Heeresdienst einzutreten, u n d eine solche rogatio brauchte nicht m i t einer negativen A n t w o r t zu rechnen. Vgl. Livius, 32, 26, 11: obvios i n agris sacramento rogatos arma capere et sequi cogebat; 40, 26, 7: imperatum est u t omnes minores quinquaginta annis sacramento rogaret. 17 Festus s. v. rogat (ed. Lindsay, S. 356) : est consulit populum vel petit ab eo ut i d sciscat quod ferat: unde nos quoque i n consuetudine habemus pro petere et orare. I m juristischen Sprachgebrauch spricht man von rogare commodatum = bitten, etwas als Leihe zu geben, woher Ciceros Ausspruch, Verr. I I , 4, 6, 12: malo emere quam rogare. Dagegen scheint m i r der Ausdruck rogare sententias, bezogen auf den Vorsitzenden des Senats (vgl. Guarino : Storia, S. 202), nicht ausreichend bezeugt. Das Senatskonsult ist sehr w o h l ein A k t des Senats, dessen iussum sich nicht, wie bei den Komitien, auf eine rogatio bezieht, sondern auf das künftige Vorgehen des Magistrats, zu dem der Senat ermächtigt, z. B. zu den Maßnahmen des Ausnahmezustandes, wenn es sich u m ein senatus consultum u l t i m u m handelt. 18 Der Ausdruck w i r d spezieller f ü r das plebis scitum gebraucht, aber wenn Cicero, Pro Flacc. 15, zu unterscheiden scheint zwischen quae scisceret plebs u n d quae populus iuberet, handelt es sich mehr u m eine rhetorische Abwechsl u n g als u m eine technische Unterscheidung; vgl. Phi. I 10, 26: consules populum iure rogaverunt populusque iure seivit, usw. Nach Siber, Römisches Verfassungsrecht (1952), S. 126, hat es eine Unterscheidung zwischen scitum u n d iussum gegeben, die aber später durch die exaequatio der Plebiszite und Gesetze verwischt worden ist.

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Schließlich heißt rogatio auch der Text des angenommenen Gesetzes selbst, der anordnende Teil zwischen einleitender praescriptio und beschließender sanctio. Damit fallen rogatio und lex zusammen, woher die Wendung: hac lege rogatur. Wenn das Gesetz i n der sanctio selbst einem etwaigen Einbruch i n das überlieferte Hecht entgegentritt, nämlich i n den bekannten Klauseln si quid sacri sancti est quod non iure sit rogatum eius hac lege nihilum rogatur, und si quid ius non esset rogarier hac lege nihilum rogatum, beziehen sich diese Schranken nicht auf eine legislative Gewalt des Volkes, bei dem von rogare keine Rede ist, sondern auf diejenige des Magistrats. V. Nun erscheint aber das Gesetz auch als iussum populi. Wie ist das mit der Deutung des Gesetzes als Aktes des Magistrats vereinbar? Erinnern w i r uns der Definition des Gesetzes bei Capito (Aulus Gellius, Noctes Atticae 10, 20, 2): generale iussum populi aut plebis rogante magistrate Anderthalb Jahrhundert später entfällt die Erwähnung des Magistrats i n der Definition des Gajus (Inst. 1, 3): lex est quod populus iubet atque constituit; plebiscitum est quod plebs iubet atque constituit. Wenn zur Zeit Capitos die Komitien angesichts der überragenden Macht des Princeps schon verstummt waren, so sind sie bei Gajus nur noch historische Erinnerung. Man kann jedoch feststellen, daß i m Maße, i n dem die Erinnerung an die Komitien schwindet, ihre ideale Bedeutung als legislatives Organ steigt. Ein Nachklassiker, vermutlich zu Ende des 4. Jahrhunderts, spekuliert schon: leges nulla alia ex causa nos teneant quam quod iudicio populi receptae s u n t . . . 1 9 , und noch später bezeichnet der hl. Isidor Gesetze und Plebiszite als constitutiones der entsprechenden Versammlungen: lex est constitutio populi... scita sunt quae plebes tantum constituunt (Etym. 5, 10, 11). Es wäre irrig, zu meinen, daß für Capito das Gesetz ein A k t der Komitien wäre. A n einer anderen Stelle bei Aulus Gellius (NA 10, 20, 6) sagt Capito, Plebiszit sei die lex quam plebes non populus accipit. Klarer läßt sich nicht ausdrücken, daß die Funktion der Versammlungen nur rezeptiv war. Deshalb sagt Aulus Gellius weiter (10, 20, 8), daß die rogatio des Magistrats caput ipsum et origo et quasi fons des Gesetzes ist; denn ohne rogatio kein iussum. Derselbe Gedanke, daß die Versammlung das Gesetz empfängt und nicht macht, kehrt wieder i n der Definition des Plebiszits bei Laelius Felix, dem Kommentator des Quintus Mucius Scae19 Über das Glossem D. 1, 3, 32, 1 zuletzt B. Schmiedel: Consuetudo i m klassischen römischen Recht (1966), S. 46 ff. Ich neige (vgl. Rev. gen. de Legisl. y Jurispr. 91, 1946, S. 511) zur Annahme der orientalischen H e r k u n f t dieses Glossems, vgl. aber i m Sinne einer Vorverlegung Wieacker: Textstufen klassischer Juristen (1960), S. 54 f., 176 Anm. 250.

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vola (Aulus Gellius, N A 15, 27, 4): plébiscita appellantur quae tribunis plebis ferentibus accepta sunt. Es bleibt der Eindruck, das Gesetz sei nach Capitos Formulierung, die Gajus wiederholt, ein iussum des Volkes. Das macht es nötig, sich den Sinn von iussum zu vergegenwärtigen: nicht Befehl oder Anordnung, sondern Ermächtigung. Iussum i m eigentlichen Sinn ist die Ermächtigung, sich die Wirkungen des Aktes einer anderen Person zuzueignen. Diesen allgemeinen Sinn hat iubere auch i m Zusammenhang des förmlichen Gesetzgebungsverfahrens. Das Volk erteilt seine Ermächtigung — iubet — zum A k t des Magistrats, der das legem ferre der rogatio ist, und verleiht damit dem Gesetz allgemeine Verbindlichkeit, insbesondere für die Zukunft 2 0 . Gajus selbst läßt in der Definition der kaiserlichen Konstitution (Inst. 1, 5) iubet weg und begnügt sich m i t constituit 2 1 . Der Princeps ist ja tatsächlich Gesetzgeber durch sich selbst und gegenüber sich selbst. Er ermächtigt niemanden und bedarf zur Gesetzgebung keiner Ermächtigung. Die Volksversammlung dagegen, die nicht Gesetze gibt, ist auf die Ermächtigung des Magistrats zur Gesetzgebung beschränkt. Der Erklärung bedarf noch das constituere bei Gajus, der für die Tätigkeit der Volksversammlung i m Gesetzgebungsverfahren das Wort constituit gebraucht. Bemerkenswert ist, daß dieser Sprachgebrauch sich nur bei Gajus findet. Meist w i r d constituere i m Sinn von Recht setzen auf die Jurisprudenz bezogen (auctoritas iura constituentium). Seit Hadrian — wenn auch als terminus technicus erst später feststellbar 22 — bezieht sich dieses Verb auf die Betätigung der kaiserlichen Kanzlei durch Reskript, die echte Fortsetzung des dare responsa der Jurisprudenz. Diese Erweiterung führt dazu, daß constituere die ganz allgemeine Bedeutung eines rechtsbegründenden Aktes erhält. Pomponius, der sagt, daß quaestores constituuntur a populo (D 1, 2, 2, 23), sagt auch, daß der Unterschied von Gesetz und Plebiszit i n der species constituendi liegt und daß die Plebs iura sibi constitueret (D 1, 2, 2, 8). Doch ist auch dieser unbestimmte Gebrauch noch weit entfernt von der gajanischen Formel: quod populus (oder plebs) iubet atque constituit. Nochmals: in dieser Ausdrucksweise ist eine Eigenart des Gajus, eines Scholastikers, zu erblicken, die vielleicht eine besondere mnemotechnische Kraft hatte. Wie bereits gesagt: Capito spricht von iubere, nicht von constituere; für Gajus sind Gesetze und Plebiszite eine zusätzliche Quelle des ius civile, dessen, quod quisque populus ipse sibi ius constituit (Inst. 1, 1 und D 1, 1, 9), tatsächlich: con20 I n diesem Sinne ist die den Zwölf Tafeln zugeschriebene Anordnung zu verstehen (12, 5, vgl. L i v i u s 9, 34, 6 und 7) „ u t quodcumque postremum populus iussisset i d ius ratumque esset", vgl. L i v i u s 7, 17, 12: iussum populi et suffragia esse. 21 Gajus 1, 5: Contitutio principis est quod imperator decreto vel edicto vel epistula constituit. 22 Ulpian D. 1, 4,1,1 : haec sunt quas vulgo constitutiones appellamus.

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stant autem iura populi Romani ex legibus, plebiscitis etc. (Inst. 1, 2). Isidor von Sevilla spricht nur noch von constitutio (a.a.O.). Die älteren Juristen erkannten mit solcher Klarheit i n der rogatio des Magistrats das Essentielle des Gesetzes, daß sie gelegentlich beides gleichsetzten. Von einem Juristen der Republik muß Aelius Gallus eine Unterscheidung entlehnt haben, die uns aus Verrius Flaccus und Festus überliefert ist 2 3 : Inter legem et rogationem hoc interest: rogatio est genus legis, quae lex, non continuo ea rogatio est; rogatio non potest non esse lex, si modo iustis comitiis rogata est 24 . I n der Tat ist die rogatio i m weiten Bereich der Lex (lex privata, lex censoria etc.) ein Typ für sich: die lex publica, und nach Aulus Gellius (NA 10, 20, 9) verwenden die älteren Schriftsteller (in veteribus scriptis) das Wort rogatio unterschiedslos für jede A r t der Gesetze, Privilegien und Plebiszite. Erst ein Bedenken der späteren Zeit angesichts des dezemviralen Verbots Privilegia ne inroganto scheint die Ursache dafür zu sein, daß die Privilegien nicht mehr als leges betrachtet wurden; sie blieben aber rogationes. Daher spricht Capito von iussum „generale". Diese Würdigung der Zeugnisse der älteren Juristen und Grammatiker kann unsere Auffassung vom Gesetz als A k t des Magistrats nur bestätigen. VI. Diese Auffassung vermittelt eine sachgemäßere Vorstellung von der Form der Normsetzung durch den Magistrat. Wenn das Edikt als lex annua bezeichnet w i r d 2 5 , so ist das keineswegs eine unverbindliche Me23 Über die Quellen des Verrius Flaccus s. F. Bona: Contributo allo studio della composizione del „de verborum significatu" des Verrius Flaccus (1964). 24 Festus, s. v. rogatio (ed. Lindsay, S. 326). Nach De Francisci, Studi Arangio Ruiz 1, S. 21 Anm. 62, ist diese Definition korrekt. Gleichwohl scheint er (S. 21 f.) größeren Wert einer Unterscheidung des nämlichen Festus — der hier keine Quelle angibt — zwischen rogatio u n d lex beizulegen, wobei die rogatio einem Privileg gleichgesetzt w i r d , die Lex aber stets generell ist. Daraus folgert De Francisci für die ältere Zeit, daß, während die (allgemeinen) Gesetze dem Volk lediglich bekanntgemacht wurden, die Privilegien stets Gegenstand einer rogatio waren, über die das V o l k zu entscheiden hatte. Diese Vermutung beruht auf dem Gedanken, daß das Wort rogatio stets eine Volksabstimmung v o r aussetzt, dazu oben Anm. 14. Die Definition des Festus scheint m i r der Denkweise der Älteren nicht zu entsprechen, sondern das Ergebnis einer Anpassung gegenüber dem dezemviralen Verbot „privilegia ne inroganto" zu sein, das der Grammatiker vielleicht mißverstanden hat. Schon Mommsen, Staatsr. I I I 1, S. 304 Anm. 2, hatte die Definition des Festus als absurd qualifiziert; später jedoch verteidigten A. Dell'Oro, Parola del Passato 5 (1950), S. 132 ff., u n d U. Coli, Bull. Ist. Dir. Rom. 12—13, S. 383, und Iura, 1952, S. 94 ff. (mit einigen Abweichungen untereinander) den Wert dieser Definition, u m auf sie die Gleichsetzung rogatio = Privilegium zu stützen u n d damit die rogatio der Tabula Hebana zu erklären. Gegen diese Annahme die zutreffende K r i t i k von G. Tibiletti: Principe e magistrati reppublicani (1953), S. 212 ff. 25 Cicero, Verr. I I 1, 42, 109: praetoris edictum legem annuam dicunt esse.

21 Festschrift für Carl Schmitt

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tapher. Der Magistrat bringt wirklich das Gesetz zur Entstehung, er ist der wirkliche legis lator. Wenn seine Anordnungen nur für das Jahr der Magistratur gelten sollen, genügt die bloße Form des Edikts; wenn sie dagegen für alle Zukunft gelten sollen, bedarf es eines Mehr als Solemnität. Dieses kann bestehen einmal i n der Notwendigkeit günstiger Auspizien, dann i n einem Antrag des Senats (auctoritas patrum), vor allem aber i n der Ermächtigung des Volkes (iussum populi). Das alles sind Erfordernisse eines Aktes, der wesentlich ein solcher des Magistrats ist. Nicht minder als das Edikt ist die lex eine Form der Äußerung der Amtsgewalt des Magistrats. Nur deshalb kann Cicero (De leg. 3, 1, 2) sogar sagen, daß der Magistrat ein redendes Gesetz und das Gesetz ein stummer Magistrat ist: magistratum legem esse loquentem, legem autem mutum magistratum. So ist auch zu erklären, daß das Gesetz auch dann Gesetz bleibt, wenn die oben erwähnten Solemnitätserfordernisse einmal fehlen. Die Plebiszite bedurften keiner Auspizien, die auctoritas patrum wurde später abgeschafft, aber auch auf die wirkliche Zustimmung des Volkes konnte verzichtet werden. Wie uns Tibiletti gezeigt hat 2 6 , hatten die rogationes des Prinzipats schon vor der Billigung durch das Volk Gesetzeskraft. Daher erscheinen sie z. B. i n der Lex de imperio Vespasiani als den überlieferten Rechtsquellen gleichwertig 27 . Dem Gesetz widerfährt Ähnliches wie dem Senatskonsult seit Hadrian: die oratio des Princeps hat schon die Kraft des Senatskonsults. Diese Vereinfachung kann aber hinsichtlich des Gesetzes i n keiner Weise als revolutionär bezeichnet werden, nachdem schon die alten Gesetze vom Magistrat gegeben und dem Volk nur bekanntgegeben waren: immer hatte es Gesetze gegeben, die der Magistrat ohne Beteiligung der Komitien erlassen hatte, so z. B. bei der Organisation der Provinzen. Insoweit findet sich auch i n diesem Fall bei Augustus kein Bruch m i t der republikanischen Tradition, sondern nur eine geschickte Handhabung rechtlicher Möglichkeiten zur Ausübung seiner persönlichen Herrschaft. VII. Abschließend ist zu bemerken, daß alles, was hier zur Bedeutung der rogatio des Magistrats für das Gesetz gesagt ist, bestätigt w i r d durch die Geschichte der nahe verwandten Ernennung neuer Magistrate 28 . Nach einem sehr alten Prinzip des römischen Verfassungsrechts ist die Amtsgewalt an die Person gebunden und unübertragbar, so daß es keine Nach26

G. Tibiletti, a.a.O., A n m . 24 i. f. Zeile 34ff.: si quis huius legis ergo adversus leges, rogationes, plebisve scita, senatusve consulta fecit, fecerit, etc. Vgl. Tibiletti, a.a.O., A n m . 24 i. f., S. 219 ff. 28 folgen hier De Francisci: Primordia civitatis, S. 406—425. 27

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folge i n der Magistratur gibt, so wenig, wie es zur Zeit der ersten Könige eine Erbfolge gab: die Amtsgewalt jedes Magistrats ist originär. Gleichw o h l steht die creatio 29 des neuen Magistrats ausschließlich dem i m A m t befindlichen Magistrat zu. Creare, ebenso wie facere und dicere ein terminus technicus, bezieht sich von Haus aus auf den Magristrat. Ursprünglich bestand dieser A k t i n der Verleihung des alleinigen Namens des neuen Magistrats 3 0 , aber auch hier kam es zur Bildung einer Gewohnheit, die Ernennung i m Wege des Volksentscheids durch A u s w a h l aus einer Liste von Kandidaten vorzunehmen 3 1 . Das w a r jedoch kein Hindernis, die creatio auch weiterhin als A k t des Magistrats anzusehen, wenn auch i n ungenauer Ausdrucksweise das creare magistratum als ein A k t bezeichnet wird, bei dem Magistrat und V o l k zusammenwirken, oder dieser A k t sogar dem Volk allein zugerechnet w i r d 3 2 . I n Wahrheit besteht eine völlige Analogie zwischen der Tätigkeit des Magistrats bei der rogatio des Gesetzgebungsverfahrens einerseits und bei der creatio des Magistrats anderseits. Auch hier vollzog Augustus, der die W a h l durch das Volk abschaffte, keinen radikalen Bruch m i t der verfassungsrechtlichen Tradition der Republik, da seit jeher beide A k t e als solche des Magistrats galten, während die M i t w i r k u n g der anderen Beteiligten, insbesondere des Volkes, durchaus verzichtbar war. Das Substantielle der M i t w i r k u n g des Volkes w a r die Publizität, nicht die Entscheidung des Volkes. Die bei der Abstimmung möglichen Alternativen waren nicht echte Entscheidungen, sondern Möglichkeiten, die die Entscheidung des Magistrats offenließ. Das stimmt i m Ergebnis m i t dem Satz der Staatslehre überein, wonach derjenige entscheidet, der die Macht hat, das heißt, der eine Frage zu stellen vermag. M i t anderen Worten: es entscheidet nicht, wer antwortet, sondern wer fragt 3 3 . Aus dem Spanischen übersetzt von Günther Krauss

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Creare bedeutet eigentlich wachsen lassen, verwandt m i t cresco. F ü r die niedere Magistratur blieb es hierbei, vgl. Mommsen: Staatsr. I, S. 472 f.; Siber: Römische Verfassungsgeschichte, S. 127. Die designatio bestand w o h l primär i n dem durch die Auspizien angenommenen Vorschlag und erst dann i n der Wahl, der die Amtsübernahme folgen mußte. 31 Wenn sich die Abstimmenden auf einen Namen einigten, der nicht auf der Liste stand, war der Magistrat, dem die creatio oblag, nicht verpflichtet, i h n zu proklamieren. Vgl. Siber, a.a.O., Anm. 30. 32 Livius 32, 7, 11: populo creandi quem velit potestatem aequum esse. 33 Z u r Beziehung Frage—Antwort einerseits, potestas—auctoritas anderseits vgl. meinen Vortrag Autoridad y potestad, i n Lecturas Juridicas (Universidad de Chihuahua) 1964, S. 25. 30

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Ordnung, nicht Chaos Von K a r l Anton Prinz Rohan, Salzburg Seit Jahren klagen Pessimisten darüber, daß die Deutschen ihr Geschichtsbewußtsein verloren hätten, ja, daß vielfach sogar ein Ausweichen der Nation i n Geschichtslosigkeit festzustellen sei. Dem widerspricht aber die Tatsache, daß vielleicht noch niemals ein hundertjähriger Gedenktag mit so starker Anteilnahme breiter Volksschichten begangen worden ist wie der Tag der Schlacht von Königgrätz. Rings um den 3. Juli 1966 sind zahlreiche Bücher erschienen und auch gekauft und sogar gelesen worden; ungezählte Vorträge waren der Rückschau auf die Schlacht und ihrer politischen Folgen gewidmet; Zeitschriften und Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen haben sich mit dem Thema beschäftigt, das sich manchmal übrigens sogar als recht heißes Eisen erwiesen hat. Verschiedenste Meinungen und manche gegensätzlichen Deutungen sind aufeinandergestoßen. Aber i n einer Hinsicht besteht Übereinstimmung: nämlich i n der Erkenntnis der schicksalhaften Bedeutung dieser Schlacht, die den Kampf zwischen Österreich und Preußen um die Führung i m deutschen Volksraum entschieden hat, einen Kampf, i n dem nicht nur zwei Mächte und Machtansprüche, sondern auch zwei politische Ideen und Methoden gegeneinander gestanden waren; und ein weiteres Einverständnis besteht darüber, daß manches Verhängnis, i n das die Deutschen verstrickt worden sind, am Schlachtfeld von Königgrätz seinen Anfang genommen hat. Die Zerreißung der deutschen Mitte Europas durch den staatlichen Ausschluß Österreichs aus dem Kreislauf des deutschen Volkskörpers konnte auch das bald danach geschlossene Bündnis der beiden Mittelmächte nicht ungeschehen machen. Dennoch sollte der Rückblick nicht übersehen, daß sich manche Einrichtung aus der Gemeinsamkeit eines Jahrtausends erhalten hatte, die jakobinischem Nationalstaatsdenken kaum verständlich gewesen sein dürfte: so das Privileg der Hochschullehrer, mit der Berufung aus Deutschland nach Österreich oder umgekehrt auch einen Wechsel der Staatsbürgerschaft zu vollziehen, oder das Recht bestimmter Familien, nach freier Wahl etwa einen Sohn i n der deutschen, den anderen in der österreichischen Armee dienen zu lassen. Seltsam wenig ist i n den Erörterungen über 1866 darüber gesagt worden, daß die Teilung Mitteleuropas nicht nur das Nationalbewußtsein

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der nichtdeutschen Völker gefördert hat, sondern, daß auch als Antwort auf dieses das deutsche Volksbewußtsein in den Befreiungskriegen erwacht, i m Zuge der Nationalitätenkämpfe besonders bei den Deutschen in Österreich-Ungarn immer bestimmender geworden ist. Der Politik der Deutschen Österreich-Ungarns, die ex post, durchaus verständlich, so häufig eine strenge K r i t i k erfährt, w i r d man in ihrer tragischen Zwangsläufigkeit dann am ehesten gerecht, wenn man sie als Reaktion auf den austroslawischen Anspruch begreift, wie er etwa i n einem Wort Palackys unmißverständlich zum Ausdruck kommt: „ W i r sind für das eine und ungeteilte Österreich nur so lange, bis der Bruch zwischen Deutschland und Österreich erfolgt und die Deutschen vereinzelt neben uns stehen . . . " Wie wenig vergangen aber diese Vergangenheit ist, welch dunkle Schatten sie heute noch auf unser Dasein wirft, zeigt ein Ausspruch eines thüringischen Abgeordneten zur Nationalversammlung i n der Paulskirche zu Frankfurt über den gleichen Palacky, den großen Tschechenführer, der ohne Zweifel einer der bedeutendsten Staatsmänner Mitteleuropas i m 19. Jahrhundert war: „Nach Meinung Palackys" — schreibt Julius Fröbel — „ w a r die Bestimmung des Kaiserstaates, i n ein föderatives Slawenreich verwandelt zu werden, und von selbst verstehe sich, erklärte mir Palacky weiter, daß ein großer Teil des östlichen Deutschlands diesem Slawenreich einverleibt werden müsse. Dresden und Leipzig seien slawische Städte, in welche die Deutschen sich eingenistet haben." Nach dem Zusammenbruch der Staaten- und Völkerordnung Mitteleuropas 1918 hat das Bewußtsein von der Einheit des deutschen Volks alle Deutschen erfaßt, i n welche Staaten sie auch immer, meist unter Mißachtung ihres Selbstbestimmungsrechts, von den Siegern eingewiesen worden waren. Einer der größten Verfassungsjuristen unserer Tage, Carl Schmitt, hat i n seiner Verfassungslehre, die 1928 erschienen ist und 1954 unverändert neu aufgelegt werden konnte, was angesichts der einstweilen erfolgten Entwicklung bemerkenswert erscheint, eine klassische Definition von Volk gegeben: „Die Stärke sowohl wie die Schwäche des Volks liegt darin, daß es keine formierte, m i t umschriebenen Kompetenzen ausgestattete und i n einem geregelten Verfahren Amtsgeschäfte erledigende Instanz ist. Solange ein Volk den Willen zur politischen Existenz hat, ist es jeder Formierung und Normierung überlegen. Als eine nicht organisierte Größe kann es nicht aufgelöst werden. Solange es überhaupt existiert und weiterbestehen will, ist seine Lebenskraft und Energie unerschöpflich und immer fähig, neue Formen der politischen Existenz zu finden."

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Diese Einsicht i n das Wesen des Volkes entsprach in ihrer Distanz zu Idee und Wirklichkeit des Staates der spezifischen Lage der Deutschen i n den zwanziger Jahren. Die Tätigkeit des V D A (Verein des Deutschtums i m Ausland), der Kampf der Sudetendeutschen um ihr Recht i n der sogenannten Ersten Republik bis h i n zur Parole: „staatstreu und volkstreu zugleich", waren von solchem Volksbewußtsein getragen, das auch i n dieser Gegenwart täglich an geschichtlicher Gestaltungskraft gewinnt. Unter den zahlreichen Würdigungen der Ereignisse des Jahres 1866 nimmt die Aussage Otto von Habsburgs auf dem Sudetendeutschen Tag 1966 i n München einen besonderen Platz ein. I n ihr heißt es unter anderem: „Die Tragödie von 1866 lag i n dem Ausschluß Österreichs aus dem Deutschen B u n d . . . Die Mehrheit des Deutschen Bundes stand auf der Seite Österreichs. Noch wichtiger vielleicht ist es, daß praktisch die Deutschen des Donau- und Sudetenraumes fast ausnahmslos Großdeutsche waren, d. h. den österreichischen Staatsgedanken bejahten. Unsere zeitgenössische Geschichtsschreibung zeigt zu wenig, wie sehr noch bis i n die Tage von Königgrätz die deutsche Trias eine politische Realität war. Noch am deutschen Fürstentag von 1863 wäre es durchaus möglich gewesen, das alte Reich i n neuer Form aufleben zu lassen. Mehr als zwei Drittel der Deutschen wünschten eine solche Lösung, und Bismarck stand damals i m Kampf allein. Hätte sein König dem eigenen Urteil getraut und sich nicht dem eisernen Willen seines Kanzlers gebeugt, wäre dem deutschen Volk wahrscheinlich der furchtbare Leidensweg unseres Jahrhunderts erspart geblieben. Somit bestand am Vorabend des 3. J u l i 1866 noch immer eine Kraft der Mitte, die erst dann i n Verfall geriet, als der Ausschluß Österreichs aus dem Deutschen Bund die Atomisierung Mitteleuropas i n die Wege leitete." Oft h i l f t es zum Verständnis der Vergangenheit, wenn man, wie der Taktiker des Generalstabs am Sandkasten, die Frage zu beantworten sucht, wie die Geschichte verlaufen wäre, w e n n . . . ζ. B. also, wenn 1863 der König von Preußen nicht Bismarck, sondern seinem Instinkt gefolgt wäre; oder auch, wenn i n Königgrätz die österreichischen Waffen gesiegt hätten. Ebenso verlockend wäre es aber, der Frage nachzusinnen, welchen Weg die deutsche Geschichte genommen hätte, wenn ein Plan, der eine Zeit lang durchaus ernst i n Erwägung stand, verwirklicht worden wäre: die Verehelichung Maria Theresias m i t Friedrich, nachmalig der Große genannt. Dann hätte es keine schlesischen Kriege und natürlich auch keine Teilung Schlesiens gegeben. Aber auch kein Königgrätz. Man hat den Kabinettskriegen i m Zeitalter der absoluten Monarchien, man hat den damaligen Landesfürsten, gewiß m i t manchem Recht, den Vorwurf gemacht, sie seien rücksichtslos m i t Menschen und Völkern um-

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gegangen, sie hätten Soldaten um Kopfgeld verkauft und i n ihren Friedensschlüssen Provinzen, manchmal sogar i m Tauschweg, von einem Machtbereich i n den anderen verschoben, ohne an das Los der Betroffenen auch nur einen Gedanken zu verschwenden, ohne die Frage zu stellen, was Grenzverschiebungen für die Menschen bedeuten, die mit den Grenzen verschoben werden. Damals war der Einzelne Objekt der Macht schlechthin. Er hatte keinen Anteil an der Souveränität, die zu ungeteilter Hand beim Monarchen lag, er stand außerhalb des Bereichs, den Leopold Ziegler so treffend als „corpus mysticum politicum" bezeichnet hat; er war nicht einmal politisch entmündigt, weil er noch gar nicht politisch mündig geworden war. Wer indes die damaligen Verhältnisse mit den Maßstäben unserer sozialen, politischen, staatlichen Zustände messen wollte, käme zu falschen Ergebnissen. Denn dieser Untertan, der weder um seine Meinung, noch gar um seine Wünsche zur Gestaltung des politischen Schicksals befragt worden ist, eines Schicksals, das er nicht beherrscht oder auch nur mitgestaltet, sondern stumm erlitten hat, der also i n keiner Weise an der politischen Willensbildung beteiligt war, hat i n seinem menschlichen Bereich recht unabhängig von Staat und Politik gelebt, unabhängiger vielleicht als der mitbestimmende Bürger in unserer gesellschaftlichen Integrationsdichte mit ihren vielfältigen und vielschichtigen Abhängigkeiten. Während w i r dem Staat, seiner Ordnung, seinen Verboten und Befehlen sozusagen stündlich begegnen, während die Bindungen und das Widerspiel von Pflichten und Rechten i n den zahlreichen Gemeinschaften, in denen jeder von uns steht, unsere Lebensgestaltung i n entscheidender Weise mitbeeinflussen, war das Leben der Menschen der vortechnischen Zeit, sogar in den Städten, besonders aber am flachen Land oder gar i n den Einschichten und Hochtälern der Gebirge, in hohem Maße selbstbestimmt. Nur ein Beispiel von vielen möglichen zum Vergleich: damals zogen Kuh-, Ochsen- oder Pferdegespanne gemächlich ihres Weges; ab und zu nur fuhr eine Kutsche oder trabte ein Reiter. Jedermann konnte halten und wenden, wo und wie er wollte. Selten kam ein Fußgänger in Konflikt mit Fahrzeugen. Heute bilden die Verkehrsnormen eine ganze Wissenschaft, die schon in der Taferlklasse vorgetragen wird. Wenn also Provinzen die Hand gewechselt haben, so hat der Einwohner davon weniger zu spüren bekommen, als wenn dies heute geschieht oder etwa nach dem Ersten Weltkrieg geschehen ist, wie z. B. in Süd-Ungarn oder Siebenbürgen, in Südtirol oder i m Elsaß. I n unseren Zeitläufen bildet jede Veränderung der Staatszugehörigkeit, die einer Bevölkerung aufgezwungen wird, einen unvergleichlich gewaltigeren Eingriff in ihr Dasein als damals, heute w i r d sie recht eigentlich zu einem Angriff auf die, wie Hofmannsthal sagen würde, „menschenhafte" Existenz des Menschen.

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Bei allem Länderschacher der Vergangenheit ist aber der Mensch selbst eingebettet geblieben in die Geborgenheit seiner Heimat. Wohl wurde die Heimat und er i n ihr von einem Herrschaftsbereich i n einen anderen verpflanzt, aber der Mensch selbst ist nicht entwurzelt, ist nicht aus dem Land der Väter, aus seinem Elternhaus vertrieben worden. Eben das ist aber vor zwanzig Jahren geschehen, und eben damit ist ein Grundrecht, ein integrierender Teil der Menschenrechte verletzt worden: das Recht auf Heimat, das zwar in aller Welt wachsend Anerkennung findet, aber immer noch nicht i n das allgemein geltende Völkerrecht Aufnahme gefunden hat; wohl deshalb, weil mit Ausnahme der Religionskriege und der Rassen- und Nationalitätenkämpfe unseres Zeitalters, das den traurigen Rekord von 60 Millionen Flüchtlingen erreicht hat, Vertreibungen ganzer Völker oder Volksteile niemals stattgefunden haben; vielleicht, weil ein noch gesunder Instinkt die Menschen gelehrt hatte, ehrfurchtgebietende, um nicht zu sagen heilige, weil von Gott geschaffene U r tatsachen des Lebens zu achten. Aus einer Dokumentation, die der Bund der Vertriebenen über das „Recht auf Heimat" herausgegeben hat, geht indes hervor, daß von vielen Seiten an der völkerrechtlichen Festlegung dieses wohl allgemein anerkannten Grundrechts gearbeit wird. Ohne politischen Akzent, ohne Bezug auf Heimatvertreibung hat der Schweizer Historiker und Staatsmann Carl Jakob Burckhardt i n einer Rede gesagt: „Heimat ist ein Wort, das unser Sprachgeist geschaffen hat, das i n anderen Sprachen nicht zu finden ist und völlig andere Gefühle weckt, stillere, stetigere, zeit- und geschichtslosere als das leidenschaftliche Wort »Vaterland 4. W i r verlassen die Heimat, um uns hinaus i n die Fremde zu begeben. Wo endet Heimat, wo beginnt das Unvertraute, das andere? Bei jedem neuen Menschen, der uns begegnet, stellt sich die Frage, wie weit reicht seine Heimat, wo mag er wirklich zu Hause sein? Jede Bemühung um Selbsterkenntnis wie um Kenntnis des anderen schließt diese Frage ein. Ihre Beantwortung lehrt uns, daß gerade dort, wo das Heimatgefühl das allerweiteste ist, die Grenzen des wirklich Fremden und nicht entsprechenden am deutlichsten gezogen sind." Vor zwanzig Jahren haben Millionen Deutscher unter dem Zwang unerbittlicher Gewalt Haus und Hof, Besitz und Wohnung, Spargroschen und Arbeitsplatz verlassen müssen. Aber sie sind nicht herausgetreten aus der größeren Gemeinschaft des deutschen Volks, sie sind nicht herausgefallen aus der deutschen, und also ihrer eigenen, geschichtlichen Kontinuität. Das gilt für alle heimatvertriebenen Deutschen i n gleicher Weise, mögen sie i n Österreich, i n der Bundesrepublik oder auch jenseits des Eisernen Vorhangs neue Wurzeln geschlagen haben; jenseits jener Grenze, die gerade w i r Österreicher niemals anders denn als ein Pro-

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visorium ansehen können; allerdings wissen wir, daß manche Provisorien es i n sich haben, recht dauerhaft zu sein. Selbstregierung, Selbstkontrolle, Selbstbestimmung haben das sakrale Gottesgnadentum abgelöst. W i r verdanken einem Prager, dem unlängst verstorbenen Martin Buber, die bemerkenswerte Entdeckung, daß Selbstbestimmungsrecht und Recht auf Heimat, lange vor der amerikanischen und französischen Revolution von einem Manne formuliert worden sind, der, wie Buber sagt, „weder ein Staatsmann noch ein der Staatsweisheit Beflissener, keiner der großen Lehrer des Natur- und Völkerrechts" war und der die Grundrechte der Völker i n einigen lapidaren Sätzen ausgesprochen hat, die besagen: „daß jedes Volk sein eigenes Wesen und seine eigene Gestalt hat, daß jedes Volk i n seiner eigenen Macht steht und keinem anderen Untertan sein darf, daß jedes Volk seinen natürlichen Ort hat und einen Anspruch, da zu leben". Für Mitteleuropa ist es wichtig, daß diese Botschaft i n Prag bereits um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert vom hohen Rabbi Low verkündet worden ist. Palacky schreibt i n seinem berühmten Brief an die Nationalversammlung der Paulskirche: „ K e i n Volk auf Erden ist berechtigt, zu seinen Gunsten von seinem Nachbarn die Aufopferung seiner selbst zu fordern. Keines ist verpflichtet, sich zum Besten des Nachbarn zu verleugnen oder aufzuopfern. Die Natur kennt keine herrschenden sowie keine dienstbaren Völker." Von solchen Gedanken ist eineinhalb Jahre später der Entwurf Palackys für den Reichstag von Kremsier getragen, i n dem die Teilung Böhmens, Mährens und Schlesiens nach ethnischen Gesichtspunkten vorgeschlagen war. Daß derartige Vorakte zur späteren Münchner Entscheidung damals allgemein erörtert worden sind, beweist ein Satz Havliceks aus dem Jahr 1849: „ W i r fordern, daß die nationalen Gebiete entsprechend abgerundet werden, damit eine Gebietsverwaltung darin aufgebaut werden kann. Nach diesem Grundsatz stellen w i r der deutschen Verwaltung jene Gebiete i n Böhmen anheim, wo nur Deutsche zusammenleben." I n unserer Lebenszeit hat einer der großen Staatsdenker der Linken, Alfred Weber, festgestellt: „Seif control und self government — wer nicht weiß, daß das angelsächsische Grundtatsachen sind, soll keine generellen Behauptungen über die Unfähigkeit der Massen zur Freiheit aufstellen." Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist seit eh und je das Grundanliegen der Amerikaner gewesen, die eine Welt anstreben, i n der unabhängige Nationen friedlich nebeneinander und miteinander leben. Schon 1823 hat John Quincy Adams die Parole ausgegeben: „Die unabhängigen Nationen haben selbst und keine andere Nation das Recht, über sich selbst zu bestimmen. W i r haben kein Recht, über sie zu bestimmen,

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weder allein noch i n Verbindung mit anderen Nationen. Ebenso wenig haben irgendwelche Nationen das Recht, über jene ohne ihre E i n w i l l i gung zu bestimmen." Diese Grundidee der europäisch-amerikanischen, also der westlichen Weltrevolution, die als „Sturm der Veränderung" über die Welt braust, hat die politische Landkarte aller Kontinente verändert. Daß die Heimatvertriebenen ihr Recht auf Selbstbestimmung noch nicht erlangt haben, ist kein Einwand gegen seine Gültigkeit als Ordnungsprinzip der modernen Welt. Es ist i m Gegenteil ein Ansporn, immer und überall für die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts einzutreten, i m Bewußtsein, daß die Forderung sich i n voller Übereinstimmung befindet m i t den sittlichen Grundprinzipien, die die „one world" gestalten. Leben ist Kampf für Ordnung gegen Chaos, für Recht gegen Gewalt und Willkür, für den Menschen und seine Würde gegen Unmenschlichkeit und Barbarei. W i r dürfen uns hier auf Thomas Masaryk berufen, der 1922 ausgesprochen hat: „Das, was war und ist, ist an und für sich noch nicht berechtigt. Die Geschichte und das gesellschaftliche Leben sind ein unausgesetzter Kampf der Bannerträger des Rechts und der Gerechtigkeit gegen jene, die an bequemer Tatsächlichkeit hängen." W i r stehen am Beginn eines neuen Zeitalters. Niemand von uns kennt heute schon die Lebensgesetze, die es beherrschen werden, niemand kann die gesellschaftlichen Wandlungen genau voraussehen, die von den Atomwaffen, von der zweiten technischen Revolution, von der Entdeckung, vielleicht Eroberung, von Teilen des Weltalls ausgehen werden. Nur eines wissen w i r schon heute: wollen die Menschen nicht den Weg der Selbstvernichtung i m Sinne der Symbolik der Geheimen Offenbarung des heiligen Johannes gehen, w i r d zunehmendes Aufeinander-angewiesenSein, wachsende Interdependenz, neue Formen engerer, dichterer Zusammenarbeit der Menschen, der Gruppen, der Sozialpartner, der Völker schaffen. Wer nicht den Mut hat, i n einer veränderten, i n vieler Hinsicht ganz neuen Welt neue Gedanken zu denken, neue Ideen zu fassen, neue Wege zu suchen und zu beschreiten, w i r d i n der stürmischen Entwicklung dieser Gegenwart und der Zukunft, der w i r entgegenleben, kaum bestehen können.

A n t o n Bruckners Motette «Os justi» Eine Erwägung zur Problematik der kirchenmusikalischen Restauration im 19. Jahrhundert Von Arnold Schmitz, Mainz Bruckner hat seine Motette 1879 komponiert. Die erste Aufführung fand in der Stiftskirche der Augustiner Chorherren zu St. Florian am 28. August des gleichen Jahres anläßlich ihres Patroziniums statt. Der Text der Motette lautet: Os j u s t i meditabitur sapientiam, et lingua ejus loquetur judicium. Lex Dei ejus i n corde ipsius, et non supplantabuntur gressus ejus. Alleluja

Es ist der Text des für dieses Fest liturgisch vorgeschriebenen Graduale zum Commune Doctorum. Die Motette ist dem Augustiner-Chorherrn Ignaz Traumihler in St. Florian gewidmet, der seit 1851 Chorregent in St. Florian war. M i t ihm war Bruckner gut bekannt. Unter ihm war er immerhin mehrere Jahre als Organist tätig gewesen. Von ihm erhielt er ein glänzendes Zeugnis, als er sich von St. Florian aus um die Stelle des Dom- und Stadtpfarrorganisten in Linz bewarb (1855), und ihm hatte er vor schon das 1856 ebenfalls für St. Florian komponierte für gemischten Chor und Orgel dediziert 1 . Keine von diesen Angaben ist bedeutungslos für das Verständnis der Motette. Darum sind sie vorangestellt. Bei den musikalischen Hinweisen kann man sich der Partiturausgabe von L. Berberich oder auch von E. F. Schmid bedienen 2 . I n alter und neuerer Literatur w i r d behauptet, die Motette zeige wie einige andere a cappella und i n Kirchentonarten geschriebene Sätze Bruckners mit liturgischem Text die Einwirkung der deutschen 1 Max Auer: A n t o n Bruckner, Sein Leben und Werk, Zürich - Leipzig - Wien 1947, 93,102. 2 Bruckner: Geistliche Chöre, Edition Peters, Nr. 4185; A n t o n Bruckner: Motetten, Verlag von A n t o n Böhm & Sohn, Augsburg.

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Caecilianer und besonders ihres Führers Franz X. W i t t 3 . Unter den zahlreichen kirchenmusikalischen Reformversuchen des 19. Jahrhunderts in der katholischen Kirche 4 gibt es kaum eine Restaurationsbewegung, die sich so einseitig auf ein geschichtliches Modell, nämlich den Palestrinastil berief, wie der deutsche Caecilianismus. Selbst seine Choralauffassung war an Palestrina orientiert. Seine Hauptstütze war der 1868 auf dem Katholikentag zu Bamberg von W i t t gegründete, durch ein päpstliches Breve 1870 bestätigte Allgemeine Caecilienverein. Tatsächlich ist Bruckner wie auch Franz Liszt mit dem Caecilianismus Witts i n Berührung gekommen. Liszt begegnete i h m freundlich und entgegenkommend, machte allerdings seine Übertreibungen nicht mit und gab bei aller Annäherung i n seinen eigenen geistlichen und kirchlichen Werken der siebziger und achtziger Jahre seinen persönlichen Stil nicht preis. Bei Bruckner war das Urteil über den Caecilianismus und die Caecilianer nicht schlechthin so ablehnend, wie manche nach der angeblichen Aussage: „Palestrina, à la bonheur — aber die Caecilianer san nix, n i x — 5 ! " annehmen möchten. Als W i t t an Bruckners phrygischem . 29 27

Kurth: Bruckner, Zweiter Band, 1290. Kurth, ebd., 1292.

Benito Cereno oder der Mythos Europas* Von Enrique Tierno Galvan, Princeton/New Jersey Wir sagen: jemand befindet sich i n dieser oder jener Situation. Offenbar braucht jede Situation ein Subjekt, aber die Beziehung des Subjekts der Situation zu seiner Situation ist eine Beziehung besonderer Art. Sie enthält vor allem eine doppelte Bindung: einerseits kann das Subjekt bis zu einem gewissen Grade die Situation lenken, wie der Kapitän eines Schiffes von der Kommandobrücke aus das Schiff manövriert; andererseits können vom Schiff her tausend Umstände eintreten, die die A k t i o n des Kapitäns ändern oder hindern: ein Mensch treibt i m Wasser, ein Schiff entert, oder es kommt ein widriger Wind usw. Aus diesem Grunde, weil der Zufall fortwährend an das Schiff klopft, ist das Seeabenteuer, das Sich-Einschiffen, das An-Bord-Gehen, immer als eine besonders typische Situation erschienen. Das Subjekt eines solchen Augenblickes menschlicher Existenz, in dem die Situation mit unerwarteter Bedrängnis die eine oder die andere Seite zeigt, nimmt an den konstituierenden Elementen eines solchen Augenblickes teil, ohne eine absolute Herrschaft über sie zu haben. Auf diese Weise ist das Subjekt sowohl Subjekt der Situation wie auch Subjekt i n der Situation. Die Sprache gibt uns die beste Aufklärung, indem sie uns für jeden Fall die doppelte Formel bietet: Pedro ist i n einer üblen Situation und: Die Situation des Pedro ist übel. Der Genitiv des und der Lokativ in lassen die beiden Aspekte erkennen, die eine Situation als solche kennzeichnen: den aktiven und den lokativen Aspekt. Hört das, was i n dem des des Genitivs und in dem in des Lokativs enthalten ist, gänzlich auf, so kommt ein Grenzaugenblick, i n dem man kaum noch von Situation sprechen kann. Setzen w i r den Fall, daß das Aktive, das i m Genitiv liegt, immer schwächer wird; denken w i r uns einen zum Tode Verurteilten wenige Sekunden vor der Hinrichtung, von Schergen umringt; der Henker ist bereit; der Priester spricht schon das letzte Gebet. Bis zu welchem Punkt ist die Situation noch seine Situation, noch die Situation des zum Tode Verurteilten? Können w i r noch sagen, daß es Pedro ist, der sich in extremis befindet? Ohne Zweifel, obwohl der Genitiv sich darauf beschränkt, über der Passivität Pedros einen Haufen von Fakten zu errichten, den Pedro trägt. Aber obwohl er es ist und kein anderer, der stirbt, umgreift die Situation das Opfer, wie das Netz der Spinne die Mücke. * Benito Cereno, ο el unito de Europa.

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I n anderen Fällen überwiegt nicht das in, sondern der Genitiv des, also das Element des Lenkens und Wollens. So, wenn jemand drohend in ein Zimmer einbricht und die Anwesenden mit vorgehaltener Waffe zwingt, Hände hoch zu machen. Aber weder i n dem einen noch i n dem andern Fall läßt sich das des oder das in ganz wegdenken, ohne daß die Situation selbst entfällt. Jede Situation erscheint demnach als ein Kraftfeld, dessen Pole ein Genitiv und ein Lokativ sind. Das ist auch der Grund, warum der Reisende in einem Flugzeug weniger i n einer Situation ist als der Reisende auf einem Schiff. I m Flugzeug ist der Reisende fast wehrlos den Einwirkungen unterworfen, die sich zum großen Teil seiner Macht und Kontrolle völlig entziehen. Ein Funke genügt, um das unwiderrufliche Ende herbeizuführen. Indem w i r das Flugzeug besteigen, haben w i r das Gefühl dieser Unwiderruflichkeit. Auf dem Schiff dagegen ist meistens noch mancherlei möglich und zu tun, ehe das Unwiderrufliche da ist. Man kann die Situation noch eine Zeitlang beherrschen und kämpft um die Lage i n einem Kampf, in dem das genitivische des und das lokative i n sich zu äußersten Spannungs- und Gefühlsgraden steigern. Vielleicht liegt hier die verborgene Wurzel dafür, daß der Abenteurerroman, seit Byzanz, eine ausgesprochene Neigung für das Meer und die maritime Umgebung gehabt hat. Das Abenteuer reduziert sich i m Endergebnis darauf, intensiv i n einer intensiven Situation zu leben, und die stärkste Intensität ist während der langen Seereise eines Segelschiffes erreicht. Hier merkt jeder, der an Bord ist, die Unberechenbarkeit des tragenden Elements, die W i l l k ü r der tragenden Kräfte und das fortwährende Eindringen des Unvorhergesehenen in das vorgesehene Blickfeld dessen, der i n eine neue abenteuerliche Konjunktur hineinnavigiert. So kommt es denn wohl auch, daß die Erzählungen von Seeabenteuern infolge der Anforderungen des Szenariums, i n dem sie sich abspielen, meistens nüchterner und besser stilisiert sind als die Erzählungen von Landabenteuern 1 . Das Meer hat i n sich selbst eine derartig elementare Kraft, daß es i n belletristischen Berichten fremdartig w i r k t . Unter diesem Gesichtspunkt ist die intensivste Situation, die Menschen jemals erlebt haben, das Seeabenteuer des Christoph Columbus und derer, die sich mit i h m zu seiner ersten Seereise einschifften. Wäre die Weltgeschichte wiederholbar und könnten w i r uns bei dieser Wiederholung Umstände und Rollen aussuchen, — wer von uns, der die reinen Situationen liebt, würde nicht den großen Augenblick des Columbus und seiner Fahrtgenossen jedem anderen Augenblick vorziehen? Außerdem gehört zu jeder Situation eine bestimmte Verortung (sitio), ein Territorium der Situation. Sie w i r d umgrenzt durch die Gegenwart 1 K a r l May hat n u r m i t Landabenteuer-Romanen Erfolg gehabt u n d auch das n u r bei Landratten (Anm. des deutschen Ubersetzers).

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der Wesen und Dinge, die die Situation konstituieren und verwirklicht sich auf einem bestimmten Gebiet, das w i r als das Situationsfeld bezeichnen können (campo de la situacion). Je deutlicher das Profil des Situationsfeldes, um so größer die Spannungen der Situation selbst. Es handelt sich um die klare Ortung des Platzes. Das Territorium der Situation verortet den Platz zu einer echten Situation. Man kann den Kreis verengern bis zu dem Punkt, daß sich alles in einer einzigen Situation versammelt. I n diesem Fall erreichen dann, solange der Person Möglichkeiten der Flucht und des Widerstandes bleiben, die Spannungen ihren Höhepunkt. Das ist der Fall bei Benito Cereno, dem ohnmächtigen Kapitän eines düsteren Piratenschiffes. Was ist ein Schiff? Es ist nichts anderes als ein besonders verorteter Platz, eine Verortung spezifischer A r t . Es ist eingekreist und belagert, ohne in einem Kriege zu sein. Jeder Reisetag, den das Schiff macht, ist ein Ausfall, um die Einkreisung des Meeres zu durchbrechen. Aber dabei ergibt sich die seltsame Lage, daß der verhältnismäßig leichte Ausfall, der täglich gemacht wird, um die Einkreisung zu täuschen, diese Einkreisung aufrechterhält, so daß die Situation der Belagerung während des ganzen Ausfalles anhält. Aus diesem Grunde bedeutete eine Seereise besonders i n der Segelschiff-Zeit die fortwährende Wiederholung einer extremen Situation. I n einer Situation, deren Territorium so umgrenzt ist, daß seine Grenzen die Schiffsborde sind, hat das Ganze der Situation und jeder Teil die denkbar stärkste Konkretion und Konsistenz. Daraus erklärt sich die große Bedeutung und der außerordentliche Topos-Wert von Wendungen wie: Meuterei an Bord, oder: Korsar, oder: Pirat. Besonders diese letzte, außerordentliche und befremdende Existenz, der Pirat, erhebt sich mit seinem Schiff i n der Erinnerung der Occidentalen als ständige Figur der Gefahr und des Abenteuers bis i n die dunkelsten Zonen des Verbrechens. Trotzdem gibt es vielleicht keine klarere Situation, soweit die Situation i n Frage steht, als die des Piraten. Sogar das Zeichen, das ihn unterscheidet, ist ein Symbol ohnegleichen. Nicht der Totenschädel, sondern die Verbindung von Totenschädel und Beinknochen ist es, was dem Piratenzeichen seine unwahrscheinliche K r a f t verleiht. Der Totenschädel für sich allein ist ein allgemeines und abstraktes Symbol, das nur einen allgemeinen Zusammenhang mit dem Tode anzeigt. Dem bloßen Schädel fehlen die vitalen und unabweislichen Suggestionen, die vom Kontrast her den vollen Sinn des Todes sichtbar machen. Es liegt sogar eine unbewußte Scham darin, nur den Schädel zu zeigen und das ganze übrige Skelett wegzulassen. Der Schädel für sich allein deutet das Schema eines menschlichen Gesichtes an, das man auf eine geheimnisvolle Weise immer noch als lebend betrachten kann. Dagegen liegt i n dem Piratenzeichen des Schädels mit Beinknochen eine verwegene Schamlosigkeit, weil auch die

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fleischlosen Knochen gezeigt werden, und zwar so angeordnet, daß sie die Verbindung mit einem Skelett suggerieren, dessen absolute, der letzten Verhüllung beraubte Nacktheit die Heiligkeit, den Frieden und die Geborgenheit eines Grabes zu beschwören scheint. Nicht umsonst erreichte die Piraterie ihren Höhepunkt i m 18. Jahrhundert. Die drei hauptsächlichen Kennzeichen dieses Jahrhunderts: Optimismus, Selbstvertrauen und Rationalismus, bestimmen auch das Verhalten der Piraten dieser Zeit. Ch. Johnson, der Autor einer unersetzlichen Geschichte der Piraterie, erzählt, daß man um 1732 unter den Hauptführern der Piraterie die Notwendigkeit einer Fahne erörterte, die die ganze Welt in Schrecken versetzen sollte. Dieser universale Anspruch enthüllt ein politisches Anliegen, das durch Schrecken und die Unordnung eines illegalen Abenteuers verdeckt wird, das aber i m Grunde doch sehr klar ist. Es gab Piraten, die von einem über das ganze Meer organisierten Imperium träumten 2 . Dieser paradoxe Ehrgeiz einiger Piraten entsprang dem Geist des Jahrhunderts. Denn das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert der klaren Situationen. I n diesem Jahrhundert veröffentlichte Vattel sein „Droit des Gens" und Burlamaqui sein „Droit Politique", zwei typische Beispiele für die äußerste Anstrengung, den Sitz des Rechts in eine klare Situation zu verlegen. Vattel suchte das ius inter gentes i n ein jurisdiktionelles Recht zu verwandeln, wobei Jurisdiktion für ihn nichts als Klarheit und Auscheidung alles Irrationalen, also reinen Logos (dictio) bedeutete. Dort, wo diese A r t von Jurisdiktion erscheint, triumphiert die Norm und mit ihr klärt sich die Situation. Dem wackern Burlamaqui lag vor allem daran, dem dunkelsten Moment i m Leben einer politischen Gemeinschaft, nämlich dem Augenblick ihres Ursprunges, die Klarheit eines hellen Mittags zu verschaffen. Deshalb versuchte er, unter einem quasi-geschichtlichen Gesichtspunkt, den Contrat Social (Urvertrag), zu einem Nehmen und Geben und einem Gleichgewicht von Ursache und Folge zu rationalisieren. Zu einem Zeitalter klarer Situationen gehört immer das gleiche höchste Bestreben: Politik und Recht zu identifizieren. Das ist der ausgesprochene Wunsch der besten Theoretiker des 18. Jahrhunderts, und das ist auch der unbewußte Trieb der damaligen Piraten, die die Welt erobern wollten. Eine anschauliche Illustration dieser Berufung des 18. Jahrhunderts für deutlich umschriebene, der Sicht und Übersicht zugängliche, augenfällige Situationen liefert uns die Seereise und vor allem der Pirat, der Putativ-Sohn des 18. Jahrhunderts, der auf seine Weise Recht und Pol i t i k in Eins zu verschmelzen suchte. Ich könnte noch ein bezeichnendes Beispiel für diese enge Verbindung nennen: Die Neigung zu den Inseln, die sich i m 18. Jahrhundert bekundet. Inseln haben nicht nur deshalb in den 2 So der französische Pirat K a p i t ä n Misson, der u m 1720 von Madagaskar aus ein Weltreich der Humanität errichten wollte.

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Reisebüchern einen Hauptplatz, weil Inseln klare Situationen umgrenzen und klare Umrisse haben. Auch in Büchern, die neue und ungewöhnliche Gedanken vertreten, ist die Insel ein unentbehrliches Requisit. Man denke in Robinson Crusoe, an die Durchsichtigkeit seiner Situation und schließlich an den Satz: Die soziale Einsamkeit ist für den modernen Menschen eine reine Anomalie, die nur aus Zwang oder unglücklichem Schicksal zu erklären ist. I n diesem 18. Jahrhundert und seiner kristallenen Durchsichtigkeit erreicht die Piraterie ihren Höhenpunkt und den Gipfel der ganz klaren Situationen. Auch die Piraten verwandeln jetzt ihre Politik i n Ordnung und Recht. Gosse3 teilt uns die genauen Taxen mit, die die Sozialgesetzgebung der Buccaneers zur Unterstützung der Opfer des Kampfes für die Freiheit der Meere festgesetzt hat: Verlust des rechten Armes 579 Dollars; linker A r m 482,5; rechter Fuß 482,5; linker Fuß 386; ein Auge 96,5; ein Finger ebensoviel, usw. Melville verwandelte die klare Situation eines Piratenschiffes in eine zweideutige und verwirrte Situation. Er tat das offenbar, weil er annahm, daß die Durchsichtigkeit trivial wird, wenn sie nur längst Bekanntes sichtbar macht. Irgendeine landläufige Abenteurererzählung, von Cooper zum Beispiel, w i r k t sehr bald kindlich, weil sie nur von einer Reihe spannender aber klarer Situationen berichtet. Es fehlt ihr das Zwielicht, das i m Unvorhergesehenen liegt und das sich als solches in der Durchsichtigkeit einer klaren Situation zeigt. I m Grunde ist das die Erzählertechnik der Romantiker: klare Situationen in unklare zu verwandeln, indem eine eindeutige Beziehung zwischen dem Subjekt und seiner Lage i n Vieldeutigkeit und Phantastik verwandelt wird. Auf diese Weise hüllt sich der w i r k liche Stand der Dinge in einen Nimbus von Irrealität, der aber seinerseits nur das Resultat der fortwährenden Unbestimmtheit ist, in welcher der Leser hinsichtlich des wirklichen Gesichtes der Situation gelassen wird. Melville nahm eine einfache Abenteurergeschichte, die klar und trivial war, und verwandelte sie i n eine geniale Erzählung, die ich nicht einfach Roman oder Novelle nennen möchte. Sie ist weit mehr als das. Melvilles Erzählung ist ein echter Mythos, meines Wissens der einzige Mythos, der es ermöglicht, die Situation des heutigen Europas richtig zu deuten. Die A r t und Weise, wie Melville das Abenteuer des Kapitäns Cereno konstituiert, ist in der Tat bewundernswert. Zunächst w i r d das Piratenschiff nicht i n dem Zustand gezeigt, daß es auf irgendeinen Hafen h i n navigiert w i r d : es befindet sich aber auch nicht in einem Hafen und ist ebensowenig auf offenem Meer. Während des ganzen Verlaufs der Handlung des Mythos laviert es nach dem Wind sehr nahe an der Küste. Aber diese Nähe der Küste ist keineswegs die Nähe des Reiseziels und insofern 3

Ph. Gosse, The History of Piracy, London 1932.

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der Sinn der Reise. U m es i n klaren Begriffen auszusprechen: das Schiff des Kapitäns Cereno macht keine Reise; es navigiert auch nicht; es treibt einfach, und der ursprünglich elementare Charakter dieser brutalen Tatsache des Treibens steigert die radikale Verortung der Situation so, daß alle menschlichen Verhältnisse, die damit i n Verbindung geraten, ebenfalls einen zweideutigen Charakter annehmen und unwirklich, u n w i r k sam und vorzeitig gebrochen werden. Auf einem Schiff, das fährt und navigiert, sind die darauf eingeschifften Menschen Reisende und Navigierende. Aber auf einem Schiff, das kaum fährt und kaum navigiert und nur treibt, sind sie nichts anderes als „Menschen an Bord" (embarcados) i m geringstmöglichen Sinne des Wortes. Ich sage „kaum" fährt und „kaum" navigiert, weil das Treiben des Schiffes einen gewissen Versuch zu Navigation und Reise i n sich schließt und weil gerade die Unzulänglichkeit dieses Versuchs dem brutalen Faktum des Treibens seinen eigentlichen Sinn gibt. Allerdings bewirkt dieses „kaum", daß das Treiben eines Schiffes hier mehr bedeutet als das bloße Treiben eines Korkens oder eine Stückes Holz. Es bringt zum Ausdruck, daß das Schiff, weil es wenn auch nur sozusagen fährt oder nur sozusagen navigiert, trotzdem mehr ist als träge Materie. Es ist ein Instrument der Menschen, und aus seiner Instrumentalität leitet sich dieses Quasi-Fahren und Quasi-Navigieren ab. Das Schiff ist ein von Menschen bewohnter Ort, eine Wohnung, aber die Menschen, die das Schiff bewohnen und doch kaum Reisende oder Navigierer sind, verbleiben starr i n dem Horizont eines nur möglichen Reisens und eines nur möglichen Navigierens, welche Möglichkeit sie m i t einem elenden „kaum" realisieren. Dieses fortwährende bloße Treiben des Schiffes beherrscht alles und bewirkt es, daß die Menschen auf dem Schiff nicht reisen und nicht navigieren, sondern, wie gesagt, nur „an Bord" eines treibenden Schiffes sind. Das ist ihre unwiderrufliche Situation, wobei ihr Treiben sich fortwährend i n dem Bemühen äußert, auf einer Reise oder Überfahrt zu sein. Die ganze A k t i o n derer, die mit Benito Cereno an Bord sind, ist mit dieser Bemühung umschrieben, mag sie nun einen Sinn haben oder völlig sinnlos sein. So verwandelt sich die äußerste Klarheit des Piratenabenteuers auf einfache Weise i n Zwielicht und Vieldeutigkeit, jedoch unter Beibehaltung aller Elemente, welche der Situation auf dem Schiff die verkürzte Einfachheit einer bestimmten Verortung geben. Das Schiff des Don Benito und seine Bewohner werden i n aller Schärfe und Deutlichkeit sichtbar und stehen doch zugleich i n dem Geheimnis einer Hell-DunkelMalerei, nur daß hier nicht das Licht aus einem dunklen Grund auftaucht, sondern i m Gegenteil das Licht als Grund und Grenze für die Dunkelheit der Darstellung dient. Die Spannung zwischen den beiden Polen der Situation, dem genitivischen des und dem lokativen in, zwischen dem Schauspieler und der

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Szene, w i r d i n demselben Maße stärker, i n dem sich auf dem Schiff das bloße An-Bord-Sein durchsetzt. So, wie die gespannteste und zweideutigste A r t , in einem Hause zu wohnen, darin besteht, das Wohnen auf ein M i n i m u m zu reduzieren, sich des Gebrauchs der Dinge i n der Wohnung zu enthalten, nur i n einem einzigen Zimmer zu leben, weder Türen noch Fenster zu berühren und dafür zu sorgen, daß unsere A n wesenheit i n dem Hause das Haus nicht als solches erfüllt, sondern auf einen bloßen Hohlraum reduziert. Einem Instrument den Sinn seiner Instrumentalität fast vollständig zu nehmen, ist die zweideutigste und quälendste Art, es zu benutzen und zu verfremden. Und wenn die Benutzung sich auf eine Wohnung bezieht, dann streift die quälende Verfremdung das Geheimnisvolle. Als Menschen sind w i r alle an Bord und unwiderruflich eingeschifft. Wegen dieser Unwiderruflichkeit denken w i r uns selbst als Reisende und Navigierer und machen den fortwährenden Versuch, das brutale Faktum des Treibens zu überwinden oder zu vergessen. Indem w i r vom Absurden zum Absurden treiben, sind w i r als existierende Geschöpfe ein Versuch zur Rationalität. Aber nicht von dieser Fahrt allgemeiner menschlicher Existenz möchte ich hier sprechen, wenn ich vom Mythos des Benito Cereno ausgehe, sondern von einer andern Fahrt, die mit jener ersten Fahrt analogisch verbunden ist. Ich meine das An-Bord-Sein i n einer geschichtlich-kulturellen Gemeinschaft, eine Fahrt, die an dem Lavieren, den Wendungen und Windstillen dieser Gemeinschaft teilhat, die i n einem Meer von Geschichtlichkeit treibt, ohne daß die Gemeinschaft als solche aus einem Treiben herauskommt, das sich nur kaum zu einem Reisen und Navigieren erhebt. Andere Gemeinschaften haben es verstanden, die Situation des Treibens, i n der sich jedes konkrete Wesen befindet, kollekt i v zu vergessen und eine entschiedene und sichere Fahrt zu veranstalten: Nordamerika zum Beispiel, dieses großartige Handelsschiff, das auf allen Meeren fährt. W i r Europäer aber haben es nicht verstanden, das Schiff wirklich zu navigieren und das bloße Treiben i n eine Fahrt zu verwandeln. So lavieren w i r i n widrigen Winden dahin. Alles das unter dem Auge und dem weiten Blick des Mr. Delano, eines erstaunten und zum Mitgefühl neigenden Nordamerikaners. Was ist der Mythos? Nehmen w i r an, der Mythos ist eine i n ein Wunder verwandelte Wirklichkeit. Damit ist die Frage nach dem Wunderbaren gestellt. Was ist das Wunderbare anders, als die Gegenwart der Unglaublichkeit des Wirklichen? Nichts ist unglaublicher als das Wirkliche, obwohl w i r uns für gewöhnlich i n dem Glauben an das Wirkliche ausruhen. Wenn w i r einen Mythos dichten, w i r d die mythisierte Wirklichkeit unglaubwürdig und das gerade macht sie äußerst nahe und akut. Erst seit dem Mythos fühlt und versteht man, daß das Wirkliche nur vom U n w i r k lichen her zu erklären ist. W i r müssen i n das reine Wunder springen, i n

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der Absicht, von dort her die Wirklichkeit zu erklären. Wir tragen dabei der Wahrheit Rechnung, daß die Wirklichkeit i n sich selbst als bloße, Nichts-als-Wirklichkeit, schlechthin nur absurd ist. Es gibt Menschen, die das Absurde nicht beschäftigt. Sie leben zufrieden i m Absurden und verzichten auf sein Verständnis. Meistens sind sie mit der Wirklichkeit nur in der Form einer mechanischen oder mechanisierten Arbeit befaßt. Sie sind die Träger des Realismus, seltsame Lebewesen, eigentliche Hausgäste des Absurden. Andere aber setzen sich m i t der Wirklichkeit auseinander, indem sie ununterbrochen nach ihrer Konsistenz und ihrem Sein fragen. Ist die Welt wirklich? Sind die Dinge wirklich. Das zwingt zu einer fortwährenden Untersuchung unserer selbst, der Welt und der Dinge, zu immer tieferen und schärferen Prüfungen. Diese A r t von Irrealismus ist etwas Europäisches. Daher kommen die beiden bei uns üblichen Lösungen der Frage: die absolute Religiosität oder der absolute Skeptizismus. Sigismund, der verwunderte Mensch i n Calderons „Das Leben ist Traum", drückt das europäische Anliegen für das Reale und infolgedessen die Distanz zu dem überflüssigen Realismus derer, die die Wirklichkeit problemlos hinnehmen, am besten aus. Er unterscheidet schließlich nicht mehr scharf zwischen Leben und Traum. Für ihn ist das Leben absurd: der Traum ebenfalls; er taucht unter i n einer erstaunten Ratlosigkeit, die Calderon in folgende Verse übersetzt: Y estoy temiendo en mis ansias que he de despertar y hallarme otra vez en m i cerrada prision. U n d ich fast vor Angst vergehe, Daß ich aufwach u n d noch einmal Mich i n meinem K e r k e r sehe! (Deutsche Übersetzung von M a x Kommerell)

Sigismunds Gefängnis ist die Wirklichkeit, die uns beschäftigt und uns okkupiert, und die mit Hilfe der Unwirklichkeit des Traumes überschritten wird. Auf eine bewunderungswürdig exakte Weise gibt Calderon sich Rechenschaft darüber, daß für eine bestimmte A r t von Menschen nur das Wunder — der Traum — ein gewisses Verstehen der Wirklichkeit zuläßt, ja, daß etwas für sie nur dann einen Sinn erhält, wenn sie vor dieses Etwas als vor etwas Unglaubliches gestellt werden. Die ganze europäische K u l t u r ist in diesem Sinne wunderbar und ergeht sich über die Unglaublichkeit des Wirklichen. I n diesem Sinne ist auch zum Beispiel Lazarillo de Tormes die reinste Phantasie. M i t Recht sagt Mateo L u j a n de Saavedra (Guzman de Alfarache, 2. Teil, Buch 3, Kap. 3): So sehen wir, daß der, der am meisten sorgt und denkt, am meisten träumt. W i r müssen anerkennen, daß eine realistische Deutung der Geschichte Europas sich nur vom Wunderbaren her vollziehen läßt, von dem un-

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wahrscheinlichen Schiff des Benito Cereno, das mit Negern und ohnmächtigen Weißen besetzt ohne Kurs auf dem Meere treibt. Drei Dinge quälen und beunruhigen den Kapitän Benito Cereno mit fortwährender Angst: Erstens die bloße Situation auf dem treibenden Schiff, auf dem er und die übrigen sich befinden, indem sie ein Schiff bewohnen, das sie weder lenken noch beherrschen. Zweitens die hartnäckige Verfolgung durch Babo, den Neger, der über die Versuche Don Benitos, dem dunklen Zirkel seiner Unterwerfung unter irrationale Kräfte zu entgehen, triumphieren will. Und drittens Mr. Delano, der mitfühlende Nordamerikaner, der das, was sich ereignet hat, versteht, als Benito Cereno aufhört, es zu verstehen und der sich die ganze Reise auf eine höchst plausible, restlos entmythologisierte Weise zurechtlegt. Wir Europäer von heute sind an Bord wie Don Benito, in der umgrenzten Situation eines nur noch treibenden Schiffes. Wie er verfallen w i r der Angst vor der absoluten Lüge dessen, was uns noch übrig bleibt. Wie er klammern w i r uns aber trotzdem an das, was uns noch übrig bleibt, obwohl w i r wissen, daß es Lüge ist, weil w i r glauben — und das ist ebensowenig gewiß — daß es i n gewissem Maße noch eine Wahrheit enthält. A u f dem Schiff des Don Benito — es ist sein Schiff, obwohl es nicht mehr i n seiner Hand ist — gibt es einen Steuermann m i t einem Steuerrohr; i m Mastkorb ist ein Wachtposten; einige raffen die Segel; andere beschäftigen sich damit, Werg zu zupfen und Äxte zu schleifen. Alles das ist Wahrheit nur in dem Maße, in dem es Schein ist. Der Steuermann kann das Schiff nicht steuern; die das Segel raffen, können und wollen es i m Grunde gar nicht; der Werg hat überhaupt keinen Zweck. Das ganze Schiff des Don Benito ist i m Grunde eine enorme Fälschung. Der philanthropische Nordamerikaner, der es besucht, sieht intuitiv, daß hinter dem Gesicht dessen, was hier erscheint, noch ein anderes steht, von dem das erste einfach das Gegengesicht ist. Vielleicht hatte er sogar manchmal ein Gefühl dafür, daß es hier keine Maske und keine Verstellung gibt, sondern etwas anderes, Tieferes, eine fundamentale Verfälschung, von der aus das Wahre nicht verdeckt, sondern ersetzt und ergänzt wird. Was die Neger auf dem Schiff des Don Benito taten, war nicht Dissimulieren, sondern Simulieren. Sie hatten keine Maske, die die Wahrheit verbarg, sondern fingierten eine nicht existierende Wahrheit. Sie spiegelten eine klare Situation vor, mit Normen, Kommandogewalt und Hierarchie auf einem völlig ruinierten Schiff, dessen tote und schlechte Teile sorgfältig versteckt wurden. A n diesem Umstand gemessen w i r d Benito Cereno ganz von der Situation beherrscht. Er ist unwiderruflich eingeschifft auf diesem völlig ruinierten Schiff. Er weiß genau, daß auf seinem Schiff alles nur Verwirrung ist, daß weder Hierarchie noch Normen wirklich respektiert werden, daß die elementarsten Triebe herrschen und selbst die säkulare Unterscheidung der Leute vom Bug und der Leute vom Heck 23 Festschrift für Carl Schmitt

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i n Gewaltsamkeit und Zufall untergeht. Die Verwirrung ist um so schmerzlicher, weil sie Ordnung und Übereinkommen fingiert. Gerade diese Fiktion der Ordnung macht aus dem Schiff eine einzige Fälschung. Benito Cereno bedeutet i n dem Mythos das Bewußtsein der Elite, die sieht und leidet. Der unglückliche Kapitän Benito Cereno t r i t t nicht freiw i l l i g i n diese Farce ein. I h n zwingen die andern, die mit ihm an Bord sind, wenn sie auch zum Teil kein Gefühl für die drückende Angst des bloßen An-Bord-Seins haben. Don Benito hat viel mehr Gefühl dafür. Er weiß, daß das Schiff nirgendwo hinfährt und daß es zwecklos ist, es zu steuern. Daher sein kraftloser Verfall und die Preisgabe seiner selbst. Daher auch sein fortwährendes Schwanken zwischen Widerstand, Erschlaffung und Furcht. Aber Widerstand i n wessen Namen? I m Namen der Vernunft, zweifelsohne. Die Vernunft riet, bei der ersten Gelegenheit vom Schiff zu fliehen und i n dem menschenfreundlichen Kahn des Mr. Delano zu emigrieren. Aber kann die Elite, das Bewußtsein Europas, selbst wenn sie es dürfte, kann sie Europa einfach Adieu sagen und ohne weiteres wegrudern? Wäre es nicht besser, i m Namen des eigenen Stolzes zu rebellieren, der Situation die Stirn zu bieten, die Piratenfahne des Todes zu hissen und ohne Schwäche alles zu ertragen, was kommt? Don Benito denkt es manchmal; aber trotzdem, es ist unnütz, da er keines Heroismus und keiner Tragik mehr fähig ist. Er ersetzt den Widerstand durch eine müde Würde. Die Würde, die unbestreitbare Würde, mit der viele Europäer das A n Bord-Sein ertragen, stammt aus einer besonderen Tiefe. Es ist kein Zufall, daß der Kapitän des Mythos ein Spanier ist. Die Beziehung des Kapitäns Cereno zum Schiff, des Subjekts der Situation zur Situation, ist, wenn man sie aus dem Mythos herausnimmt, eine geschichtliche Situation. Unzerstörbare Kräfte binden Don Benito an das Schiff und seine zerlumpte Mannschaft. Eine gemeinsame Vergangenheit mit großartigen Zeiten, i n denen der fette Schmutz die vereinigten Wappen noch nicht bedeckt hatte, die jetzt kaum noch erkennbar an der Schwelle der ehemaligen Luxuskajüte hängen. Die Vergangenheit erdrückt Don Benito. Die Vergangenheit und ein bestimmtes, unbestechliches Bewußtsein der Verantwortlichkeit vor den andern und vor sich selbst; die enge Bindung an die Zeiten, i n denen das Schiff noch nicht trieb, sondern mit sicherm Kurs auf Macht und Ruhm dahinfuhr. Der Neger Babo bedeutet i m Mythos dieses unbestechliche Bewußtsein. Er folgt dem Kapitän wie der Schatten dem Körper. Er rät ihm, was er zu t u n hat, und zwingt es ihm manchmal auch auf. Er wacht sogar über die Formen, damit die gute Haltung des heruntergekommenen Adeligen nicht verloren geht. Denk daran, wer du bist, sagt er ihm, und denk an deine Verbundenheit mit uns. Don Benito schwankt und teilt seine Angst zwischen der vernünftigen Erwägung, die ihn treibt, mit dem Nordameri-

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kaner zu fliehen, und dem Neger Babo, der eindringlich und ihm verhaftet ist, wie die eigene geschichtliche Vergangenheit. Don Benito schwankt. Wäre er nicht Kastilianer von Rasse, so würde er sofort über Bord springen und die Belagerung der Situation durchbrechen. Aber von allen Europäern sind die Spanier den Tiefenschichten der europäischen Tradition und Geschichte am nächsten geblieben. Sie haben immer noch eine mittelalterliche Seele, die dem Irrationalen und dem Absoluten zugewandt ist. Sie sind das Gewissen Europas, und zwar in demselben Maße, in dem sie von Europa getrennt und ihm gegenüber anachronistisch gelebt haben. Es ist durchaus sinnvoll, daß die konkrete Verortung in Melvilles Erzählung eine alte spanische Galeere ist, die einen von den Spuren der Jahrhunderte bedeckten Helm trägt. Tatsächlich, das spanische Schiff hatte niemals seinen Schiffskiel gereinigt. Die übrigen europäischen Nationen haben früher oder später eine Reinigung von Grund auf erlebt. Frankreich blieb klar und seit der großen Revolution für neue Kreuzerfahrten bereit. England, das große Piratenschiff, das auf allen Meeren fuhr, schlug seinem König den Kopf ab und gab sich eine geschriebene Verfassung, als die übrigen Völker von dergleichen noch nicht einmal träumten. Deutschland hatte seinen Luther. Italien vollzog die tiefste kulturelle Revolution, deren sich der Occident erinnert. Spanien hat seinen Schiffskiel niemals abgekratzt und seinen Eisbrecher niemals geschärft. Auf seinem Helm haben sich Jahrhunderte der Geschichte angehäuft, ohne daß eine tiefe Bewegung es von seinen uralten Bindungen befreit hätten. Das einzige europäische Volk, das keine Revolution gehabt hat, w i r d in dem Mythos Melvilles durch den alten Helm eines spanischen Galeonschiffes, eines alten Indienfahrers, symbolisiert, durch einen alten Helm, der von Fett und Schmutz starrt. Was besseres als eine spanische Galeone könnte man dem fröhlichen Optimismus des homo novus, Mr. Delano, entgegensetzen? Mr. Delano denkt, der arme Don Benito wäre nicht imstande zu verzichten und sieht darin die Ursache seines Todes. Der Kapitän Benito Cereno selbst weiß nicht einmal, was er will. Nur weil Babo ihn daran erinnert, weiß er, woher er kommt, und wohin er geht. Fast weiß er nichts. Aber neben Babo und Mr. Delano gibt es noch eine dritte Kraft: den Terror. Dieser Kraft, die unten i m Schiff zusammengefaßt ist und von Zeit zu Zeit auftaucht, liegt nichts ferner, als eine Ordnung zu erzwingen. Der mittelalterliche Terror wollte Ordnung. Der moderne Terror kämpfte für seine eigene Vernichtung. Der heutige Terror w i l l nur terrorisieren. I n seiner Reinheit nimmt der Terror heute den Platz der toten Werte ein. So erklärt es sich vielleicht, daß in dem Mythos Melvilles ein in Ketten geschlagener riesiger Neger, Atufal, das Symbol des Terrors ist. Immer zu bestimmter Zeit kommt er mit unerbittlicher Genauigkeit nach oben, 23*

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seine Ketten schleifend, stumm wie alles, was so viel zu sagen hat, daß es sich nicht auszudrücken braucht, und macht vor dem Kapitän eine tiefe Verbeugung. Das ist der Terror, der Norm und Ordnung simuliert. Aber wie Melville uns erklärt, sind die Ketten nicht echt und die enorme Kraft des Riesen hat keine anderen Grenzen als seine eigene Macht. Don Benito kann die Drohung dieses scheinbar so respektvollen Terrors kaum ertragen. Wenn Babo nicht wäre, dessen Bemühungen ihn aufrechterhalten, er würde vor dem gefesselten Neger niederknien und ihn um Verzeihung bitten. Verzeihung wofür? Verzeihung für die eigene Schuld angesichts eines Terrors, der nur die Steigerung der eigenen Eigenschaften des Terrorisierten ist. Die übersteigerte Vernunft endet genau so beim Terror wie die übersteigerte Leidenschaft. Der Terror als übersteigerter Ausdruck unserer eigenen Eigenschaften macht alle Menschen an Bord unendlich furchtsam. Der ohnmächtige Kapitän schwankt. Soll er i n den Kahn des Mr. Delano springen? Bleibt er bei Babo und seiner dunklen Bande? Beugt er sich endgültig dem Terror? Diese beiden letzten Fragen setzen eine andere Frage voraus: Bleibt Benito Cereno an Bord, um Gott weiß wohin zu treiben? I n der mythischen Erzählung Mei villes wagt er den Sprung: K a p i t ä n Delano setzte sich ins Heck seines Bootes, salutierte ein letztes M a l und ließ seine Leute abstoßen. Die Männer legten die Ruder aus, und die Leute am Bugriemen stießen das Boot von der Bordwand ab, so daß die Ruder der Länge nach eintauchen konnten. I n dem Augenblick, als dies geschehen war, sprang Don Benito übers Schanzkleid, so, daß er K a p i t ä n Delano gerade vor die Füße fiel, und erhob i m selben Augenblick seine Stimme gegen das Schiff, aber i n einem so aufgebrachten, tobenden Ton, daß i h n keiner i m Boot verstehen konnte. (Deutsche Übersetzung von W. E. Süskind; ebenso das folgende Zitat)

Was erreichte Don Benito, als er auf diese Weise die Situation durchbrach, i n der er wesensmäßig eingeschifft war? Melville erzählt uns als A n t w o r t auf diese Frage: Während der Reise schien es eine Zeitlang, als sollte sich der unglückliche Spanier, seit er nicht mehr unter Zwang stand, zugleich m i t der i h m wiedergeschenkten Selbstbestimmung auch gesundheitlich erholen. Es k a m aber anders: wie er selbst es vorausgesehen hatte, e r l i t t er kurz vor der A n k u n f t i n L i m a einen Rückfall und verfiel i n solche Schwäche, daß er auf dem A r m an L a n d getragen werden mußte. A u f die K u n d e von seinen Erlebnissen u n d seiner traurigen Lage öffnete i h m eine der zahlreichen religiösen Anstalten i n der Stadt der Könige gastlich ihre Pforten; A r z t und Priester bemühten sich dort abwechselnd u m i h n u n d ein Angehöriger des Ordens erbot sich freiwillig, als Wächter und Seelsorger ausschließlich für i h n bei Tag u n d Nacht zur Hand zu sein.

Das also hat, wie die mythische Erzählung berichtet, Benito Cereno mit seinem Sprung aus der Situation erreicht. Das war sein Gewinn. Eine wahnsinnige, unsagbar traurige Angelegenheit.

Johnson, De Gaulle und die augenblickliche Krise der Nato* Von Camilo Barcia Trelles, Santiago Aufriß des Problems A m 4. A p r i l 1949 wurde in Washington der Nordatlantikpakt unterzeichnet, der am 24. August desselben Jahres in Kraft trat. Während ursprünglich nur 12 Staaten den Vertrag unterzeichneten, kamen i m Jahre 1952 zwei neue Mitglieder (Griechenland und die Türkei) und i m Jahre 1955 ein weiteres, das 15. Mitglied (Bundesrepublik Deutschland) hinzu. Der Nordatlantikpakt enthält 14 A r t i k e l und eine Präambel. Von besonderer Bedeutung sind die A r t i k e l 3 und 5, die die Errichtung einer interalliierten militärischen Organisation vorsehen. I n Ausführung der Vorschriften dieser beiden A r t i k e l wurde die Organisation des Nordatlantikpaktes geschaffen. Als wesentliche Merkmale des Vertrages müssen folgende Punkte festgehalten werden: 1. Die Tatsache, daß die Vereinigten Staaten zu den Unterzeichnerstaaten gehören, ist Ausdruck eines völligen Wandels der nordamerikanischen Außenpolitik, die sich während der 191 Jahre seit der Erlangung der Unabhängigkeit 173 Jahre lang vom Gedanken des Isolationismus und der Politik der beiden Hemisphären hatte bestimmen lassen. 2. Es handelt sich um den ersten auf längere Dauer angelegten, kollektiven Bündnisvertrag der Vereinigten Staaten mit einer größeren Zahl europäischer Staaten. 3. Paradoxerweise sind drei der Signatarmächte des sogenannten Atlantifcpaktes rein mediterrane Staaten (Griechenland, die Türkei und Italien), während i n merkwürdigem Gegensatz dazu eine sowohl atlantische als auch mediterrane Macht (Spanien) der Organisation nicht angehört. 4. Nordamerika, das traditionellerweise dem System des politischen Gleichgewichts feindlich gegenübersteht, t r i t t i n den Atlantikpakt als Supermacht und darüber hinaus als Inhaber des Monopols an Nu* Johnson, de Gaulle y la actual crisis del O.T.A.N.

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klearwaffen ein. Dies verschafft den USA eine Sonderstellung i m Bündnis, eine hegemoniale Position, die — wie w i r sehen werden — zum großen Teil die augenblickliche Krise i n der Nato verursacht hat, deren Ausdruck unser Thema, die Polemik zwischen Johnson und De Gaulle ist. 5. Der Nordatlantikpakt bietet seinen Unterzeichnern die Möglichkeit der Revision gemäß Art. 12 und die i n Art. 13 vorgesehene Kündigung. Die Revision hatte man für die Jahre ab 1959 zugelassen, falls einer oder mehrere der Mitgliedsstaaten sie beantragen würden. Seit 1959 sind jedoch nunmehr acht Jahre vergangen, ohne daß von irgend einer Seite eine Revision verlangt worden ist. Die Kündigung des Vertrages kann gemäß Art. 13 vom 24. August 1969 an vorgenommen werden. 6. Es ist bemerkenswert, daß Präsident De Gaulle sich sowohl i n seinen Briefen wie i n seinen Memoranden (März/April 1966) nicht an das Kollektiv der anderen Signatarstaaten wendet. Er zieht es vor, sich persönlich an Präsident Johnson zu wenden und erkennt derart auf mittelbare Weise die besondere Stellung der Vereinigten Staaten i n der Atlantischen Organisation an, deren hegemonialer Charakter von De Gaulle immer wieder als unerwünscht kritisiert worden ist und die i m übrigen der Idee eines europäischen Europa i n sichtbarer Weise Vorschub leistet, einer Idee, die vom französischen Staatspräsidenten nicht aus Zufall unterstützt wird. Der Ausgangspunkt einer angemessenen Beurteilung der Krise der Atlantischen Gemeinschaft W i l l man die These des Präsidenten De Gaulle i n objektiver Weise würdigen, muß man die Argumente seines Briefes an Präsident Johnson vom 7. März 1966 und ihre Ergänzung in den Memoranden vom 11. und 29. März und 22. A p r i l 1966 in Betracht ziehen. Auf den ersten Blick kann die konstruierte Dialektik des Generals De Gaulle als ein — wie die Franzosen sagen — Hasenklein ohne Hasen erscheinen, wenn man sich erinnert, daß den Unterzeichnern des Atlantikpaktes zwei Möglichkeiten offenstehen, a) die Revision des Paktes gemäß A r t i k e l 12 und b) seine Aufkündigung (Artikel 13). Es ist angebracht, hier auf den Inhalt beider Vorschriften i n schematischer Form einzugehen. A r t i k e l 12 sieht für das Jahr 1959 oder später eine Revision des Paktes vor und zwar, wie bereits bemerkt wurde, nicht eine automatische oder notwendigerweise vorzunehmende Revision, sondern eine Revision auf Antrag eines der Unterzeichner. Diese Vertragsbestimmung ist Ausdruck der universelle Geltung besitzenden Regelung „res inter alios acta". I n ihr w i r d nämlich bestimmt, daß eine Revision vorgenommen w i r d „unter

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Berücksichtigung der U m s t ä n d e . . . , die dann den Frieden und die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets berühren, zu denen auch die Entwicklung allgemeiner und regionaler Vereinbarungen gehört, die i m Rahmen der Satzung der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit dienen". Obwohl seit dem Jahre 1959, und damit seit dem Datum des Beginns der Revisionsmöglichkeit, acht Jahre verflossen sind und obwohl De Gaulle — wie w i r noch sehen werden — anerkennt, daß die Art, i n der sich die internationalen Fragen 1949 (Jahr des Abschlusses des Atlantikpaktes) darstellten, offensichtlich völlig verschieden von der des Jahres 1966 ist, hat keiner der 15 Unterzeichner eine vorschriftsgemäße Bitte u m Revision eingereicht. A r t i k e l 13 des Atlantikpaktes regelt das Problem seiner Kündigung, da vom 24. August 1969 an „jede Partei aus dem Vertrage ausscheiden kann". Hieraus ergibt sich, daß einer oder mehrere Staaten austreten können, ohne daß dies notwendigerweise diejenigen Mächte berühren muß, die von diesem Recht keinen Gebrauch machen. Man kann die zitierten A r t i k e l gleichsam als Sicherheitsventile betrachten, deren eines nicht die Aufhebung des Paktes, sondern möglicherweise durchaus eine Auffrischung und Verbesserung der einen oder anderen Bestimmung zur Folge haben kann, was Gespräche und Verhandlungen unter den Unterzeichnerstaaten voraussetzt. Wenn man danach übereinkommt, gewisse Bestimmungen des Atlantikpaktes zu ändern, binden diese Revisionen nur die zustimmenden Mächte. Auch wenn die Änderungen mit absoluter Mehrheit beschlossen werden, betrifft dies die opponierenden Staaten nicht, denen der Ausweg bleibt, aus dem Vertrage auszuscheiden. Hierauf w i r d deshalb hingewiesen, weil die Einstimmigkeit der Beschlüsse zur Technik des Atlantikpaktes gehört (Art. 10, der bestimmt, daß die Einladung an einen Staat, dem Vertrage beizutreten, von allen 15 Mitgliedstaaten ausgesprochen werden muß, die sich auf diese Weise das Vetorecht zuerkennen, das so viel und so verständliche K r i t i k wegen seiner Aufnahme i n die Charta der Vereinten Nationen erfahren hat). Wir bemerkten bereits, daß De Gaulle mit den anderen 14 Unterzeichnern des Vertrages keinen Kontakt aufnahm, sondern den Dialog m i t Präsident Johnson vorzog. Dieses Vorgehen überrascht gerade bei De Gaulle, der auf diese Weise implicit die These von der nordamerikanischen Hegemonie i m Atlantikpakt anerkennt, obwohl er sie immer bestritten hat. I n diesem Zusammenhang stellen sich zwei Probleme. Das erste betrifft die europäische Sechsergruppe des Gemeinsamen Marktes. Das zweite stellt sich hinsichtlich der Unterzeichnung des Atlantischen Vertrages. Letzterer Vertrag wurde zuerst geschlossen (der A t l a n t i k Pakt-Vertrag wurde am 4. A p r i l 1949, der Vertrag über die EWG am

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25. März 1957 i n Rom unterzeichnet). Was das Problem der Präzedenzen betrifft, muß man sich vor Augen halten, daß das Zustandekommen des Atlantikpaktes ohne den vorhergehenden Pakt von Brüssel vom 17. März 1948 schwer erklärlich sein würde. Der Zusammenhang ist offensichtlich und darüber hinaus geeignet, die Ähnlichkeit des in Nordamerika abgelaufenen historischen Prozesses mit dem von Europa i m Jahre 1948 begonnenen darzutun. Richten w i r unsere Aufmerksamkeit nun auf diese Ähnlichkeit. Die Nordamerikaner sind der Ansicht, daß ihr traditioneller Föderalismus, der trotz seiner Krise i m blutigen Bürgerkriege des Nordens gegen den Süden schließlich als Prinzip bestätigt wurde, ihre augenblickliche eindrucksvolle Prosperität begründet hat. Sie fragen sich daher, ob die alte Welt nicht tunlichst versuchen solle, diese vorteilhafte nordamerikanische Erfahrung zu wiederholen. Als einen bereits der Geschichte angehörenden Verfechter dieses Gedankens führt man Benjamin Franklin an, der 1787 schrieb: „Wenn unsere föderalistische Verfassung trotz der Vielzahl der von uns zu berücksichtigenden Interessen Erfolg gehabt hat, warum könnt dann Ihr i n Europa nicht jenes großartige Projekt Heinrichs IV. verwirklichen und mit Hilfe einer ähnlichen Übereinkunft einen Bund und eine große Republik aus allen Staaten bilden?" Wie Andrés Fontaine bemerkte, war dies nicht möglich, weil Europa, besonders ab 1848, eine Epoche des erbitterten Nationalismus durchlebte und die Tragödien von 1914 und 1939 vorbereitete. Unterschiede zweier historischer Erfahrungen Diejenigen, die i n dem bezeichneten Sinne argumentieren, schenken den Unterschieden nicht die gehörige Aufmerksamkeit, die erkennbar werden, wenn man den Prozeß, der die nordamerikanische Einigung ermöglichte und beförderte, mit jenem anderen i n dem Zeitpunkt in der alten Welt zu bemerkenden vergleicht, in dem diese sich um eine harmonische Gestaltung ihrer selbst bemühte. Anders als Europa hatten die Vereinigten Staaten nicht die durch die Anwesenheit eines äußeren Feindes oder durch die Drohung einer Hegemonie entstehende Unruhe erfahren. Als schließlich nach dem Kriege der Prozeß der Gestaltwerdung Europas begann, kam darüber hinaus die stimulierende Kraft nicht aus den schöpferischen Tiefen der alten Welt. Es war vielmehr eine Bewegung der Reaktion angesichts der Erfahrung zweier Mächte von kontinentalem Ausmaß und angesichts der Furcht, die das mangelnde Gleichgewicht der Kräfte zwischen den beiden Supermächten auf der einen und der Zersplitterung Europas auf der anderen Seite hervorrief. Letztlich war es eine Folge der Auflösung des österreichisch-ungarischen Reiches und der späteren zerstümmelnden Teilung Deutschlands, eines Schnittes durch das Herz Europas.

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Hierbei ist zunächst daran zu denken, daß Rußland und Nordamerika zum Zwecke der Entwicklung ihres Status als Supermacht sich als Mächte von kontinentalen Ausmaßen verstehen, entwickeln und organisieren mußten. Für Europa ergab sich i n der Periode nach dem letzten Kriege eine ähnliche, klar erkennbare Gelegenheit. Diese offenbar verführerische These warf aber das komplexe Problem auf, wie mit einem Schlage das zu begraben sei, was die Geschichte Europas vier Jahrhunderte hindurch erfüllt hatte. I n deren Verlauf verschwendete Europa auf unvorstellbare Weise seine Energien und versteifte sich darauf, die intereuropäischen Konflikte als internationale anzusehen, obwohl sie i n Wirklichkeit bewaffnete Auseinandersetzungen vom Typ des Bürgerkrieges oder des Brudermordes waren. Zum Zweiten ist zu berücksichtigen, daß die alte Welt bei dem Bemühen, ihre Sicherheit und ihren Frieden zu sichern, i n erster Linie auf die ihr eigenen Möglichkeiten zurückgreifen mußte und nicht allein i m Wege der Nachahmung verfahren konnte. Wenn nämlich jene Nation eigene Entwicklungsbedingungen hat, unterschieden sich die russischen und die nordamerikanischen von denjenigen Europas, die auflösende Elemente enthielten. Das verursachte, wie bereits bemerkt wurde, das Aufkommen der Nationalismen, die zwar die Befreiung der europäischen Völker förderten, jedoch unwiderruflich dazu verurteilt waren, zur Ursache der Uneinigkeit, der gegenseitigen Feindschaft und schlechten Nachbarschaft zu werden. Es ist offensichtlich, daß Europa nach Ablauf seiner vielhundertjährigen Vorherrschaft mit dem Auftreten der sogenannten Bipolarität auf der internationalen Szene der Nachkriegszeit rechnen mußte. Wenn es sich nun verständlicherweise weigerte, ein bloßes Anhängsel Washingtons oder Rußlands zu werden, blieb i h m keine andere Wahl als die, sich auf die ihm verbliebenen, ihm eigenen Elemente des Zusammenlebens zu besinnen. Bereits i m Jahre 1949 hatten die Nationen, die später, ab 1957, den Gemeinsamen Markt bildeten, durch ihre Unterschrift unter den Atlantikpakt für Nordamerika optiert. Andererseits wurde später, i m Jahre 1952, jedoch am 27. Mai i m Uhrensaal des Quai d'Orsay durch die Außenminister der Staaten Deutschland, Belgien, Frankreich, Luxemburg und Holland der Vertrag über die europäische Verteidigungsgemeinschaft unterzeichnet, der auf Initiative des französischen Ministers Pleven ausgearbeitet wurde. I h m sollen nun einige Überlegungen gelten. Widersprüche Trotz ihrer französischen Herkunft scheiterte die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, da der Vertrag in der französischen Nationalversammlung nicht die nach der Verfassung erforderliche Mehrheit der

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Stimmen erhielt. I n diesem Zusammenhang muß man sich daran erinnern, daß der Unterzeichnung des Vertrages als interessierte Beobachter Vertreter der USA und Großbritanniens beiwohnten. Nach der Abstimmung nahm die französische Regierung zu einem äußersten Mittel ihre Zuflucht und wandte sich mit der Bitte um eine Garantie in Gestalt eines Beitritts an England. Obwohl Churchill sich i n seiner Straßburger Rede vom 11. August 1950 für den Gedanken einer europäischen Armee ausgesprochen hatte, weigerte sich England. Damit war die Europäische Verteidigungsgemeinschaft endgültig an der Ablehnung der Mehrheit der französische Parlamentarier gescheitert. Bemerkenswert bleibt, daß für das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft das Zusammenwirken der nationalistischen Anhänger De Gaulies auf der einen und der Neutralisten und Kommunisten auf der anderen Seite verantwortlich war. Nach diesem Fehlschlag wurde durch Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und das Vereinigte Königreich jener Pakt geschlossen, der weniger als Ersatz für die Europäische Verteidigungsgemeinschaft als vielmehr als eine Erweiterung des Brüsseler Paktes vom 17. März 1948 angesehen werden muß. I n ihn trat nun die Deutsche Bundesrepublik ein, die nicht zu den ursprünglichen Unterzeichnern des Brüsseler Vertrages gehört hatte. Um die rechte Bedeutung der vorangehenden Bemerkungen erkennen zu können, muß man sich vor Augen halten, daß die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, falls sie verwirklicht worden wäre, als ausgleichende Kraft sowohl gegenüber einer nordamerikanischen Hegemonie als auch i n den Spannungen des Kalten Krieges hätte wirken können. A u f jeden Fall muß man die spezifisch europäischen Absichten des Pleven-Planes anerkennen, der sich weder an russischen noch an nordamerikanischen Interessen orientierte. Da darüber hinaus die geplante europäische Armee nur als Defensivorgan eines geformten Europa Daseinsberechtigung haben konnte, konnte sie zum Ansporn für die alte Welt des Okzidents werden, sich um die Wiedergewinnung ihrer Identität zu bemühen, nicht i m Sinne der Wiederbelebung eines bekanntermaßen traditionsverhafteten Kontinents, sondern durch seine Kräftigung durch Befreiung vom lähmenden Ballast überkommener Archaismen. Dies wäre die geeignete Gelegenheit für die Schaffung eines europäischen Europa gewesen, wie es De Gaulle später verfechten sollte. I n jener Epoche aber gesellte sich De Gaulle noch in seinen Polemiken zu den Gegnern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, vielleicht deshalb, weil man i n Frankreich das Gefühl hatte, in der geplanten Gemeinschaft eine bedeutende Position Deutschlands nicht ausschließen zu können und so i n die Gefahr zu geraten, ein Europa Karls des Großen zu erneuern. Man erinnert sich, daß De Gaulle i n seiner Pressekonferenz vom 28. März 1949 die Bemühungen des Volkes und der Regierung der USA

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lobte, die zweihundertjährige Neigung zum Isolationismus zu überwinden. Ein Mitstreiter des Präsidenten De Gaulle, Michel Debré, bezeichnete die Idee einer auf sich gestellten europäischen Gemeinschaft als Irrwahn und fügte hinzu: „Unsere Epoche ist die einer größeren Gemeinschaft, die sich aus den Nationen an beiden Ufern des Atlantik zusammensetzt. Das atlantische Europa ist die einzig reale Konzeption. Heute verfügen w i r über mehr Raum. Geben w i r die Idee der Provinz, d. h. der Nation auf." Damals verdammte De Gaulle die Separatisten und lud seine Gesinnungsgenossen ein, sich ihm anzuschließen, um zu verhindern, daß, wie er sagte, die Pferde der Kosaken auf den Wiesen des Bois de Vincennes weiden könnten. Wir erwähnen das Vorstehende nicht, um De Gaulle vorzuwerfen, er habe sich in Widersprüche verwickelt, was sich i m übrigen dann als falsch erweist, wenn man seine augenblickliche Haltung der Öffnung gegenüber dem Osten betrachtet, die ihm neben anderem zur Stützung seines Bemühens um eine Trennung von der Nato dient. Es ist ja offensichtlich, daß 1949 nicht gleich 1967 ist und daß die tiefgreifenden und offenbaren Änderungen der internationalen Konstellationen i n diesem Zeitabschnitt nicht ohne Auswirkungen auf die außenpolitischen Auffassungen der alten Welt bleiben konnten. De Gaulle und die Aushöhlung der Nato Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Nato i m wesentlichen nichts anderes als die Verwirklichung der A r t i k e l 3 und 5 des Atlantikpaktes ist. Die dialektische Diskussion um sie w i r d mit streitbarer Polemik von zwei Staatschefs ausgetragen, von De Gaulle als dem Angreifer und von Johnson, der repliziert. Die bereits erwähnte Auseinandersetzung begann mit dem 7. März 1966 und währte bis zum 22. A p r i l desselben Jahres, in welchem Zeitraum Briefe, Noten, Memoranden und Erklärungen gewechselt wurden. Sie wurde vom französischen Präsidenten mit seiner Botschaft an Johnson vom 7. März 1966 eröffnet, i n der er versichert, daß er die großen Verdienste der Nato um die Atlantische Allianz anerkennt und mitteilt, daß Frankreich auch nach dem Ablauf der ersten Vertragsperiode am 4. A p r i l 1969 die Absicht hat, weiterhin zu den Vertragspartnern zu gehören und — sollte nicht ein grundlegender Wandel i n den Beziehungen zwischen Ost und West eintreten — entschlossen ist, zusammen mit den verbündeten Mächten einer unprovozierten Aggression Widerstand entgegenzusetzen. Nach diesen eher beruhigenden Erklärungen legt De Gaulle dar, daß die in Europa, Asien und anderen Teilen der Welt zu beobachtenden Wandlungen der internationalen Lage eine Verlängerung der nach dem 4. A p r i l — das heißt nach dem Datum der Unterzeichnung des Atlantik-

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paktes — geschlossenen Militärabkommen (Nato) nicht rechtfertigt. Aus diesem Grunde hat Frankreich die Absicht, die volle Ausübung der Souveränität auf seinem eigenen Territorium wiederzugewinnen, die i m Augenblick durch die ständige Anwesenheit alliierter Streitkräfte und durch die Benutzung seines Luftraums durch sie eingeschränkt ist. Aus diesem Grunde w i r d Frankreich seine Mitarbeit in den integrierten Kommandozentralen einstellen. Frankreich ist bereit, mit seinen A l l i ierten und insbesondere mit den USA zu sprechen, deren Regierung es seine Vorschläge zuerst vorlegt, die zwar die Form, jedoch nicht den Gehalt der Allianz ändern sollen. Wie der des Lesens Kundige erkennen wird, sind die in der zitierten Botschaft vom französischen Präsidenten angestellten Erörterungen nicht viel mehr als die Äußerung eines Vorschlags, der nicht hinreichend begründet wird. Johnson, der Empfänger, begnügt sich in einem lakonischen Brief vom 7. März 1966 damit, seinen Wunsch mitzuteilen, die anderen 13 Signatarmächte des Vertrages von der Botschaft des französischen Präsidenten in Kenntnis zu setzen. Er fügt hinzu, daß die i n ihr enthaltenen Überlegungen „ i n ernster Weise die Sicherheit und das Wohlergehen" aller in der Atlantischen Gemeinschaft integrierten Staaten betreffen. Die erklärliche Kürze des Briefs des französischen Präsidenten findet ihre weitausgreifende und erhellende Ergänzung in seinem Memorandum vom 11. März 1966, zu dem später noch ein weiteres vom 29. März kommt. I n beiden w i r d auf die Änderungen der internationalen Situation i n den Jahren zwischen 1949, dem Jahr des Inkrafttretens des Atlantikpaktes, und 1966 angespielt und i n beiden Memoranden i m wesentlichen ein Hauptgedanke zur Grundlage der Argumentation gemacht: Es w i r d unterschieden zwischen dem Atlantikpakt selbst und den später geschlossenen Abkommen, d. h. zwischen dem Atlantikpakt auf der einen und der Nato auf der anderen Seite. Hinsichtlich des Vertrages ist Frankreich bereit, ihm nicht nur bis zum 4. A p r i l 1969 — dem Zeitpunkt, i n dem gemäß Art. 13 des Vertrages die 20jährige Gültigkeitsdauer abläuft —, sondern auch darüber hinaus treu zu bleiben. Das bedeutet, daß Frankreich i m Prinzip nicht daran denkt, von der i n Art. 13 des Vertrages vorgesehenen Möglichkeit seiner Kündigung Gebrauch zu machen. Auf den ersten Blick kann der Inhalt dieser französischen These Erstaunen hervorrufen. Vergegenwärtigen w i r uns noch einmal, daß es sich bei dem Atlantischen Vertrage nicht allein um einen weiteren Bündnisvertrag herkömmlicher A r t handelt, der anderen, von europäischen Nationen geschlossenen und i h m zeitlich vorausgehenden gleicht, wie ζ. B. der deutsch-italienisch-österreichischen Triple-Allianz, dem englischfranzösisch-russischen Bündnis, dem von London (1942), von Moskau (1944) oder dem französisch-britischen von Dünkirchen (1944), welche alle

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für den Fall des Eintritts des casus foederis die künftige militärische Kooperation zusichern, ohne jedoch, wie i m Falle der Nato, für Friedenszeiten eine Integration der Land-, Luft- und Seestreitkräfte vorzusehen. Angesichts dieses Unterschiedes erscheint eine Argumentation, die auf der einen Seite die Treue zum Atlantischen Pakt, auf der anderen aber die Abkehr von der Nato vereinigt, zunächst erstaunlich. Wie auch immer aber Frankreich diese merkwürdige Trennung zu begründen sucht, man sollte sich um eine objektive Würdigung dessen bemühen, was die französischen Ausführungen an Überzeugendem enthalten mögen. Ohne sie namentlich zu nennen, beginnt Frankreich seine Darlegungen hinsichtlich der Praktikabilität oder des Überholtseins internationaler Verträge, indem es sich auf die Gedanken der „clausula rebus sie stantibus" stützt. Dabei muß man sich den Kern der französischen Argumentation vor Augen halten, die sich auf den grundlegenden Unterschied der internationalen Situation in den Jahren 1949 und 1966 beruft. Die angestrebte tiefgreifende Änderung versuchte man auf folgende Weise zu rechtfertigen: a) Die Bedrohungen der Welt von 1949 sind heute abgeklungen. b) Sie besitzen nicht mehr den Charakter der Unmittelbarkeit und Gefährlichkeit, den sie i m Zeitpunkt der Unterzeichnung des Vertrages aufwiesen. c) Die Staaten Europas haben ihre wirtschaftliche Stabilität wiedergewinnen können. d) Das augenblickliche russisch-amerikanische Gleichgewicht hat das frühere nukleare Monopol der Vereinigten Staaten abgelöst und so die wesentlichen Bedingungen der Verteidigung des Westens verändert. e) Europa ist nicht mehr das Zentrum der internationalen Krisen, die heute i n Asien auftreten und nicht mehr alle Unterzeichner des A t lantikpaktes betreffen. Zusammengefaßt besagt der französische Standpunkt: Wenn i m Jahre 1949 besondere Umstände die Ursache der Errichtung des in den 14 A r tikeln des Atlantischen Vertrages geregelten Sicherheitssystems waren und sich diese damalige Situation offensichtlich inzwischen geändert hat, ist es unangebracht, auf die gegenwärtige, veränderte internationale Situation eine heute offenbar veraltete Verteidigungskonzeption anzuwenden. Ein grundlegender Einwand muß dieser Argumentation entgegengehalten werden: Wenn, wie A r t i k e l 12 des Atlantikpaktes besagt, „die für Frieden und Sicherheit sowie für die Entwicklung der internationalen Verträge maßgeblichen Faktoren berücksichtigt werden" und die Ver-

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tragspartner sich „hinsichtlich einer Revision des Vertrages" ins Benehmen setzen werden, zeigt dies ganz deutlich, daß die Redakteure des Atlantikpaktes klug genug waren, Vorkehrungen für den Fall einer möglichen Veränderung der internationalen Lage zu treffen und daß sie dabei auch an das Auftreten neuer Umstände gedacht haben, die die A n gleichung der Vertragsbedingungen an sie erforderlich machen könnten, um so die Gefahren, die eine Veralterung des Vertrages mit sich bringen könnte, zu umgehen. Man erinnerte sich, daß häufig genug darauf hingewiesen worden ist, daß veraltete Verträge das Problem ihrer Revision aufwerfen und daß sie anderenfalls gewaltsame Auseinandersetzungen hervorrufen können, da sie durch ihren Anachronismus zu wahren Zwangsjacken werden können. Der Zweck der hier wiedergegebenen Argumentation ist derart offenkundig, daß er der kritischen Aufmerksamkeit und dem scharfen j u r i stischen Sinn der französischen Regierung nicht entgehen konnte. Dies erklärt auch, warum in dem betreffenden Memorandum auf die Unmöglichkeit von Verhandlungen angespielt wird, da „unglücklicherweise alles dafür spricht, daß ein solcher Vorschlag zum Scheitern verurteilt ist, weil die Alliierten Frankreichs Anhänger des status quo und einer Stärkung alles dessen zu sein scheinen, was nach französischer Ansicht künftig nicht mehr angemessen sein wird. Diese Ausführungen müssen i m Zusammenhang der Erklärung gewürdigt werden, die am 18. März 1966 von 14 der 15 Unterzeichnerstaaten des Atlantikpaktes abgegeben wurde und die besagt, daß die Atlantische Allianz nicht allein als Verteidigungs-, sondern auch als Abschreckungsinstrument gedacht ist und einen unabhängigen, integrierten militärischen Beitrag zur Aufrechterhaltung der gemeinsamen Sicherheit darstellt. Aus diesem Grunde betrachtet sich die Nato als unabdingbares Instrument zur Bewältigung der Aufgaben der Zukunft. Außerdem w i r d darauf hingewiesen — und dieses Argument w i r d später von den Nordamerikanern wiederholt gebraucht werden —, daß die erwähnte Allianz sich dadurch von anderen, historisch früheren unterscheidet, daß sie nicht allein in der gegenseitigen Zusicherung der Zusammenarbeit für den Fall des Eintritts des casus foederis besteht, sondern daß es sich um eine Abwehrorganisation handelt, die derart beschaffen ist, daß sie unmittelbar nach einer nicht provozierten Aggression i n Tätigkeit treten kann. Außerdem, so w i r d hinzugefügt, entspricht sie der politischen Notwendigkeit, für den Frieden und die Sicherheit aller Unterzeichnerstaaten vorzusorgen. Wie man erkennt, beziehen sich die Unterzeichner dieser Erklärung zunächst auf die von ihnen für wesentlich gehaltenen Elemente der Nato und darauf, ganz konkret, auf zwei ihrer Eigentümlichkeiten: A u f der einen Seite führen sie an, daß es sich bei der Nato nicht allein um einen Allianzvertrag handelt und auf der

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anderen halten sie dafür, daß sie die Fähigkeit zu effektiver und nützlicher Tätigkeit auch für eine mehr oder weniger entfernte Zukunft behalten wird. Diese letztere Betrachtung scheint dem Argument Präsident De Gaulles Recht zu geben, wonach die Alliierten Frankreichs nicht allein Anhänger des status quo sind, sondern auch bereit sind, all jene Umstände aufrechtzuerhalten, die nach französischer Ansicht sich i n Zukunft als unannehmbar erweisen werden. Die hier erkennbaren Meinungsverschiedenheiten zwischen Frankreich und den anderen 14 Unterzeichnern des Atlantikpaktes erscheinen noch vertieft, wenn man berücksichtigt, daß die Anhänger der hier besprochenen Deklaration nicht allein das Problem einer Revision des Paktes nicht erwähnen, sondern auch klar zum Ausdruck bringen, daß nach ihrer A n sicht der Vertrag weiterhin effektiv ist und dies auch bleiben wird. Vergleicht man die Versionen der beiden Parteien in dieser Frage, so muß man sagen, daß weder De Gaulle noch seine Widersacher dem Problem einer Revision des Paktes die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt haben. Der französische Präsident hält angesichts der in dem erwähnten Memorandum deutlich zum Ausdruck kommenden starren Haltung seiner Alliierten eine Revision für ausgeschlossen. Diese dialektische Position der 14 Mächte w i r d jedoch erst nach dem Memorandum De Gaulles eingenommen, woraus hervorgeht, daß dieser sie noch nicht kannte, als er Präsident Johnson sein Memorandum vom 17. März übermittelte. Man beachte i n diesem Zusammenhang, daß weder De Gaulle noch die übrigen Mächte sich auf die Möglichkeit einer Revision eines oder mehrerer A r t i k e l des Atlantikpaktes überhaupt beziehen, sondern nur auf die durch die Unterzeichner nach dem Jahre 1949 abgeschlossenen Abkommen. Während De Gaulle die „Abkommen, Regelungen und Beschlüsse" der Zeit nach 1949 erwähnt, sprechen seine Kontrahenten von den „ i n Kraft befindlichen Bestimmungen" ohne den Atlantikpakt, und noch weniger die Atlantische Allianz, auch nur zu nennen. Bezeichnend hierfür ist die besondere Erwähnung einer Allianz, die sie für anders als ihre Vorgänger halten, wobei das unterscheidende Merkmal darin gesehen wird, daß der Atlantikpakt durch die augenblickliche Organisation der Nato ergänzt worden ist. Diese Unterscheidung ist hinsichtlich des Atlantikpaktes und der Nato dann um so einleuchtender, wenn man sie mit der i m Briefe De Gaulles vom 7. März vertretenen Version i n Beziehung setzt, derzufolge Frankreich auch dann nach dem 4. A p r i l 1969 Mitglied des Nordatlantikpaktes bleiben wird, wenn i m Jahre 1967 sein Austritt aus der Nato vollzogen worden sein wird. Frankreich ist demnach bereit, 1969 und auch später an der Seite seiner Alliierten zu kämpfen, es sei denn, daß, wie De Gaulle sagt, „die Entwicklungen der nächsten Jahre die Beziehungen zwischen Ost und West tiefgreifend verändern werden".

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Angesichts des Inhalts dieser beiden überlegten, aber unterschiedlichen Beweisführungen erkennt man zwei nur schwer vereinbare Argumentationen. Die französische verwirft die Nato und verkündet zugleich die, wenn auch bedingte gegenwärtige und künftige Treue Frankreichs zum Atlantischen Pakt. Die der anderen 14 Mächte bemüht sich i m wesentlichen um die Frage der gegenwärtigen und künftigen Effektivität der Nato. Vielleicht wäre es übertrieben zu behaupten, daß w i r uns hier vor einem Dialog von zwei für die wechselseitigen Begründungen Tauben befinden, doch ist es sicher nicht völlig falsch, zu sagen, daß das herrschende Durcheinander einem Unterschied der Auffassungen i n der Frage entspricht, ob als das Wesentliche der Atlantische Vertrag selbst oder seine spätere militärisch-organisatorische Stärkung anzusehen ist, die nicht allein eine Koordinierung, sondern auch eine Integrierung herbeiführte.

De Gaulle und die französische Souveränität Frankreich beharrt i m Schlußteil seines Memorandums vom 11. März 1966 auf folgender interessanten Ansicht: Es nimmt an, daß die Abkommen über französisch-nordamerikanische militärische Zusammenarbeit „der augenblicklichen Situation nicht entsprechen". Dies veranlaßt Frankreich, „die volle Ausübung der Souveränität über das französische Territorium zurückzugewinnen". Anders ausgedrückt besagt dies, daß man sich der Möglichkeit widersetzt, daß „fremde Streitkräfte in Frankreich von anderen als französischen Stellen befehligt werden". A u f diese Ausführungen, die man als den Angelpunkt der französischen Dialektik betrachten kann, erwidert Johnson i n seinem Brief vom 22. März 1966, daß die Anwesenheit fremder Streitkräfte in Frankreich einer Einladung der französischen Regierung entspricht und daß diese Anwesenheit nach seiner Ansicht „das Ergebnis einer weisen, überlegten und vorausschauenden Konzeption ist". Johnson fügt hinzu, daß die M i t glieder der Allianz dann, wenn sie ihre Effektivität anstreben, die Organisation der Leitung, die strategische und taktische Planung sowie die vorhandenen Kräfte und ihre Unterstellung unter die Nato vorbereiten müssen. Nach seiner Ansicht berührt die Teilnahme der Streitkräfte der Unterzeichner des Atlantikpaktes an der Nato „weder unsere Souveränität noch die unserer Alliierten", vielmehr entspricht sie „ältesten Traditionen i n der Ausübung der Souveränität und wohl verstandenen nationalen Interessen". Johnson betrachtet „es als für alle gefährlich, für den Fall der Krise ein voneinander unabhängiges und nur lose nach nationalen Plänen koordiniertes Vorgehen der integrierten und der anderen Streitkräfte ins Auge zu fassen".

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Johnsons Hinweis auf die mit dialektischer Geschicklichkeit bezeichneten und bereits erwähnten Charakteristiken ist nicht ohne Absicht. Der nordamerikanische Präsident w i l l darauf hinweisen, welch offenbare Besonderheit die Nato darstellt, da es sich um das erste historische Beispiel eines Allianzvertrages handelt, der nicht auf mehr oder weniger klare Versprechen gemeinsamen Handelns für den Fall des casus foederis beschränkt ist, sondern für eine nicht provozierte Aggression Vorbereitungen trifft, die eine unmittelbare, abgestimmte, wirksame sowie bereits vorher organisierte und dementsprechende Reaktion erlaubt.

Johnson, De Gaulle und das Problem der Abschreckung Die unterschiedlichen Auffassungen der beiden Präsidenten beziehen sich auf die Frage der angemessenen Bewertung der i n der internationalen Politik i n der Epoche zwischen 1949 und 1966 eingetretenen Veränderungen. Der Kern des Problems liegt aber vielleicht weniger i n der Frage, i n welchem Maße derartige Wandlungen anzuerkennen sind, als vielmehr darin, festzustellen, welchen Ursachen diese Wandlungen zuzuschreiben sind. Aus diesem Grunde konzentriert sich der Unterschied der Ansichten i m wesentlichen auf die A r t und Weise, i n der das Auftreten des Phänomens der Abschreckung auf der internationalen Szenerie erklärt wird. A n dieser Stelle muß entschieden werden, i n welchem Sinne die Abschreckung als befriedigender Faktor i n dem Spannungsverhältnis Washington—Moskau eine Rolle spielt. I m folgenden soll versucht werden, dem Leser eine sachgerechte Darstellung dieses komplexen Problems der Nachkriegszeit nahezubringen. Der Abschreckungsgedanke setzt als wesentliches Merkmal die Existenz eines potentiellen Aggressors voraus. Diese Deutung nimmt die nordamerikanische These auf, wonach das merkliche Abklingen des Kalten Krieges — einer verhüllten Form dauernder Aggression — auf der einen Seite der wachsenden Stabilität der freien Welt und auf der anderen dem Umstand zuzuschreiben ist, daß i m Zusammenhang des Abschlusses des Atlantikpaktes der Aufbau eines Abwehrsystems möglich wurde. Man kann wohl sagen, daß die Entstehung des Abschreckungsgedankens i n jene Zeit fällt, i n der die USA die Außenpolitik der Beschwichtigung durch die von Kennan inspirierte Politik der Eindämmung ersetzten. I h r Gehalt bestand darin, der russischen räumlichen Ausdehung Einhalt zu gebieten. Ich habe diese Konzeption kurz nach ihrem Aufkommen behandelt (siehe: Camilo Barcia Trelles, „ L a politica internacional norteamericana, segun la version de George F. Kennan", Revista de Politica Internacional, Nr. 22, A p r i l / J u n i 1955, S. 65—92, Instituto de Estudios Politicos). Ich habe ihr bereits damals grundsätzlich entgegengehalten, daß sie meines Erachtens den offenbaren Fehler besitzt, rein statisch zu sein, das Stigma der Unbeweglich24 Festschrift für Carl Schmitt

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keit zu tragen und damit i m Gegensatz zu dem wesentlichsten Merkmal internationaler Politik, ihrer unleugbaren Dynamik, steht. Hier einen anderen Standpunkt zu vertreten, wäre gleichbedeutend m i t dem Versuch, zu behaupten, die internationalen Verhältnisse könnten i n einem bestimmten Zustand einfrieren und später keine Wandlungen mehr erfahren. Jedenfalls kann von der amerikanischen Gedankenführung aus ein Zusammenhang zwischen der Eindämmungs- und der Abschreckungspolitik konstruiert werden. Weder die eine noch die andere, noch beide zusammen können jedoch die angestrebte Stabilität herbeiführen. Insofern scheint die Überlegung des französischen Präsidenten richtiger zu sein, die das Anwachsen der Handels-, Wirtschafts- und Konsularbeziehungen der westlichen Welt mit dem Bereich der immer weniger als Satelliten zu verstehenden Nationen entspannend wirken kann und die Völker jenseits des Eisernen Vorhangs ermutigen mag, ihre Bemühungen um eine fortschreitende politisch-soziale Befreiung zu verstärken.

Über die Einschätzung des Phänomens der Abschreckung Es ist richtig, daß i n den letzten Jahren die Abschreckung an Bedeutung gewonnen hat, und es ist sicher auch nicht völlig abwegig, das A b klingen des Kalten Krieges, wie es einige und besonders nordamerikanische Beobachter tun, auf den Aufbau einer starken Verteidigungskraft i n Gestalt der Nato zurückzuführen. Gleichwohl liegt hier der Grund des französisch-nordamerikanischen Gegensatzes: De Gaulle nämlich ist, wie w i r bereits erwähnten, der Ansicht, daß die Nato den Gegebenheiten der heutigen Welt nicht mehr entspricht, die für ihn völlig verschieden von denen der Jahre nach 1949 sind. I h m zufolge hat sich die Bedrohung der westlichen Welt und besonders Europas, die zum Abschluß des Atlantikpaktes führte, i n ihrem Wesen gewandelt, so daß sie heute nicht mehr den Charakter der Unmittelbarkeit und Gefährlichkeit früherer Jahre besitzt. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß sich der neuralgische Punkt der internationalen Politik heute nicht mehr, wie i n der Nachkriegszeit, i n Europa befindet, sondern daß die Risiken in Asien liegen. Diese aber betreffen nun i n direkter und bedrängender Weise nur einen der Unterzeichner des Atlantikpaktes, die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Die nordamerikanische Sicht der Dinge unterscheidet sich ganz offenbar von der französischen Interpretation. I n seinem Brief an den französischen Präsidenten vom 22. März 1966, der dessen Brief vom 11. März beantwortete, kennzeichnete Johnson den ebenso häufig genannten wie diskutierten Abschreckungsgedanken unter Verwendung der folgenden sechs Überlegungen.

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1. Wenn die Alliierten bereits i n Friedenszeiten ihre Ab Wehrkräfte derart organisieren, daß ein gemeinsames Vorgehen möglich ist, w i r d ein Krieg nicht ausbrechen. 2. Die Nato vereinigt die ihr zur Verfügung stehenden Streitkräfte der Mitgliedstaaten zu einem gemeinsamen Instrument, um auf diese Weise Kriegsgelüste zu dämpfen und einem stattfindenden Angriff zu begegnen. Ohne Zweifel ist die Abschreckung nicht allein eine Folge des erreichten militärischen Zusammenhalts, sondern auch der damit gegebenen politischen Einigkeit. 3. Die anderen Nationen der Nato teilen die französische Auffassung nicht. Die Vereinigten Staaten sind entschlossen, zusammen mit den anderen 13 Signatarstaaten des Atlantikpaktes, von denen Frankreich sich freiwillig getrennt hat, das Abschreckungsinstrument der Nato zu erhalten und zu stärken. Nordamerika hat nicht die Absicht, die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre zu vergessen. 4. Es ist nicht vorstellbar, daß Frankreich, das einen so wertvollen Beitrag zur Sicherheit und Entwicklung des Westens geleistet hat, seine neutrale Haltung hinsichtlich der gemeinsamen Probleme und der mit der Nato i m Zusammenhang stehenden Erfordernisse beibehalten wird. Johnson ist überzeugt, daß Frankreich früher oder später wie das verirrte Schaf zu seiner Herde zurückkehren w i r d und sagt daher: „Unserem gemeinsamen Freund und Verbündeten w i r d ein Platz bis zu jenem Augenblick erhalten bleiben, i n dem er zurückkehren wird, um wieder seine so wichtige Rolle zu übernehmen." 5. Bezüglich des französischen Memorandums vom 29. März 1966 bemerkt die Regierung der USA: Die französische Regierung begründet die ihr notwendig erscheinende Entscheidung damit, daß eine Änderung der Bestimmungen über die Nato i m Wege gegenseitigen Einverständnisses nicht zu erreichen sei. Die nordamerikanische Regierung weist daher darauf hin, daß sie selbst und auch andere M i t glieder der Nato die französische Regierung i m Hinblick auf die Vorschriften des Artikels 12 des Atlantikvertrages aufgefordert haben, Vorschläge für eine Neufassung des Vertrages oder seiner Organisation zu unterbreiten. Da darüber hinaus die französische Regierung erklärt hat, daß jede Anregung in dieser Richtung mit größter Aufmerksamkeit geprüft werden würde, kann sich die Regierung der USA nicht erklären, warum die Regierung Frankreichs ohne Fühlungnahme mit seinen Alliierten zu der Annahme gelangt ist, eine Revision der Abkommen über die Nato sei unmöglich und warum sie daher geglaubt hat, einseitig vorgehen zu müssen. 6. I n der Frage des Rückzugs der i n Frankreich befindlichen amerikanischen Streitkräfte darf nicht vergessen werden, daß die französischnordamerikanischen Verträge von 1951 und 1952 für die Dauer der 24*

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Camilo Barcia Trelles

Gültigkeit des Atlantikpaktes i n Kraft bleiben, es sei denn, die beiden Vertragsparteien würden vor dem 4. A p r i l 1969 i m Wege gegenseitiger Übereinkunft ihre Aufhebung beschließen. So muß man sich vor A u gen halten, daß die Abkommen vom 8. Dezember 1958 über das Kommunikationswesen i m Einverständnis der Partner geändert werden können und daß, falls dies innerhalb eines Jahres nicht erreicht wird, der Vertrag nach Ablauf eines weiteren Jahres widerrufen werden kann. Diese Bestimmung aber ist auf alle anderen hier i n Frage stehenden Abkommen anwendbar. Das aber hat Frankreich nicht beachtet als es als Termin für den Abzug der amerikanischen Truppen den 1. A p r i l 1967 festsetzte. Die französische Regierung beendete ihre Darlegungen m i t ihrer Note vom 22. A p r i l 1966, i n der sie erklärte: „Die Regierung der Französischen Republik bestätigt den Eingang des Memorandums der Regierung der Vereinigten Staaten vom 22. März 1966. Die Französische Regierung hat die Gründe ihrer Haltung bereits i n ihren Memoranden vom 11. und 29. März erläutert und w i r d ihr Verhalten entsprechend einrichten." Der Notenwechsel zwischen Frankreich und der Regierung der USA endet demnach m i t einer Betonung der Meinungsverschiedenheiten. Die französische A n t w o r t überrascht durch ihre lakonische Kürze, da sie sich damit begnügt, auf die Ausführungen ihrer beiden Memoranden vom 11. und 29. März 1966 Bezug zu nehmen und auf die Argumente des Memorandums der Vereinigten Staaten vom 22. A p r i l 1966 i n keiner Weise eingeht. Die i n der Dialektik des Generals De Gaulle erkennbare Neinung zu äußerst nüchterner Argumentation darf uns nicht überraschen, da dieser echte Franzose sein Gefallen an der Verwendung der Cartesianischen Logik findet. Ebensowenig kann die unterschiedliche Grundhaltung Frankreichs und Nordamerikas überraschen, da sie schon i m Zusammenhang m i t anderen nicht weniger wichtigen internationalen Problemen zu Tage getreten ist, wie ζ. B. i m Hinblick auf Vietnam und i n den Problemen einer fortschreitenden Öffnung gegenüber dem Osten. Sicherlich ist nicht alles i n den dialektischen Reaktionen des französischen Präsidenten unanfechtbar, wie ζ. B. der Fall seiner mehrdeutigen und i n gewisser Weise überraschenden Erklärung über seine Abkehr von der Nato und sein bedingtes, jedoch möglicherweise auch für die Jahre nach 1969 geltendes Festhalten am Atlantischen Vertrage. Diese Differenzierung läßt vermuten, daß zwar De Gaulle nicht übersieht, daß die Nato ohne das vorherige Zustandekommen des Artikels 3 des Atlantikpaktes nicht bestehen würde, daß er aber vielleicht annimmt, daß man sich i n der A r t der Ausführung dieser Vorschrift den tiefgreifenden Veränderungen anzupassen habe, die die Dynamik der internationalen Politik hervorrufen kann, um so der Gefahr zu entgehen, sich auf die Gültigkeit von Klau-

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sein zu versteifen, die, i n einer bestimmten gegebenen faktischen Situation formuliert, i n dem Maße ihre Angemessenheit verlieren, i n dem sich die internationale Lage ändert. Wie bereits bemerkt wurde, bezieht sich Johnson i n seinem Memorandum vom 12. A p r i l auf den A r t i k e l 12 des Atlantik Vertrages, der die Möglichkeit bietet, nicht allein den Vertrag selbst, sondern auch die Nato einer Revision zu unterziehen. Er stellt darüber hinaus fest, daß die französische Regierung von Nordamerika und den anderen Unterzeichnerstaaten eingeladen wurde, Revisionsvorschläge zu machen. Hieraus muß man entnehmen, daß die USA die Nato i m Prinzip für richtig und für nicht überholt ansehen. Diese von der nordamerikanischen Regierung eingenommene dialektische Haltung muß i m Wege einer naheliegenden Gedankenverbindung zu der Annahme führen, daß diese These i m Grunde gar nichts Neues bietet. Sie erinnert nämlich an jene 43 Jahre der Ruhe, die Europa unter dem System des bewaffneten Friedens verbringen konnte, die aber gleichwohl wegen des Charakters ihrer Basis nie anders als ein mehr oder weniger dauerhafter Waffenstillstand anzusehen war. Die internationale Politik w i r d insbesondere seit 1949 immer häufiger von tiefgreifenden Veränderungen betroffen. Angesichts dieser ihrer offenbaren Wandelbarkeit kann und darf es nicht die Aufgabe der Regierenden sein, sich von den Ereignissen treiben zu lassen. Es muß vielmehr versucht werden, bereits den Gedanken an Verträge, die zur Zementierung des status quo beitragen könnten, auszuschließen, um auf diese Weise das gefährliche Hängen an den Gegebenheiten des Augenblicks zu vermeiden und die Aufmerksamkeit nicht allein auf das Unmittelbare, sondern auch auf das zeitlich noch Entfernte zu richten. Ohne damit die Haltung des französischen Staatschefs bedingungslos gutzuheißen, scheint doch diese Präsident De Gaulle's eigene Aufmerksamkeit für die Zukunft an sich schon zu loben zu sein. Unglückseligerweise zeigen nämlich die Erfahrungen, die mit einer Politik des reinen Verharrens i n den gegenwärtigen Gegebenheiten gemacht worden sind, daß sie den Anforderungen einer Außenpolitik, die ihren Namen verdient und weder improvisiert noch widersprüchlich ist, nicht entspricht. Sie verschließt den Blick vor plötzlich auftretenden, manchmal bestürzenden Entwicklungen. Sie fixiert das Bewußtsein i n einer Weise, die uns nicht als Klarsichtigkeit erscheinen würde, wenn w i r uns nicht darauf versteifen würden, eine A r t von systematischer Unbeweglichkeit zu pflegen. Sie kann für bewegliche Geister zur wahren Zwangsjacke werden und sie in die Gefahr bringen, den Verstand zu verlieren. Aus dem Spanischen übersetzt von Raimund Beck

Unveröffentlichte

Depeschen

v o n Donoso Cortés, Botschafter i n B e r l i n * V o n Carlos V a l v e r d e , S. I., C o m i l l a s (Santander) Seit sich Professor C a r l S c h m i t t nach d e m ersten W e l t k r i e g m i t d e m D e n k e n v o n J u a n Donoso Cortés beschäftigt h a t , w u r d e zuerst i n Deutschl a n d u n d d a n n auch i n a n d e r e n L ä n d e r n e i n lebhaftes Interesse a n d e r Person u n d d e m W e r k des g r o ß e n spanischen D e n k e r s w a c h 1 . Z a h l r e i c h e S t u d i e n h a b e n d a z u beigetragen, d i e B e d e u t u n g seiner a n t i r e v o l u t i o n ä r e n u n d a n t i l i b e r a l e n H a l t u n g i n d e m E u r o p a d e r M i t t e des 19. J a h r h u n d e r t s z u e r k e n n e n 2 . * Despachos inéditos De Donoso Cortés, Embajador en Berlin. Carl Schmitt hat sich vor allem i n folgenden Schriften m i t Donoso Cortés beschäftigt: Die D i k t a t u r . Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. München u n d Leipzig 1921. Politische Theologie. V i e r K a p i t e l zur Lehre von der Souveränität. München u n d Leipzig 1922. Politische Romantik. München u n d Leipzig 1925. Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. München u n d Leipzig 1926. Donoso Cortés i n Berlin, i n : Wiederbegegnung von Kirche u n d K u l t u r i n Deutschland. Eine Gabe f ü r K . M u t h . München 1927. Der unbekannte Donoso Cortés, Hochland, 27. Jahrgang, Bd. I I (1930). Donoso Cortés: Su posición en la Filosofia del Estado europeo, M a d r i d 1930. Donoso Cortés i n gesamteuropäischer Interpretation. K ö l n 1950. 2 Einige der interessantesten sind: Calvo Serer, Rafael: Europa en 1849. Comentario a dos discursos de Donoso Cortés, A r b o r 12 (1949), 329—354. E l pensamiento contrarevolucionario de Donoso Cortés y la ruina de la Europa moderna, en Espana sin problema, M a d r i d 1949. Cenai , S. I. Ramón: L a F i l o sofia de la Historia de Donoso Cortés, Revista de Filosofia 11 (1952), 91—113. Chaix-Ruy, Jules: Donoso Cortés, Théologien de l'Histoire et Prophète, Paris 1956. Dempf, Rainer: Die Ideologiekritik des Donoso Cortés, Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 64 (1956), 298—338. Diez del Corral , L u i s : Donoso Cortés doctrinario, i n : E l Liberalismo doctrinario, M a d r i d 1945. Galindo Herrero: Donoso Cortés y su teoria politica, Badajoz 1957. Höcht , Johannes Maria: Donoso Cortés, Untergang oder Wiedergeburt des Abendlandes? Wiesbaden 1949. Leturia, Pedro: Prevision y refutación del ateismo comunista en los ùltimos escritos de Juan Donoso Cortés, 1848—1853. Gregorianum 18 (1937), 481—517. Lozano, Miguel: Teoria de la Sociedad segùn Bonald y Donoso Cortés, Revista de Estudios extremefios 19 (1963), 335—402. Löwith, K a r l : Donoso Cortés u n d Proudhon, i n : Von Hegel bis Nietzsche, Zürich 1941. Maeztu, Ramiro de: E l espiritu y la decision, Acción espanola, 16 (1936), 424—456. Mecnzer , Bela: Metternich y Donoso Cortés, Pensamiento cristiano y conservador en la revolución europea, A r b o r 13 (1949), 63—92. Monsegù, Bernardo: Clave teològica de la Historia segun Donoso Cortés, Badajoz 1958. Przywara, Erich: Dyonisisches u n d christliches Opfer, Stimmen der Zeit, 129 (1935), 11—24. Donoso Cortés u n d Nietzsche, i n : Humanitas. Der Mensch gestern u n d morgen, Nürnberg 1952, S. 243—257. Schramm , Edmund: Donoso Cortés, Leben u n d 1

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Donoso Cortés war der europäischste Spanier seiner Zeit. Tatsächlich diagnostizierte keiner so treffend die Krankheiten der westlichen Z i v i l i sation, keiner kannte so genau das Wesen der verschiedenen Völker, ihre Interessen und Probleme. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Metternicht und Pius I X , Louis Napoleon und Guizot, Friedrich Wilhelm I V von Preußen und Schelling sich Gedanken über seine Reden machten und seinen Rat einholten. Er kannte Europa, weil er seine Geschichte sehr eingehend studiert hatte. Von Kindheit an liebte er die historischen Studien, hatte zuerst die Klassiker gelesen, dann Machiavelli, Montesquieu, Voltaire, Chateaubriand, Michelet, etc. und später Bossuet und den Heiligen Augustinus. Außerdem hatte er die europäischen Völker und ihre charakteristischsten Vertreter, nämlich die Politiker und Diplomaten, unmittelbar kennengelernt. I n den drei Jahren seines freiwilligen Exils in Paris (1840 bis 1843), i n das er aus Treue zur Königin Maria Christina ging, hatte er Gelegenheit, die Pulsschläge der europäischen Politik i n jener Stadt wahrzunehmen und zu verfolgen, die noch immer die Hauptstadt Europas war. Später als Botschafter Spaniens in Berlin (1849) und Paris (1851 bis 1853) konnte er die Politik der Nationen kennenlernen und beobachten, das Werden der politischen Parteien, den Fortschritt des Liberalismus, das Eindringen der Massen i n das politische Leben, die Krise der alten Regierungssysteme, die wirtschaftliche Entwicklung, die neuen Entdeckungen, kurzum: den Beginn des neuen Europa. W i r haben erwähnt, daß Donoso Cortés spanischer Botschafter i n Berlin war. I m November 1848 erhielt er die Ernennung und reiste i m Januar 1849, wenige Tage nach seiner berühmten Rede über die Diktatur, i n die preußische Hauptstadt. Seit dem Jahre 1847 ist er ein Katholik, der sich entschlossen hat, alle Konsequenzen aus seinem Glauben zu ziehen. Bewogen haben ihn zu dieser Haltung der Kontakt mit Santiago Werk eines spanischen Antiliberalen, Hamburg 1935. Donoso Cortés. Su vida y su pensamiento, M a d r i d 1936. L a influencia de Donoso Cortés y la critica, Religion y Cultura 34 (1936), 39—53. Donoso Cortés ejemplo del pensamiento de la tradición, M a d r i d 1952. Z u r Frage: Donoso Cortés u n d Deutschland, Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, 11 (1955), 220—230. Sevilla Andres, Diego: Donoso Cortés y la Dictadura, A r b o r 24 (1953), 58—72. Interpretación marxista de Donoso Cortés, A r b o r 29 (1954), 186—192. E l impacto de San Augustin en Donoso, L a Ciudad de Dios, nùm. extraordinario I I (1955), 621—645. Suarez Verdeguer y Frederico: Donoso Cortés en el pensamiento europeo del siglo X I X , M a d r i d 1954. L a primera posición politica de Donoso Cortés, A r b o r 16 (1946), 73—98. Introducción a Donoso Cortés, M a d r i d 1964. Valverde, S. I. Carlos: Presupuestos metafisicos en la Filosofia social y politica de Juan Donoso Cortés, Miscelânea Comillas (1958), 1—77. Westemeyer,Dietmar: Donoso Cortés, Staatsmann u n d Theologe, Münster 1940. Eine ausführlichere B i b l i o graphie ist i n unserem zitierten A r t i k e l Presupuestos metafisicos . . . zu finden. Sie bedarf noch der Ergänzung durch die neueren Veröffentlichungen.

Unveröffentlichte Depeschen von Donoso Cortés, Botschafter i n B e r l i n

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de Massarnau, einem i n Paris ansässigen Spanier, der unerwartete Tod eines Bruders, „der starb, wie Engel sterben, wenn sie sterben könnten", und ein gründliches Nachdenken über die Revolutionen. Als Donoso Cortés nach Berlin kommt, ist es erst ein Jahr her, daß die Februarrevolution i n Paris die zweite französische Republik hergestellt hat. Ganz Europa war durch diesen dem Anden Régime versetzten Gnadenstoß erschüttert worden. I n Österreich, Italien, Spanien und Deutschland w i r d deutlich das Verlangen spürbar, der demokratischen Flugbahn Frankreichs zu folgen. Das Frankfurter Parlament, bürgerlich und liberal, vertrat i n Deutschland die neuen Ideen gegenüber den Fürsten. Donoso übernahm das A m t i n Berlin, obgleich es ihm nicht sonderlich zusagte. Er konnte kein Deutsch. Deshalb war i h m die deutsche K u l t u r vielleicht weniger vertraut, auch wenn es i n seiner Bibliothek Übersetzungen von Fichte gab und er Schriften von Friedrich Schlegel und Görres gekannt haben muß. I n einem Brief an den Grafen Raczynski, den preußischen Botschafter i n Madrid, mit dem er eng befreundet war, schreibt er: „Ich habe Euch bereits den wahren Grund genannt, der mich zur Annahme des Postens, den ich in Berlin bekleide, bewogen hat: durch mein Hierherkommen schien es m i r möglich, mich auf ehrenvolle Weise aus Spanien zu entfernen, wo ich einen Umsturz für unvermeidlich halte. Wenn ich dort eine Katastrophe miterleben müßte — und heute halte ich sie für sicher —, möchte ich dies nicht als ohnmächtiger Zeuge tun. Gott weiß, wie und wann das sein w i r d 3 ! " Angesichts der revolutionären Bedrohungen i n Spanien nach der französischen Revolution von 1848 verstärkten sich also der charakteristische Pessimismus seines romantischen Temperaments wie auch seine Furcht vor einem Scheitern der einzigen Autorität — der des General Narvâez —, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung i n der Lage war. Dennoch bot er sich seiner Regierung an, falls diese sich entschließen sollte, den Weg der großen Politik zu beschreiten; dann „würde ich mich sofort nach Erhalt der Nachricht i n Berlin für Ihre Weisungen bereithalten" 4 . Denn nach Berlin ging er in der Tat m i t sehr geringen Erwartungen: „Nach Berlin gehe ich allenfalls zum Schlafen. Das ist, was man dort tut 5 ." Mehr noch, er war voreingenommen gegen Preußen, i n dem er das Bollwerk des Protestantismus erblickte. Gleichwohl hat er sich bald für die 3

Brief v o m 22. A p r i l 1849. Obras de Donoso Cortés, Ausgabe von H. Juretschke, M a d r i d 1946, Bd. I I , S. 775. 4 Depesche an seine Regierung aus Paris auf dem Wege nach Berlin, 16. Februar 1849, Obras, zit. Ausgabe, Bd. I I , S. 232. 5 Ibid.

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deutsche Politik interessiert und die entscheidende Rolle erkannt, die Preußen für das europäische Gleichgewicht zu spielen berufen war. Dies ist nicht der Zeitpunkt für eine detaillierte Analyse des Denkens von Donoso, wie es sich i n seinen offiziellen Depeschen aus Berlin und dem Briefwechsel darstellt, den er von dort mit dem Grafen Raczynski führte. Carl Schmitt® und Edmund Schramm 7 haben diese Analyse bereits i n scharfsinniger Form durchgeführt. I n Berlin blieb er nur bis zum November desselben Jahres m i t einer Unterbrechung von zwei Monaten — August bis Oktober —, i n denen er vor der Cholera nach Dresden flüchtete. Es ging i h m gesundheitlich nicht gut, was Depressionen und Schwermut zur Folge hatte. Unter der Kälte l i t t er sehr. Er bangte schließlich u m sein Leben und trat am 31. Oktober die Rückreise nach Spanien an m i t einer Erlaubnis für drei Monate, aus der dann der Rücktritt von seinem Posten wurde. Trotz dieser wenig günstigen Umstände kam er seinen Botschafterverpflichtungen nach und sandte regelmäßig Depeschen an seine Regierung, i n denen er von dem Gang der internationalen Ereignisse berichtet. Obgleich es sich dabei um offizielle Schreiben handelt, tragen sie den unverwechselbaren Stempel seiner Persönlichkeit, und seine darin abgegebenen scharfen Urteile über Vorgänge und Personen bilden eine Quelle ersten Ranges für die Erforschung seines Denkens. Diese offiziellen Berichte oder Depeschen werden i m Archiv des Außenministeriums i n Madrid aufbewahrt. Ein enger Freund und Bewunderer Donosos, Gabino Tej ado, der sich bald nach Donosos Tod um eine Herausgabe seiner Schriften bemühte (1854), verwaltete diese Dokumente und ließ sie übertragen. I n seiner Ausgabe sind einige davon enthalten, aber völlig unkritisch legte er die Depeschen als private Briefe vor, zögerte nicht Ausdrücke zu verändern, ließ ganze Absätze aus und solche Depeschen unveröffentlicht, die ihm weniger interessant erschienen. I n den Jahren 1903—1904 besorgte Juan Manuel Orti y Lara eine neue Ausgabe der Werke Donosos8. Darin druckte er wörtlich nach, was Gabino Tejado früher editiert hatte. Hans Juretschke besorgte i m Jahre 1946 eine neue Ausgabe, die er Sämtliche Werke zu betiteln wagte 9 . Hin• Donoso Cortés i n Berlin, i n Wiederbegegnung von Kirche u n d K u l t u r i n Deutschland. Eine Gabe f ü r K . M u t h , München 1927. Nachgedruckt i n Positionen u n d Begriffe, Hamburg 1940 u n d i n Donoso Cortés i n gesamteuropäischer Interpretation, K ö l n 1950. 7 Donoso Cortés. Su vida y su pensamiento, M a d r i d 1936, S. 197—214. 8 Obras de Don Juan Donoso Cortés, Marqués de Valdegamas, bajo la dirección y con u n pròlogo de Don Juan Manuel O r t i y Lara, 4 Bände, M a d r i d 1903— 1904. • Obras complétas de Don Juan Donoso Cortés, Marqués de Valdegamas, recopiladas y anotadas con la aportación de nuevos escritos por el Dr. D. Juan Juretschke, M a d r i d 1946, 2 Bände, Biblioteca de Autores Cristianos.

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sichtlich der B e r i c h t e aus B e r l i n gab er l e d i g l i c h w ö r t l i c h w i e d e r , w a s er i n der A u s g a b e v o n O r t i y L a r a v o r f a n d . W ä h r e n d die S t u n d e f ü r die k r i t i s c h e u n d v o l l s t ä n d i g e A u s g a b e d e r S c h r i f t e n des spanischen D e n k e r s n ä h e r r ü c k t , h o f f e n w i r , demnächst eine bessere A u s g a b e als die f r ü h e r e n v o r l e g e n z u k ö n n e n . U n d nach u n d nach w e r d e n w i r u n v e r ö f f e n t l i c h t e D o k u m e n t e herausgeben. D i e h i e r v o r gelegten D o k u m e n t e s i n d o f f i z i e l l e Depeschen, d i e Donoso als B o t schafter Spaniens i n B e r l i n a n seine M a d r i d e r R e g i e r u n g sandte u n d die b i s l a n g u n v e r ö f f e n t l i c h t w a r e n . Z w e i f e l l o s s i n d es n i c h t die interessantesten Berichte, w e i l G a b i n o T e j a d o a u s z u w ä h l e n w u ß t e . A b e r die D o k u m e n t e s i n d n ü t z l i c h f ü r d i e K e n n t n i s der Wechselfälle der deutschen Geschichte i m J a h r e 1849, so w i e d e r Botschafter Spaniens dieselbe sah u n d i n t e r p r e t i e r t e . U n d interessant s i n d sie v o r a l l e m deshalb, w e i l der spanische Botschafter J u a n Donoso Cortés w a r . Aus dem Spanischen übersetzt von L i l y Blümel, Heidelberg

Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 2 Excmo. Senor M u y Senor mio: E l Diario de Francfort y la Gaceta de Colonia han dado la noticia de que el Ministro de Rusia en B e r l i n ha recibido de San Petersburgo una Nota circular dirigida a las Potencias de Europa, en la cual se déclara la Rusia resuelta a mantener en su fuerza y vigor los tratados de 1815 hasta que hayan sido modificados legalmente, y déclara que considerarâ corno u n Casus belli la infracción por parte de cualquiera de las Potencias Europeas; y habiendo visto hoy reproducida esta noticia por los periódicos franceses, creo de m i deber asegurar a V. E. que carece de todo fundamento. M r . de Meyendorff, Ministro de Rusia en Berlin, no ha recibido sino una nota circular en que la Rusia para tranquilizar a las Naciones manifiesta las causas légitimas de su intervención en Transilvania y su firme resulución de abandonar el territorio austriaco tan luego corno cesen los motivos que le obligaron a extral i m i t a r sus fronteras. Aprovecho esta ocasión para reiterar a V. E. las seguridades de m i mâs alta consideración, rogando a Dios guarde la vida de V. E. muchos anos. B e r l i n 6 de Marzo de 1849. Excmo. Senor B. L. M. de V. E. su mâs a tento y seguro servidor E l Marqués de Valdegamas P. D. Acaba de verificarse la votación de Presidente de esta 2a Câmara, habiendo sido elegido M r . Grabow Candidato del Ministerio por la endeble Mayoria de 14 votos. Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho.

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Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 4 Excmo. Senor M u y Senor mio: Hoy tengo noticias de la mas alta gravedad que comunicar a V. E.: E l Emperador de Austria ha disuelto la Asamblea Constituyente de Kremsier, y ha otorgado de su piena autoridad, una carta constitucional a sus pueblos; la carta otorgada consigna principios conservadores del orden social, y restrictivos de aquella libertad absoluta a que se iban acostumbrando los pueblos alemanes. L a contribución es en ella reguladora de los derechos politicos. Cinco diputados acusados de complicidad en el bàrbaro asesinato del General Latour han sido reducidos a prisiones; u n nùmero igual de individuos extranos a la Asamblea, convictos del mismo crimen, han sido pasados por las armas. A la hora en que escribo no se saben mas pormenores acerca de estas gravisimas ocurrencias que van a influir poderosamente en el destino de Europa. Tengo motivos para creer que el Austria, que hasta hace poco habia observado una gran reserva en todo lo concerniente a la cuestión de la unidad de la Alemania, ha manifestado ya su opinion sobre este asunto, reducida a que debe crearse u n directorio federal, en el cual habrâ de tener el Austria la Presidencia y dos votos, dos votos la Prusia, uno la Baviera, otro el Hannover y très repartidos entre los demâs Estados de Alemania. Aprovecho esta ocasión para reiterar a V. E. las seguridades de m i mas alta consideración y ruego a Dios guarde la vida de V. E. muchos anos. B e r l i n 8 de Marzo de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 5 Excmo. Senor M u y Senor mio: E l Rey ha pasado hoy una gran revista a la guarnición de esta capital: el entusiasmo por la real persona ha sido grande, asi entre los soldados, corno entre las gentes del pueblo. No se han oido otros vivas sino los que se dirigen al Rey. Esta solemnidad se ha terminado sin el mas leve desorden. Hoy debe de haber en la 2a Carnara una interpelación sobre el estado de sitio, en que sigue esta Capital; se cree que sera borrascosa. Hace algunos dias que corren rumores de una gran insurrección que ha de verificarse el 18 de este mes, ani versano de la revolución, anadiéndose que los republicanos franceses apoyarân el movimiento en las provincias renanas.

Unveröffentlichte Depeschen von Donoso Cortés, Botschafter i n B e r l i n

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E l Duque de Gor ha llegado ayer a esta Capital y manana continuarâ su via je a Viena. Aprovecho esta ocasión para asegurar a V. E. de m i mas alta consideración y ruego a Dios guarde su vida muchos anos. B e r l i n 8 de Marzo de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V. E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 6 Excmo. Senor M u y Senor mio: Dejandò ya al cuidado del Ministro de S. M. en Viena, enterar a V. E. de cuanto dice relación con la disolución de la Asamblea Constituyente y con el otorgamiento Real de la carta, creo, sin embargo, oportuno llamar la atención de V. E. hacia algunos de los principios consagrados en ese Código, que es a u n mismo tiempo u n sintonia y una consecuencia de la m i l a grosa resurrección de aquel vastisimo Imperio. L a carta no es provisional corno la de Prusia, sino definitiva; su reforma es potestativa en las Cortes con el Emperador; durante la próxima legislatura del Parlamento podrâ ser reformada sin sujección a otros trâmites que los prescritos para la elaboración de las leyes comunes; pasada la primera legislatura no podrâ serio sino sujetândose a trâmites mâs embarazosos y prolijos. Tales son la presencia de las très cuartas partes de los Diputados de las Câmaras, y la mayoria de las dos terceras partes de los individuos présentes. Por aqui se ve que al propio tiempo que el Emperador toma en su mano, con arrojo, el poder constituyente, aspira a dar toda aquella estabilidad que es compatible con las volubilidad de estos tiempos, a la obra que ha salido de sus manos. L a unidad politica del Imperio està simbolizada en u n Parlamento Imperiai, compuesto de représentantes de todas las Naciones y de todas las razas. Esa providencia atrevida y revolucionaria, palabra empleada aqui en su sentido grandioso, es propia para llamar la atención de todos los hombres de Estado. L a unidad y la indivisibilidad del Imperio, proclamada explicitamente en la carta, va contra la resolución también explicita de la Constituyente de Francfort, en v i r t u d de la cual entre las provincias alemanas y las que no lo son, cuando todas obedecen a u n solo principe, no puede haber otro vinculo sino el dinàstico. E l Austria proclamando la unidad radicai y la indisolubilidad perpetua de sus razas y naciones, pone a la Asamblea de Francfort en el caso de aceptarla corno es, ο de rechazarla de todo punto de la confederación germànica; en el primer caso entrando el Austria en la confederación con 39 millones de habitantes, es de hecho y de derecho su cabeza. En el segundo

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caso, condena con su separación, al Imperio Alernan al aislamiento ya a la impotencia, rodeado corno estarâ de très grandes imperios hostiles, el francés, el ruso y el austriaco. Para fortificar la unidad poderosa del Imperio, la carta suprime de u n golpe todas las lineas de aduanas internas, con lo cual al propio tiempo que asigna la mancomunidad de intereses en todos los Estados del Imperio, lanza una nueva protesta y u n nuevo desafio a la Constituyente de Francfort que no reconoce ninguna alianza aduanera entre naciones o provincias que tengan distinto origen. E l Parlamento I m p e r i a i se compone de dos Câmaras. L a primera representa mas especialmente los intereses locales de las plazas y Naciones que constituyen la Monarquia; los individuos son nombrados por las dietas provinciales; la segunda representa mas especialmente la unidad del Estado: sus individuos son nombrados directamente por todos los electores del imperio. Los electores deben de pagar una contribución bastante elevada y ninguno que no sea elector podrâ ser elegido. Los miembros de la Câmara alta son elegidos por 10 anos; los de la baja por cinco. Las Câmaras pueden reunirse en Viena o en el punto que el Emperador désigné. Las dietas provinciales, ο por mejor decir, nacionales, participarân de la potestad legislativa que ejercerân j untamente con el Emperador en todo lo relativo a los intereses nacionales. De manera que en el Parlamento central se daran leyes al Imperio y en los nacionales a las razas, hallândose de este modo la unidad y la diversidad juntas en uno. Ninguna de estas disposiciones se aplican al Reino Lombardo-Veneto por ahora; lo cual es u n homenaje rendido a las Potencias mediadoras en la cuestión Italiana. Gravisimas corno son todas estas providencias, hay todavia una que es mas grave y sobre la cual llamo m u y especialmente la atención de V. E. L a Constitución no senala el tiempo en que ha de reunirse el Parlamento; al contrario, previene que no se réunira hasta que el Emperador haya publicado por u n motu proprio la organización especial de las Dietas Nacionales, lo cual es aplazar la reunion de las Câmaras por u n tiempo indefìnido; si a ésto se anade que en la misma Constitución se previene que el Emperador hasta la reunion de las Câmaras estarâ en el pleno ejercicio de la soberania independiente, se verâ claro que el otorgamiento de la carta es el golpe de estado mâs atrevido, no siendo en realidad otra cosa sino la restauración de la Monarquia absoluta. Que el absolutismo considerado en si sea agradable al Emperador, es cosa que se concibe fàcilmente, pero el absolutismo que es agradable para los Emperadores en todos tiempo, es ademâs hoy dia, una providencia de salvación para el Austria y para el mundo. E l Austria necesita que la suma potestad esté en una sola mano para llevar a u n término dichoso très gravisimas cuestiones : la Hùngara, la Italiana y la Alemana. N i la basta el absolutismo para resolverlas porque necesita ademâs u n ejército poderoso, por esta razón antes de très semanas, su ejército ascenderà a seiscientos m i l hombres. Seiscientos m i l hombres, en el centro de la Europa, gobernados por una sola mano y dirigidos por una sola inteligencia, es el suceso mâs grave que hoy

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podla realizarse en el mundo. Su importancia me ha decidido a d i r i g i r a V. E. esta comunicación a pesar de tener S. M. ya en Viena u n Ministro Plenipotenciario. Con este motivo, reitero a V. E. las veras de m i consideración mas distinguida y ruego a Dios que guarde su vida muchos anos. B e r l i n 10 de Marzo de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V. E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 9 Excmo. Senor M u y Senor mio: E l Gobierno austriaco ha dirigido con fecha 9 de Marzo a Mr. Schmerling, su representante cerca del poder centrai de Francfort, una comunicación en la cual se lee entre otras cosas de menos importancia lo siguiente: " E l Austria, descansando en su propia fuerza y constitución, no puede romper los lazos que unen estrechamente entre si las provincias de la Monarquia y que hacen de ella u n Imperio unitario. Si la Alemania no aprecia esta necesidad, el Gobierno austriaco no podrâ menos de sentirlo, pero por eso no puede renunciar a sus condiciones de vitalidad. Todo aquel que desee realmente la unidad de la Alemania procurarâ suministrar al Austria los medios necesarios para continuar, sin renunciar a las condiciones de su existencia, formando parte de la gran patria alemana. E l Gobierno del Emperador ha dado ya a conocer su opinion acerca del Jefe del Imperio. Comprende la division del Imperio, la cual se apoya en lo pasado, en grandes cuerpos, representados por elegidos del pueblo, que enviando sus delegados cerca del poder central discutan y cuiden con ellos los intereses comunes de la patria. Comprende por consiguiente una Câmara formada por elección indirecta y cuya acción no sea paralizada por una representación del pueblo, colocada encima ο al lado de ella. E n este caso, el Austria està dispuesta a formar uno de esos Cuerpos, a tornar parte en las deliberaciones por medio de comisiones nombradas, a consecuencia de u n acuerdo prealable, entre los gobiernos y sus Câmaras, y a contibuir de todas maneras al adelanto de los intereses comunes de la Alemania. E n desquite, el Austria se creeria obligada, en el caso contrario, a librarse de los peligros que necesariamente resultarian para todo el Imperio del conflicto de los poderes. E l Gobierno del Emperador se prestarà voluntario a todo lo que esté dentro de los limites de que no puede salir, y esto porque precisamente quiere sinceramente la unidad, la unidad posible, sin la cual no hay mâs que division en el interior y dependencia del exterior. E l Gobierno del Emperador quiere una Alemania grande y fuerte, que respete los derechos bien adquiridos de todos

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que tome en consideración y adelante los intereses politicos y materiales, que esté dotada de instituciones propias para mantener el orden en lugar de arruinarle, cuyo brazo sea poderoso en mar y tierra, que tenga una representación comûn en el extranjero, donde sera juzgada u t i l una Alemania llena de energia y rica en gloria. Toda proposición que descanse sobre estas bases sera aceptada por el Gobierno Austriaco; cuenta con los sentimientos verdaderamente alemanes de los que saben apreciar sus proposiciones." Por aqui se ve que, conforme a lo que ya habia previsto, el Austria, pone al Poder central y a la Asamblea constituyente en la alternativa o de aceptarla corno parte integrante de la Confederación con todas sus diversas nacionalidades, o de de j aria fuera y en actitud hostil, con lo cual el nuevo imperio central quedarâ reducido a la impotencia; por lo que va copiado de la ref erida nota se vé también que el Austria no entiende por la unidad posible de que habla, sino una verdadera Confederación de Estados y que rechaza la formación de una Asamblea de elección popular que seria el simbolo de la unidad demagogica, aunque esa unidad estuviera velada con el gran nombre de u n Imperio. Con este motivo reitero a V. E. las seguridades de m i mas alta consideración, rogando a Dios guarde su vida muchos anos. B e r l i n 16 de Marzo de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V. E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 11 Excmo. Senor M u y Senor mio: Ayer, con motivo de ser el dia aniversario de la revolución, se observó una grande inquietud en esta ciudad y la formación de algunos tropeles de gentes, que llevaban en sus sombreros la escarapela roja; con este motivo las tropas de la guarnición estuvieron sobre las armas, y vino la noche sin que se hubiera alterado la tranquilidad pùblica; para conservar el orden habian bastado la actitud imponente de la guarnición y el arresto de algunas personas que procuraron inflamar a las turbas. Llegada la noche, sin embargo, se formò una barricada por gente perdida; entonces fué necesario acudir al empieo de la fuerza que en breves instantes deshizo la barricada y disperso a los grupos. En este ataque no hubo que lamentar sino una o dos desgracias por parte de los paisanos. Otros fueron cogidos y presos. Hoy la tranquilidad es completa. Las noticias relativas a la cuestión de Dinamarca son m u y buenas: el armisticio se ha prorrogado hasta el 15 de A b r i l ; este término es suficiente para que la Inglaterra pueda ajustar una paz honrosa entre las partes contendientes.

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Aprobada en lo que tiene de substancial la moción del diputado Welcker por la comisión de constitución de la Asamblea de Francfort, comenzó el debate sobre su dictamen hace cuatro dias y continùa; segùn todas las probabilidades sera adoptada; falta ahora saber si el Rey de Prusia aceptarâ una corona que seria u n ludibrio; todo me hace creer que esa corona no sera aceptada. De cualquier modo que esta gran cuestión se resuelva turbarâ forzosamente por largos anos el reposo de la Alemania y al cabo de cierto tiempo el reposo de la Europa. Aprovecho esta ocasión para reiterar a V. E. las veras de m i mas alta consideración y ruego a Dios que guarde la vida de V. E. muchos anos. B e r l i n 19 de Marzo de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V. E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 12 Excmo. Senor M u y Senor mio: Toda la atención de la Alemania està puesta en Francfort; aquel es el centro de todas las esperanzas y el centro de todos los temores; hasta los conspiradores de profesión aguardan el resultado de las deliberaciones de aquella demasiado famosa Asamblea y aplacan entretanto sus proyectos de devastación y de ruina. No ha habido un solo dia de los que van transcurridos desde que tuve la honra de d i r i g i r a V. E. m i ù l t i m o despacho, sin que el telègrafo no nos haya dado cuenta del progreso de la discusión a l l i entablada. Habiéndome propuesto no tornar la pluma en la mano sino para anunciar a V. E. el término definitivo de esta gran cuestión, he guardado silencio hasta ahora; convencido empero de que la confusion va creciendo en vez de disminuir y de que el caos alemân cada dia es mâs intenso y oscuro, creo que no debo de j a r pasar mâs tiempo sin exponer a la consideración de V. E. el estado que hoy tiene la cuestión relativa a la unidad alemana. A u n no es posible no solo afirmar, pero n i calcular siquiera las vicisitudes ulteriores; pero desde hoy puede ya afirmarse, sin temor de ser desmentido por los hechos, que el proyecto de u n Imperio hereditario vino a tierra. L a Asamblea en su sesión de antes de ayer, desechó por 283 votos contra 252, el dictamen de la mayoria de la Comisión de Constitución conforme en su parte esencial con la moción del Diputado Welcker, la cual, con esta votación ha sido virtualmente desechada. Sigue ahora la votación de las otras mociones que son infinitas, siendo lo mâs probable que la Asamblea después de haber puesto a la orden del dia la cuestión mâs temerosa y mâs llena de dificultades en la època presente, acabe por de j aria sin resolución dando asi al mundo el espectâculo de su inquieta actividad y de su radicai impotencia. Las causas del abandono en que ha caido el sistema imperiai del Diputado Welcker puesto a discusión bajo los auspicios mâs faustos, son varias. Por una 2 Festschrift für Carl Schmitt

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parte el trascurso de las horas calmò el ardor impetuoso con que la Asamblea recogió el guante arrojado por el Austria, y por otra, una nota pasada en aquellos dias por el Conde de A r n i m al Gobierno central, vino a quitar el Emperador al Imperio, de j andò a la Constituyente de Francfort en u n aislamiento absoluto. En esta nota, que lleva la fecha del 10, el Conde de A r n i m , hombre entendido y prudente, déclara en términos explicitos y claros que la Prusia tomarâ en profunda y benèvola consideración el proyecto de u n Directorio federal propuesto por el Austria y se felicita de la cordial inteligencia que existe entre estas dos poderosas naciones. Esta nota es la renuncia explicita por parte del Rey de Prusia, a la dignidad Imperial y la condenación mâs solemne de los proyectos descabellados y absurdos de la Constituyente alemana. Viéndose sola, abandonada de las Naciones y de los Principes, y hasta del Rey a quien pensaba ofrecer la corona del Imperio, la Asamblea se vió en la necesidad dolorosa de renunciar u n proyecto que aun a los ojos de los mâs obcecados habia llegado a ser absurdo o imposible. A la hora en que escribo, la Constituyente ignora lo que quiere y solo sabe lo que renuncia ; el término final de este estado angustioso no se ve claro todavia. A pesar de esto, creo, corno he tenido la honra de manifestar a V. E. en otra ocasión, que el Directorio propuesto por el Austria, siendo la combinación mâs aceptable, acabarâ por realizarse, a pesar de los grandes obstâculos y de las grandes resistencias que ha de encontrar forzosamente por parte de la demagogia alemana. Lo que tienen de irrealizable y de absurdo los proyectos anârquicos de la ùltima, no impiden que su fuerza sea grande; y esa fuerza, mâs tarde o mâs temprano romperà en convulsiones y trastornos. En otra ocasión me tomaré la libertad de someter a la consideración de V. E. lo que pienso sobre esta grave materia. L a situación demasiado obscura ya y escabrosa ha venido a complicarse con la dimisión que ha puesto en manos del Vicario del Imperio, el Ministerio de Francfort, a consecuencia de la ù l t i m a votación de la Câmara; este suceso fâcil de preveer visto el apoyo que el Ministerio habia dado a la moción del Diputado Welcker, ha venido aqui por despacho telegràfico, y ha puesto a todos en la mayor ansiedad y en la mâs angustiosa incertidumbre. L a posición del Vicario no le permite rodearse de personas que no estén designadas por la Constituyente y esta Asamblea no tiene mayorias sino para destruir; de aqui la dificultad inmensa, por no decir imposibilidad absoluta para el Vicario, de formar u n Ministerio homogéneo y estable. Todo cuanto yo pudiera encarecer a V. E. la oscuridad que cubre el porvenir de la Alemania seria sin embargo poco, comparando con la realidad m i encarecimiento. A q u i los hombres, las asambleas, y los partidos no saben otra cosa sino aglomerar nubes sobre nubes, dej andò al cuidado de la providencia la futura iluminación de este caos con u n rayo de su luz. Con este motivo reitero a V. E. las seguridades de m i mâs distinguida consideración y ruego a Dios guarde su vida muchos anos. B e r l i n 23 de Marzo de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V. E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer S e c r e t a o de Estado y del Despacho.

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Legación de S. M. la Heina de Espana en B e r l i n No 14 Excmo. Senor M u y Senor mio: por despacho telegrafico de Francfort acaba de llegar la noticia que la Asamblea, afiadiendo una inmensa contradicción a sus infinitas contradicciones, después de haber votado contra la moción del Diputado Welcker, ha proclamado Emperador al Rey de Prusia por doscientos noventa votos. Doscientos cuarenta y ocho individuos contrarios a esta elección se han abstenido. Otro dia tendré la honra de llamar la atención de V. E. sobre este grave suceso. Con este motivo reitero a V. E. las seguridades de m i mas alta consideración y ruego a Dios guarde su vida muchos anos. B e r l i n 29 de Marzo de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V. E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 17 Excmo. Senor M u y Senor mio: En los varios despachos que he tenido la honra de d i r i g i r a V. E. relativos a la cuestión de la unidad alemana y al estado de los partidos en Prusia, he asentado entre otras, las proposiciones siguientes: E l Rey de Prusia temeroso de aceptar la corona del Imperio y de negarse a su aceptación aplazara su resolución definitiva hasta consultar a los Principes alemanes; la Constituyente de Francfort procurarâ dar la ley a todos los Principes, sublevando contra ellos a todas las Asambleas; el partido monârquico de Prusia es u n partido sin experiencia y sin inteligencia politica y contribuirà con sus mismos enemigos a su propio vencimiento. Todas estas previsiones se han realizado. Ayer las dos Câmaras votaron u n mensaje para obligar moralmente al Rey a aceptar la Corona del Imperio. E l partido moderado cuya ruina es segura, si ese acontecimiento se realiza, ha sido el primero en redactar y en votar el mensaje asi en la primera corno en la segunda Câmara. E l Presidente del Consejo declaró que el Rey de Prusia no aceptaria la Corona hasta haberse puesto de acuerdo con todos los Principes alemanes. Ayer llegó la Diputación de Francfort encargada de ofrecer al Rey la Corona en nombre de la Asamblea. Hoy sera recibida por S. M. que la darà la misma respuesta que su Presidente del Consejo de Ministros a las Câmaras Prusianas. Esta Diputación fué recibida ayer con gran pompa en el desembarcadero del camino de hierro por una comisión del Ayuntamiento y otra de las dos Câmaras. 2*

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Hoy corre aqui la noticia de que han comenzado las hostilidades entre Dinamarqueses y Alemanes por la cuestión de los Ducados ; esta noticia aunque probable, necesita confirmación. Reitero a V. S. las seguridades de m i mâs alta consideración. Dios guarde a V. E. muchos anos. B e r l i n 3 de A b r i l de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V. E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 18 Excmo. Senor M u y Senor mio: Ayer fue recibida por este Soberano la Diputación de la Constituyente de Francfort, encargada de ofrecerle la Corona I m p e r i a i en nombre de dicha Asamblea, a la que S. M. se dignó contestar en los términos siguientes : "Senores: E l mensaje de que habéis sido portadores me ha conmovido profundamente, y me ha hecho alzar la vista hacia el Rey de los Reyes y recordar los deberes sagrados e inviolables que tengo que guardar corno Rey de m i pueblo, y corno uno de los Principes mâs poderosos de Alemania. Con esta mirada, Senores, se distinguen mâs claramente los objetos y el ànimo se fortalece. En la resolución de la Asamblea Nacional Alemana que me presentâis oigo la voz de los représentantes del pueblo germànico. Esta voz me confiere derechos cuyo valor sé apreciar. Para seguirla debo imponerme sacrificios inmensos y obligaciones sumamente graves. L a Asamblea Nacional Alemana ha contado conmigo preferentemente, porque se trata de fundar y consolidar la unidad de Alemania. Yo estimo esta confianza de su parte y os suplico que le déis por ella las gracias, en m i nombre. Estoy pronto a demostrar con los hechos, que no se han enganado los varones que se fian de m i adhesion, m i lealtad y m i amor a patria comùn germànica. Sin embargo, Senores, yo no corresponderia a los sentimientos del pueblo alemân, n i reanimaria la unidad de Alemania, si, violando derechos m u y sagrados, faltando a mis promesas solemnes y desatendiendo el dictamen de las Testas Coronadas, de los Principes y des las ciudades libres de Alemania, tomase una resolución que deberia traer las mâs graves consecuencias para ellos y para las pueblos germânicos que gobiernan. Toca, pues, ahora a los diferentes Estados Alemanes ponerse de acuerdo para examinar si la Constitución convendrâ a cada uno de ellos y a todos reunidos, y si los derechos que se me confieren serân suficientes para que yo pueda d i r i g i r con mano fuerte, cual lo exige tan alto destino, la suerte de la gran patria alemana y dar cumplimiento a las esDeranzas de los pueblos.

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Con lo que puede contar la Alemania, y lo que vosotros, Sefiores, podéis publicar por todas las fértiles campinas, es que si necesita el auxilio del âguila y la espada prusianas, yo acudiré a prestarselo aun antes de que me llame a hacerlo. Entonces emprenderé con animo el camino que siempre han seguido m i familia y m i pueblo, el camino de la gloria y la lealtad alemanas." Con este motivo tengo la honra de renovar a V. E. el testimonio de m i mas alta consideración. Dios guarde a V. E. muchos anos. Berlin 4 de A b r i l de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V. E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 19 Excmo. Senor M u y Senor mio: En la sesión de ayer de la Segunda Carnara presentò el Diputado von Auerswald la siguiente moción m u y urgente: "Que la A l t a Carnara se digne resolver: que en atención a que la contestación que los Ministros han aconsejado a S. M. a la Diputación de Francfort, no concuerda con los sentimientos que la Carnara manifestò en su mensaje, y en atención a que el pais se halla expuesto a los mayores peligros, se nombre una Comisión que redacte u n mensaje a S. M. relativo a dicha contestación y en el cual se expresen las ideas de la Carnara con respecto a la situación actual del pais." Esta moción fue apoyada por casi toda la Carnara e inmediatamente se suspendió la sesión por u n cuarto de hora a comenzar la discusión sobre estos dictâmenes diferentes. Si aun es tiempo, pondré en noticia de V. E. el resultado. La discusión de los nuevos proyectos de mensaje se ha aplazado para mariana al medio dia. El Conde de Brandeburgo ha dado lectura a las Câmaras, de una circular bastante extensa, dirigida hoy a todas las Legaciones prusianas acreditadas cerca de los diferentes Estados Alemanes, segun la cual, corno continuación de la respuesta dada ayer, y vista la dimisión del Archiduque Juan corno Vicario del Imperio, el Rey de Prusia se déclara dispuesto a aceptar provisionalmente la Dirección de los negocios generales de la Alemania, si la Asamblea de Francfort le convida con este encargo y si los Gobiernos vienen en elio. Este es el primer paso en el camino del retroceso dado por el Gobierno en presencia de la democracia amenazadora. V. E. que conoce el curso fatai de las revoluciones, sabrâ apreciar en su ilustración este grave suceso. Reitero a V. E. el testimonio de m i mâs alta consideración y ruego a Dios guarde su vida muchos anos. B e r l i n 4 de abril de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho.

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Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 20 Excmo. Senor M u y Senor mio: L a discusión de hoy de la segunda Câmara, que dura todavia, ha sido tormentosa. Ha versado sobre los varios proyectos de mensaje de que tuve la honra de hablar a V. E. en m i despacho de ayer. M r . de Vinche, jefe del partido conservador y autor de uno de estos proyectos, ha retirado el suyo, a causa de la nueva circular que el Gobierno ha pasado a los Principes Alemanes, y de que ayer hablé a V. E. igualmente. Esto no obstante, Mr. de Vinche, ha estado sangriento contra el Ministerio, ha condenados sus principios, ha anematizado su conducta, y le ha entregado a la execración de la Alemania. Por el discurso del jefe del partido conservador, podrâ V. E. imaginar, cual habrâ sido el tono de los discursos salidos de los bancos de la izquierda. L a confusion y el desorden han sido tales que se ha suspendido la discusión por una hora, que aprovecho para escribir estas lineas. E l Ministerio se ha mostrado débil, y sin medios oratorios para hacer frente a tan espantosa borrasca. Algunos diputados de la extrema derecha, que le son devotos, propusieron el orden del dia puro y sencillo, el Ministerio apoyó esta proposición y fué derrotado. Ha concluido la discusión y aunque su resultado moral es m u y grande, su resultado parlamentario ha sido nulo. Después de desechado el orden del dia puro y sencillo propuesto por la extrema derecha, que es ministerial, se desechó otro orden del dia propuesto por Mr. de Vinche el cual queria aplazer la cuestión para dentro de 15 dias, cuando ya se hubiesen recibido las contestaciones a la ù l t i m a circular dadas por los Principes alemanes. Contra este orden del dia motivado, votaron la izquierda y la extrema derecha. Por ù l t i m o la extrema izquierda propuso otro orden del dia fundado en que la opinion del Parlamento era estéril, por no ser otra cosa las formulas constitucionales en Prusia, sino el ludibrio de los Ministros. Contra este orden del dia votaron la derecha que capitanea M r . de Vinche y la extrema derecha que capitanea el Ministerio. Desechadas todas estas proposiciones se dio punto a la discusión. L a jornada ha sido funesta para el Ministerio. Reitero a V. E. el testimonio de m i mâs alta consideración y ruego a Dios guarde su vida muchos anos. B e r l i n 5 de a b r i l 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V. E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho.

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Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 21 Excmo. Senor M u y Senor mio: Por noticias recibidas hoy de Dinamarca se sabe que el Ministro de la Marina, con fecha 3 del corriente, ha extendido para el 3 de abril el bloqueo declarado en 3 de marzo de los Puertos de los Ducados, a los Puertos de Commin (?), Swinemunde, Wolgast, Greifswald, Stralsund, y Rostoch, y para el 12 de abril a los de P i l l a u y Dantzig, asi corno también a los rios Elba, Wesser y Tahola (?). Las hostilidades en los Ducados han comenzado ya; en ellos hay cuarenta m i l alemanes y cuarenta m i l dinamarqueses. Entre los primeros solo el contingente prusiano es aguerrido, pero pelea sin entusiasmo. Los dinamarqueses muestran mas deseos de venir a una batalla decisiva. L a Asamblea de Francfort ha sido el ùnico obstâculo para la paz, corno para tantas otras cosas. Por lo que hace a la cuestión de la unidad alemana està en suspenso por la cesación de las deliberaciones parlamentarias hasta pasadas las Pascuas. L a cuestión hoy es la siguiente: Si la Asamblea de Francfort considera corno una negativa urbana la respuesta que a su Diputación ha dado el Rey de Prusia, la Asamblea està perdida, sus proyectos de unidad vienen a tierra y el Rey de Prusia està salvo. Por el contrario, si la Asamblea de Francfort se muestra satisfecha con la respuesta del Rey, aunque no lo esté en realidad, si tornando acta de la ù l t i m a malhadada circular de este Ministerio, acepta el mando provisionai ofrecido por el Rey de Prusia, éste entra en el camino de su perdición y la Asamblea en el de su victoria. Una vez jefe pro visionai del Imperio, el Rey lo sera al fin, a pesar suyo, definitivo, y vendrian sobre este Principe y sobre la Alemania las grandes complicaciones que son faciles de prever, y que ya tengo anunciada a V. E. Reitero a V. E. el testimonio de m i mas alta consideración y ruego a Dios guarde su vida muchos anos. B e r l i n 7 de abril de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 25 Excmo. Senor M u y Senor mio: Por una comunicación de m i antecesor, estarâ V. E. enterado del deseo de algunos habitantes de Berlin, de trasladar su domicilio a Espana, comprando terrenos que se proponen hacer productivos, bajo ciertas condiciones que expresaban.

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Desde entonces acâ el furor por la emigración ha crecido de una manera increible, y hasta parece que los emigrantes han enviado a Espana u n comisionado con plenos poderes para tratar de este asunto. Sea de esto empero, lo que quiera, lo que hace a m i propòsito es manifestar a V. E. que en el dia de ayer se me presentò una comisión de aquellos sujetos con el fin de averiguar si el Gobierno espanol habia tornado alguna resolución en vista de su propòsito. Dijeles que no, y se convinieron en volver por la respuesta dentro de algunos dias. Sin que a m i me toque dar m i opinion en u n negocio que no he inaugurado, y sobre el cual nada se me pregunta, me contentaré con encarecer a V. E. la necesidad que hay de dar una respuesta a éstos hombres que mantienen aqui v i v a una efervescencia que pudiera ser peligrosa; su nùmero no baja de cuatro m i l ; le componen personas de todas clases, principalmente de la clase obrera y desocupada por efecto de las convulsiones politicas. A l concluir este despacho, solo me permitiré indicar a V. E. aunque V. E. de seguro no necesita de esta indicación, que esta cuestión es compleja y gravisima, naciendo su gravedad de ser casi todos los que se preparan a emigrar protestantes, cuando en Espana el catolicismo es la ùnica religion del Estado. Esta consideración basta en m i juicio para resolver este negocio; pero lo que no admite duda es, que es conveniente resolverle ya de alguna manera. Reitero a V. E. el testimonio de m i mas alta consideración y ruego a Dios guarde su vida muchos anos. B e r l i n 12 de abril de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V. E. Su Atento y Seguro Serviaor El Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho.

Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 26 Excmo. Senor M u y Senor mio: He tenido la honra de recibir la Real Orden comunicada por V. E. en 28 de Marzo pp., adjunta a la cual venian las dos cartas de pésame, que SS. M M . el Rey y la Reina de Espana dirigen a S. M. Prusiana, por la muerte del Principe Federico Guillermo Waldemar de Prusia, y con esta fecha las he puesto en las Reales manos de dicho Augusto Soberano en la forma acostumbrada. Dios guarde a V. E. muchos anos. B e r l i n 13 de abril de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor El Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer S e c r e t a o de Estado y del Despacho.

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Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 27 Excmo. Senor M u y Senor mio: los acontecimientos caminan en Alemania con u n paso lento y solemne pero constante y providencial hacia una terminación funestisima. El Austria, habiendo recibido la nota circular del 3 de A b r i l del Gobierno de Prusia por la que el Rey se ofrece a la Alemania corno Director provisionai de sus cosas, previa la aceptación de los Principes, responde en otra nota fechada el 8, de una manera abiertamente hostil, tan abiertamente hostil, corno puede mostrarse una Potencia, cuando aun no ha abandonado del todo las vias diplomâticas. En esta nota déclara el Austria: 1° que no reconoce la Constitución de Francfort dada unilateralmente y sin el previo acuerdo con los Principes alemanes; 2° que no reconoce la creación de u n poder central, decretado por una Asamblea revolucionaria y usurpadora; 3° que no reconoce la existencia de esta Asamblea ; 4° que por su parte no enviarâ a Francfort u n Plenipotenciario encargado de entrar en negociaciones contra las cuales protesta y que desde luego déclara mulas; 5° que para evitar la anarquia aconsejarâ al Vicario del Imperio que continue en el desempefio de sus funciones, pero que si por ventura las resignase, no reconoceria ningùn otro poder central, cualquiera que sea su titulo o su nombre. Entretanto la Constituyente de Francfort sigue su camino con una habilidad consumada. En uno de mis ùltimos despachos tuve la honra de manifestar a V. E. que si la Asamblea de Francfort, arrebatada por sus pasiones, consideraba corno una repulsa la respuesta del Rey a su Diputación, estaba perdida; y que si sucedia lo contrario era el Rey el que se perderla sin remedio. L a Constituyente ha debido pensar corno yo, cuando ahogando el tumulto de sus grandes resentimientos, no ha pronunciado todavia n i una sola palabra que indique que considera la respuesta del Rey corno una repulsa y corno un agravio. Mesurada y paciente y aplazando para otro dia sus inevitables venganzas, calla y de j a obrar a todas las Asambleas contra todos los Principes, remitiéndolas el cuidado de ponerles u n freno y u n yugo, hasta conseguir su omnimoda dominación y su segura victoria. Ya las Câmaras de Prusia hicieron alarde de sus simpatias por la Constituyente alemana; ahora va llegando su turno a las demâs Asambleas. L a Câmara de Diputados del Mecklenburgo ha votado por una mayoria de 72 Diputados contra 9, el reconocimiento de la Constitución alemana. L a de Hesse-Cassel ha votado una proposición para que el Gobierno reconozca sin modificaciones la obra de la Constituyente. El Rey de Hannover se ha visto obligado, para evitar u n conflicto, a prorrogar las Câmaras para el 3 de Mayo proximo; pero, prescindiendo de que con esto ninguna otra cosa consigue sino aplazar la cuestión, los Diputados celebran reuniones en que se comprometen a mantener en su fuerza y vigor la nueva C o n s t i t u t i o n del Imperio. En Baden, las Câmaras que por diversos motivos eran adversas, son ya amigas de todo lo obrado en Francfort, ùltimamente; por ùltimo, y esto es lo mâs grave, la primera Câmara

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de Sajonia, la enemiga natural de Prusia, ha votado unanimemente, si se exceptùa uno solo de sus individuos, no que se reconozca la Constitución, sino lo que es mâs, que sea publicada corno ley que tiene su fuerza en si y que no necesita ser recomendada. L a gravedad de esta situación està patente: las Câmaras seguirân todas este camino que va a parar una catàstrofe segura. Si los Principes ceden desde luego, la demagogia habrâ triunfado aun antes de comenzar la batalla; si resisten y acuden al remedio legal de la disolución, volverân otras Câmaras mâs amenazadoras y ardientes, heraldos de las revoluciones. L a cuestión, pues, està ya planteada en los términos que la planteé yo desde el principio de la correspondencia oficial que tengo con V. E. La cuestión esta, entre todos los Principes por una parte y por otra entre todas las Asambleas; a la cabeza de los Principes està el Austria; a la de las Asambleas la Constituyente de Francfort; la Prusia està entre los dos campos viendo venir sobre ella todos los vendavales. De todas mis predicciones, la ùnica que no se habia cumplido aùn, es la contenida en uno de mis primeros despachos consagrado especialmente a exponer el estado de los partidos politicos en Prusia; hablando en él de la mayoria con que contaba el Gobierno en la 2a Câmara, anuncié que vista su Constitución enfermiza y endeble seria infaliblemente arrollada por la minoria turbulenta. Esta predicción se ha cumplido ayer, en la cuestión, grave corno la que mâs, y corno la que mâs peligrosa, relativa a los pasquines; el articulo 1° del proyecto de ley del gobierno, fundamento de la ley, ha sido desechado por una mayoria de 10 votos. De esta manera va subiendo en Alemania, y en todas partes a la vez, la gran marea revolucionaria, cuya inundación, aqui mâs que en parte ninguna, serâ desastrosa y terrible. E l Austria que pudiera contenerla, està ocupada en la guerra de Hungria, mâs grave de lo que al principio se habia pensado; la lucha se ha despojado de su carâcter militar, y ha tornado el civil. Ahora bien, V. E. sabe, por una costosa experiencia, lo que tienen de interminable, de sangriento y de feroz todas las contiendas civiles. Por lo que hace a la Rusia, desde el principio de las revueltas europeas ha adoptado por fundamento de la politica, el pesimismo, principio desastroso que jamâs produjo ningùn bien y que producirâ maies sin cuento. Este principio que consiste en querer sacar la salvación comùn de la comùn ruina, no sirve para otra cosa sino para hacer mayores las ruinas y mâs grandes los estragos. Pero hace tiempo que todas las potestades de la tierra estân corno poseidas de vértigo y de locura. Dios ha apartado de ellas su mano y andan corno en tinieblas palpables por el borde de inconmensurables abismos. Dios guarde a V. E. muchos anos. Berlin 15 de abril de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretarlo de Estado y del Despacho.

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Legación de S. M. la Reina de Espana en Berlin No 28 Excmo. Senor M u y Senor mio : L a nota de Austria, de que hice mèrito en m i ù l t i m o despacho ha producido sus efectos. E l Conde de A r n i m , superior en estas circunstancias a todo encarecimiento, ha pasado una nota al Representante de Prusia en Francfort, declarando que el Gobierno Prusiano no reconoce n i acepta la Constitución de la Asamblea Constituyente. Dios guarde a V. E. muchos anos. B e r l i n 18 de abril de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho.

Legación de S. M. la Reina de Espana en Berlin No 33 Excmo. Senor M u y Senor mio: Hoy ha sido disuelta la Câmara segunda y prorrogada la primera. L a reunion de la nueva Câmara deberâ verificarse en el término de dos meses segun el texto de la Constitución. La votación de ayer, de que en el mismo dia tuve la honra de dar cuenta a V. E., no ha sido la verdadera causa sino el pretexto de esta gravisima providencia. U n disentimiento sobre el estado de sitio entre la Câmara y el Ministerio, que en otras partes bastarla para producir una crisis ministerial ο una crisis parlamentaria, no es aqui causa sufficiente para producir tan graves efectos. Si la conducta observada por el Ministerio con la segunda Câmara y por esta con los Ministros de algùn tiempo a esta parte, no demostraran esta verdad, la demostraria suficientemente la circunstancia de que tratândose pocos dias ha de esta misma cuestión, del estado de sitio, anunció el Ministro de lo Interior a la Câmara con el mayor desembarazo que cualquiera que fuera la resolución, no la tendria en cuenta para nada, n i bastarla, para alterar el estado de las cosas. L a votación de ayer es, pues, u n pretexto. L a verdadera causa de la disolución està en las contrarias miras de la segunda Câmara y del Gobierno en la gran cuestión de la Unidad alemana. Temeroso el Gobierno de entrar en lucha con la Câmara en una cuestión en que la impopularidad del Ministerio es desgraciadamente inmensa, y la popularidad de la Câmara infinita, ha querido desembarazarse de las Câmaras para tener mâs libertad en todos sus m o v i mientos y se ha aprovechado de una cuestión que a los ojos de todos ha de parecer plausible y bastante.

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E l plazo de dos meses es, sin embargo, m u y corto; y si para entonces, corno todo me lo hace creer, la demogogia vuelve triunfante al Parlamento, habrâ llegado para la Prusia el dia de una crisis suprema. Para evitar este resultado de las nuevas elecciones, no tienen los Ministros otro remedio, sino el de proponer a la Corona una nueva ley electoral; pero este nuevo golpe de estado, después del del ano ùltimo, y en las circunstancias en que se encuentra la Alemania, no deja de ofrecer inconvenientes capaces de arredrar aun a los mâs atrevidos. Entretanto la cuestión alemana ha sido planteada de una manera explicita y solemne entre el Rey de Wurtemberg y sus Câmaras. Después de grandes y lamentables escândalos y después de haberse comprometido el Rey personalmente en la cuestión, el Monarca ha acabado por ceder y declarando que acepta la Constitución de Francfort y la dirección provisional del Rey de Prusia, después de haber hecho una declaración contraria pocos dias antes, ha perdido todo su prestigio y toda su fuerza y serâ de hoy mâs el ludibrio de todas las facciones. E l Rey de Hannover, temeroso de que le suceda lo propio que al de W u r t e m berg, ha disuelto también la segunda Câmara. E l de Baviera harâ probablemente lo mismo. A s i pues, corno he tenido la honra de anunciârselo a V. E. m u y desde el principio, el fuego ha comenzado a romperse en toda la linea en los mismos términos y de la misma manera que yo lo habia anunciado. Por lo demâs, corno otras veces he tenido ya la honra de manifestârselo a V. E. estos sucesos no son todavia n i el principio siquiera, sino los prolegómenos de la revolución alemana. Dios guarde a V. E. muchos anos. B e r l i n 27 de abril de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 34 Excmo. Senor M u y Senor mio: Anoche hubo aqui u n principio de insurrección que fue dichosamente comprimido. Ya durante el dia se notaron varios grupos de ociosos que fueron creciendo frente al local de la 2a Câmara al caer de la tarde; por la noche tomaron u n carâcter amenazador, contribuyendo a elio principalmente u n club, en donde se reunen los individuos mâs frenéticos de la extrema izquierda y que se halla situado en aquellas partes. A l principio intervino pacificamente la policia; pero sus Agentes fueron m u y pronto desobedecidos y arrollados. Pasando a mayores demasias, la muchedumbre arrancò de las manos

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de la autoridad algunos de los alborotadores que iban presos. Algunos oficiales del Ejército recibieron insultos, y uno de ellos fue desarmado por la m u l t i t u d que hizo pedazos su sable. Con este motivo, salió u n batallón del Cuartel mas inmediato a la plaza Donhof, teatro de estos sucesos; este batallón ocupó la plaza y trató de cortar la comunicación con la calle de Leipzig. Las masas hicieron resistencia y después de las intimaciones de costumbre, el batallón rompió el fuego del cual resultaron dos muertos y dos heridos. En otros puntos de la ciudad se repitieron estos conatos de insurrección y aun se levantaron barricadas; pero todas cayeron, aun antes de concluidas, cediendo al impetu de las tropas. En estos varios ataques hubo que lamentar otras cuatro ο cinco desgracias. A las once de la noche estaba restablecido el orden pùblico. Hay temores fundados de que esta noche ο mariana vuelvan a repetirse las mismas tristes escenas. Cada vez que estudio mas el estado de estas cosas, me parece mâs alarmante el estado de la Alemania. En Sajonia ha sido también necesario disolver las Câmaras. Dios guarde a V. E. muchos anos. B e r l i n 28 de A b r i l de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en Berlin No 36 Excmo. Senor M u y Senor mio: Las noticas que tuve la honra de comunicar a V. E. ayer por telègrafo, son inexactas: y para que V. E. no crea que procedieron de una ligereza de m i parte, seria indisculpable, le diré que la noticia la tuve yo, corno todos los individuos del Cuerpo Diplomàtico, por el Conde de A r n i m , que al participar a alguno de nosotros, su dimisión aceptada, dio la noticia relativa a Francfort en los términos que yo la comuniqué a V. E. Ahora bien: segùn resulta ahora lo que hizo el Conde fue dar una traducción de la noticia hecha a su manera, es decir, de una manera poètica y libre, mâs de lo que a estas traducciones conviene. Mâs que la noticia lo que quiso expresar fue la significación que él la daba: por lo demâs, todos los individuos del Cuerpo Diplomàtico inducidos en el mismo error, se la comunicaron ayer de la misma manera a sus Gobiernos. Lo resuelto por la Asamblea, en sustancia, es lo siguiente: El Presidente queda autorizado para convocarla extraordinariamente y en cualquier punto. Estarâ obligado a hacer la convocación extraordinaria, siempre que cien individuos se la pidan. Bastarâ la presencia de 150 individuos, para la validez de las deliberaciones. L a Asamblea desaprueba la disolución de las Câmaras de Prusia y Hannover. Ordena a estos Gobiernos que reunan las nuevas Câmaras inmediatamente. Excita a todas las corporaciones de los referidos pai ses a que reclamen solemnemente contra seme jantes providencias.

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Estas resoluciones corno V. E. ve no son menos facciosas que las que fueron objeto de la noticia telegrafica: quizâs lo son mâs, senaladamente la ù l t i m a que es u n llamamiento a la insurrección ; pero no son tan solemnes, y sobre todo no son las mismas. Esto me obligarâ a desconfiar de hoy mâs de las traducciones hechas de los despachos telegrâficos de Francfort en las regiones oficiales. Las noticias de Hungria siguen siendo m u y alarmantes. L a intervención rusa es cosa decidida; probablemente entrarân 40 000 hombres en la T r a n silvania, 60 000 en la Hungria y 50 000 mâs quedarân de reserva en la fronteras. Probablemente a la hora que escribo habran entrado ya ο estarân entrando los Husos. Falta ahora ver cómo recibe esta noticia la Europa. Con esta fecha escribo al Duque de Sotomayor a Paris para que telegràficamente diga al consul de Bayona, que no dé curso a la noticia inexacta de que llevo hecho mèrito antes. Dios guarde a V. E. muchos anos. B e r l i n 2 de Mayo de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en Berlin No 39 Excmo. Senor M u y Senor mio: Viajeros venidos de Dresde acaban de traer la noticia de que se ha verificado una insurrección en aquella Capital con motivo de la Cuestión Alemana. Mientras que la insurrencción estuvo solo compuesta de proletarios, la guarnición hizo fuego sobre ellos y defendió la persona del Rey. Pero habiendo tornado parte por los revoltosos la guardia civica, las tropas de la guarnición se negaron a atacarla. Segùn unos, el Rey està preso en su palacio; segùn otros, ha podido escaparse. E l camino de hierro de Dresde a Leipzig, ha sido cortado por los insurrectos. Como V. E. habrâ visto por los periódicos, la municipalidad de Colonia excitó a todas las otras municipalidades para que enviasen u n representante a dicha ciudad para hacer una exposición relativa al estado politico del pais. E l Gobierno declaró esa resolución ilegal; la municipalidad de Colonia ha contestado al Gobierno, que es el primero que quebranta las leyes, y que las circunstancias de la Prusia no son para legalidades. E l Gobierno ha convocado cincuenta m i l hombres de la Landwehr. De todo resulta que de los ùnicos Gobiernos que pueden resistir en Alemania, los unos estân vencidos, y los otros amenazados. Todos los sucesos van confirmando mis predicciones, y las confirmai! mâs aceleradamente de lo que yo mismo habia creido.

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Si la Husia no consigue victorias râpidas en Hungria, y si no se resuelve a intervenir hasta donde sea menester en los negocios alemanes, el diluvio de la revolución viene sobre esta parte del mundo; siendo lo mas grave de todo, que sus inmensas cataratas podrân caer ο caerân de seguro con estrépito, del otro lado del R h i n e inundarân todo el mediodia de la Europa. Dios guarde a V. E. muchos anos. B e r l i n 4 de Mayo de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 41 Excmo. Senor M u y Senor mio: Anoche se recibió aqui por telègrafo la noticia que ya debe tener V. E. por la via de Francia, de la proclamación de la Repûblica en Carlsruhe, capital del Gran Ducado de Baden. Hoy se ha publicado aqui el bando siguiente: "En atención a que aùn duran los motivos que hicieron declarar a esta Ciudad en estado de sitio, y en atención a que ùltimamente se ha tratado de alterar la tranquilidad, mandamos lo siguiente: 1°. El estado de sitio seguirà en la misma forma que fue decretado en la ley del 10 de Mayo. 2°. Los articulos 5-6-7-24-25-26-27- y 28 de la Constitución del 5 de Diciembre quedan suspendidos durante el estado de sitio. 3°. E l Capitân General de los Marken, Wrangel, queda encargado de llevar a efecto estas medidas. Berlin 14 de Mayo. Firma todo el Consejo de Ministros." El tenor de los articulos que se citan le hallarâ V. E. en u n despacho reservado que tuve la honra de remitirle hace tiempo. Ademâs, el Rey de Prusia ha dado a sus pueblos el manifiesto siguiente: „ A m i pueblo: Bajo el protexto de la cuestión Alemana han izado los enemigos de la patria la bandera de la rebelión, primero en la vecina Sajonia y después en varios puntos del Sur. Con dolor he visto que algunos ilusos se han de j ado arrastrar a seguir esta bandera y levantândose contra las autoridades légitimas a trastornar todo el orden de las cosas divinas y humanas. En una època tan grave y peligrosa siento la necesidad de hablar a p e r t a mente a m i pueblo. No he podido aceptar la oferta de una Corona que me hizo la Asamblea Nacional de Francfort, porque dicha Asamblea no tenia el derecho de disponer de dicha Corona sin el consentimiento de los demâs Gobiernos Alemanes, y

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porque se me ofreeió con la condición de aceptar una Constitución incompatible con los derechos y la seguridad de los Estados Alemanes. En vano he ensayado y agotado todos los medios de arreglar un acuerdo con la Asamblea Nacional Alemana. En vano he procurado volverla a traer al terreno de su misión y su derecho, que no consistian en la instalación absoluta e irrevocable, sino en el acuerdo de una Constitución Alemana, y aun después de ver frustrados todos mis afanes no he roto completamente con ella en la esperanza de resolver aùn la cuestión pacificamente. Sin embargo, después que la Asamblea ha abandonado el terreno del derecho, de la ley y del deber, con resoluciones que algunos varones excelentes combatieron sin fruto; después que nos ha acusado de haber alterado la paz del Imperio porque hemos prestado a nuestros vecinos el auxilio que nos pedian; después que ha provocado abiertamente a la resistencia contra nosotros y los Gobiernos que corno nosotros no querian someterse a los perniciosos efectos de la Constitución, es cuando la Prusia ha roto con la Asamblea de Francfort. Esta ya no es corno antes, en su mayoria, aquella reunion de varones, a los cuales la Alemania volvia la vista con orgullo y confianza. Una gran parte de ellos la han abandonado espontàneamente cuando vieron abierto el camino de la perdición, y Yo, en m i Heal orden de ayer, he llamado a los Diputados Prusianos que formaban parte de ella. Lo mismo que Yo harân otros gobiernos alemanes. En la Asamblea domina ahora u n partido que ha hecho alianza con los hombres del terror, los cuales toman por pretexto la unidad de Alemania, pero que en realidad encienden la lucha de la impiedad, del perjurio del robo contra los tronos, para derribar con ellos las columnas que sustentan el derecho, la libertad y la propiedad. Los horrores cometidos en Dresde, Breslau y Elberfeld al hipócrita grito de v i v a la unidad, son otros tantos testimonios tristes que lo comprueban. Después se han cometido nuevos horrores y aun se preparan otros muchos. A pesar de haber hecho estos delitos que se desvanezca toda esperanza de llegar a la unidad de Alemania, Yo, con m i lealtad y constancia reales no desespero de conseguirlo. M i Gobierno ha vuelto a comprender la obra de la Constitución, empezada en Francfort con los Plenipotenciarios de los Estados Alemanes mâs considerables que se han unido con este fin a la Prusia. Esta Constitución ha de dar y darà a la Nación, en el plazo mâs corto posible, lo que con razón pide y espera: la unidad representada por un solo poder esecutivo que proteja digna y fuertemente en el exterior el nombre y los intereses de Alemania y la libertad asegurada por una representación popular con atributos legislativos. La Constitución redactada por la Asamblea de Francfort servirà de base y solo se alterarân aquellos puntos que nacidos de las luchas y confesiones de los partidos, solo podrian redundar en perjuicio del verdadero bien de la patria. L a Constitución serâ sometida al examen y aprobación de una Dieta de todos los Estados, que se adhieran al Estado federativo. Confie la Alemania a este fin en el patriotismo y rectitud del Gobierno Prusiano y no se arrepentirâ de haberlo hecho. Tal es el camino que me he propuesto seguir. En vista de estos hechos solo el delirio o la mentira pueden tener la osadia de asegurar que Yo he abandonado la causa de la unidad alemana, mudando de convicción y faltando a mis promesas.

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L a Prusia està llamada en tiempos tan calamitosos a proteger a la Alemania contra sus enemigos interiores y extranjeros; debe cumplir este deber y lo cumplirâ. Por eso llamo a m i pueblo a las urnas. Se trata de restablecer el orden y la ley en nuestra propia patria y en los demâs paises alemanes que reclamen nuestra ayuda; se trata de defender la unidad de Alemania y de poner su libertad, al abrigo del terrorismo de u n partido que quiere sacrificar a sus pasiones, la moral, el honor y la lealtad, de u n partido que ha logrado extender sobre una parte del pueblo una red de delirio y de alucinamiento. E l peligro es grande pero ante él buen sentido de m i pueblo se desplomarâ la obra de la mentira; a la voz del Rey responderâ la inveterada lealtad prusiana y la gloria antigua de nuestras armas. Si m i pueblo se une a mi, con la misma lealtad y confianza que yo a él, la Providencia no nos negarâ su bendición y con ella alcanzaremos la mas gloriosa victoria. Charllottenbourgo 15 de Mayo de 1849. Federico Guillermo = Refrendado = Brandenburgo." Dios guarde a V. E. muchos anos. B e r l i n 16 de Mayo de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 57 Excmo. Senor M u y Senor mio: Aunque ocupado ahora exclusivamente en las investigaciones necesarias para redactar los informes que se me han pedido, el mas importante de los cuales va por este correo, creo de m i deber l l a m a r la atención de V. E. hacia u n punto negro que comienza a asomar por el horizonte y que pudiera el dia de mariana obscurecerle del todo. V. E. sabe que el Cantón de Neuchatel antes de la ù l t i m a revolución demagogica de la Suiza, estaba a u n tiempo mismo unido a la Confederación H e l vética, y sujeto a la soberania del Rey de Prusia; las condiciones de aquella union no eran del todo claras y las de esta sujección estaban m a l definidas; achaque comùn de todas las instituciones de los siglos medios, en que lo escrito necesitaba siempre del comentario de la costumbre. E n lo que no cabe duda es en que la soberania eminente del Rey de Prusia reconocida por el Cantón y garantizada por los tratados de 1815, era blanda y estaba en su ejercicio llena de mansedumbre. E l Cantón contribuia a la dotación de la corona con unos ochenta m i l francos que la corona distribuia en el mismo cantón entre los establecimientos de beneficencia; las autoridades eran cuasi de todo punto independientes y soberanas sin que el derecho eminente ejercido por el Rey de Prusia, fuera otra cosa en realidad, sino u n noble y eficaz protectorado. L a 26 Festschrift für Carl Schmitt

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revolución dio al traste con este estado de cosas: el cantón se declaró soberano independiente, sacudió lo que en el lenguaje revolucionario se llamaba el yugo extranjero, y apretó los vinculos que le unian a la Confederación Helvética, con mas estrecha lazada. L a Prusia protestò para poner a salvo su derecho, pero dejó correr la revolución, creyendo que en aquellas circumstancias no le convenia reprimirla. Desde entonces las cosas de Neuchatel han ido de m a l en peor y el espectâculo de lo presente, ha hecho m i r a r con envidia lo pasado. Segùn las noticias mas autorizadas, està a punto de estallar a l l i una reacción que tendra por objeto restablecer las cosas de Neuchatel al estado que tenian antes de la revolución de 1848. Si la reacción aunciada se verifica, puede dar ocasión a graves complicaciones. Por una parte es para m i evidente que la Prusia responderâ al llamamiento y vol vera a entrar en posesión de su soberania protectora; por otra parte, es cosa m u y probable que la Confederación Helvética que ha suprimido todos los derechos, se oponga a la restauración, en beneficio de la Prusia, de esos mismos derechos. Si la cuestión no tuviera mayor transcendencia no alcanzaria la gravedad que alcanza pero su transcendencia puede ser mucho mayor y lo sera seguramente. L a neutralidad de la Suiza forma parte del derecho pùblico europeo y por lo mismo sus relaciones internacionales con las potencias estranas, caen siempre bajo la jurisdicción de la Europa. Una potencia neutral no puede estar en guerra con otra nación, sin que dejen de tornar parte en la contienda todas las otras naciones, las cuales en las cuestiones de neutralidad son partes interesadas. Esto mirando la cuestión bajo el aspecto de la Suiza; mirandola bajo el aspecto de la Prusia no son menores n i su transcendencia n i su i m portancia. Todas las grandes potencias de Europa, reconocieron en 1815 el dominio eminente sobre el Cantón de Neuchatel de la corona de Prusia; todas, pues, se hallan comprometidas en esta gran cuestión, que por cualquiera parte que se la mire, es una cuestión europea. E l nudo de la dificultad està en Paris y en la politica que siga la Francia en este grave negocio. Por una parte los instintos demagógicos que unas veces se muestran y otras se esconden, pero que existen siempre en el seno de la repùblica, deben inclinar a la Francia a sostener contra las pretensiones de la Prusia, la causa de la Confederación Helvética; por otra parte el interés evidente de la Francia està en cultivar la alianza y la amistad de la Prusia. L a Prusia, cualesquiera que sean sus deseos, cualesquiera que sean sus instintos y cualesquiera que sean sus propósitos, es a pesar suyo, y por una especie de fatalidad histórica, la nacion liberal de la Alemania. V. E. ha visto de qué manera, a pesar de los instintos absolutistas del poder, ese mismo poder ha dado en poco tiempo dos constituciones liberales. En vano lucharâ con su propio destino; su destino la vencerâ siempre; y su destino es ser eso y no otra cosa. Siendo esto asi, es una cosa clara que su alianza y su amistad son para la Francia de u n valor infinito; por una parte, siendo amiga de la Prusia favorece el desarrollo y expansion de sus propias ideas; por otra evita el progreso y la expansion de las que le son contrarias y pone un obstâculo cuasi invencible a

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las ideas del Austria y a los proyectos de la Rusia, ideas y proyectos que vienen a ser la contradicción radical de la civilización francesa. Si la Francia, obedeciendo a sus instintos demagógicos y trastornadores, presenta la mano a la Suiza y la espada a la Prusia, de este incidente podria nacer una complicación europea. Si mâs avisada y prudente y obedeciendo a sus ideas liberales, presenta la mano a la Prusia y vuelve las espaldas a la Suiza, entonces, el peligro por esa parte a lo menos, se habrâ disipado del todo. Sea de esto empero lo que quiera, la cosa me ha parecido bastante grave para llamar la atención de V. E. Dios guarde a V. E. muchos anos. B e r l i n 8 de j u l i o de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V. E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 67 Excmo. Senor M u y Senor mio: Hace tiempo que no he tenido la honra de llamar la atención de V. E. sobre las cosas de Alemania; m i silencio ha sido efecto en parte de otras ocupaciones también sagradas del servicio pùblico, pero principalmente de que no interesando n i a V. E. n i a la Nación Espafiola el conocimiento de los hechos aislados que se realizan en esta parte del Rhin, sino el cuadro general de la situación politica dé estos pueblos, y no pudiendo variar ese cuadro todos los dias, he creido oportuno de j a r correr los sucesos para observar su desarrollo y poder ofrecer a V. E. m i opinion sobre su vasto conjunto. De dos meses a esta parte se han verificado en Alemania grandes acontecimientos; esos acontecimientos a primera vista, parece que han mudado todo el semblante de las cosas; mirados, sin embargo, mâs detenidamente se echa desde luego de ver que apesar de las apariencias, las cosas conservan siempre su mismo semblante. L a revolución ha sido vencida en su cabeza y en sus miembros; en su cabeza que estaba en Francfort, porque la famosa Asamblea que servia de nùcleo a los demagogos, ha dejado de existir después de haber peregrinado en vano por toda Alemania, buscando u n asilo; en sus miembros porque las armas prusianas triunfantes en Dresde, vencedoras en el Palatinado y Senoras del Gran Ducado de Baden, han puesto u n término glorioso a estas contiendas. Vencida en las calles y en los campos, la demagogia acaba también de ser vencida en Prusia, en los colegios électorales. Esto por lo que hace a la Revolución: por lo que hace a la otra cuestión famosa de la Unidad también parece caminar a una solución definitiva. L a Prusia poderosisima en armas, ha llamado ya a si a todos los pueblos alemanes ; la Sajonia y el Hannover han accedido a su llamamiento y la han otorgado una supremacia cuasi autocràtica; los Principados Septentrionales acuden unos 26*

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después de otros a buscar asilo debajo de sus banderas. E l mediodia de la Alemania ocupado por la Prusia militarmente, no puede resistir a su voluntad imperiosa; el Vicario del Imperio no sabiendo qué hacer de u n cetro i n ù t i l en sus manos, de j a a Francfort y va a esconderse en las montanas alpinas. A s i los separatistas y los demagogos, todos ceden ante el poder irresistible de la Prusia. T a l es, Excmo. Senor, el cuadro de la Alemania mirado superficialmente; si se m i r a empero con mas detención, se echa luego de ver que està m u y lejos de ser lo que a primera vista parece. L a Asamblea de Francfort ha desaparecido, es verdad, pero antes de m o r i r dejó una Constitución que està v i v a en el corazón de todos los demagogos; la Revolución ha sido vencida en los campos y en las Calles; es verdad; pero es senora de los espiritus, y la muerta goza de tan buena salud que cada hora que pasa hace nuevas conquistas. L a Prusia lo avasalla todo; es verdad; pero en el pecho de todos los alemanes se atesoran odios infinitos contra ella; a los independientes da en ojos con lo que ellos llaman su insolencia; a los hombres probos, con los que ellos llaman su hipocresia; a todos con lo que todos llaman su ambición. Los Principes piensan para si que la familia reinante en Prusia no es bastante antigua y bastante noble para poner sus timbres mâs altos que sus blasones. Los católicos j u r â n no obedecer a una familia protestante; los revolucionarios la tienen por bianco de sus tiros; los constitucionales creen que abriga reservas mentales absolutistas; por ultimo, los poseidos del germanismo mâs puro, los que aspiran a levantar la familia alemana sobre todas las familias europeas, comienzan a ver, ο por mejor decir, ven claro, que la unidad con las condiciones impuestas, es la absorción hecha por la Prusia de toda la Alemania. Asi, pues, la unidad està hoy mâs lejos que nunca y la revolución mas cerca que antes. U n acontecimiento funestisimo para la Prusia ha venido a complicar mâs y mâs su situación, ya de suyo demasiadamente complicada. V. E. sabe que obsediado este Gobierno por las excitaciones y hasta por las amenazas de Francia, de la Inglaterra y de la Rusia, vino en ajustar u n armisticio y en asentar los preliminares de la paz con Dinamarca. Este suceso que le ha ganado la buena voluntad de la Europa, le ha hecho impopular entre los pueblos alemanes. Su impopularidad beneficiada hâbilmente por los Principes disidentes y senaladamente el de Baviera, ha llegado a t a l punto que hoy dia se organiza calladamente en el mediodia contra la Prusia una confederación formidable; en ella entran el Austria, la Baviera, el Wurtemberg y el Vicario del Imperio. Este que se creia perdido, se tiene ahora por ganado a favor de este descontento creciente. Ya ha comenzado a dar senales de vida; ha reorganizado su Ministerio y aun ha resuelto volver a Francfort. L a Prusia, sin embargo, que sigue cuidadosamente con los ojos todas estas mudanzas, le ha cogido por la mano y ha puesto guarnición prusiana en Francfort, temerosa de que el Vicario llamase para su custodia, tropas austriacas, bâvaras o w u r t e n bergenses. Esta invasion por parte de la Prusia en el territorio del Vicario, que es ademâs u n territorio independiente, plantea una cuestión gravisima de derecho

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pùblico alemân, en la cual no estân por la Prusia las buenas razones. L a Prusia, con efecto, puede desconocer la autoridad del Vicario: pero lo que no puede es heredarle sin el consentimiento de todos los Principes; el Rey de Prusia ha querido recoger su herencia sin ser su heredero. Este estado de cosas ha producido t a l irritación en los ânimos que los periódicos prusianos por una parte, y por otra los bâvaros, y los austriacos se envian los mismos fieros y las mismas amenazas, que si estas diferentes naciones estuvieran a punto de venir a las manos, y de romper abiertamente. Si la paz se conserva a pesar de todo, consiste esto en que el Austria, cabeza de la coalición contra la Prusia, està ocupada en una guerra que es la mas calamitosa y terrible de cuantas han desolado hasta ahora aquel vastisimo imperio. Los hùngaros, arrollados al principio por los ejércitos Imperiales, han conseguido adelantar su causa, que ya parecia perdida, por medio de atrevidas y habiles maniobras; Goergeir consiguió burlar la vigilancia de Paskewitz y penetrar desde Comorn en las llanuras del Theis, llanuras funestas a los combatientes extrafios, que encontraron en ellas siempre la enfermedad y la muerte; el gran propòsito estratégico del Principe de Varsovia, fue desde el principio, obligar a los hùngaros a combatir lejos de esas llanuras inmensas y pantanosas y cuando creia haberlo conseguido, el enemigo se le escapó de las manos. Mientras que esto pasaba en el Oriente, el Bem de Croacia era roto y vencido en las partes méridionales del Reino; plazas fuertes de importancia cayeron en poder de los sublevados, de los cuales se dice que han logrado penetrar en los Principados del Danubio. L a lucha, pues, serâ larga y sangrienta; mâs sangrienta y mâs larga de lo que conviene a la honra de los dos poderosos Imperios ligados contra u n ejército de rebeldes. Entretanto los hùngaros envian embajadores a todas las Grandes Potencias, y la Inglaterra que parece tener u n encargo satànico en las complicaciones europeas, comienza a inclinarse al lado de la insurrección, corno lo tiene de costumbre. E l destino de Europa vuelve a estar en suspenso. Suponiendo que suceda al fin lo que parece mâs probable, es decir, que los Magyares sucumban, queda siempre por resolver la cuestión politica, la de organización interior, lo que no se resuelve n i puede resolverse en las batallas. Entonces serâ necesario hallar u n medio de hacer que v i v a n en paz y en concordia u n tropel de razas enemigas, que braman de verse juntas y esto en medio de la frustración invitable del Imperio austriaco condenado a una inevitable bancarrota politica y fìnanciera. Suponiendo empero que el Imperio austriaco pueda llevar todas estas cuestiones a u n término dichoso, se encontrarâ frente a frente con la inmensa cuestión alemana. Todo me hace creer que llegado esto caso, la Alemania entrarâ en el borrascoso periodo de las guerras civiles, largas de suyo en donde quiera, y aqui de suyo interminables. L a consecuencia necesaria de este estado de cosas, serâ la intervención de la Prusia en los negocios de la Confederación, corno parte ο corno mediadora. Y la consecuencia de esta intervención podrâ ser una Guerra general, que si por una parte va haciéndose imposible, por la voluntad de los hombres, por otra con el curso providencial de las cosas en el mundo, se va haciendo necesaria. Volviendo ahora a la Prusia, diré que sus mâs grandes peligros vienen de sus complicaciones interiores. Todo aqui se gobierna por una politica personal y

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esa politica personal esta aislada de todos los partidos. Nada diré del demagogico que en todas partes està fuera de toda ley. Ese partido absteniéndose en masa de acudir a los colegios électorales, ha declarado por ese hecho que entre la Monarquia y él nada es posible sino la guerra. Hâblase solo del partido constitucional y del partido absolutista. Estos dos partidos componen cuasi exclusivamente la nueva Câmara; pero ambos son hostiles a la autoridad porque ambos estân descontentos. E l Constitucional quiere del Gobierno establecido aqui desde la revolución de marzo, el nombre y la cosa. E l absolutista no quiere n i la cosa n i el nombre; y la politica personal quiere el nombre y no quiere la cosa. E l partido Constitucional exige de ella que sus actos sean conformes a los titulos; y el Absolutista que sus titulos y sus actos sean conformes a sus creencias. Ahora bien, la politica personal se niega a lo uno y a lo otro. No quiere de j a r el nombre porque las gentes la llamarian per jura, no quiere dar la cosa, porque entiende que eso seria abdicar y no abdica. De esta manera cree que puede j untar en uno las vent aj as de todos los sistemas. No seré yo el que me ocupe en demostrar a V. E. que esta es la politica propia de los predestinados a servir de grande y de terrible escarmiento, y que en el término de esa politica nunca se ven sino abismos. Las circunstancias adquieren mayor gravedad por la consideración siguiente: E l Ministerio actual no ha sido, n i es, n i puede ser u n Ministerio Parlamentario; puesto al frente de los negocios en una època transitoria, y para u n solo fin, ese Ministerio debió bajar del poder, cuando ese fin se hubo conseguido y cuando esa època hubo pasado; asi lo aconsejaba la politica y asi lo persuadia la prudencia; pero corno eso hubiera sido dar la cosa corno el nombre, y corno eso cabalmente es lo que se trata de evitar, t a l cosa no ha sucedido. De aqui resulta que esta Câmara, corno la pasada, va a caminar sin direción ninguna, movida al hilo de todas las pasiones y de todos los vientos. L o que puede salir de una Câmara sin dirección me lo sé yo y V. E. lo sabe. Nada importa que los elementos que constituyen la Câmara actual, sean, corno lo son, inmejorables. Nada importa que todos y cada uno de los individuos que la componen sean enemigos jurados de las revoluciones demagógicas. Ninguna de esas cosas importa nada; esta Câmara trabajarâ para la revolución y por la revolución sin quererlo y sin saberlo. Una fatalidad terrible pesa sobre la Prusia. De todo resulta que desde mis ùltimos despachos politicos hasta hoy todo parece que ha cambiado, y en realidad nada ha sufrido alteración ο mudanza. Las cuestiones son las mismas. L a confusion idéntica las soluciones igualmente oscuras y lej anas. Cuando a primera vista parece que todo se resuelve mejor considerada la cosa se vé que todo se complica. Cuando parece que viene la luz, se encuentra el que mira, con que es la noche la que viene. Por m i parte me inclino a creer que todas las cuestiones estân aqui en sus prolegómenos, y que lejos de estar a punto de resolverse, aun no se han planteado siquiera. Dios guarde a V. E. muchos anos. B e r l i n 11 de agosto de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer S e c r e t a o de Estado y del Despacho.

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Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 68 Excmo. Senor M u y Senor mio: Creo de m i deber llamar hoy la atención de V. E. hacia el nuevo giro que comienzan a tornar las cosas de la Alemania. Cuando vino aqui la noticia de la rendición de Geörgey a las Armas Imperiales, no se la trasladé inmediatemente a V. E. porque antes de que pudiera llegar a sus manos m i despacho, debia V. E. saber el gran suceso por Paris a donde supe que iba a llegar la nueva por todas las lineas telegrafìcas. Habiendo renunciado a p a r t i cipar a V. E. el hecho, restâbame sole estudiarle para descubrir toda su significación y toda su transcendencia. Todos los datos que he recibido concuerdan en el parecer de la que la sumisión de Geörgey ha sido efecto de negociaciones secretisimas seguidas por la Rusia sin participación del Austria; en cuanto a los m o t ivos que han impuisado al gabinete ruso en estas vias, son m u y claros. L a Rusia veia encaminarse hacia Varsovia al General Lamoricière con instrucciones para aconsejar una transacción con los rebeldes. En Inglaterra la opinion pùblica, ο a lo menos la opinión demagogica, comenzaba a declararse abiertamente por los Polacos y Magiares. E l L o r d Palmerston, pronto siempre a facilitar el camino de la victoria a las ideas revolucionarias se disponia a entrar de lleno en el camino francés de las transacciones entre las razas beligerantes. Entretanto el tiempo iba corriendo rapidamente; el ο tono se venia encima a mâs andar; y con el otono la paralización de las operaciones militares en u n pais sembrado de lagunas y pantanos que difunden por la atmosfera la muerte. E n este estado critico, el Gabinete ruso ha visto claro, ha estado pronto y ha cortado el nudo de la cuestión con una p r o n t i t u d que le hace mâs grande aùn en el consejo que en las armas. L a consecuencia de este suceso es la terminación de una guerra, que por parte de los Magiares es ya de todo punto insostenible; las plazas fuertes v a n cayendo todas en poder del vencedor, y antes de muchas semanas la cuestión m i l i t a r estarâ de todo punto resuelta. Falta solo averiguar cuâl serâ el resultado de la victoria, y este es el punto sobre el cual llamo la atención de V. E. poderosisimamente. Para la Rusia el resultado de la victoria es u n crecimiento de poder propio para alarmar a las naciones europeas. Las razas esclavonas que yacen en la vastisima zona a que se da el nombre de Hungria, procuraron en vano del Austria el alivio del yugo magiar, raza insolente, heroica y dominadora; eso que procuraron del Austria vanamente lo acaban de obtener de la Rusia. De la Rusia que es esclavona corno ellas y que tiende a formar u n gran Imperio Esclavón avasallador de las enervadas razas germânicas y latinas. Si a esto se anade que las razas del mismo origen que pueblan los Principados Danubianos estân casi de todo punto sometidas al Czar, y casi emancipadas de Constantinopla, no serâ dificil prever la proximidad del dia en que veamos levantarse en el Oriente, mandada por una sola cabeza, una raza semi-oriental

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y semi-occidental, semi-civilizada y semi-bârbara que cuente ochenta millones de hombres; en ese dia se romperà el equilibro del mundo. E l resultado de esa victoria por lo que hace al Austria es complejo y contradictorio. E l Austria en sus relaciones con la Rusia, pierde con su victoria la plenitud de su independencia ; en sus relaciones con la Hungria ve acumularse delante de si las inmensas dificultades que nacen del Gobierno interior de razas diferentes que rehusan el yugo de la unidad, que no consienten ser puestas en u n mismo cuadro y encerradas en u n mismo cerco; al mismo tiempo que tiene que luchar con las dificultades, no podrâ m i r a r sino con inmensa pesadumbre de corazón, que las razas a ella su jetas por la ley del Estado, estân su jetas a la Rusia por la ley del origen, del amor y del agradecimiento. E l Austria vencedora por si sola de los Magiares y emancipadora de esas razas su jetas, hubiera podido separar en dos las razas esclavonas y haber dividido con la Rusia el formidable Imperio. L a Rusia entonces hubiera dominado solamente en las Moscovitas, el Austria en las Hùngaras y Danubianas. L a Providencia empero, ha dispuesto las cosas de otra suerte. L a estrella del Imperio Ruso ha eclipsado en el cielo Europeo a la del Austria. Considerada, pues, la cuestión bajo estos dos puntos de vista, la victoria significa para el Austria la decadencia. E l resultado de esta victoria en las cosas de Alemania serâ, y comienza a ser ya, inmenso y fundadisimo. Ocupada el Austria en las cosas de Hungria; la Prusia habia llegado a ser senora de la Alemania sus armas triunfantes llevaban sus glorias por la Sajonia, por la Bâviera y por el Gran Ducado de Baden. L a parte septentrional y protestante de la Alemania habia reconocido por hâbito y por amor, su arrogante supremacia. L a parte meridional y católica, seguia aunque a su pesar, a esa potencia irresistible. L a Asamblea de Francfort habia muerto a sus golpes. E l Vicario del Imperio, abandonado de todo el mundo huia de su capital para que la Alemania no presenciara su humillación y su derrota. L a Alemania era, hasta cierto punto, la Prusia. L a conclusion de la guerra de Hungria, cambia de todo punto el sembiante de las cosas. E l Austria desembarazada y libre vuelve sus ojos hacia la Alemania cuya supremacia tuvo siempre, habiendo sido sancionada por los tratados y por los siglos; los pueblos católicos y méridionales verân en el Imperio Austriaco su Salvador y se agruparân alrededor suyo, para resistir a la tirania prusiana que es para ellos corno tirania estranjera. A pesar de esto la Prusia no ce j aria en sus vastos propósitos de dominación si no estuviera segura de que la Rusia sostendrâ con todo su poder el Austria, y esto por m u y poderosas razones, conviene a saber, la l a porque el Austria obedece a su influencia; la 2a porque el Austria, cualquiera que sea la forma de su gobierno interior, sostendrâ en Alemania y en el mundo la causa de las grandes tradiciones monârquicas y conservadores; y la 3a porque la Prusia, cualquiera que sea la voluntad de sus Principes y de sus gobiernos y aun a pesar de la voluntad de sus gobiernos y de sus Principes, es por una fatalidad histórica, la potencia alemana que en el orden politico representa el principio de libertad, corno en el orden religioso representa el principio protestante. L a Prusia conoce su posición y no arrojarâ el guante a la que es su r i v a l y su enemiga. De esta manera se verificarâ lo que he anunciado en todos y en cada una de mis despachos, y eso en tiempos en que todos los sucesos parece que venian a

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contradecir mis anuncios y a hacer vanas mis previsiones. L a Alemania se dividirâ en dos zonas; la zona protestante septentrional y prusiana; y la meridional austriaca y católica. Eso es lo que sucederâ y eso es lo que fué siempre necesario que sucediera. L a noticia gravisima que acabo de recibir, y que tengo motivo para creer cierta, acelerarâ este resultado inevitable. L a Prusia, movida sin duda por las consideraciones que acabo de indicar, y viendo acabada la cuestión hùngara, parece que ha entrado en tratos con el Vicario del Imperio y las bases de la conciliación serian, la dimisión del Vicario, la creación de u n poder central provisorio, compuesto de dos comisarios nombrados por la Prusia y dos por el Austria, y la abertura de negociaciones entre estas dos potencias para crear de comùn acuerdo le poder definitivo alemân, tornando por base de las discusiones la Constitución propuesta por la Prusia, la Sajonia y el Hannover. Este es u n cambio completo en la politica de la Prusia; cambio sin embargo que estaba en la naturaleza de las cosas. No debo ocultar a V. E. que la ù l t i m a noticia que doy a V. E., por tenerle por persona m u y fìdedigna, està sin embargo en contradicción con la conducta del Gobierno en las Câmaras. Sabida la sumisión de Geörgey el Gobierno invitò a la segunda Câmara a ocuparse de la cuestión alemana; lo que ha sido una especie de protesta contra la intención de retroceder que pudiera suponérsele. M r . Bulav, antiguo Ministro de Negocios Extranjeros ha defendido la hegemonia (supremacia) prusiana con altivez y decision ; por ù l t i m o M. de R a d o w i t z , corno Comisario del Gobierno, y en su nombre, ha declarado que la hegemonia prusiana es lo ùnico aceptable, y el Gobierno la llevara a cabo; todos estos hechos me hacen dudar de la exactitud de la mencionada noticia; por lo demâs en nada alteran mis opiniones acerca del resultado definitivo de la gran cuestión alemana. Dios guarde a V. E. muchos anos. B e r l i n 28 de Agosto de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho. Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 69 Excmo. Senor M u y Senor mio: L a cuestión revolucionaria que se levantarâ tremenda y poderosa dentro de algùn tiempo, duerme ahora profundamente en el seno de las muchedumbres populäres; por de pronto lo ùnico que llama la atención de los Gobiernos y de las asambleas, es la cuestión de la unidad bajo la hegemonia de la Prusia. L a hegemonia objeto supremo y exclusivo de la ambición prusiana y de la familia en ella remante, es hoy dia, a pesar de las apariencias que estân en contrario, mâs imposible que nunca. En vano las Câmaras cediendo a u n impetuoso patriotismo alientan al Gobierno a que dé cima a la peligrosa

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empresa. Esta empresa corno la de la Asamblea de Francfort, sera corno el nublado que se deshace en los aires. En m i penùltimo despacho puse en noticia de V. E. la grandeza de los odios que se iban atesorando en los pueblos, contra lo que llaman ambición desatentada de la Prusia. Lejos de verme en el caso de desmentir esta noticia, me veo en el de confirmarla, afiadiendo que hasta el Hannover y la Sajonia Real, que fueron los primeros en entrar en la Confederación, la eluden hoy disimulando apenas su disgusto; y no debe parecer esto nada extrano si se atiende a que la refenda federación no es mâs sino una mediatización encubierta. E l disgusto si no se hace mayor, se hace mâs pùblico, ahora que el Austria se ve desembarazada sùbitamente de todos sus enemigos interiores y fuerte, con lo que bajo otros puntos de vista constituye su debilidad que es su alianza con la Rusia. Ese cambio de circunstancias ha producido u n gran cambio, asi en la politica de Prusia corno en la politica del Austria. E l Austria, cuando estaba mas seria la guerra de Hungria, aspiraba sobre todo a ganar tiempo y proponia la creación de u n poder centrai provisional. L a Prusia por el contrario aspiraba entonces a ganar por sorpresa para si el poder centrai definitivo. Esto explica por qué el Austria sostenia con todas sus fuerzas al Vicario del Imperio, y por qué la Prusia con escarnio de aquella autoridad se negò a reconocerla y firmò el tratado de la alianza triple con la Sajonia y el Hannover. Hoy todo sucede al rêvés: E l Austria abre tratos para organizar el poder definitivo de Alemania; y la Prusia propone u n poder pro visionai bajo cuya obediencia pueda entrar, llevando consigo corno sus accesorios, los Estados que han adherido a la mencionada alianza. Estos tratos dieron lugar al proyecto de arreglo de que hice mèrito en m i ù l t i m o despacho: proyecto que no pudo llevarse a cabo porque en el momento de su elección se vió claro que las partes contratantes no podian avenirse. Frustradas las esperanzas de una avenencia entre los Gobiernos, se trata ahora de una avenencia entre los Principes; y en los momentos en que escribo estas lineas han debido reunirse en Toeplitz, el Emperador de Austria, el Rey de Prusia y el Rey de Sajonia, para tratar reposadamente la cuestión alemana. Si antes de que vaya este despacho al correo, logro saber algo del resultado de esta entrevista tendré la honra de ponerlo en conocimiento de V. E. Por de pronto este hecho por si solo, prueba el gran cambio que ha sufrido la politica prusiana. L a Prusia entra ya en tratos y conciertos y n i trataba n i se concertaba antes. Yo por m i parte, creo ahora, corno crei siempre, lo primero que en definitiva se reconocerâ legalmente el hecho indisputable de dos Alemanias diferentes: y lo segundo que antes de venir a parar a este inevitable resultado la cuestión correrà por largos trâmites y m u y perezosamente. Dios guarde a V. E. muchos anos. B e r l i n 9 de Setiembre de 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V.E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretarlo de Estado y del Despacho.

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Legación de S. M. la Reina de Espana en B e r l i n No 72 Excmo. Senor M u y Senor mio : En mis ùltimos despachos he tenido la honra de exponer a la consideración de V. E. el aspecto que presenta la gran cuestión de la unidad alemana, desde que terminò la guerra de Hungria. En ellos manifesté los proyectos de avenencia entre los Gabinetes de Prusia y Austria y su rompimiento, la entrevista de los Soberanos esterilizada por la resistencia del Ministro prusiano a autorizarla con su presencia, el firme propòsito de este Ministerio de llevar a cabo su obra ambiciosa, manifestada solemnemente en las Câmaras, el apoyo entusiasta de éstas por todo lo que de cerca ο de lejos puede contribuir al engrandecimiento de la Prusia, e l arrepentimiento y la frialdad de los gabinetes de Hannover y Sajonia en la cuestión de la hegemonia prusiana a la que dieron la mano en circunstancias, para estas dos Monarquias, dificiles y azarosas, y por ùltimo, m i pronostico sobre el término de esta cuestión, que no ha variado jamâs, n i variarâ probablemente. Las noticias de hoy vienen a confirmar las pasadas y a dar nueva fuerza a mis repetidas predicciones. E l Ministro de negocios estranjeros de Sajonia estuvo dias pasados en Hannover, para ponerse de acuerdo con aquel Gabinete. L a empresa no fue dificil: Sa j ones y Hanno verianos estân conformes en no seguir a la Prusia sino hasta cierto punto, en ciertos y determinados casos, y con ciertas y determinadas reservas. Exigen lo primero que no se reuna la Dieta que la Prusia quiere reunir en E r f u r t ; temerosos, y con razón, de que esa Dieta sea la edición segunda de la de Francfort, y de que se verifique en ella la alianza de la revolución y de la Prusia, para poner término a la cuestión de la unidad revolucionariamente. Este temor no es infundado: la revolución y el protestantismo, son corno y a he manifestado a V. E. en otras ocasiones, la fatalidad histórica de Prusia; exigen lo segundo, que la Prusia se ponga de acuerdo con el Austria diplomàticamente; exigen por ù l t i m o que las dos Potencias puestas de acuerdo entre si, se pongan después de acuerdo con todos los otros de Alemania. Estas condiciones, corno V. E. conoce, constituyen una verdadera anulación de la triple alianza y u n verdadero rompimiento con la Prusia. Por esta razón, el Ministro de Negocios Estranjeros de Sajonia, que ha estado aqui estos dias para comunicar personalmente a su representante en ésta el resultado de sus conferencias con el Gobierno de Hannover, no ha querido ver al Ministro de Negocios Estranjeros de Prusia, temiendo oir acerbas reconvenciones de su boca. Ahora la cuestión consiste en averiguar qué es lo que harâ el Gabinete prusiano : abandonar su proyecto, después de sus declaraciones en las Câmaras, y sobre todo después del impulso que él mismo ha dado a la opinion pùblica en este sentido, seria cosa arriesgada e imprudente; llevar su propòsito adelante, me parece una cosa de todo punto imposible. En el primer caso, contrariando la opinion pùblica podrâ caer en manos de una revolución; en el segundo,

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poniéndose en hostilidad con el Austria y con los otros Estados Alemanes van a dar en el aislamiento y en la guerra; por todas partes, pues, està cercado de peligros. Su retirada de los negocios pùblicos seria, en las actuales circunstancias, la ùnica solución oportuna y conveniente; pero esto mismo no carece de graves dificultades. E l Ministerio actual que ha matado y sobrevivido a la revolución, no es natural que se retire en el dia de su victoria; el Ministerio que estando en minoria en las pasadas épocas, apeló a la nación, no es natural que se retire, cuando la Nación ha sancionado su politica en los colegios électorales y cuando las Câmaras han aprobado su conducta. L a cuestión, pues, es mucho mâs d i f i c i l y mâs grave de lo que a primera vista parece; y la Prusia ve acumularse sobre su cabeza y a sus pies sin saber cómo impedirlo, nubes y escollos. De una cosa, sin embargo, puede estar V. E. seguro: de que las cosas seguirân su camino m u y lentamente y de que al revés de lo que sucede en otras naciones, en Alemania todo el mundo cuenta con el tiempo. Lo que yo creo mâs probable es u n arreglo por medio de la intervención de la Rusia, cuya influencia es decisiva en las circunstancias actuales. Dios guarde a V. E. muchos anos. Berlin 22 de Setiembre 1849. Excmo. Senor B . L . M . de V. E. Su Atento y Seguro Servidor E l Marqués de Valdegamas Excmo. Senor Primer Secretano de Estado y del Despacho.

D e r Feind u n d der Friede Von Rüdiger Altmann, Bonn Fast alle Versuche, den Frieden zu definieren, enden heute entweder i m Ideologisch-Utopischen oder kehren zurück zu der berühmten Formel des Grotius: Pax absentia belli. Diese Formel setzt jedoch die Anerkennung des Krieges als einer völkerrechtlichen Tatsache voraus, also wesentlich mehr als bloße Beschreibungen und Etikettierungen wie Bürgerkrieg, Befreiungskampf, Atomkrieg oder Polizeiaktion. Hier liegt die Schwäche dieser Friedensdefinition i n unserer Zeit. Die rechtliche A n kennung des Krieges kann nicht durch soziologische Tatbestandsaufnahmen ersetzt werden. Die „pax absentia belli" stand überdies vor dem konkreten geschichtlichen Hintergrund einer damals umfassenden, weltbestimmenden Ordnung — dem europäischen Staatensystem. Auch dieser Hintergrund hat sich aufgelöst. Schon die Kriegsdefinition von Clausewitz betrifft nicht mehr ausschließlich das klassische Staatenduell. Sie hat sich als ebenso brauchbar für die revolutionäre Theorie und den Bürgerkrieg erwiesen*. Wenn also der Frieden durch die Abwesenheit des Krieges definiert werden soll, die Definition des Krieges aber verloren gegangen ist, gerät man i n ein Dilemma, dem man bis heute nicht entronnen ist. Theorie und Praxis haben versucht, der gefährlichen Verunsicherung des Friedens durch eine intensivere Institutionalisierung der internationalen Beziehungen und des Völkerrechts, durch die Idee und Strategie des peaceful change und durch die Ächtung des Krieges zu begegnen. Es handelt sich dabei, wie leicht zu erkennen ist, um korrespondierende Bewegungen. Sie haben wichtige Ergebnisse gebracht, die Verunsicherung des Friedens jedoch nicht beseitigen können. Zwar hat die Institutionalisierung der internationalen Beziehungen sich nach dem zweiten Weltkrieg, besonders i n den Vereinten Nationen und ihren Suborganisationen, kräftig weiter entwickelt, aber die ursprünglich erhoffte Eigenständigkeit der U N hat sich i m bipolaren Magnetfeld der Weltpolitik nicht durchgesetzt. Die U N können jedenfalls den Frieden nicht darstellen. Ein gutes Beispiel für die Skepsis, m i t der man * Aus dem folgenden ergibt sich, daß diese Betrachtung i n vielfacher Hinsicht auf die verschiedenen Schriften von Carl Schmitt bezogen ist. Die Bezugnahmen sind so häufig, daß auf Hinweis i m einzelnen verzichtet werden kann.

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heute dem Institutionalismus früherer Jahre begegnet, bieten die Regeln, die Hans J. Morgenthau für die moderne Diplomatie zusammengestellt hat: „Befreiung vom Kreuzzugsgeist; Umschreibung der Ziele der Außenpolitik i n den Begriffen der nationalen Interessen und ihre Unterstützung durch adäquate Machtmittel; Beurteilung der politischen Lage vom Standpunkt anderer Nationen; Kompromißbereitschaft in nicht lebenswichtigen Fragen. Die Realität echter Vorteile muß das Trugbild wertloser Rechte ersetzen; nie eine Stellung beziehen, aus der man ohne Gesichtsverlust nicht zurück, ohne gefährliches Risiko nicht weiter kann; Entscheidungen dürfen nicht von schwachen Verbündeten getroffen werden; die Streitkräfte sind Instrument, nicht Herr der Außenpolitik; die Regierung ist Herr, nicht Sklave der öffentlichen Meinung." Gewiß enthalten diese Regeln Morgenthaus eine Besinnung auf die Grundsätze der klassischen Diplomatie. Sie sind aber i n erster Linie Ausdruck einer modernen, sich von der Überschätzung des Institutionalismus abwendenden Machtpolitik (nebenbei lassen sich daraus auch nützliche Hinweise für eine Verbesserung der deutschen Außenpolitik entnehmen). Die Skepsis Morgenthaus gilt freilich nicht nur dem Institutionalismus als solchem, sondern seiner Brauchbarkeit für eine machtpolitische Sicherung des Friedens. Wesentlich pragmatischer ist der zweite Versuch, der Verunsicherung des Friedens zu begegnen: peaceful change als Vermeidung des bewaffneten Konflikts, positiv ausgedrückt als Strategie des Friedens. Er ist begrifflich nicht leicht fixierbar. A m folgenden soll er möglichst weitgehend verstanden werden, so daß unter peaceful change auch internationale Abrüstung und Konferenzdiplomatie, kollektive Sicherheit und ähnliches zusammengesehen werden soll. A u f den engen Zusammenhang mit dem meist universalistisch gedachten Institutionalismus, ideologisch kulminierend i n den Vorstellungen von Weltstaat und Weltregierung, ist bereits hingewiesen worden. Bei aller Anerkennung, die man der Diplomatie des peaceful change zollen muß, haben aber die geschichtlichen Erfahrungen deutlich gemacht, daß diese Konzeption nicht nur am jeweiligen status quo orientiert ist, sondern daß sie auch leicht zur ideologischen Waffe wird, mit der die beati possidentes den status quo verteidigen: sei es gegen den Revisionismus der Besiegten, sei es gegen den Unabhängigkeitswillen von Kolonialvölkern. I n der Tat hat die Strategie des peaceful change an der riskanten A n t i nomie gelitten, daß sie den Frieden mit dem status quo gleichsetzt, ebenso aber die Bereitschaft zu seiner Revision verspricht. Diese Bereitschaft liegt aber natürlich bei denen, die an der Erhaltung des status quo grundsätzlich interessiert sind. Der Mißerfolg dieser Strategie i n der Zwischenkriegszeit, aber auch die deutliche Beschränkung ihrer Möglichkeiten

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nach dem zweiten Weltkrieg haben dazu beigetragen, sie auf das zu konzentrieren, worin heute ihr bedeutender Wert liegt: auf eine Rationalisierung der internationalen Machtpolitik. Dabei hat sich der Akzent von dem i n der Vokabel peaceful enthaltenen status quo auf „change" verlagert, den man heute am besten mit „Entwicklung" übersetzt. Unter friedlicher Entwicklung jedoch versteht die sowjetische Politik den Kampf gegen Kolonialismus, Neokolonialismus und Imperialismus, also auch den Bürgerkrieg. Wachsenden Schwierigkeiten begegnet auch die Ächtung des Krieges, die Diskriminierung des Kriegsbegriffs. Sie hat i n erster Linie die europäischen Staaten getroffen: als Verbot der Landnahme und der Eröffnung des klassischen Staatenduelles. I n jedem Fall hat sie bisher die Unterscheidung des Angreifers vom Verteidiger vorausgesetzt, ebenso aber die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen politischen und militärischen Zielen, zwischen Front und Hinterland, zwischen kämpf ender Truppe und Zivilbevölkerung, zwischen öffentlichem und privatem Eigentum. Es mag hier dahingestellt bleiben, ob die Diskriminierung des Feindes als Kriegsverbrecher auch ein Rechtfertigungsgrund für die Intensivierung des militärischen Terrors, schließlich eine Waffe i n der Hand des Siegers war. Mochten alle diese Unterscheidungen und Bestimmungen fragwürdig sein, so blieben sie doch grundsätzlich möglich. Für den modernen Atomkrieg jedoch sind sie nicht einmal mehr diskussionsfähig. Er ist definitorisch bloßer Vernichtungsakt. I n der gleichzeitigen Weiterentwicklung von Trägerwaffen mit Warn- und Abwehrsystemen müssen die Atommächte versuchen, eine maximale Koinzidenz von Angriff und Verteidigung, von Angriff und Gegenangriff zu erreichen. Es ist dann gleichgültig und auch nicht feststellbar, wer Agressor und Verteidiger ist. Daß ein solcher Krieg seinem Wesen nach inhuman ist und alle Voraussetzungen eines umfassenden Kriegsverbrechens i n sich birgt, ist allgemein anerkannt. Wenn dem so ist, müßte schon die Vorbereitung eines solchen Krieges geächtet werden. Die fast selbstverständlich klingende Rechtfertigung, die sich dieser Auffassung gegenüber aus dem Notwehrrecht der Staaten ergibt, kann das Problem nicht lösen. Denn wenn auch die eine Atommacht sich auf ihr Notwehrrecht beriefe, so müßte sie die jeweils andere der Vorbereitung des atomaren Kriegsverbrechens beschuldigen. I n der Situation des atomaren Patts haben aber die beiden Atommächte auf diese gegenseitige Ächtung bewußt verzichtet, damit aber auch auf die Ächtung des Atomkrieges selbst, die selbstverständlich nur i m Stadium der Vorbereitung möglich wäre. Eine moralische Ächtung von Seiten der Nichtbesitzenden ist gegenstandslos, sie kann die Fakten nicht aus der Welt schaffen. Damit ist die Diskriminierung des Kriegsbegriffs auf den wichtigsten Kriegsfall nicht mehr anwendbar.

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E i n Ausweg scheint auf den ersten Blick tatsächlich i n der Selbstprivilegierung der Atommächte durch einen Atomwaffensperrvertrag zu liegen, der sich gegen die Nicht-Atommächte richtet. Aber es ist heute schon zu sehen, daß ein solches K a r t e l l weder zu einer durchgreifenden atomaren Abrüstung führt, noch daß es anderen Mächten, beispielsweise China, ernsthaft den Zugang zu atomaren Waffen sperren kann. Von einer politisch und rechtlich verbindlichen Definition des Atomkrieges kann man jedenfalls nicht sprechen, weder i m Sinne einer Ächtung noch i m Sinne einer Begrenzung. Ähnliches läßt sich über die Versuche sagen, den Dualismus der beiden Weltmächte als Ordnungsmodell der internationalen Machtpolitik zu behandeln. Diesen Dualismusmodellen liegt die Vorstellung zugrunde, man könne ein Gleichgewicht der Weltmächte m i t Abgrenzung von Hemisphären konstruieren, während tatsächlich das atomare Patt lediglich darauf beruht, daß beide Weltmächte die totale Vernichtungschance, die sie gegeneinander besitzen, nicht zu Ungunsten des jeweils anderen verändern können. Daraus ergibt sich aber eher eine Lähmung u n d damit verbunden ein Sinken des Niveaus der Weltpolitik als ein Friedensmodell. U n d es bleibt ganz ungewiß, ob und inwieweit dieser Dualismus die übrige Welt i m Gleichgewicht halten kann. Die weltpolitischen Bewegungsmöglichkeiten der großen Atommächte sind jedenfalls trotz ihres gegenseitigen Kompromißverhaltens nicht größer, sondern geringer geworden — keineswegs n u r was die Ausdehnung ihrer Macht, sondern auch was ihre konstruktiven Möglichkeiten und die Qualität ihrer Politik betrifft. Erweist sich also der Dualismus der beiden Atommächte, abgesehen von der Tatsächlichkeit ihres Kompromißverhaltens, das sich auf der Basis des atomaren Patts entwickelt hat, keineswegs als ein Ordnungsprinzip der internationalen Beziehungen, so ist auf der anderen Seite die These vom Pluralismus der Weltstaaten, auch i n der bereinigten Figur des sogenannten Polyzentrismus, eine bloße Fotografie der gegenwärtigen Lage, eine für die Konstruktion der internationalen Beziehungen inhaltsleere Formel. Das g i l t auch zum Beispiel für das auf den ersten Blick so einleuchtende Weltfriedensmodell Carl-Friedrich von Weizsäckers, i n dem „atomare Bipolarität" kalter Krieg), Pluralismus der Weltstaaten (vor allem der afroasiatischen) und „kooperative Bipolarität" (auf dem Atompatt beruhendes Kompromißverhalten von U S A und UdSSR) i n den Entwicklungszusammenhang einer neuen Weltordnung gebracht werden. Was den Frieden betrifft, so bedarf ein solches Modell der Machtpolitik, u m zu funktionieren, eines ethischen Triebsatzes. M a n begibt sich auf die Suche nach einer neuen Moral. Treffend hat Raymond A r o n die Skepsis, die typisch für das Ergebnis aller bedeutenderen und umfassenderen Untersuchungen über den Frie-

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den ist, zusammengefaßt: „Überlassen w i r anderen, die für Illusionen zugänglicher sind, sich i n Gedanken an das Ende des Abenteuers zu versetzen und versuchen wir, weder die eine noch die andere der jedem von uns auferlegten Pflichten zu versäumen, uns nicht aus einer kriegerischen Geschichte fortzustehlen, aber auch nicht das Ideal zu verraten; zu denken und zu handeln i n der festen Überzeugung, daß die Abwesenheit des Krieges solange zu bewahren ist, bis (!) der Friede möglich sein w i r d — sofern er überhaupt je möglich sein wird." Die Abwesenheit des Krieges ist also nicht mehr der Friede. Er kann nicht mehr als vorgegebene Ordnung der Weltstaaten gedacht werden; das heißt aber auch, daß die bloße Identifikation von Frieden und status quo heute eine politische Naivität ist. Man ist versucht, von diesem Dilemma aus den Frieden als einen Zustand zu bezeichnen, der erst geschaffen werden muß. Doch wäre damit nicht viel mehr gewonnen als eine Basis futurologischer Kombinationen. Von da aus ist es — verwandelt man die Tugend der Hoffnung i n ein Prinzip — nicht mehr weit nach Utopia. Immerhin läßt sich aus dem utopischen Denken die Einsicht gewinnen, daß der Frieden als Ziel gesehen werden kann. Ein erster Schritt zu einer solchen finalen Bestimmung des Friedens wäre es, i m Unterschied zu den bisherigen Vorstellungen eines status quo, eines bereits eingespielten Gleichgewichts oder eines bereits vorhandenen Ordnungsbildes vom Frieden als „Entwicklung" zu sprechen, und zwar als einer „ungestörten Entwicklung". Der Frieden als ungestörte Entwicklung muß auf die Welt als Ganzes bezogen werden, und zwar nicht als einen erdachten oder geträumten Endzustand, sondern als Ziel der internationalen Machtpolitik, und das heißt zugleich als Legitimation einer solchen Machtpolitik. So undeutlich die Vorstellung des Friedens als ungestörter Entwicklung zunächst sein mag, so gibt es doch bereits einen globalen consensus omnium über folgende Merkmale dieser Entwicklung: keine koloniale Herrschaft und Landnahme, Industrialisierung der Wirtschaft, soziale Sicherheit — beginnend mit der Überwindung des Hungers —, wissenschaftlichtechnischer Fortschritt, modernisierte Bildung und Ausbildung. I n dieser Hinsicht beanspruchen alle Staaten und Gesellschaften die Anwendung der Prinzipien der Gleichheit und der Gleichberechtigung. Die individuelle Freiheit fällt indes nicht unter den consensus omnium. Selbstverständlich bedeutet das nicht, daß über die hier grob umrissenen Merkmale hinaus ein consensus über Methoden und Ziele des Friedens als ungestörter Entwicklung besteht. Die tiefgreifenden Ziel- und Methodenkonflikte zwischen den kommunistischen Staaten und den sogenannten westlichen Industrienationen, zwischen wirtschaftlich über27 Festschrift für Carl Schmitt

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entwickelten und unterentwickelten Ländern bedürfen einer gesonderten Darstellung. Trotz dieser Konflikte und ungelösten Probleme läßt sich aber i n einem weiteren Schritt zur näheren Bestimmung des Friedens sagen, daß er i n engem Zusammenhang mit dem Aufbau einer neuen Weltwirtschaft gesehen werden muß. Die Notwendigkeit dazu ergibt sich einmal aus dem Zusammenbruch der i m Zeitalter des Imperialismus entstandenen Weltwirtschaft und aus ihrer damals bereits erreichten Reife. Es ist nicht vorstellbar, wie die unterentwickelten Staaten ihren Rückstand ohne einen solchen Neubau der Weltwirtschaft aufholen können. Andererseits brauchen die Industrienationen auf die Dauer weltweite Märkte, wenn sie ihren Wohlstand erhalten wollen. Ähnliches gilt für die kommunistischen Staaten und ihre Teilnahme am Welthandel und an der internationalen Arbeitsteilung. I m Leninismus-Stalinismus ist das Problem der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit kaum behandelt worden. Für die „Verwirklichung des Sozialismus i n einem Lande" war der Außenhandel nur ein Element der Planerfüllung und das Mißtrauen gegen jede weltwirtschaftliche Verflechtung politisches Prinzip. Das w i r d sich i n Zukunft noch weniger halten lassen als heute. I m ganzen läßt sich vermuten, daß eine ökonomisch konstruierte Friedensstrategie einer sozial-revolutionären überlegen ist, wenn auch zugegeben werden muß, daß die kurzfristigeren taktischen Möglichkeiten auf der anderen Seite größer sind. Schon die Herausbildung eines kommunistischen Polyzentrismus stellt die Sowjetunion vor eine schwierige Situation, nicht nur in der Perspektive der internationalen Machtpolitik. Denn das Verhältnis zwischen gebendem und nehmendem Sozialismus bildet bisher ein ökonomisch wie ideologisch ungelöstes Problem. Demgegenüber lassen sich die Schwächen der westlichen Industriestaaten — Neokolonialismus und wirtschaftlicher Egoismus, gepaart mit sozialstaatlicher Introvertiertheit — leichter überwinden, wenigstens i n der Perspektive einer grundsätzlichen Betrachtung. Der Friede als ungestörte Entwicklung ist, wenn er auf einen globalen consensus omnium rechnen kann, nicht nur eine wichtige Zielvorstellung der internationalen Machtpolitik, sondern auch, wo diese Machtpolitik über die Formulierung der engeren Interessen der Staaten hinausgeht, fast die einzige Möglichkeit einer Legitimation — vor allem dann, wenn die Politik unter dem Risiko der Gewaltanwendung handeln muß. Diese Legitimation schließt auch die Möglichkeit der Herrschaft mit ein, soweit man heute noch von Herrschaft sprechen kann, ohne i n den Verdacht zu geraten, reaktionär zu sein. Denn Herrschaft neuen Stils, die sich nicht als neokolonialistisch oder imperialistisch verfluchen lassen will, verlangt eine enge Kommunikation m i t den Beherrschten, und diese Kommunikation ergibt sich unter Umständen aus der Garantie ihrer ungestörten Entwicklung. Ähnliches gilt auch für eine internationale

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Machtpolitik, die sich auf den Frieden als Ziel beruft. Die zentrale Technik dieser Politik verlangt, das ist bereits deutlich geworden, die Anwendung eines princip fédératif in allen möglichen Spielarten, ganz abgesehen von der immer intensiveren Kommunikation zwischen den modernen Staaten. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich, daß bei diesem finalen Begriff des Friedens „Entwicklung" nicht einfach einem „status" gegenübergestellt wird. Friede ist jetzt vielmehr als Aktionsbegriff zu verstehen und rückt damit in ein anderes Verhältnis zum Krieg. Vielleicht ist es hier nützlich, auf einen Gegensatz hinzuweisen, der das Denken über Krieg und Frieden allzu leicht verwirrt: Auf der einen Seite stellt sich der Krieg als etwas Natürliches dar, als unmittelbarer Ausdruck des Kampfes ums Dasein, der Vater wenn auch nicht aller, so doch vieler Dinge; auf der anderen Seite die Künstlichkeit des Friedens als Ausdruck einer differenzierten Kultur, immer das Ergebnis großer A n strengungen und Manipulationen. Hegel hat dieses natürliche B i l d des Krieges vor Augen, wenn er vom Frieden spricht: „ I m Frieden dehnt sich das bürgerliche Leben mehr aus, alle Sphären hausen sich ein, und es ist auf die Länge ein Versumpfen des Menschen; ihre Partikularitäten werden immer fester und verknöchern. Aber zur Gesundheit gehört die Einheit des Körpers, und wenn die Theile in sich hart werden, so ist der Tod d a . . . Aus den Kriegen gehen die Völker nicht allein gestärkt hervor, sondern Nationen, die in sich unverträglich sind, gewinnen durch Kriege nach außen Ruhe i m Innern. Allerdings kommt durch den Krieg Unsicherheit ins Eigentum. Aber diese reale Unsicherheit ist nichts als die Bewegung, die nothwendig ist. Man hört soviel auf den Kanzeln von der Unsicherheit, Eitelkeit und Unstetigkeit zeitlicher Dinge sprechen, aber jeder denkt dabei, so gerührt er auch ist, ich werde doch das Meinige behalten. . . . Trotzdem aber finden Kriege, wo sie in der Natur der Sache liegen, statt; die Staaten schießen wieder auf und das Gerede verstummt vor den ernsten Wiederholungen der Geschichte." Aber i m Gegensatz zu dieser Perspektive des Verhältnisses von Krieg und Frieden stehen die Erwartungen der Menschen, die i m Frieden das Normale und i m Krieg den Ausnahmezustand sehen, auch dann, wenn sie ihn mit Jubel begrüßen. Dieser Gegensatz verringert sich jedenfalls beträchtlich, wenn man den Frieden als Aktionsbegriff auffaßt. Es ist nicht unrealistisch zu sagen, daß eine solche Politik mindestens so kostspielig ist wie ein Weltkrieg, wenn nicht an Blut, so doch an Gut. Sie ist ohne Zweifel hoch manipuliert, verlangt auch ein höheres Niveau als die gegenwärtigen Bemühungen. Aber i n einem grundsätzlichen Sinne ist sie Kampf ums Dasein, Kampf um das Überleben. Es mag hinzugefügt werden, daß der Frieden als ungestörte Entwicklung nicht als Ideologie gemeint ist. Doch ermöglicht er eine bessere ideologische Ausstattung der Außenpolitik. 27*

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Von dieser Position aus könnte versucht werden, den Krieg durch den Frieden zu definieren anstatt, wie bisher, durch die Abwesenheit des Krieges. Das setzt freilich voraus, daß der Frieden die Möglichkeiten bewaffneter Konflikte i n sich einschließt — bis auf den großen Atomkrieg. Die faktische Möglichkeit, zum Teil auch die Anerkennung von Kriegen, müßte dann an dem K r i t e r i u m der ungestörten Entwicklung der übrigen Welt gesehen werden. Beispielsweise besteht diese Möglichkeit bei regional begrenzten Kriegen, soweit eine Intervention der Großmächte vermieden werden kann. Ebenso ist unter Umständen sogar die atomare Garantie für die ungestörte Entwicklung eines Raumes mit einem „Interventionsverbot für raumfremde Mächte" denkbar. Ein Interventionsversuch könnte dann sogar den atomaren Krieg auslösen. Freilich müssen bewaffnete Konflikte heute mehr i m Zusammenhang mit der Möglichkeit der Kriegsverhinderung gesehen werden, etwa durch präventive Pressionen der Großmächte, die den Konflikt entweder zeitlich begrenzen oder den status quo so nachdrücklich garantieren, daß ein Krieg für jede Partei sinnlos ist. Ein besonders interessanter Fall ist der des Bürgerkrieges. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, daß Bürgerkriege nicht stattfinden i n einem Raum, der atomar garantiert ist. Zum zweiten sind jedenfalls dann die Bedingungen für einen Bürgerkrieg außerordentlich ungünstig, wenn eine effektive soziale und wirtschaftliche Organisation innerhalb eines Staates erreicht ist. Beide Tatbestände stehen i m Zusammenhang, weil die atomare Garantie wohl nur dann voll wirken kann, wenn ein bestimmter Raum i n dieser Weise organisiert ist. Andernfalls kann sie leicht dubios werden. Klammert man nun den besonderen Fall der atomaren Garantie aus, so ergibt sich die Legitimation der Bürgerkriegsparteien und die Stellung des Partisanen daraus, ob sie als Störer in einer effektiven Organisation der Gesellschaft auftreten oder ob sie sich als Friedenskämpfer rechtfertigen können, das heißt, ob ihr Sieg erst die Voraussetzung für eine solche wirtschaftliche und soziale Entwicklung ist. Selbstverständlich ist diese Frage i n einem Bürgerkrieg streitig. Ihre Beantwortung ist aber von zentraler Bedeutung für das Recht auf Intervention und für ihre Erfolgsaussichten. Denn die intervenierende Macht muß i m Lichte dieser Ausführungen ihr Eingreifen mit dem Schutz einer ungestörten Entwicklung rechtfertigen können, den Bürgerkrieg selbst als illegitime Störung diskriminieren. Übrigens w i r d der Bürgerkrieg i n dieser Perspektive berechenbar, man kann ihn als Möglichkeit kalkulieren. Dazu reichen sowohl die Erfahrungen wie die Meßinstrumente der modernen Politik aus. Die planmäßige Verhinderung von Bürgerkriegen ist jedenfalls grundsätzlich, nach der Beendigung der Entkolonialisierung, innerhalb direkter

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Einflußsphären der großen Mächte möglich und notwendig. Würde eine industrielle Weltmacht wie die USA darauf verzichten, so könnte sie leicht ihres Interventionsrechtes verlustig gehen. Faßt man diese, freilich unsystematischen Beispiele zusammen, so w i r d verständlich, welche zentrale Bedeutung der Begriff der Intervention angenommen hat. „Intervention", hat Talleyrand gesagt, „ist ungefähr dasselbe wie Nichtintervention." Das gilt auch für die moderne Weltpolitik, freilich in einem sehr umfassenden Sinne, auf der Grundlage einer immer weiter fortschreitenden Interdependenz der internationalen Beziehungen. Grundsätzlich muß nach diesen Darlegungen das Recht auf Intervention oder auch auf Nichtintervention mit dem Frieden als ungestörter Entwicklung i n Zusammenhang gebracht werden. Das gilt für den Bürgerkrieg wie für den regional begrenzten Krieg, für die atomare Raumgarantie wie für die Anerkennung von Einflußsphären. Für den Krieg ist es wichtig, ob er als Kampf um ungestörte Entwicklung geführt oder als Störung dieser Entwicklung aufgefaßt wird. Aber i n jedem Fall w i r d der Feind zum Störer. Den Feind als Störer zu bezeichnen, ist alles andere als eine Verharmlosung. Denn wenn der Frieden als ungestörte Entwicklung lebenswichtig ist, bleibt der Feind auch als Störer Negation der eigenen Existenz. Es ist nicht nur erstaunlich, sondern auch beunruhigend, daß diese Unterscheidung des Feindes i n der Bundesrepublik auf der einen Seite praktiziert, auf der anderen Seite dementiert und denunziert worden ist. Denn das Grundgesetz der Bundesrepublik ist die einzige parlamentarische demokratische Verfassung, die den innerpolitischen Feind als Störer illegalisiert. Und sie hat sich jahrelang i n einer ausgesprochenen Bürgerkriegssituation mit der DDR befunden. Um so gefährlicher für die eigene Rechtsstaatlichkeit wie für den Erfolg des politischen Handelns ist es, wenn man sich weigert, seine Situation so zu sehen wie sie ist. Diese Bestimmung des Feindes als Störer bedeutet das Eingeständnis, daß man sich auch in der weiteren Zukunft, jedenfalls auf absehbare Zeit, nicht von der Diskreditierung des Feindes bis hin zu seiner Kriminalisierung w i r d lösen können. Zwar braucht nicht jeder Störer Feind zu sein (genau so wie nicht jeder Verkehrssünder Verbrecher ist). Aber i n jeder hochmanipulierten Gesellschaft werden Störungen gefährlich und müssen beseitigt werden. Die Möglichkeiten eines Fortschritts liegen vorerst nur i n der Verhinderung von Konflikten oder i n ihrer Isolierung. Sie liegen vor allem darin, daß der Frieden i n einer neuen Perspektive gesehen und neu benannt wird, daß er i n der Bewegung an Macht zunimmt.

D i e Teilung Deutschlands u n d die deutsche Staatsangehörigkeit Von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Heidelberg Die juristischen Fragen, die das vorliegende Thema zur Lösung aufgibt, überschreiten den abgesicherten Bereich unserer bundesrepublikanischen Rechtsordnung. Sie liegen auch jenseits des Feldes einer dogmatischinterpretativen, auf die Handhabung feststehender oder festgelegter normativer Regelungen ausgerichteten Jurisprudenz. Es handelt sich darum, staatsrechtliche Antworten zu finden auf die politische Herausforderung der deutschen Wirklichkeit, wie sie sich seit 1945 herausgebildet hat. Diese Wirklichkeit besteht vor dem Hintergrund einer Epoche, i n der der (neuzeitliche) Staat als politische Ordnungsform fragwürdig geworden ist und sein Ende sich ankündigt, i n der aber anderseits eine neue Form politischer Ordnung noch keineswegs an seine Stelle getreten ist 1 . Diese Wirklichkeit ist ferner dadurch gekennzeichnet, daß sie i n vielem vorganglos ist und damit ohne Präzedenzfälle. Sie entzieht sich daher einer juristischen Antwort durch einfache Anwendung überkommener normativer Begriffe, Unterscheidungen und Argumentationsfiguren des Staats- und Völkerrechts. Wer hier als Jurist Fragen stellt und Antworten sucht, ist ungeschützt durch die Sicherheit und neutralisierende Wirkung vorgegebener und fraglos anwendbarer Normativität; er t r i t t notwendig i n das Spannungsfeld politischer Auseinandersetzung: seine Stellungnahme bedeutet zugleich auch eine politische Position, und er w i r d auf die Maßstäbe, den Orientierungspunkt seiner fachlichen Aussagen politisch befragt. Das vorliegende Thema erscheint daher als Beitrag zur wissenschaftlichen Ehrung Carl Schmitts besonders geeignet; ist doch sein wissenschaftliches Werk eben dadurch gekennzeichnet, daß er die politischen Herausforderungen seiner Zeit aufnahm und darauf als Jurist des öffentlichen Rechts staatsrechtliche, völkerrechtliche und auch rechtsphilosophische Antworten suchte 2 ; er selbst ebensowenig wie sein wissenschaftliches Werk sind dabei den Fährnissen des Politischen entgangen. 1 Über den Zwischenzustand siehe Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 3. Aufl. 1963, Vorwort, S. 10 ff.; speziell f ü r die völkerrechtliche Seite ders., Der Nomos der Erde i m Völkerrecht des Jus Publicum Europäum, 1950, Teil I V . 2 Das ist sehr deutlich herausgearbeitet bei Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 1964, insbes. Teil 3 und 5; dazu auch meine Rezension i n DöV 1967, S. 688—690.

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I. Die amtliche Auffassung i n der Bundesrepublik zur Frage der deutschen Staatsangehörigkeit — sie stand als Ausdruck des offiziellen bundesrepublikanischen Selbstbewußtseins bis zum Ende der Regierung Erhard am 30.11.1966 i n nahezu unangefochtener Geltung, ist gegenwärtig umstritten, aber noch keineswegs aufgegeben — ist die folgende: Es gibt, ungeachtet aller politischen Veränderungen i n Deutschland seit 1945, nur eine, und zwar ungeteilte, deutsche Staatsangehörigkeit, daneben weder eine bundesrepublikanische noch eine DDR-Staatsangehörigkeit. Diese deutsche Staatsangehörigkeit ist der Ausdruck des Fortbestehens des deutschen Staates. Die in der Bundesrepublik organisierte Staatlichkeit ist, weil allein sie vom Volk legitimiert ist, mit dem deutschen Staat i n den Grenzen von 1937 identisch. Die durch das Grundgesetz verfaßte und von den Organen der Bundesrepublik ausgeübte Staatsgewalt gilt daher als die deutsche Staatsgewalt; sie ist der rechtliche Bezugspunkt der deutschen Staatsangehörigkeit. Alle deutschen Staatsangehörigen sind „de jure" dieser bundesrepublikanischen Staatsgewalt unterworfen, werden durch sie berechtigt und verpflichtet, wenngleich die Organe der Bundesrepublik de facto gehindert sind, diese Staatsgewalt über den territorialen Bereich der Bundesrepublik hinaus effektiv geltend zu machen; die Organe der Bundesrepublik — und sie allein — sind befugt, über die deutsche Staatsangehörigkeit verbindliche Regelungen zu treffen, sie zu verleihen oder — nach Maßgabe der Gesetze — ihre Beendigung festzustellen 3 . Fragen w i r nach den Auswirkungen dieser amtlichen Auffassung, der sog. Identitätstheorie, und der inneren Konsequenz ihrer Durchführung. Die Auswirkungen erstrecken sich auf alle Bereiche des Rechtslebens. Besonders deutlich treten sie i n dem Gesetz über befristete Freistellung von der deutschen Gerichtsbarkeit vom 29. 7.1966 (BGBl. I, S. 453) zutage. Dieses Gesetz, das die Voraussetzungen für den geplanten, dann aber nicht zustandegekommenen Redneraustausch zwischen SPD und SED 3 Eine ausführliche Darstellung der Identitätstheorie und der i n i h r eingeschlossenen Folgerungen bei Marschall v. Bieberstein, Z u m Problem der völkerrechtlichen Anerkennung der beiden deutschen Regierungen, 1959, S. 121— 149,154 ff. Ferner auch R. Schuster, Deutschlands staatliche Existenz i m Widerstreit rechtlicher und politischer Gesichtspunkte 1945—1963, 1963, S. 77 ff., der die Identität nicht wie Marschall v. Bieberstein auf den de-jure-Anspruch der Regierung u n d übrigen Organe der Bundesrepublik, sondern auf den Staat Bundesrepublik bezieht und daher die eigentliche Identitätstheorie als Staatskerntheorie qualifiziert u n d i h r als zweite Spielart die Schrumpfstaattheorie gegenüberstellt (S. 84 ff.). A n der Praxis lassen sich beide Identitätsauffassungen belegen. Die Streitfrage bedarf hier keiner weiteren Erörterung, w e i l die de-jure-Zuständigkeitsausdehnung der Bundesrepublik bzw. ihrer Organe auf das deutsche Staatsgebiet für beide Auffassungen die wesentliche rechtliche Folgerung ist. Neuestens s. zur Identitätstheorie F. A. Mann, Deutschlands Rechtslage 1947—67, JZ 1967, S. 585 ff., 617 ff. (617—24).

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schaffen sollte, bestimmt, daß „Deutsche" (gemeint sind Deutsche i. S. des Art. 116 GG, das sind deutsche Staatsangehörige und Personen deutscher Volkszugehörigkeit) unter besonderen Bedingungen zeitweise „von der deutschen Gerichtsbarkeit" freigestellt werden können 4 . Obgleich mit dem Gesetz i m Ergebnis eine gewisse Rücknahme der Auswirkungen der Identitätstheorie beabsichtigt war, erfuhr die Identitätstheorie durch diese A r t der Regelung zuvor (noch einmal) eine ausdrückliche und herausfordernde Bestätigung. Die Gerichtsbarkeit der Bundesrepublik w i r d als die deutsche Gerichtsbarkeit unterstellt, und es w i r d vorausgesetzt, daß alle deutschen Staatsangehörigen, einschließlich der Einwohner der DDR, ihr unterworfen sind, daß sie alle der Personalhoheit und dem grundsätzlichen Gehorsamsanspruch der Rechtsordnung der Bundesrepublik de jure unterstehen, und zwar unabhängig davon, ob sie i n der Bundesrepublik leben oder unter einer anderen Herrschaftsgewalt und rechtlichen Ordnung, der sie sich nicht entziehen können. Die staatsrechtliche Negation der DDR ist vollkommen; sie erscheint als de jure-Inland, als ein Gebiet, das sich widerrechtlich dem Herrschaftsanspruch der die deutsche Staatsgewalt ausübenden Organe der Bundesrepublik entzieht 5 . Die Identitätstheorie ist nicht nur bei dem Gesetz über freies Geleit praktisch geworden; sie stellt die Grundlage dar für mannigfache Strafverfahren, insbesondere gegen Volkspolizisten oder Volksarmisten, die den Schießbefehl befolgten, und für die systematisch geführten Vorermittlungen gegen Amtsträger und sonstige Personen i n der DDR, die an nach unserer Rechtsordnung strafrechtswidrigen Hoheitsakten i n der DDR beteiligt sind 6 . 4 § 1 des Gesetzes lautet: „Die Bundesregierung kann Deutsche, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes haben, von der deutschen Gerichtsbarkeit freistellen, wenn sie es bei Abwägung aller Umstände zur Förderung wichtiger öffentlicher I n t e r essen f ü r geboten hält." 5 Daß dies eine logische Folge (wenn nicht die Prämisse) der Identitätstheorie ist, hat Marschall v. Bieberstein, a.a.O., S. 127 ff., insbes. S. 132 N. 245, dargelegt; er bezeichnet die Identitätstheorie daher zutreffend als eine A r t „Bürgerkriegstheorie". F ü r die DDR als „ I n l a n d " (im Sinne des Strafrechts) BGHSt 7, 55; BVerfG v. 31. 5.1960, BVerfGE 11, 150 (158) u n d v. 17.1.1961, BVerfGE 12, 62 (65). β F ü r Gerichtsurteile siehe statt anderer das U r t e i l des Landgerichts S t u t t gart gegen den Volkspolizisten Hanke, N J W 1964, S. 63. Handlungen i n der DDR, die nach unserer Rechtsordnung strafrechtswürdig sind, werden systematisch ermittelt von der Zentralen Erfassungsstelle der LandesjustizVerwaltungen für sowjetzonales Unrecht i n Salzgitter. Z u m Selbstverständnis dieser Behörde hinsichtlich der rechtlichen Grundlagen ihrer Tätigkeit vgl. das Referat ihres Leiters Generalstaatsanwalt Mützeiburg, Der Schießbefehl an der Mauer, i n : Mitteilungen des Königsteiner Kreises, 1967, Nr. 11, S. 74 ff. Die Anwendung eines sog. „interlokalen Strafrechts" auf DDR-Taten von Deutschen i n der DDR durch die bundesrepublikanischen Gerichte bedeutet keine Abschwächung der prinzipiellen Auffassung. Durch den Vorbehalt des eigenen ordre public bei der Anwendung des Tatortrechts w i r d gerade für die

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Werden so alle deutschen Staatsangehörigen für die Erfüllung der Grundpflicht des Staatsbürgers, sich gemäß der Rechtsordnung des Staates, dem er angehört, zu verhalten, durch die Staatsgewalt der Bundesrepublik i n Anspruch genommen, so stellt sich die Frage nach den grundlegenden Rechten dieser Staatsangehörigen gegenüber der sie i n A n spruch nehmenden Staatsgewalt; Staatsangehörigkeit bedeutet ja kein einseitiges Unterwerfungsverhältnis, sondern ein zwar herrschaftlich geordnetes, aber doch zweiseitiges Rechtsverhältnis. Dem Gehorsamsanspruch des Staates i m Hinblick auf die Befolgung seiner Rechtsordnung entspricht der Anspruch des Staatsangehörigen auf Schutz und auf gleiche (verfassungsmäßige) Teilhabe an den staatsbürgerlichen Rechten. Was den Anspruch auf Schutz angeht, so w i r d er den deutschen Staatsangehörigen, die in der DDR leben, vorenthalten. Die Organe der Bundesrepublik sind wegen der tatsächlich bestehenden effektiven Herrschaftsgewalt der Organe der DDR nicht i n der Lage, diesem Personenkreis i n irgendeiner geeigneten Weise Schutz zu gewähren, insbesondere nicht gegenüber dem anders gearteten Gehorsamsanspruch, dem er untersteht. Indem sie gleichwohl Gehorsam gegen die bundesrepublikanische Rechtsordnung verlangen, geben sie diesen Staatsangehörigen gegenüber die wechselseitige Beziehung von Schutz und Gehorsam preis, die eines der Grundprinzipien des modernen Staates ausmacht 7 . Statt dessen werden diese Staatsangehörigen einem doppelten Gehorsamsanspruch ausgesetzt, und dieser doppelte Gehorsamsanspruch w i r d überdies strafrechtlich sanktioniert. Auch die gleiche Teilhabe an den staatsbürgerlichen Rechten war und ist gegenüber den i n der DDR lebenden deutschen Staatsangehörigen i n mehrfacher Hinsicht nicht gewahrt. Eine sehr wesentliche Einschränkung brachte schon bald nach der Konstituierung der Bundesrepublik das Notcharakteristischen Konfliktsfälle, die aus dem politischen Antagonismus von Bundesrepublik und DDR entspringen, die volle Maßgeblichkeit der Rechtsordnung der Bundesrepublik statuiert. Dazu kritisch K a r l Doehring, Die Teilung Deutschlands als Problem der Strafrechtsanwendung, i n : Der Staat 4 (1965), S. 275 f. sowie ders., Die Teilung Deutschlands als Problem des Völker- u n d staatsrechtlichen Fremdenrechts, 1968, S. 18. 7 Grundlegend Thomas Hobbes, Leviathan, Kap. 21 a. E. und Schlußbetrachtung (in der dt. Ausgabe, hrsg. v. I r i n g Fetscher, 1966, S. 171 f., 535 ff.). — Das preußische A L R sagt i n Teil 2, Tit. 13 („Von den Rechten und Pflichten des Staates überhaupt") : § 2. „Die vorzüglichste Pflicht des Oberhaupts i m Staate ist, sowohl die äußere als innere Ruhe und Sicherheit zu erhalten, u n d einen Jeden bei dem Seinigen gegen Gewalt und Störungen zu schützen." § 3. „ I h m kommt es zu, für Anstalten zu sorgen, wodurch den Einwohnern M i t t e l und Gelegenheit verschafft werden, ihre Tätigkeiten und K r ä f t e auszubilden, u n d dieselben zur Beförderung ihres Wohlstandes anzuwenden." § 4. „Dem Oberhaupt i m Staat gebühren daher alle Vorzüge und Rechte, welche zur Erreichung dieses Endzwecks erforderlich sind." Vgl. auch C. G. Suarez, Vorträge über Recht und Staat, 1960, S. 464—468.

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aufnahmegesetz vom 22. 8.1950, verbunden mit der Anwendung der Einschränkungsmöglichkeiten des Art. 11 Abs. 2 GG auf Zuziehende aus der DDR. Zwar wurde ausdrücklich anerkannt, daß das Grundrecht der Freizügigkeit „allen Deutschen" und damit auch den deutschen Staatsangehörigen in der DDR zustehe und daß es auch das Recht des Zuzugs in das Bundesgebiet, nicht nur die Freizügigkeit innerhalb desselben umfasse 8. Aber indem die Einschränkungsgründe des A r t . 11 Abs. 2 GG, die ganz auf den Regelfall der Wohnsitz- oder Aufenthaltsverlegung innerhalb des Bundesgebiets (Umzug) zugeschnitten sind, auch auf den politisch bedingten Ausnahmefall des Zuzugs aus der DDR für anwendbar erklärt wurden, wurde den deutschen Staatsangehörigen i n der DDR, falls sie keine Anerkenung als politische Flüchtlinge erhielten, das Aufsuchen des Gebiets, wo die für sie allein zuständige deutsche Staatsgewalt nicht nur „de jure", sondern wirklich ausgeübt wurde und sie also den Schutz, auf den sie als Staatsangehörige Anspruch haben, finden konnten, überhaupt verwehrt. Das BVerfG hat die Anwendung der innerterritorialen Einschränkungsgründe des A r t . 11 Abs. 2 GG i m Rahmen des Notaufnahmeverfahrens, auch mit der möglichen Rechtsfolge der Abweisung, ausdrücklich gebilligt 9 . Das bedeutete für die Bewohner der DDR die gleiche Rechtslage, als wenn deutsche Staatsangehörige i n der Bundesrepublik aus den Gründen des Art. 11 Abs. 2 GG, sofern sie nicht politische Flüchtlinge sind, nicht nur am Umzug innerhalb des Bundesgebiets hätten gehindert werden, sondern darüber hinaus aus dem Bundesgebiet hätten abgeschoben werden können. Die Verweigerung des Staatsbürgerrechts — auf der Basis der Identitätstheorie — w i r d daran offenbar 10 . Die schwierige wirtschaftliche und soziale Lage der Bundesrepublik i n den ersten Jahren nach 1949 stellt demgegenüber keinen rechtserheblichen Einwand dar; eine solche Notlage berechtigt nicht zur indirekten Abschiebung eigener Staatsangehöriger, sondern zwingt zur Solidarität i n der Not. Daß es tatsächlich bei den i m Notaufnahmeverfahren nicht anerkannten Flüchtlingen zu keiner Abschiebung gekommen ist, gereicht den betreffenden Behörden zur Ehre, ist aber für die geschaffene Rechtslage ohne Belang. 8 Das w a r der ausdrückliche W i l l e des Parlamentarischen Rates, vgl. v. Doemming-Füßlein-Matz, JöR N F Bd. 1, S. 129 ff.; ebenso — m i t besonderem Nachdruck — BVerfGE 2, 267 (274 ff.); Dürig, Freizügigkeit, i n : Die G r u n d rechte, Bd. 2, S. 516 f. 9 BVerfGE 2, 267 (283): „Der Begriff .Einschränkung' [in A r t . 11 Abs. 2 GG] ist nicht so zu verstehen, daß er n u r eine teilweise Beschränkung der Freizügigkeit erlaube. ,Einschränkung 4 ist vielmehr u. U. eine Einschränkung auch des Kreises der aus dem Grundrechte Berechtigten m i t der W i r k u n g voller Abweisung." 10 Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I 5 , S. 153: „Die u r sprünglichste, natürlichste u n d i m ganzen auch wichtigste Seite des Staatsbürgerrechts i n dem entwickelten Sinne ist der Anspruch, i m Staate — d. h. i m Gebiet u n d unter dem Schutz des Staates leben zu dürfen."

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Ähnlich erfolgte lange Zeit auch keine Gleichstellung der aus der DDR übergesiedelten deutschen Staatsangehörigen hinsichtlich der Leistungen nach dem 131-er Gesetz, dem LAG, dem BWGöD. M i t Ausnahme wiederu m der als politische Flüchtlinge Anerkannten waren diese Personen zunächst anspruchsberechtigt grundsätzlich nur, wenn sie bereits am 23. 5. 1949 (131-er Gesetz; BWGöD) bzw. am 31. 12. 1950 (LAG) i m Bundesgebiet dauernd ansässig waren 1 1 . Später wurden diese Zuzugsfristen stufenweise heraufgesetzt, blieben aber stets um 1—2 Jahre hinter dem Zeitpunkt der jeweiligen Gesetzesänderung zurück 12 . Auch wenn man die politischen und wirtschaftlichen Motive dieser Regelungen nachzuvollziehen vermag, sie bedeuteten nichts anderes als eine teilweise Entrechtung bestimmter Staatsangehöriger allein auf Grund ihres Wohnsitzes (der überdies i m de jure-Inland liegt), und zwar bei Materien, für die der Wohnsitz i n keiner Weise einen sachlichen Anknüpfungspunkt abgibt. Endlich w i r d allen Staatsangehörigen, die in der DDR leben, das wichtigste politische Staatsbügerrecht vorenthalten, das Wahlrecht. Obgleich das Gebiet, i n dem sie ihren Wohnsitz haben, nach der Identitätstheorie als de jure-Inland erscheint, werden sie von der Teilhabe am Wahlrecht ausdrücklich ausgeschlossen13. Sie sollen zwar der Rechtsordnung der Bundesrepublik Gehorsam leisten, aber an der Festlegung dieser Rechtsordnung durch von ihnen gewählte Volksvertreter mitzuwirken, bleibt ihnen versagt 14 . Die Widersprüche, die sich hier auftun, sind offenbar. Die Organe der Bundesrepublik nehmen als Prätendenten „der" deutschen Staatsgewalt die deutschen Staatsangehörigen i n der DDR hinsichtlich der staatsbürgerlichen Gehorsamspflicht voll i n Anspruch, hinsichtlich der staats11 § 4 I Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter A r t . 131 GG fallenden Personen v. 11. 5.1951 (BGBl. I, S. 307), § 3 I Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes v. 11. 5.1951 — BWGöD — (BGBl. I, S. 291), § 230 I Gesetz über den Lastenausgleich — L A G — v. 14. 8.1952 (BGBl. I, S. 446). 12 Durch spätere Änderungsgesetze w u r d e n z. B. folgende Stichtage festgelegt: a) 131er-Gesetz: Erstes ÄnderungsG v. 19. 8.1953 (BGBl. I, S. 980): 31. 3.1951; Zweites ÄnderungsG v. 11.9.1957 (BGBl. I, S. 1275): 31.12.1952; Drittes ÄnderungsG v. 21.8.1961 (BGBl. I, S. 1557): kein neuer Stichtag; Fünftes ÄnderungsG v. 9. 9.1965 (BGBl. I, S. 1203): 31.12.1964 für solche Personen, die i m Wege des Notaufnahmeverfahrens oder eines vergleichbaren V e r fahrens zugezogen sind. b) BWGöD: Zweites ÄnderungsG v. 19. 8.1953 (BGBl. I, S. 994): 31. 5.1951. c) L A G : 4. ÄnderungsG v. 12. 7.1955 (BGBl. I, S. 403): 31.12.1952; 14. Ä n d e rungsG v. 26. 6.1961 (BGBl. I, S. 785): 31.12.1960; 16. ÄnderungsG v. 23. 5. 1963 (BGBl. I, S. 360): 31.12.1961. 18 § 12 I Ziff. 2 BundeswahlG v. 7. 5.1956 (BGBl. I, S. 385) setzt einen Wohnsitz oder dauernde Aufenthaltszeit von 3 Monaten i n der Bundesrepublik voraus. 14 Immanuel Kant hat zu den „unabtrennlichen" A t t r i b u t e n des Staatsbürgers die „Freiheit, keinem andern Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat", gerechnet (Metaphysik der Sitten, T. 2 § 46).

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bürgerlichen Rechte hingegen werden sie in wesentlicher Hinsicht schlechter gestellt und gegenüber den vollberechtigten Bundesbürgern auf eine A r t Kolonen-Status her abgedrückt; des staatlichen Schutzes entbehren sie ganz. Der Grund dafür liegt i n der rechtszerstörenden Fiktion, auf der die Identitätstheorie und die aus ihr abgeleiteten rechtlichen Folgerungen beruhen. Die Organe der Bundesrepublik sind tatsächlich, wegen der politischen Gegebenheiten seit 1949 und angesichts der Gewaltverzichtserklärung auch für das Ziel der Wiedervereinigung, nicht i n der Lage, die von ihnen ausgeübte Staatsgewalt über den Geltungsbereich des Grundgesetzes hinaus zu erstrecken. Sie sind dazu aber auch rechtlich nicht in der Lage, denn die Autorisation der drei westlichen Besatzungsmächte zur Schaffung einer eigenen staatlichen Organisation bezog sich nur auf das Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen (mit einem Sonder status für Westberlin). Die von den Organen der Bundesrepublik ausgeübte, durch das Grundgesetz legitimierte Staatsgewalt findet deshalb ihre tatsächliche und rechtliche Grenze dort, wo der Geltungsbereich des Grundgesetzes (Art. 23 GG) endet. Was darüber hinausgeht, sind rechtliche Fiktionen. Sie mögen als politisches Postulat sinnvoll sein, als Rechtsansprüche genommen negieren sie den grundlegenden Satz, daß die staatliche Herrschaftsgewalt und ihr Gehorsamsanspruch dort ihre Grenze finden, wo der Staat nicht mehr in der Lage ist, Schutz zu gewähren 15 . Die notwendige praktische Folge ist der dargelegte Bürgerkriegstotalitarismus, der die wahlrechtslosen „Staatsangehörigen" in der DDR einem doppelten Gehorsamsanspruch aussetzt und mit einer strafrechtlich sanktionierten Pflicht zum (aktiven) Widerstand belegt. Es bedarf keines weiteren Beweises, daß auf dieser Grundlage eine juristisch haltbare Antwort auf die Frage nach der deutschen Staatsangehörigkeit und ihrem rechtlichen Schicksal angesichts der deutschen Teilung nicht gefunden werden kann. II. Um die weiteren Überlegungen auf eine tragfähige Grundlage zu stellen, erscheint es notwendig, sich über das rechtliche Wesen der Staatsangehörigkeit, das Ausmaß ihrer normativen Regelbarkeit und den Zusammenhang zwischen Staatsgewalt und Staatsangehörigkeit Klarheit zu verschaffen. 1. Formal gesehen läßt sich die Staatsangehörigkeit (StAng) definieren als ein „Rechtsverhältnis zwischen dem Staat und seinen Angehörigen", bei dessen Regelung „die Eigenschaft der Person als Subjekt dieses Rechtsverhältnisses einen rechtlichen Status dieser Person bildet" 1 6 . I n 15

Vgl. auch Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 3. Aufl. 1963, S. 53. Makarov, Allg. Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, 2. Aufl. 1962, S. 28.

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dieser Definition w i r d — durch eine vermittelnde Formel — zugleich das Problem zu lösen versucht, ob die Staatsangehörigkeit ihrem rechtlichen Wesen nach ein Rechtsverhältnis (rechtlich geregeltes Lebensverhältnis) oder ein rechtlicher Status der Person sei. M i t Recht wendet Makarov gegen die alleinige Bestimmung der StAng als Rechtsverhältnis ein, daß als Subjekt dieses Rechtsverhältnisses nur der Staat von vornherein feststehe, während die Eigenschaft der Individuen als entsprechender Subjekte erst durch den Staat selbst festgelegt werde und einer solchen Festlegung auch bedürfe 17 . Die — rechtlich geregelte — Eigenschaft des einzelnen als Staatsangehöriger geht als „präjudizielle Bedingung" 1 8 den (staatsbürgerlichen) Rechten und Pflichten, die das Rechtsverhältnis der StAng konkret ausmachen, voraus. Dieses Rechtsverhältnis ist nicht, wie sonstige Rechtsverhältnisse, durch soziale Lebensvorgänge (Elternschaft) oder willentliche Handlungen (Eheschließung, Vertragsabschluß) bedingt, sondern durch einen — einseitig festgelegten -τ- rechtlichen Status. Dieser Umstand weist auf einen besonderen, i n gewisser Hinsicht einzigartigen Charakter der StAng hin, der über eine formale Bestimmung hinaus die Frage nach dem sachlichen Inhalt der StAng notwendig macht. Soviel läßt sich jedoch schon auf Grund der formalen Definition der StAng sagen: Jede StAng ist untrennbar auf einen bestimmten Staat bezogen und dadurch in ihrem Bestand bedingt. Sie läßt sich nicht von diesem konkreten Staat rechtlich ablösen und i n eine normative Eigenexistenz überführen. Als Ausdruck der rechtlichen Beziehung zwischen einem Staat und den Menschen, die dieser als seine Angehörigen in A n spruch nimmt, gelangt sie immer dann zur Entstehung, wenn und sobald ein Staat entsteht. Ebenso erlischt sie ohne weiteres, wenn der Staat untergeht 1 9 . Ein Staat ohne StAng wäre ein Staat ohne Staatsvolk, und eine StAng ohne Staat würde sich mangels Subjekt i n ein rechtliches Nichts auflösen. Das bedeutet, daß das rechtliche K r i t e r i u m für das Bestehen einer StAng nicht i n einem die StAng regelnden Gesetz gefunden werden kann, sondern, dem vorausliegend, i m Bestehen des Staates selbst zu suchen ist 2 0 . Das Staatsangehörigkeitsgesetz ist demgegenüber sekundär; es schafft die StAng nicht, sondern formt sie aus; es erhält sie auch 17

Makarov, a.a.O., S. 19/20. So — anschaulich u n d treffend — A. Haenel, Deutsches Staatsrecht, 1892, S. 355. 19 Gerhard Hoffmann, Die Staatsangehörigkeit i n den deutschen Bundesländern, i n : AöR 81 (1956), S. 312 f.; ebenso G. Riege, Staatsbürgerschaft und nationale Frage, i n : Staat und Recht 13 (1964), S. 58; ders., Das Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR, i n : Staat u n d Recht 16 (1967), S. 702; indirekt auch Makarov, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht. Kommentar, 1966, S. 24. 20 Zutreffend G. Hoff mann, a.a.O. (N. 19), S. 313/314; Riege, Staatsbürgerschaft u n d nationale Frage, a.a.O. (N. 19), S. 58; Posch, Staat und Recht 13 (1964), S. 1969. 18

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nicht über das Bestehen des Staates hinaus 21 . Die Frage nach dem Fortbestand der einheitlichen deutschen StAng läßt sich infolgedessen nicht allein unter Hinweis auf die Fortgeltung des alten Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes (RuStG) gemäß Art. 124 GG beantworten, sondern erst durch die gleichzeitige Beantwortung der Frage nach dem Fortbestand des deutschen Staates und der Rechtslage Deutschlands. Und ebenso läßt sich das Vorhandensein einer eigenen bundesrepublikanischen StAng (neben oder anstelle der deutschen StAng) nur dann verneinen, wenn der eigene Staatscharakter der Bundesrepublik verneint wird. 2. Sucht man die StAng sachlich-inhaltlich zu bestimmen, so sind dafür folgende Momente von Wichtigkeit. a) Die StAng bedeutet für den Staatsangehörigen Unterstellung unter die Personalhoheit des betreffenden Staats. Man kann die Staatsangehörigen geradezu definieren als diejenigen Menschen, „die der Personalhoheit derselben Staatsgewalt unterstehen" 22 . Der Begriff Personalhoheit bezeichnet dabei eine bestimmte Form von Herrschaftsgewalt: die rechtliche Befugnis, die unterstehenden Personen einseitig, d. h. kraft hoheitlicher Überlegenheit zu verpflichten und zu berechtigen. StAng ist, so gesehen, ein Herrschaftsverhältnis. b) Die StAng hat, als Rechtsverhältnis und als Rechtsstatus, grundsätzlich umfassenden Charakter. Die Rechts- und Pflichtstellung, die sie beinhaltet, erfaßt die Person als ganze, nicht nur i n dieser oder jener Hinsicht. Die Verpflichtbarkeit des einzelnen kraft seiner StAng ist potentiell allumfassend wie die Staatsgewalt selbst, d. h. sie erstreckt sich „soweit überhaupt die staatliche Sphäre reicht" 2 3 . Sie geht über abmeßbare und abgrenzbare Einzelpflichten, die die Person außer sich lassen, hinaus. Das zeigt sich nicht zuletzt an dem Einsatz und evtl. Opfer des Lebens, das der Staat von seinen Staatsangehörigen i m Ernstfall fordert, an der Pflicht zur Treue 24 , die dieser Forderung vorausliegt und auch die legitimierende Grundlage der Hoch- und Landesverratstatbestände abgibt, und an der Verfügungsmacht über Freiheit und Eigentum, ja prinzipiell auch 21 G. Hoffmann, a.a.O. (N. 19), S. 314. Nicht k l a r insoweit Schätzel, Der heutige Stand des Staatsangehörigkeitsrechts, i n AöR 81 (1956), S. 270, der davon spricht, es sei den deutschen Ländern durch A r t . 74 Ziff. 8 GG freigestellt, ob sie eine eigene Landesangehörigkeit schaffen wollten. Es kann sich dabei n u r u m die gesetzliche Ausformung bzw. Aktualisierung, nicht u m die Begründung handeln. 22 Marschall v. Bieberstein, a.a.O., S. 90/91. Z u Personalhoheit u n d Staatsangehörigkeit auch Dahm, Völkerrecht, Bd. 1, S. 445. 23 Hermann Schulze, Das preußische Staatsrecht 2 , Bd. 1, 1888, S. 342/343. 24 Zur Treuepflicht des Staatsangehörigen: Laband, Staatsrecht 5 , Bd. 1, S. 143 ff.; H. Schulze, a.a.O., S. 343; Haenel, a.a.O., S. 355, spricht neben der Gehorsamspflicht von der Pflicht zur „Zugehörigkeit".

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über das Leben, die die staatliche Strafgewalt auszeichnet. Die vielen Statusverhältnisse, in denen der Mensch des Mittelalters stehen konnte und oft auch stand, sind m i t der Herausbildung des Staates abgebaut oder relativiert worden zugunsten des einen politischen Status, der dadurch an Intensität und Ausschließlichkeit gewann 25 . Die mittelalterliche Verfassungsordnung kannte Plural-Vasallitäten, weil die Vasallitätsbeziehung i n der Regel eine sachlich begrenzte war 2 6 , die Mehrfach-StAng ist demgegenüber ein Irreguläre, das „dem ausgebildeten modernen Staatsbegriffe widerspricht" 2 7 . c) Als herrschaftliches Rechtsverhältnis bzw. herrschaftlicher Rechtsstatus ist die StAng einseitig hoheitlich durch den Staat regelbar (oben a). Diese einseitige Regelbarkeit gilt nicht nur für die Festlegung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, sondern auch für die Begründung der StAng. Die Inanspruchnahme des einzelnen als Staatsangehöriger durch den Staat beruht nicht auf vertragsmäßiger, sondern auf herrschaftlicher Grundlage. Wenn ein Staatsangehöriger seine StAng durch einseitige Erklärung aufgeben kann und damit eine A r t „Kündigungsrecht" für die Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft hat, so folgt das nicht aus dem Begriff der StAng, sondern aus der konkreten Ausformung, die der einzelne Staat seiner StAng gegeben hat. Prinzipiell bestimmt der Staat selbst und von sich aus, wen er als Staatsangehörigen in Anspruch nimmt und wie er die Rechts- und Pflichtstellung der Staatsangehörigen ausgestaltet; es ist das einer der wichtigsten Anwendungsfälle seiner Souveränität. Dieser Satz gilt freilich nicht ohne Einschränkung. Gälte er ohne Einschränkung, so wäre der W i l l k ü r der einzelnen Staaten bzw. der jeweiligen Inhaber der Staatsgewalt Tür und Tor geöffnet; sie könnten beliebig fremde Personen als eigene Staatsangehörige i n Anspruch nehmen, sie m i t Gehorsams- und Treuepflichten belegen. Der freien und einseitigen Regelung der StAng durch den Staat sind bestimmte Grenzen gezogen, nach außen durch das Nebeneinanderbestehen der Staaten, nach innen durch den dem Staat von seinem Ursprung her eingestifteten Sinn und Zweck. 25

Carl Schmitt, Verfassungslehre 4 ,1964, S. 48. Heinrich Mitteis, Lehnrecht u n d Staatsgewalt 2 , 1958, S. 531 ff., 556 ff.; Walter Kienast, Untertaneneid und Treuevorbehalt i n Frankreich und England, 1952, passim; der s., Die deutschen Fürsten i m Dienste der Westmächte, 2 Bde., 1924—31. 27 H. Schulze, a.a.O. (N. 23), S. 343; Laband, Staatsrecht 5 , Bd. 1, S. 139/140, weist darauf hin, daß i m Bundesstaat „die aus der ethischen (!) N a t u r des StaatsangehörigkeitsVerhältnisses entnommenen Gründe" entfallen, welche „regelmäßig es ausschließen, daß jemand gleichzeitig anderen Staaten angehört . . . " . 26

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Das Verhältnis der Staaten untereinander ist bestimmt durch die gegenseitige Achtung der formellen Unabhängigkeit und Souveränität 28 . Dieser Grundsatz verbietet einen Eingriff i n die Territorial- und Personalhoheit anderer Staaten bei der Regelung der eigenen StAng. Daraus folgt, daß für die Inanspruchnahme von Personen als Staatsangehörige bestimmte objektive Anknüpfungspunkte an die eigene Territorial- oder Personalhoheit gegeben sein müssen 29 . Die eigene Personalhoheit darf nicht gegen die fremde Territorialhoheit ausgespielt werden und umgekehrt. Ferner ist die Inanspruchnahme solcher Personen, die der Personalhoheit eines anderen Staates (bereits) unterstehen, grundsätzlich nicht zulässig. Darauf beruhen die Regelungen i n Gesetzen oder zwischenstaatlichen Abkommen, die die Überschneidungen, welche sich aus der Geltung unterschiedlicher Prinzipien für die Begründung der StAng (ius sanguinis, ius soli) ergeben, i n einer für die betroffenen einzelnen wie für die beteiligten Staaten vertretbaren Weise aufzulösen trachten 30 . Schwieriger ist es, die Grenzen festzulegen, die der Regelung der StAng nach innen gezogen sind. Sie ergeben sich aus Sinn und Zweck staatlicher Ordnung überhaupt. U m hier nicht der Gefahr nur rechtspolitischen Meinens und Dafürhaltens zu erliegen, muß man sich freilich auf solche Ziel- und Zweckbestimmungen beziehen und beschränken, die jenseits der Verschiedenheit der Regierungsformen und der Staatsideologien liegen. Dieser elementare, dem (neuzeitlichen) Staat als solchem von seinem Ursprung her eingestiftete Sinn und Zweck, der seine „Idee" ausmacht, liegt i n der Ausrichtung auf Frieden, Sicherheit und (guter) Ordnung nach innen sowie Schutz nach außen für seine Bürger 3 1 . Eben um 28 Makarov, a.a.O., S. 94, weist zutreffend darauf hin, daß die Schranken der Regelungsfreiheit der Staatsangehörigkeit durch Schlußfolgerungen aus den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts genommen werden müßten. Ferner Dahm, Völkerrecht, Bd. 1, S. 448 f. 29 Eingehend Wengler, Deutschland als Rechtsbegriff, i n : Festschrift für Nawiasky, 1956, S. 49 ff.; ferner Dahm, Völkerrecht, Bd. 1, S. 449; Makarov, a.a.O., S. 95; Böhlhoff, Die gesamtdeutsche Staatsangehörigkeit, Diss. Marburg 1959, S. 91. 30 Dazu Makarov, a.a.O., S. 128 ff. 31 Klassisch Hobbes, Elementa philosophica de cive, c. 13, 7 als A n t w o r t auf die Frage: salus publica i n quo consistit?: „1. ut ab hostibus externis defendant u r ; 2. ut pax interna conservetur; 3. u t quantum cum securitate publica consistere potest, locuplectentur; 4. u t liberiate innoxia perfruantur." Ähnlich John Locke, wenn er den Zweck des Staates i n der „preservation of property" erblickt (Two treatises on government, T e i l 2, cap. 9, Nr. 124 ff. u. ö.), w o m i t die persönliche Eigensphäre i. S. der „Sicherheit von Freiheit u n d Eigentum" gemeint ist. F ü r die Staatszweckvorstellungen i m preuß. Allgemeinen Landrecht s. § 1—2 I I 13, oben N. 7 ; für die der Französischen Revolution die Declaration des droits de l'homme et d u citoyen ν. 4. 8.1789, insbes. A r t . 2. Es erstaunt, daß Herbert Krüger i n seiner Staatslehre, 21966, die j a nicht eine eigene Staatsideologie, sondern eine Lehre vom neuzeitlichen, geschichtlich gewordenen Staat sein w i l l , den Staatszweck völlig eliminiert u n d n u r die Fähigkeit, auf (unbekannte) Lagen zu reagieren, als Ausrichtung des Staates übrigläßt, siehe insbes. S. 192 ff.

2 Festschrift für Carl Schmitt

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diesen Zustand zu ermöglichen und zu erreichen, ist die Staatsgewalt als einseitige, grundsätzlich umfassende und souveräne Hoheitsgewalt begründet und errichtet, die aus sich Anspruch auf Gehorsam geltend machen kann 3 2 . Daraus ergibt sich für die StAng als die statusmäßige Hechtsbeziehung zwischen dem Staat und seinen Angehörigen (Bürgern), daß f ü r sie die Beziehung

von Schutz und Gehorsam — t h e m u t u a l r e l a -

tion between protection and obedience, wie Hobbes es gesagt hat — ungeachtet aller staatlichen Zwecksetzungen i m einzelnen konstitutiv ist und daß dieser Beziehung Allgemeinheit i n dem Sinne zukommt, daß sie für alle Staatsangehörigen gilt bzw. gelten muß 3 3 . Dadurch w i r d die StAng, trotz ihres Charakters als Herrschaftsbeziehung, davor bewahrt, ein reines Macht- oder Unterwerfungsverhältnis zu sein. Die Beziehung von Schutz und Gehorsam verbürgt das Prinzip der Gegenseitigkeit, das für jedes Rechtsverhältnis wesentlich ist. Die StAng setzt damit die Tradition der vorstaatlichen Herrschaftsverhältnisse des Mittelalters fort, für die, wie Otto Brunner nachgewiesen hat, die Beziehung von „Schutz und Schirm" und „Rat und Hilfe" wesentlich war 3 4 . W i r d diese Beziehung von Schutz und Gehorsam verlassen, so werden Sinn und Zweck des Staates, sein Um-Willen, das seinen Charakter als einseitige Herrschaftsorganisation über den einzelnen überhaupt rechtfertigt, preisgegeben. Der Staat zerstört dann das Prinzip, aus dem er lebt und das ihn trägt; das „imperium rationis", als das Hobbes, Kant und Hegel den Staat gesehen und begründet haben, zerfällt zu einer reinen Machtorganisation eines einzelnen, einer Gruppe oder einer Ideologie. Das gilt für die out-law-Erklärung der jüdischen Staatsbürger i n Deutschland nach 193335, es gilt für die Rechtlos-Erklärung der Klassenfeinde i n einer Diktatur des Proletariats 3 6 ; es gilt ebenso, wenn der Staat von Menschen Gehorsam verlangt, ohne bereit und i n der Lage zu sein, ihnen 32 Theoretisch begründet vor allem bei Hobbes, Elementa philosophica de cive, c. 5—7, den französischen Juristen des konfessionellen Bürgerkrieges (dazu Schnur, Die französischen Juristen i m konfessionellen Bürgerkrieg, 1962, S. 23 ff.) u n d Kant, Metaphysik der Sitten, Teil 2, Allgem. A n m e r k u n g A nach § 49; praktisch realisiert wurde dies durch den sog. Absolutismus, insbes. den aufgeklärten Absolutismus, und die Französische Revolution. Die Theorien v o m Gesellschafts- u n d Staatsvertrag haben die Funktion, die einseitige und souveräne Staatsgewalt an die grundlegenden Staatszwecke als ihre L e g i t i mation rückzubinden. 33 Diese Allgemeinheit f ü r alle Staatsangehörigen macht den Staat zum „gemeinen Wesen", zur res publica, u n d ist die eigentliche Grundlage staatsbürgerlicher Gleichheit. 34 Otto Brunner, L a n d u n d Herrschaft, 41959, Teil 4, S. 234—327. 35 Den jüdischen Staatsbürgern wurde nach ihrer stuf en weisen Entrechtung auch das eigentliche Staatsbürgerrecht, als ,Reichsbürgerrecht 4 i m Unterschied zur Staatsangehörigkeit qualifiziert, aberkannt, s. § 2 ReichsbürgerG v. 15. 9. 35. E. R. Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 21939, S. 168 f., 181 ff. 36 Lenin, Staat und Revolution, Berlin-Ost 1962, S. 92 f.

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Schutz zu gewähren: an die Stelle einer Rechtsbeziehung t r i t t der machtmäßige Zugriff ohne Gegenseitigkeit oder, kurz gesagt, die Unterjochung. Die Grenzen der innerstaatlichen Regelungsbefugnis der StAng sind damit aufgezeigt. Der Staat kann nicht nach Belieben Menschen als seine Staatsangehörigen i n Anspruch nehmen und von ihnen Gehorsam verlangen. W i l l er nicht das StAng-Verhältnis als solches zerstören, ist er an die Wahrung der Beziehung von Schutz und Gehorsam gebunden. Das bedeutet, daß seine StAng grundsätzlich nicht weiter erstreckt werden kann, als seine effektive Herrschaftsgewalt reicht. Und eine StAng, der keine zugehörige effektive Staatsgewalt mehr gegenübersteht, kann nicht (mehr) Anknüpfungspunkt aktueller staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten sein.

III. Für das Problem der deutschen StAng muß neben diesen Überlegungen auch die Lage der StAng im Bundesstaat i n Betracht gezogen werden. Der deutsche Staat ist, seit er besteht, mit Ausnahme der Jahre 1934—45/46, stets ein Bundesstaat gewesen, und die besondere Situation, die i m Bundesstaat für die StAng gegeben ist, hat manche allgemeine Probleme der StAng i n der wissenschaftlichen Erörterung wie auch der praktischen Handhabung zurücktreten lassen. Solange ein Bundesstaat nicht nur seinem Namen nach, sondern auch nach seiner rechtlichen Organisationsform ein Bundesstaat ist, d. h. Bund und Gliedstaaten je für sich Staatscharakter haben, bestehen in ihm stets mehrere StAngn zusammen bzw. nebeneinander. Sowohl der Bund (Zentralstaat) als auch die Gliedstaaten haben ein eigenes Staatsvolk im Rechtssinn (anders wären sie keine Staaten), Staatsangehörige, denen sie staatsbürgerliche Rechte zuerkennen (Wahlrecht) und staatsbürgerliche Pflichten (Wehrpflicht, Gehorsamspflicht gegenüber den eigenen Gesetzen) auferlegen. Das ist unabhängig davon, ob die jeweiligen StAngn, insbesondere die Landesangehörigkeiten, eine gesetzliche Regelung gefunden haben, weil es unmittelbar aus dem Staatscharakter von Bund und Gliedstaaten folgt 3 7 . Die Folge ist, daß die allermeisten Angehörigen eines Bundesstaats die StAng des Bundes und die eines Gliedstaates (Landes) besitzen 38 . Eine andere rechtliche Lage wäre nur denkbar, wenn man den Bundesstaat entweder als reine Staatenkörperschaft auffaßt, 37 s. oben N. 19 und G. Hoff mann, a.a.O. (N. 19), S. 313 f.; a. A. w o h l Schätzel, a.a.O. (N. 21), S. 270. 38 Nicht notwendig alle Bundesangehörigen. Nach dem Reichs- u n d Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913, §§ 1 und 33 gab es die „unmittelbare Reichsangehörigkeit" für die Kolonien, vor 1911 auch f ü r die Elsaß-Lothringer.

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deren Mitglieder nur die Gliedstaaten sind, wie es Laband vertreten hat 3 9 , oder als Gesamtstaat mit nur einer Staatsgewalt, die i n bestimmten Bereichen von den „Gliedstaaten" als Organen des Gesamtstaats ausgeübt wird. I m ersteren Fall entfiele, wenn man konsequent bleibt, die eigene Bundesangehörigkeit, das Verhältnis des einzelnen zur Bundes(Staats)gewalt könnte nur ein mittelbares sein 40 ; i m zweiten Fall fehlte es an einer eigenen LandesStAng, aber auch an Ländern als Gliedstaaten überhaupt. Beides entspricht nicht der Organisationsform des deutschen Bundesstaats. Die A r t des Zusammenhangs zwischen Bundes- und LandesStAng ist verschiedener Ausgestaltung fähig; insbesondere die Frage, ob die Bundes· oder die LandesStAng das Primäre ist und die andere Zugehörigkeit vermittelt oder aber beide nach Erwerbs- und Verlustgründen nebeneinanderstehen, kann so oder anders geregelt werden 4 1 . I n jedem Fall w i r d jedoch das Prinzip der Ausschließlichkeit der StAng 4 2 i n einem Bundesstaat durchbrochen. Daß diese Durchbrechung möglich ist, ohne zugleich die Einheit der Beziehung von Schutz und Gehorsam aufzuheben und einen doppelten Gehorsamsanspruch m i t dauernden Loyalitätskonflikten zu schaffen, hat seinen Grund in der i m Bundesstaat vorausgesetzten politischen Homogenität. Wie Carl Schmitt i n seiner Verfassungslehre des Bundes dargelegt hat 4 3 , ermöglicht es die politische Homogenität i m Bundesstaat, daß der zwischen Staaten sonst mögliche Konfliktfall (status belli) innerhalb des Bundesstaates ausgeschlossen wird, daß die Frage der Souveränität i n der Schwebe bleibt und daß die Einzelstaaten von einer neuen politischen Einheit umgriffen werden, ohne selbst dadurch aufzuhören, politische Einheiten zu sein. Innerhalb des Bundesstaates w i r d dadurch die StAng-Frage i n einem eigentlichen Sinn entpolitisiert. Ausschließlichkeitsprinzip und Mehrfach-StAng werfen, solange die politische Homogenität vorhanden ist, keine Probleme auf. Es w i r d und ist möglich, auf Grund der gemeinsamen Bundesangehörigkeit jedem Staatsangehörigen eines Gliedstaates die Niederlassungsfreiheit in jedem anderen Gliedstaat mit unmittelbarem Erwerb von deren StAng zu gewährleisten. I m Verhältnis der Gliedstaaten zueinander gilt demgemäß für die StAng das Wohnsitzprinzip; die Verlegung des Wohnsitzes von einem in den anderen Gliedstaat zieht 39

Staatsrecht, Bd. I 5 ,1911, S. 137/138. Laband vermeidet diese Konsequenz n u r durch einen logischen Bruch i n seiner Argumentation, vgl. Staatsrecht, Bd. 1, 51911, S. 136/137: „Die Einzelstaaten können nicht getrennt von ihrem Substrat, ihren Angehörigen, dem Reiche unterworfen sein, sondern natürlicherweise (!) n u r m i t Land u n d Leuten. Die Herrschaftsrechte des Reiches über die Staaten enthalten daher (!) zugleich Herrschaftsrechte über die Angehörigen dieser Staaten . . . " 41 s. dazu den Überblick bei Makarov, a.a.O., S. 37/38. 42 Dazu oben S. 431 f. 43 Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 375—379. 40

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den Wechsel der GliedStAng ohne weiteres nach sich 44 . Ebenso kann kraft der gemeinsamen Bundesangehörigkeit i n jedem Gliedstaat jeder Staatsangehörige eines anderen Gliedstaats dessen Gerichtsherrschaft unterstellt werden. Die gemeinsame Kuppel der homogenitätsverbürgenden Bundesgewalt, die Einheit des ordre public, bleibt erhalten, und wer von einem Gliedstaat i n den anderen überwechselt, rückt — u m ein B i l d von Laband zu gebrauchen — „nur an ein anderes Glied derselben festgeschlossenen Kette" 4 5 . Die StAng der Gliedstaaten w i r d nicht aufgehoben, aber sie w i r d ein „unpolitisches" Rechtsinstitut: das Problem von „innen" und „außen" entfällt für sie, sie unterscheidet nicht mehr den Fremden vom Freund, weil kraft der gemeinsamen Bundeszugehörigkeit auch der fremde Staatsangehörige als Freund gilt. Das kann, je nach der Stärke der bundesstaatlichen Homogenität, dazu führen, daß das Bewußtsein eigener StAng und Staatlichkeit überhaupt entfällt; der Bundesstaat nähert sich dann, politisch gesehen, dem Einheitsstaat, die Gliedstaaten Regionen oder Provinzen, und es gilt als „separatistisch", die eigene (Glied-)StAng gesetzlich regeln zu wollen 4 6 . Entfällt nun aber die politische Homogenität als die eigentliche Voraussetzung, die den Bundesstaat möglich macht, so t r i t t sofort das Problem der Ausschließlichkeit der StAng wieder auf. I n dem Augenblick, wo innerhalb eines Bundesstaats mit einem Loyalitäts- und Treuekonflikt ernstlich gerechnet werden muß, hat die normalerweise geltende Schwebelage der StAng ihre Basis verloren. Das ist einmal dann der Fall, wenn der Zustand einer Sezession eintritt, ebenso aber, wenn — ohne eine solche Sezession — die homogenitätsverbürgende Zentralgewalt nicht mehr effektiv wirksam werden kann und die Gliedstaaten sich antagonistisch auseinanderleben. I n diesem Fall müssen, soweit die Sezessionen oder der Antagonismus reichen, alle Unterscheidungen und Begrenzungen, die für die StAng als solche normalerweise gelten, wieder 44 I m Norddeutschen Reichstag w u r d e 1870 i n diesem Zusammenhang sehr treffend von der „politischen Freizügigkeit" gesprochen, die durch das gemeinsame Indigenat begründet werde, vgl. Laband, Staatsrecht, a.a.O., S. 139. 45 Staatsrecht, a.a.O., S. 139. Daß Laband, der Meister formal-logischer A r g u mentation, hier zu bildhaften Vergleichen greift — auch das Wort von der „gemeinsamen K u p p e l " der Reichsgewalt findet sich bei i h m —, bestätigt die eigentümliche Schwebelage von Souveränität u n d Staatsangehörigkeit i m Bundesstaat. 46 E i n gutes Beispiel dafür sind die Urteile des bayer. V G H v. 1.12.1958 (bayVerwBl. 1959, S. 59) u n d des bayer. V e r f G H v. 15.12.1959 (bayVerwBl. 1960, S. 84). Beide gehen davon aus, daß m i t der Wiedererrichtung Bayerns als Staat gleichwohl mangels gesetzlicher Regelung keine eigene Staatsangehörigkeit entstanden sei. Das Bestehen eines Staates, heißt es weiter, setze zwar ein Staatsvolk, nicht aber eine Staatsangehörigkeit als Inbegriff einer Reihe von normierten Rechten u n d Pflichten voraus. Wie es ein Staatsvolk i m Rechtssinne ohne Staatsangehörigkeit geben kann, erklären die Urteile nicht; sie reduzieren das ,Staatsvolk' auf einen Volksstamm u n d den bayerischen Staat auf eine m i t Autonomierechten ausgestattete Provinz der Bundesrepublik.

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i n Kraft treten. Jeder der Gliedstaaten ist gehalten, sich auf den Rahmen der eigenen Personalhoheit und Territorialgewalt zu beschränken, ohne aus der ehedem übergreifenden Bundesgewalt und Bundesangehörigkeit unmittelbar Herrschaftsrechte und Gehorsamsansprüche herzuleiten. Ob das zum völligen Zerfall bundesstaatlicher Einheit führt oder diese i n gewissen Bereichen erhalten bleibt, hängt vom Ausmaß der Sezession bzw. des Antagonismus ab. Wie bei der politischen Homogenität, i m Übergang vom Bundesstaat zum Einheitsstaat, gibt es auch bei Sezession und Antagonismus verschiedene Intensitätsgrade und Situationen, die sich einem klaren Entweder-Oder entziehen. Stabilisiert sich eine bürgerkriegsähnliche Situation, ohne daß die Bundesgewalt als die gemeinsam umgreifende Klammer aktualisierbar ist, so läßt sich auch die Bundesangehörigkeit als Grundlage von aktuellen Rechten und Pflichten nicht heranziehen. Sie muß dann ebenso „ruhen" wie die Bundesgewalt selbst. Geschieht das nicht und verlangen die einander feindlich gewordenen Teile jeder für sich die Zuständigkeit und die Rechte des Ganzen, so ist i m sich steigernden Widerstreit die Auflösung auch noch verbliebener Gemeinsamkeiten unvermeidlich. Die Beziehung von Schutz und Gehorsam verlangt auch hier ihr Recht. IV. Wenden w i r uns, nach diesen notwendigen grundsätzlichen Überlegungen, der Frage nach dem rechtlichen Schicksal der deutschen Staatsangehörigkeit seit 1945 zu. Dabei sollen aus Gründen, die i n der Sache selbst liegen, die zeitliche Periode bis 1949 und die seit 1949 unterschieden werden. 1. Für die Zeit bis 1949 läßt sich die Frage verhältnismäßig einfach beantworten. Die Bundesrepublik ebenso wie die DDR gehen i n ihrer amtlichen Auffassung davon aus, daß i n diesem Zeitraum die deutsche StAng fortbestanden hat. Für die Bundesrepublik ergibt sich das aus der These vom Fortbestand des deutschen Staates über die militärische Kapitulation vom 8. 5. 1945 und die politische Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die alliierten Mächte vom 5. 6. 1945 hinaus, für die DDR ist es i m Staatsbürgerschafttsgesetz von 1967 ausdrücklich niedergelegt. Dieses Gesetz geht davon aus, daß die DDR-Bürgerschaft alle deutschen Staatsangehörigen erworben haben, die zum Zeitpunkt der Entstehung der DDR ihren Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt i m Gebiet der DDR hatten 4 7 , die DDR-Bürgerschaft also insoweit die Nachfolge i n die bis dahin bestehende deutsche StAng angetreten habe 48 . 47 § 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes der DDR lautet: „Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik ist, w e r a) zum Zeitpunkt der Gründung der DDR deutscher Staatsangehöriger war, i n der DDR seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt hatte u n d die Staatsbürgerschaft der DDR seitdem nicht

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Diese beiderseitige Auffassung vom Fortbestand der deutschen StAng ist nicht nur eine Meinung ex post, sie entspricht der Sachlage und Rechtspraxis, wie sie nach 1945 bestand. Die alliierten Mächte hatten i n der sog. Berliner Erklärung vom 5. 6. 1945 zwar selbst die „oberste Regierungsgewalt" i n Deutschland übernommen, jeder der vier Militärbefehlshaber für seine Besatzungszone, sie hatten aber zugleich eine Zerstückelung Deutschlands und eine Annexion abgelehnt, vielmehr Deutschland als (staatsrechtliche) Einheit bestehen lassen und für die „Deutschland als Ganzes" betreffenden Angelegenheiten den alliierten Kontrollrat als gemeinsames oberstes Beratungs- und Entscheidungsorgan errichtet 40 . Die Besatzungszonen wurden nicht als Staatsgebilde, sondern als Verwaltungseinheiten organisiert; i n ihnen wurde, soweit nicht der alliierte Kontrollrat gemeinsame Gesetze oder Anordnungen für alle Besatzungszonen beschlossen oder der einzelne Militärbefehlshaber für seine Zone besondere Regelungen getroffen hatte, das bisherige deutsche Recht weiterhin angewendet 50 , einschließlich des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes. Die allmählich mit eigenen Aufgaben und Zuständigkeiten betrauten deutschen Stellen, insbesondere die Organe der Länder, waren bestrebt, die Rechtseinheit zwischen den Besatzungszonen, soweit irgend möglich, zu erhalten, auch auf dem Gebiet der StAng 5 1 . Die deutschen Länder, die i n den Jahren 1945—47 i n den einzelnen Besatzungszonen neu- oder wiedererrichtet wurden, bezeichneten sich durchweg — i n der sowjetischen Besatzungszone ohne Ausnahme — als Gliedstaaten des deutschen Gesamtstaates, der damit offenbar dem Grunde nach als fortbestehend, wenngleich nicht als solcher organisiert

verloren hat, b) zum Zeitpunkt der Gründung der DDR deutscher Staatsangehöriger war, seinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt außerhalb der DDR hatte, danach keine andere Staatsbürgerschaft erworben hat u n d entsprechend seinem W i l l e n durch Registrierung bei einem dafür zuständigen Organ der DDR als Bürger der D D R geführt w i r d , c) nach den geltenden Bestimmungen die Staatsbürgerschaft der DDR erworben u n d sie seitdem nicht verloren hat." 48 So ausdrücklich G. Riege, Das Staatsbürgerschaftsgesetz der D D R : Staat und Recht 16 (1967), S. 705. 40 Wortlaut der Berliner Vier-Mächte-Erklärung i n : Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. 2, 1951, S. 158 ff. Siehe auch F. A. Mann, a.a.O. (N. 3), S. 588 ff. 50 Vorbehaltlich der i m Kontrollratsgesetz Nr. 1 verfügten Außerkraftsetzung von Rechtsvorschriften m i t typisch nationalsozialistischem Inhalt, s. Amtsblatt des Kontrollrates Nr. 1, S. 6 ff. 51 So fanden 1946 u n d 1947 vierzonale Justizkonferenzen i n Wiesbaden u n d Konstanz statt, die sich m i t der einheitlichen Rechtsgestaltung i m verwaltungsmäßig geteilten Deutschland befaßten, s. den Hinweis bei A. Arndt, Der deutsche Staat als Rechtsproblem, 1960, S. 16/17; vgl. ferner den Aufsatz von Walter Schätzel aus dem Jahre 1948, Der heutige Stand des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, i n : AöR 74 (1948), S. 273 ff.

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und handlungsfähig, vorausgesetzt wurde 5 2 . Sie setzten ferner die deutsche StAng als fortbestehend voraus, indem sie ihre eigenen Landesangehörigen durch Bezugnahme auf die deutsche StAng bestimmten. Die Landesbürgerrechte, insbesondere das Wahlrecht, wurden den deutschen Staatsangehörigen (Einwohnern) zuerkannt, die ihren Wohnsitz, z. T. seit einer gewissen Mindestzeit, i m Gebiet des Landes hatten 5 3 . Soweit die Landeszugehörigkeit i n den Verfassungen darüber hinaus artikuliert oder geregelt wurde, legte man durchweg das Wohnsitzprinzip, auch i m Verhältnis der Landesangehörigkeiten zueinander, zugrunde: Die Landesangehörigkeit w i r d durch Niederlassung i m Gebiet des Landes erworben und mit dem Wegzug daraus verloren; eine eigene Ein- oder Ausbürgerung findet nicht statt 5 4 . Die Länder sahen ferner die eigene Landesangehörigkeit als durch die deutsche StAng vermittelt an. Sie schlossen sich so nicht staatsangehörigkeitsrechtlich gegeneinander ab, behielten vielmehr das für den deutschen Bundesstaat charakteristische, auf der gemeinsamen, übergreifenden Gesamtstaats- bzw. Reichsangehörigkeit beruhende Prinzip der staatsangehörigkeitsrechtlichen Offenheit bei. Lediglich (Süd-)Baden, Bayern und Württemberg-Hohenzollern legten — partikularistischen Tendenzen folgend — Wohnsitzprinzip und die dadurch bedingte staatsangehörigkeitsrechtliche Offenheit nicht fest 55 ; zur Aktualisierung dieser Abschließungstendenz kam es mangels eigener Landesstaatsangehörigkeitsgesetze jedoch nicht. Wenngleich die Länder i m Rahmen der ihnen durch die Besatzungsmächte eingeräumten Zuständigkeit und Autonomie früheres Reichsrecht abändern konnten und das auch taten, machte kein Land den Versuch, für seinen Bereich die Materie der deutschen StAng zu regeln. Das hätte auf der Basis der These vom Untergang des deutschen Staates etwa mit der Begründung geschehen können, daß das Substrat der deutschen StAng, der deutsche Staat, nicht mehr bestehe und daher auch die deutsche StAng nur noch in Form von Landesangehörigkeiten fortexistiere 56 . Exkurs

Die hier geschilderte Sachlage und Rechtspraxis hinsichtlich der deutschen StAng ist auch geeignet, die Kontroverse um die Frage: Untergang " s. die Nachweise bei Schätzel, Der heutige Stand, I (N. 51), S. 313/314. F ü r die Länder der sowjetischen Besatzungszone: Verfassung von Brandenburg, A r t . 1 ; Mecklenburg, A r t . 1 ; Sachsen, A r t . 1 ; Sachsen-Anhalt, A r t . 1 ; Thüringen, A r t . 1. 53 Nachweise bei Schätzel, Der heutige Stand, I (N. 51), S. 314/315. 64 s. Mecklenburg, A r t . 4; Rheinland-Pfalz, A r t . 75; Sachsen, A r t . 4; SachsenAnhalt, A r t . 6; Thüringen, A r t . 3; Württemberg-Baden, A r t . 5. 55 s. dazu Schätzel, Der heutige Stand, I (N. 51), S. 314/315. M Schätzel vertrat 1948 die Auffassung, daß kein L a n d i n der Lage sei, am geltenden deutschen Staatsangehörigkeitsrecht durch ein Gesetz etwas zu ändern (1. c. S. 314).

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oder Fortbestand des deutschen Staates i m Jahre 1945, zu entschärfen. Gehören, wie oben dargelegt, Staat und StAng untrennbar zusammen, hat folglich die Entstehung oder der Untergang eines Staates unmittelbar die Entstehung oder den Untergang der zugehörigen StAng zur Folge, unabhängig vom Bestehen oder Fortbestehen einer gesetzlichen Regelung der StAng — diese Auffassung w i r d auch von der staatsrechtlichen Literatur der DDR mit Nachdruck anerkannt und vertreten 5 7 —, so ist auch der Umkehrschluß zulässig: Wenn der Bestand oder Fortbestand einer StAng unbestritten ist, wenn er Rechtspraxis und Verfassunggebung unzweideutig bestimmt, dann ist das — zumal angesichts einer vorganglosen, juristisch nicht einfach zu qualifizierenden staats- und völkerrechtlichen Situation — ein Zeichen dafür, daß der zugehörige Staat dem Grunde nach noch fortbesteht, mag er auch nicht mehr über eigene Organe, die die Staatsgewalt selbsttätig ausüben können, verfügen. Das Fortbestehen

der StAng ist ein Kriterium

für das Fortbestehen

des Staates. Es ergibt sich daher aus der Sachlage hinsichtlich der deutschen StAng nach 1945 eine Bestätigung für die i n der Bundesrepublik herrschende Auffassung, daß der deutsche Staat 1945 zwar (völker- und staatsrechtlich) handlungsunfähig geworden, nicht aber untergegangen sei. Für die Rechtslehre der DDR entsteht das Problem, daß sie nicht gleichzeitig den Untergang des deutschen Staats als solchen behaupten und das Fortbestehen der deutschen StAng bis 1949 annehmen kann, ohne sich i n einen immanenten Widerspruch zu verwickeln. Sie müßte dann — konsequenterweise — alle Deutschen seit 1945 und die Berliner noch heutigentags als Staatenlose qualifizieren 58 , die allenfalls seit der Entstehung der einzelnen deutschen Länder mit einer Landesangehörigkeit ausgestattet sind. Der Widerspruch, der sich hier aufzutun scheint, läßt sich indessen weitgehend auflösen, wenn man erkennt, daß die These vom Untergang des deutschen Staates i m Jahre 1945 i n der DDR-Literatur von einem wesentlich anderen Staatsbegriff ausgeht als w i r ihn voraussetzen. Für die marxistische Staatslehre bezeichnet der Staatsbegriff den konkreten Machtapparat einer herrschenden Klasse — es gibt für sie keinen davon unabhängigen „Staat an sich" oder Staat i m Rechtssinne. Staat ist klassenbestimmter Herrschaftsapparat, nicht organisiertes politisches Gemeinwesen als solches. „Es gibt", heißt es bei H. Kröger, „als gesellschaftliche Realität und folglich auch rechtlich keinen ,Staat an sich', der unabhängig von seiner konkreten, vor allem durch sein Klassenwesen bestimmten Erscheinungswesen existieren könnte. W i r d das bestehende Instrument der jeweiligen Klassenherrschaft beseitigt, so w i r d 57 s. Gerhard Riege, Staatsangehörigkeit und nationale Frage, i n : Staat u n d Recht 12 (1964), S. 49; dersStaat u n d Recht 15 (1967), S. 702; M. Posch, Staat und Recht 12 (1964), S. 1969. 58 Darauf hat G. Scheuer, Die Rechtslage des geteilten Deutschlands, 1960, S. 152/153 zutreffend aufmerksam gemacht.

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der bestehende Staat beseitigt 5 9 ." Demnach ist für die marxistische Staatslehre ein Staatsuntergang immer dann gegeben, wenn das politische Regime oder, genauer, der Staatstyp bzw. die Staatsgattung wechselt; feudaler, bürgerlicher, faschistischer und sozialistischer Staat, u m i n der marxistischen Terminologie zu bleiben, sind je neue Staaten. N u n w i r d freilich auch i n der Bundesrepublik von niemand bestritten, daß 1945 das sog. Dritte Reich, d. h. die konkrete Staatsmacht des NSRegimes, oder, was dasselbe ist, der NS-Staat untergegangen sei. Insofern handelt es sich nur u m einen Streit u m Worte. Die Frage ist, was über den Untergang des NS-Staates hinaus geblieben ist. Die staatsrechtliche Literatur der DDR spricht hier von der „deutschen Nation" oder dem deutschen Nationalverband, der den Staat überdauert habe 80 , teilweise auch von einer „rechtlichen Einheit Deutschland" 6 1 . Sieht man i n dieser deutschen Nation bzw. dem deutschen Nationalverband, wie es die Staatsrechtslehre der DDR tut, nicht nur eine ethnische Gegebenheit, sondern eine personal und territorial radizierte politische und rechtliche Größe, die z. B. Träger des Selbstbestimmungsrechts ist, nach Meinung einiger Autoren sogar i n gewisser Hinsicht Völkerrechtssubjektivität besitzt 6 2 , und geht man ferner vom Fortbestehen der deutschen StAng als der rechtlichen Zugehörigkeit zur deutschen Nation bzw. zum deutschen Nationalverband aus 63 , so ist i n der Sache kein wesentlicher Unter59 Kröger, Die staatsrechtliche Bedeutung des Potsdamer Abkommens für das deutsche Volk, i n : Festschrift für E r w i n Jakobi, 1957, S. 202. eo Edith und Ingo Oeser, Völkerrechtliche Aspekte der Rechtmäßigkeit der DDR, i n : Deutschlandfrage und Völkerrecht, hrsg. v. R. Arzinger, 1962, Teil I I , S. 177; Martin, Zur Entstehung und Entwicklung der Souveränität der DDR, i n : Deutsche Außenpolitik, 1964, S. 1200; Poeggel, Zur völkerrechtlichen Lage Deutschlands und der beiden deutschen Staaten, i n : Deutsche Außenpolitik, 1966, S. 1300/01. 81 I n diesem Sinne Peci c, Die Völkerrechtssubjektivität der DDR, 1960, S. 74 f. Es könne kein Zweifel daran bestehen, daß auf Grund des Potsdamer Abkommens „Deutschland völkerrechtlich als einheitliches Ganzes, als rechtliche Einheit bestehen blieb". Sachlich das gleiche ist w o h l schon bei Meister, Zum gegenwärtigen völkerrechtlichen Status Deutschlands, Neue Justiz 1952, S. 396 ff. gemeint, wenn er von der Zerschlagung des faschistischen Staates, aber vom Fortbestand des deutschen Staates spricht, der sich als demokratische deutsche Staatsmacht neu bilden solle. M Die deutsche Nation als Träger des Selbstbestimmungsrechts: StandkeTillmann-Wünsche, Z u m gegenwärtigen völkerrechtlichen Status Deutschlands, Neue Justiz 1952, S. 293 ff.; Kröger, Potsdamer Abkommen, a.a.O. (N. 59), S. 207; Peck t a.a.O. (N. 61), S. 75; Poeggel, a.a.O. (N. 60), S. 1300 f. Eine Völkerr e d l tssubjektiv i tät des deutschen National Verbandes auf Grund des Selbstbestimmungsrechts w i r d angenommen von E. und I. Oeser, a.a.O. (N. 60), S. 178; Poeggel, a.a.O., S. 1302. 68 Das tut die staatsrechtliche Lehre i n der DDR, soweit ich sehe, nicht, aber sie müßte es tun, wenn der deutsche Nationalverband oder die rechtliche Einheit Deutschland i m Hinblick auf i h r personales Substrat rechtlich greifbar bleiben soll. So spricht Peck , a.a.O., S. 74, davon, die Bewohner des Territoriums Deutschland „waren, bleiben und sind Deutsche", ohne diese Aussage weiter rechtlich zu präzisieren.

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schied zur Fortbestandslehre, wie sie i n der Bundesrepublik auf der Grundlage des hier geläufigen abstrakten Staatsbegriffs vertreten wird, mehr ersichtlich. Auch die Fortbestandslehre w i l l ja zunächst nur besagen, daß trotz des Wegfalls einer eigenen staatlichen Organisation und des Bestehens der Besatzungsherrschaft die staatliche Einheit Deutschlands und das deutsche Staatsvolk als solches 1945 nicht zu bestehen aufgehört haben. Beide Auffassungen suchen m i t ihren Begriffen und juristischen Denkmethoden eine rechtliche Beurteilung und juristische Konstruktion für eine Sachlage zu geben, die sie i n ihren wesentlichen rechtserheblichen Momenten kaum verschieden beurteilen. Für die herrschende Lehre der Bundesrepublik ist der schwierige und schwache Punkt das Problem des Fortbestandes der deutschen Staatsgewalt i m Sinne der Drei-ElementenLehre des Staatsbegriffs. Dieses Problem läßt sich leichter und dennoch sachgerecht lösen, wenn man unter Staatsgewalt i n diesem Sinn nicht nur die unmittelbare Zwangsgewalt, sondern ebenso das Funktionieren der staatlich geregelten und garantierten Rechtsordnung versteht. Insoweit war auch i n der — von spezifischen NS-Elementen gereinigten — deutschen Rechtsordnung nach 1945 noch deutsche Staatsgewalt real vorhanden, wenngleich sie zunächst nicht mehr durch deutsche, d. h. nach deutschem Recht legitimierte Regierungs- und Verwaltungsorgane, sondern durch Organe der jeweiligen Besatzungsmacht bzw. von ihr beauftragte Stellen ausgeübt wurde. 2. Für die Zeit seit 1949, genauer: seit der Entstehung der Bundesrepublik und der DDR, stellen sich hinsichtlich der Rechtslage der deutschen StAng vor allem zwei Fragen: a) ob und gegebenenfalls seit wann eigene Staatsangehörigkeiten i n der Bundesrepublik und der DDR entstanden sind; b) ob und gegebenenfalls i n welcher Weise die (gesamt)deutsche Staatsangehörigkeit neben diesen Staatsangehörigkeiten, falls sie entstanden sind, fortbesteht. Beide Fragen schließen sich nicht aus: Die Entstehung eigener StAngn i n der Bundesrepublik und/oder der DDR hat nicht notwendig den Untergang der (gesamt)deutschen StAng zur Folge, beide Arten der StAng können rechtlich gesehen nebeneinander, ja sogar i n bestimmter rechtlicher Verknüpfung bestehen. Umgekehrt ist der Fortbestand der deutschen StAng kein rechtlicher Hinderungsgrund für das Entstehen weiterer und neuer Staatsangehörigkeitsverhältnisse auf dem Boden des deutschen Territoriums; entscheidend sind die staatlichen Bildungen und staatsrechtlichen Verhältnisse, die sich i n Deutschland seit 1949 herausgebildet haben.

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ad a) Bundesrepublik und DDR haben dann eigene StAng, wenn sich beide politischen Gebilde als eigene, von Gesamtdeutschland unterschiedene Staaten darstellen. Diese Frage kann nicht auf das Entstehungsdatum BRD und DDR fixiert werden. Die politische Entwicklung in Deutschland seit 1949 stellt sich als ein Prozeß dar, ein Prozeß kontinuierlicher Auseinanderentwicklung und Verfestigung der beiden 1949 neu entstandenen politischen Gebilde; beide haben sich seit 1949 i n ihrer Organisation, ihrer inneren Ordnung und ihrer Teilnahme an den internationalen Beziehungen, aber auch i n ihrem Selbstverständnis gewandelt. Was 1949 möglicherweise als nichtstaatliches Gebilde entstanden ist, kann durchaus i m Laufe dieses Prozesses die Eigenschaften eines Staates erhalten haben. Für die Zeit unmittelbar nach 1949 sprechen viele Gründe dafür, Bundesrepublik wie DDR nicht als eigene Staaten, sondern als rivalisierende Regierungsorganisationen anzusehen, die je für sich die gesamtstaatliche Repräsentation und Legitimation beanspruchen und sie dem anderen bestreiten 8 3 3 . Das ist für die DDR deutlicher als für die Bundesrepublik. Die von der SED nach marxistischen Legitimitätsvorstellungen gelenkte Einheits- und Verfassungsbewegung, die über den ersten bis dritten Volkskongreß und den deutschen Volksrat zur Ausarbeitung der DDRVerfassung führte 6 4 , war von vornherein gesamtdeutsch konzipiert. Die Verfassung sollte Ausdruck der „nationalen Selbstbestimmung" des deutschen Volkes sein bzw. der sog. friedliebenden und demokratischen Kräfte i n ihm, die allein zu politischer Neugestaltung legitimiert waren, sie sollte für den deutschen Nationalverband wieder eine Staatsmacht organisieren. Aus dieser gesamtdeutschen Zielsetzung erklärt sich der i n letzter Zeit viel diskutierte Art. 1 Abs. I V der Verfassung, der festlegt, daß es nur eine deutsche StAng gibt. Das war gegen eigene Landesangehörigkeiten und damit auf Entstaatlichung der Länder innerhalb der Deutschen Demokratischen Republik gerichtet 65 . Wegen der politischen Gegebenheiten konnte diese Verfassung zunächst nur i m Gebiet der sowjetischen Besatzungszone, vermittels der Genehmigung durch die sowjetische Militär-Administration, in K r a f t gesetzt werden und die auf Grund ihrer gebildete Regierung nur i n diesem Gebiet ihre Herrschaftsgewalt ausüben. Der Legitimitäts- und Repräsentationsanspruch der Regierung ging indessen darüber hinaus; die Beschränkung der DDR auf das Gebiet der SBZ galt als „Provisorium", bis zur V e r w i r k lichung der staatlichen Einheit Deutschlands auf Grund der marxistisch e3a

Siehe dazu auch Scheuner, Die Funktionsnachfolge u n d das Problem der staatsrechtl. Kontinuität, i n : Festschrift für Nawiasky, München 1956, S. 26 ff. 64 Über die einzelnen Stadien s. Mampel, Die Entwicklung der Verfassungsordnung i n der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands von 1945—63, i n : JöR N F Bd. 13 (1964), S. 508/509. 65 Zutreffend Riege, Staatsbürgerschaftsgesetz, a.a.O. (N. 19), S. 705; s. auch Schuster, a.a.O. (N. 3), S. 149.

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verstandenen nationalen Selbstbestimmung des gesamten deutschen Volkes, die zu erreichen als die vornehmste nationale Aufgabe der Regierung der DDR galt. Die Bundesrepublik nahm, rechtlich gesehen, ihren Ausgang von den Frankfurter Dokumenten der westlichen Militärgouverneure, i n denen diese kraft ihrer obersten Regierungsgewalt den Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder bzw. dem Parlamentarischen Rat die autonome Entscheidungsgewalt zuerkannten und sie gleichzeitig „autorisierten" (im doppelten Bedeutungssinn dieses Wortes), eine Verfassung und einheitliche staatliche Organisation für das Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen zu schaffen 66 . Es kann hier dahingestellt bleiben, wieweit der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz darauf abzielten, i m Bereich der drei westlichen Besatzungszonen lediglich den deutschen Gesamtstaat (wieder) zu organisieren oder für eine Übergangszeit eine eigene staatliche Organisation zu schaffen; sicher war i m Parlamentarischen Rat die erste Zielsetzung verbreitet 6 7 , aber die Intention der Militärgouverneure und etliche Bestimmungen des Grundgesetzes, wie z. B. Art. 23, 144 Abs. II, 146, die Unterscheidung von deutscher StAng und StAng i m Bunde (Art. 116 und 73 Ziff. 2), deuten eher i n die zweite Richtung. Jedenfalls entstand auch die Bundesrepublik, wie die Präambel und A r t . 146 GG deutlich ausweisen, als Provisorium, als Ordnung für eine Übergangszeit, die möglichst bald i n der wieder zu organisierenden staatlichen Einheit Deutschlands aufgehen sollte. Ihre Regierung erhob ebenfalls—und erhebt bis zum heutigen T a g — f ü r sich allein den gesamtdeutschen Legitimations- und Repräsentationsanspruch, gegründet auf ihre Konstituierung aus freien demokratischen Wahlen und der darin zum Ausdruck kommenden Selbstbestimmung, die der Bevölkerung der DDR vorenthalten sei. So standen sich i n Bundesrepublik und DDR i n der Tat zunächst zwei Regierungsorganisationen oder — allenfalls — Staatsfragmente gegenüber, die aus entgegengesetzten Legitimationsprinzipien je für sich die nationale, gesamtdeutsche Repräsentation und die nationale Identität ββ Der Wortlaut: Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Bd. 2, S. 197 f. I n ihrer ersten A n t w o r t lehnten die Ministerpräsidenten es ab, i m Hinblick auf die Teilung Deutschlands eine Verfassung f ü r Westdeutschland zu schaffen, erklärten sich aber bereit, an einer einheitlichen Verwaltungsorganisation für die drei Westzonen mitzuwirken. Nach einer weiteren Unterredung m i t den M i l i t ä r gouverneuren wurde dieser Vorbehalt, der auch i n seiner Formulierung das Gespür f ü r die geschichtliche Tragweite der zu treffenden Entscheidung erkennen läßt, nicht aufrechterhalten, s. a.a.O., S. 200 ff., insbes. 201. 67 s. die Hinweise bei Adolf Arndt, Der deutsche Staat als Rechtsproblem, 1960, S. 7/8; ferner bei v. Doemming-Füßlein-Matz, Die Entstehungsgeschichte der A r t i k e l des Grundgesetzes, i n : JöR N F Bd. 1, S. 21 ff., insbes. 36 ff. (Präambel), S. 129 ff. (einerseits der Abg. Carlo Schmid, andererseits der Abg. v. Mangoldt) ; S. 198 ff. (betr. die Bezeichnung „Bundesrepublik"), S. 308 f. (Unterscheidung von Deutschen u n d Bundesangehörigen i m Hinblick auf die staatsbürgerlichen Rechte); S. 924 ff. (zu A r t . 146 GG).

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b e a n s p r u c h t e n ; sie suchten i h r e eigene O r d n u n g als die Gesamtdeutschl a n d s z u v e r w i r k l i c h e n , ohne aber i n i h r e r eigenen t e r r i t o r i a l e n B e g r e n z t h e i t gegeneinander abgeschlossene S t a a t e n sein zu w o l l e n . K e i n e der b e i d e n O r d n u n g e n s t e l l t e demgemäß die deutsche S t A n g als die Basis staatsangehörigkeitsrechtlicher Z u o r d n u n g i n F r a g e u n d k e i n e p o s t u l i e r t e i n Gesetzgebung u n d V e r w a l t u n g s p r a x i s e i n eigenes, d a v o n u n t e r schiedenes S t a a t s a n g e h ö r i g k e i t s v e r h ä l t n i s 6 8 . A l l e i n W o h n s i t z u n d W o h n sitzwechsel b e s t i m m t e n , i n n e r h a l b u n d v o n w e l c h e r O r d n u n g die g r u n d sätzlich als e i n h e i t l i c h gedachten s t a a t s b ü r g e r l i c h e n Rechte u n d Pflichten a k t u e l l g e l t e n d z u m a c h e n w a r e n . M a n betrachtete a l l e deutschen Staatsa n g e h ö r i g e n p o t e n t i e l l der eigenen O r d n u n g , d i e m ö g l i c h s t b a l d G e s a m t d e u t s c h l a n d umfassen sollte, zugehörig. Das k a m i n der B u n d e s r e p u b l i k i n d e r sich b a l d e n t w i c k e l n d e n I d e n t i t ä t s t h e o r i e , i n der D D R u. a. i m Erstreckungsbereich des Friedensschutzgesetzes z u m A u s d r u c k 6 9 . 68 A l l e staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen u n d Maßnahmen i n der DDR gehen bis 1957 von der fortbestehenden deutschen Staatsangehörigkeit als alleiniger deutscher Staatsangehörigkeit aus, s. die Übersicht bei Makarov, Kommentar, S. 22/23, u n d Schätzel, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, 2 1958, S. 112 ff. E r w ä h n t seien die Verordnung v. 29.10.1953 (GBl. S. 1090), das Paßgesetz v. 15. 9.1954 (GBl. S. 786), die Anordnung v. 20. 4.1956 (GBl. I, S. 382). § 4 Paßgesetz sah vor, daß Pässe (der DDR) allen deutschen Staatsangehörigen, ohne Rücksicht auf ihren Wohnsitz, ausgestellt werden können. Von Bürgern der DDR i m Unterschied zu deutschen Staatsangehörigen ist erstmals w o h l i n der Ergänzung der Verfassung über die militärische Dienstpflicht v. 26. 9.1955 (GBl. I, S. 653), i n der Verordnung zum Schutz der Jugend v. 15. 9.1955, § 1 (GBl. I, S. 641) u n d i m Konsulargesetz v. 22. 5.1957 (GBl. I, S. 313), § 21, die Rede. Riege, Staatsbürgerschaftsgesetz, a.a.O. (N. 19), sucht heute, statt diese politisch sehr einleuchtende rechtliche Gegebenheit zu akzeptieren, rückblickend von einem „falschen Bewußtsein" i n bezug auf die „Staatsbürgerschaftsproblematik i n beiden deutschen Staaten" zu sprechen (S. 704). Zutreffend hebt auch Dieter Schröder, Die völkerrechtliche W i r k u n g des »Gesetzes über die Staatsbürgerschaft der DDR', i n : RiOW 1967, S. 233 (235) hervor, daß die DDR erst stufenweise seit 1955 ein Selbstverständnis als eigener Staat praktizierte, wenngleich seine übrigen, von der Bürgerkriegsthese ausgehenden Stellungnahmen erheblichen Bedenken unterliegen. ββ s. § 10 Abs. 3 Friedensschutzgesetz v. 15.12.1950 (GBl. S. 1199): „Die Z u ständigkeit des Obersten Gerichts der Deutschen Demokratischen Republik ist auch dann gegeben, wenn die Tat von deutschen Staatsbürgern nicht i m Gebiet der DDR begangen worden ist, auch wenn der Täter i m Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat." Die DDR hat alsbald, anders als die Bundesrepublik, ihren Identitätsanspruch v o m rechtlichen auf das politische Gebiet verlagert, indem sie die Staatlichkeit der Bundesrepublik zwar anerkannte, aber sich selbst als den allein rechtmäßigen u n d legitimen Staat betrachtete, der für die gesamte Nation zu sprechen befugt sei; s. die Nachweise bei Marschall v. Bieberstein, a.a.O. (N. 3), S. 74 N. 28 u n d S. 114; Schuster, a.a.O., S. 165 f.; Herbert Krüger, Bundesrepublik Deutschland u n d Deutsche Demokratische Republik, 1956, hat darauf hingewiesen, daß der Streit u m die Identität zwischen BRD u n d DDR i n seiner politischen Substanz ein Streit u m die Legitimation zur völkerrechtlichen Repräsentation sei, f ü r die die staatliche Legitimität zum K r i t e r i u m erhoben sei (S. 10). Der Streit spielt insofern von vornherein auf dem politischen Feld und k a n n dort sinnvoll sein, nicht aber auf dem des Staatsrechts und staatsrechtlicher Negation.

Die Teilung Deutschlands und die deutsche S t a a t s a n g e h ö r i g k e i t 4 4 7

Dieser Zustand offener, staatlich unabgegrenzter und daher bürgerkriegsähnlicher Rivalität war indessen nur ein kurzer Übergangszustand und konnte das, rechtlich gesehen, auch nur sein. Wenn eine offene Herrschaftsrivalität der A r t , wie sie zwischen Bundesrepublik und DDR bestand, nicht kämpferisch ausgetragen oder sonstwie zur Entscheidung gebracht werden kann — den kämpferischen Austrag verhinderten sowohl die Besatzungsmächte wie (für die Bundesrepublik) die Entscheidung zur sog. defensiven Politik der Stärke —, ist es unausweichlich, daß sich die rivalisierenden Regierungsorganisationen oder Staatsfragmente territorial und institutionell verfestigen, gegeneinander abgrenzen und absichern, je eigene Organe und Apparate für alle staatlichen Funktionen ausbilden, eine eigene Rechtsordnung gestalten, und daß dies alles Dauer und Effektivität gewinnt. Es ist dann eine Frage der Zeit, wann solche Organisationen oder Staatsfragmente, vom Effektivitätsprinzip her betrachtet, Staatscharakter gewinnen, d. h. über Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt i m rechtlich-formalen Sinne verfügen. Diese Entwicklung hat sich für die Bundesrepublik und die DDR vollzogen. Sie war ein stetiger, durch die weltpolitischen Konstellationen des kalten Krieges geförderter Prozeß. Es ist schwierig, aber auch nicht erforderlich, genau zu fixieren, wann der Übergang von der Regierungsorganisation zum Staatsfragment, vom Staatsfragment zum Staat stattgefunden hat. Sicher waren die Jahre 1954/55 mit dem Abschluß einerseits des Generalvertrages, anderseits des Vertrages zwischen der Sowjetunion und der DDR sowie der jeweiligen Souveränitätsübertragung durch die beteiligten Besatzungsmächte und der damit zusammengehenden Blockintegration von Bundesrepublik und DDR ein wichtiger Einschnitt 7 0 . I n der Bundesrepublik trat, an die Wirklichkeit der gewonnenen vollen Staatlichkeit anknüpfend und diese reflektierend, die sog. Kernstaatstheorie neben die primär auf rivalisierende Regierungen abstellende Identitätstheorie 71 , i n der DDR wurde, unter Berufung auf die entstandenen Realitäten, die Zweistaatentheorie (mit wechselnden Modifikationen bezüglich des Status Westberlins) aufgestellt und fortan konsequent verfochten 72 . 70 Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland u n d den Drei Mächten v. 26. 5.1952 / 5. 5.1955 (BGBl. 1955 I I , S. 305), insbes. A r t . 1—3, 5; Erklärung der Sowjetregierung über die Beziehungen zwischen der Sowjetunion u n d der Deutschen Demokratischen Republik v. 25.3.1954: Dokumente zur Staatsordnung der DDR, Bd. 1, S. 153; Vertrag über die Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik u n d der UdSSR v. 20. 9.1955: Dokumente zur Staatsordnung der DDR, Bd. 1, S. 189. 71 s. Marschall v. Bieberstein, a.a.O. (N. 3), S. 131 N. 238 u n d S. 131 ff.; über die Folgen der Kernstaatstheorie i m Hinblick auf die Staatlichkeit der DDR, ebd., S. 140 ff.; ferner A d o l f Arndt, Der deutsche Staat als Rechtsproblem, S. 10/

11.

72 Sie ist spätestens seit 1956/57 i n der DDR amtliche u n d herrschende M e i nung, m i t der Maßgabe, daß die DDR der allein legitime, das (sozialistische) Selbstbestimmungsrecht realisierende deutsche Staat sei, s. auòh oben N. 69, u n d Schuster, a.a.O., S. 166—171. Unterschiedliche Auffassungen bestehen über

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Die amtliche Auffassung der Bundesrepublik, ein Teil der staatsrechtlichen Lehre und die Judikatur vertreten für die Bundesrepublik diese eigene Staatlichkeit schon seit langem, bestreiten sie aber — m i t verschiedenen Begründungen — für die DDR 7 3 . Läßt man ideologisch-politische Zweckargumente beiseite und beurteilt die Frage nach rechtlichen Maßstäben, so ist diese Auffassung nur haltbar, wenn man von der bis zum zweiten Weltkrieg herrschenden Effektivitätslehre i n Staatslehre und Völkerrecht abgeht und für das Vorhandensein eines Staates über die klassischen Merkmale von Staatsvolk (im Rechtssinn), Staatsgebiet und dauerhafter und effektiver Staatsgewalt hinaus bestimmte demokratische Legitimitätskriterien fordert, seien sie auf die Entstehung des Staates oder der Staatsgewalt (sog. Autochtonie 74 ), auf das politische Bewußtsein der Bevölkerung, ein Staatsvolk sein zu wollen, oder auf die Regierungsform bezogen. Das hat Marschall von Bieberstein bereits vor 10 Jahren auf Grund einer sorgfältigen Untersuchung aller möglichen Einwände gegen die Staatlichkeit der DDR deutlich ausgesprochen 75. Er stellte damals — 1958 — die Prognose, daß die „nächsten Jahre" erweisen würden, „ob das Legitimitätsprinzip i m Völkerrecht weiter an Boden zu gewinnen vermag oder ob der Effektivitätsgrundsatz sich letzten Endes als stärker erweist" 7 6 . I n der Tat war in der Zeit des Kalten Krieges das Legitimitätsprinzip i m Völkerrecht i m Vordringen begriffen. Überblickt man indessen heute die Entwicklung der ,nächsten Jahre', die damals noch offene Zukunft waren, so zeigt sich, daß das Effektivitätsprinzip seinen Vorrang wiedergewonnen bzw. behauptet hat. I m Widerstreit verschiedener Legitimitäten, insbesondere der kommunistischen und der westlich-demokraA r t u n d Zeitpunkt der Entstehung der beiden deutschen Staaten, s. dazu u. a. Brandweiner, Die DDR u n d das Problem der Staatennachfolge, i n : Deutsche Außenpolitik, 1956, S. 496 ff.; Kröger, Die DDR — der rechtmäßige deutsche Staat u n d legitime Vertreter des deutschen Volkes, i n : Staat u n d Recht i m Lichte des Großen Oktober, 1957, S. 121 ff.; Peck, a.a.O. (N. 61), S. 76 ff.; E. und I. Oeser, a.a.O. (N. 60); Kirsten, Einige Probleme der Staatennachfolge, 1962, S. 135 ff. 73 F ü r die J u d i k a t u r vgl. den Überblick bei Schuster, a.a.O. (N. 3), S. 162—164; Schuster hebt den pragmatischen Charakter und das Fehlen theoretischer Begründungen hervor, f ü r das BVerfG auch ein gewisses Schwanken zwischen eigentlicher Identitäts- u n d Kernstaattheorie. Aus der L i t e r a t u r : Scheuer, Die Rechtslage des geteilten Deutschlands, 1960; Menger, Die Teilung Deutschlands als Verfassungsproblem, i n : Der Staat 1 (1962), S. 3—18; Stein, Ist die DDR ein Staat?, i n : AöR 85 (1960), S. 363 ff.; Mampel, Die Verfassung der Sowjet. Besatzungszone Deutschlands, Text u. Kommentar, 1962, S. 17 ff.; Mann, a.a.O. (N. 3), S. 588 ff.; unentschieden Maunz, Deutsches Staatsrecht, 1β 1968, § 4 (S. 16 ff.). 74 Auch das M e r k m a l der „Autochthonie" der Staatsgewalt, das i m Zusammenhang m i t den Satellitenstaaten i n die staats- u n d völkerrechtliche Diskussion eingeführt wurde, ist letztlich ein (demokratisches) Legitimitätskriterium. Der Versuch Schusters, a.a.O. (N. 3), S. 60, 64 f., Autochthonie u n d Legitimität als unabhängig voneinander zu erweisen, hat keine Uberzeugungskraft. 75 a.a.O., S. 77—110. 76 Marschall v. Bieberstein, a.a.O., S. 112.

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tischen, der die politische Welt seit dem zweiten Weltkrieg kennzeichnet, konnte das Vordringen des Legitimitätsprinzips i m Völkerrecht und den zwischenstaatlichen Beziehungen nur die Aufspaltung des Völkerrechts und den Verlust seiner Friedensfunktion bewirken. Die Universalität der Völkerrechtsordnung wäre auseinandergebrochen i n ein westlich-demokratisches und ein kommunistisches Völkerrecht, die sich beide als werterfüllte und kämpferische Völkerrechtsordnungen gegenübergetreten wären 7 7 . Da aber auf dem Boden der Völkerrechtsordnung mangels einer übergeordneten, mit Entscheidungs- und Vollzugsgewalt ausgestatteten Instanz der Streit über die Berechtigung des einen oder anderen Legitimitätsprinzips nicht entschieden werden kann, mußte die Orientierung an der Effektivität maßgebend bleiben bzw. wieder werden, wollten die Staaten und Völker weiterhin i n Rechtsformen miteinander koexistieren statt sich gegenseitig zu negieren oder kriegerisch zu missionieren 77a . Das Einfrieren des Kalten Krieges, hervorgerufen durch das atomare Gleichgewicht und den Selbstbehauptungswillen der Weltmächte, ist sowohl Anlaß wie Ausdruck dieses Vorgangs. Es hat dazu geführt, daß reine Legitimitätspostulate und Negationen i m Namen einer bestimmten Legitimität ideologisch-abstrakt werden, leere Postulate, denen die geschichtliche Realität und ihr Fortgang entgleiten. Die Stabilisierung des Effektivitätsprinzips i n den Beziehungen der Staaten zueinander ist aber nicht nur Folge einer augenblicklichen weltpolitischen Machtkonstellation, sie ist darüber hinaus Ausdruck eines Vernunftprinzips des zwischenstaatlichen Lebens und des Völkerrechts 78 . 77 Z u diesem Grundproblem der Völkerrechtsordnung i n jüngster Zeit vor allem H. Steiger, Zur Begründung der Universalität des Völkerrechts, i n : Der Staat 5 (1966), S. 423 ff.; ferner Marschall v. Bieberstein, a.a.O., S. 165—170. 77a Positiv zu einer gewissen Wertgrundlage und einer darauf aufbauenden Legitimitätsprüfung i m Völkerrecht neuestens Frowein, Das de-facto-Regime i m Völkerrecht (Beiträge zum ausländ, öffentl. Recht u n d Völkerrecht, 46), 1968, S. 230 f., ohne aber die hier geltend gemachten Bedenken zu erörtern. Der von Frowein eindrucksvoll untersuchte völkerrechtliche Status des de-factoRegimes beweist jedoch m. E. gerade die Unabweisbarkeit des Effektivitätsprinzips für ein auf Friedenssicherung ausgerichtetes Völkerrecht i n einer politisch nicht-homogenen Welt. Der Ausweg, einer den Legitimitätsvorstellungen nicht entsprechenden, aber effektiven politischen Einheit den Staatscharakter abzusprechen, sie aber als de-facto-Regime m i t bestimmten völkerrechtlichen Rechten und Pflichten zu versehen u n d insbesondere dem völkerrechtlichen Gewaltverbot zu unterstellen, wie i h n Frowein andeutet (S. 236), ist m. E. keine Lösung des Problems. Entweder werden damit dem de-facto-Regime die wesentlichen Funktionen des Staates zugesprochen, dann ist es ein Quasi-Staat u n d der Streit i m wesentlichen ein Streit u m Worte, oder man w i l l das defacto-Regime wesentlichen völkerrechtlichen Pflichten unterstellen, i h m aber den entsprechenden Rechtsstatus, die Anerkennung als Völkerrechtssubjekt, mangels Legitimität vorenthalten, dann handelt es sich u m eine Verletzung des für das Völkerrecht grundlegenden Prinzips der Gegenseitigkeit. 78 Nicht umsonst wurde das Effektivitätsprinzip gerade i m Zeitalter des Vernunftrechts u n d der großen Hegung des Krieges durch das klassische Völkerrecht vorherrschend; vgl. Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 112—143, 156— 183; auch H. Steiger, a.a.O., S. 425 ff. Die Basis dafür w a r ein vorausgesetztes

29 Festschrift für Carl Schmitt

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Der wesentlich formale Charakter des Effektivitätsprinzips, seine Hinnahme stabilisierter Machtgegebenheiten, die ihm oft zum Vorwurf gemacht werden, sind nicht Zeichen einer Kapitulation vor den Fakten. Sie sind Ausdruck der Einsicht, daß die politische Welt nicht ein einheitlich geordnetes oder ordnenbares Universum, sondern ein Pluriversum verschiedenartiger, oftmals gegensätzlicher politischer Ordnungen, Gruppierungen und Zielsetzungen ist, daß die Wirklichkeit zwischenstaatlicher Politik wesentlich auch durch Machtauseinandersetzungen, durch Änderung bestehender und Entwicklung neuer politischer Machtkonstellationen bestimmt wird, und daß Ausgangspunkt einer zwischenstaatlichen Friedens- und Rechtsordnung folglich nicht die Parteinahme für eine der widerstreitenden politischen Zielsetzungen oder Kräfte sein kann, die die Gegensätze und Feindschaften nur intensivieren würde, sondern die Neutralisierung und Eingrenzung derselben durch rechtliche Formen, Verfahren und Hegungen, die als gemeinsamer Rechtsboden akzeptiert werden 79 . Das läßt sich aber nicht auf der Basis der Negation, sondern nur auf der Basis der Hinnahme stabilisierter Machteinheiten erreichen, um sie so an den Rahmen und die Formen des internationalen Rechts zu binden und dessen Friedensfunktion zu ermöglichen. Das Interesse der Individuen, die unter nicht selbst gewählten politischen Ordnungen leben müssen, w i r d durch diese Hinnahme nicht preisgegeben. Denn das elementare Interesse auch dieser Menschen ist es, überleben zu können; dafür ist eine schlechte, unfreie Ordnung immer noch besser als der Schrecken eines fortwährenden Völker- oder Bürgerkriegs 80 . Auch die Evolution einer politischen Ordnung zur Freiheit hin setzt erfahrungsgemäß ihre äußere Konsolidierung, nicht ihre äußere Bedrohung voraus — die Entwicklung der letzten Jahre i n Osteuropa ist ein anschauliches Beispiel dafür. So sind, geht man von einer nüchternen rechtlichen Betrachtung aus, auf dem Boden des Deutschen Reiches durch die seit 1949 stattgehabte politische Entwicklung zwei Staaten entstanden, zwei nach Verfassung, Gesellschaftsordnung und A r t der Legitimation sehr entgegengesetzte Staaten, aber immerhin zwei Staaten und damit auch zwei StAngn: die StAng der Bundesrepublik und die Staatsbürgerschaft der DDR. Auch wer beim Legitimitätsgrundsatz verharrt und deshalb der DDR die Staatsqualität bestreitet, muß jedenfalls das Bestehen einer eigenen allgemeines Interesse am Frieden u n d ein gewisser Standard der Zivilisation und Humanität. Grundlegend zur systematischen Bedeutung des Effektivitätsprinzips H. Krüger, A r t . Effektivität, i n : Strupp-Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, S. 400 ff. 79 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 112—123. 80 Das w a r die — bittere — Erfahrung der konfessionellen Bürgerkriege des 16./17. Jh.s i n Europa; i n den ideologischen und Sozialrevolutionären Bürgerkriegen des 20. Jh.s hat sie sich aufs neue bestätigt. Vgl. auch Steiger, a.a.O. S. 438 ff.

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StAng der Bundesrepublik anerkennen; der staatsangehörigkeitsrechtliche Status der Einwohner der DDR bleibt dann ein besonderes Problem 8 1 . Der Versuch, eine solche eigene bundesrepublikanische StAng zu bestreiten und die Bundesrepublik als den der (gesamt)deutschen StAng zugeordneten Staat zu betrachten, der als solcher über die deutsche StAng verfügt und die von ihr ausgehenden Rechte und Pflichten geltend machen kann, wie er der amtlichen Auffassung i n der Bundesrepublik zugrunde liegt, ist politische Ideologie; die rechtliche Unhaltbarkeit dieser Auffassung und ihre rechtszerstörenden Konsequenzen wurden oben schon dargelegt 82 . Die Entwicklung der beiden StAngn hat sich, ebenso wie die Verfestigung von Bundesrepublik und DDR zu Staaten, als Prozeß vollzogen. Bundesrepublik und DDR sind lange Zeit davor zurückgeschreckt, eine eigene StAng zu artikulieren 8 3 . Solange der gesamtdeutsche Legitimations- und Repräsentationsanspruch beider Seiten gegeneinanderstand, wollte man keinen Anlaß dafür bieten, als „Spalter" der Einheit der Nation und der StAng gelten zu können. Beide gingen daher bis 1955/56 von der alleinigen (gesamt)deutschen StAng i n ihrer Gesetzgebung und Verwaltungspraxis aus 84 . Dennoch realisierte sich aus dem Zwang der Gegebenheiten heraus schon bald nach 1949 eine statusrechtliche Sonderbehandlung der je i m eigenen Herrschaftsbereich lebenden deutschen Staatsangehörigen. Die grundlegenden staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, wie Wahlrecht, Zugang zu öffentlichen Ämtern, Wehrpflicht, Steuerpflicht u. ä., galten nur jeweils für diejenigen, die ihren Wohnsitz 81 Scheuer, a.a.O. (N. 58), S. 157 ff., spricht — auf der Grundlage der K e r n staattheorie — für die DDR vom Fortbestehen der deutschen Staatsangehörigkeit ohne besondere Qualifikation, während sie i n der Bundesrepublik wegen deren Staatlichkeit eine eigene Erscheinungsform habe. 82 Angesichts der Tatsache, daß die Bundesrepublik nicht i n der Lage ist, i n denjenigen Staaten des Ostblocks, m i t denen sie diplomatische Beziehungen unterhält, die Schutzgewährung für Bürger der DDR zu übernehmen, u n d diesen Zustand akzeptiert — der Botschafter i n Rumänien ζ. B. weist alle D D R Bürger, die i h n i n dieser Absicht aufsuchen, zurück —, u n d angesichts der T a t sache, daß auch befreundete Staaten des westlichen Auslands, w i e ζ. B. die USA, den Schutzanspruch der Bundesrepublik f ü r DDR-Bürger nicht mehr anerkennen — s. die Auskunft des State Department v. 23. 5.1962, i n : American Journal of International L a w 57 (1963), S. 410 —, wäre die weitere Aufrechterhaltung dieser Auffassung ein Ausdruck von Verlogenheit. Vgl. auch Marschall v. Bieberstein, a.a.O., S. 143/144, sowie neuestens die Schrift von K a r l Doehring, a.a.O. (N. 6), S. 19—21. Z u m Verhältnis Staatsangehörigkeit — Diplomatischer Schutz vgl. W. K . Geck, A r t . Diplomatischer Schutz, i n : StruppSchlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, S. 380 ff. 83 F ü r die Bundesrepublik gilt das bis heute, für die DDR bis 1955/56; i n der L i t e r a t u r ist nach 1957 große Zurückhaltung zu beobachten, s. etwa Fritzsche, Z u m räumlichen Geltungsbereich der Strafgesetze der DDR, i n : Staat und Recht 6 (1957), S. 396 m i t Anm. 6. G. Riege, Staatsbürgerschaftsgesetz, a.a.O. (N. 19), bemerkt zutreffend, daß die DDR sich nach der westdeutschen Staatsbildung u n d der Gründung der DDR jahrelang zurückgehalten habe, ihre eigene Bürgerschaft besonders zu betonen u n d auszugestalten. 84 s. die oben N. 68 angeführten Belege.

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oder dauernden Aufenthalt i m eigenen Herrschaftsbereich hatten. Man unterschied auch darüber hinaus nach dem Wohnsitzprinzip zwischen eigenen (noch nicht so genannten) Bürgern und sonstigen deutschen Staatsangehörigen 85 . Damit war der Sache nach die Grundlage zu einer je eigenen StAng i n BRD und DDR gelegt; es bedurfte nur der erwähnten Verfestigung der beiden politischen Ordnungen zu Staaten, u m sie auch als solche, gemäß den oben beschriebenen Kennzeichen, i n Erscheinung treten zu lassen. I h r Verhältnis zueinander entsprach dem Verhältnis von Landesangehörigkeiten i m Bundesstaat. Keine der beiden StAngn war ausdrücklich geregelt und gesetzlich ausgeformt, Erwerb und Verlust bestimmten sich nach dem Wohnsitzprinzip auf der Grundlage der deutschen StAng. Davon ging auch die Rechtspraxis der DDR bis 1960/61 aus 86 . Die Zugrundelegung des Wohnsitzprinzips entsprach der allgemeinen Regel des Staatsangehörigkeitsrechts, daß die durch Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt gegebene Territorialbeziehung dann für Erwerb und Verlust der StAng maßgebend ist, wenn keine ausdrückliche Regelung der Erwerbs- und Verlustgründe durch den betreffenden Staat erfolgt ist 8 7 . Die je eigene StAng wurde zunächst auch weniger nach außen, i m Verhältnis zu anderen Staaten, als vielmehr nach innen realisiert. Wenn von StAng i m völkerrechtlichen Sinn die Rede war, meinte man i n beiden Staaten lange Zeit — und meint man i n der Bundesrepublik noch heute — die deutsche StAng; ging und geht es um den Bezug zum eigenen Staat, wie etwa bei den staatsbürgerlichen Rechten, war und ist i n der DDR von Bürgern, in der Bundesrepublik von deutschen Staatsangehörigen m i t Wohnsitz in der Bundesrepublik die Rede, was sich der Sache nach entspricht 88 . Ein Beziehungsverhältnis zur gesamtdeutschen StAng und die gesamtdeutsche StAng als (noch) gemeinsame vermittelnde Grundlage beider StAngn wurde i n der DDR seit etwa 1964 bestritten, zuerst i n der staatsrechtlichen Diskussion 89 , dann ausdrücklich i m Staatsbürgerschaftsgesetz 85 F ü r die Bundesrepublik vgl. die oben Abschnitt I (S. 427 f.) angeführten Beispiele. 86 Die weitere Inanspruchnahme von DDR-Bürgern, die ihren Wohnsitz i n die BRD verlegt haben, datiert von der Errichtung der Berliner Mauer. Konsequenterweise wurde diesen „Bürgern", die sich „zeitweilig außerhalb der DDR aufhalten", das Wahlrecht u n d die (Brief-)Wahlmöglichkeit belassen. 87 Z u m Wohnsitzprinzip als (subsidiärer) allgemeiner Regel des Staatsangehörigkeitserwerbs u n d -Verlustes eingehend G. Ho ff mann, a.a.O. (N. 19), S. 320—323. Allgemein zum Erstreckungsbereich der Staatsgewalt i m Hinblick auf Fragen der Staatsangehörigkeit Wengler, a.a.O. (N. 29), S. 55 ff. 88 s. Böhlhoff, a.a.O. (N. 29), S. 101 f. Das entsprach bzw. entspricht dem von beiden Teilstaaten aufrechterhaltenen gesamtdeutschen Repräsentationsanspruch. Z u r Unterscheidung von Staatsangehörigkeit i m völkerrechtlichen und innerstaatlichen Sinne Dahm, Völkerrecht, Bd. 1, S. 449 f., G. Hoffmann, a.a.O. (N. 19), S. 303 ff.; Makarov, Staatsangehörigkeit, i n : Strupp-Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, S. 324. 89 G. Riege, Staatsbürgerschaft und nationale Frage, i n : Staat und Recht 13 (1964), S. 58 ff.; M. Posch, ebd., S. 1969 f.

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von 1967, das die deutsche StAng mit Entstehung der DDR und der Bundesrepublik als untergegangen behandelt und die „Staatsbürgerschaft der DDR" völlig auf sich selbst stellt. Damit sind w i r bei der zweiten der oben formulierten Fragen, der Frage nach dem Fortbestand der (gesamt-) deutschen StAng und dem evtl. Verhältnis der neu entstandenen Bundesund DDR-Bürgerschaft zu dieser gesamtdeutschen StAng. ad b) Für den Fortbestand und evtl. die A r t des Fortbestandes der (gesamt)deutschen StAng über die Entstehung einer eigenen StAng für BRD und DDR hinaus kommt es, entsprechend dem dargelegten untrennbaren Zusammenhang von Staat und StAng, entscheidend auf das rechtliche Schicksal des deutschen Staates seit 1949 an. Ist der deutsche Staat m i t der Verfestigung der politischen Ordnung i n Bundesrepublik und DDR zu Staaten endgültig untergegangen, und damit auch die deutsche StAng, oder bestehen beide, wenn auch ohne unmittelbare Aktualisierung und daher ,ruhend', noch fort? Dabei kann es sich von vornherein allenfalls u m einen Fortbestand in dem Sinn handeln, wie er für die Zeit von 1945—49 angenommen wurde 9 0 . Die Frage läßt sich somit auch dahin formulieren, ob das deutsche Staatsvolk als solches bzw. der deutsche Nationalverband i m Rechtssinn und damit auch Deutschland als rechtlicher Begriff noch fortbesteht. Es gibt kein staats- oder völkerrechtliches Prinzip, demzufolge durch die Entstehung von BRD und DDR als Staaten auf dem Territorium des deutschen Staates dieser notwendig untergegangen sein müßte. Die alliierten Militärgouverneure konnten, kraft der von ihnen ausgeübten „obersten Regierungsgewalt", in ihren Besatzungszonen deutsche Länder und Landesstaatsgewalten entstehen lassen oder zur Entstehung bringen, ohne daß dies eine endgültige Aufteilung Deutschlands oder eine Abkehr von dem Entschluß der Berliner Erklärung und des Potsdamer Abkommens bedeutete, an der Einheit Deutschlands festzuhalten. Ebenso konnten sie auch größere, einzelne Länder oder Besatzungszonen übergreifende politische Ordnungen oder Staatsgebilde entstehen lassen und ihnen Regierungsbefugnisse übertragen; darin allein lag zwar ein Hinausschieben der Wiedererrichtung einer gesamtdeutschen staatlichen Organisation — und wohl auch eine Inzidenterklärung, daß die Errichtung einer solchen staatlichen Organisation gegenwärtig politisch nicht möglich oder nicht erwünscht sei —, nicht aber eine rechtliche Auflösung des deutschen Staatsverbandes, wie etwa die Auflösung Preußens durch Kontrollratsgesetz vom 25. 2. 194791. Es müssen also zusätzliche rechtliche Gründe vorhanden sein, um den Untergang des deutschen Staatsverbandes i m Jahre 1949 oder später annehmen zu können. Sind solche rechtlichen Gründe ersichtlich? 90 91

s. oben S. 438 ff. Amtsblatt des Kontrollrates, S. 262.

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Von besatzungsrechtlicher Seite ist hier vor allem an die Souveränitätsübertragung an BRD und DDR zu denken. Was die Bundesrepublik anbetrifft, so ist diese Souveränitätsübertragung und der Abbau der Besatzungshoheit jedoch keineswegs vollständig gewesen. Die drei westalliierten Mächte haben sich gemäß Art. 2 des Generalvertrags die bis dahin von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten „ i n bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung" weiterhin vorbehalten 92 . Sie haben damit gerade die Frage des Fortbestandes oder der Auflösung Deutschlands und die Einbindung der Bundesrepublik in Gesamtdeutschland nicht der souveränen Entscheidung der Bundesrepublik überantwortet, vielmehr den Charakter der Bundesrepublik als eines insoweit i n seiner Handlungsfreiheit eingeschränkten deutschen Teilstaates deutlich zum Ausdruck gebracht. Die einseitige Souveränitätserklärung der DDR durch die Sowjetregierung vom 25. 3. 1954 enthält i n verklausulierter Form einen ähnlichen, durch die Bezugnahme auf die Verpflichtungen der UdSSR aus dem Viermächteabkommen umschriebenen Vorbehalt. I m Moskauer Vertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR vom 20. 9.1955 w i r d i n Art. 5 als gemeinsames Hauptziel anerkannt und bekräftigt, die erforderliche Anstrengung für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands auf friedlicher und demokratischer Grundlage zu unternehmen 93 . Auch diese Erklärungen sprechen nicht für den endgültigen Untergang des deutschen Nationalverbandes. Die Sowjetunion hat ihre aus Besatzungsrecht herrührende Verantwortlichkeit i n bezug auf Deutschland als Ganzes und ihre Rechte bezüglich Berlin auch nach der Souveränitätsübertragung an die DDR wiederholt geltend gemacht und sich darauf berufen; sie hat ihre Interventionen gegen die Politik der Bundesrepublik bei den Westalliier92 Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland u n d den Drei Mächten v. 26. 5.1952 / 5. 5.1955 (BGBl. 1955 I I , S. 305). Der A n sicht von Grewe, i n : Kutscher- Gre we, Bonner Vertrag, 1952, S. 16, daß diese Vorbehalte kein „réduit der Obersten Gewalt" darstellen, k a n n vom Wortlaut ( „ b e h a l t e n . . . bei") u n d Sinn her nicht zugestimmt werden. Wie hier Adolf Arndt, Der deutsche Staat als Rechtsproblem, S. 26. 03 Ziff. 2 der Souveränitätserklärung der Sowjetregierung lautet (Dokumente zur Staatsordnung der DDR, Bd. 1, S. 153): „Die Sowjetunion behält i n der Deutschen Demokratischen Republik die Funktionen, die m i t der Gewährleistung der Sicherheit i n Zusammenhang stehen und sich aus den Verpflichtungen ergeben, die der UdSSR aus den Viermächteabkommen erwachsen. Die Sowjetregierung hat die E r k l ä r u n g der Regierung der D D R zur Kenntnis genommen, daß sie die Verpflichtungen einhalten w i r d , die sich f ü r die DDR aus dem Potsdamer Abkommen über die Entwicklung Deutschlands als eines demokratischen u n d friedliebenden Staates ergeben, sowie die Verpflichtungen, die m i t dem zeitweiligen Aufenthalt sowjetischer Truppen auf dem Gebiet der DDR i n Zusammenhang stehen." Moskauer Vertrag: s. Dokumente zur Staatsordnung der DDR, Bd. 1, S. 189 ff.

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ten und bei der Bundesrepublik selbst darauf gestützt und rechtlich nur darauf stützen können; sie hat den oftmals angekündigten und von der DDR erhofften Friedensvertrag m i t der DDR, durch den sie sich aus der Verantwortung für Gesamtdeutschland formell zurückgezogen hätte, nicht abgeschlossen. Die Sowjetunion hat, der Zweistaatenstheorie folgend, die Bundesrepublik als Staat und damit auch die „Souveränitätsübertragung" an sie, soweit sie erfolgte, anerkannt 9 4 , während umgekehrt die drei Westalliierten die DDR als Staat und die formell weniger begrenzte Souveränitätsübertragung an sie nicht anerkannt haben, insoweit also kein gemeinsames Handeln und auch kein gemeinsamer Rückzug aus der Besatzungshoheit vorliegt. Die Souveränitätsübertragungen an die Bundesrepublik und die DDR durch die jeweiligen Besatzungsmächte und ihr Verhalten danach erlauben somit keinen Rückschluß auf eine Auflösung oder einen endgültigen Untergang des deutschen Staats- bzw. Nationalverbandes 95 ; Bundesrepublik und DDR sind dadurch nicht zu völlig selbständigen und voneinander isolierten, auf keiner gemeinsamen Grundlage mehr stehenden Staaten geworden und auch nicht ermächtigt worden, den deutschen Nationalverband — unter Berufung auf ihre Souveränität — zu zerschlagen oder selbsttätig für aufgelöst zu erklären. Dieser Befund von besatzungsrechtlicher Seite ist auch durch die Rechtspraxis der beiden deutschen Teilstaaten — aller politisch-polemischen Auseinandersetzung zwischen ihnen ungeachtet — nicht unterlaufen oder illusorisch gemacht, sondern letztlich respektiert worden, wenngleich die Entwicklung der letzten Jahre insoweit i n eine prekäre Situation geführt hat. Die politische Auseinanderentwicklung und der wachsende Antagonismus der Gesellschaftsordnungen haben zwar dazu geführt, daß der gemeinsame Rechtsboden zwischen Bundesrepublik und DDR i n etlichen Bereichen nicht mehr besteht und in anderen zunehmend abgebaut wird, aber weder BRD noch DDR haben bislang eine gemeinsame staatsrechtsartige oder staatsrechtsähnliche Grundlage i n ihrer Rechtspraxis negiert. Das zeigt einmal der i n politisch nicht affizierten Materien immer noch gesamtstaatlich funktionierende Rechts- und Amtshilfeverkehr 9 6 , zum andern der innerdeutsche Post- und Warenverkehr. 94 Siehe dazu F. A. Mann, a.a.O. (N. 3), S. 588, der daraus eine Anerkennung bzw. Genehmigung der Gründung der BRD durch die Sowjetunion k r a f t ihrer Vier-Mächte-Zuständigkeit herleitet. 95 Α. A . w o h l Marschall v. Bieberstein, a.a.O., S. 123 Anm. 211 u n d S. 120 Anm. 201, u. a. deshalb, w e i l er die westalliierten Vorbehaltsrechte i m A n schluß an Grewe nicht als echte Vorbehalte hinsichtlich der „obersten Regierungsgewalt" auffaßt. M. E. zutreffend A d o l f Arndt, Der deutsche Staat als Rechtsproblem, S. 26, wenn er i n den Vorbehalten der A l l i i e r t e n ein „rechtliches Symptom" dafür sieht, daß sie sich „weder über den Untergang des Staates Deutschland noch darüber einigen konnten, w i e dieser eine Staat oder ob an seiner Stelle zwei Staaten i n den europäischen Frieden u n d die Völkerrechtsgemeinschaft eingegliedert werden sollen".

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Vor allem aber haben sich BRD und DDR bislang geweigert, beide Staaten i m Verhältnis zueinander als Ausland anzusehen und zu qualifizieren 97 . Das bedeutet aber letztlich nichts anderes, als daß ein gemeinsamer, über völkerrechtliche Beziehungen hinausreichender rechtlicher Zusammenhang zwischen beiden Staaten, mag er inzwischen auch noch so gelockert sein, irgendwie anerkannt wird. Dementsprechend w i r d auch in der staatsrechtlichen Literatur der DDR das Verhältnis BRD — DDR nicht als ein rein völkerrechtliches, sondern als eine A r t staatsrechtlich-völkerrechtlicher Zwischenzustand beurteilt 9 8 . Dafür bildet der fortbestehende deutsche National- bzw. Staatsverband die Grundlage. Man könnte meinen, dies sei eine realitätsleere juristische Konstruktion. Sie findet aber ihre reale Entsprechung in dem bei allen Deutschen ungeachtet der Loyalitäten zu BRD und DDR noch elementar vorhandenen Bewußtsein und Willen, eine Staatsnation und damit ein Staatsvolk zu sein. Dies Bewußtsein und dieser Wille gehen über die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen K u l t u r - oder Sprachnation, wie sie mit Österreich und der deutschen Schweiz besteht, hinaus; sie sind so intensiv, daß es den Regierungen beider Staaten, auch wenn sie es wollten, gegenwärtig politisch unmöglich wäre, den anderen Staat als Ausland zu deklarieren 99 . Zwar können ein Bewußtsein und Wille dieser A r t allein noch kein Staatsvolk i m Rechtssinn konstituieren — wie umgekehrt auch ein Staatsvolk i m Rechtssinn ohne sie Bestand hat —, aber sie können verhindern, daß eine Rechtsform, die über längere Zeit „ r u h t " und als solche nicht aktualisiert werden kann, jegliche Realität verliert. Es ist somit juristisch sinnvoll, auch für die Zeit nach 1949 und nach 1954/55 vom Fortbestehen eines gesamtdeutschen Staatsverbandes und damit auch der (gesamt)deutschen StAng auszugehen. Dies Fortbestehen ist freilich von eigener Art. Es fehlt, wegen der Nichteinigung der alliierten Mächte und der deutschen Teilstaaten über die Zukunft Deutschlands, die effektive Möglichkeit, den deutschen Staat als solchen zu organisieren und eine eigene, gesamtdeutsche Staatsgewalt zu aktualisieren. Der deutsche Staat ist nur (noch) dem Grunde nach oder, wenn man will, i n der Ruhelage vorhanden. Das gleiche gilt folgeweise für die deutsche StAng und bestimmt die Rechtswirkungen, die von ihr ausgehen können. 9β Vgl. etwa Lent-Jauernig, Zivilprozeßrecht, 13. Aufl. 1966, § 62 V I (S. 183), Gesetz über innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe i n Strafsachen v. 2. 5.1953 (BGBl. I, S. 161 ff.), und § 26 I Einführungsgesetz zum Familiengesetzbuch der DDR v. 20. 12.1965 (GBl. 1966 I, S. 22). B G H Z 7, 218 (220) spricht allerdings von der DDR als „Ausland" i. S. der Zivilprozeßordnung; weitere Angaben bei Marschall v. Bieberstein, a.a.O., S. 96 Anm. 120. 97 Das wurde i n jüngster Zeit noch durch die amtliche K o r r e k t u r der Äußerungen von Prof. Norden auf einer Pressekonferenz am 18.12. 67 bestätigt, vgl. Neues Deutschland v. 20. u. 21.12. 67, Leitartikel. Vgl. jetzt auch A r t . 1 Abs. 1 der neuen Verfassung der DDR. 98 So Poeggel, Völkerrechtliche Lage, a.a.O. (N. 60), S. 1311 f. 99 s. N. 97.

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Sucht man das Verhältnis der (gesamt)deutschen StAng zu den StAngn der beiden deutschen Teilstaaten zu bestimmen, so kann man bei dieser Sachlage nicht einfach die Beziehung von Bundes- und LandesStAng i m Bundesstaat zugrunde legen. Es müssen vielmehr die wesentlichen Besonderheiten beachtet werden, die gegenüber einer intakten bundesstaatlichen Ordnung bestehen. Das sind einmal der Umstand, daß die Gesamtstaatsgewalt als solche nicht effektiv ist, sich kraft Suspension i n „Ruhe" befindet, zum andern die Tatsache, daß zwischen BRD und DDR die politische Homogenität fehlt, statt dessen vielmehr ein wachsender politischer Antagonismus vorhanden ist, der für den einzelnen Bürger, würden beide Teilstaaten ihn ihrer Ordnung unterstellen, i n weiten Bereichen einen permanenten Loyalitätskonflikt schaffen würde. W i l l man diesen Zustand noch von bundesstaatlichen Kategorien her beschreiben, so müßte man von einem in einem Prozeß fortschreitender Sezession befindlichen Bundesstaat ohne effektive Bundesgewalt sprechen.

V. Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem Tatbestand für die deutsche StAng und die Rechtswirkungen, die von ihr ausgehen? 1. Da eine deutsche Gesamtstaatsgewalt als homogenitätsverbürgende Klammer über den Staatsgewalten von BRD und DDR nicht effektiv ist, können auch konkrete staatsbürgerliche Rechte und Pflichten, insbesondere die Gehorsamspflicht gegenüber der eigenen Rechtsordnung und die staatsbürgerliche Treuepflicht, grundsätzlich nicht schon an die Innehabung der deutschen StAng, sondern erst an die je eigene StAng angeknüpft werden 1 0 0 . Das ist für die staatsbürgerlichen Rechte auch i n der Bundesrepublik realisiert, es bedarf indessen zum Teil noch der Realisierung auf der Pflichtseite, vor allem hinsichtlich der Unterworfenheit unter die bundesrepublikanische Straftgewalt, soweit sie auf dem Personalitätsprinzip beruht. § 3 Abs. 1 StGB muß demgemäß, staatsrechtlich korrekt, wie folgt gelesen werden: „Das bundesrepublikanische Strafrecht gilt für die Tat eines Bundesbürgers, einerlei, ob er sie i m Inland oder i m Ausland begeht 1 0 1 ." 100 Das ergibt sich aus der die Staatsangehörigkeit als Rechtsverhältnis fundierenden Beziehung von Schutz und Gehorsam, s. oben Abschnitt I I , S. 433 f. u n d Abschnitt I I I , S. 437 f. 101 Das bedeutet, daß Straftaten von DDR-Bürgern innerhalb der DDR i m Regelfall analog § 4 StGB zu behandeln sind u n d nicht nach sog. interlokalem Strafrecht. Vgl. dazu K a r l Doehring, Die Teilung Deutschlands als Problem der Strafrechtsanwendung, i n : Der Staat 4 (1965), S. 259 ff.; Grünwald, Ist der Schußwaffengebrauch an der Zonengrenze strafbar, i n : Juristenzeitung 1966, S. 633 ff. Damit würde auch der innere Widerspruch beseitigt, der darin liegt, daß einerseits alle Deutschen dem bundesrepublikanischen Strafrecht unter-

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Allerdings braucht dieser Grundsatz nicht ohne Ausnahme durchgeführt zu werden, und zwar wegen der fortbestehenden deutschen StAng. Die strikte Beschränkung der eigenen Gerichts- und Strafgewalt auf die je eigenen Staatsangehörigen ist insoweit zwingend geboten, als die politische Dishomogenität zwischen beiden deutschen Teilstaaten reicht; hier würde jede Ausdehnung zur Auflösung der Grundbeziehung von Schutz und Gehorsam zu einem totalitären doppelten Gehorsamsanspruch führen und auch die Unabhängigkeit der beiden Staaten im Verhältnis zueinander verletzen. Soweit beide Staaten indessen noch auf gemeinsamem Rechtsboden stehen und dieser sich weiterhin erhält, bleibt es kraft der gemeinsamen Grundlage der deutschen StAng rechtlich zulässig und möglich, Bundesbürger und DDR-Bürger jeweils wie „Inländer" anzusehen. Das ist eine rechtliche Folge des Umstandes, daß zwischen BRD und DDR keine Inland-Ausland-Beziehung besteht, sondern der erwähnte staatsrechtlich-völkerrechtliche Zwischenzustand. Welche Folgerungen i m einzelnen daraus zu ziehen sind, muß weiterer Erörterung überlassen bleiben 1 0 2 ; für den Bereich des Straf rechts und der Strafverfolgung hat bereits 1957 der Jenaer Strafrechtslehrer H. Fritzsche solche Folgerungen entwickelt, denen in allen wesentlichen Punkten zugestimmt werden kann 1 0 8 . 2. I n dem Zeitpunkt, als BRD und DDR sich zu eigenen deutschen Teilstaaten verfestigten, wurde die Staatsbürgerschaft der BRD und DDR durch die deutsche StAng vermittelt. Die deutsche StAng war die primäre, aus der sich die beiden anderen auf der Grundlage des Territorialitätsprinzips herleiteten. Diese beiden StAngn sind jedoch die allein aktualisierten, während die deutsche StAng i n der erwähnten „Ruhelage" bleibt. Es spricht daher vieles dafür, daß die Vermittlung heute in umgekehrter Richtung stattfinden muß: nicht mehr die deutsche StAng vermittelt die worfen werden (§ 3 I), anderseits aber das Schutzobjekt i. S. des politischen Strafrechts nicht Gesamtdeutschland, sondern die Bundesrepublik ist — eine Kodifizierung der Identitätstheorie. 102 Diese Folgerungen sind nicht nur f ü r den Bereich des Strafrechts, wo die Problematik besonders aktuell ist, sondern ebenso f ü r die Bereiche des Familienrechts,Eigen turns- und Erbrechts und des Verwaltungsrechts zu entwickeln. 103 Hans Fritzsche, Z u m räumlichen Geltungsbereich der Strafgesetze der DDR, i n : Staat u n d Recht 5 (1957), S. 391 ff., insbes. S. 397. Fritzsche geht davon aus, daß beide deutsche Staaten den völkerrechtlichen u n d historischen A u f trag haben, einen einheitlichen deutschen Staat aufzubauen, daß sie jedoch, solange sie als Staaten bestehen, an den Territorialitätsgrundsatz gebunden seien. Souveränität und Unabhängigkeit beider deutscher Staaten könnten jedoch nicht dazu führen, die Bundesrepublik gemäß § 4 I StGB als Ausland u n d ihre Bürger als Ausländer zu bezeichnen. „Eine derartige Einschätzung würde die bisherige Entwicklung der deutschen Nation verleugnen und den K a m p f aller deutschen Patrioten, die bestrebt sind, die widernatürliche Spaltung unseres Vaterlandes zu überwinden, mißachten" (394). Die Lösungen, die Fritzsche dann vorschlägt, zeigen, daß ungeachtet des politischen Antagonismus zwischen B R D u n d DDR sich auf der Grundlage vernünftiger Rechtsüberlegungen auch beiderseits akzeptable Lösungen finden lassen.

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Staatsbürgerschaft von BRD und DDR, sondern umgekehrt vermitteln diese die deutsche StAng. Keiner der Teilstaaten kann sich darauf berufen, daß der Erwerb der StAng des anderen Teilstaates nicht den überkommenen Voraussetzungen für den Erwerb der deutschen StAng (nach dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz) entspreche und daher die deutsche StAng nicht vermitteln könne. Ebensowenig kann der Erwerb der deutschen StAng an die Beachtung des eigenen ordre public gebunden werden 1 0 4 ; das liefe auf eine Perpetuierung der Identitätsideologie hinaus. Es geht gerade darum, trotz der Gegensätzlichkeit des ordre public i n BRD und DDR bzw. dadurch hindurch die Einheit des deutschen Nationalverbandes (Staatsvolkes) zu erhalten. Das Problem ist weniger aktuell bei den normalen Erwerbsgründen der StAng, obwohl die Gleichberechtigung von Mann und Frau hier Fragen aufwirft, wohl aber bei Ein- und Ausbürgerungen. Jede Einbürgerung, die BRD oder DDR für sich vornehmen, vermittelt zugleich auch die deutsche StAng. Fraglich ist, ob das entsprechend auch für Ausbürgerungen gelten kann. Keine Schwierigkeit bereitet insoweit die Entlassung auf Antrag, problematisch sind hingegen die Verweigerung einer solchen Entlassung und die einseitige Aberkennung der StAng; sie sind zwar nach dem Recht der BRD ausgeschlossen, nach dem der DDR hingegen möglich 1 0 5 . Allgemein läßt sich nur so viel sagen, daß eine Ausbürgerung, die gerade aus Gründen des politischen Antagonismus zwischen den beiden Teilstaaten vorgenommen würde, nicht den Verlust der deutschen StAng nach sich ziehen könnte, weil die Einheit des deutschen Nationalverbandes gerade unabhängig vom politischen Antagonismus der beiden Staaten fortbesteht und es diesen ungeachtet ihrer sonstigen Handlungsfreiheit nicht gestattet ist, sie durch einseitige Rechtshandlungen aufzulösen 106 . I m übrigen kommt es, da weder die Entlassungsverweigerung noch die Möglichkeit einer einseitigen Ausbürgerung als solche die Grenzen staatlicher Regelungsfreiheit überschreiten 107 , auf die gesetzliche Ausgestaltung oder eine (vertragliche) Vereinbarung zwischen den beiden Staaten an. 3. Bundesrepublik und DDR haben für ihre eigene StAng, wie jeder Staat, grundsätzlich die volle Regelungshoheit. Einer Beschränkung darin unterliegen sie jedoch insofern, als von der fortbestehenden deutschen 104 Anders B G H v. 23. 2.1954, BGHSt 5, 317, der die Wirksamkeit einer E i n bürgerung i n der DDR (im Hinblick auf die deutsche Staatsangehörigkeit) an die Beachtung des bundesrepublikanischen ordre public bindet. 105 Einerseits A r t . 16 GG, der seinem Sinn gemäß ebenso auf die Bundesangehörigkeit anzuwenden ist, andererseits §§ 12, 13 StaatsbürgerschaftsG der DDR. 10 » s. oben Abschn. I V 2, S. 454 f. 107 s. Makarov, Allgemeine Lehren, S. 99 t.; Dahm, Völkerrecht, Bd. 1, S. 481, 484.

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StAng rechtliche Wirkungen ausgehen 1073 . Diese Wirkungen sind, kraft des noch fortbestehenden deutschen Nationalverbandes als der gemeinsamen Grundlage beider Staaten, von ihnen zu respektieren. Wenngleich die deutsche StAng wegen des Ruhens einer ihr zugeordneten gesamtdeutschen Staatsgewalt nicht unmittelbar aktualisiert werden kann, begründet sie doch noch ein Indigenat insoweit, daß jeder deutsche Staatsangehörige durch einfache Erklärung und Wohnsitznahme die StAng von BRD und DDR erwerben kann. Der rechtliche Vorgang ist hier nicht der einer Einbürgerung (eines „Fremden"), sondern allenfalls der einer Registrierung oder eines durch die Wohnsitzbegründung vermittelten automatischen Erwerbs 1 0 8 . Keiner der deutschen Teilstaaten hat folglich das Recht, einen deutschen Staatsangehörigen, der als Bürger dieses Staates leben und sich seiner Ordnung unterstellen will, zurückzuweisen 1083 . Das bedeutet, daß für das Verhältnis von Bundes- und DDR-Bürgerschaft das Wohnsitzprinzip, das i n der Bundesrepublik bis heute gilt, von der DDR bis zum Staatsbürgerschaftsgesetz von 1967 beobachtet wurde, nicht nur eine zufällige, sondern eine notwendige Geltung hat. Für die Beurteilung des Staatsbürgerschaftsgesetzes der DDR ergibt sich daraus folgendes. Die gesetzliche Ausformung der eigenen StAng, wie sie dieses Gesetz vornimmt, ist als solche weder staats- noch völkerrechtlich zu beanstanden. Das Gesetz überschreitet jedoch die aus dem Fortbestehen der deutschen StAng sich ergebenden rechtlichen Grenzen i n zweifacher Hinsicht: einmal indem es für Bürger der Bundesrepublik, die deutsche Staatsangehörige sind, ein förmliches Einbürgerungsverfahren mit freier Entscheidungsgewalt der Behörden vorsieht 1 0 9 , zum andern indem es Bürger der DDR, die in der Bundesrepublik ihren dauernden Wohnsitz genommen haben, weiterhin als Staatsangehörige der DDR in 107a A. A . Böhlhoff, a.a.O., S. 104/105, der wegen des „Ruhens" der gesamtdeutschen Staatsgewalt jegliche, von der BRD u n d DDR nicht f r e i w i l l i g akzeptierte Rechtswirkung der gesamtdeutschen StAng ablehnt und dadurch beide deutsche Teilstaaten sezessiv voneinander trennt. Böhlhoff, der bereits 1959 das Problem der deutschen StAng unvoreingenommen behandelt hat, übersieht hier die noch bestehende gemeinsame Rechtsgrundlage beider deutscher Teilstaaten i m — noch fortbestehenden — deutschen National verband. 108 Dem entsprach bis zum Staatsbürgerschaftsgesetz die Praxis der D D R Behörden, die für Bundesbürger eine einfache Registrierung vorsah. iosa F ü r die Bundesrepublik ist das verfassungsrechtlich anerkannt durch die Regelung des A r t . 116 I GG. Uber die darüber hinausgehenden, angesichts der inzwischen eingetretenen Entwicklung der Rechtslage Deutschlands zum T e i l sehr problematischen Intentionen des A r t . 116 I vgl. K a r l Doehring, a.a.O. (N. 6), S. 16 f. 109 § 1 l i t . b i. V. m. § 7 Staatsbürgerschaftsgesetz. Nach dem Wortlaut ist es nicht möglich, f ü r Bürger der Bundesrepublik weiterhin die Registriermöglichkeiten anzunehmen, wie es Dieter Schröder, Die völkerrechtliche W i r k u n g des »Gesetzes über die Staatsbürgerschaft der DDR', i n : Recht i n Ost u n d West, 1967, S. 238 — ohne nähere Begründung — tut. Vgl. auch Riege, Staatsbürgerschaftsgesetz, a.a.O. (N. 19), S. 711.

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Anspruch nimmt, sofern sie nicht ausdrücklich aus der Staatsbürgerschaft entlassen sind 1 1 0 . Soweit diese Negation des Wohnsitzprinzips auf die Vergangenheit erstreckt wird, ist sie auch aus anderen rechtlichen Gründen angreifbar. Eine StAng entsteht materiell bereits mit der Entstehung des zugehörigen Staates; insofern w i r k t eine gesetzliche Statuierung nur deklaratorisch. Sie w i r k t dagegen, wie auch die Lehre der DDR anerkennt, „konstitutiv i n bezug auf die Besonderheiten der rechtlichen Ausgestaltung" 1 1 1 . Zu diesen Besonderheiten der rechtlichen Ausgestaltung gehört auch die Festlegung der Erwerbs- und Verlustgründe. Solange eine solche gesetzliche Regelung nicht erfolgt, gilt als allgemeine Regel das aus dem Territorialitätsprinzip sich herleitende Wohnsitzprinzip 1 1 2 . Auch wenn man den Fortbestand der deutschen StAng und daraus hervorgehende rechtliche Wirkungen leugnet, war also für das Verhältnis von Bundesbürgerschaft und DDR-Bürgerschaft bis zum Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR das Wohnsitzprinzip rechtlich i n Geltung. Danach w i r d die StAng mit dauerndem Wegzug aus dem Staatsgebiet verloren. Wenn die DDR es heute rückwirkend, d. h. ab 1949, außer Kraft setzen w i l l , setzt sie sich mit ihrem eigenen früheren Verhalten in Widerspruch und nimmt Personen rückwirkend als Staatsangehörige in Anspruch, die es (kraft Wohnsitzaufgabe) gar nicht mehr sind. Sie verstößt damit zugleich auch gegen Grundsätze des Völkerrechts. Denn die nunmehrige Inanspruchnahme von Personen als eigene Staatsangehörige, die nach dem Wohnsitzprinzip rechtens Bürger der Bundesrepublik geworden sind und die DDR-Bürgerschaft verloren haben, verletzt die Personalhoheit der Bundesrepublik gegenüber ihren Staatsangehörigen 113 . Diese zu respektieren, ist die DDR ungeachtet des bestehenden politischen Antagonismus gehalten. 4. Weder die Bundesrepublik noch die DDR sind, als deutsche Teilstaaten, befugt, für sich die Materien der deutschen StAng zu regeln. Als wesenhaft gesamtstaatliche Kompetenz entzieht sich die deutsche StAng einer Regelung durch Teilstaaten. Auch der Gedanke einer treuhänderischen Wahrnehmung mangels einer organisierten Gesamtstaatsgewalt, den man erwägen könnte 1 1 4 , begründet allenfalls die Zuständigkeit zur 110 Das ergibt sich aus § 9 des Gesetzes, der als Verlustgründe n u r Entlassung, Widerruf der Verleihung und Aberkennung vorsieht, u n d aus § 10, der keinen Rechtsanspruch auf Entlassung gibt. 111 M a r t i n Posch, i n : Staat und Recht 13 (1964), S. 1969. 112 s. die N. 87 angeführten Belege. 113 Durch die Personalhoheit der Bundesrepublik gegenüber diesen Staatsbürgern w i r d die Regelungsfreiheit der DDR völkerrechtlich eingeschränkt, s. Makarov, Allgemeine Lehren, S. 93 ff.; Dahm, Völkerrecht, Bd. 1, S. 448 f., 458 f. Trotz des Bestreitens von Riege, Staatsbürgerschaftsgesetz, a.a.O. (N. 19), S. 702, liegt i n der rückwirkenden Aufhebung des Wohnsitzprinzips auch eine (unzulässige) rückwirkende Erstreckung der eigenen Staatsangehörigkeit. 114 s. dazu Böhlhoff, a.a.O., S. 118 ff., 122 ff.; Scheuer, a.a.O. (N. 58), S. 155.

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Handhabung, nicht aber zur autonomen Regelung des Rechts der StAng durch jeden der Teilstaaten. Da die Bundesrepublik aus politischen Gründen, insbesondere wegen der amtlich vorherrschenden Identitätstheorie, ihre eigene StAng nicht gesetzlich aktualisieren und ausformen wollte und w i l l , sind i n ihr alle staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen formell als solche ergangen, die die deutsche StAng betreffen. Dennoch handelt es sich der Sache nach u m Regelungen der Bundesangehörigkeit; sie gelten jeweils nur für die „deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz i m Bundesgebiet" 115 und können auch nur für sie gelten, da sich die Staatsgewalt der Bundesrepublik nicht über das Bundesgebiet hinaus erstreckt 116 . Die Bundesrepublik kann nicht die StAng von Personen regeln, die nicht ihre Staatsangehörigen sind. Das w i r d auch i n A r t . 73 I Ziff. 2 GG m i t der vieldeutigen Formel von der „Staatsangehörigkeit i m Bunde" eher anerkannt als negiert 1 1 7 . VI. Der Fortbestand des deutschen Staats- bzw. Nationalverbandes und damit der deutschen StAng ist, wie die voranstehenden Überlegungen gezeigt haben, prekär. Ein fortschreitender Sezessionsprozeß, als welcher sich die politische Auseinanderentwicklung der beiden deutschen Teilstaaten darstellt, kann nicht endlos dauern, ohne daß die gemeinsame Grundlage, auf der beide Staaten von ihrem Ausgangspunkt her stehen, schließlich völlig aufgelöst wird. Es ist nicht mehr eine Frage rechtlicher Erkenntnis, sondern politischer Entscheidung, ob dieses Ergebnis vermieden werden soll. W i l l man es vermeiden, so ist das nicht anders denkbar, als daß beide Staaten zunächst beginnen, die noch verbliebenen Gemeinsamkeiten rechtlich zu stabilisieren und dadurch einer weiteren Sezession, die den „staatsrechtlich-Völker rechtlichen Zwischenzustand" schließlich i n einen rein völkerrechtlichen überführt, Einhalt zu gebieten. Das ist an zwei Voraussetzungen gebunden. Die erste ist die, daß BRD und DDR sich gegenseitig als deutsche Teilstaaten respektieren; die zweite ist die Bereitschaft, die derzeit bestehende Feindschaft zumindest insoweit zu begrenzen, daß der deutsche Nationalverband als gemeinsame Grund115 Dazu Böhlhoff, a.a.O., S. 102 f.; die Vermeidung des Ausdrucks „Bundesangehörigkeit" k a n n über diesen Sachverhalt nicht hinwegtäuschen; n u r wenn die Identitätstheorie auch rechtliche Wirklichkeit wäre und eine Kompetenz begründen könnte, die das Grundgesetz als solche nicht vorsieht, könnte eine andere Beurteilung Platz greifen. Eingehend zu dieser Problematik Schätzel, Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, 21958, S. 89—91. ne s. oben Abschnitt I, S. 429. 117 Z u A r t . 73 Ziff. 2 G G vgl. Schätzel, a.a.O. (N. 115), S. 89. Die fehlende Kompetenz der Bundesrepublik zur Regelung der (gesamt)deutschen Staatsangehörigkeit w i r d bei Böhlhoff, a.a.O. (N. 29), S. 103 nachdrücklich betont. Z u m Problem auch Wengler, a.a.O. (N. 29), S. 55 f. unter dem Gesichtspunkt der völkerrechtlich zulässigen Erstreckung der Staatsgewalt der Bundesrepublik.

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läge, ungeachtet des politischen Antagonismus, nicht völlig zerstört w i r d 1 1 8 . Beide Voraussetzungen sind für BRD und DDR, objektiv gesehen, zumutbar, denn sie fordern nicht mehr, als daß jeder Teilstaat darauf verzichtet, sich ungeachtet der bestehenden Legitimitätskonkurrenz auf Grund seiner Legitimität als das Ganze zu setzen, das er nicht ist. „Unzumutbare Bedingung" 1 1 9 ist hingegen die Negation des einen durch den anderen Teilstaat. Friede entsteht als Vertrag zwischen Feinden und setzt somit die Anerkennung des Feindes voraus 1 2 0 . Identitätsansprüche auf der einen rufen notwendig die Sezession auf der anderen Seite hervor, weil dann die Sezession Bedingung der Selbstbehauptung wird. Beide wirken zusammen, das, was von der Einheit Deutschlands noch verblieben ist, endgültig zu zerstören.

118 Der Ausdruck ,Feindschaft' darf nicht irritieren. Die Anerkennung einer tatsächlich bestehenden Feindschaft als Ausgangspunkt für ihre Begrenzung u n d Eingrenzung ist eine positivere Einstellung als die völlige Negation; s. auch Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 3. Aufl. 1963, S. 11 f. 110 Vgl. die Erklärung Bundeskanzler Kiesingers i m „Bericht zur Lage der Nation" vor dem Deutschen Bundestag am 11.3.1968, kein Teil dürfe dem anderen unzumutbare Bedingungen stellen, u m Erleichterungen für die Menschen i m geteilten Deutschland zu schaffen; B u l l e t i n der Bundesregierung Nr. 33 vom 12. 3.1968. 120 Julien Freund, Der unauffindbare Friede, i n : Der Staat 3 (1964), S. 179.

D i e Häresie Von Julien Freund, Straßburg Der Begriff der Häresie ist plötzlich inaktuell geworden und scheint sogar außer Gebrauch gekommen zu sein — als entspräche er einer endgültig überholten Epoche. Bis zu einem jüngeren Zeitpunkt dagegen, bis zum Tode Pius XII., zögerte die katholische Kirche keineswegs, von dieser Waffe Gebrauch zu machen, u m eine für gefährlich und irrig erkannte Meinung zu treffen oder die allzu Verwegenen wieder zu Verstand zu bringen. So hat sie, um nur die französischen Beispiele zu nennen, den Modernismus und den Abbé Loisy, die Lehre des Sillon und die der Action Française verurteilt. A m 11. Oktober 1962 jedoch haben die Konzilsväter des zweiten Vaticanum sich dazu entschlossen, den Kirchenbann wegen Schismas und Häresie praktisch aufzuheben. Die sogenannte nachkonziliäre Periode hat diese Bewegung beschleunigt, so daß es so aussieht, als gehöre die Häresie heute der Vergangenheit der katholischen Kirche an und als könne sie für die Religionssoziologie nur noch als historisches und gegenwartsfremdes Phänomen von Interesse sein. Diese Entwicklung, die einer Kehrtwende sehr ähnlich sieht, w i r f t eine Anzahl von Problemen für diejenigen auf, die — gläubig oder nicht — sich bemühen, die Entwicklung der Gesellschaft und der sozialen Gruppen i n ihrer tieferen Bedeutung und nicht unter dem flüchtigen Gesichtspunkt der Modernität oder der jeweils letzten Meinung zu verstehen. Hier zunächst die Fragen, die w i r nur andeuten wollen, ohne uns gründlicher mit ihnen zu befassen. Das erste unter diesen Problemen kann man ein Problem der theologischen Soziologie nennen. Stellt nicht die Weigerung, wegen Häresie zu verurteilen, den Begriff der Kirche in Frage? Dabei handelt es sich nicht allein um eine an die katholische Kirche gerichtete Frage, obwohl sie i m Laufe der Jahrhunderte die eifrigste Verfolgerin der Häresien gewesen ist, sondern diese Frage gilt auch für die protestantische Kirche, insofern sie, wie das Luthertum zum Beispiel, i m Gegensatz zu den Sekten, den Tatbestand der Häresie nicht ausschließt — wenn auch unter einer weniger ins Auge fallenden Form als die katholische Kirche 1 . Was ist eine Kirche? Eine Institution hierokratischen Gepräges, deren Zweck es 1

Das g i l t vielleicht noch mehr f ü r den Calvinismus. Theodor von Beza, Freund u n d Nachfolger von Calvin i n Genf, hat ζ. B. die Lehre des gleichgesinnten Protestanten, Castellion, als „bellianistische Häresie" verworfen. 30 Festschrift für Carl Schmitt

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ist, einen bestimmten Glauben zu bewahren und zu verteidigen, dessen Grundsätze offenbart worden sind oder auf die Tradition zurückgehen. So gesehen, bedeuten Kirche und Religion keineswegs dasselbe. I n eine Kirche eintreten heißt einer organisierten Religion beitreten; man kann aber durchaus religiös sein, ohne einer Kirche anzugehören. Es ist sogar möglich, außerhalb aller Kirchen Christ zu sein, soweit man nur die Gültigkeit der Lehre Christi und seine Botschaft der Nächstenliebe anerkennt. M i t anderen Worten: soweit eine Kirche eine Institution ist, setzt sie eine mehr oder weniger durchgebildete juristische Struktur voraus; sie fußt auf einem mehr oder weniger ausdrücklichen Recht, auf Grund dessen sie sich organisiert, i n dessen Namen sie aber auch nach vorherbestimmten Verfahren verbietet oder verurteilt. Der Begriff der Häresie scheint also der Kirche inhärent, obwohl jede ihn m i t unterschiedlichem Geschick und mehr oder weniger Häufigkeit gebraucht. Ohne allzu nachdrücklich auf der Analogie bestehen zu wollen, so scheint die Kirche ebenso absterben zu müssen, sobald sie den Glauben, für dessen Wahrung sie verantwortlich ist, nicht mehr verteidigt, wie ein Staat abstirbt, sobald der Glaube an die Gemeinschaft seine M i t glieder nicht mehr untereinander verbindet. Wie sich die Staaten i m Grunde i n der Entgegensetzung zu anderen Staaten konstituiert haben, so haben sich die Kirchen gegen andere, konkurrierende Lehren konstituiert. Es genügt, die Bildung der Staaten, wie sie sich i n Kriegen und Ausschließungen vollzog, mit der der Kirchen i m Kampfe mit den Häresien zu vergleichen, u m die Analogie begründet zu finden. Die gesamte Geschichte der katholischen Kirche ist ein Beweis dafür: von Anfang an hatte sie mit immer neuen Häresien zu kämpfen; dieser Anfang ist schicksalhaft. Wenn es eben so ist und wenn jede weitere Entwicklung vom Ursprung her bestimmt wird, so scheint es, daß die Kirche, die darauf verzichtet, gegen die rivalisierenden Lehren anzukämpfen, genauso zum Absterben verurteilt ist — wie der Staat, der darauf verzichtet, sich gegen seine Feinde zu verteidigen. Es ist möglich, daß i n einem bestimmten Staat eine Gruppe durch Revolution an die Macht kommt, die von der vorherigen Regierung als innerer Feind betrachtet wurde. Findet sich diese Gruppe einmal am Platz, so muß auch sie sich, um zu überleben, den äußeren Rivalen und inneren Gruppen, die sie zu stürzen oder zu besiegen drohen, widersetzen. So gesehen kann auch eine Häresie innerhalb einer Kirche den Sieg davontragen und eine neue Orthodoxie begründen und i n der Folge gezwungen sein, gegen rivalisierende Kräfte anzukämpfen, wenn sie eine Kirche bleiben will. Aber das alles sind bloße historische Nebenerscheinungen, die den wichtigsten Punkt gar nicht berühren: Ist eine Kirche ohne Häresie möglich? Die allgemein anzutreffende Verwirrung beruht auf einem Mißverständnis des Begriffes der Toleranz, den man allzuoft als einen Kom-

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promiß zwischen Ideen begreift. Dem muß man entgegenhalten, daß es keinen gültigen und dauerhaften Kompromiß außer über Interessen geben kann, wie denn auch keine Idee als solche tolerant oder liberal ist. Selbst die Idee des Liberalismus ist nicht liberal oder sie hört auf, eine Idee zu sein, da ihrem Begriffe nach jede Idee etwas bejaht und verneint. Die Toleranz ist vielmehr eine Beziehung der Menschen untereinander — d. h. zwischen andersdenkenden, andersgläubigen Menschen —, die es ihnen ermöglicht, nach außen hin nebeneinander zu leben, ohne daß ihre inneren Überzeugungen i n ihrem Gehalt i n Frage gestellt werden müßten. M i t anderen Worten, eine Idee kann nicht zugleich eine andere oder ihr Gegensatz sein, ohne aufzuhören zu sein. Entwicklung der Ideen bedeutet also nicht Veränderung der Idee selbst, sondern Zustimmung zu einem anderen Inhalt unter der Verwendung ein und desselben Wortes: eine Veränderung der Bedeutung also. Diese Bemerkungen gewinnen erst recht an Gewicht, wenn eine Idee oder ein Glaube darauf verzichtet, ausschließlich philosophisch oder spekulativ zu sein und versucht, sich mit den Mitteln der Macht aufzudrängen, handle es sich dabei um politische, hierokratische oder wirtschaftliche Macht oder was auch sonst. Denn dann w i r d sie polemisch und betont dadurch noch ihre begriffliche Ausschließlichkeit. Kurzum, es gibt keine Idee der Ideen, die eine allumfassende und endgültige Synthese des gesamten menschlichen Denkens wäre. Nun ist aber die Kirche, i n dem Maße, i n dem sie eine Institution ist, auch Trägerin einer Idee oder eines mehr oder weniger kohärenten Lehrgebäudes, das sie zu verteidigen nicht aufgeben kann, ohne sich zu zerstören oder ihre Identität zu verlieren. Insbesondere dann, wenn sie vorgibt, einem offenbarten Glauben oder einer Tradition treu zu sein. Ohne hier eine Diskussion über diese schwierigen Begriffe von Glauben und Tradition zu eröffnen, kann man jedoch feststellen, daß, wenn eine Kirche sich wandelt, diese Wandlung dem Sinne nach einem Aufgeben bestimmter Glaubenssätze und der daranhaftenden Strukturen gleichkommt, verbunden mit dem Versuch, neue Glaubenssätze durchzusetzen, die sie dann mit derselben Schärfe zu verteidigen vorgeben w i r d wie die alten. Dann aber stellt sich die Frage, ob die Gläubigen, die auf ihrer Treue zur alten Formel beharren, ohne die Offenbarung i n Zweifel zu ziehen, zu Häretikern werden können; eine um so dringendere Frage, als die Kirche, u m ein Beispiel zu nennen, fortfährt, die Priester zu bestrafen, die sich heute den neuen Anweisungen nicht fügen. Was es aus diesen kurzen Hinweisen zurückzuhalten gilt, ist, daß die Häresie kein Gegenbegriff zum Begriff der Religion ist, sondern zu dem der Kirche, so daß eine Religion um so empfindlicher gegenüber der möglichen Häresie wird, je stärker sie sich strukturell als Kirche organisiert. Die gewaltige Wandlung, die i n dieser Hinsicht die katholische 30·

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Kirche getroffen hat, besteht darin, daß sie nicht mehr wie früher über die bereitwillige Hilfe der weltlichen Macht verfügt, um die Häretiker unter Druck zu setzen, sich ihrer Person zu bemächtigen, sie abzuurteilen und hinrichten zu lassen. Sie muß sich heutzutage m i t der doktrinären oder moralischen Verwarnung und gegebenenfalls m i t dem Ausschluß der Widerstrebenden aus der Gemeinschaft der Gläubigen begnügen. Die zweite Reihe von Problemen betrifft das, was man die seelsorgerische Soziologie nennen könnte, wenn auch diese A r t von Problemen vielerlei Schwierigkeiten psychologischer Natur mit einschließt. Die sogenannte postkonziliäre Periode scheint eine große Zahl von Priestern auf Grund des plötzlichen Bruchs m i t den alten formalistischen und autoritären Gewohnheiten außer Fassung gebracht zu haben. Dieselben Männer, die vor kaum zwanzig Jahren, u m ein Beispiel zu nennen, Anstoß daran nahmen, junge Leute „Les Misérables" Victor Hugo's oder Stendhals „Rot und Schwarz" lesen zu sehen, empfehlen heute eine Lesefreiheit, die all die aufschrecken läßt, die früher von ihnen gewarnt worden waren. Die einen, an die kirchliche Disziplin gewohnt, versuchen den neuen Extremismus m i t demselben guten Willen auszuteilen wie den alten; andere geben sich einer A r t oft für die Gläubigen sehr amüsanten Wettbewerbs hin, um gänzlich unbedeutende Reformen einzuführen und so mehr auf dem Laufenden zu scheinen als der Nachbar oder auch moderner, fortschrittlicher, ja „revolutionärer". Bisweilen hat man sogar den Eindruck, wahren Hans Dampfen i n den Gassen der Theologie gegenüberzustehen. Es wäre unnütz, hier in Einzelheiten zu gehen, wo das Lächerliche bisweilen mit einer gewissen Eitelkeit i n der Bescheidenheit wetteifert 2 . Es ist auf jeden Fall nicht schwer zu erraten, daß der Übergang von der alten zur neuen Aufrichtigkeit eine große Leere in den Seelen hinterlassen hat, spürbar an der Langeweile, die die sterile, ebenso fade wie ungeduldige Agitation der Predigten hervorruft, deren Ursachen aber vielleicht nur i n doktrinärer Unsicherheit zu suchen sind. Es ist doch keineswegs so, daß die sogenannten großherzigen Ideen immer recht und wahr oder auch nur würdig sein müßten; sie können ebensogut zur Bequemlichkeit, ja zum Aufgeben allen Denkens schlechthin führen. M i t Sicherheit gehören der Friede, die soziale Gerechtigkeit oder die internationalen Beziehungen nicht zu dieser A r t von Ideen. 2 Nehmen w i r n u r ein Beispiel, das der Gemeinschaft. Die Gemeinde w i r d zur „communauté paroissiale", die Messe zur „communauté eucharistique" oder „sacrificielle", ohne daß man andere Veränderungen wahrnähme als die der Bezeichnung. W a r u m auf der Notwendigkeit des „renouveau communautaire" bestehen, wenn i n den Dörfern die Priester als erste die „communauté paroissiale" während der Woche verlassen? Die Gemeinschaft verlangt vor allem eine Gegenwart u n d i n erster L i n i e die des für die Gemeinschaft Verantwortlichen. Es geht hier nicht darum ein Verhalten zu beurteilen, sondern eine Tatsache festzustellen.

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Wahrscheinlich ist diese Situation nur vorübergehender Natur, bis die Kirche, nach dem Schock, ihr Gleichgewicht und einen neuen Stil wiederfindet. Für den, der mit der Gruppensoziologie und mit der Soziologie der Institutionen vertraut ist, zeichnet sich die Entwicklung zwar allem Anschein nach anders ab, aber es wäre unnütz, auf diesem Punkt zu beharren, da er nicht unmittelbar i n das Schema beschreibender Erklärungen gehört, die w i r zu unserem Gegenstand gemacht haben. Dagegen muß folgende Frage aufgeworfen werden, weil sie i n der Tat unseren Gegenstand betrifft: welche Beziehung besteht zwischen der Haltung der Priester, so wie w i r sie i n aller Kürze untersucht haben, und dem Problem der Häresie? Wenn es eine Psychoanalyse der Gruppen gäbe, könnte sie hier eine Reihe nützlicher Auskünfte geben. Aber man kann auch so annehmen, daß die belanglosen und oft unüberlegten Änderungen, die die Priester einseitig i n das Zeremoniell einführen, ihr heimliches Zögern oder gar ihre Ratlosigkeit zum Ausdruck bringen. Es handelt sich dabei um etwas Tieferes als die aktuelle Methode des Trial and Error, heute so i n Ehren, wenn auch dieses Moment nicht zu unterschätzen ist. Dogmen und Sakramente bleiben erhalten, aber zu gleicher Zeit hat man den Eindruck, daß sie durch die strukturellen Veränderungen i n Frage gestellt werden können. So wohnt man einem merkwürdigen Ballett bei — zwei Schritt nach vorn, zwei Schritt zurück —, bei dem jeder Priester seine Sicherheit inmitten der allgemeinen Unentschlossenheit prüfen w i l l : so schwierig ist es, eine Grenzlinie zwischen der Neuerung und der möglichen Häresie zu ziehen. Die gesamte Vergangenheit der Kirche, mit ihrer annähernd zweitausendjährigen häretischen Tradition ist es, die auf dem Aggiornamento lastet und alle Türen der Unruhe öffnet. Bis wieweit kann man gehen? W i r d die Kühnheit des Priesters von den Gläubigen hingenommen und von der Hierarchie geduldet werden? Welche Grenze darf man nicht überschreiten, um noch innerhalb der Kirche zu bleiben? W i r d nicht das Beharren auf der Neuerung nach einer Reihe brüderlicher Ermahnungen die Verurteilung hervorrufen? Insgeheim bestimmt also das Risiko der Häresie das Verhalten auch weiterhin. Eines geht aus diesen gewiß summarischen Erläuterungen i n aller Klarheit hervor: die Häresie bleibt ein aktuelles Problem i n der Kirche und folglich für die Religionssoziologie. Diese kann sie unter einem doppelten Gesichtspunkt untersuchen, entweder als ein historisches Phänomen aus einer längst überholten Zeit der Kirchengeschichte oder, möglicherweise, als überlebendes Moment vergangener Verhaltensweisen — was die Bedeutung der Frage i n nichts verringert — oder als ein unaufhebbares dauerhaftes Phänomen, das der Kirche wesenseigen bleibt, der förmlichen Entscheidung der kirchlichen Behörden zum Trotz. Dieser letzte Gesichtspunkt scheint begrifflich zutreffender als der erste

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— wenn man davon ausgeht, daß es der Geschichte niemals gelingt, sich selbst aufzuheben und sich gänzlich und endgültig von vergangenen Geschehnissen zu befreien, die sie konstituiert haben. I n Wahrheit stellen diese Bemerkungen ein noch heikleres Problem, das nämlich des Status der Religionssoziologie, der ebenso wie der der allgemeinen Soziologie unklar bleibt. Mehr und mehr entwickelt sich heute eine Religionssoziologie empirischen Charakters, deren Gegenstand es ist, die Wandlungen der religiösen Praxis von einem Land zum anderen, von einer Gegend zur anderen, die Unterschiede i m Prozentsatz zwischen der Zahl der Getauften und derjenigen der wahren Gläubigen usw. statistisch, nach A r t der Wahlsoziologie, zu untersuchen. Diese Richtung verdient es ganz gewiß, gefördert zu werden, da sie zugleich den Verantwortlichen der Religionspolitik wesentliche Bewertungstatsachen und den Forschern präzise Daten an die Hand gibt. Es wäre jedoch falsch, darin die ganze Religionssoziologie zu sehen. I m Grenzfall wäre der Begriff der Häresie, nimmt man an, er sei inaktuell, für diese Form der Soziologie ohne jedes Interesse, es sei denn, eine Verurteilung wegen Häresie riefe i n einem bestimmten Zeitpunkt eine soziale Veränderung oder Bewegung hervor, bedeutend genug, u m die Neugierde des Soziologen i n den Grenzen der i h m eigenen Methodologie hervorzurufen. Doch es gibt einen anderen Typ der Religionssoziologie, den man verstehend nennt. Ihre Zielsetzung ist umfassender, da sie das Gewicht und den Einfluß der religiösen Beziehungen für die Gesamtgesellschaft zum Gegenstand ihrer Untersuchungen macht. Dabei handelt es sich nicht nur darum, die wechselseitigen Beziehungen zwischen dem religiösen Phänomen und dem sozialen Ganzen nach den verschiedenen Ländern und Religionen zu studieren oder zu untersuchen, nach welcher Richtung die verschiedenen Formen des religiösen Lebens positiv oder negativ die verschiedenen Bereiche des sozialen, wirtschaftlichen, politischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Lebens beeinflussen, sondern auch darum, zu verstehen, wie und warum, trotz der wachsenden Rationalisierung und Säkularisierung der modernen Gesellschaft, diese es nicht vermag, sich von der Macht der Religion zu befreien. Denn nicht allein bleibt diese ein immer noch aktuelles Phänomen, und zwar ebenso aktuell wie früher, sondern es wäre von Seiten eines Wissenschaftlers nichts anderes als Wunderglaube, sich vorzustellen, die Menschheit habe sich i n den zwei vergangenen Jahrhunderten, während derer gewisse Geister und bestimmte Gruppen versucht haben, das religiöse Joch abzuwerfen, von dem Einfluß befreien können, den die Religion seit Jahrtausenden über die ganze Menschheit ausgeübt hat. Alle Wahrscheinlichkeit spricht vielmehr dafür, daß sie sich niemals davon befreien wird, es sei denn, der Mensch verliere das Gedächtnis und damit seine Geschichte. I m Grunde sind die Aufstände,

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die Kämpfe und die anderen Formen der Religionsfeindlichkeit nur mehr eine Bestätigung der Dauer dieses Phänomens. Es handelt sich dabei nicht nur um das Überleben überalteter Praktiken, sondern die Gesellschaft bleibt i n ihrem Innersten religiös, w e i l die Religion ein beständiges Wesensmoment der menschlichen Natur ist, ebenso wie das Wirtschaftliche oder das Politische. Der Verfall einer Religion bedeutet allein, daß andere Formen der Religiosität sich abzeichnen, u m sich, je nachdem, ob die Umstände sich ihnen günstig erweisen, zu behaupten. Es ist sogar wahrscheinlich, daß die übliche Methode der Gegner der Religion, die darin besteht, sie mit geringschätzigen Ausdrücken wie Aberglaube, Frömmelei, Leichtgläubigkeit oder Obskurantismus zu belegen, die Macht, die sie ausübt, i n nichts verringern w i r d ; um so mehr als niemandem der Nachweis ihres wesentlich obskurantistischen Charakters gelungen ist, da sie i n manchen ihrer Züge wie eine Befreiung erscheint. Außerdem, um nur einige besondere Punkte herauszugreifen, muß der Soziologe feststellen, daß bestimmte politische Begriffe, wie die der Souveränität, des Militanten, des Fanatikers oder des Charismas, i m Grunde nichts anderes als Säkularisation theologischer Begriffe sind. So verwendet unsere Alltagssprache i n mehr oder weniger reinen Formen den Schatz der Religiosität der Menschheit. Andrerseits haben manche ursprünglich religiöse Begriffe ihre rein religiöse Bedeutung verloren und überschwemmen dank abgeleiteter Bedeutungen andere Bereiche des sozialen Lebens, insbesondere den Bereich des Politischen, und dienen dazu, Haltungen und Verhaltensweisen zu kennzeichnen, die durch bestimmte, ihnen spezifische Züge an religiöse Haltungen und Verhaltensweisen erinnern. Das ist zum Beispiel das Los des Begriffes der Häresie, den die politische Sprache heutzutage als ganz geläufigen verwendet, zusammen m i t anderen gleichbedeutenden Ausdrücken wie Revisionismus, A b weichler tum, ausstaffiert m i t ähnlichen Verurteilungen wie diejenigen, die die Kirchen aussprachen, um eine Meinung zu bekämpfen, die sie für falsch oder irrig erkannten. So ist es denn auch möglich, zwei Bedeutungen dieses Begriffs zu unterscheiden: einen terminologisch festen, i m strengen Sinne religiösen Gebrauch, der wesentlich, obwohl nicht ausschließlich, für die Religionssoziologie von Interesse ist, und einen unbestimmten, diffusen Gebrauch, dessen Untersuchung sowohl Gegenstand der Religionssoziologie als auch anderer Wissenschaftszweige wie etwa der politischen Soziologie ist. I m Gegensatz zu dem, was oberflächliche Geister denken mögen, kommt klar zum Ausdruck, daß der Begriff der Häresie i n mancherlei Hinsicht weit davon entfernt ist, überaltert und von den Ereignissen überholt zu sein: er bleibt weiterhin aktuell und fährt fort, i n der Gegenwart Haltungen und Denkweisen zu prägen. I n den folgenden Zeilen

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werden w i r den Begriff unter den beiden genannten Aspekten studieren: seiner bestimmten und unbestimmten Bedeutung nach. U m den ausgeprägten, vollen und idealtypischen Sinn des Begriffes zu erfassen, muß man sich an die Gebräuche der katholischen Kirche halten, wie sie insbesondere i m kanonischen Recht niedergelegt sind. Da sie i n der Tat i n organisatorischer und juristischer Hinsicht die strukturierteste Kirche ist, da ihre Institutionen sozusagen das „Modell" 3 des Kirchenbegriffes bilden, ist es leicht zu verstehen, daß gerade sie uns die strengste und durchgebildetste Definition der Häresie und zugleich deren allseitigste Anwendung liefern kann. Cod. iur. can. lautet — nach der Umgestaltung von 1917 — c. 1325 § 2 folgendermaßen: Post receptum baptismus signis, nomen retinens christianum, pertinaciter aliquam ex veritatibus fide divina et catholica credendis denegat aut de ea dubitat, haereticus. Derjenige, der, nachdem er die Taufe empfangen hat und der sich auch weiter einen Christen nennt, hartnäckig eine von den nach göttlichem und katholischem Glauben anzuerkennenden Wahrheiten verneint oder bezweifelt, ist ein Häretiker. I n dieser Definition sind alle begriffskennzeichnenden Merkmale enthalten, die w i r jetzt i m einzelnen erläutern wollen. (a) Wie das Vorurteil, das Paradoxon, die Hoffnung, der Zweifel, der Rat oder die Ideologie, ist die Häresie eine Variante der Doxologie. Sie ist eine Meinung, aber welcher Art? Es gibt Meinungen, deren Grundlage empirisch ist, wie die zum Beispiel, die auf einer Wahrnehmung, einer Erfahrung oder auf einer Gewohnheit beruht. Wie etwa die Meinung, die mit der Möglichkeit eines Gewitters bei schwülem Wetter rechnet. Die Grundlage der Häresie dagegen ist rein spekulativer A r t , wie bei allen Meinungen, die den Glauben i m spezifischen Sinne des Wortes betreffen. Aber es ist wichtig, die A r t dieser Spekulation genauer zu kennzeichnen. Sie ist keineswegs apodiktisch, das heißt aus logischen Gründen notwendig, sondern assertorischer Natur, das bedeutet, daß eine bestimmte Vorstellung für wahr gehalten wird, ohne daß derjenige, der sie vertritt, weitere Beweise für ihre Gültigkeit anbringen könnte als seine eigene innere Uberzeugung. Darüber hinaus ist es eine sich bewußt entgegensetzende Glaubensmeinung, die das Gegenteil zu einer vorher festgesetzten Vorstellung ausspricht oder sie anders interpretiert. Sie ist also keine sich unmittelbar behauptende Meinung, vielmehr behauptet sie sich durch Verneinung, durch Nichtübereinstimmung mit einer vorher von anderen als wahr anerkannten Meinung. Wer aber bestimmt die Wahrheit der ursprünglichen Behauptung? I n der Regel ist es eine Autorität, die, weil sie das Monopol der Interpretation dank Offenbarung oder Tradition besitzt, eine Orthodoxie auf dem Boden von Dogmen und 3 I m idealtypischen Sinne der Forschung und nicht i m idealen Sinne der praktischen Wertschätzung.

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Glaubensartikeln bestimmt. Nur i m Verhältnis zu einer solchen Orthodoxie kann von einer Häresie die Rede sein. Es ist daher offenbar, daß es für eine Religion, die keine das Monopol der Interpretation innehabende Lehrgewalt anerkennt, auch keine Häresie gibt. Das ist die erste grundsätzliche Feststellung: einerseits hat der Glaube i n einer Proklamation (Prophezeiung, Offenbarung, Orakel, Heilige Schrift usw.) seinen Ursprung, andererseits wahrt eine genau bestimmte Lehrgewalt die Reinheit und die Interpretation der Botschaft. Bürge für die Wahrheit ist also eine äußere Institution. Das gilt auch für die Häresie, deren Grundlagen dieselben sind, obwohl sie ein Bestreiten ist. Aus diesem Grund ist sie eher Ausdruck einer Krise der Autorität als Ausdruck einer Krise der Wahrheit. Daraus geht hervor, daß es in der Wissenschaft keine Häresie geben kann, i n der jede Aussage prinzipiell durch Versuche kontrollierbar oder durch Vernunftschlüsse nachweisbar ist, derart, daß die wissenschaftliche Aussage deshalb allgemein gilt, w e i l die Wahrheit, die sie ausdrückt, aus sich selbst heraus Anspruch auf Autorität erheben kann. Veritas index sui, was besagt, daß die Gültigkeit der wissenschaftlichen Wahrheit sich auf innere Kriterien stützt, die sich ständig bestätigen oder verbessern — entsprechend den Fortschritten der Forschung. Obwohl die Kirche Galilei wegen Häresie dem Glauben gegenüber zu verurteilen vermochte, ist es ihr nicht gelungen, weder ihre Autorität gegenüber der Wissenschaft zu behaupten noch deren Aufschwung zu verhindern. I m Gegenteil mußte sie für sich selbst einen Kompromiß finden, der jedoch von der Entwicklung der Wissenschaft vollkommen unabhängig bleibt. Es gibt auch keine Häresie i m Bereich der Philosophie, insofern sich diese durch Freiheit i n den Voraussetzungen auszeichnet. Jedem Philosophen steht es i n der Tat frei, den Ausgangspunkt zu wählen, den er für gut hält und der ihm wahr erscheint: die Empfindung für die Einen, das cogito für die Anderen oder auch die Materie, die Dauer, die Zeit, die Idee und andres mehr. Es wäre absurd zu behaupten, Hegel sei Kant gegenüber ein Häretiker gewesen, da das Ausgangsprinzip wie die Methode beider verschieden ist und da die Analysen des einen und des anderen i n den Grenzen des von ihnen jeweils zur Voraussetzung gemachten Prinzips innerlich gültig sind. Erst i n dem Falle, i n dem man eine philosophische Doktrin zu einer dogmatischen Lehre erhebt, beziehungsweise herabsetzt, die man i m Glauben und nicht mehr i n der Reflexion annehmen muß — eine Position, die nichts Philosophisches mehr hat —, w i r d Häresie auch auf diesem Gebiet möglich. Da Wissenschaft und Glaube ihrem Wesen nach grundverschieden sind, sind die von ihnen verworfenen Irrtümer oder Einwände ebenfalls grundverschieden. Die Häresie ist ein I r r t u m auf der Stufe der Meinung, sie ist eine von einer Autorität zurückgewiesene Heterodoxie. Der wissenschaftliche I r r t u m dagegen ist eine Ungenauigkeit, den die Wissen-

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schaft aus inneren Gründen, die auf Experimenten oder Schlüssen beruhen, beiseiteschiebt. M i t anderen Worten, die Orthodoxie behauptet sich als Wahrheit und verurteilt die Häresien auf Grund gleicher Kriterien; die Wissenschaft anerkennt ebenfalls eine Aussage als wahr oder gültig oder lehnt sie als falsch ab i m Namen gleicher Kriterien, die jedoch wissenschaftlicher Natur sind. Folglich wäre es ebenso unbegründet, ein Dogma einer wissenschaftlichen Wahrheit und eine Häresie einem wissensaftlichen I r r t u m gleichzustellen. Zwar ist es i m Verlauf der Geschichte vorgekommen, daß die eine oder die andere Häresie letztlich sich als wissenschaftliche Wahrheit erwies, jedoch handelt es sich dabei um reine Zufälle, denn, ist eine Häresie wissenschaftliche Aussage geworden, so liegt das an inneren Gründen und nicht daran, daß sie Häresie war. Weil die Häresie ein Bestreiten der Autorität ist, behauptet sie sich so lange, wie sie selbst eine Macht ist und selbst eine Autorität darstellt, sei es auf Grund der Zahl ihrer Anhänger, sei es auf Grund der Schwäche der Macht, die sie bekämpft. I m Grenzfalle kann sie ihrerseits eine Orthodoxie werden, wenn es ihr einmal gelungen ist, die vorherige zu zerstören und sich des Monopols der Interpretation zu bemächtigen. Jedenfalls w i r d der Häretiker nicht allein deshalb zum Häretiker, weil er selbst es so gewollt hat, sondern dank einer Autorität, die ihn als solchen bezeichnet. (b) Den Glauben i m allgemeinen zu bestreiten oder ihn abzulehnen, macht noch keinen Häretiker, sondern einen Atheisten, Ungläubigen, Gottlosen oder Irrgläubigen, je nachdem, ob die angenommene Haltung sich Gott oder der Religion gegenüber — um welche Religion es sich dabei handelt, ist gleichgültig — durch Aggressivität oder Indifferenz auszeichnet. Einen Glauben i m Namen eines anderen bestreiten oder einem anderen beitreten, ist ebenfalls kein Fall der Häresie, sondern macht allein einen Ungläubigen oder Heiden. Man verstößt gegen den Sinn des Wortes, wenn man es auf den Moslem, den Juden oder den Buddhisten anwendet. Damit Häresie vorliegt, muß sich der Heterodoxe auf denselben Typ von Glauben und dieselbe Religion berufen wie der Rechtgläubige, der das Interpretationsmonopol innehat 4 . Arius, Nestorius, Entyches, Luther, Zwingli und Calvin waren Häretiker, einerseits weil sie getauft waren, vor allem aber, w e i l sie sich weiterhin für wahre Christen hielten, obwohl sich ihre Ansicht von der offiziellen, vom Papst vertretenen Lehre der Kirche unterschied. Warum sind sie es? Eine ver4

Es ist nicht notwendig, hier an den Unterschied zwischen dem Häretiker u n d dem Schismatiker zu erinnern. Hier sei n u r darauf aufmerksam gemacht, daß a u d i der Abtrünnige kein Häretiker ist, denn dieser Terminus bezeichnet denjenigen, der den Glauben aufgegeben hat. Der Rückfällige dagegen ist ein Häretiker w e n n man sich an den ursprünglichen Sinn des Wortes h ä l t : derjenige, der der Häresie wieder anheimfällt, nachdem er sie schon einmal aufgegeben hatte.

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gleichende Untersuchung der häretischen Heterodoxie i n ihrem Verhältnis zu den anderen Heterodoxien wie zum Beispiel dem Islam, dem Judentum oder dem Buddhismus macht eine Antwort auf diese Frage möglich. Zweifelsohne sind die Anhänger der Religionen, die w i r eben erwähnt haben, i n den Augen der Kirche i m Irrtum, aber sie sind es nicht absichtlich, sei es, daß sie die Botschaft des Evangeliums nicht kennen, sei es, daß sie von der Gnade und vom Lichte Christi nicht getroffen worden sind. Der Häretiker dagegen hat dieses Licht genossen, jedoch einen schlechten Gebrauch davon gemacht, indem er seine persönliche Interpretation der Schrift, der Tradition oder der christlichen Lehre der der Kirche, verstanden als Körperschaft und Gemeinschaft der Gläubigern, vorzieht. Die Häresie setzt also nicht nur ein Interpretationsmonopol voraus, sondern auch, daß die Kirche die einzige Organisation ist, die die Gesamtheit der Christen universal vertritt. Wenn der Papst oder das Konzil ein Dogma bestimmen, so tun sie das nicht — ebensowenig wie der Gesetzgeber eines politischen Staats, wenn er ein Gesetz macht — aus persönlichen Gründen, sondern als Repräsentanten der gesamten christlichen Gemeinschaft. Da das Dogma ein zugleich wesentlicher und allgemeiner Grundsatz ist, darf nicht allein seine Gewißheit nie bezweifelt werden, sobald es einmal verkündet worden ist, sondern auch seine Interpretation hängt allein von der allgemein vertretenden Autorität ab. Der eine oder der andere dieser beiden Punkte w i r d von der Häresie i n Frage gestellt. Daher bildet sie eine Gefahr durch den Partikularismus, den sie hervorruft, und die Gewissensfreiheit, die sie voraussetzt. Kurzum, durch sie gerät die Existenz der Kirche unmittelbar i n Gefahr, wie es m i t dem Staate geschehen würde, wenn das Monopol der legitimen Gewaltanwendung verneint würde oder wenn es jedem Bürger gestattet wäre, die Gesetze wie es i h m beliebt zu interpretieren. Es wäre durchaus möglich, sich mittelbar der Häresie zu bedienen, u m einen Vergleich zwischen Kirche und Staat anzustellen, indem man zum Beispiel zeigen würde, daß es sich auf beiden Seiten u m eine Institution handelt, die zum Zweck der Machtausübung — hier der geistlichen, dort der weltlichen Macht — geschaffen wurde und daß deshalb die Kirche der inneren Logik der Machtausübung nicht entrinnen kann. I n beiden Fällen kann man die Hobbessche Formel anwenden: „Auctoritas non Veritas facit legem" — m i t der Einschränkung jedoch, daß i n einem Falle die Autorität auf einem unumschränkten Willen beruht, der von der W i l l k ü r der Regierungsformen abhängt, daß sie i m anderen Falle auf der Offenbarung und Tradition gründet. I n beiden Fällen jedoch stützt sich die Autorität auf einen ursprünglichen Willensakt, der sich nur infolge dieses Akts als solchem und nicht etwa i n Folge eines Forschungsprozesses oder einer ständigen Besserung als wahr betrachtet. Es ist jedoch

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hier nicht der Ort, auf Einzelheiten dieses Vergleichs einzugehen, der uns bestimmte politische Doktrinen wie die des Absolutismus oder bestimmte Werke wie etwa den „Gesellschaf tsver trag" von Rousseau oder „das System der positiven Politik" von Auguste Comte verständlicher machen würde. Wie dem auch sein mag, der entscheidende Punkt dieses zweiten Merkmales — dem etymologischen Sinne des Wortes i m übrigen treu — besteht darin, daß die Häresie eine persönliche Wahl des Gläubigen ausdrückt, das heißt — daß sie sich Ordnung und Vorschrift der Lehrgewalt i m Namen der individuellen Freiheit der Interpretation widersetzt. Sie ist eine Zurückweisung der Disziplin innerhalb einer bestimmten Kirche. (c) I n der oben zitierten Definition des kanonischen Rechts muß man den Ausdruck „pertinaciter" hervorheben. Man ist noch kein Häretiker, weil man i n seinem Gewissen an einem Glaubensartikel zweifelt oder weil man ihn auf eigene A r t interpretiert, sondern einzig und allein dann, wenn man die Meinung öffentlich macht, wenn man sie hartnäckig weitergibt und propagiert, nachdem die zuständige Lehrgewalt sie als einen I r r t u m bezeichnet hat. „Nicht der I r r t u m " , sagt Capitant, „macht die Häresie, sondern das hartnäckige Beharren auf dem als solchen bezeichneten Irrtum." Sie w i r d also nicht als Privatmeinung, sondern als öffentlich bekannte Meinung verurteilt, sobald sie den Glauben anderer Gläubiger verwirrt. Es ist auch ausgeschlossen, die tendenziöse, sogar irrtümliche, gelegentliche oder zufällige Interpretation eines Theologen i n seinen Vorlesungen oder Werken als Häresie zu behandeln. M i t anderen Worten, es gibt keine Häresie vor der Verurteilung durch die Autorität, sondern erst dann, wenn der Urheber der verworfenen Formel sich weigert, sich zu unterwerfen, und er und seine Anhänger auf ihrer Haltung beharren. Zum Unterschied des Modernismus des Abbé Loisy wurde die Lehre des Sillon nicht als Häresie betrachtet, weil Marc Sangnier sich unterwarf. Die Häresie der Amalrikaner des Mittelalters scheint m i r eines der t y pischsten Beispiele für unsere Analyse zu bieten. Amalrich von Bena hatte jahrelang ohne Schwierigkeiten i n Paris seine pantheistische Dokt r i n gelehrt, bis zu dem Tage, an dem Wilhelm de St. Amour Verdacht schöpfte, einige Formulierungen aus seinen Vorlesungen auswählte und sie an den Papst weitergab. Nach Rom berufen, unterwarf sich Amalrich nach der Verurteilung seiner Philosophie. Er kam nach Frankreich zurück, schloß sich i n einem Kloster ein, wo er, ein Jahr später, wahrscheinlich vor Kummer starb. Eine Häresie i m eigentlichen Sinne des Wortes lag also nicht vor, und der Fall schien beigelegt zu sein, als man darauf aufmerksam wurde, daß frühere Schüler, nachdem sie Pfarrer i n einigen Gemeinden der Ile de France geworden waren, das verurteilte System weiterhin lehrten. Nunmehr war die Häresie offenbar. Ihre Anhänger wurden verhaftet, einige zum Tode verurteilt. Ja, man ging so weit,

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selbst Amalrichs Gebeine aus dem Klosterfriedhof auszugraben und an ungeweihter Stätte beizusetzen. Außer der Heterodoxie und dem ausdrücklichen Urteil seitens der Lehrgewalt läßt sich der Häretiker an einer „Verirrung" des Willens erkennen, soweit er absichtlich Spaltung unter den Gläubigen hervorruft oder sich selbst i n eine Randposition begibt. Dieses Merkmal w i r d vor allem deutlich, wenn man das allgemein von der Kirche vor der Verurteilung angewandte Verfahren i n Augenschein nimmt. Dem der A b weichung vom guten Weg Verdächtigen läßt die Kirche zunächst brüderliche Vorwürfe oder Warnungen zukommen, nicht ohne vorher u m Erklärungen gebeten zu haben. Und erst wenn der Schuldige hartnäckig auf seinem I r r t u m besteht, greift sie zu dem äußersten M i t t e l der Verurteilung und des Ausschlusses aus der Gemeinschaft der Gläubigen, das früher meistens, i n Fällen des Zusammenspiels von geistlicher und weltlicher Macht, von Gefängnisstrafen oder dem Tode auf dem Scheiterhaufen begleitet wurde. Ohne jene äußerste Strenge empfehlen zu wollen, die die Kirche später anwenden sollte, machte schon der hl. Paulus auf diesen willentlichen Aspekt der Häresie aufmerksam: „Einen ketzerischen Menschen meide, wenn er einmal und abermals ermahnt ist. Ein solcher Mensch, das weißt du, ist verkehrt und ein Sünder, der sich selbst das Urteil ausspricht 5 ." (d) Da die Häresie i n einer Meinung besteht, die die Auslegung eines bestimmten Punktes der Lehre, der christlichen Tradition oder eines Dogmas bestreitet, hat sie ihren Ort notwendig auf der Ebene der Theorie oder der Ideen, nicht auf der der Praxis. Das bedeutet, daß das moralische Verhalten sie nichts angeht. Man ist nicht schon deshalb ein Häretiker, weil man ein liederliches Leben i n den Augen der religiösen Moral führt oder weil man die Mitglieder der geistlichen Hierarchie ihrer Sittenlosigkeit wegen angreift. Ein solches Verhalten ist sündhaft, jedoch keine Häresie, obwohl die Kirche i m Laufe der Jahrhunderte sich gleicher Waffen, insbesondere der Exkommunikation, bedient hat, um sowohl Häretiker wie öffentliche Sünder zu bestrafen. So wurde denn auch Luther nicht wegen seines Kampfes gegen den Ablaß zum Häretiker; er wurde es vielmehr an dem Tage, an dem er seine moralische K r i t i k auf theoretische Unterschiede i n der Interpretation der hl. Schrift (insbesondere des Römerbriefes) wie der Bedeutung der Gnade und der Werke i m Leben der Christen wie i n Hinsicht auf das Heil ausdehnte. Es ist also 5 Epistel an Titus, I I I 10—11. Die Jerusalemer Bibel übersetzt das Wort Häretiker, das man an dieser Stelle findet, m i t „homme de parti", diese Wiedergabe ist meiner Ansicht nach ein Anachronismus, wenn nicht ein Widersinn. M a n muß, meines Erachtens, dem Wort haereticus seine ethymologische oder ursprüngliche Bedeutung geben: d. h. derjenige, der nicht dem ganzen I n h a l t der Lehre des Evangeliums folgt u n d sich vielmehr die Lehre nach seinem Belieben auswählt.

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vorgekommen, daß einige Häresien von einer moralischen und sozialen K r i t i k der Kirche ihren Ausgang nahmen. Es ist bekannt, daß manche Inquisitoren versucht haben, hinter solcher moralischer K r i t i k die Häresie aufzudecken, um leichter Störenfriede und Lästige loszuwerden. Trotz alledem hat jedoch die Kirche immer einen grundsätzlichen begrifflichen Unterschied zwischen Ethik und Doktrin gemacht. Der hl. Bernhard und andere, wie der hl. Dominikus, haben nicht aufgehört, das verdorbene Leben der Priester und andere Mißbräuche zu tadeln und bloßzustellen. Trotzdem hat sie niemand der Häresie verdächtigen können, weil sie sich davor hüteten, die Lehre i n Frage zu stellen und sie sich stets bemühten, gehorsame Söhne der Kirche zu bleiben. Manche Päpste, wie zum Beispiel Gregor V I I . oder Innozenz III., haben sogar — der eine i n Mailand, der andere i m Languedoc — Bewegungen ermuntert, die darauf hinzielten, die Kirche moralisch zu bessern — und dies trotz des Protestes einiger Bischöfe, die sich bemühten, die Anreger der Erneuerung zu Häretikern zu stempeln 6 . I m Unterschied zu manchen Patarenern oder Waldensern, deren Auffassung der A r m u t der vom hl. Franz gepredigten sehr nahe war, wurde dieser letztere nie verurteilt, obwohl er Anstoß erregt hatte und bei einem Teil der öffentlichen Meinung verrufen war, weil er i m Gegensatz zu den anderen nie i m Sinne einer Veränderung der traditionellen Lehre hatte wirken wollen. Die Häresie besteht also i n einer Änderung des theoretischen Denkens und nicht i n den Neuerungen des praktischen Verhaltens. (e) Hier stellt sich i m Hinblick auf die historische Entwicklung der Kirche eine heikle Frage. Obwohl die Kirche vorgibt, die Grundsätze des Glaubens unverändert zu wahren, korrigiert sie selbst durch päpstliche oder konziliäre Entscheidung allerlei Punkte der Lehre, sie führt Neuerungen ein, sie verwandelt gewöhnliche Glaubenssätze in Dogmen, erweitert und entstellt überkommene Interpretationen. Die Fortentwicklung der Lehre ist unbestreitbar und dies um so mehr, als die Lehrgewalt heutzutage — ganz i m Gegensatz zu früheren Zeiten, wo sie Erziehung und Unterricht prägte — ständig bemüht ist, ihre Philosophie den veränderlichen, autonomen Bewegungen der politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen Ideen u. a. m. anzupassen. Das hat zur Folge, daß diese von den Umständen bedingten Änderungen bisweilen bei den Gläubigen und sogar manchen Mitgliedern der Hierarchie, die i n diesen Änderungen eine Verunstaltung der Lehre sehen, Ärger und Unzufriedenheit hervorrufen. Die Verkündung neuer Dogmen führt manchmal zu denselben Folgen. Es wäre frühzeitig, die Aufregung als Beispiel heranzuziehen, die die von Vaticanum I I jetzt eingeschlagene Richtung • Unsere Anspielung g i l t hier der Feindseligkeit, die manchen orthodoxen Anhängern der Bewegung „Pauperes Christi", wie zum Beispiel Durand von Huesca i m X I I . Jahrhundert i m Languedoc oder Bernhard P r i m i n der U m gebung von Mailand, begegnete.

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hervorgerufen wird, denn es ist bisher kaum möglich, ihre Folgen vorauszusehen. Aber man kann an das Beispiel der Trennung der A l t katholiken nach der Ausrufung der päpstlichen Unfehlbarkeit zur Zeit von Vaticanum I denken. Dabei stellt sich folgende Frage: darf man diejenigen als Häretiker betrachten, die der überkommenen Lehre treu bleiben wollen und jede Änderung i n der Interpretation der Glaubensartikel ablehnen? Die A n t w o r t kann nur negativ sein, wenigstens der inneren Logik des Begriffs der Häresie nach. Man kann sie höchstens als Schismatiker betrachten, genauso wie die Orthodoxen, die sich von der westlichen Kirche i m Jahre 1054 getrennt haben. I n der Tat bleiben sie den wesentlichen Grundsätzen des Glaubens treu. Sie schlagen keine neue Interpretation vor, sie ziehen nicht i n der Lehre Christi einige Elemente anderen vor und sie verharren hartnäckig nur i n ihrer Treue der Lehre gegenüber. Was ihren Überzeugungen zuwider ist, sind die willkürlichen Änderungen von Seiten der Kirche. Dieser Ausdruck „ w i l l k ü r l i c h " darf nicht i n einem abwertenden Sinne genommen werden, denn die Entscheidungen der geistlichen Macht sind nicht wesentlich verschieden von denen der weltlichen Macht. Es gibt ein Wesen der Entscheidung und dieses bleibt sich selbst gleich, was immer der Anwendungsbereich sein mag: die Politik, die Wirtschaft, die Pädagogik oder die Religion. A l l e i n die Apologetik und die Propaganda vermögen darüber etwas vorzutäuschen. Manche Theologen geben vor, die je nach den Epochen sich stets widersprechenden Änderungen der Interpretation der hl. Schrift aus der Offenbarung gleichsam ableiten zu können. I n dem Falle müßte man zulassen, daß der hl. Geist das willkürliche Element der Dreifaltigkeit sei. Schon die politologische Analyse der Macht zeigt, daß jede Autorität unvermeidlich einen Spielraum für das Willkürliche beansprucht aus dem einfachen Grund, weil sie eine Äußerung des Willens ist. Genauer gesagt: das Willkürliche ist der Macht wesensgleich. Die Hierokratie entgeht diesem allgemeinen Gesetz nicht. Den Entschluß fassen, ein Konzil einzuberufen, einen einfachen Glaubensartikel zum Dogma zu erheben, i n der Liturgie die Sätze abzuschaffen, die die Juden verletzen könnten, das sind i n den Augen des Philosophen Machterscheinungen, die gleicher A r t sind wie die diplomatische Nichtanerkennung Israels, die Abberufung des Priors gewisser Dominikanerprovinzen, die Bevorzugung der Volkssprache gegenüber dem Lateinischen oder die Unterstützung des Linkskatholizismus gegenüber dem Rechtskatholizismus oder umgekehrt. Ebenso willkürlich erscheint die Haltung der Erzbischöfe oder Bischöfe, die i n ihren jetzigen Hirtenbriefen etwas anderes lehren als vor zwanzig Jahren. Unter diesen Umständen ist es verständlich, daß viele Gläubige nicht leicht alle Kehrtwendungen hinnehmen und nicht dazu bereit sind, was auch immer ihre Gründe dafür sein mögen, die Ideen zu

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verwerfen, die man sie vorher zu ehren angehalten hatte. Letzten Endes ist es ebenso willkürlich, die Kirche nach den herrschenden Meinungen i m Sinne einer pazifistischen oder einer reaktionären Politik zu lenken. Die Offenbarung vermag, ebensowenig wie die Wissenschaft übrigens, den Beweis zu erbringen, daß eine der beiden Richtungen wahrer als die andere sei. Beide schweigen hierüber: allein die willkürliche Entscheidung der hierokratischen Gewalt der Kirche oder der politischen Macht des Staates kann die Verantwortung für die eine oder die andere Richtung auf sich nehmen. W i r haben schon wiederholt auf das analoge Verhalten von Kirche und Staat angespielt. Es ist also nicht verwunderlich, daß der Begriff der Häresie durch die Politik verweltlicht worden ist und daß ihm dadurch eine unbestimmte, diffuse Bedeutung beigelegt worden ist. So unbestimmt i m übrigen, daß er unverständlich geworden ist und sein Gebrauch bisweilen zu Konfusionen führt. Die Überfülle der Bedeutungen schadet dem genauen Gebrauch eines Wortes, obwohl sie auch, wenigstens was Häresie betrifft, bestätigt, daß es letzten Endes lebendiger ist als man glaubt. Nichtsdestoweniger, wenn ein Ausdruck für alle möglichen anderen gebraucht werden kann, werden jede Auseinandersetzung, jeder Dialog wie jederlei Analyse oder Wahrheitssuche unmöglich. Aus diesem Grunde ist es sehr zu bedauern, daß gewisse moderne Schriftsteller sich des Begriffs der Häresie bedienen, um jederlei A r t von Nonkonformismus oder Opposition gegenüber allgemein akzeptierten Ideen zu kennzeichnen. Schließlich w i r d es zum Synonym für Bestreiten, Revolution, Zwist und Widerstand. Diese A r t Mißbrauch führt nurmehr dazu, manche Sätze aus bekannten Werken völlig unverständlich zu machen; so zum Beispiel, wenn Sartre sagt: „Man mußte zahlreiche, unzweideutige Beweise geben, und ein musterhaftes Leben führen, um sich i m X I X . Jahrhundert i n den Augen des Bürgers von der Sünde des Schreibens zu reinigen; denn die Literatur ist ihrem Wesen nach Häresie 7 ." Demgegenüber scheint der Gebrauch des Wortes i m Bereich der Ästhet i k begründeter: so zum Beispiel, um eine Entartung oder eine Entstellung des guten Geschmacks zu bezeichnen. Das ist der Fall, wenn zu einer bestimmten Zeit Regeln des Schönen festgesetzt werden — abgesehen davon, ob man dieses Schöne harmonisch oder gegensätzlich bestimmt —, wenn ein bestimmter Stil fast unbestritten herrscht oder wenn eine Gattungsform — Sonett, Fuge usw. — sich strengen und festen Regeln fügen muß oder ein bestimmtes Instrument verlangt. Allenfalls kann man es auch auf alle von fast allgemein anerkannten Regeln regierten 7 Situations I I , S. 281. Zunächst ist der von Sartre ausgedrückte Gedanke historisch falsch, oder zumindestens sind die Beispiele, die i h n widerlegen, ebenso zahlreich wie die, die i h n bestätigen, u n d dies sowohl i n Frankreich wie i m Ausland. V o r allem aber aus der L i t e r a t u r ihrem Wesen nach eine Häresie machen heißt so gut das Wesen der L i t e r a t u r wie der Häresie verkennen.

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Gebiete anwenden, ohne daß man die Gefahr allzu großer Verwirrung liefe: so zum Beispiel auf dem Gebiet der Gastronomie in einer von einer strengen Etikette regierten Welt (es ist eine Häresie, roten Wein zu Fisch einzuschenken). A u f politischem Gebiet indessen w i r d die unbestimmte, diffuse Bedeutung des Wortes Häresie am häufigsten und zweifelsohne am passendsten gebraucht, dank der Verwandtschaft von Politik und Religion. I n beiden Fällen sieht man sich einer bestimmten Macht, Regeln (Gesetzen oder Dogmen), die Allgemeingültigkeit innerhalb bestimmter Gruppen beanspruchen, konkurrierenden Meinungen, insbesondere aber Anhängern, Adepten, Partisanen und Mitkämpfern gegenübergestellt. Entscheidender noch ist das Auftreten einer ideologischen Politik mit totalitärem Charakter in der modernen Welt. Diesen Aspekt des Problems möchten w i r nun genauer betrachten. Eine erste Feststellung kann dem Leser von Werken kommunistischer Theoretiker nicht entgehen: der Gebrauch nämlich, den sie von in der Regel dem Wortschatz der Häresie entnommenen theologischen Ausdrücken machen, um die Stellungen ihrer Gegner zu bekämpfen. Es sei hier nur an einige typische, weltbekannte Beispiele erinnert: so an die „Deutsche Ideologie" von Marx und Engels, die sich gegen den hl. Bruno, den hl. Max und gegen das Leipziger Konzil richtet. Lenin hat eine Broschüre gegen den „Renegaten Kautsky" geschrieben. Ein Politologe, der in der kommunistischen Literatur (vor allem der polemischen) alle Wörter heraussuchen würde, die direkt der Theologie entlehnt sind oder deren Sinn ursprünglich religiös war, hätte Gelegenheit, ein vielsagendes Lexikon zu verfassen. Die auffallendsten Übereinstimmungen m i t der Häresie sind i n der Praxis der ideologischen Politik anzutreffen. Erstens ist die Ideologie auch ein Aspekt der Doxologie, eine Meinung, die auf dem Glauben beruht, und zwar i n der Form eines ausschließlichen Glaubens an einen allgemeinen Endzweck. Zwar stellt sie trügerisch Anspruch auf den Titel einer Wissenschaft, wie die Theologie, doch ist sie nur ein Produkt der modernen Rationalisierung, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die Überzeugungen und die verschiedenen modernen Typen des Glaubens versuchen, sich eine wissenschaftliche Grundlage zu geben. Trotzdem bleiben die Ideologien Ausdruck des Glaubens, weil die Wissenschaft es nicht vermag, mit den ihr eigenen Mitteln irgendein Ideal, irgendein Endziel oder irgendeinen utopischen Vorgriff als wahr zu erweisen. M i t anderen Worten, auch der rationalisierte Glaube bleibt Glaube. Folglich kann man i n der Ideologie die üblichen Merkmale jeder Doxologie wiederfinden: sie ist spekulativer Art, weil sie unabhängig von den relativen Bedingungen der Erfahrung ein Ziel unter anderen und oft gegen andere bevorzugt; zum Beispiel eine Rasse, eine Klasse, ein Regime, eine Idee (Gleichheit, Freiheit) usw. Die empirische Analyse lehrt uns dagegen, 31 Festschrift für Carl Schmitt

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daß die möglichen Endziele vielfach und i n der Regel antagonistisch sind, derart, daß es Unvereinbarkeit zwischen dem Willen, Gleichheit zu schaffen, und dem Wunsche nach Freiheit und Gerechtigkeit geben kann. A l l e i n der Glaube kann einem Ziel anderen gegenüber den Vorrang geben. Es ist klar, daß unter solchen Umständen die Ideologie nichts Apodiktisches hat, sondern daß auch sie eine Anschauung rein assertorischer Natur ist, das heißt keine wahre Anschauung, sondern eine sich als solche allein dank der Zustimmung von Anhängern und Partisanen setzende Anschauung ist. Diese Exklusivität eines Endziels ruft die jedem Glauben anhaftende Intoleranz hervor. I n dem Maße also, i n dem die Ideologie Anspruch auf ein universales Endziel erhebt, strebt sie danach, eine Orthodoxie, eine offizielle Ansicht durchzusetzen, sie bekämpft die rivalisierenden Meinungen und lehnt als heterodox alle konkurrierenden Ordnungen ab. Ebensowenig wie der Katholizismus den Islam oder das Judentum als Häresie betrachtet, ebensowenig beschuldigt die marxistische Ideologie den Kapitalismus oder den Imperialismus der Abweichung, sondern einzig und allein die kommunistischen Regime oder Theoretiker, die die Texte von Marx anders interpretieren oder die einen von der offiziellen Politik, wie die einer Internationale zum Beispiel, abweichenden Kurs einschlagen wollen. Daß der Kapitalismus keine Häresie für den Marxismus sein kann, erklärt sich dadurch, daß er eine notwendige historische Epoche ist, die es zu überwinden gilt. Ohne Bürgertum weder Proletariat noch kommunistische Revolution. Genauer gesagt, der Weg über die kapitalistische Demokratie ist eine unentbehrliche Voraussetzung für die Erreichung des sozialistischen Bewußtseins und die Möglichkeit, das ihm entsprechende Regime zu errichten, so daß der I r r t u m eben darin besteht, sich diese historisch notwendige Zwischenstufe ersparen zu wollen 8 . Allein ein Sozialist, der sich auf den Marxismus beruft — die utopischen wie die anarchistischen Sozialisten sind ausgenommen —, kann der Abweichung beschuldigt werden. Das war zuerst der Fall Bernsteins und seiner Gruppe i n den Augen der Führer der II. Internationale, dann der Kautskys i n den Augen Lenins und der Führer der I I I . Internationale und endlich der Zinovievs, Kamenev, Bucharins i n den Augen Stalins. So wie der Häretiker für den Katholizismus der innere und der Ungläubige der äußere Feind ist, so ist der Abweichler ein innerer Feind i m Gegensatz zu den Kapitalisten. 8 Engels schreibt zum Beispiel i n „Soziales aus Rußland" (1875), einer A r beit, die er auf M a r x ' Ersuchen verfaßt hat: „ E i n Mann, der sagen kann, daß diese Revolution i n einem Lande leichter durchzuführen sei, w e i l dasselbe zwar kein Proletariat, aber auch keine Bourgeoisie besitze, beweist damit nur, daß er v o m Sozialismus noch das A B C zu lernen hat." Bekanntlich ist Lenin dieser Auffassung bis zum Kriege 1914—18 treu geblieben, i m Gegensatz zu Trotzki, der wegen seiner Erlebnisse während der Revolution von 1905 den unmittelbaren Übergang zum Sozialismus für möglich hielt.

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Was w i r f t man dem Abweichler vor? Je nach den Umständen beschuldigt man ihn, entweder die Reaktion oder den Kapitalismus zu begünstigen oder Revisionismus zu treiben. Hinter diesen Andeutungen, die eher der Propaganda angehören, steckt der Hauptvorwurf : der Abweichler bricht die monolithische Einheit der Lehre, er gibt sich der Spaltertätigkeit hin. Wie der Häretiker stellt er der offiziellen Philosophie eine persönliche Interpretation entgegen und schneidet sich von der Massenüberzeugung ab, deren scheinbare Einstimmigkeit für jede Ideologie grundlegende Bedeutung hat. I n der Tat ist diese ihrer Natur nach kein individuelles Urteil, sondern sie besteht aus einer gemeinsamen Vorstellung, die auf der Zukunft einer Gruppe, einer Nation, einer Rasse oder einer Klasse gründet. Folglich muß jede Deutung, die Anspruch auf Unabhängigkeit erhebt, heterodox und häretisch erscheinen. Was versteht Lenin unter der „theoretischen Erziehung"? Gewiß nicht die Freiheit zur kritischen Untersuchung der Grundsätze und Gültigkeit des Marxismus, denn dessen endgültige Wahrheit steht außer Zweifel, sondern die Entschlossenheit des Anhängers, sich von der ausschließlichen Wahrheit dieser Philosophie überzeugen zu lassen, das Nachdenken über die den Umständen am besten angepaßte Taktik, um deren Ziele konkret zu verwirklichen. Aus der einfachen Tatsache, daß die Ideologie eine Massenmeinung ist, muß sie auf Grund ihrer internen Logik jede erneuerte Infragestellung ihrer Grundsätze und Normen als Irrtum, Häresie verurteilen. Und i n dem Maße, i n dem sie als totalisierende Idee Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, sieht sie sich dazu genötigt, jeden unabhängigen Gedanken, jede kritische Freiheit, besonders von Seiten eines Kommunisten, zu verwerfen. Man muß sogar alles daransetzen, um sie i m Keime zu ersticken. Es ist leicht zu verstehen, daß der Kampf gegen die Abweichler und die Mittel, die gebraucht werden, um sie zum Schweigen zu bringen, den i m Falle der Häresie angewandten Mitteln ähnlich sind. Je nach den Umständen schließt man den Schuldigen aus der Partei aus, oder man zwingt ihn zum inneren oder äußeren Exil, oder man hängt ihm einen Prozeß an mit darauf folgender Verurteilung und Hinrichtung, nicht ohne jedoch zuvor, wie zur Zeit der Inquisition, eine Selbstkritik, das heißt einen möglichst öffentlichen Widerruf seiner Irrtümer erlangt zu haben. Oder aber, man stellt sich, wenn der Monolith der Lehre brüchig w i r d und eine einstimmige Verurteilung nicht zu erwarten ist, geduldig und nimmt Zuflucht zu Warnungen und Ermahnungen, um den günstigsten Zeitpunkt für eine Exkommunikation abzuwarten. Es scheint überflüssig, diese Handlungsweisen durch Beispiele aus der Stalinzeit oder aus dem ideologischen Konflikt, der heute Sowjetrußland und die Volksrepublik China trennt, zu belegen. Es wäre nicht schwer, i m Rahmen der vergleichenden Analyse andere Analogien zwischen der bestimmten Bedeutung der Häresie i m religiö3·

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sen Sinne und ihrer diffusen Bedeutung i m politisch-ideologischen Sinne aufzuzeigen. Es wäre jedoch unzulässig, daraus zu folgern, daß die Begriffe der theologischen Häresie und der politischen Abweichung sich bis zur völligen Identifikation zur Deckung bringen ließen. Es gibt i n der Tat einige beachtenswerte Unterschiede. Zuerst, i m Gegensatz zur Kirche, ist die das Monopol der Interpretation innehabende Lehrgewalt i m Falle der Ideologien keineswegs streng definiert, da die juristische Institutionalisierung fehlt. Es ist möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich auf Grund der stalinistischen Erfahrung, daß dieses Monopol eines Tages ohne Widerspruch hingenommen werden könnte 9 . Bis jetzt bleibt auch die Zuständigkeit i n Sachen der Interpretation unbestimmt, denn man weiß nicht, ob sie dem Politbüro und dem Zentralkomitee der KPdSU oder dem Areopag der aus allen kommunistischen Parteien der Welt zu einer Internationale versammelten Parteichefs obliegt. Die sino-sowjetische Auseinandersetzung hat sogar unmittelbar zur Folge, daß sich die Chancen einer solchen Institution verringern, denn sie gibt den verschiedenen Parteien die Möglichkeit einer größeren Unabhängigkeit 1 0 . Kurz und gut, die kommunistische Organisation ist nicht ohne Schwächen. Der von ihr geführte Kampf ist ziemlich zusammenhanglos und die Orthodoxie bleibt unsicher, das heißt, ihr Dogmatismus ist eher Schein als Wirklichkeit, eher leidenschaftlich als doktrinär. Das ideologische Durcheinander schadet der rigorosen Anwendung. Der zweite Unterschied, der den ersten i m übrigen zum Teil erklärt, rührt daher, daß die ideologische Abweichung ihrer Natur nach politisch ist und daß die Häresie dagegen wesentlich religiös ist. Das bedeutet, daß man trotz aller feststellbaren Übereinstimmungen den Wesensunterschied zwischen Politik und Religion nicht aufheben kann. Zwar konnte die Kirche örtlich und aus historischen Zufällen weltliche Macht werden und sich früher i n den katholischen Ländern auf die weltliche Macht stützen, um ihre Urteile vollstrecken zu lassen. Es ist auch nicht zu leugnen, daß auf Grund eines latenten Klerikalismus, der ihr weiter anhaftet, obwohl er sich heutzutage auf indirektere Weise ausdrückt, die Kirche darauf hinzielt, mehr oder weniger unmittelbar die weltliche Macht zu 9

M a n darf nicht vergessen, daß einige Jahrhunderte vergangen sind, ehe es der katholischen Kirche gelang, i h r Monopol zu institutionalisieren, das erst während des Mittelalters zur W i r k u n g kam. Höchstwahrscheinlich haben die arianische Krise und der Einfluß von Athanasius zu ihrer Beschleunigung am meisten beigetragen; man kann ζ. B. i m „Gleichnis des hl. Athanasius" folgendes lesen: „ W e r erlöst werden w i l l , der muß sich vor allem zum katholischen Glauben bekennen", er muß i h n „vollständig und unberührt" bewahren. 10 I n der Tat w a r lange Zeit der Papst als Bischof Roms ein Staatschef m i t allen Vorrechten eines Souveräns über seine Untertanen, aber die Stellung beeinflußte theoretisch nicht seine A u t o r i t ä t als Oberhaupt der katholischen Kirche. Als solches besaß er eine geistliche Gerichtsbarkeit über alle Gläubigen ungeachtet ihrer politischen Zugehörigkeit! Der Begriff Papst setzt voraus, daß das Kirchenoberhaupt vor dem Staatsoberhaupt rangierte.

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beeinflussen. Darin liegt sogar etwas ganz Natürliches, weil trotz der logischen und begrifflichen Unterscheidung eine Dialektik oder wenigstens eine Wechselwirkung des Geistlichen auf das Weltliche unvermeidlich ist. Insofern als jedes besondere Wesen am Leben teilnimmt und eine Bedingung von dessen Entwicklung ist, kann es keinem gelingen, für sich allein i n völliger Unabhängigkeit von den anderen zu w i r ken. Trotz alledem stellt die Kirche ihrem besonderen Wesen nach eine geistliche Macht dar, die nicht unbedingt an ein bestimmtes Land gebunden ist; daher die Eigenart der Orientierung ihres Handelns, dessen Aufgabe, wie man sagt, ökumenischer A r t ist. Ihre Botschaft gilt dem Menschen als solchem und nicht bestimmten Gruppen, Nationen, Klassen oder Rassen, obwohl sie auf dem Gebiet konkreter Tätigkeit darauf Rücksicht zu nehmen hat. Die Ideologie dagegen ist politischen Wesens, und als solche ist ihr Handeln an ein bestimmtes Territorium, folglich an geographische, ethnische, soziale, kulturelle Eigenarten gebunden. Trotz ihres Anspruches auf Internationalismus bleibt sie von den politischen Partikularismen und den eigentümlichen Strukturen jedes Staates abhängig. Daher die Schwierigkeit, ein Interpretationsmonopol zu errichten. Ohne Krieg — eine Lösung, vor der Stalin zur Zeit des jugoslawischen Schismas zurückschrak — kann die ideologische Lehrgewalt ein zur eigenen Richtung fest entschlossenes Land nicht dazu zwingen, der sogenannten orthodoxen Interpretation treu zu bleiben. Denn trotz all ihrer Beteuerungen, eine geistliche Macht zu sein, bleibt die Ideologie wesentlich ein Instrument der weltlichen Macht. I n ihr gehen weltliche und geistliche Macht gleichsam ineinander über. I n der Kirche dagegen ist die geistliche Macht ursprünglich und vorwiegend. Sie bewahrt sich eine zumindest relative Autonomie, während i m Bereich der Ideologie die weltliche Macht vorherrschend ist: die Idee steht i m Dienste der materiellen Gewalt und trägt dazu bei, sie zu stärken. Die Häretiker und ihre Anhänger bleiben Minderheiten, deren Zahl m i t der Zeit abnimmt, es sei denn, sie fänden Unterstützung von Seiten der weltlichen Macht. Der abweichende Staat dagegen, auch wenn er von der ideologischen Gemeinschaft ausgeschlossen ist, bewahrt seine Eigenart und seine Macht als souveräner Staat. Aus all diesen Gründen und trotz der Ähnlichkeiten, die w i r erwähnt haben, ist die ideologische Abweichung keine einfache Verlängerung, kein Abklatsch, keine politische Wiederholung oder Parodie der Häresie. Sie besitzt eine eigene historische und begriffliche Bedeutung auf Grund der Wesensunterscheidung zwischen Politik und Religion. Weil es, i m Simmelschen Sinne 11 , ähnliche „Formen" gibt, kommt der Mensch dazu, unter ähnlichen Umständen ähnlich zu reagieren. Allein die Wesen mit 11 Simmel, G.: Soziologie, Leipzig 1908, S. 8—9 u n d Grundfragen der Soziologie, S. 28—29.

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ihren Voraussetzungen und ihrem Endziel bleiben sich durch alle Zeit gleich, die konkreten Handlungen dagegen, i n denen sie sich offenbaren, wechseln ständig mit Raum und Zeit und sind für jede Zeit und vielleicht für jede Generation ursprünglich und eigenartig. Die Entdeckung von Ähnlichkeiten i n den Ausdrucksformen verschiedener Wesen bedeutet also nicht, daß die Geschichte sich wiederholt, obwohl nicht, was ihre Entwicklung anbelangt, von Fortschritt die Rede sein kann. Die Geschehnisse bleiben ungewiß und gehorchen nicht einem inneren Gesetz, das ihnen allen gemeinsam wäre. Daraus folgt, daß die Ähnlichkeit i n den Formen wie i n den Strukturen keineswegs eine Ähnlichkeit auf dem Gebiet der Bedeutungen miteinbezieht. Dies möchten w i r nun eingehend betrachten, nachdem w i r die Übereinstimmung zwischen der bestimmten und der unbestimmten Bedeutung des Begriffes der Häresie geschildert haben. Opportet haereses esse! Diese Formel vom hl. Paulus ist immer wieder von der christlichen Apologetik gebraucht worden; zuerst von Tertullian. Es ist unleugbar, daß das Bestreiten eines Glaubensartikels Anlaß sein kann, dessen Bedeutung zu ergründen und die Orthodoxie rigoroser zu präzisieren. I n diesem Sinne haben die Häresien trotz ihrer Negativität i n den Augen des Christen eine positive Wirkung für die Theologie gehabt. W i r wollen uns jedoch nicht auf Feinheiten der Apologetik einlassen, denn sie ist sozusagen eine Lückenbüßerin der Geschichte, indem sie es den Gläubigen ermöglicht, sich i n Ereignissen zurecht zu finden, denen gegenüber sie machtlos sind und die sie i m Glauben schwanken lassen könnten. Hier geht uns vor allem ihre Bedeutung für die Sozialphilosophie an. Die Häresien wie die Schismen haben auf entscheidende A r t und Weise auf das Schicksal Europas gewirkt und haben es ebenso stark geformt wie die politischen, wirtschaftlichen und ästhetischen Gedanken. Durch die Kolonisation, die Eroberung Amerikas, das Entsenden von Missionaren und dank der Zuflucht, die viele europäische Sekten i n den Vereinigten Staaten gefunden haben, haben sie auch die Entwicklung der anderen Erdteile beeinflußt. Beschränken w i r uns auf Europa, wo sich die Religionssoziologie i n ihren Forschungen i n dreierlei Richtung orientieren kann: (a) Dieser Kontinent hat sich i m Laufe der Jahrhunderte entzweit, und zwar aus religiösen Gründen, nachdem seit dem 15. und 16. Jahrhundert die Einheit des Glaubens durch die Hussiten, die Lutheraner, die Calvinisten oder die Wiedertäufer zerstört worden war, deren Erfolge meistens auf die politische Geographie zurückwirkten: Nordeuropa ist vorwiegend protestantisch geworden, Südeuropa ist katholisch geblieben. Der Kampf für oder gegen die Häresie hat auch manchen Ländern eine andere Struktur verliehen. Nehmen w i r das Beispiel Deutschlands, i n der Vielfalt seiner Erscheinungen als Folge seiner Aufteilung in zahlreiche Terri-

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torien, die sich der Gründung eines deutschen Nationalstaates widersetzten. Wenn das deutsche Reich während des ganzen Mittelalters nach Süden orientiert war, so zog es sich u m das 16. Jahrhundert nach dem Sieg des Protestantismus auf sich selbst zurück, um dann später eher nach Osten zu streben. Zu gleicher Zeit und auf Grund des Zusammenlebens und der Rivalität beider Konfessionen, der katholischen und der protestantischen, stößt das Prinzip des Laizismus auf ungeheure Schwierigkeiten der Durchsetzung 12 . Wenn auch anderswo Häresien wie die der Waldenser zum Beispiel keine Spuren hinterlassen haben, so stellt man sich heutzutage immer mehr die Frage, ob die Lehre der Katharer i m südlichen Frankreich nicht doch tiefe Spuren zurückgelassen hat, obwohl diese Häresie auf indirekte A r t durch den Sieg der nördlichen Fürsten zur Verstärkung der französischen Einheit beigetragen hat. (b) Überall wo es den Häresien gelungen ist, Wurzel zu fassen, haben sie Geistesgewohnheiten hervorgerufen, die dem Sinn ihrer Reformen entsprechen. Ist zum Beispiel der Katholik mehr für rechtliche Strukturen und Autorität empfänglich, so legt der Protestant mehr wert auf die persönliche Disziplin und die Strenge des Benehmens. Es ist wohl zu erwarten, daß es den ökumenischen Versuchen, die sich jetzt u m die A n näherung der Kirchen bemühen, nicht gelingen w i r d — selbst wenn sie Übereinstimmungen auf dem Gebiet der Doktrin aufweisen können — diese Unterschiede verschwinden zu lassen, die zu Sitten und Gebräuchen geworden sind; denn nicht nur die persönliche Lebensart w i r d von ihnen geprägt, sondern auch das Leben der Gemeinschaft. Man stellt zum Beispiel fest, daß der Katholik meistens um so freier, gelassener und entspannter i m alltäglichen Leben ist, als er, was die Prinzipien angeht, sich auf festgesetzte und unveränderliche Dogmen stützten kann, während der Protestant sich um so genauere, strengere und puritanischere Regeln i m Alltagsleben auferlegt, als er sehr viel Gewicht auf die Freiheit der Auseinandersetzung und der Prüfung der Grundsätze des geistlichen Lebens legt. Es ist eine wohlbegründete Trivialität, auf der Ebene des Verhaltens der katholischen Ungezwungenheit die protestantische Strenge oder auf dem Gebiet des Denkens dem katholischen Starrsinn die protestantische Duldung entgegenzustellen. Die Vielheit der Sekten, die aus der Freiheit der Interpretation herrührt, bringt einen Sektierergeist auf der einen Seite hervor; die Strenge der Dogmen, die sich auf die Autorität einer Unfehlbarkeit beanspruchenden geistlichen Macht stützt, bringt eher einen dogmatischen Geist auf der anderen Seite hervor. Was das kollektive Leben betrifft, stellt man außerdem fest, daß i n West12 Es versteht sich von selbst, daß w i r i n dem Rahmen dieser Analyse die Frage nicht stellen, ob der Laizismus etwas Gutes oder Böses ist. Es ist eine Sache der persönlichen Ansicht u n d als solche achtenswert. F ü r die Soziologie ist der Laizismus nichts anderes als eine Erscheinung der Rationalisierung u n serer modernen Welt.

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europa — das Problem stellt sich anders in Osteuropa nach 1945 — die kommunistischen Parteien i n den überwiegend katholischen Ländern zahl- und einflußmäßig stärker als i n den nördlichen, überwiegend protestantischen Ländern sind. Man kann sich dazu manche Fragen stellen, die w i r jedoch i m Rahmen dieser Untersuchung nicht beantworten wollen: Soll man diese Macht beziehungsweise diese Schwäche der kommunistischen Organisationen auf die Tatsache zurückführen, daß der Protestant, seiner Pflichtauffassung entsprechend, jenen Normen des bürgerlichen Lebens treuer ist, die i h m gebieten, die bestehende Obrigkeit zu unterstützen, während der Katholik i n dieser Beziehung nicht so zuverlässig ist? Oder soll man glauben, daß es einem Katholiken und seiner dogmatischen Geistesveranlagung leichter fällt, sich zum Kommunismus zu bekehren, dessen Tendenzen ebenfalls, wie w i r es schon vorher gesehen haben, dogmatisch sind, während der dem kritischen Geist mehr zugewandte Protestant sich mit einem ideologischen Monopol nicht abzufinden weiß. Es handelt sich hier u m reine Hypothesen, die keineswegs ausschließen, daß die religiöse Soziologie bessere Erklärungen finden könnte. (c) Schließlich haben die Häresien unmittelbar oder mittelbar die politischen oder wirtschaftlichen Strukturen beeinflußt. Max Weber hat bekanntlich gezeigt, daß es i n mancher Beziehung eine gewisse Abhängigkeit zwischen dem Aufschwung des Kapitalismus und den religiösen Überzeugungen der Puritaner gibt. Andrerseits hat Carl Schmitt gezeigt, wie die Bedingungen, die i m 16. Jahrhundert ein Ende der Religionskriege ermöglicht hatten, zu der Einführung einer neuen Auffassung der politischen Einheit, nämlich der des Staates geführt haben. Außer den Werken dieser beiden Autoren könnte man noch andere nennen, die, obwohl sie das Problem unter völlig anderen Gesichtspunkten betrachten, auch zu ähnlichen Schlußfolgerungen kommen. Dies ist jedoch nicht der Ort, detaillierter zu untersuchen, inwieweit die Lehre der Hussiten zum Beispiel eine der Quellen des Nationalismus oder inwiefern der Anglikanismus eine Insularreligion ist. Obwohl die Häresie grundsätzlich doktrinärer und spekulativer A r t ist, kommt es häufig vor, daß sie als Ausdruck einer bestimmten sozialen Lage verstanden worden ist oder soziale Bewegungen herbeigeführt hat. I m Gegensatz jedoch zu der scholastischen Interpretation bestimmter Marxisten ist diese Beziehung nicht i n allen Fällen unvermeidlich oder wesentlich gewesen, gleich ob der bestimmte oder der diffuse Sinn der Häresie gemeint ist. Man kann zwar Wechselbeziehungen zwischen jeder geistigen Bewegung und ihrem sozialen Kontext feststellen; das bedeutet aber keineswegs, daß die Rolle der letzteren immer und letztlich bestimmend ist. Es ist ein Zeichen unwissenschaftlichen Geistes und dogmatischer Neigung, eine so einseitige Ansicht zu vertreten. Denn sie

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nähert sich ihrem Gegenstand m i t dem Apriori der ausschließlichen Gültigkeit einer bestimmten Methode. I n der Wissenschaft ist aber das methodologische Apriori ebenso schädlich wie jedes andere Apriori. Aus rein doktrinären Gründen ist Tertullian zum Montanismus übergegangen, hat Béranger von Tours seinen theologischen Kampf gekämpft. Selbst dort, wo der Einfluß der sozialen Bedingungen nicht zu leugnen ist, fehlt viel daran, daß er immer wesentlich wäre oder daß er das einzig bestimmende Motiv ausmache. Zwar richtete sich der Protest Luthers ursprünglich gegen das Ablaßsystem und dessen soziale Folgen, und sein Handeln hatte später tiefe Nachwirkungen auf die Gesellschaft seiner Zeit; nichtsdestoweniger hat er als Theologe argumentiert und sich aus theologischen Gründen von der Kirche getrennt. Indem man seine tiefe, deutlich ausgedrückte und begründete Absicht hinter rein sozialen Bestimmungen zu verbergen versucht, entstellt man seine Handlung unter dem Vorwand, sie zu erklären. Aus welchem wissenschaftlichen Grund darf man diese A r t von Erklärungen bevorzugen? Sie einseitig anzunehmen heißt der Gegenseite Vorschub leisten, und wenn Luther selbst vorwiegend unter dem Druck des Glaubens gehandelt haben mag, so darf die Wissenschaft nicht ähnlich verfahren. Wissenschaftlich arbeiten heißt dagegen anerkennen, daß der Glaube Luthers bewußtes und entscheidendes Handlungsmotiv gewesen ist. Indem die Religionssoziologie dieser Tatsache bewußt bleibt, ist sie unendlich mehr imstande, die soziale Bedeutung der Häresien zu begreifen: sei es, daß sie von manchen Herrschern zur Erweiterung ihrer Macht oder zur Beseitigung einer religiösen Vormundschaft oder zur Unterstützung ihrer politischen Absichten gebraucht worden sind; sei es, daß sie eine Quelle von Reichtümern für manche Fürsten gewesen sind, die sich der Güter der Häretiker bemächtigt haben oder, umgekehrt, selbst Häretiker wurden und sich der Güter der bestehenden Geistlichkeit bemächtigten; sei es, daß sie wie manche andere Ideen danach gestrebt haben, durch die Zusammenfügung der geistlichen und der weltlichen Macht eine neue A r t von „Kratie" zu werden. M i t anderen Worten, die Häresie läßt sich genauso leicht wie die Orthodoxie manipulieren und i n dieser Hinsicht ist sie ebensowenig unschuldig wie diese, so rein die ursprüngliche Absicht der Urheber auch gewesen sein mag. Es gibt reine Religionen nur auf der Ebene des Begriffes, denn jeder religiöse Gedanke, häretisch oder nicht, kompromittiert sich je nach Epochen und Lage i n der Wirklichkeit m i t der Politik, der Wirtschaft oder m i t anderen Forderungen keineswegs religiöser Art. Allgemein gesprochen: insoweit als jede religiöse Gesellschaft notwendig einen Aspekt und sogar ein Element der gesamten Gesellschaft bildet, arbeitet die Häresie, wie die Orthodoxie, neben der rein religiösen Lehre eine soziale und politische Lehre aus, die sich mit ihrer Zeit entwickeln kann und sich von einer

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Epoche zur anderen i n ihren konkreten und historischen Äußerungen widersprechen kann. Wie es aus den neuesten Enzykliken und den letzten Geschehnissen i n Fernost und i n Amerika hervorgeht, haben die Sekten eine Vorstellung vom Frieden, aber auch von der Wirtschaft, ohne daß es immer leicht wäre, zwischen Ehrlichkeit, Opportunismus und klerikaler Demagogie zu unterscheiden. Ebenso schwierig ist es, zwischen dem öffentlich betonten religiösen Element und dem verheimlichten politischen Element die Grenze zu ziehen. Neben solchen Problemen, die direkt für die Religionssoziologie von Interesse sind, w i r f t die Häresie andere auf, die sich an der Grenze zur allgemeinen Soziologie und Philosophie befinden. Die Fortdauer der Häresien durch alle Jahrhunderte und die Erscheinung von Abweichungen und Revisionismen zeugen dafür, daß es der Gesellschaft nicht möglich ist, der ganzen Welt eine Orthodoxie vorzuschreiben, so geschlossen diese Gesellschft auch sein mag und was auch immer die Sicherungen sind, womit sie sich gegen jede äußere Ansteckungsgefahr schützt. Es gibt übrigens keine Gesellschaft, und sei sie die beste, die nicht aus religiösen, moralischen und ideologischen Gründen bereits i n Frage gestellt ist oder i n Frage gestellt werden kann. Es gelingt auch keiner, das Wettstreiten der Ideen endgültig zu schlichten oder auf die Dauer den Protesten und den Forderungen stand zu halten. Gegen die öffentliche Meinung gibt es keine absolute Schranke und kein Schutzmittel. Wenn überdies eine Gesellschaft, die glaubt, auf einem sogenannten allgemeingültigen Prinzip zu gründen, die Häretiker ausschließt oder verurteilt, so erkennt sie damit die Schwäche ihrer Orthodoxie oder ihrer Ideologie an. Die Häresie stellt letzten Endes den Begriff der Universalität i n Frage. Die Politik ist ein universelles Phänomen, weil es keine Gesellschaft auf der Welt gibt, die nicht, sei es auch nur sehr primitiv, als politische Gemeinschaft eingerichtet ist. Die Demokratie oder die Tyrannei, beides Regime, die sich als solche auf eine Meinung über den adäquatesten Gebrauch der Macht stützen, haben nichts Universelles an sich, obwohl sie gegebenenfalls Anspruch darauf erheben. Daher rühren zwei Modalitäten des Universellen, die eine ist tatsächlicher A r t , das heißt sie ist soziologisch oder phänomenologisch, die andere ist intentional, das heißt theologisch oder ideologisch. Die Wesen allein sind universell i m ersten Sinne, da es keine menschliche Gesellschaft ohne religiöse, wirtschaftliche, künstlerische oder politische Beziehungen gibt. Die Ideen dagegen, die Regime, die Stile, die Systeme oder die Typen vermögen nichts anderes als nach dem Universellen zu streben. Und das t r i f f t für jede Orthodoxie und jede Ideologie zu. Hier noch ein Beispiel: die Religion ist ein universelles Phänomen, der Katholizismus als Glaubenstypus ist es nicht. Er ist es nur der Intention, dem Wunsch oder der Absicht nach. Worin besteht der Unterschied zwischen diesen beiden? Darin, daß der

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Politik keine andere Alternative offensteht als die Politik selbst; es gibt nicht zwei verschiedene Wesensformen dieser Tätigkeit, ebensowenig wie der Wirtschaft oder der Wissenschaft. Gäbe es zum Beispiel zwei verschiedene Wesensformen der Wissenschaft, so würde die eine notwendig der anderen widersprechen, so daß eine von beiden notwendig eine falsche Wissenschaft wäre. Wo es aber eine Idee, ein Regime, einen Stil gibt, sind andere ebenso gültige möglich. A l l diese Begriffe bestehen i m Plural, daher ihr Wettstreit und ihr Antagonismus 13 . Der Katholizismus ist also nicht die universelle Religion, obwohl er Anspruch darauf erhebt. Er ist es nur, weil er es behauptet, weil die Gläubigen es ihm glauben und weil manche unter seinen Gegnern es annehmen. Genauso ist es mit der sogenannten Universalität des Marxismus. Andere Religionen und Philosophien dürften aus ebenso guten Gründen den Platz fordern; aber dieser Platz ist besetzt und es ist schwer, ihn zu erobern. Die Idee nämlich, der es als erste gelingt, auf irgendeinem Gebiet sich mit der Zustimmung der großen Masse als Vertreterin der Universalität zu behaupten, verfügt in demselben Augenblick über einen unermeßlichen, geistigen und materiellen Vorteil, weil sie die rivalisierenden Ideen zur Unterlegenheit zwingt, da diese sich dazu genötigt sehen, vorher den bestehenden Mythos der Universalität zu zerstören, bevor sie ihn durch ihren eigenen ersetzen können. Alles i n allem w i r d eine Idee universell nur durch Autorität und Glauben; sie ist also immer eine Usurpation. Sie ist es also nicht, weil sie universell wahr ist und als solche bewiesen wäre, sondern einzig und allein, weil es ihr gelungen ist, sich offiziell als solche anerkennen zu lassen. Was hier unter universell verstanden ist, ist letzten Endes nur die Interpretation, die zu akzeptieren eine Lehrgewalt ihre Gläubigen hat veranlassen können, und zwar dank eines Monopols, das sie als einzig legitim und i m Bereich ihrer Autorität allein die Wahrheit innehabend anerkannt sein läßt. I m Grenzfall kann es der Lehrgewalt sogar gelingen, ihre Idee für den Begriff gelten zu lassen. Das t r i f f t zum Beispiel für die Idee des Friedens zu, die durch die Enzyklika „Pacem i n terris" definiert, für viele Christen zur Theorie des Friedens, und zwar des einzig möglichen Friedens, geworden ist, obwohl sie wegen ihrer schwachen logischen Ausarbeitung politisch unbrauchbar 13 Es wäre hier angebracht, den Unterschied zwischen Begriff u n d Idee kurz zu erwähnen. Wenn es keine universelle Idee gibt, so gibt es doch einen Begriff des Universellen wie jedes anderen. Der Begriff besteht i n einer logischen u n d inneren, manchmal rationalisierenden Ausarbeitung der eigentlichen Bedeutung irgendeiner beliebigen Vorstellung. M a n braucht kein Anhänger der demokratischen Idee oder des demokratischen Regimes zu sein, u m dessen Begriff logisch ausarbeiten zu können. M i t anderen Worten, eine Idee beruht auf einer Behauptung oder Verneinung, sie setzt eine Zustimmung voraus, was i m Falle des Begriffs nicht i n Frage kommt. E r ist sozusagen neutral. Die Verwechslung zwischen Begriff u n d Idee gehört zu den schädlichsten i n der Philosophie, denn sie f ü h r t zu zahlreichen Mißverständnissen u n d unnützen u n d ergebnislosen Erörterungen.

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ist 1 4 . Der politische Friede w i r d durch Einschließung und nicht durch Ausschließung des Feindes oder der Meinungsverschiedenheiten möglich. I n dem Maße, i n dem man meint, daß der Friede nunmehr nur noch eine Sache von internationalen Institutionalisierungen sei, verzichtet man auf die Anerkennung des Feindes, das heißt, daß man so das Wesentliche ausschließt und die Feindseligkeit statt zu vermindern begünstigt. Von diesem Standpunkt aus sind manche heutigen Friedenserklärungen implizite nichts anderes als Kriegserklärungen oder wenigstens Hindernisse zur Herstellung des Friedens. Es geht hier darum zu verstehen, daß der Friede ein Aspekt des politischen Kampfes und kein Zustand ist, den man durch eine ausschließende Idee bestimmen könnte. Er ist ein Gleichgewicht, eine Eintracht zwischen Ideen, ein Zustand, den der Krieg zerbricht. Ein träger Geist beharrt darauf, die Ursachen der Kriege kennenzulernen, dabei halten die Einen die wirtschaftlichen, die Anderen die religiösen oder politischen Gründe für vorwiegend. I n der Tat hängt der Krieg genauso wie der Friede vom Willen ab; beide sind Ausdrücke der Macht, also der Autorität und des Glaubens. Der Zynismus besteht darin, die Menschen zu betrügen, indem man sich unter der Maske der Großherzigkeit verbirgt. Der Krieg drückt den Hegemonialwillen i m Dienste einer Idee aus, die entweder Anspruch auf die Universalität erhebt oder von anderen rivalisierenden Ideen bekämpft wird. M i t anderen Worten: die Vielheit und die Rivalität der Ideen, das heißt des Glaubens, enthält die Ansätze des Krieges. Es w i r d keine kriegerischen Beziehungen zwischen den Menschen mehr geben, wenn sie nicht mehr glauben werden. A n diesem Tag aber w i r d nicht der Friede herrschen, sondern der Tod, das Ende allen Lebens. Die Universalität einer Idee, eines Regimes, eines Stils, eines Systems ist also nicht vorgegeben, sondern sie ist die Behauptung einer aufgestellten oder auferlegten Autorität. Dieses philosophische Grundproblem w i r d durch die Häresie i n volles Licht gerückt, da diese letzten Endes die Frage stellt: aus welchem Recht darf eine Autorität sich als universell erklären und das Monopol der Interpretation an sich reißen? I m Namen welcher Norm kann sie es, wenn nicht ihrer eigenen Macht? Diese Frage ist zu erforschen, um den letzten Grund einer Orthodoxie, sei er religiös, ideologisch oder was auch immer, zu erfassen. Sie führt uns zu den Geheimnissen der Souveränität, wo allein der Glaube Richter ist. Nicht, daß die Häresie für uns das Geheimnis der 14 Diese K r i t i k gilt ebenso da, wo man daran glaubt, daß der politische Friede notwendigerweise auf religiösen oder, i m verweltlichten Sinne des Wortes, auf humanitären Grundsätzen beruhen müsse. Der Friede nämlich, den die meisten Religionen entwerfen, ist eher philanthropisch als politisch, er gehört mehr zum Gefühl, zum Glauben, zur Hoffnung als zu der Wirklichkeit der menschlichen u n d konfliktgeladenen Mannigfaltigkeit menschlicher Beziehungen. Der Friede Christi ist nicht politisch, die Kirche versteht i h n jedoch unter diesem Aspekt, wenn sie glauben macht, daß die Lösung der Probleme i n der Internationalisierung zu finden sei.

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Autorität lüften könne, sie läßt uns allein begreifen, daß diese nicht zu rechtfertigen ist. Die Autorität der Vernunft ist gleicher A r t : auch sie beruht auf dem Glauben, denn sie kann von sich selbst keine Rechenschaft geben. Die Tragik der Häresien liegt darin, daß sie auf diese Glaubensfragen nur antworten können, indem sie ihnen einen anderen Glauben entgegensetzen, das heißt, indem sie dem Glauben m i t Glauben antworten. Nicht die Vernunft ist göttlich, sondern die Willkür. Keine Idee ist endgültig wahr, keine Gesellschaft ist endgültig fest organisiert, die Geschichte ist unsere Ewigkeit. Nicht die Wissenschaft kann den Glauben bekämpfen, sondern allein ein anderer Glaube. Darin liegt der Sinn der Häresie. So großartig die Fortschritte des Wissens zukünftig auch sein mögen, so werden sie doch das Gewicht der Autorität um nichts verringern oder sie etwa überflüssig machen. Sie ist und bleibt notwendig, und nichts kann sie ersetzen. Es geht allein darum, sie daran zu hindern, w i l d und grausam zu werden. Und sie w i r d es ,wenn sie den Pluralismus der Ideen, der Regime und der Meinungen ausschließt. Sie kann zwar selbst ihrem Begriff nach und dank ihrer inneren Logik nicht pluralistisch werden, ohne dabei zu entarten, da sie Glauben und Entschluß zur Grundlage hat. Aber sie entartet zu Barbarei und Gewalttätigkeit, wenn sie den äußeren Pluralismus der Wesen und der Meinungen verneinen will, wenn sie zum Beispiel der Vorherrschaft der Politik die Kunst, die Wissenschaft, die Wirtschaft und die Moral zu unterwerfen versucht oder wenn sie i m Namen einer Orthodoxie alle möglichen menschlichen Beziehungen und Tätigkeiten einer ausschließenden Ideologie zu unterwerfen versucht. I n dieser Hinsicht ist die Häresie unter jeder beliebigen Form heilsam. Sie behauptet die Freiheit des Geistes gegen die Übergriffe der Autorität. Es wäre ein Irrtum, Häresie und Revolution zu identifizieren oder zu glauben, daß die Häresie revolutionär wäre. Historisch ist diese Verwechselung nicht haltbar. Sie wäre sogar sinnwidrig, deshalb haben w i r schon darauf aufmerksam gemacht, daß trotz vieler Ähnlichkeiten die religiöse und die ideologische Orthodoxie — i n dem Maße, wie diese letztere sich heutzutage als revolutionär behauptet — in ihren sozialen Bedeutungen voneinander abweichen. Die Häresie ist ein Bestreiten innerhalb der Gesellschaften, die von einer Orthodoxie oder von dem Monopol der Deutung beherrscht werden. I n diesem Sinne stellt sie die Forderung des Pluralismus, des Individualismus und der Toleranz der W i l l k ü r der Autorität gegenüber dar. Revolution dagegen, wenigstens i n ihrer heutigen Erscheinungsform, ist das Verneinen der liberalen Gesellschaften, in denen der Pluralismus und die Bequemlichkeit der Toleranz die normale Ausübung der Autorität verhindern. Es ist kein Zufall, wenn die Revolutionen den Sturz von unentschlossenen, erschütter-

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ten, verbrauchten, durch Absterben untergrabenen, u m ihre Zukunft besorgten Gewalten verursacht haben, u m sie durch eine entschlossene, feste, durch neues Vertrauen belebte Autorität zu ersetzen 15 . Die Bedeutung der Häresie ist also der der Revolution entgegengesetzt; die eine ist liberalisierend, die andere ist antiliberal. Die Verwechselung geht auf die Vorstellung der Freiheit zurück, die der Revolutionär zu anderen Zwecken als sie selbst gebraucht. Man darf den Begriff der Freiheit nicht m i t den Ideen oder den Ideologien der Freiheit verwechseln. A u f dem Gebiet der Ideologie spielt das, was man Deviationismus oder Revisionismus nennt, eine ähnliche Rolle wie die Häresie auf religiösem Gebiet. I m Leben des Geistes ist die gegenseitige Herausforderung der Ideen ebenso unabdingbar wie der Pluralismus der einander i n unaufhebbaren Antagonismen entgegengesetzten Wesen, obwohl diese i n enge Beziehung zueinander treten, ohne freilich einander ersetzen zu können. Die Wahrheit w i r d niemals die Autorität, die Wissenschaft niemals den Glauben ersetzen, es sei denn, sie degradiere sich zu einer Orthodoxie. Die Einheit des Geistes ist nichts als ein Wort, die Idee ist Rivalin der Idee. Keine ist universell. Niemals w i r d die Hermeneutik eine Wissenschaft werden. Autorisierte Ubersetzung aus dem Französischen von Claire-Marie Hoock

is verstehen hier das Wort Revolution i n seinem eigentlichen, spezifischen Sinn, der nichts m i t den Staatsstreichen, Putschen u n d M i l i t ä r d i k t a t u r e n zu t u n hat, deren Ziel allein darin besteht, m i t anderen M i t t e l n ein gefährdetes oder ein zerbröckelndes Regime weiter aufrecht zu erhalten. Die russischen u n d chinesischen Revolutionen entsprechen der Vorstellung von Revolution, die hier gemeint ist.

Jacob Bernays und der Streit u m die Katharsis Von Karlfried Gründer, Münster

I. „Eine der räthselhaftesten Reliquien des Alterthumes" nannte Adolf Stahr 1839 i n den Hallischen Jahrbüchern

die Poetik des Aristoteles 1 ,

das fanden die Philologen seit jeher, das meinen sie i m Grunde heute noch: offensichtlich unvollständig, m i t nicht eingehaltenem Programm, nicht erfüllten Verweisungen 2 ; m i t einem Stil, der noch komprimierter scheint als bei Aristoteles sonst schon, mit reizvollen Textverderbnissen. „Es möchte wohl kaum ein Büchlein von so geringem Umfang aus dem classischen Alterthum zu uns herübergekommen sein, um welches eine so große Literatur sich gelagert hat wie um die Poetik des Aristoteles 3 ." Die „tumultuarische K r i t i k " um diesen „Torso" 4 ist nie zur Ruhe gekommen. Und was die Tragödiendefinition i m besonderen anlangt, so gilt das noch einmal gesteigert: „Es dürfte kaum eine Stelle von gleichgeringem Umfang i n der Weltliteratur gegeben haben, über die sich eine solche Flut von Schriften ergossen hat" 5 , „Tintenströme" 6 . „ ,Catharsis' has come . . . to the one of the biggest ob ,big' ideas i n the fields of aesthetics and criticism, the Mt. Everest or Kilimanjaro that looms on all horizons 7 ." I m Jahre 1927 stellten Lane Cooper und Alfred Gudeman eine Bibliographie zur Poetik des Aristoteles zusammen, die 1583 Nummern umfaßt 1

Adolf Stahr, Aristoteles u n d die Poetik, i n : Hall. Jbb. 1839, Sp. 1671. Poet. I, 1 ; Pol. V I I I , 6 u n d 7 ; dazu u. a. Leonhard Spengel, Über Aristoteles Poetik, Abh. d. A k . d. W. München 1836/37, S. 209 ff., bes. 221; E m i l Heitz, Die verlorenen Schriften des Aristoteles, Leipzig 1865, S. 87—103 sowie die meisten kritischen Ausgaben seither i n ihren Einleitungen; dazu auch: Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen i n ihrer geschichtlichen Entwicklung I I , 2: Aristoteles und die alten Peripatetiker, 2. Aufl., Tübingen 1862, S. 58 u. ö. Johannes Vahlen, Wo stand die verlorene Abhandlung des Aristoteles über W i r k u n g der Tragödie? (1874), Ges.philol. Schriften I, Leipzig 1911, S. 230—234. 3 Joseph Hubert Reinkens, Aristoteles über Kunst, besonders über Tragödie; exegetische u n d kritische Untersuchungen, Wien 1870, S. V. 4 Aristoteles Π Ε Ρ Ι Π Ο Ι Η Τ Ι Κ Η Σ m i t Einl., Text und adnot. crit., exegetischem Kommentar, k r i t . Anh., hrsg. von A l f r e d Gudeman, B e r l i n 1934, S. 1 f. 5 Ebd., S. 167. β M a x Pohlenz, Furcht u n d Mitleid? E i n Nachwort, i n : Hermes 84 (1956), S. 74. 7 Gerald F. Else, Aristotle's Poetics: The Argument, Leiden 1957, p. 443. 2

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und als Buch von 193 Seiten veröffentlicht wurde 8 ; 1931 gab es Nachträge dazu 9 ,1937 einen Bericht speziell über den Streit um die Katharsis 1 0 , 1954 einen neuen Sammelbericht 11 . 1959 heißt es i n einer Rezension: „Wer heute über das Problem der Katharsis arbeitet und bei Abschluß des Manuskripts die neueste Literatur berücksichtigt hat, muß damit rechnen, daß bei Erscheinen der Arbeit über die gleichen Fragen bereits mehrere Abhandlungen vorliegen 1 2 ." So geht es seit dem ersten Druck der Poetik, 1508, ohne Unterbrechung. I m 16. Jh. erschienen (meist kommentierte) Ausgaben i n den Jahren 1508, 1520, 1531 (2), 1537 (2), 1538, 1539, 1541 (2), 1542, 1546, 1548, 1550 (2), 1551, 1555, 1560, 1562, 1564, 1570, 1576, 1578, 1582,1584,1587,1590,159713. Gewiß gibt es i n der Philologie auch sonst manche sich lang und breit hinspinnende Diskussion — aber um so wenig Text so gehäuft? Und wenn einmal, was sachlich kaum angeht, von der Textkritik abgesehen werden soll: i n dieser i m einzelnen unübersehbar gewordenen Literatur macht sich eine eigentümliche Problem-Permanenz, ja -Resistenz geltend. Ob κάθαρσις των παθημάτων nun gen. subj., gen obj. oder gen. sep. sei — alle Lösungen sind schon i m 16. Jh. behauptet worden, und auch heute w i r d nur ein i n dieser Diskussion Engagierter sagen, sie sei entschieden. Alle Lösungen sind dutzendfach widerlegt und wiederaufgenommen worden. Daraus stammt ein weiteres Phänomen, das dieser Literatur zur Poetik des Aristoteles weitaus mehr als der Philologie überhaupt (der es natürlich nie gänzlich fehlt) eignet: immerfort w i r d zurückgegriffen, mitten i m 19. oder 20. Jh. diskutiert man über Konjekturen oder Deutungshypothesen aus dem 16 Jh., so daß von einem „Problemstand" kaum oder nur bedingt die Rede sein kann. Fast alle Autoren fühlen sich genötigt, ihrer eigenen Untersuchung Übersichten über die älteren voranzustellen und i n ihre eigenen Perspektiven zu rücken, zahlreiche Arbeiten beschränken sich überhaupt auf solche Übersichten. Daher wäre eine fortlaufende Deutungsgeschichte kaum möglich, eben weil die letzten immer noch mit den ersten und mit allen weiteren Vorgängern diskutieren 1 4 . 8 Lane Cooper and A l f r e d Gudeman, A Bibliography of the Poetics of A r i s totle, New Haven 1928 (im folg. zit.: „CG"). 9 B y M a r v i n T. Herrick , American Journal of Philology, 52 (1931), p. 168—174. 10 Duane W. Robertson , A Preliminary Survey of the Controversy of the Tragic Catharsis, Chapel H i l l , North-Carolina, 1937 (unpublished diss., cf. Else — s. o. Anm. 7 — p. 225). 11 Gerald F. Else , A Survey of Work on Aristotle's Poetics, 1940—1954, Classical Weekly 48 (1954—55), p. 73—82. 12 H e l l m u t Flashar über van Boekel, Katharsis (1957) (s. u. V I I ) , Gnomon 31 (1959), S. 210. 13 CG p. 1—6. 14 Den besten Einblick i n die ältere Deutungsgeschichte der arist. Poetik bietet M a x Kommerell, Lessing u n d Aristoteles, F r a n k f u r t / M a i n 1940, 21957 (s. u. V I I ) .

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Dazu kommt eine ungewöhnliche Tendenz zur Aktualisierung und Applikation. Von der französischen Klassik bis zu Brecht 1 5 haben sich Dramatiker und Dramaturgen kaum mehr erlaubt, an der aristotelischen Poetik vorbeizugehen, ja eine Reihe der wichtigsten Deutungsansätze stammt von ihnen, nicht von Philologen (sofern, wie zumal i n älterer Zeit, eine solche professionelle Scheidung nicht unstatthaft ist). Zur Poetik sagte nicht nur Scaliger, sondern auch Corneille etwas, nicht nur Bernays, sondern auch Gustav Freytag, und Corneille und Gustav Freytag — man verzeihe die Zusammenstellung — tun es i n bewußt praktischer Abzweckung, i m Sinne eines Beitrags zur Dramaturgie. Lessing ist der schärfste von diesen. Und das w i r k t zurück, auch die Philologen vom Fach können von dieser Applikation nicht abstrahieren. Vielleicht lassen sich, ohne Anspruch auf erschöpfende Interpretation, ein paar Schritte über diese Beobachtungen hinaus wagen, h i n zum Versuch, nach den historischen Motiven dieser Phänomene zu fragen. Der abendländische Aristotelismus ist eine ungemein geschichtsmächtige Erscheinung, aber die starke und breite Wirkung der aristotelischen Poetik gehört ihm nicht ohne weiteres an, sondern steht i n einem besonderen Verhältnis zu ihm. Thomas von A q u i n hat sie nicht kommentiert, die Übersetzung Wilhelms von Moerbecke ist erst kürzlich gedruckt worden 1 6 . Die große Rezeption der aristotelischen Poetik aber, die sich i n der Vielzahl der Editionen i m 16. Jh. und i n der seither unaufhörlichen Diskussion um sie ausdrückt, gehört eher zu den Tendenzen gegen den Aristotelismus. Natürlich kannten die humanistischen Philologen und Dramatiker auch das übrige corpus Aristotelicum alle aus der Schule oder von der Universität. Ihre Rezeption und Propagation der Poetik aber vollziehen sie in dem gleichen Zuge, i n dem sie den Aristoteles als dürren Schulkram beiseite tun und i h m etwas anderes, vor allem Platonisches entgegensetzen 17 . Die aristotelische Rhetorik und wohl auch die Logik nehmen da eine Mittelstellung ein. Aber i m ganzen gilt, daß zu einer Zeit, da der Aristotelismus als „metaphysisches System", als Gesamt-Doktrin sich nur i n der Schule fortspinnt und als rückständig verachtet ist (freilich war er nur verpuppt und mancher Erweckungen fähig), die Poetik von der humanistischen Avantgarde völlig anders behandelt, nämlich intensiv 15 Kleines Organon für das Theater (1949); zur Katharsis bes. Stück 4: „ . . . U n d jene Katharsis des Aristoteles, die Reinigung durch Furcht u n d M i t leid, oder von Furcht u n d Mitleid, ist eine Waschung, die nicht n u r i n vergnüglicher Weise, sondern recht eigentlich zum Zwecke des Vergnügens veranstaltet wurde" (hier zit. n. Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik, Hrsg. S. Unseld, F r a n k f u r t / M a i n 1957, S. 131 f.). 16 Aristoteles Latinus, X X X I I I : De A r t e Poetica Guillelmo de Moerbeke interprete, edd. (E. V a l g i m i g l i f). A. Franceschini et L. Minio-Paluello, Brügge u n d Paris 1953. — Die Paraphrasen des Averroes sind schon 1562 u n d seitdem öfter m i t abgedruckt worden, vgl. CG Nr. 21 (p. 4), cf. Register. 17 Vgl. J. E. Spingarne , A History of Literary Criticism i n the Renaissance, New Y o r k 1899 u. ö., 7th ed. 1938, bes. p. 136 ff.

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diskutiert und als Autorität geachtet wird, bis hin zu ganz unmittelbaren Auswirkungen auf literarische Produktion und dramaturgische Praxis. Auch das geht durch: Lessing, der doch an Wolff einen wie auch immer modifizierten Aristotelismus vor sich hatte, setzte die aristotelische Poetik nicht nach ihren Grundbegriffen zu ihm, sondern nach ihren Absichten zur Psychologie Mendelssohns i n Beziehung. Erst i m Aristotelismus des 19. Jh.s, der als ganzes wohl noch nicht untersucht ist (vielleicht erweist er sich als einheitlicher als man denkt), t r i t t die Poetik gleichsam wieder ins corpus Aristotelicum zurück. Aber noch i m 20. Jh. beschäftigen sich mit der Poetik sowohl ausgesprochene „Aristoteliker" unter den Philologen (ζ. B. Dirlmeier) wie solche, die sich sonst nicht mit Aristoteles befassen (z. B. Schadewaldt). Wie kommt es zu dieser Sonderstellung? Solche Beobachtungen ermöglichen vielleicht neue Perspektiven auf die Philologie als auf den ältesten, ehrwürdigsten, den Kern-Bestand dessen, was heute Geisteswissenschaften heißt. Wer diesen „endlosen Verhandlungen" 1 8 , diesem „ermüdenden Durcheinander" 19 , dieser „breitwogenden Flut des Meinungshaders" 20 , diesem „nicht immer mit vereinigter Leidenschaft' geführten Streit" 2 1 als Zuschauer, von außen begegnet, w i r d sich von diesem Anblick auch auf die Frage nach den Voraussetzungen der Philologie i m ganzen wie ihrer historischen Tendenzen i m besonderen geführt finden. Er w i r d sehen, daß der oft dominierende Schein, die Philologie sei ein separater Raum, als solcher ein homogenes Kontinuum, trügt. Jeder Forschungsimpuls, — fast möchte man sagen: jede Konjektur — ist eine Funktion historischer Bewegungen, die als solche nicht zuerst Bewegungen der Philologie sind. Aber die vorhandenen Historien der Philologie 2 2 nehmen auf differenziertere geistesgeschichtliche Fragen keine Beziehung, obwohl das Material für eine auch i n dieser Hinsicht zulängliche Darstellung i n den erfreulich zahlreichen Biographien bedeutender Philologen bereitliegt. Natürlich weiß jeder, daß Creuzer ein Romantiker ist und seine Gegner Rationalisten sind, und Ernst Howald 18

Zeller, a.a.O. — s. o. Anm. 2 — S. 61. Hermann Baumgart, Der Begriff der tragischen Katharsis, i n : Jahrbücher für Philologie 111 (1875), S. 81. 20 Adolf Silber stein, Die Katharsis des Aristoteles; ästhetisch-kritische U n tersuchung, Leipzig 1867, S. 70. 21 Heitz, a.a.O. — s. o. Anm. 2 — S. 97. 22 Sandys, History of classical sholarships, 3 Bde., Cambridge 1906—1908, ist eine reiche, aber unübersichtliche Materialsammlung. A l f r e d Gudeman, G r u n d riß d. Gesch. d. klass. Philol. 1907 21909 ist ein bio-bibliogr. Kompendium, noch knapper das Göschenbändchen v. W. Kroll, Gesch. d. klass. Philol., 1909. Auch U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Gesch. d. Philol. (Einl. i n d. Altertumswiss., hrsg. v. Gercke u n d Norden, I, 1) 1921, reizvoll durch persönliche Akzentuierung, bleibt gleichwohl ganz fachimmanent. A m weitesten greift Kommerell — s. o. Anm. 14 — i m Zusammenhang seines Themas aus, konnte dabei aber nicht die Gesch. d. Philol. insgesamt umfassen, auch die Zeit nach Lessing k a u m berühren; er findet jedoch schöne Formulierungen f ü r die Abhängigkeit der Interpretation von der Zeitlage, z. B. S. 71, bes. 79. 19

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kann von einer Formulierung Friedrich Ritschis sagen, sie sei „für unser Gefühl eine Mischung von Hegel und Nietzsche" 23 . Aber so etwas kommt i n Parerga vor, die wissenschaftliche Arbeit selbst begründet ihre Strenge nicht ohne Pathos gerade i n der Ausklammerung alles dessen. Dahinter steht die Idee einer Unmittelbarkeit zum Gegenstand, die der Reflexion bedürftig ist 2 4 . Vielleicht ist die zunächst so erschreckende Divergenz i m Verständnis der Tragödiendefinition und ihrer Spitze, der KatharsisFormel, die w i l d pendelnde Interpretationsgeschichte besonders geeignet, eine solche Reflexion hervorzurufen. Warum geschieht derlei gerade anläßlich der Tragödiendefinition? Der Streit kommt ja nicht nur daher, daß der Text so fragmentarisch ist. Er hängt wohl m i t dem Phänomen des Tragischen selbst zusammen, das eben kein ewiges ist — aber i n metaphysischer oder weltanschaulicher Blickhaltung immer wieder als solches begriffen werden sollte; sondern das ein geschichtliches Phänomen ist und als solches nun wieder nicht eines, das aus der Mitte einer geschichtlichen Welt zu verstehen wäre, sondern eines vom Rande, vom Äußersten. I n der Tragödie kommt das Griechentum an seine Grenze. Das sehen nicht viele, aber einige, i m 19. Jh., zu welcher Zeit es wohl überhaupt erst gesehen werden konnte. Hegel und Schelling, schwächer auch andere, deuten eine geschichtsphilosophische Tragödientheorie an 2 5 . Innerhalb der Katharsis-Diskussion sehen es 1865 der Graf Paul Yorck von Wartenburg, der offen in diese Diskussion eintritt, und 1870/71 Friedrich Nietzsche, der die aus ihr empfangenen Anstöße scheinbar vergißt. Die Diskussion vor ihnen und nach ihnen sieht es nicht, verweist aber mit ihrem Kreisen insgeheim darauf. Zu beginnen ist am besten mit Lessing und Goethe, die das Gespräch aller Nachfolger, auch der Philologen, wesentlich bestimmen. II. Lessing beschäftigt sich i n der Hamburgischen Dramaturgie i n einer geschlossenen Reihe von fünf Stücken 26 mit der aristotelischen Tragödiendefinition. Er kommt darauf von Weißes „Richard I I I . " her, den er ironisch mit Shakespeares gleichbetiteltem Drama vergleicht. „Aristoteles würde ihn (sc. den Charakter Richards III.) schlechterdings verworfen haben: zwar mit dem Ansehn des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn 23 Ernst Howald, Friedrich Nietzsche u n d die klassische Philologie, Gotha 1920, S. 33; „Gefühl" vom Verf. hervorgehoben. 24 Vgl. dazu H.-G. Gadamer , Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. 25 Vgl. dazu vorläufig Peter Szondi, Versuch über das Tragische, Frankfurt/ M a i n 1961. 2β 74.—78. Stück, Januar 1768.

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ich es auch nur mit seinen Gründen wüßte. / Die Tragödie, nimmt er an, soll Mitleid und Schrecken erregen: und darauf folgert er, daß der Held derselben weder ein ganz tugendhafter Mann noch ein völliger Bösewicht sein dürfe." Lessing zeigt nun, daß mit dem deutschen Wort „Schrecken" die Meinung des Aristoteles nicht richtig erfaßt sei; es müsse „Furcht" heißen, und die Furcht sei als Zweck der Tragödie selbst wieder nur ein Mittel zum Zweck des Mitleids, des Haupt- und eigentlichen Zwecks der Tragödie; „Furcht ist das auf uns bezogene Mitleid", daher müsse der Held mit uns von gleichem Schrot und Korn sein. Mitleid ohne diese Furcht ist bloß Philanthropie, ein anderer, milderer Affekt. Was aber soll dies, was ist der „moralische Endzweck" der Tragödie? Die Reinigung solcher (nicht „dieser") Leidenschaften. Aber was heißt das? Die Reinigung „ b e r u h t . . . es kurz zu sagen . . . i n nichts anders . . . als i n der Verwandlung der Leidenschaften i n tugendhafte Fertigkeiten". Das ist die berühmte, durchtönende Formel. Es kann hier so wenig wie an anderen Stellen um die Frage gehen, was richtig und was unhaltbar ist (die Übersetzung von φόβος, die Auffassung des Genitivs als gen. obj., die christliche Färbung des Mitleid-Begriffes). Entscheidend, daß hier die Tragödiendefinition des Aristoteles als eine Zweckbestimmung gefaßt ist und dieser Zweck als moralischer verstanden wird. Die Tragödie ist „die Schule des Mitleids, durch die geleitet der Mensch immer menschlicher wird". Dies erklingt mit Autorität: „Lessing steht am Anfang unserer Tragödie durchaus als ein Befehlender 27 ." Goethe freilich brauchte hier nicht zu gehorchen, er war frei zur Mißbilligung: „Aristoteles, der das Vollendetste vor sich hatte, soll an den Effect gedacht haben! Welch ein Jammer! 2 8 " I n seiner Nachlese zu Aristoteles Poetik 29 lehnt er den Gedanken rundweg ab, Aristoteles habe „an die entfernte W i r k u n g . . . , welche eine Tragödie auf die Zuschauer vielleicht machen würde", gedacht. Nein, die Tragödie sei, so übersetzt er die Definition, „die Nachahmung einer bedeutenden und abgeschlossenen H a n d l u n g , . . . (die) nach einem Verlauf . . . von Mitleid und Furcht mit Ausgleichung solcher Leidenschaften ihr Geschäft schließt". Katharsis also sei diese „aussöhnende Abrundung". Vom Zuschauer ist nach Goethe also gar nicht die Rede; „ . . . die Vollendung i n sich ist die ewige und unerläßliche Forderung 3 0 ." Die Übersetzung der Definition ist noch unkorrekter als die Lessings, ja schlechtweg unmöglich; aber das minderte ihre 27

Kommerell — s. o. Anm. 14 — S. 91, vgl. S. 71,107. Goethe an Zelter, 29. März 1827, W A I V , 42, 104; — Goethes Äußerungen über Aristoteles sind zusammengestellt bei Ernst Grumach, Goethe und die Antike. Eine Sammlung, Berlin 1949 (2 Bde., durchgezählt), S. 769 ff. 29 Über Kunst und A l t e r t h u m , Heft V I , 1 (1827); W A I 41/2, 247 ff.; Grumach 776/8; Hamb. Ausg. 12, 342/5, dazu 686/9. 30 Nochmals aus dem zit. Br. an Zelter v. 29. März 1827 — s. o. Anm. 28 —, der schon von Bemerkungen Zelters auf Goethes Aufsatz hervorgerufen ist: Zelter an Goethe v. 17. März 1827 (Grumach 778). 28

Jacob Bernays und der Streit

m die Katharsis

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W i r k u n g nicht: sie stellt den Gegenpol zu Lessing auf, seiner „ethischen" Deutung entgegen eine ebenso radikale „ästhetische" — jedenfalls wurde es lange so verstanden, i n dieser Polarität gedacht. Lessing und Goethe i m Widerspruch über eine so wichtige Frage wie die nach dem Sinn der Tragödie — das war eine Zumutung für das neuhumanistische Bildungsbewußtsein, das sich so gern an beiden zugleich orientiert hätte. K a u m einer von den Autoren, die seither dazu geschrieben haben, unterließ es, auf diese beiden Stimmen einzugehen, wenigstens auf sie, wenn nicht außerdem die lange Reihe der Kommentatoren von Robortelli und Castelvetro an aufmarschieren mußte. Friedrich von Raumer las 1828 an der Berliner Akademie Über die Poetik

des Aristoteles

und sein Verhältnis

zu den neueren

Dramati-

kern 31. Er wolle sich „auf keine Weise den Philologen oder Philosophen beizählen", sondern unternehme seinen Versuch nur aus dem Wunsche „jene ausgezeichneten Männer (sc. die sich zur Poetik geäußert haben) unter sich und m i t dem Aristoteles zu verständigen" 3 2 . Die Stücke I V und V der lose gereihten Betrachtungen handeln „ V o n der Definition des Trauerspieles" und „Von der Reinigung der Leidenschaften". Zunächst führt von Raumer nicht weniger als 21 Übersetzungen der Definition auf (kaum sind es alle), bei Goethe endend, und verdeutlicht schon dadurch das Ausmaß der Meinungsverschiedenheiten. Z u diesem Mittel, den alten Catenen vergleichbar, hatte ja schon i m 16. Jh. jemand gegriffen 3 3 . Zur „Reinigung der Leidenschaften" schließt er an Lessing an, modifiziert aber, ausgleichend, dahin, es sollten doch w o h l nicht bloß M i t l e i d und Furcht, sondern alle Leidenschaften gereinigt werden, indem sie durch die „Doppelbeziehung" von M i t l e i d und Furcht „hindurchgehen". Dann aber wendet er sich zu Goethe; nach „anfangs beifällige Freude" seien i h m „mehre Bedenken" gegen dessen Ansicht gekommen. Vor allem spreche gegen ihn, daß auf der Bühne doch auch noch andere Leidenschaften erscheinen; und Politik 13/14 spricht Aristoteles gar selbst ausdrücklich von der W i r kung auf Zuschauer und Hörer. Goethe hat diese K r i t i k noch zur Kenntnis genommen und i n seinem unvergleichlichen Pragmatismus auf seiner Ansicht bestanden: „Eine Stelle i n des Aristoteles Poetik legte ich aus als Bezug auf den Poeten und die Composition. Herr v. Raumer, i n einer verdienstlichen Abhandlung, die er m i r mittheilt, beharrt bey dem einmal angenommenen Sinne, in31 Gelesen 1828; enth. in: Abh. d. hist.-philol. Klasse d. kgl. Ak. d. Wiss. zu Berlin 1831, 113—187; wiederabgedruckt in: Historisches Taschenbuch, NF. I I I (1842), S. 133—247, danach zitiert: 170, 172,173. 32 Das ist nicht nur eine captatio benevolentiae, sondern zeigt zugleich an, daß es Literaturgeschichte zumindest als akademische Disziplin noch nicht gibt, weshalb sie hier vom Historiker wahrgenommen wird. 33 Lionardo Salviati; die Zusammenstellung aus einem Manuskript, Parafrasi e Commento della Poetica dAristotile' aus dem Jahre 1586 ist abgedruckt bei Spingarne — s. o. Anm. 17 — S. 334/6.

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Karlfried Gründer

dem er diese Worte als von der W i r k u n g aufs Publicum zu verstehen deutet u n d daraus auch ganz gute u n d annehmbare Folgen entwickelt. Ich aber muß bey meiner Überzeugung bleiben, w e i l ich die Folgen die m i r daraus geworden, nicht entbehren kann . . . 3 4 . " Zelter hat von Raumer von diesem Brief Goethes erzählt 3 5 , u n d von Raumer geht 1841 i n Randglossen eines Laien zum Euripides 36 darauf ein. Zelter habe „halb scherzhaft" behauptet, er, von Raumer, habe seine ganze Beweisführung zurückgenommen — das stimme aber nicht. „Ich erklärte vielmehr: die A r t , wie Göthe meine aristotelisierende Betrachtung seiner Werke aufgenommen habe, mache m i r Freude; auch fände ich es natürlich genug, daß er sich von einer für i h n brauchbaren Erklärung nicht lossagen wolle. Da er aber durchaus nicht erwiesen habe, daß Aristoteles hiermit übereinstimme, mußte ich i n dieser Beziehung bei meiner früheren Ansicht verharren." Inzwischen hatte der Münchner Philologe Leonhard Spengel 3 7 die Frage dadurch neu aufgenommen, daß er die T e x t k r i t i k weitertrieb und untersuchte, welche Stücke i m genaueren dem Fragment der Poetik eigentlich fehlen; beiläufig gibt er Lessing gegen Goethe recht. Adolf Stahr, damals Junghegelianer, schrieb i n diesen Jahren drei Abhandlungen zur aristotelischen Poetik 3 8 . Die erste ist ein Bericht über die Ausgabe Franz Ritters, der ein tüchtiger Philolog sei, dem es aber an kunstphilosophischer B i l d u n g fehle. Die zweite ist eine Parallele dazu, gibt aber darüber hinaus eine breite Editionsgeschichte und gipfelt i n einer Apologie von Goethes „glücklicher Deutung". Sollte es „sich u m die W i r k u n g aufs P u b l i k u m handeln . . . (würde) der Definition das Herz ausgebrochen". Durch den Gedanken einer „moralischen E i n w i r k u n g auf die Zuschauer" w i r d „der heilige Tempel der idealen Schönheit und [der] ihrer sinnlichen Darstellung geweihten Kunst i n ein Zucht- und Correctionshaus verwandelt". Dann folgen der Versuch einer Übersetzung der Definition, die m i t v i e l Umschreibungen Goethes Deutung m i t Treue zum 34 Goethe an Zelter, 31. Dez. 1829, W A IV, 46, 199, Grumach 782; vgl. Goethe an Zelter, 29. Jan. 1830, W A IV, 46,222, Grumach 783 f. 35 Zelter an Goethe, 13. Jan. 1830, Grumach 782 f. 36 Historisches Taschenbuch NF. I I , 1841, S. 161—276 (zit. 264). v. Raumer w i r d Zelters Brief an Goethe über dieses Gespräch (s. Anm. 35) aus Riemers Ausgabe des Briefwechsels Goethe/Zelter von 1833 gekannt haben. 37 Über Aristoteles Poetik. Abh. d. kgl. bayerischen A k . d. Wiss., philos.histor. Classe 2, 1837, S. 209—252, vorgetr. 1836. (s. ο. I Anm. 2); zu Lessing und Goethe bes. 227 f. 38 I : Arist. u. d. Poetik. Hallische Jahrbücher f. Wiss. u. Kunst I I , 1839, 1653/ 56, 1660/64, 1668/72, 1677/80 (abwechselnd m i t Feuerbachs Hegel-Kritik) = CG 724; I I : Rez. v. Arist. Poetica ed. F. Ritter 1839, i n : Ergänzungsblätter zur A l l gemeinen Literatur-Zeitung, August 1840, Nr. 69, Sp. 545—576 (bes. 562 ff., 574) ; I I I : Arist. und Herr von Raumer, oder Herr von Raumer als Philolog und Aesthetiker, i n : Deutsche Jahrbücher f. Wiss. u. Kunst (Forts, d. Hall. Jahrb.), 1842, Nr. 80—82, S. 317—327 (bes. 324). Die interessanten A r t i k e l I I und I I I sind CG entgangen; Spengel zitiert i n 1860 (s. u, Anm. 58).

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griechischen Text vereinbaren will, und ein Ausfall gegen von Raumer, dem schließlich die dritte Abhandlung ganz gewidmet ist, scharf polemisch 39 , nochmals für Goethe votierend: er sei,, der einzige Mann, der i n ahnendem Geiste das Wahre und Richtige herausfühlte". Später sah Stahr es anders, wozu sogleich. Das sind natürlich nicht alle Stimmen zwischen Lessing und Bernays, aber sie kennzeichnen Umkreis und Atmosphäre, i n die dessen Abhandlung hineinstieß. III. Jacob Bernays 40 wurde am 11. September 1824 i n Hamburg als Sohn eines Rabbiners geboren; von seinem Vater und auf dem Johanneum gebildet, hatte er den doppelten Fundus biblisch-talmudistischer und klassisch-humanistischer Gelehrsamkeit. I n Bonn wurde er zum Lieblings· und Meisterschüler Friedrich Ritschis. Doch alle Pläne, i h n auf eine Professur zu bringen, scheiterten daran, daß Jacob Bernays es — i m Gegensatz zu seinem Bruder, dem Literaturhistoriker Michael Bernays — ablehnte, sich taufen zu lassen und zeitlebens frommer Jude blieb, mit aristokratischem Bewußtsein davon. Der preußische Diplomat, Kirchenpolitiker, auch Kirchenhistoriker Christian K a r l Josias von Bunsen, mit dem er befreundet war, hat versucht, ihn unter ausdrücklicher Einklammerung der Opportunitätsfrage mit historischen Argumenten zur Taufe zu bewegen, vergeblich. Was i n ihrem Briefwechsel davon sichtbar w i r d 4 1 , ist ein Zeugnis für eine kaum bewußte Lage der deutschen Geistesgeschichte. So nahm Bernays eine Stelle als Lehrer der klassischen Philologie an der Fraenkelschen Stiftung, dem jüdisch-theologischen Seminar i n Breslau an; die Breslauer philosophische Fakultät nahm ihn sofort auf, aber auch sie erreichte keine Professur für ihn. I n dieser Breslauer Zeit befreundete Bernays sich m i t Mommsen, der damals einige Jahre dort wirkte und die ersten Bände seiner Römischen Geschichte schrieb. 1865 ging Bernays wieder nach Bonn, wo er die Stelle eines Oberbibliothekars einnahm. A m 26. Mai 1881 ist er gestorben. 89 Fr. von Raumer antwortet darauf i n der Vorrede zum 2. Bd. seiner V e r mischten Schriften (Leipzig 1853), die den dritten Abdruck seiner AristotelesAbh. bringt. 40 Z u r Biographie: H. Usener, i n : Allg. dtsch. Biogr., Bd. 46, S. 393—404; C. Schaarschmidt i m Biogr. Jb. Altertumsk., ed. Bursian 4 (1881) 65—83; anonym [d. i. B. Rippner], Mschr. Gesch. u. Wiss. Judentums 30 (NF. 13) (1881) 337—347, 385—394; M. Brann, Gesch. d. Jüd.-Theol. Seminars (Fraenkelsche Stiftung) i n Breslau. Festschr. z. 50jährigen Bestehen d. Anstalt, Breslau 1904, S. 53—58; Th. Gomperz, Essays u. Erinnerungen, Stuttgart/Leipzig 1905, S. 106—125; Michael Fraenkel, Jacob Bernays. E i n Lebensbild i n Briefen, Breslau 1932; Lothar Wickert, Theodor Mommsen u n d Jacob Bernays. Hist. Zs. 205, 1967, 265—294. 41 Fraenkel, a.a.O., S. 50—57.

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I n der glanzvollen Reihe seiner gelehrten Werke 4 2 hebt sich eines noch besonders heraus durch die ungewöhnliche Wirkung, die es hervorrief: Grundzüge

der verlorenen

Abhandlung

des Aristoteles

über

Wirkung

der Tragödie, Breslau 1857,1858 i n den Abhandlungen der (von Mommsen ins Leben gerufenen) Historisch-philosophischen Gesellschaft i n Breslau erschienen, 1880 noch einmal zusammen mit der Erwiderung auf eine K r i t i k und einer anderen Arbeit zur aristotelischen Poetik abgedruckt 43 . Die Untersuchung 44 ist hinreißend geschrieben, von hoher Eleganz in ihrem Duktus wie i n jeder Wendung, von heinescher Präzision i n der Charakteristik der Gesprächspartner. Auch Bernays geht von Lessing und Goethe aus. Lessing empfängt zunächst ein Lob des Philologen für seine Übersetzung — auszunehmen seien nur die letzten sechs Worte, aus denen die Formel von der „Reinigung" besteht. M i t ihnen habe Lessing die Tragödie zu einem „moralischen Correctionshaus" gemacht; der alte Goethe aber habe sich „begreiflicherweise" gegen jede moralische Abzweckung gewandt. „So leicht es nun gelang, Goethes Übersetzung als eine völlig verunglückte zurückzuweisen, so wenig haben die zahlreichen späteren Behandler der aristotelischen Stelle die empfindlichen Übelstände zu heben vermocht, welche den Dichter von der Lessingschen A n sicht abschrecken mußten". So ist denn die „ ,tragische Reinigung der Leidenschaften' in die zahlreiche Klasse ästhetischer Prachtausdrücke übergegangen,... die jedem Gebildeten geläufig und keinem Denkenden deutlich sind". Man muß dem Terminus Katharsis nachgehen und dazu am besten bei jener Stelle der aristotelischen Politik ansetzen 45 , die immer wieder erwähnt w i r d — weil in ihr einer der Hinweise auf verlorene Teile der Poetik steht —, aber inhaltlich kaum gründlich untersucht worden ist. Da ist von den verschiedenen Arten von Musik die Rede und besonders 42 Heraclitea, 1848: Joseph Justus Scaliger, 1855; Uber das Phokylideische Gedicht, 1856; Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über W i r k u n g der Tragödie, 1857; Über die Chronik des Sulpicius Severus, 1861; Die Dialoge des Aristoteles, 1863; Theophrasts Schrift über die Frömmigkeit, 1866; Die Heraklitischen Briefe, 1869; Die unter Philon's Werken stehende Schrift über die Unzerstörbarkeit des Weltalls, 1876; Lucian u n d die K y n i k e r , 1879; Z w e i Abhandlungen über die Aristotelische Theorie des Dramas, 1880; Phokion und seine neueren Beurtheiler, 1881; dazu zahlreiche Abhandlungen i n Zeitschriften, zumeist wiederabgedruckt i n : Gesammelte Abhandlungen, hrsg. v. H. Usener, 2 Bde., Berlin 1885, ebd. I, S. X I — X V I I eine vollst. Bibliogr. 43 Zwei Abhandlungen über die Aristotelische Theorie des Dramas (Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über W i r k u n g der Tragödie — E i n Brief an Leonhard Spengel über die tragische Katharsis bei Aristoteles — Ergänzung zu Aristoteles'Poetik), Berlin 1880. 44 Hier zitiert nach dem Original (Abhandlungen der historisch-philosophischen Gesellschaft i n Breslau I (mehr nicht erschienen), 1858, S. 135—202), das Verf. i n Kürze bei Olms i n Hildesheim als Faksimile-Neudruck herausgibt; einige Abschnitte aus dem vorliegenden Beitrag werden dort i n der Einleitung verwendet. — Die i m hier folgenden Referat wörtlich zitierten Stellen finden sich i m Erstdruck auf den Seiten 135, 136, 137, 138, 139 ff., 140, 142, 142/3, 143, 143/4, 144, 148, 148/9, 154, 160 ff., 171/2, 174, 179. 45 P o l i t i k V I I I , 7; 1341 b 32 ff.

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m die Katharsis

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von solchen, die Verzückung bewirken. „ N u n sehen w i r an den heiligen Liedern, daß wenn dergleichen Verzückte Lieder, die eben das Gemüth berauschen, auf sich wirken lassen, sie sich beruhigen, gleichsam als hätten sie ärztliche Cur und Katharsis erfahren 46 ." Die Leute sind von Affekten teils beherrscht, teils ihrer in minderem Maße teilhaftig — „für Alle muß es irgendeine Katharsis geben und sie unter Lustgefühlen erleichtert werden können". Danach sei das Theater einzurichten. Bernays sieht i n diesem Abschnitt „den unwiderleglichen Beweis . . . , wie durchaus fern dem Aristoteles der Gedanke des vorigen Jahrhunderts liegt, das Theater zu einem Filial- und Rivalinstitut der Kirche, zu einer sittlichen Besserungsanstalt zu machen, wie rücksichtslos er vielmehr bemüht ist, ihm den Character eines Vergnügungsortes für die verschiednen Klassen des Publicums zu wahren". Der Gesichtspunkt, unter dem hier die Katharsis steht, ist „nicht der moralische so wenig wie der rein hedonische; es ist ein pathologischer Gesichtspunkt" 47 . Aber nun ist ja ίατρία wie κάθαρσις mit einem ώσπερ ausdrücklich als Metapher gekennzeichnet — tatsächlich heißt κά^οφσις sprachgebräuchlich zweierlei: „entweder eine durch bestimmte priesterliche Ceremonien bewirkte Sühnung der Schuld, eine Lustration, oder eine durch ärztliche erleichternde Mittel bewirkte Hebung oder Linderung der Krankheit". M i t lustratio seu expiatio hat schon Dionysius Lambinus, ein französischer Philologe des 17. Jh.s κάθ-αρσις übersetzt 48 , und Bernays wundert sich, daß ihm i n neuerer Zeit niemand gefolgt ist, „wo doch eine ,Lustration durch Tragödie' Weihwasser auf die Mühle der Romantiker geliefert hätte". Aber für den kultischen Vorgang ist ja Katharsis selbst eine Metapher, und man sollte dem Aristoteles nicht die „Taschenspielerei" zuschreiben, „eine erklärungsbedürftige Gemüthserscheinung — die Beruhigung der Verzückten mittelst rauschende Lieder — durch Vergleichung mit einer andern, von vorn herein um nichts klareren Gemüthserscheinung — dem schuldentladnenen Gefühl des Gesühnten — haben erklären [zu] wollen". So bleibt nur die medizinische Bedeutung, und i n der Tat, mit dieser „schickt sich Alles aufs Beste". „Möge Niemand i n voreiliger Zimpferlichkeit die Nase rümpfen über vermeintliches Herabziehen der Aesthetik i n das medizinische Gebiet. Unsere Aufgabe ist es . . . die Bedeutung der Wörter . . . zu ermitteln auf dem Wege methodischer Hermeneutik. Führt uns dieser Weg, ehe er i n den Hain der Musen mündet, am Tempel des Aesculap vorüber, so ist dies für den Kenner des Stagiriten nur ein Beweis mehr, daß w i r i n den richtigen Spuren gehen", denn Aristoteles war Arztsohn und selbst Arzt. Κάϋαρσις also heißt: „eine von Körperlichem auf Gemüthliches übertragene Bezeichnung für solche Behandlung eines Beklommenen, welche das ihn beklemmende Element nicht zu verwandeln 46 47 48

ώσπερ Ιατρείας τυχόντας και καΜρσεως, a.a.O., Übers. Bernays, S. 139. S. 141, Hervorhebung v. Bernays. Vgl. dazu Bernays' Exkurs, S. 192.

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oder zurückzudrängen sucht, sondern es aufregen, hervortreiben und dadurch Erleichterung des Beklommenen bewirken will." So kommt Bernays zu der Übersetzung: „Die Tragödie bewirkt durch (Erregung von) Mitleid und Furcht die erleichternde Entlastung solcher (mitleidigen und furchtsamen) Gemüthsaffectionen." Bernays hebt den (teils übergangenen, teils bestrittenen) Unterschied von πάθος (Affekt i m Sinne des Aktualen) und πάθημα (Affektion i m Sinne des Habituellen und Chronischen hervor, wodurch er „auch, ohne Gefahr für die Geschlossenheit der Definition, an dem Wörtchen τοιούτων vorüber(leitet), das selbst Lessings sonst so sichern T r i t t zu bedenklichem Straucheln und spätere Erklärer zu unzierlichem Falle gebracht hat". Das Ergebnis der Beobachtung des Sprachgebrauchs und die Analyse der Politik-Stelle läßt sich noch stützen durch zwei Bruchstücke aus entlegener neuplatonischer Literatur, i n denen Bernays Zeugnisse der verlorenen Teile der aristotelischen Poetik wiederzufinden glaubt 4 9 . „ N u r darf man die specifisch archivalische L u f t nicht scheuen, welche sich i n solchen wenig betretenen Winkeln anzusammeln pflegt, und einigen Staub w i r d man ebenfalls verschlucken müssen, bevor man den Finger auf das gewünschte Blatt legen kann." So hebt er also aus der Mysterienschrift des Jamblich eine Stelle hervor — das zum Verständnis nötige Referat der Entstehungsgeschichte und des reichlich konfusen Kontextes (es geht um eine Apologie des Phalluskultes) ist von spielerischer Klarheit und ebenso differenzierter wie genießerischer Ironie — und bringt zu hoher Wahrscheinlichkeit, daß sie aus der vollständigen Poetik des Aristoteles geschöpft sei und, mit geringer Umbiegung, just die vermißte Erläuterung der Katharsis biete: „Die Kräfte der i n uns vorhandenen allgemein menschlichen Affectionen werden, wenn man sie gänzlich zurückdrängen will, nur um so heftiger. Lockt man sie dagegen zu kurzer Aeußerung i n richtigem Maasse hervor, so w i r d ihnen eine maasshaltende Freude, sie sind gestillt und entladen und beruhigen sich dann auf gutwilligem Wege ohne Gewalt. Deshalb pflegen w i r bei Komödie sowohl 4 ® Das bewunderungswürdige Verfahren, aus späteren Texten verlorene ältere zurückzugewinnen, w a r schon an Vorsokratikern geübt worden, wurde aber für den Aristoteles erst i n den jetzt folgenden Jahren i n größerem Stile aufgenommen (Rose, Heitz, Bywater). Bernays ordnet die von i h m zum Erweis seiner Interpretation herangezogenen Fragmente den verlorenen Teilen der Poetik selbst zu, w o r i n i h m Joh. Vahlen zustimmt (Wo stand die verlorene A b handlung des Arist. über W i r k u n g der Tragödie? Abh. d. Wiener A k . 1874, i n : Ges.philol. Sehr. I , Leipzig 1911, S. 230—234). E m i l Heitz hält die Stücke für aristotelisch, meint aber, B.'s Annahme, daß sie zur Poetik selbst gehörten, sei nicht zwingend (Fragmenta Arist., Paris 1869, p. 29). Val. Rose u n d i h m folgend die späteren Editoren der aristotelischen Fragmente haben sie dem Dialog Π Ε Ρ Ι Π Ο Ι Η Τ Ω Ν zugeschrieben (zuletzt Ross, Arist. fragmenta selecta, Oxford 1955, p. 69 f.; dort Verweis auf ältere Ausgaben), während Bernays diesen verlorenen Dialog an anderer Stelle so charakterisiert hatte, daß die Zugehörigkeit jener Stücke zu i h m auszuschließen w a r (Die Dialoge des Aristoteles, B e r l i n 1863, S. 5—14).

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wie Tragödie durch Anschauen fremder Affecte unsre eignen Affectionen zu stillen, mässiger zu machen und zu entladen; und ebenso befreien w i r uns auch i n den Tempeln durch Sehen und Hören gewisser schmutziger Dinge von dem Schaden, den die wirkliche Ausübung derselben mit sich bringen würde." Soweit Jamblich i n der Übersetzung von Bernays 50 . Bei Kenntnis des Neuplatonismus werde man sich bald „sagen, daß diese abscheuliche Apologetik . . . , wie die meisten andern heiligen Abscheulichkeiten, erwachsen ist aus mißverständlichem oder mißbräuchlichem Hinüberziehen eines an seinem ursprünglichen Ort richtigen und reinen Gedankens auf ein fremdes Gebiet. Bloß die specielle Anwendung auf sinnliches Gelüste, wie die der i n die peinlichste Enge getriebene Apologet als letzten Rettungsversuch wagt, gehört ihm zu rechtem Eigen; die allgemeine Theorie, welche passend eine Sollicitationstheorie heißen darf" stammt aus der vollständigen aristotelischen Poetik und bestätigt die vorgetragene Auffassung derselben. Einige weitere Stellen, die zugleich deutlich machen, wie sehr Aristoteles sich gerade auch i n der Poetik mit Piaton auseinandersetzt, holt Bernays aus dem Proklos, der Piaton gegen den Aristoteles verteidigt, wobei sich noch zwei ebenfalls ins Medizinische weisende „Nachbarworte": άφίωσις, Ableitung, und άπέρασις, Entladung einstellen 51 . Jetzt ist es nicht mehr nötig, mit allen Tragödien „folternde Katechesen" anzustellen, inwiefern sie moralisch wirken; es bedarf „bloß gewöhnlicher E h r l i c h k e i t . . . zu dem Bekenntnis, daß man eine solche moralische Wirkung von Tragödien unmittelbar nicht verspüre". Lessing hätte bei weniger Eile „nicht zwar seine Ansicht von einem moralischen Theater überhaupt — denn diese gehörte zu dem Tribut, welches er seinem noch nicht durch Goethe befreiten Jahrhundert abträgt — aber doch die Annahme einer aus der griechischen Tragödie abstrahierten moralischen Katharsis bei Aristoteles" berichtigt. Und mit Goethe ist die gefundene Erklärung i m schönsten Einverständnis; so sicher er die „transzendente Teleologie" eines naturhaften oder künstlerischen Gebildes ablehnt, so sicher hat er die „immanente Teleologie i n der Definition eines Kunstorganismus" bejaht, wie er sie m i t seiner falschen Übersetzung fassen wollte. „Und Anderes als die m i t der einwohnenden Zweckmäßigkeit verknüpfte Wirkung sagt die richtig verstandene Katharsis von der Tragödie nicht aus." Die empirischen Tatsachen aber, die für Aristoteles zugrunde liegen, gehören i n den Bereich der ekstatischen Erscheinungen, die i m orientalischen und griechischen A l t e r t u m häufig vorkommen, zur Ekstase des objektlosen Enthusiasmus und seiner Besänftigung, der korybantischen 50

S. 160; Jambl. Myst. 1,11 (Parthey) s. Ross, a.a.O., p. 70. S. 163 ff.; Proci, i n Remp. 1, 42.2 (Kroll) s. Ross, a.a.O., p. 69 f.; Bernays' Exkurse 14 und 15, S. 199 f. 51

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Heiltänze 52 . Der Tragödie voraus liegen die orgiastischen Zeremonien des Bakchoskultes, ja die Tragödie bildet sich aus als die „Dichtgattung, welche die ursprünglich bakchantische Ekstase für den inzwischen veränderten socialen Zustand festhielt zugleich und veredelte, indem sie die Stelle des objectlosen enthusiastischen Taumels ersetzte durch eine auf ekstatische Erregung universal menschlicher Affecte angelegte Darstellung des Welt- und Menschengeschicks".

IV. Diese Abhandlung löste nun einen Tumult i n der Gelehrtenrepublik aus, dem andere wissenschaftliche Streitigkeiten des Jahrhunderts kaum gleichkommen und dessen Getöse weit hinaus ins literarische Bewußtsein scholl. Sie wurde zum „Ausgangspunkt einer gewaltigen Kontroverse, die bis auf den heutigen Tag nicht zur Ruhe gekommen ist", heißt es 192153. Während für die erste Hälfte des 19. Jh.s die erwähnte Bibliographie zur aristotelischen Poetik von Cooper und Gudeman durchschnittlich etwa drei Titel i m Jahr aufführt, wurden es 1857 sprunghaft mehr, und mit 1860 mußte die Gliederung umgestellt werden: 1860—1899 und 1900—1927 sind nicht mehr jahrweise, sondern i n diesen Zeiträumen alphabetisch geordnet 54 ; über 150 Titel gelten der Katharsis-Frage, stehen also mit ganz wenigen Ausnahmen i n der Auseinandersetzung mit Bernays. Der Streit ist keineswegs auf die akademische Welt beschränkt, es nehmen an ihm viele Schulprofessoren teil i n der damals üblichen, heute leider verschwundenen Form von Schulprogrammen, andererseits aber auch eine ganze Reihe von Autoren, die nicht zur philologischen Zunft gehören: philosophische Ästhetiker, Germanisten, Theaterleute. Es w i r d i n diesem Streit viel Gefuchtel, viel sterile Spitzfindigkeit sichtbar, unfreiwillige K o m i k 5 5 und Intensität, die beide der Bewunderung würdig sind. Die Sache w i r d kaum weitergebracht, auch heute muß man immer noch wieder an Bernays anknüpfen. 52

Vgl. Bernays' Exkurs 5, S. 189 ff. Arist. Uber die Dichtkunst, übers, v. A. Gudeman, Leipzig 1921, S. X V . 54 „The choice of the year 1860 as a convenient t u r n i n g - p o i n t . . . w i l l . . . commend itself to a l l who are familiar w i t h the history of the Poetics" (L. Cooper, CG p. V I I I ) . 55 A n t o n Bullinger, Der endlich entdeckte Schlüssel zum Verständnis der Aristotelischen Lehre von der tragischen Katharsis, München 1878; ders., Denkzettel f ü r die Rezensenten meines Katharsisschlüssels, München 1880; ders., Metakritisches zur Katharsisfrage, i n : Blätter für das bayerische G y m nasial· u n d Real-Schulwesen 16, 1880, 61 f.; Johannes Niklas, A n t i m e t a k r i t i sches zur Katharsisfrage, ebd. 62—4; A. Bullinger, Aristoteles und Professor Zeller i n Berlin, m i t einem metakritischen V o r w o r t für die Rezensenten meiner Aristoteles-Studien, München 1880; ders., Der Katharsis-Frage tragikomisches Ende, München 1900. — Oder: Susemihl fertigt einen A u t o r (Ph. J. Geyer, 53

Jacob Bernays und der Streit

m die Katharsis

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Der Rang der Leistung Bernays 4 wurde sofort erkannt. Die Anzeige von L u d w i g Kayser i n Jahns Jahrbüchern 56 zögert nicht, sie „ i m strengen Festhalten der Grundhalten der Grundidee w i e i n der praecisen, scharfen, oft schlagend-witzigen Ausführung classisch" zu nennen. U n d Johannes Vahlen schreibt, nach der ersten Welle der Angriffe, die Abhandlung werde „jedem Widerspruch, solange philologische Hermeneutik i n Ehren bleibe, Trotz bieten" 5 7 . Als erster w o h l erhob sich Leonhard Spengel 58 . Obwohl klassischer Philologe, geht auch er von der Perspektive auf Lessing und Goethe aus und versteht Bernays dahin, daß er Goethes falsche Interpretation n u n doch philologisch fundieren wolle. Er schließt sein Referat der „Sollizitationstheorie" : „ D a m i t sind w i r endlich glücklich wieder m i t Vermeidung aller grammatischen K l i p p e n i n den Goethischen Hafen eingelaufen." „Dies alles i s t . . . m i t solcher exegetischen Strenge und Kenntnis der Sprache, m i t einer klaren und lebendigen Anschauung der Verhältnisse so ausführlich, beredt und einnehmend dargestellt, daß einem fast unheimlich zui.iute w i r d . . . " Dann aber geht er zur K r i t i k über: „Das Gleichnis ist medicinisch, nicht aber der Act, der i n ein anderes Gebiet fällt." Die Katharsis sei „die Herstellung aus einem krankhaften und getrübten Zustande, die geistige Beruhigung, die zur Ausübung der Werke der Tugend unumgänglich erforderlich ist", so deckt das deutsche „Reinigung" den fraglichen Begriff vollkommen. Nach ausführlicher und immer neu ablehnender Detaildiskussion (in der sich Spengel nicht entgehen läßt zu erwähnen, daß die beiden Stellen aus Jamblich und Proklos schon i n Lobecks Aglaophamus exzerpiert sind und beieinander stehen 59 ) zieht Spenge] den Schluß, daß man zu der alten, schon von Robortelli, vor allem aber von Lessing angenommenen Lösung zurückmüsse. Er ironisiert das ästhetische Entsetzen vor der Moralisierung der Kunst und erklärt, Lessing würde auch Goethe gegenüber wiederholt haben, daß die Kunst bessern solle.

Studien über Tragische Kunst, 2 Teile, Leipzig 1860/1) als „knabenhaft", „unter der Kenntnis eines Tertianers" ab (Jb. f. Philol. 85, 1862, 396 f.); J. Vahlen w i r f t selbst dem bejahrten Spengel „puerile I r r t ü m e r " vor (Hermes 10,1876, 453—5 = Ges.philol. Sehr. 1,1911, 323—4). 56 Jahrbücher f. Philol. 77,1858, 472—6; nicht bei CG. 57 I n der Ritschl-Festschrift 1864 = Ges.philol. Sehr. I, 1911, 269 f. Anm. 9. 58 Leonhard Spengel, Über die κάθαρσις των παθημάτων, ein Beitrag zur Poetik des Aristoteles. Abh. d. philos.-philol. Classe der k. bayer. A k . d. W. I X , 1 (München 1860, S. 1—50 (gelesen 8. M a i 1858). Die zitierten Stellen: 8 ff., 11, 12, 20, 24, 38, 41 f., 46. 59 Spengel, S. 8 ff., 29 f. Anm.; Chr. A. Lobeck, Aglaophamus, Darmstadt 1961 = Königsberg 1829, p. 688 f. — E. Heitz, Die verlorenen Schriften des Aristoteles, Leipzig 1865, S. 97 erinnert daran, daß die Proklos-Stelle schon Robortelli 1548, die Jamblich-Stelle schon Barker 1821 (CG 14 und 688) herangezogen hatten.

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U m die Restitution der Lessingschen Deutung geht es auch Adolf Stahr, nur ist sein Buch 6 0 keine akademische Abhandlung, sondern ein literarisches Pamphlet, wie Stahr sich inzwischen vom oldenburgischen Schulprofessor zum reisenden Literaten entwickelt, als solcher auch, soeben, ein Lessing-Buch geschrieben hatte 6 1 . Aber über Aristoteles schrieb er, und als Hegelianer fühlte er sich immer noch. Freilich, die Tragödiendefinition interpretierte er jetzt merkwürdig anders als zwei Jahrzehnte früher. Damals hatte er Goethe feurig gegen das Ansinnen einer moralischen Deutung der Tragödie verteidigt — die Wendung, durch sie werde die Tragödie i n ein „Correctionshaus" verwandelt, hatte er ja geprägt, und Bernays hatte sie, ohne Stahr zu nennen, auch gebraucht (ist das ein Zufall oder eine wohlgezielte Spitze, eine maliziös-verschwiegene Entlehnung 62 ?). Hier, i n dem Buch gegen Bernays, w i r d Stahrs Verhältnis zu Lessing und Goethe nun komplizierter, es t r i t t unter ein mehrfaches Zwar/Aber. Gegen Goethes Satz vom Selbstzweck des Kunstwerks spricht er nicht direkt, aber gegen die Leugnung jeglicher Moralität der Kunst doch. Jedenfalls betont er mit großer Entschiedenheit den moralischen Sinn der Tragödie — die Einfälle i m einzelnen, wie die Übersetzung von πάθημα mit dem erfundenen Wort „Erleidnis" und die scharfe Trennung von musikalischer und tragischer Katharsis sind dazu Mittel, für sich nicht interessant. Das Buch schließt mit der Berufung auf einen diese Interpretation bestätigenden Brief von Lassalle an Stahr. Bernays hat Spengel i m Rheinischen Museum entgegnet 63 , scharf, aber zumindest beim ersten Male respektvoll (während er Stahr für nicht diskussionsfähig erklärt); an den i h m natürlich bekannten trefflichen Aglaophamus habe er nicht gedacht, Lobeck wolle i m Zusammenhang ja auch etwas ganz anderes zeigen, aber nun entnehme er dem Abschnitt m i t Vergnügen noch eine weitere, bestätigende Stelle aus Plutarch 6 4 , wo der Nießwurz hinsichtlich seiner Wirkung m i t der Flötenmusik verglichen wird: „Diese Vergleichung der Wirkungen des kathartischen Nießwurzes mit dem beruhigenden Einfluß der die Trauer durch Ausschöpfung stillenden Flötentöne zeigt so deutlich, als man es wünschen kann, daß Plutarch sich . . . die medizinische Bedeutung der musikalischen Katharsis gegenwärtig erhalten hatte." Christian August Brandis 6 5 gibt philologisch Bernays recht, lobt seinen „lessingschen Geist", neigt aber interpretatorisch zu einem Kompromiß: 80

Aristoteles und die W i r k u n g der Tragödie, B e r l i n 1859. Vgl. L. Frankel, A D B 35,403—6; Lessing, 2 Bde., 1859. Stahr, s. o. A n m . 38 T i t e l I I , S. 574; Bernays, W i r k . d. Trag., S. 136. 63 E i n Brief an Leonhard Spengel über die tragische Katharsis bei Arist., Rhein. Museum 14,1859, S. 367—77 (unten zit. S. 375) ; wiederabgedr. i n Bernays, Zwei Abh 1880, S. 119—32; L. Spengel, A n t w o r t an J. Bernays, Rhein. Museum 15, 1860, S. 458—63; J. Bernays, Z u r Katharsis-Frage, ebd. 606 f. 84 Plutarch Symp. L . I I I . Qu. V I I I , 2,143. 85 Handbuch der Geschichte der Griechisch-Römischen Philosophie, Bd. I I I , 1 (1860), Die aristotelische Kunstlehre, S. 156 ff. (bes. 169,173,178). 61 82

Jacob Bernays u n d der Streit aim die Katharsis

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der Gegensatz von „pathologisch" und „ethisch" könne i m Blick auf den aristotelischen Gedanken der analogen Tätigkeitsdreifalt (theoretisch, praktisch, poietisch) überwunden werden; man brauche nicht zu glauben, daß die „Entladung" „ i n nichts weiterem bestehen solle", vielmehr sei sie der Annäherung an einen Begriff wie „Läuterung" durchaus offen. Spengel und Stahr sind die frühesten eingehenden Auseinandersetzungen m i t Bernays; m i t ihnen bricht die Diskussion los, die n u n i m einzelnen zu verfolgen völlig fruchtlos wäre. Gleichwohl wurde sie so sehr als etwas Besonderes empfunden, daß es eine ganze Reihe von Übersichten gibt, i n denen sie zusammengefaßt und besprochen w i r d , ja daß die fortlaufende Berichterstattung über sie zu einer A r t Institution wurde. Die erste solche Zusammenfassung gab kein Philologe, sondern der Philosoph Friedrich Ueberweg i n der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 66. Er betont sofort, daß es sich u m keine rein philologische Frage handele, sondern i n jedem Votum, selbst bei Spengel, eine ästhetische und d. h. philosophische Stellungnahme eingeschlossen sei. Er sieht Bernays als V e r m i t t l u n g von Aristoteles und Goethe und stimmt ihm, bei K r i t i k i m einzelnen, zu, verteidigt i h n gegen seine K r i t i k e r , besonders gegen Stahr. Sieben Jahre später hat Ueberweg am gleichen Ort die weitere, inzwischen aufgespreizte Diskussion kritisch zusammengefaßt, i m ganzen m i t dem gleichen Ergebnis 8 7 . I n der Philologie trat m i t solchen Berichten der unermüdliche Susemihl zuerst auf den Plan. Er lieferte neben eigenen Studien besonders i m Rheinischen Museum Sammelberichte i n Jahns Jahrbüchern 68 und setzte das dann i n Bursians Jahresberichten f o r t 6 0 bis 1897. Auch Susemihl kann nicht umhin, Bernays der Grundlinie nach zuzustimmen, wobei er allerdings scharf darauf achtet, was der Diskussion an Haltbarem und Förderlichem über i h n hinaus entnommen werden könne. I m übrigen wünscht er schon 1867 einen „heilsamen Stillstand" i n der Schriftstellerei über die Katharsis herbei 7 0 , ohne damit etwas auszurichten: 30 Jahre später schrieb er seinen letzten Bericht über Aristoteles, speziell die Poetik. I m Philologus berichtete August Döring, Theologe, Philologe, später als Philosoph habilitiert, und sein Bericht ging m i t anderen Beiträgen i n ein Buch über die Kunstlehre des Aristoteles ein 7 1 . Seine Darstellung der ββ

36,1860, S. 260—91 (bes. 260, 273 ff.). Ebd. 50,1867, S. 16—39. 68 Vgl. i m ganzen: CG 1130—1150; i m einzelnen: Jb. f. Philol. 85, 1862, 317— 32, 395—425; 95, 1867, 159—84, 221—36, 827—46; 105, 1872, 317—42. 60 Jahresbericht über die Fortschritte der klassischen Altertumswissenschaft 9, 1879, 385—64; 17, 1881, 282—89; 30, 1884,78—86; 34,1885, 48—52; 42,1887, 40—6, 258—63; 67, 1892, 154—84; 75, 1894, 105—7; 79,1895,120—2, 273—6; 88,1897, 32 9# 70 Jb. 95,1867, 846. 71 CG 886—90; Die Kunstlehre des Aristoteles, ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie, Jena 1876 (vgl. bes. S. 332 ff.. 319 ff.). 67

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Deutungsgeschichte greift nicht nur am weitesten aus, sondern ist auch die übersichtlichste. Auch für ihn ist Bernays „bahnbrechend", und er teilt ein: vor Bernays — nach Bernays, braucht auch ohne weiteres das Adejektiv „vorbernaysisch" u. ä. Er fügt zu den von Bernays beigebrachten neuplatonischen Zeugnissen noch ein weiteres (ohne anzumerken, daß es auch schon bei Lobeck mit den anderen zusammen steht) aus Aristides Quintilian und geht dem Katharsis-Begriff i n der griechischen Medizin besonders nach. — Bei späteren Autoren entspricht dann dem Datieren nach Bernays ein Einteilen i n pro und contra, zumal etwa i n der wiederkehrenden (kritisch gemeinten) Wendung „Bernaysianer stricter Observanz" 7 2 . Weshalb wurde gerade diese Diskussion so stürmisch, und was kam dabei heraus? I m Gewirr der oft sehr ins einzelne gehenden Argumentationen werden zwei Hauptlinien sichtbar: einmal die Entrüstung darüber, daß Aristoteles die Tragödie, der erhabensten Güter eines, weder der Moral noch der Ästhetik, sondern banausisch der Medizin soll zugeordnet haben — zum anderen der gegenläufige Eifer, wenn schon nicht Bernays die Priorität zu bestreiten, so doch immer mehr Vorläufer zu entdecken. A u f Friedrich Wolfgang Reiz, einen Leipziger Philologen des 18 Jh.s, der 1776 Stücke aus Buch 7 und das Buch 8 der aristotelischen Politik ediert und kommentiert hatte 7 3 , auf Herder (1801)74 und Milton (1670)75 wies Bernays selbst schon hin. Dagegen war ihm entgangen, daß ein Jahrzehnt vor i h m der Straßburger Heinrich Weil eine seiner Interpretation schon sehr nahekommende Erklärung geliefert hatte 7 6 , freilich nicht so gründlich ausgeführt und belegt; Weil meldete sich dazu selber 77 . Der Holländer Karsten 7 8 berichtet zustimmend über Bernays und zitiert dabei weitere Vorläufer: den Franzosen Egger mit einer Schrift von 184979 und 72

Josef Egger, Katharsis-Studien, Programm Wien 1883, S. 20 nennt A . Steinberger (CG 1119—1122) so; „Bernaysianer strenger Observanz". A Gudeman 1934 (s. ο. I Anm. 4), S. 167. 73 Leipzig 1776, vgl. Bernays, S. 191 (CG 54?). 74 Adrastea I I (ed. Suphan 28, 346—404). Zit. Bernays, S. 188 f. 75 S. 192; der einschlägige Abschnitt abgedruckt bei J. E. Spingarne, Critical essays of the seventeenth century I, Oxford 1908, p. 194—200. 76 Uber die W i r k u n g der Tragödie nach Aristoteles, i n : Verhandlungen der zehnten Versammlung deutscher Philologen, Schulmänner u n d Orientalisten i n Basel den 20. u. 30. Sept. und 1. u. 2. Okt. 1847, Basel 1848, S. 131—141. 77 Erklärung die Aristotelische κάθαρσις betreffend, i n : Jahrbücher für Philologie 79, 1859, 159; dazu J. Bernays, Rhein. Mus. 14, 1859, 367 A n m . 78 Over het Wezen en den Werking van het Treurspel volgens Aristoteles . . . , i n : Aanteekeningen van het Verhandeide i n de Sectie voor Letterkunde, W i j s begeerte, en Geschiedenis van het Provinciaal Utrechtsche Genootschap van Künsten en Wetenschappen, 1858/9, p. 15—32. 79 É. Egger, Essai sur l'histoire de la Critique chez les Grecques, Paris 1849 (CG 900: 3. Aufl. Paris 1887).

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eine holländische Diskussion um 183880, bei der ein Rezensent, Geel, Bernays These nahezu buchstäblich vorweggenommen hat mit der Formulierung, die Tragödie könne heißen „een afleider voor schrik en medelijden" 8 1 . Nahe an Bernays heran streift auch Eduard Müller, ein schlesischer Schulmann, Bruder Carl Otfried Müllers; er spürte neben dem Moment der Sollizitation auch das des Homöopathischen in der tragischen „Heilung" auf 8 2 , von dem seither so durchgängig die Rede ist, daß es nicht mehr nachgewiesen werden soll. Später merkte dann Döring an, daß sich die Vorstellung von der Sollizitation auch bei Nicolai und beim frühen Lessing finde 83. A m weitesten geht bei dieser Ahnensuche wohl Joseph E. Gillet 8 4 , der reiches Material für das Verständnis der KatharsisFormel i n Deutschland vor Lessing zusammenträgt; dabei erscheint Gryphius als „the first German forerunner of Weil and Bernays", und Gryphius habe es von Galuzzi 85 . I n diesen Diskussionen, die den epochalen Charakter der bernaysischen These auch dort nicht wesentlich einschränken, wo sie auf Vorläufer hindeuten, w i r d sichtbar — und das ist wohl sachlich ihr gewichtigster Ertrag — eine breite Tradition der Kenntnis der antiken Verfahren, seelische Leiden durch Musik und Tanz zu heilen, i m näheren also der κορυβαντίασις. Das führte auch unter denen, die Bernays grundsätzlich zustimmten, ihm gegenüber zu einer gewissen Nuancierung insofern, als man das von Aristoteles i n den Blick genommene Phänomen nun doch breiter sah. Bernays hatte die tragische und die musikalische Katharsis gleichgesetzt, vielmehr ihre Einheit bei Aristoteles nachgewiesen, sie auf den medizinischen Begriff bezogen, von der kultische Lustration, für die dieser auch zur Metapher dient, aber gerade abgehoben und auf die κορυβαντίασις nur i n einem Exkurs zur Erläuterung der musikalischen Katharsis hingewiesen. Je mehr darüber nun diskutiert, dabei an weiteren Quellen zusammengetragen wurde, trat desto stärker die Zusammen80 J. W. E l i n k Sterk, Over den medelijden en het schrik i n het Grieksche Treuerspei, Leiden 1838; Geel s. Anm. 81; Sterk, Gesprek met de Recensenten van z i j n Over den schrik . . . Gorinchen 1839. 81 Geel, Rez. d. Schrift von Sterk (Anm. 80), i n : De Gids 1839 I, S. 29—37; „afieider" : S. 35. 82 Geschichte der Theorie der Kunst bei den Alten, 2 Bde., Breslau 1834/37, bes. I I S. 53—76, 376—388. Dies auch schon bei A. Boeckh, 1830, i n : Ges.kl. Sehr. I, Leipzig 1858, S. 174—84. 83 Philologus 1868 = Kunstlehre (s. o. Anm. 71) S. 339—341: aus dem Briefwechsel zwischen Lessing und Nicolai a. d. Jahre 1756/7. Vgl. Lessing, Briefw. m i t Mendelssohn und Nicolai über das T r a u e r s p i e l . . . Hrsg. v. Robert Petsch, Leipzig 1910. 04 Joseph B. Gillet, The catharsis-clause i n German criticism before Lessing, i n : Journal of philology 35,1920, p. 95—112. 85 Vgl. CG 518 (Rom 1621) u n d CG 525 (Rom 1633), dazu I. Bywater, M i l t o n an the Aristotelian definition of tragedy, i n : Journal of Philology 27, 1901, 267—75; ders. y allg. i n seiner Textausg., Oxford 1909 über die „pathol." Interpretation i m Italien des 16. u. 17. Jh.s.

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gehörigkeit der musikalisch-tragischen Katharsis mit der korybantischen Heilpraxis heraus, die ihrerseits ja doch wohl vom Kultischen nicht ablösbar ist. Das liegt der Sache nach schon bei Eduard Müller vor 8 6 ; es ist i m besonderen bei K a r l Zell 8 7 und auch bei Susemihl 88 der Punkt des Vorbehalts gegen Bernays. Für diesen Zusammenhang kommt mit der Zeit immer wieder neues Material ans Licht. Das aber führte, ohne daß es scharf markiert wurde, doch zu einer Modifikation der These von Bernays, nämlich zur Milderung oder Aufhebung seiner Unterscheidung von kultischer Lustration und „pathologisch" verstandener musikalisch-tragischen Katharsis. Geistesgeschichtlich beruht diese Verschiebung auf der Wiedereinbeziehung religionsgeschichtlicher Erkenntnisse, die von der romantischen Philologie bereits gewonnen, aber durch methodische Mängel kompromittiert worden waren 8 9 . Woran aber stießen sich nun die Gegner der bernaysischen These? Was sind die Motive ihrer Aufregung und ihres Widerspruches? Man muß sie auf dem Hintergrund der fast nirgends aussetzenden Präsenz Lessings und Goethes i n dieser Diskussion sehen. Stahr 9 0 empört sich über Bernays „materialistische Plattheit". „Wer . . . diese von i h m dem Aristoteles untergeschobenen Sätze mit beiden Händen acceptieren würde, das sind die Directoren und Poeten der Pariser Boulevard-Theater jenes Schlages, welche mit ihren Scheuel- und Greuelstücken so vortrefflich auf die Rohheit des Publicums zu speculieren verstehen; oder die modernen Dramenfabricanten schlechtester Art, deren Muse die Tantieme . . . ist." „Die Tragödie dient also als eine A r t Abführungsmittel, als Abteilungsfontanelle zweier Gemüthsaffectionen! Sollte man es glauben, daß eine solche Erklärung i n dem Jahrhunderte Hegels möglich sei?" Wo Bernays eine „nackte pathologische Erleichterungskur" sieht, geht es Aristoteles um „die παιδεία, die sittliche und geistige K u l t u r des Menschen überhaupt, die Veredelung des ganzen Menschen". Auch Spengel 91 ist sicher, daß Aristoteles „mehr und höheres" gewollt habe als „eine angenehme momentane Sollizitation", daß die Tragödie bestimmt sei, „das geistige, das i m Menschen lebt, über das sinnliche zu erheben und so der Gottheit näher zu treten". Ironisch nennt er in seiner Duplik an Bernays 92 ihre Differenz nur „eine graduelle Verschiedenheit: 86

s. Anm. 82, bes. I I , S. 58 ff. K a r l Zell, Aristoteles i n seinem Verhältnis zur griechischen Volksreligion betrachtet, i n : K a r l Zell, Ferienschriften. Neue Folge, Erster Band, Heidelberg 1857, S. 289—392, bes. 368 ff.; ders., Uber die Reinigung der Leidenschaften, i n : Chr. Walz, Arist. Poetik übers. 2. Aufl. besorgt v. K . Zell, Stuttgart 1859, bes. 63 ff. 88 s. o. A n m . 68; bes. Jb. 85, 1862, 404 f.; 95, 1867, 234. Arist. üb. Dichtkunst, gr. u. dt., Leipzig 1865, X X X V I . 89 Vgl. dazu E. Howald, Der K a m p f u m Creuzers Symbolik, Tübingen 1926. 90 s. o. Anm. 60; zit. S. 16 f., 28, 29, 37, 38. 91 s. o. A n m . 58; zit. S. 18, 20. 92 s. o. Anm. 63; zit. S. 461. 87

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Sie sind mit einem angenehmen vorübergehenden Reiz und Kitzel zufrieden; ich und die anderen mit mir finden etwas mehr als diesen, eine höhere Potenz .. Umgekehrt merken die Bernays i m allgemeinen zustimmenden Berichterstatter seinen zeitgenössischen Gegnern ab, was sie ärgere und witzeln, es sei wohl der „prickelnde Apothekergeruch" 93 oder der „kleinen medizinischen Beigeschmack oder Bisamgeruch" 94 . Julius Klein scheut sich nicht, dieses Motiv drastisch auszumalen und ruft schließlich den Hippokrates an, der die „Zurückführung von Aristotelischer Reinigung auf die klysterische des Herrn Bernays" als Frevel rügen würde 9 5 . Ein Ästhetiker findet, Bernays habe aus Lessings „Correctionshaus" gleich pragmatisch nun eine „Badestube" gemacht 96 . Das möge genügen, die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Das Ausmaß der Aufregung und die A r t der Reaktion lassen sich wohl nur so erklären, das Bernays einen neuralgischen Punkt getroffen hatte und die von seiner Überzeugungskraft erzwungene Zustimmung der bedeutenderen Köpfe als eine Bedrohung empfunden wurde. Dieser literarische Tumult hat geistesgeschichtlichen Symptomcharakter. Er ist ein Vorspiel späterer tieferer Einbrüche. Das idealistische Kulturbewußtsein des deutschen Bürgertums ist gefährdet. Es w i r d seit der Romantik auch vom nicht-olympischen Griechentum schon viel gewußt (neben Winckelmann lebt Zoëga in Rom), und die großen Sensiblen bringen es auch zur Sprache, wissend oder nicht, „Eichendorff ist schon ein bâteau ivre, aber eines noch auf dem Fluß zwischen grünen Ufern und m i t bunten Wimpeln" 9 7 . Aber die romantischen Entdeckungen der Nachtseite 98 werden als obligates Gären oder als Bohême bagatellisiert oder sonstwie eingefriedigt — exemplarisch etwa E. T. A. Hoffmann durch Hosemanns Illustrationen. Es gibt eine humanistische Schein-Rezeption der Nachtseite, sie konnte nicht halten. Nietzsche und Freud (um i n der deutschen Geistesgeschichte zu bleiben) bringen den Eklat, Bernays ist ihr Präludium. Bis hin zu Nietzsche ließ man die aus der Philosophie hervorgegangenen Radikalismen leicht auf sich beruhen; die Philosophie scheint dem Zentrum humanistischen Lebensgefühls ferner gestanden zu haben als die klassische Philologie. Bernays aber ist nun kein verirrter Philosoph, sondern ein klassischer Philologe und er sagt, nicht bessern solle die Tragödie, sondern für ein Weilchen heilen, durch künstliche Aufregung beruhigen, 03

s. o. Anm. 71. Susemihl, Arist. über Dichtkunst (Übers.), Leipzig 1865, S. L V I . 95 J. L. Klein, Gesch. d. Dramas I, Einl., Griech. Trag., Leipzig 1865, S. 22. 96 Carl Altmüller, Der Zweck der schönen Kunst. Eine aristotelische Studie, Cassel 1873, S. 35 f. 97 Th. W. Adorno, Noten zur L i t e r a t u r 1,1958, S. 120. 98 I m Anschluß an Gotthilf Heinrich Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften, Neubearbeitete . . . Auflage, Dresden 1818. 94

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Beklommenheiten abführen. Und andere klassische Philologen stimmen zu und machen dann den Zusammenhang m i t den Heiltänzen für Wahnsinnige noch deutlicher. Vielleicht ist das sogar noch schlimmer. Das Medizinische allein, auch wenn die Metaphorik drastisch ist, wäre vielleicht zu ertragen gewesen, Medizin ist fortschrittlich, und Psychologie und Ästhetik vertrugen sich vielfach schon ganz gut. Aber Heiltänze mit Rasseln und schrillen Flöten? V. I n den Jahren 1880—1882 behandelte der Wiener Nervenarzt Josef Breuer eine besonders intelligente Patientin, Bertha Pappenheim, die unter dem Namen „Fräulein Anna O." i n die Medizin- und Geistesgeschichte eingegangen ist (worüber ein anderes ihrer Verdienste, die erste Übersetzung der Memoiren der Glückel von H a m e l n " nicht vergessen werden sollte). Er entwickelte an und m i t i h r eine Methode, die von der polyglotten Patientin „chimney sweeping" (wohl nach Tom the chimneysweep i n Charles Kingsleys damals vielgelesenen „Waterbabies" 1 0 0 , denn Reinigungsmetaphern überhaupt gäbe es beliebig andere auch noch) und von Breuer selbst „kathartisch" genannt wurde. Das wäre vielleicht wieder vergessen worden, wenn nicht Sigmund Freud parallele Erfahrungen gemacht und sich m i t Breuer darüber ausgetauscht hätte. A u f sein Drängen erschien 1893 eine Vorläufige Mitteilung, 1895 das von beiden gemeinsam verfaßte Werk Studien über Hysterie 101 ; dort ist die „kathartische Methode" ausführlich beschrieben, aus der dann die Psychoanalyse wurde. Der von Bernays angestoßene Streit um die Katharsis war der gebildeten Welt so präsent 1 0 2 , daß m i t großer Wahrscheinlichkeit Breuer zumindest auch an sie gedacht hat, als er der Methode den Namen gab. Daß Freud eine Nichte von Jacob Bernays zur Frau hatte 1 0 3 , w i r d der Aufnahme dieses Begriffs jedenfalls nicht entgegengewirkt haben. Auch der später zur Symbolfigur erhobene Oedipus weist ja i n diesen 99

Privatdruck, Wien 1910. 1863 u. ö.; auch dt.; Freud kannte Kingsley gut (vgl. Brückner, s. u. Anm. 104). 101 Josef Breuer und Sigmund Freud, Vorläufige Mitteilung. Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene, i n : Neurologisches Centralblatt, 1893, Nr. 1 u. 2 (datiert Wien December 1892). — Dieselben, Studien über Hysterie, Leipzig und Wien 1895. Wiederabdruck der Vorl. M i t t . S. 1—14. — Vgl. auch van Boekel (s. u. V I I ) , S. 231. 102 Vgl. etwa Friedrich Seiler, Die aristotelische Definition der Tragödie i m deutschen Unterricht, i n : Festschrift zur 325jährigen Jubelfeier des fürstlichen Stolberg'schen Gymnasiums zu Wernigerode, Leipzig 1900, S. 47—71. 103 NDB I I 104; i n einem Brief vom 23. V I I . 1882 an seine Braut Martha Bernays erwähnt Freud den Onkel (Briefe 1873—1939, ausgw. u. hrsg. v. E. L. Freud, Frankfurt/Main 1960, S. 22). Bei E. Jones (S. Freud, Life and Work I, London 1954, p. 112) ist zu berichtigen, daß Jacob B. nicht i n Heidelberg, sondern i n Breslau und Bonn lehrte. 100

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Bereich der klassischen Bildung. Bislang freilich ist ein literarischer Zusammenhang nicht belegt 1 0 4 . Aber der sachliche Zusammenhang wurde früh bemerkt. Alfred Freiherr von Berger, Dozent der Philosophie und artistischer Sekretär des Burgtheaters, besprach die Studien über Hysterie und verglich das ärztliche Vorgehen mit dem, was sich in Dichtung, bei Shakespeare, ereignen kann 1 0 5 . Bald darauf gab er der Übersetzung der aristotelischen Poetik von Theodor Gomperz einen Essay bei 1 0 6 , i n dem er auf die sachliche Nähe von Bernays und Breuer/Freud ausdrücklich hinweist. Gomperz übersetzt κάθαρσης mit „Entladung" und stellt sich damit von vornherein zu Bernays. Berger nimmt das auf: „Die kathartische Behandlung, welche die Ärzte Dr. Josef Breuer und Dr. Sigmund Freud beschrieben haben . . . ist sehr geeignet, die kathartische Wirkung der Tragödie verständlich zu machen." Aber Aristoteles hat Unrecht durch die Beschränkung aufs Mitleid. „Das Mitleid ist der zündende Funke, nicht die Mine, die losgeht... Zur kathartischen Wirkung eines Gedichts ist erforderlich, daß es das Seelenleben schwelle und steigere, das Gehirn i n rege Assoziationsarbeit stürze . . . Die allgemeine Erregung ist Bedingung der besonderen Entladung." Die „kathartische Wirkung . . . der Tragödie . . . verschwindet i n ihrer Gesamtwirkung, welche sich als eine Steigerung, Concentration des seelischen Lebens darstellt und als solche unmittelbar als Seligkeit genossen w i r d . . . Davon hat Aristoteles keine Ahnung". „Steigerung und Erweiterung des Bewußtseins ist an sich Seligkeit und nur nebenbei gesund..." Also: Bernays hat recht i n Bezug auf Aristoteles, und der so verstandene Aristoteles pointiert an der Tragödie das, was die Breuer/Freudsche K u r auch leistet. Aber: „Der Zweck der Begeisterung ist die Nüchternheit... Hierin liegt das Unkünstlerische der Katharsis-Lehre", die keine Beziehung auf die künstlerische Qualität habe und die Rühr- und Schauertragödie begünstige. Wohl zum ersten Male legt hier einer den Aristoteles nicht so aus, daß er sich auf ihn

104 Peter Brückner, Sigmund Freuds Privatlektüre I — I V , i n : Psyche X V , 1961/2, 881—902; X V I , 1962/3, 721—743; X V I I I , 1963/4, 801—814 (der letzte Teil unter dem Titel: Zur gesellschaftlichen Biographie Sigmund Freuds. Die Genese seiner sozialen Ideen) — beschränkt sich leider auf Nachweis und I n t e r pretation belletristischer Lektüre. Walter Riese, The Pre-Freudian Origins of Psychoanalysis, New Y o r k - London 1958, hat einen Abschnitt „Catharsis" (p. 29—72), der aber sehr d ü r f t i g ist, Bernays überhaupt nicht kennt. — Ola Andersson, Studies i n the Prehistory of Psychoanalysis, Stockholm 1962, geht bei i m übrigen reichen Material auf die H e r k u n f t des Begriffs „kathartische Methode" nicht ein. 105 Seelenchirurgie, i n : Neue Freie Presse, Wien 2. Dec. 1895, vgl. Jones, a.a.O., I, 278. loa A l f r e d Freiherr von Berger, Wahrheit u n d I r r t u m i n der Katharsistheorie des Aristoteles, i n : Aristoteles Poetik, übersetzt und eingeleitet von Theodor Gomperz, Leipzig 1897, S. 69—98. Zit. S. 81 ff., 86, 87, 88, 90, 90 f.

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berufen kann. Vielmehr sagt der bedeutende Theatermann: Bernays versteht Aristoteles richtig, aber Aristoteles versteht zu wenig von der Kunst der Tragödie. I n den gleichen Wiener Umkreis gehört Hermann Bahr, der i n seinem Dialog vom Tragischen 107 eine Kulturtheorie u n d eine pessimistischkritische Theorie seiner fin-du-siècle-Gegenwart gibt, die auf der Verbindung von Bernays und Freud beruht. Bahrs Stück Die Andere (1905/6) hat Freud veranlaßt, einige Reflexionen über den Zweck des Schauspiels niederzuschreiben, die auf deutsch erst kürzlich zum ersten Male gedruckt worden sind: Psychopathische Personen auf der Bühne109. Sie stimmen der Sache nach genau zu Bernays, gehen vielleicht noch etwas über i h n hinaus: man könne die von Aristoteles dem Schauspiel [sie] zugewiesenen Zweck einer Reinigung der Affekte „etwas ausführlicher beschreiben, indem man sagt, es handle sich u m die Eröffnung von Lust- oder Genußquellen aus unserem Affektleben", u m ein „Austoben", eine „Erleichterung durch ausgiebige A b f u h r " . Genannt w i r d Bernays aber auch hier nicht. Bahr, das ist Literatur, Essayistik — aber forscherliche A t t i t ü d e und Prätention bis zu komischer Pedanterie kennzeichnen die vielfältigen kulturtheoretischen Bemühungen, die auf dem Boden der Psychoanalyse ihrer Ausbildung als therapeutischer Praxis folgten. Naheliegenderweise wurden für sie die Herleitung der Tragödie aus den Dithyramben und Satyrspielen, besonders aber natürlich die Oedipus-Geschichte und die bernaysisch verstandene Katharsis-Lehre ein regelmäßiges Bestandsstück — teils m i t 1 0 9 , teils ohne 1 1 0 Erwähnung von Bernays, wobei auch dort, wo er nicht erwähnt w i r d , die Formulierungen doch so nahe liegen, daß es eher scheint, als unterliege die Verwandtschaft des Meisters einem Namens-Tabu als daß Unkenntnis anzunehmen wäre; was die Verm u t u n g auf ein Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit noch bekräftigte. Die analytische Therapie i n der Nachfolge Freuds w i l l die pathogenen regressiven Momente durch möglichst verbales Realisieren auflösen, hofft, nicht n u r vorübergehend entlasten, sondern heilen zu können. Skeptischer schreibt A r n o l d Gehlen jeglicher Institution den Zweck einer stabilisierenden Entlastung zu, die das Mängelwesen Mensch der Mühe immer neuer Entscheidungen für gewöhnlich enthebe. Günter Graß ver107

Berlin 1904. Die Neue Rundschau 73 (1962), S. 53—57. Otto Rank, Das Inzest-Motiv i n Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens, Leipzig und Wien 1912, bes. S. 3—5, m i t zustimmender Erwähnung auch von Berger und Bahr. 110 Theodor Reik, Die Pubertätsriten der Wilden, in: Imago IV, 1915/16, 125— 144, 189—222, bes. 221 f. — Alfred Winterstein, Der Ursprung der Tragödie. Ein psychoanalytischer Beitrag zur Geschichte des griechischen Theaters (ImagoBücherei V I I I ) , Leipzig/Wien/Zürich 1925, bes. S. 184. 108 109

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kehrt diese beiden Entlastungsweisen kritisch gegeneinander: i m Zwiebelkeller i n Düsseldorf (Blechtrommel Buch III) findet die Gesellschaft Entlastung in der Regression, schließlich einmal i n einem überwältigenden Ritual, das alle Züge einer Korybantiasis trägt und i n dem man die aristotelische Katharsis durch Musik (freilich nicht durch Tragödie) wiedererkennen kann. VI. Nietzsche pflegte seine Quellen — oder wie immer man nennen mag, was ihn bei anderen Autoren beeindruckte, was er von ihnen rezipierte — meist zu verschweigen. Wer die Geburt der Tragödie kennt und die Abhandlung von Bernays liest, w i r d von der stofflichen und gedanklichen Nähe frappiert sein. Eingehendere Vergleiche w i r d ihr Neudruck 4 4 bequem machen. Daher hier nur einiges über die äußeren Umstände der Beziehung: Nietzsche wußte als Schüler Ritschis zweifellos von Bernays, kannte sicher alle seine Schriften. I n der großen Schule Ritschis, deren Angehörige schließlich bis um mehr als eine Generation verschieden alt waren, gab es über die Wissenschaft hinaus viele enge Freundschaften, zu denen natürlich Ambivalenzen gehörten und die K r i t i k zuließen, wofür ζ. B. die Briefe Otto Ribbecks aufschlußreich sind, gerade i m Blick auf Bernays 1 1 1 . Nietzsche erwog 1865, um Bernays' willen nach Breslau zu gehen 112 , aber gerade da kam dieser nach Bonn zurück, das Nietzsche, und nicht nur ihm, durch den Streit zwischen Jahn und Ritsehl verleidet war, so folgte er Ritsehl nach Leipzig. Zwei Jahre später ist seine Einschätzung Bernays' zwiespältig. Offenbar auf Grund von Erzählungen aus Bonn schreibt er an Deussen 113 : „Gerade die schöne Fähigkeit der Begeisterung ist am seltensten unter den jetzigen Philologen, als trauriges Surrogat derselben zeigt sich Selbstüberschätzung und Eitelkeit. Es hat mich geradezu geschmerzt, dies auch von Bernays zu hören, den ich i m ganzen doch als den glänzendsten Vertreter einer Philologie der Zukunft, d. h. der nächsten Generation nach Ritsehl, Haupt, Lehrs, Bergk, Mommsen usw. aufzufassen gewohnt bin." Bei einer publizierten und doch nicht als „Werk" geführten Arbeit, die Nietzsche als Student begann und als Professor beendigte, dem Register 111 Otto Ribbeck, Ein B i l d seines Lebens aus seinen Briefen, 1846—1898. Hrsg. v. Emma Ribbeck, Stuttgart 1901; s. bes. S. 50—56,128, 268/9. 112 F. Nietzsche an Rosalie Nietzsche v. 12.1.1866, H i s t . - K r i t . Ges.-Ausg. Briefe, Hrsg. W. Hoppe [ = H K B ] , I I (1938), 26; an Franziska u n d Elisabeth Nietzsche vom gleichen Tage, H K B I I , 28. 113 H K B I I 208 (v. 2. V I . 1868), ähnlich an E. Rohde v. 6. V I . 1868, H K B I I 212.

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des von Ritsehl herausgegebenen Rheinischen Museums 1842—1869, mußte er Bernays und dem Streit um die Katharsis oft begegnen 114 . I n Notizen zur Vorbereitung seiner Vorlesungen wie zu den philologischen Schriften w i r d immer wieder Bernays genannt 1 1 5 , mit mehreren seiner Arbeiten, andererseits auch mit Bemerkungen, die sich unzweifelhaft auf die Katharsis-Frage beziehen oder auf sie anspielen, solche auch i n den Briefen 1 1 6 . Nietzsche hat Bernays' Buch i m Mai 1871 aus der Basler Universitätsbibliothek entliehen 1 1 7 . Vorarbeiten und Nachträge zur Geburt der Tragödie sind mit Beziehungen auf die Zusammenhänge der aristotelischen Poetik durchsetzt. I n einer m. W. nirgends gedruckten Notiz heißt es: „I. Das antike Drama und das neue. Leiden und Tun Grundgegensätze. Ursprung dort aus L y r i k , hier aus Epik. Dort Masken, kein Mienenspiel. Vielleicht von der arist. Definition auszugehen. (Bernays) 1 1 8 ." So w i r d man sagen müssen, daß Nietzsches Geburt der Tragödie — selbstverständlich ohne daß die bekannte Bedeutung Schopenhauers und Wagners für sie ihr Gewicht verlöre — i n den weiteren Zusammenhang der Katharsis-Schrift von Bernays und des Streites um sie gehört. Bernays scheint es selbst so gesehen zu haben; am 4. Dezember 1872 schreibt Cosima Wagner an Nietzsche aus Köln, „daß Roggenbach und seine Freundin, die Fürstin Neuwied, es [das Buch, die ,Geburt der Tragödie'] lesen, und daß Berneis erklärt hat: es enthielte seine Anschauungen nur übertrieben! Sonst beschäftigen sich die adeligen Frauen damit, daß sie Hemden für die Jesuiten nähen! 1 1 9 " A m 7. Dezember 1872 schreibt Nietzsche an Rohde: „Das Neueste ist, daß Jacob Bernays erklärt hat, es seien seine Anschauungen, nur stark übertrieben. Ich finde das göttlich frech von diesem gebildeten und klugen Juden, zugleich aber als ein lustiges Zeichen, daß die ,Schlauen i m Lande' doch bereits etwas Witterung haben." Rohde selbst hatte in der wohl vor diesen Briefen abgefaßten und gedruckten „Afterphilologie", seiner Replik auf das Pamphlet von Wilamowitz gegen Nietzsche, auf die Nähe zu 114 115 11β

203.

117

F r a n k f u r t / M a i n 1871. Vgl. die verschiedenen Register. ζ. B. an Rohde v. 4. V. 1868, H K B I I 197; an Ritsehl v. 12. V. 1868, H K B I I

M. Oehler, Nietzsches Bibliothek. 14. Jahresgabe d. Ges. d. Freunde d. Nietzsche-Archivs, (Weimar) 1942, S. 49. 118 Goethe-Schiller-Archiv Weimar, Nachl. Nietzsche, Ρ I 15 (Nr. 71), 210. 119 Die Briefe Cosima Wagners an Friedrich Nietzsche, hrsg. v. E. Thierbach, I I , Weimar 1940, S. 42. Die Fürstin zu Wied unterhielt i n Schloß Monrepos eine bedeutende Geselligkeit, an der viele Bonner Professoren teilhatten, darunter Bernays m i t Vorzug. Vgl. dazu M. Kremnitz, Marie, Fürstin Mutter zu Wied, Prinzessin von Nassau, Leipzig 1904. — Franz Freiherr von Roggenbach, badischer Staatsmann, als Haupt der süddeutschen Liberalen ein Gegenspieler Bismarcks, von diesem m i t dem Aufbau der Reichsuniversität Straßburg betreut und abgelenkt.

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Bernays hingewiesen. I n seiner A n t w o r t aber auf Nietzsches Mitteilung über jene Bemerkung von Bernays gibt Rohde sich den Anschein, als pflichte er Nietzsches Urteil über Bernays bei 1 2 0 . Otto Crusius zitiert Elisabeth Försters Aufzählung der Stimmen zum Erscheinen der Geburt der Tragödie und fährt f o r t 1 2 1 : „Hinzuzufügen ist noch ein wahrhaft Stimmberechtigter, der Löser der Katharsis-Frage J. B e r n a y s . . . " ; er scheint also von einer Äußerung Bernays' über Nietzsche gewußt zu haben, jedenfalls war ihm der Zusammenhang ganz deutlich, während er i m übrigen unbemerkt blieb, obwohl die oben erwähnte Bibliographie von 1927 die Geburt der Tragödie ohne weiteres unter den Schriften zur aristotelischen Poetik aufführt 1 2 2 . I m Mai 1866 legte Graf Paul Yorck von Wartenburg (1835—1897) das Staatsexamen für die höheren Verwaltungsämter ab. Die schriftliche Arbeit dafür erschien i m gleichen Jahre als Buch und trug den Titel: Die Katharsis

des Aristoteles

und der Oedipus Coloneus des Sophokles.

Diese Schrift blieb die einzige zu Lebzeiten des Verfassers gedruckte, dennoch eröffnete sie ein philosophisches Lebenswerk, das, je mehr von i h m zum Vorschein kommt, desto gewichtiger erscheint. I n Briefen und fragmentarischen Aufzeichnungen hat der schlesische Majoratsherr mächtige Aperçues zur Geschichtsphilosophie niedergeschrieben 123 . Yorck hat als 20jähriger stud. iur. Bernays (und Mommsen) persönlich kennengelernt, Januar 1856 i m Hause des Breslauer Orientalisten Stenzler 1 2 4 . Das braucht nicht der Anlaß gewesen zu sein, die Diskussion um den Katharsis-Begriff aufzunehmen, sie hätte auch ohne dies i m Interessenumfang des jungen Grafen, wie seine Briefe ihn bezeugen, gelegen. Anders als bei Nietzsche geschieht hier die Anknüpfung an Bernays ganz ausdrücklich. Yorck referiert die Kontroversen um Bernays, stimmt ihm weitgehend zu, kommt aber durch eine Interpretation des Oedipus Coloneus zu einem 120 H K B I I I (1940) 328. — E r w i n Rohde, Afterphilologie. . . . Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner, Leipzig 1872, S. 42. — Rohde an Nietzsche, K i e l 12.1.1873, Nietzsches Ges. Br. I I : Briefwechsel m i t Rohde, hrsg. v. E. Förster-Nietzsche u. F. Schöll, Berlin/Leipzig 21902, S. 385. 121 E. Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsches, I I , 1, Leipzig 1897, S. 68—74; O. Crusius, E r w i n Rohde. E i n biographischer Versuch, Tübingen und Leipzig 1902, S. 58 Anm. 3. 122 Cooperi Gudeman, a.a.O., S. 129 f. 123 Briefwechsel Dilthey-Yorck, Hrsg. S. v. d. Schulenburg, Halle 1923; I t a l i e nisches Tagebuch, hrsg. v. ders., Darmstadt 1927, 3. Aufl. Leipzig 1941; Bewußtseinsstellung u n d Geschichte, Hrsg. I. Fetscher, Tübingen 1956; Heraklit, hrsg. v. dems., i n : Arch. f. Philos. I X , 1959, S. 214—284; Gedanken über eine Reform des Gymnasialunterrichts i n Preußen, hrsg. v. J. v. Kempski, ebd. S. 285—313. 124 Vgl. K . Gründer, Entstehungsgeschichtliche Voraussetzungen f ü r Yorcks Frühschrift, i n : Collegium Philosophicum, Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel/Stuttgart 1965, S. 58—71, bes. 68 f.

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entscheidenden Schritt über ihn hinaus: Die Tragödie hat sich aus den Dionysien entwickelt, die Dionysien aber müssen geschichtlich verstanden werden; sie entspringen der Not, in die der griechische Geist durch Spaltung von Selbstbewußtsein und Gottesbewußtsein geraten war; die Ekstase des Kultes und die auf ihn zurückgreifende heilsame Aufregung der Tragödie erlösen zeitweilig aus der Qual des Bewußtseins der Gottverlassenheit. Bernays' Deutung der aristotelischen Katharsis ist richtig, aber sie gehört in einen geschichtsphilosophischen Horizont: Nicht vom Druck latenter Affektionen, sondern vom Schmerz des gottverlassenen Bewußtseins gewährt die Tragödie zeitweilig Befreiung. Die antike Tragödie steht an der äußersten Grenze des heidnisch-unerlösten Bewußtseins; es droht die Vernichtung der Menschheit, da w i r d durch Christus die Erlösung Tatsache, der gegenüber die verfliegende Wirkung des tragischen Theaters aber nicht versinkt, sondern als Präfiguration, als eine A r t praeparatio evangelii ihren Sinn behält. I n Yorcks Abhandlung schneidet sich also die alte Diskussion um den Katharsis-Begriff, die Bernays neu entfacht hatte, mit einer geschichtstheologischen Tragödientheorie. Zwei Abstraktionen heben einander auf: die Katharsis bleibt nicht mehr nur ein individuell-psychischer Vorgang, das Antik-Tragische w i r d zur geschichtlichen Gestalt, und das bloß Visionäre einer romantischen Geschichtstheologie konkretisiert sich durch die Beziehung auf die erfahrbare Wirkung der Tragödie. Yorcks Grundthese von der Einheit des Psychischen und Historischen ist hier exponiert, sein späteres Denken von den Gesprächen mit Dilthey in den 70er und 80er Jahren bis zu den großen Fragmenten der 90er Jahre w i r d es entfalten. Nietzsche hat Yorcks Schrift während der Entstehungszeit der ,Geburt der Tragödie 4 zweimal entliehen 1 2 5 ; ob er sie auch gelesen hat, kann man nicht wissen. Wichtiger aber als eine unmittelbare Beeinflussung ist die den Schriften Yorcks und Nietzsches gemeinsame Zugehörigkeit zur Diskussion um Bernays. Innerhalb ihrer haben Yorck und Nietzsche gegenüber allen anderen Beiträgern gemeinsam, daß sie von der Deutung der tragischen Katharsis als einem Vorgang in der Seele des Einzelnen, einer ungeschichtlichpsychologischen Bestimmung also, fortgehen zu einer geschichtsphilosophischen Theorie der Tragödie. Aber auf diesem gemeinsamen Boden stehen sie sich diametral gegenüber: Yorck sieht das tragische Zeitalter durch Christus aufgehoben, Nietzsche durch Sokrates. Nietzsche beklagt diese Aufhebung als Zerstörung und möchte hinter sie zurück. Yorck bejaht sie, lebt von ihr und denkt aus ihr.

1 2 5

Oehler

(s. o. A n m .

117),

S .

4 7

u n d

48.

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VII. Die Diskussion i n der Philologie erlosch nie ganz, wurde aber durch Wiederholungen langweiliger. Die Verbesserung des Textes durch die Erschließung der arabischen Übersetzung 1 2 6 half für die Katharsis-Formel nicht weiter. Finsler 1 2 7 wollte der aristotelischen Poetik die Eigenständigkeit gegenüber Piaton absprechen, H o w a l d 1 2 8 modifizierte das dahin, daß ihr eine vorplatonische (pythagoreische?) Musik- und Dichtungstheorie zugrunde liege; der „Brouilloncharakter" rühre von der Übernahme eines alten kunsttheoretischen Textes her. 1928 brachte die Bibliographie von Cooper und Gudeman 1 2 9 gleichsam die alexandrinische Kodifikation der jahrhundertelangen Verhandlungen, aber Gudemans eigene Edition von 1934 130 repräsentierte i n ihrem Kommentar zumal bezüglich der Bernays-Frage keineswegs eine communis opinio, sondern steht dieser eher entgegen m i t der Behauptung, es gebe keine „Bernaysianer strenger Observanz" mehr 1 3 1 . Die philologisch-religionsgeschichtliche Arbeit von Jeanne Croissant Aristote et les Mystères 132 breitete reiches Material an Phänomenen aus, die Plato und Aristoteles vor Augen gestanden haben und verstärkte damit den etwa m i t dem Stichwort κορυβαντίασις anzudeutenden Hintergrund der aristotelischen Katharsis-Lehre weiter. I n großem Stile wurde die Diskussion 1940 wieder aufgenommen von dem Germanisten Max Kommereil: Lessing und Aristoteles 133. Die geistesgeschichtliche Lage ist gänzlich verwandelt gegen die Zeit des Sturms um Bernays. Die idealistische Welt, die i n i h m gegen die Nachtseite verteidigt wurde, ist i n aller Öffentlichkeit zusammengebrochen. Nietzsche ist i n die Philosophie, ja auch i n die Philologie (Reinhard, W. F. Otto) rezipiert. Freud ist nicht wegzudenken, aber i n Deutschland darf man i h n 1940 nicht nennen. Mythos w i r d i n vielen Formen, von nüchterner Einsicht bis zu fatalen Illusionen, wieder „geglaubt". Vom stärksten Mythen-Neustifter, der seine Anfänge geprägt hatte, von Stefan George, 126 D. S. Margoliouth, Analecta orientalia ad Poeticam Aristoteleam, London 1887; ders.y The Poetics of Aristotle, transi, from Creek into English and from Arabic into Latin, w i t h a revised text etc. . . . London/New York/Toronto 1911; I. Tkatsch, Die arabische Übersetzung der Poetik des Aristoteles und die Grundlage der K r i t i k des griech. Textes, Wiener A k . d. Wiss., Bd. 1,1928, Bd. I I (hrsg. v. A. Gudeman und Th. Seif), 1932. 127 Georg Finsler, Piaton und die Aristotelische Poetik, Leipzig 1900. 128 Ernst Howald, Die Poetik des Aristoteles, i n : Philologus 76, 1926, S. 215— 222; später weiter ausgeführt von M a x K u r t Lienhard, Zur Entstehung. Geschichte von Aristoteles' Poetik (Diss. phil. Zürich 1948), Zürich 1950. 129 s. o. Anm. 8. 130 s. o. Anm. 4. 131 Ebd., S. 167. 132 Liège/Paris 1932. 133 Frankfurt/Main 1940,21957. Zit. S. 96, 53, 59, 60, 92, 93, 102, 101, 99, 102, 106.

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hatte Kommerell sich unter Schmerzen abgewandt 134 . Heidegger hatte A r i stoteles neu erschlossen 135 . Schlechta hatte Goethes vielfältige Beziehungen zu Aristoteles i n einer umfassenden Darstellung überschaubar gemacht 136 . Selbständig gegen das Myrthen- wie gegen das Seinsdenken nimmt Kommereil den Aristoteles auch der Poetik als Anthropologen und versteht zugleich die vielgestaltige Wirkungsgeschichte, i n der das verkannt werde, i n ihrer historischen Notwendigkeit und i n ihrem indikatorischen Sinn. Die Tragödiendefinition ist ein „vollkommen durchgeführter Funktionalismus": Es w i r d „die Gesetzmäßigkeit der Gattung keineswegs aus sich, sondern aus dem anthropologisch begriffenem Dichten einerseits und der ebenfalls anthropologisch begriffenen Aufnahme des Gedichteten beim Zuschauer oder L e s e r . . . " andererseits verstanden. „Das Schema der Tragödie und die tragische Katharsis stehen zueinander i m Verhältnis von δύναμις (Potentialität) und ένέργεια ( A k t u a l i t ä t ) . . . die Tragödie ist die δύναμις, die Katharsis die ένέργεια." „Die Tragödie ist also die Anlage zum A k t der Katharsis und i n diesem Sinne, metaphysisch, kein Wesen und keine Form, — so sehr sie i m Besonderen, als tragische Form, Form ist." Daß Goethe „die Frage nach den Wirkungen strengstens aus jeder Kunstlehre verweist, bedeutet nicht eigentlich ein Bekenntnis zur Kunst um der Kunst willen, sondern gehört zum morphologischen Verfahren, das gerade die höchste menschliche T ä t i g k e i t . . . als andere Form der Naturtätigkeit a u f f a ß t . . . vollkommen aristotelisch" 137 . Corneille wie Lessing haben die Wirkung auf den Zuschauer als etwas zum tragischen Kunstwerk Gehöriges verstanden, aber ihnen ist die Einheit dieses Lebensprozesses entschwunden, sie ersetzten sie durch die Zweiheit einer ästhetisch begründeten Form und eines moralisch gewerteten Effektes. Κάϋαρσις των παθημάτων — Kommerell erörtert nochmals die ganze Deutungsgeschichte seit der Renaissance, aber mit neuen Gesichtspunkten 138 — muß als gen. sep. verstanden werden. Der Zuschauer w i r d von Furcht und Mitleid befreit. Φόβος sollte statt als horror besser als terror oder timor oder metus verstanden werden. Empfindungen haben eine Geschichte, das christliche Mitleid hat ein auf den Kern dringendes Verständnis der Tragödiendefinition verhindert. M i t leid ist für Aristoteles „ein schmerzlicher Affekt", ein „Übel". Die 134 Hans-Georg Gadamer, Gedenkrede auf M a x Kommerell, i n : M. K o m merell, Dichterische Welterfahrung, F r a n k f u r t / M a i n 1952, S. 205—227. 135 Von den ungemein einflußreichen Aristoteles-Vorlesungen Heideggers i n den 20er Jahren ist noch immer nichts veröffentlicht; ihre W i r k u n g bezeugt sich jedoch vielfältig i n Aristoteles-Arbeiten von Schülern und Enkelschülern. 138 Goethe i n seinem Verhältnis zu Aristoteles, F r a n k f u r t / M a i n 1938. 137 Kommerell, a.a.O., 62, dazu S. 258—262 über Goethes Verhältnis zu Aristoteles. 138 Kommerell, a.a.O, S. 262—272.

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κάθαρσις w i r d ganz bernaysisch beschrieben, als Reinigung von etwas Störendem. „Die Tragödie ist die schlechthin aufregende D i c h t a r t . . . welche die größte Affektentladung herbeizuführen bestimmt i s t . . . als solche nur der Musik zu vergleichen." So w i r d durch Entladung die Reizbarkeit des Zuschauers für eine Weile gedämpft, und „wenn es nicht mehr vorhält, sind neue Tragödien da", ein Heil-, kein Erziehungsverfahren. Gleichzeitig und unabhängig von Kommerell behandelt der Philologe Dirlmeier die κά^αρσις τών παθ-ημάτων139, und zwar von der PolitikStelle aus: tragische und musikalische Katharsis sind genau identisch und haben nichts mit παιδεία und διαγωγή zu tun, gehören vielmehr ganz i n den Bereich der ήδονή und der παιδιά; es läßt sich endgültig entscheiden, daß gen. sep. vorliegt, zumal eine bisher unbeachtete Theophrast-Stelle bestätigt es. 1955 nahm Schadewaldt die Frage wieder auf 1 4 0 und bemühte sich i n Fortführung von Kommereil und Dirlmeier und wieder m i t Wendung gegen Lessing um die Klärung der Worte φόβος und ελεος. Er w i l l sie nicht mehr mit „Furcht und Mitleid", sondern mit „Schrecken, Schauer", und „Jammer, Rührung" wiedergeben, als „seelisch-leibliche Elementaraffekte" also. Der von Weil und Bernays gefundene Grundsinn der Purgierung ist, auch wenn man Bernays' Umdeutung zur „Entladung" nicht folgt, doch „die Grundlage für alles weitere". „Die E l i m i n i e r u n g . . . der christlich-ethischen Tugendvorstellungen mag etwa zur Beseitigung der inneren Hindernisse beigetragen haben, die es für viele unter uns nicht recht erträglich erscheinen ließen (und lassen), daß κά^αρσις lediglich etwas so ,Roh-Elementares' wie Purgierung, Fortschaffen bezeichnen soll." Es ist zu prüfen, ob nicht auch „die κάθαρσις ohne irgendwelche ,höhere' Ansprüche zunächst rein als seelisch-leiblicher Elementarvorgang zu verstehen sei". Dafür bringt Schadewaldt über Dirlmeier hinaus weiteres bei. Aristoteles w i l l „einzig und allein auf die nähere Charakterisierung der für die Tragödie spezifischen Lust und Freude hinaus". Der Dichtungstheoretiker hat damit genug geleistet, der Staatstheoretiker muß es noch gegen Piatons Hegemonie der Erziehung wenden. Da w i r d die Katharsis-Lehre eine „hochgedachte Staatshygiene": die Unterhaltung (παιδιά) ist eine A r t medizinischer Heilkur (ιατρεία τις) für die mit den Anstrengungen gegebene Beschwerlichkeit. Moralische und antimoralische Deutung sind jeweils viel zu summarisch. Dichtung ist für Aristoteles eine „umfassende natürliche Vitalpotenz" (wie Goethe sie verstanden habe). Sie ist eine „genuine Lebenserscheinung, auf das TotalHumane gegründet". Helmut Flashar hat dann Schadewaldts Deutung noch weiter bestätigt durch den reich belegten Nachweis, daß nicht nur κάθαρσις, sondern 139 Hermes 75, 1940, 81—92, bes. 87 f.; Theophr. fr. 89. 140 Furcht u n d Mitleid? Z u r Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes, i n : Hermes 83,1955,129—171. Zit. S. 153,156,162,163,164,168,170.

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auch ελεος und φόβος, und zwar i m besonderen als Paar, eine spezifisch medizinische Bedeutung Moulinier aus der griechischen Literatur breites tischen Reinheitsvorstellungen zusammengetragen

i n dieser Zuordnung, haben 1 4 1 , während L. Material zu den kulhatte 1 4 2 .

Hat also Bernays sich, mit leichten Modifikationen, durchgesetzt? Es wäre befremdlich, wenn die berichtete Folge von Arbeiten, die seine Deutung fortführen, nicht doch auch Widerspruch gefunden hätte. Aber es ist keine Entrüstung mehr, die sich auf vermeintlich Selbstverständliches beruft. Volkmann-Schluck 1 4 3 versucht eine „Wesensbestimmung" der Tragödie i m „metaphysischen Bereich der Wahrheit über das Seiende überhaupt und im ganzen". Er meint an Kommerell anzuknüpfen, wendet sich aber nicht nur gegen seinen anthropologischen Ansatz, sondern kommt auch wieder beim gen. obj. heraus. „Die reine Furcht ist das vom H i n und Her sich enthaltende An-sich-Halten, welches den Beschauer i n das Standhalten vor erscheinendem Geschick festigt", und „das reine Mitleid ist die aufnehmende Anerkennung des erscheinenden Geschicks". „Die Tragödie vollführt i m Durchgang durch Mitleid und Furcht die Reinigung solcher Erleidnisse." „Durch dieses (sc. das Furcht- und Mitleidhafte) führt die Tragödie hindurch, aber nicht aus ihm heraus und hinweg, sondern gerade hinein i n das Reine seines Wesens." Schadewaldt bemerkt dazu: „Wenn Volkmann-Schluck, der i n seinem tiefgreifenden Aufsatz aus Eigenem Wichtiges über die Tragödie zu sagen hat, ,reinigen' gleich ,ins Reine des Wesens bringen' faßt, so ist ihm, fürchte ich, eine aus dem Deutschen begreifliche Äquivokation unterlaufen, da i m Deutschen peinigen'. .. gern ein Läutern und Zurückführen eines Gegenstandes auf sein fleckenloses Selbstsein bezeichnet... das Verbum καθ-αίρειν aber g e h t . . . ganz überwiegend auf das Fortschaffen von Flecken, Schlakken . . . nicht aber auf ein Quintessentieren 144 ." Volkmann-Schlucks Deutung läuft, der ontologischen Diktion entkleidet, i m Kern auf die alte moralische Interpretation hinaus. Ganz ausdrücklich dagegen w i l l zu dieser zurück Rudolf Schottlaender 1 4 5 , der sich gegen die „kanonische Geltung von Bernays" wendet, vor 141 Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der W i r k u n g der Dichtung i n der griechischen Poetik, i n : Hermes 84,1956,12—48. 142 Le pur et l ' i m p u r dans la pensée des Grecs d'Homer a Aristote. Paris 1952. 143 K a r l - H e i n z Volkmann-Schluck, Die Lehre von der Katharsis i n der Poetik des Aristoteles, i n : Varia Variorum. Festgabe für K a r l Reinhardt, Münster/Köln 1952. Zit. S. 105,117 Anm. 115,116. 144 s. o. Anm. 140, S. 151 Anm. 145 Eine Fessel der Tragödiendeutung, i n : Hermes 81, 1953, 22—29; gegen Schottlaender: K u r t von Fritz, A n t i k e u n d moderne Tragödie, Berlin 1962, S. 470 f. (in der Einleitung des Buches auch Allgemeineres über κάθαρσις) ; Sch.'s Erwiderung i n der Besprechung des Buches v. Fritz: Deutsche L i t e r a t u r - Z e i tung 84, 1963,414—41).

Jacob Bernays und der Streit

m die Katharsis

527

allem das τοιούτων wieder so interpretiert (mit Belegen), daß Mitleid und Furcht nicht nur sich reinigen, sondern auch (und vor allem) die anderen dargestellten Leidenschaften (wie Herrschsucht usf.). Auch nach R. Stark 1 4 6 vollbringt die Tragödie eine „ethische Leistung". Und Max Pohlenz, den Gudeman 1934 noch den „letzten Bernaysianer" genannt hatte 1 4 7 , meldet sich zu einem „Nachwort" 1 4 8 auf Schadewaldts Aufsatz, worin er, gestützt auf eine Arbeit W. Burkerts „Zum altgriechischen Mitleidsbegriff" 1 4 9 nachzuweisen sucht, daß ελεος doch nicht etwas so ganz anderes als das christliche Mitleid sei. Auch Dirlmeiers Zuordnung der κάθ-αρσις zur παιδιά w i l l er einschränken. Schadewaldts Alternative, daß, wenn die Kunst eine „natürlich-geistige Vitalpotenz" sei, sie dann mit Ethik nichts zu tun habe, sei nicht griechisch. Pohlenz erinnert an das καλόν und den kultischen Ort der Tragödie und an die Frösche des Aristophanes, die eine Poetik enthielten. Der vorläufig letzte Editor und Kommentator der Poetik, Else 1 5 0 , verhält sich, wie schon Gudeman, insofern konträr zu Dirlmeier und Schadewaldt, als er die Beiziehung der Politik-Stelle scharf ablehnt, die κάθαρσις^ίεΐΐθ in der Poetik für sich verstehen und — über die vorherrschenden Stoffe, Fabeln der Tragödien — mit alter Blutrache-Reinigung zusammenbringen will. Wiederum unabhängig von diesen Erörterungen schrieb gleichzeitig der holländische Ordensmann van Boekel über Katharsis mit dem Untertitel „eine philologische Rekonstruktion der aristotelischen Gefühlspsychologie" 1 5 1 . I h m ist die aristotelische Katharsis-Lehre heute noch aktuell: Freud ist auf dieselbe Realität gestoßen wie Aristoteles, die Analytiker haben i n diese Realität eine deutlichere Einsicht als die Philologen. So w i r d die aristotelische Katharsis-Lehre i n unmittelbare Verbindung gebracht mit der modernen Psychotherapie und den weitausgebildeten Theorien, mit denen ein phänomenologisch sich orientierender Thomismus diese zu fundieren sucht. Van Boekel ist ebensowohl der einzige, der bisher nachgeforscht hat, ob Freud Bernays gelesen habe (freilich vergeblich) — wie er Freud i n einem Atemzuge mit Thomas von Aquin zitiert. Die psychoanalytischen Kulturtheorien sind ihm suspekt, aber die Praxis der Psychotherapie, zentriert in der Katharsis, ist ihm die Applikation der thomistischen Lehre von der leib-seelischen Ganzheit des Menschen und die aristotelische Katharsis-Lehre, der bei Thomas selbst 146

Rudolf Stark, Aristoteles-Studien (Zetemata 8), München 1954. s. o. Anm. 4 S. 167. 148 Furcht und Mitleid? E i n Nachwort, i n : Hermes 84, 1956, 59—74, bes. 72. 149 Diss. phil. Erlangen 1955 (vgl. H. Seyffert, Rez. Gnomon 31, 1959, 389—393). 150 s. o. Anm. 11, bes. S. 423 ff. 151 C. W. van Boekel, Katharsis. Een filologische reconstructie van de psychologie van Aristotele omtrent bet gevoelsleven, Utrecht 1957. Vgl. bes. S. 232 f. 147

528

Karlfried Gründer

nur Andeutungen entsprechen, die aber leicht m i t i h m i n Einklang zu bringen sei, die Vermittlung. Darum kann van Boekel i n ausführlichen Erörterungen den kathartischen Wirkungen des Films und der Romane ζ. B. Graham Greenes nachgehen. — Hier ist die von Bernays ausgegangene „amoralische" Interpretationslinie auf einem weiten Umweg, aber durchaus einleuchtend — i n Schadewaldts Formulierung von der „hochgedachten Staatshygiene" deutete es sich auch an — wieder an einen Punkt angelangt, wo die Katharsis durch Kunst i n einer A r t moralischen, hier nun i m näheren pastoralen Funktion gesehen wird, insofern sie einer klugen Seelenführung als reales Moment der leiblich-sittlichen Ganzheit des Menschen beachtlich sein müsse. Es ist schade, daß diese Pointe der Rezension i m repräsentativen Gnomon152 entgangen ist. Die Diskussion geht inzwischen weiter.

152 Die Rezension 31, 1959, 210—216, beschäftigt sich vor allem m i t der Frage, wieweit das entwicklungsgeschichtliche Verfahren W. Jaegers der Katharsis-Problematik gerecht werden könne und verneint sie; bezüglich der Verbindung Aristoteles/Freud kommt sie zu dem Resultat, „daß die Verschiedenheiten größer sind als die Gemeinsamkeiten" (215).

Europäisches G r o ß r a u m d e n k e n Die Steigerung geschichtlicher Größen als Rechtsproblem

V o n Joseph H. Kaiser, Freiburg I. Die Einsicht i n die Zunahme geschichtlicher Größenverhältnisse ist eines der ersten Resultate europäischer Geschichtsschreibung. Thukydides hat diese Erkenntnis i n seiner Archäologie 1 als Erfahrungssatz entwickelt. A m Schiffsbau, an der Seefahrt, an den Rüstungen, an den Heeren, an den ökonomischen Mitteln, an den Ereignissen und an der konkreten politischen Macht („δύναμις" I, 9) w i r d die Ausdehnung ins Größere w a h r genommen u n d hervorgehoben. Was so an dem Gewesenen erkannt w i r d , g i l t auch für das Künftige (I, 22). Thukydides steht i n dieser Ansicht von der geschichtlichen Entwicklung zu immer größeren Einheiten offensichtlich seinem Lehrer Anaxagoras nahe; dieser hatte i n seinen Fragmenten über die Natur gelehrt: So wie es beim Kleinen „stets ein noch Kleineres" gebe, so gebe es auch beim Großen „immer ein noch Größeres" (fr. 3). A u f die N a t u r f ü h r t auch Thukydides den von i h m aufgewiesenen Steigerungsprozeß zurück, u n d die Natur — die des Menschen — bewirkt, daß die zukünftige Entwicklung gleich oder ähnlich verläuft wie die vergangene (I, 22). Dabei besteht für den Historiker w i e für den Naturforscher kein Zweifel, daß sich i n dem geschichltichen Trend zur größeren Einheit das Kleinere i n irgendeiner (wenn auch untergeordneten) Form erhält 2 . Dieses Fortschreiten w i r d von Thukydides nicht wie von den Sophisten offen als welthistorisches Prinzip ausgewiesen; die monographische Beschränkung auf den Peloponnesischen K r i e g und seine Vorgeschichte ließ das anscheinend nicht zu. So finden w i r denn auch sonst i n seinem Werk keine andere absolut geltende Kategorie als die der menschlichen Natur. Diese aber wird, wie sich zeigen w i r d , m i t solcher Konsequenz und m i t so allgemeinem Anspruch als die Ursache für das Wachstum der Größen1

Geschichte des Peloponnesischen Krieges, 1,1—23. Anaxagoras betont das Miteinander von Kleinem und Großem (fr. 6). Auch i n dem von Thukydides gezeichneten Geschichtsverlauf erhält sich ein pluralistisches Nebeneinander von Kleinem, Großem und immerfort Größerem. 2

34 Festschrift für Carl Schmitt

530

Joseph H. Kaiser

Verhältnisse angeführt, daß w i r in diesem Steigerungsprinzip, wofür auch andere Anhaltspunkte sprechen 3, eine der „allgemeinen Gesamtbeobachtungen" zu sehen haben, unter die Thukydides den Geschichtsverlauf subsumiert 4 . Der Richtpunkt dieser Idee von den zunehmenden Größenverhältnissen ist weniger der zeitgenössische Krieg als die zukünftige Entwicklung 5 . Die Steigerung der Größenverhältnisse w i r d von Thukydides — ebenfalls i m Unterschied zu den Sophisten — nicht als Fortschritt zu einem höheren und besseren Standard gewertet, sie erscheint vielmehr vornehmlich i n der Form des Quantitativen. Die daran orientierte Betrachtungsweise bedarf keiner Rechtfertigung in einer Zeit, die sich mit gutem Grund um die Quantifizierung der die ökonomischen und politischen Prozesse bestimmenden Daten müht. Das große Paradigma der quantitativen Steigerung geschichtlicher Größen findet sich nicht unter den i n der Archäologie genannten historischen Beispielen des Schiffsbaus, der Heere und ähnlicher Machtmittel. Diese sind nur Proömium. Der eigentliche, das Werk thematisch beherrschende, i n allen Einzelheiten und Wechselfällen nachgezeichnete Steigerungsvorgang ist das Wachstum Athens. D a r i n sieht Thukydides den

wahren Grund des Peloponnesischen Krieges. So wie sich ihm dieser Grund als der meistbeschwiegene darstellt (I, 23; vgl. auch I, 97), so ist dieser große Stoff, obwohl ihm eine reiche Literatur viele Seiten abzugewinnen vermochte, dennoch auffallend wenig unter dem Gesichtspunkt der thukydideischen Lehre von der Steigerung geschichtlicher Größen gewürdigt worden. Dabei ist es evident, wie sehr gerade diese perspek3 Vgl. vor allem Siegfried Lauffer, Die Lehre des Thukydides von der Z u nahme geschichtlicher Größenverhältnisse, Spengler-Studien, Festgabe für Manfred Schroeter, München 1965, S. 177 ff., 189 f. m i t zahlreichen Nachweisen; Werner Jaeger, Paideia I, Berlin 1934, S. 487. Die prognostische F u n k t i o n von φύσις hat Harald Patzer für die Schriften des Hippokrates hervorgehoben (Das Problem der Geschichtsschreibung des Thukydides u n d die thukydideische Frage, Berlin 1937, S. 96 Anm. 203), wofür er sich auf Karl Deichgräber beruft (Die Epidemien und das Corpus Hippocraticum, SBBA, 1933, S. 35 ff., 40 ff.). Die Verwandtschaft zwischen der hippokratischen u n d thukydideischen, auf Empirie gegründeten Naturbetrachtung ist häufig hervorgehoben worden. 4 Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte I I I , Basel 1957, S. 414 ff. Ob Anaxagoras u n d Antiphon oder die Sophisten hierin Thukydides vorgearbeitet haben, läßt Burckhardt dahingestellt; jedenfalls komme „die allgemeine politische Reife Athens i n i h m zu Worte"; hinter seine Betrachtungsweise dürfte „die Welt n u n einmal nicht mehr zurück" (S. 414). 5 Der berühmte Anspruch des Methodenkapitels „ . . . das Gewesene k l a r erkennen und damit auch das Zukünftige" ist von manchen Autoren noch bis i n die jüngere Zeit als ausgesprochen unreif angesehen worden. Aus dieser Entwertung des Methodenkapitels folgerte man dessen frühe Datierung; so nach Wolfgang Schadewaldt, Geschichtsschreibung des Thukydides, 1929, S. 29 ff.; dagegen m i t Recht Werner Jaeger, Padeia, a.a.O., und Harald Patzer, der das verbreitete Erstaunen über den Allgemeinheitsanspruch jenes Kapitels gut wiedergibt (vgl. 88 ff., 97 f.).

Europäisches Großraumdenken

531

tivische Leitidee auf die Expansion Athens zutrifft und durch sie verifiziert wird. Den Blick auf diesen Sachverhalt hinderte natürlich die lange Zeit vorherrschende Abwertung des Methodenkapitals, die einen Gegensatz zwischen diesem und den folgenden Teilen des Werkes behauptete 6 . Was dem Interesse an dem Quellencharakter der Historien nicht entsprach, galt als unvollkommen 7 . Als ein noch stärkeres Hindernis erwies sich freilich eine vor allem am juristischen Positivismus und an Nietzsche orientierte Deutung: Die Entwicklung Athens zur Großmacht wurde einmal, was nahelag, unter dem Gesichtswinkel des großen Individuums gesehen: Themistokles, Perikles, Alkibiades; ihre Rolle ist i n Monographien während der letzten hundert Jahre hinreißend nachempfunden. Daneben und oft damit i m Zusammenhang ging es jedoch um Recht und Moral der Expansion, natürlich i m Anschluß an die Rechts- und Nützlichkeitserwägungen, die Thukydides für und gegen die Expansion Athens vortragen läßt. Darauf liegt hier der Akzent 8 . Der Streit um Recht oder Unrecht der Ausdehnung Athens in den größeren Raum gipfelt in dem häufig kommentierten Dialog der Athener mit den Meliern (V, 84—116), der auch literarisch ein Höhepunkt ist und in dem vollendeten Werk vielleicht die systematische Mitte gewesen wäre, der jedenfalls die Peripatie des Krieges dramatisch vorbereitet. Die Insel Melos wurde von den Athenern gewaltsam genommen. Der dieser Landnahme vorausgehende Dialog enthüllt die Expansionsabsicht der Athener und ihre Beweggründe. Werner Jaeger glaubt das eigentlich Neue dieses Dialogs in der „unverhüllten Darstellung der reinen Machtraison" sehen zu sollen, „die älteren griechischen Denkern ganz fern lag und erst eine politische Erfahrung jener Zeit war" 9 . A n der Darstellung der „wahren Ursache" des Peloponnesischen Krieges — das Wachstum Athens (I, 23) — rühmt er schon „die vollkommene Objektivierung dieser Frage durch ihre Loslösung von der rechtlich-moralischen Sphäre" 10 . I n 6 7

S. 9.

Vgl. oben Anm. 5. Ernst Howald, Vom Geist antiker Geschichtsschreibung, München 1944,

8 Das Wachstum Athens ist freilich nicht der einzige Steigerungsvorgang dieser A r t , der hier noch herangezogen werden könnte. Chios, das durch kluge Politik und durch eine koloniale Gründung (Maroneia) Macht und Einfluß zu steigern vermochte, hat jedoch keine raumordnende Bedeutung erlangt und w i r d von Thukydides vor allem seiner Maßhaltung wegen gerühmt ( V I I I , 24). Die Vorherrschaft Spartas vermochte sich nach dem Abstieg Athens nicht durchzusetzen, dessen Zentralismus — Perikles und Kleon durften den A t t i schen Seebund eine Tyrannis nennen (II, 63 u n d I I I , 37) — als oktroyierte Ordnung oder als Drohung auf der ganzen Ägäis gelastet hatte; Sparta vermochte keine Neugestaltung der politischen Verhältnisse an dessen Stelle zu setzen. 9 Paideia I, S. 502. Vgl. auch Ernst Howald, a.a.O., S. 70, 72 f.: — für alles andere als das Problem der Macht fehle Thukydides das Organ! — und 81. 10 a.a.O., S. 491. 3

532

Joseph H. Kaiser

der Deutung des Melierdialogs geht Werner Jaeger noch weiter: Die Machtraison werde „als eine A r t Naturgesetz oder Naturrecht des Starken" der geltenden Moral, dem νόμώ δίκαιον gegenübergestellt als ein Bereich ganz andersartiger Gesetzlichkeit, der sich von dem traditionellen Nomos abspalte. Nietzsche hatte demselben Sachverhalt schon eine prinzipiell ähnliche Deutung gegeben: Bevor es von den Personen des Thukydides heißt, sie hätten den „höchstmöglichen Grad von Vernunft, um ihre Sache durchzuführen", ist die Rede vom „Kampfe verschiedener Moralen: der hellenische Gedanke i m Kampf mit dem athenischen. Die Gemeinde und die Großmacht" n.

Die Steigerung der Stadt A t h e n zur

Hegemonialmacht

erscheint hier als der Ursprung einer der Herrschaft gemäßen Moral 1 2 , so wie es i m Gegensatz dazu von der Gerechtigkeit (Billigkeit) heißt, sie nehme „ i h r e n U r s p r u n g unter ungefähr gleich Mächtigen" 13. Was Nietzsche hier als A n t i n o m i e der M o r a l ausgibt, w i r d v o n Werner Jaeger als eine Antinomie des Nomos gedeutet: Das „Naturrecht des Starken",

das „sich von dem traditionellen Nomos abspaltet", ist für sich genommen ebenfalls eine A r t besonderer „Gesetzlichkeit" 14 . Und der Vorgang der Abspaltung des einen vom anderen Normkomplex vollzieht sich hiernach offenbar mit dem Stark- und Stärkerwerden Athens. Nietzsche u n d Jaeger rücken Thukydides

i n eine zu große Nähe zu den

Sophisten 15. Seine Dialoge enthalten jedoch keine sophistische oder sokratische Dialektik 1 6 . Sie relativieren nicht einen gegebenen Standpunkt, indem sie die zwei Seiten einer Sache zum Vorschein bringen, sondern 11 Nr. 52 u n d 51 i n der Publikation aus dem Nachlaß unter dem T i t e l „Die Unschuld des Werdens", Kröners Taschenausgabe, Bd. 82, Stuttgart 1956, S. 26. 12 Die Sittlichkeit der Hellenen sei, „ i n den herrschenden Kasten gewachsen. Thukydides' M o r a l ist die gleiche, die überall bei Plato explodiert" (Aus dem Nachlaß, Nr. 1106, Kröner Bd. 83, S. 402). 13 „Wie dies Thukydides (in dem furchtbaren Gespräche der Athenischen u n d Melischen Gesandten) richtig begriffen hat" (Menschliches Allzumenschliches, a.a.O., Bd. 72, S. 81; vgl. auch die Bemerkung über Thukydides, a.a.O., S. 213). Nietzsche erkennt darin nicht einen okkasionellen Widerstreit, sondern zwei i n sich als gültig ausgewiesene normative Handlungstypen. „Freude an allem Typischen des Menschen u n d der Ereignisse" sei kennzeichnend für T h u k y dides; darin komme „jene K u l t u r der unbefangensten Weltkenntnis zu einem letzten, herrlichen Ausblühen" (Morgenröte, a.a.O., Bd. 73, S. 144 f.). 14 Paideia I I I , S. 502. Die Nähe dieser Auffassung zu der Darstellung Nietzsches verrät sich auch i n der Identifizierung von traditionellem Nomos m i t geltender Moral; von beiden trennt sich das Recht des Starken u n d entfaltet seinen Rang als Naturrecht. 15 Vgl. Götzen-Dämmerung, a.a.O., S. 177, u n d Der W i l l e zur Macht, a.a.O., Bd. 78, S. 296 f.; Paideia I, S. 502. 16 F. E. Adcock hebt m i t Recht die selbständige Argumentationsweise des Thukydides hervor; man dürfe nicht zu leicht eine Abhängigkeit von anderen literarischen Konventionen unterstellen (Thucydides and his History, Cambridge 1963, S. 47 f.). Vgl. auch F. Rittelmeyer, Thukydides und die Sophistik, Leipzig 1915, namentlich S. 99 ff.

Europäisches Großraumdenken

533

erhärten ihn durch Konfrontation; und dieser Standpunkt ist immer die Position Athens 1 7 . I n ihrer Expansion steht diese Stadt nicht i m Widerspruch zu sich selbst und zu dem ihr überkommenen Nomos, i m Gegenteil, sie befolgt und vollzieht den Nomos einer wachsenden Macht, indem sie die Insel Melos nimmt i m Sinn einer Landnahme. Carl Schmitt hat i n dieser A r t Nähme den ersten u n d ursprünglichen

Sinn von Nomos aufgewiesen 18 , m i t einer entschiedenen Wendung gegen „das beliebige Recht des Stärkeren" 1 9 . Thukydides läßt die Athener auf dem Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung mit den Meliern sich ebenfalls auf den Nomos berufen: „ W i r sind nämlich der Ansicht, daß das Göttliche, ganz gewiß aber daß alles Menschenwesen allezeit nach dem Zwang (ανάγκη) seiner Natur, soweit es Macht hat, herrscht. W i r haben diesen Nomos weder gegeben, noch einen bereits gegebenen als erste befolgt; als gültig ist er uns überkommen, u n d zu ewiger Geltung werden w i r i h n hinterlassen, u n d wenn w i r uns daran halten, so wissen w i r , daß auch i h r u n d jeder, der zur selben Macht w i e w i r gelangt, ebenso handeln w ü r d e " (V, 105)2°.

Nomos ist ein raumbezogener Begriff. Hier normiert er das Ausgreifen Athens i n den Raum, das selbst vor der kleinen Insel Melos nicht Halt macht. Außerdem w i r d der Nomos an dieser Stelle ausdrücklich zu ,,δύναμις" (Macht) in Beziehung gesetzt, der Melos nicht gewachsen war, die aber zum Erfolg der Expedition nach Sizilien nicht mehr ausreichte. Dieser Nomos einer i n den Großraum expandierenden und darin schließlich scheiternden Macht hat bei Thukydides noch eine wesentliche weitere Bestimmung: die Expansion w i r d demokratisch motiviert. Der Demos ist die Kraft, die zu Neuerwerbungen treibt. Hatte Perikles sie noch mit Mühe zu zügeln vermocht, t r i t t sie nach ihm immer ungehemmter hervor. Das Prinzip w i r d schließlich von Alkibiades formuliert: Wer I n einer sehr gründlichen u n d überzeugenden Analyse hat John H. Finley den Nachweis dafür erbracht, daß Thukydides stilistisch und methodisch einige Gemeinsamkeiten m i t den Dichtern der großen Tragödien hat, vor allem i m Aufbau und i n der Argumentationsweise seiner Dialoge (Three Essays on Thucydides, Cambridge, Mass. 1967, S. 46 und passim). 17 Insofern bezeichnet A t h e n tatsächlich die Einheit des Gegenstands seiner Historien; vgl. Jacqueline de Romilly, Histoire et Raison chez Thucydide, Paris 1956, S. 278 ff. 18 Der Nomos der Erde i m Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, K ö l n 1950, namentlich S. 36 ff. über die Bedeutung des Wortes Nomos; vgl. ferner den Aufsatz „Nehmen/Teilen/Weiden" i n der Zeitschrift Gemeinschaft und Politik, 1, 1953, abgedruckt i n Verfassungsrechtliche Aufsätze, B e r l i n 1958, S. 489 ff., u n d die dort S. 501 genannten Corollarien. 19 Der Nomos der Erde, S. 42. 20 ήγούμεθα γαρ τό τε -θείον δόξη το άνθρώπειόν τε σαφώς διά παντός υπό φύσεως αναγκαίας, ού αν κράτη, αρχειν. και ήμείς οΰτε Μέντες τον νόμον ουτε κειμένω πρώτοι χρησάμενοι, δντα δε παραλαβόντες και έσόμενον ές αίεί καταλείψοντες χρώμεθα αύτω, ειδότες και υμάς αν και άλλους έν τη αύτη δυνάμει ήμΐν γενομένους δρώντας αν ταύτό. Übersetzung i n Anlehnung an die Übertragung der Historien durch Georg Peter Landmann, Zürich u n d Stuttgart 1960, S. 436.

534

Joseph H. Kaiser

herrsche, vermöge der Ausdehnung seiner Herrschaft nicht mehr beliebig Grenzen zu setzen, wenn er nicht unterliegen wolle (VI, 18). Das ist der Nomos des Wachstums, dessen Dynamik von Alkibiades hier mit demselben Terminus bezeichnet wird, den die athenischen Gesandten schon i m Melierdialog zur Kennzeichnung dieses Nomos verwandten: άνάγκη. Daß er neben den politischen Ambititonen der Führer und dem Aufgebot militärischer Macht auch den Stimulus ökonomischer Erwartung hatte, w i r d von Thukydides gelegentlich der Vorbereitung des sizilischen Unternehmens auf das deutlichste ausgeführt und gleichzeitig als besonders demokratisch dargestellt: die Älteren wollten die Städte unterwerfen, die Jüngeren fremde Länder sehen, die große Menge und das Heer, d. h. sie alle, wollten „dabei Geld verdienen und eine Macht dazu erobern, aus der ihnen für alle Zeit ein täglicher Sold gewiß sei, . . . eine maßlose Gewinnsucht", die keinen Widerspruch zuließ (VI, 24) „ m i t den größten Hoffnungen auf Künftiges" (VI, 31 a. E.). Der Zusammenhang von Demokratie, Wachstum und Wirtschaft hat schon für Athen nichts Zufälliges. Anläßlich der Vorbereitungen für die Fahrt nach Sizilien wurde die Mischung explosiv. Nicht aus Raumnot oder A r m u t ! Der Attisch-Delische Bund war schon ein athenischer Großraum, und die Streitmacht „aus der Kraft einer einzigen Hellenenstadt" war die Entfaltung beispiellosen Reichtums „wie keine je bis zu jener Zeit" (VI, 31). Die Expedition war nichts anderes als die Politik einer in ihre Extreme geratenen Demokratie 2 1 . Die Größe des Unternehmens und die Schwächen der Staatsform führten zum Scheitern sowohl dieser Wachstumsbewegung als auch der Demokratie. Festzuhalten bleibt dennoch dieser „zwingende" Zusammenhang von Demokratie und Wachstum über die gegebenen räumlichen und w i r t schaftlichen Grenzen hinaus. Darin enthüllen sich nicht nur „Reichspolitik" und „Imperialismus" 2 2 Athens, sondern noch kennzeichnendere Merkmale seines politischen Charakters, wie Thukydides ihn vor allem durch die Korinther hat darstellen lassen: „Sie sind Neuerer, schnell und heftig in ihren Planungen, wie beim Handwerk setzt sich immer das Neueste durch" (I, 70—71). Das ist nicht nur Demokratie i m Gegensatz zu spartanischer Oligarchie, sondern auch Wandel und Innovation i m Gegensatz zum Verharren i n Traditionen, politisches, wirtschaftliches und zivilisatorisches Wachstum und als Voraussetzung dessen, wie vor allem die Periklesreden lehren, Freiheit i n Athen i m Unterschied zur spartanischen Disziplin 2 3 . 21

Finley, a.a.O., S. 139. Egermann, a.a.O., S. 294; Max Pohlenz, Griechische Freiheit, Heidelberg 1955, S. 25. Vgl. auch die zusammenfassende Feststellung über die athenische Neigung zur Gewinnung einer αρχή bei Heinrich Triepel, Die Hegemonie, S t u t t gart 1943, S. 393. 23 Finley fragt nach dem Element, das diese Qualitäten m i t der Institution der Demokratie verbindet, und glaubt es i n der Seemacht Athens gefunden 22

Europäisches Großraumdenken

535

Die Ausdehnung Athens w i r d m i t einer Auseinandersetzung über die Rechtsgründe begleitet24. Thukydides

l ä ß t n i c h t zu, daß d i e i n d e n j o n i s c h e n R e c h t s v o r s t e l l u n g e n

f r ü h entwickelte Idee der bürgerlichen Gleichheit, die auch f ü r die athenische D e m o k r a t i e m a ß g e b l i c h w a r ( I I , 37), a u f d i e B e z i e h u n g e n

der

expandierenden Hegemonialmacht Athens zu ihren Gegnern übertragen w u r d e ( V , 89); sie w a r selbst i n n e r h a l b des A t t i s c h - D e l i s c h e n

Bundes

schon d e r αρχή A t h e n s g e w i c h e n 2 5 . D i e s e i n d e n P e r s e r k r i e g e n b e g r ü n dete (I, 75) S t e i g e r u n g A t h e n s z u e i n e r p o l i t i s c h e n G r ö ß e h ö h e r e r

Art

s t a n d u n t e r e i n e m N o m o s , d e r m e h r i s t als d i e R e c h t s o r d n u n g d e r P o l i s 2 6 u n d selbst n o c h d i e L a n d n a h m e v o n M e l o s b e h e r r s c h t e (V, 105), u n d dessen u r s p r ü n g l i c h e r S i n n n o c h n i c h t d u r c h d i e E n t g e g e n s e t z u n g v o n νόμος u n d φύσις 2 7 d e n a t u r i e r t w a r 2 8 . D u r c h das υπό φύσεως άναγκαίας 2 9 e r h ä l t dieser N o m o s v i e l m e h r ebenso w i e d u r c h d i e E r w ä g u n g , daß j e n e m Z w a n g v e r m u t l i c h a u c h das G ö t t l i c h e folge, e i n e ganz a l l g e m e i n e B e deutung. D i e Steigerung geschichtlicher Maß

31

G r ö ß e n 3 0 h a t so i h r e n N o m o s .

Sein

— κ α τ ά το άνθρώπινον (I, 22) — i s t d e r Mensch.

zu haben (a.a.O., S. 143). Die Gedankenassoziation v o n Demokratie u n d Meer ist i n der angelsächsischen W e l t tief v e r w u r z e l t . F i n l e y findet eine Bestätigung seiner Auffassung i n der Archäologie: politischer u n d zivilisatorischer F o r t schritt u n t e r Minos u n d A g a m e m n o n d a n k i h r e r Stellung zur See (I, 8 u n d 15) u n d entsprechende Möglichkeiten v o n K o r i n t h u n d Samos (I, 13, 16, 17). Vgl. Finley , S. 140 ff. 24 ζ. Β . I , 41 ; V, 86, 89, 90, 97. 25 Georges Ténékidès, D r o i t i n t e r n a t i o n a l et communautés fédérales dans la Grèce des cités ( V è m e — I l l è m e siècles avant J. C.), Ree. 90, 1957, S. 601. 26 Diese Bedeutung des Nomos betont Erik Wolf, Griechisches Rechtsdenken, I, F r a n k f u r t 1950, S. 169. 27 V o n den Sophisten ausgehend w u r d e sie namentlich v o n P i a t o n i n dem Dialog Gorgias entwickelt. 28 Carl Schmitt, D e r Nomos der Erde, S. 38. T h u k y d i d e s v e r w e n d e t νόμος auch i n einem engeren S i n n (ζ. Β . I , 41, I I I , 82), h i e r i n u n m i t t e l b a r e r Gegenüberstellung zu dem göttlichen νόμος. Dieser doppelsinnige Gebrauch des T e r m i n u s findet sich zu seiner Zeit jedoch auch sonst, ζ. B. bei dem i h m e r fahrungs- u n d auffassungsmäßig besonders nahestehenden Euripides (vgl. dazu die eindrucksvoll belegte Studie v o n Finley, Euripides and Thucydides, a.a.O., S. 1—54). H e k u b a spricht i n der nach i h r benannten Tragödie des Euripides sowohl v o n d e m göttlichen Nomos (800) w i e auch k u r z darauf (866) v o n den geschriebenen N o m o i i n den Versen (Übertragung v o n E. Buschor) : „Des Volkes Menge, das geschriebne Recht, läßt keinen leben nach der eignen A r t . " 29 Diese W e n d u n g stellt Finley (a.a.O., S. 41) m i t Recht i n die Nähe des Verses 886 der „ T r o e r i n n e n " des Euripides: άνάγκηφύσεος als A t t r i b u t des Zeus! 30 Siegfried Lauffer nennt noch z w e i Historiker, bei denen sich ebenfalls die Lehre v o n der Zunahme geschichtlicher Größen Verhältnisse findet: Polybios, der die Steigerungslehre u n t e r dem Einfluß der Stoa m i t dem Fortschrittsgedanken verbunden hat, u n d Johann Gustav Droysen, der Geschichte als die W e l t derjenigen Erscheinungen definierte, die „sich i n der Wiederholung steigernd u n d summierend rastlos zu wachsen scheinen" (Nachweise bei Lauffer, a.a.O., Note 3, S. 191 f. 31 F i n l e y hebt m i t Recht hervor, daß die P r i n z i p i e n der Macht, so wesent-

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Der Begriff des Großraums impliziert immer einen Komparativ: er weist auf eine Bezugsgröße, die im Prinzip räumlich kleiner ist als er, die aber Standardcharakter hat. Diese ihre Maßgeblichkeit w i r d durch den größeren Raum in Frage gestellt; sie setzt sich dem Großraum gegenüber zunächst dennoch terminologisch durch: er bedarf des Epithetons „groß", um sich von der kleineren Standardgröße abzuheben. Diese Standardgröße ist der Staat. Carl Schmitt hat den Staat als die tragende Größe des europazentrischen Rechtssystems der Neuzeit dargestellt: sein inneres Recht 32 und seine tragende Funktion i n der zwischenstaatlichen und okzidental bestimmten Raumordnung der Erde 3 3 . Diese „Gestalt des Lebens" ist „alt geworden" und konnte darum mit solcher Vollendung beschrieben werden 34 . Wie Thukydides zu seiner Zeit und vor allem i m Peloponnesischen Krieg, so erfahren auch w i r die Zunahme geschichtlicher Größenverhältnisse. Der Zweite Weltkrieg war in jeder Hinsicht größer als jeder vorangegangene Krieg. Größer sind auch heute die Verkehrsmittel und ihre Infrastruktur, größer nicht nur an Umfang — ein Merkmal, das hinter anderen Qualitäten zurücktritt — sondern vor allem an Schnelligkeit, Rationalität, Efficiency und Komfort. Größer i n diesem Sinn sind alle Sparten der Industrie, des Handels und selbst des Konsums. Größer sind unsere ökonomischen Mittel, größer ist die Bevölkerung, der Raum und seine Ausbeute, die Wissenschaft und der Anteil der politischen Macht an diesen Entwicklungen. Das alles sind Tatsachen unserer Erfahrung, wozu auch gehört, daß dieser Steigerungsprozeß die Tendenz zur Fortsetzung in sich trägt, und daß sich diese Entwicklung noch beschleunigt. I n diesem Prozeß ist der Staat eine i m Abstieg begriffene Kategorie 35 . Andererseits bewährt sich in diesem geschichtlichen Prozeß die Kraft des Großraumbegriffs. Er w i r d hier mit eben der Eindringlichkeit verifiziert, mit der w i r diesen Geschichtsverlauf wahrnehmen und darin die Ausbildung, Konsolodierung, Wandlung, Auflösung und Neubildung von Großräumen beobachten: EWG, EFTA, NATO, COMECON, Warschauer Pakt, Lateinamerikanische Freihandelszone. Das sind nur die bekanntesten Beispiele eines sehr allgemeinen Phänomens. Darin jedenfalls haben w i r heute Maßstäbe für die juristische Würdigung des Großraumbegriffs zu finden. Darin auch erweist sich seine gesteigerte Aktualität lieh sie i m Geschichtsbild des Thukydides sind, nicht das einzige Gesetz der Herrschaft sind; diese müsse vielmehr, was man aus seiner Bewunderung für Perikles schließen könne, begleitet sein von der άρετή (a.a.O., S. 42). 32 Verfassungslehre, 1928, 4. Aufl., Berlin 1965. 83 Der Nomos der Erde i m Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, K ö l n 1950, vor allem S. 112 ff. 34 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, Neue kritische Ausgabe, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, 1955, S. 17. 35 Vgl. J. H. Kaiser, Staatslehre, i m Staatslexikon V I I , 1962, S. 602.

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u n d seine unbefangene u n d o f t schon diffuse V e r w e n d u n g i n d e r e i n schlägigen L i t e r a t u r . Carl Schmitt h a t d e n B e g r i f f des G r o ß r a u m s geprägt u n d als erster v o m G r o ß r a u m p r i n z i p i m V ö l k e r r e c h t gesprochen: i n e i n e m V o r t r a g ü b e r „ V ö l k e r r e c h t l i c h e G r o ß r a u m p r i n z i p i e n " a m 1. A p r i l 1939 i n K i e l v o r d e m I n s t i t u t f ü r P o l i t i k u n d I n t e r n a t i o n a l e s Recht i m R a h m e n einer A r b e i t s t a g u n g , die a n l ä ß l i c h des 2 5 j ä h r i g e n Bestehens des I n s t i t u t s v e r anstaltet w o r d e n w a r . D e r V o r t r a g erschien u n t e r d e m T i t e l „ V ö l k e r rechtliche G r o ß r a u m o r d n u n g m i t I n t e r v e n t i o n s v e r b o t f ü r r a u m f r e m d e Mächte. E i n B e i t r a g z u m Reichsbegriff i m V ö l k e r r e c h t " 3 6 . Diese Rede w u r d e i m A u g e n b l i c k einer außenpolitischen W i n d s t i l l e v o r e i n e m n e u e n S t u r m g e h a l t e n u n d h a t t e e i n außerordentliches Echo. N a c h d e m z w e i W o c h e n v o r h e r die Tschechoslowakei a u s e i n a n d e r g e f a l l e n 3 7 u n d a m 16. M ä r z das P r o t e k t o r a t B ö h m e n u n d M ä h r e n b e g r ü n d e t w a r , w ä h r e n d sich gleichzeitig die italienische I n v a s i o n i n A l b a n i e n a n b a h n t e 3 8 , e r w a r t e t e die W e l t A u f s c h l u ß ü b e r die w e i t e r e R i c h t u n g der deutschen u n d i t a l i e n i s c h e n A u ß e n p o l i t i k . E i n G e l e h r t e r , der d a b e i w e d e r e i n e m A u f 36 1. Ausgabe Berlin-Leipzig-Wien, 1939; 2. Ausgabe 1940, auch i n der Samml u n g „Politische Wissenschaft", 1940, S. 27 ff., die die Vorträge jener Kieler Tagung enthält; 3. erweiterte Ausgabe 1941; 4. erweiterte Ausgabe 1941. Der Schlußteil des Vortrags wurde unter dem T i t e l „Der Reichsbegriff i m Völkerrecht" abgedruckt i n der Zeitschrift „Deutsches Recht", Heft 11 vom 29. A p r i l 1939, S. 341 ff., u n d i n „Positionen u n d Begriffe i m K a m p f m i t Weimar-Genf-Versailles 1923—1939", Hamburg 1940, S. 303 ff. Vgl. ferner aus der Feder von Carl Schmitt: Raum u n d Großraum i m Völkerrecht, Z f V R 24, 1941, S. 145 ff. „Großraum gegen Universalismus, Der völkerrechtliche K a m p f u m die Monroe-Doktrin, Z A k D R 6, 1939, S. 333 ff., abgedr. i n „Positionen und Begriffe", S. 295; Reich u n d Raum, Elemente eines neuen Völkerrechts, Z A k D R 7, 1940, S. 201 ff.; „Die Raumrevolution" i n : Das Reich v o m 29. September 1940, reproduziert i n „Facsimile/Das Reich", Bern-München-Wien, o. J., S. 42 f. 37 A m 14. März 1939 hatte das tschechoslowakische Parlament ein Gesetz über die Unabhängigkeit des slowakischen Staates beschlossen; am gleichen Tage hatten sich der Staatspräsident und der Außenminister der Tschechoslowakei nach Berlin begeben, und am Abend dieses Tages hatten deutsche und ungarische Truppen die Grenzen der ehemaligen Tschechoslowakei überschritten (vgl. Keesings Archiv der Gegenwart, 1939, S. 3977, 3983 ff.). Walter Mallmann hat seinem Hinweis auf die „Völkerrechtliche Großraumordnung" von Carl Schmitt m i t Recht die Feststellung vorausgeschickt: „ B e i der Eingliederung von Böhmen und Mähren i n das Reich wurde . . . eine Wendung zum Raumdenken und zur Raumpolitik sichtbar" (Völkisches Denken und Raumdenken i n der Staatslehre, i n : Geistige Arbeit v. 5. September 1940, S. 2). 38 F ü r jene Windstille i n Europa, i n der sich weitere großräumige E n t w i c k lungen vorbereiteten, w a r ebenfalls kennzeichnend, daß der englische Ministerpräsident Chamberlain und Außenminister L o r d Halifax m i t Mussolini u n d Graf Ciano gelegentlich eines Besuchs v o m 11.—14. Januar 1939 i n Rom italienische Ansprüche auf Änderung des „berühmten Status quo i m Mittelmeer" erörtert hatten. Nach Verhandlungen zwischen Italien u n d Albanien, die Ende März und Anfang A p r i l 1939 stattgefunden hatten, landeten am 7. A p r i l 1939 italienische Truppen i n Albanien. Vgl. die Einzelheiten i n Keesings Archiv, a.a.O., S. 3889 ff. und S. 4017 f. Vgl. auch unten Anm. 60.

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trag der politischen Führung folgte noch auch nur ihr Ohr hatte 3 9 , erfuhr i m Ausland mit den Ergebnissen seiner wissenschaftlichen Analyse ungewöhnliche Aufmerksamkeit, weil man i n seiner Großraumkonzeption eine Prognose und eine Deutung künftiger Entwicklungen vermutete. Die „Times" veröffentlichte i n ihrer Ausgabe vom 5. A p r i l 1939 einen Bericht aus Berlin vom 4. 4. über die „ E v i l Intervention" in deutscher Sicht. Unter der Überschrift „Germany's Goal" wurde über jenen Vortrag von Carl Schmitt ausführlich berichtet 40 . Auch die „Daily Mail" brachte am 5. 4. einen Bericht ihres Korrespondenten aus Berlin, der ebenfalls vom 4. 4. datiert war und i n dem die politisch aktuelle Substanz des Vortrags in der Überschrift „Germany to establish a Monroe Plan, Policy Against Interference I n Central Europe" 4 1 resümiert war. I m Gegensatz zu diesen Berichten hat die deutsche Parteipresse den Vortrag totgeschwiegen. Den beiden englischen Korrespondenten war das drei Tage nach dem Vortrag anscheinend noch nicht aufgefallen. I n jener über Europa lastenden politischen Windstille, auf der Suche nach Anhaltspunkten für die weitere Entwicklung mochte ihnen als eine durch das Regime inspirierte politische Information erscheinen, was in Wirklichkeit wissenschaftliche Diagnose und eine darauf aufbauende völkerrechtliche Theorie war und unter den gegebenen Bedingungen auch gar nichts anderes sein konnte als eine völkerrechtliche Konstruktion, die natürlich wie jede ernstzunehmende Völkerrechtsdoktrin mit einer zwischenstaatlichen Wirklichkeit von solcher Evidenz nicht in Widerspruch stehen durfte. Diese Wirklichkeit war nämlich weltweit. Sie war insgesamt und als Kategorie auch nicht ganz jungen Datums 42 . I n klaren Umrissen oder in Ansätzen ließ sie schon i m Frühjahr 1939 die von den USA, von Deutschland und Italien, von Rußland und von Japan geführten Großräume erkennen. Dieser sich abzeichnende Entwurf einer politischen Ordnung wurde von Carl Schmitt mit den Mitteln wissenschaftlicher Analyse aufgewiesen und plausibel dargestellt. Das ist ein Grund für den sich unmittelbar einstellenden publizistischen Erfolg des Vortrags und der Schrift im Ausland und für den nachhaltigen wissenschaftlichen Erfolg auch i m In39 A m 10. Dezember 1936 w a r i n dem Organ der SS „Das Schwarze Korps" die Distanz ein für allemal markiert worden. Seit 1936 w a r Carl Schmitt nicht mehr durch Stellen des Staates oder der Partei konsultiert worden. 40 „Hitherto no German statesman has given a precise definition of his aims i n Eastern Europe, but perhaps a recent statement by Professor Carl Schmitt, a Nazi expert on constitutional law, may be taken as a trustworthy guide." 41 „Herr Hitler's „ k e y " man i n this policy is Professor Carl Schmitt, middleaged and handsome, who is the leading international lawyer i n Germany" (Continental Edition). Das Journal de Genève berichtete am 30. A p r i l 1940 polemisch über die „Völkerrechtliche Großraumordnung" von Carl Schmitt. 42 Vgl. das bei Heinrich Triepel, Die Hegemonie, 1. Aufl., 1938, ausgebreitete historische Material.

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l a n d . D a z u t r u g n a t ü r l i c h die B e s t ä t i g u n g dieses G r o ß r a u m k o n z e p t s d u r c h die politische u n d m i l i t ä r i s c h e E n t w i c k l u n g i n d e n d a r a u f f o l g e n d e n J a h r e n w e s e n t l i c h b e i 4 3 . S o w e i t das G r o ß r a u m k o n z e p t Prognose w a r , k o n n t e u n d k a n n sein W e r t n a t ü r l i c h n i c h t danach bemessen w e r d e n , ob m a n die e i n g e t r e t e n e n Ereignisse ethisch oder j u r i s t i s c h b i l l i g t oder nicht. Noch w i c h t i g e r als dieser R e a l i t ä t s g e h a l t u n d f ü r d e n v ö l k e r r e c h t l i c h e n C h a r a k t e r des G r o ß r a u m p r i n z i p s z w a r n i c h t ausschlaggebend, d a f ü r j e doch auch i n der Sicht des Rechtspositivisten überaus kennzeichnend, ist die Tatsache, daß es i n positives Völkerrecht einging. A l s regionales O r d nungsprinzip m i t dem ausdrücklichen „Interventionsverbot f ü r r a u m f r e m d e M ä c h t e " k a m es i n A r t . I I des deutsch-sowjetischen G r e n z - u n d Freundschaftspaktes v o m 28. September 1939 z u v e r t r a g s v ö l k e r r e c h t licher G e l t u n g : B e i d e T e i l e e r k e n n e n danach die „festgelegte Grenze der b e i d e r s e i t i g e n Reichsinteressen als e n d g ü l t i g an u n d w e r d e n jegliche E i n m i s c h u n g d r i t t e r M ä c h t e i n diese R e g e l u n g a b l e h n e n " 4 4 . Ebenso ist die G r o ß r a u m k o n z e p t i o n v o n Deutschland, I t a l i e n u n d J a p a n z u m t r a g e n d e n B e s t a n d t e i l ihres a m 27. September 1940 i n B e r l i n u n t e r z e i c h n e t e n D r e i mächtepaktes gemacht w o r d e n 4 5 . I n d e m die d r e i M ä c h t e i n der P r ä a m b e l dieses V e r t r a g e s i h r e n W u n s c h z u m A u s d r u c k brachten, i h r e „ Z u 43 Die politischen und miltärischen Erfolge Deutschlands, Italiens und Japans spiegeln sich weit weniger i n der Schrift „Völkerrechtliche Grundraumordnung", obwohl sie i n den Jahren 1939, 1940 und 1941 viermal u n d jeweils m i t Ergänzungen verlegt wurde, als i n wissenschaftlichen und journalistischen Besprechungen dieser Schrift i m Inland und i m Ausland. Jeden Bewältiger der Vergangenheit müßte das eigentlich locken; für die ernsthaften Sammler von „Schmittiana" (Helmut Ridder, Schmittiana, Neue Politische Literatur, X I I . Jahrgang 1967, S. 1 ff. u n d 137 ff.) hätte das L i e b haberwert. Die m i t dem A u t o r der völkerrechtlichen Großraumkonzeption geführte deutsche und ausländische wissenschaftliche Korrespondenz ist eine weitere Quelle eigener A r t . Diese Studie hat nicht den Sinn solcher Offenlegung, soweit nicht einseitige Information oder Polemik dazu Anlaß gibt. Für die sog. Bewältigung der Vergangenheit w i r d an anderen Orten immer noch ein ziemlich hoher (inzwischen natürlich abnehmender) personeller u n d sachlicher A u f w a n d getrieben; diese Arbeit weiß sich eher den intellektuellen Anforderungen verpflichtet, die die „Bewältigung" der Gegenwart u n d der Z u k u n f t stellt. Schließlich muß die Auseinandersetzung auch nicht immer so weit i n der „Offenlegung" gehen, wie die von einem Ordinarius des Zivilrechts gegen zwei jüngere Kollegen des öffentlichen Rechts geführte, gewiß als wissenschaftlich gemeinte Polemik, i n der sich der Angreifer sogar auf angeblich i n seinem Elternhaus gefallene, inhaltlich nicht näher qualifizierte politische Äußerungen von Carl Schmitt und Werner Sombart berief, wovon schon Erwägungen des Gastrechts (das sogar i n dem unvollkommenen Völkerrecht tief verwurzelt ist) hätten zurückhalten sollen, von allem anderen abgesehen, von der Tatsache beispielsweise, daß i n den meisten Elternhäusern entweder die Besucher oder die Knaben hinausgeschickt worden wären, wenn jene für jüngere Ohren unpassende Äußerungen getan hätten. 44 Keesings Archiv der Gegenwart, 1938/39, S. 4254. l t nd ,

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sammenarbeit auf solche Nationen i n anderen Teilen der Welt auszudehnen, die geneigt sind, ihren Bemühungen eine ähnliche Richtung wie sie selbst zu geben", haben sie ihre Bereitschaft bekundet, andere Großräume anzuerkennen. Aus dem Gesamtzusammenhang des Vertrages und aus den politischen Gegebenheiten war zu folgern, daß sich diese Absichtserklärung in erster Linie an die Führungsmächte des russischen und des amerikanischen Großraums 46 richtete 47 . Carl Schmitt hat die M o n r o e - D o k t r i n als „Präzedenzfall eines v ö l k e r -

rechtlichen Großraumprinzips" 48 dargelegt und ihren Kerngedanken, „die Verbindung von politisch erwachtem Volk, politischer Idee und politisch von dieser Idee beherrschtem, fremde Interventionen ausschließenden Großraum" 4 9 für das völkerrechtliche Verständnis anderer Räume und Situationen fruchtbar gemacht. Das hat auch heute mutatis mutandis noch uneingeschränkt Erkenntniswert. I n anderer, zeitgemäßer Terminologie und auf die jeweilige Funktion konkretisiert, findet sich die Verbindung von politischem, vor allem wirtschaftspolitischem Bewußtsein, ideeller Zielvorstellung und der davon beherrschten rechtlichen Organisation eines sich nach außen abgrenzenden Großraums auch in den gegenwärtig geltenden Großraumordnungen, ζ. B. in den Präambeln und Grundsatzartikeln der die drei Europäischen Gemeinschaften begründenden Verträge von Paris (1951) und Rom (1957)50.

48 Wenngleich jede Nation der Welt den i h r gebührenden Raum erhalten polite (Präambel). 47 Die Frankfurter Zeitung bemerkte dazu i n ihrem L e i t a r t i k e l v o m 22. November 1940, der Pakt habe „den i m bisherigen Sprachgebrauch vielfach schillernden und wenig klaren Begriff des politischen ,Großraumes' i n die Sprache der diplomatischen A k t e n e i n g e f ü h r t . . . . Die neuen völkerrechtlichen Elemente dieser Entwicklung hat übrigens Carl Schmitt i n seiner schon vor dem A b schluß des Moskauer Septemberpaktes abgeschlossenen . . . Studie über ,Völkerrechtliche Großraumordnung' k l a r definiert". 48 Völkerrechtliche Großraumordnung, 4. Ausgabe, S. 13. 49 a.a.O., S. 20. Knud Krakau hat jüngst das Interventionsverbot der Monroed o k t r i n — „Fernhaltung eines fremden, außeramerikanischen politischen Systems' von A m e r i k a " — als einzigen konstanten Kerngedanken der D o k t r i n herausgearbeitet (Die kubanische Revolution und die Monroe-Doktrin, F r a n k furt 1968, S. 5, 202), illustriert vor allem an der Kubakrise vom Oktober 1962 (vgl. vor allem S. 183). 50 „Den m i t rationalen M i t t e l n geordneten Lebens- u n d Wirtschaftsraum" sieht Hartwig Bülck „ i n staatlichen und überstaatlichen Regionen zum Gegenstand einer neuen Sachbezogenheit" gemacht (Raum u n d Zeit i m Europarecht, ArchVR 12, 1964/65, S. 408, unter Bezugnahme auf Michel, Raumordnung und Raumplanung i m S t r u k t u r b i l d des modernen Staates, 1958, S. 55 ff.). Unter Bezugnahme auf den Nomos der Erde von Carl Schmitt t r i f f t Bülck die wichtige Feststellung, daß die Verbindung von Ordnung u n d Ortung sich wandelt, daß die alten, i n Grund u n d Boden wurzelnden Rechtstitel einem neuen funktionellen T i t e l weichen, der zwar von geringerer Stabilität, „dafür aber von rationalerer Effektivität ist" (S. 409).

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D i e i m p e r i a l i s t i s c h e U m d e u t u n g d e r M o n r o e - D o k t r i n d u r c h die o f t beschriebene P o l i t i k der U S A v o r u n d nach der J a h r h u n d e r t w e n d e 5 1 h a t Carl Schmitt m i t g r ö ß t e m N a c h d r u c k z u r ü c k g e w i e s e n 5 2 . D a m i t h a t er n a t ü r l i c h auch der i m p e r i a l i s t i s c h - a g r e s s i v e n V e r f ä l s c h u n g seiner eigenen G r o ß r a u m d o k t r i n die F u n d i e r u n g d u r c h eine sich sonst anbietende h i s t o rische P a r a l l e l e entzogen. A n d e r e r s e i t s h a t er die v o n i h m p r i n z i p i e l l m i ß b i l l i g t e A n e r k e n n u n g des V o r r a n g s d e r M o n r o e - D o k t r i n v o r d e r V ö l k e r b u n d s a t z u n g — m i t dieser, so heißt es i n A r t . 21 der Satzung, sei die M o n r o e - D o k t r i n „ n i c h t u n v e r e i n b a r " — n e b e n a n d e r e n A r g u m e n t e n g e n u t z t , u m auch d a m i t i h r G e w i c h t f ü r die Völkerrechtswissenschaft z u b e l e g e n 5 3 . D i e A n e r k e n n u n g der h e g e m o n i a l p r a k t i z i e r t e n D o k t r i n d u r c h eine Staatengemeinschaft v o n d e m G e w i c h t der V ö l k e r b u n d s m i t g l i e d e r h ä t t e angesichts der F u n k t i o n jenes v ö l k e r r e c h t l i c h e n I n s t i t u t s 5 4 j e d e n falls d a v o r b e w a h r e n sollten, die M o n r o e - D o k t r i n aus G r ü n d e n der P o l e m i k gegen Carl Schmitt z u r b l o ß e n p o l i t i s c h e n M a x i m e a b z u q u a l i f i 51 Als Beispiel dafür w i r d häufig Richard Olney, Statssekretär unter Präsident Cleveland, angeführt, der i n einem an die britische Regierung gerichteten Memorandum v. 20. J u l i 1895 behauptete, die Monroedoktrin sei Bestandteil des „American public l a w " ; vgl. dazu Carl Schmitt, a.a.O., S. 15, A n m . 21, und das hier und weiterhin angeführte Schrifttum; Edmund A. Walsh hat dazu bemerkt, die Vereinigten Staaten seien 1895 bereit gewesen, zur Verteidigung der Monroedoktrin einen K r i e g gegen England zu führen (Ree. 69, 1939 I I I , S. 210). Der interventionistische Charakter der Monroedoktrin ist gut durch den holländischen Gelehrten u n d Diplomaten J. P. A. François dargestellt worden (Ree. 66, 1938 I V , S. 105 ff.). Dieser Autor, dem Erfahrungen aus einer ausgedehnten Völkerbundspraxis zur Verfügung standen, erklärte die Sympathie mancher amerikanischer Staaten für den Völkerbund m i t dem Bedürfnis, ein Gegengewicht gegen die Suprematie der USA zu finden (a.a.O., S. 108); eine vergebliche Hoffnung angesichts des A r t . 21 der Völkerbundssatzung (dazu unten). Diese nüchterne Darstellung der US-amerikanischen Interventionspraxis (ausdrücklich sogar gegen die Interessen anderer amerikanischer Staaten; E r klärung des Staatssekretärs Frelinghuysen 1884), hier und i n zahlreichen anderen Darstellungen, beeindruckt stärker als der jüngst von Lothar Gruchmann unternommene Versuch, sogar die Einmischung der USA auf dem europäischen Kontinent — begründet m i t einer durch die Monroedoktrin schon nicht mehr gerechtfertigten Auslegung der amerikanischen Existenzerfordernisse — zu rechtfertigen (Nationalsozialistische Großraumordnung, S. 45 m i t 42); „von der höheren Warte der politischen E t h i k her" w i l l Verf. sogar den als neutralitätswidrig erkannten, nicht erklärten „shooting-war" „als gerechtfertigt ansehen" ; die Völkerrechtswidrigkeit amerikanischer Maßnahmen w i r d schließlich m i t dem nicht weniger erstaunlichen Argument gerechtfertigt: „bei einem innenpolitischen Notstand" müsse „von den positiven Bestimmungen" der Verfassungsordnung abgegangen werden „zum Zwecke der Verteidigung dieser Ordnung" (S. 49 m i t 45 ff.). 52 a.a.O., S. 14. 53 a.a.O., S. 17; vgl. auch Carl Schmitt, Der Völkerbund und Europa, i n : Hochland, 1928, S. 345 ff., und i n : Positionen u n d Begriffe, S. 88, 91 f. 54 Vgl. statt anderer: Charles Rousseau, Ree. 93, 1958 I, S. 450: „ L a reconnaissance suppose qu'on est en présence d'une formation politique ou d'une autorité nouvelle, q u i s'est créée par des moyens de fait . Son objet sera de faire passer cette formation ou cette autorité dans l'ordre juridique." (Hervorhebung nicht i m Original.)

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z i e r e n 5 5 . Das f e s t z u h a l t e n erscheint wesentlich, w e i l auch die v ö l k e r r e c h t liche K o n s t r u k t i o n v o n Carl Schmitt, v o r a l l e m m i t d e m I n t e r v e n t i o n s v e r b o t r a u m f r e m d e r M ä c h t e u n d m i t i h r e m Reichsbegriff, i n positives V ö l k e r r e c h t eingegangen ist. Dieses v o n d e n v i e r G r o ß m ä c h t e n Deutschl a n d , R u ß l a n d 5 6 , I t a l i e n 5 7 u n d J a p a n 5 8 geschaffene V e r t r a g s r e c h t h a t z w a r g e r i n g e r e n B e s t a n d gehabt als andere v ö l k e r r e c h t l i c h e F u n d i e r u n g e n v o n G r o ß r a u m a n s p r ü c h e n . A b e r auch i n solcher E r s c h e i n u n g e n F l u c h t , j a gerade angesichts des Entstehens u n d Vergehens dieser u n d j e n e r G r o ß raumspezies, e r h ä l t sich u n d b e w ä h r t sich d i e G r o ß r a u m o r d n u n g als k a t e g o r i a l e S t r u k t u r u n d als v ö l k e r r e c h t l i c h e s P r i n z i p . D i e b e i d e n b r i t i s c h e n J o u r n a l i s t e n der T i m e s u n d des D a i l y M a i l ( u n d nach i h n e n mancher andere) h a b e n die politische S t e l l u n g des A u t o r s i n D e u t s c h l a n d v e r k a n n t 5 9 . Hitler h a t anscheinend n i c h t u n m i t t e l b a r v o n dieser a n der M o n r o e - D o k t r i n e x e m p l i f i z i e r t e n G r o ß r a u m k o n z e p t i o n er55 Die Neue Zürcher Zeitung hat i n ihrem L e i t a r t i k e l „Großraumordnung m i t Interventionsverbot" v. 25. Januar 1940 (Blatt 4) die W i r k u n g der Anerkennung durch A r t . 21 ebenso ignoriert wie die Belege aus der amerikanischen Staatspraxis und Rechtswissenschaft, die jener D o k t r i n (zu Recht oder zu U n recht) Rechtscharakter beilegen. A u f diesem wenig festen Boden steht die Behauptung, die Argumentation m i t der Monroedoktrin durch Carl Schmitt sei eine „Verirrung". Das B l a t t hätte sich weniger empört über die Großraumidee i n Gestalt einer Handlungsmaxime als über ein Rechtsprinzip dieses I n halts. 58 I. P. Trainin hat 1947 i n Verkennung sowohl der 1939 m i t Deutschland getroffenen Abgrenzung beider Reiche wie auch der Nachkriegsentwicklung des Sowjetblocks an der Großraumtheorie Carl Schmitts kritisiert, daß sie nicht durchgeführt werden könne auf der Grundlage der Gleichheit der Völker und des gleichen Einflusses der i n den Grenzen des Großraums lebenden Völker. Die neue Raumordnung solle unter Führung einer Nation i n die Tat umgesetzt werden. Diese Theorie werde „ i n verschiedenen Variationen durch Verfechter der Ideologie des USA-Imperialismus zur Begründung ihrer „Rechte" auf Herrschaft über fremde Territorien aufgegriffen" (Fragen des Territoriums i m Staatsrecht, Akademie-Vortrag, i n : Nachrichten der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Klasse für Wirtschaft und Recht, 1947, Heft 6, S. 408 (in russischer Sprache). 57 Riccardo Monaco, Gerarchia e parità fra gli Stati nell'ordinamento internazionale, i n : Rivista d i Studi Politici Internazionali, I X , 1942, S. 1 ff., berichtet vor allem über die „Völkerrechtliche Großraumordnung" und deren Reflex i n der italienischen Literatur. 58 Yosimiti Kuboi, Abgeordneter i m japanischen Reichstag und Berater des Außenministers Matsuoko, hat unter Berufung auf die völkerrechtliche Großraumlehre von Carl Schmitt den Außenminister i m Reichstag aufgefordert, einen Freundschaftspakt auch m i t Rußland abzuschließen und m i t den F ü h rern Deutschlands, Italiens u n d Rußlands i n K o n t a k t zu treten. E r begleitete den Außenminister i m A p r i l 1941 nach Berlin (Brief des Abgeordneten K u b o i an Prof. Schmitt v. 24. A p r i l 1941; er bezog sich dabei auf seinen Aufsatz über das Völkerrecht i m Großraum, veröffentlicht i n der japanischen politischen Monatszeitschrift für Intellektuelle „ K o r o n " , der nicht verifiziert werden konnte). 59 „ H e r r H i t l e r and Professor Schmitt w i l l now, it is believed, devote themselves to completing the framework of this conception, and the Fuhrer w i l l soon give i t to the w o r l d as his justification for Germany's relentless expansion." (Daily Mail, Continental Edition v. 5. A p r i l 1939.)

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fahren, s o n d e r n v e r m u t l i c h auf d e m U m w e g ü b e r d e n Reichspressechef, als dieser i h m ü b e r j e n e ausländischen Pressestimmen berichtete. Hitler h a t d a n n i n seiner als A n t w o r t a n Roosevelt ausgegebenen Reichstagsrede v o m 28. A p r i l 1939 sich j e d e n f a l l s auf die M o n r o e - D o k t r i n bezogen u n d „ d i e gleiche D o k t r i n . . . f ü r E u r o p a , auf a l l e F ä l l e aber f ü r d e n B e reich u n d die B e l a n g e des Großdeutschen Reiches" v e r t r e t e n 6 0 . Carl Schmitt w u r d e a m A b e n d dieses Tages v o n d e m I n h a b e r eines h o h e n Regierungsamtes g e w a r n t : der F ü h r e r schätze die O r i g i n a l i t ä t seiner eigenen G e d a n k e n u n d A u s f ü h r u n g e n i n dieser Rede. D i e nationalsozialistische A u f f a s s u n g v o n der R o l l e des Reiches i n E u r o p a h a t sich v o n der v ö l k e r r e c h t l i c h e n G r o ß r a u m k o n z e p t i o n stets unterschieden. D a r ü b e r h a t m a n sich täuschen lassen d u r c h d e n U m s t a n d , daß Carl Schmitt als erster das G r o ß r a u m p r i n z i p i n die Rechtswissenschaft e i n g e f ü h r t h a t 6 1 u n d d a d u r c h s o w o h l eine n a c h h a l t i g e politische Resonanz i m A u s l a n d h e r v o r g e r u f e n w i e auch z u r Befassung u n d A u s einandersetzung m i t B e g r i f f u n d R e a l i t ä t des G r o ß r a u m s i n zahlreichen deutschen Rezensionen u n d selbständigen A r b e i t e n angeregt h a t 6 2 . Es ist n u r v e r e i n z e l t k r i t i s i e r t w o r d e n , daß e i n d i e G r o ß r ä u m e ü b e r w ö l b e n d e s h u m a n i t ä r e s W e l t r e c h t zu sehr h i n t e r der G r o ß r a u m i d e e z u r ü c k z u t r e t e n d r o h e 6 3 . M i t K r i t i k bedacht w u r d e auch die V e r w e n d u n g des 60 „Der Führer antwortet Roosevelt", München 1939, S. 51. Roosevelt hatte i n einem Telegramm v. 15. A p r i l 1939 sich nach den außenpolitischen Absichten der deutschen Reichsregierung erkundigt. Diese I n i t i a t i v e w a r w i e vieles andere Ausdruck verbreiteter Ungewißheit während jener Windstille vor dem Sturm. 61 Ausdrücklich anerkannt von Reinhard Höhn, Reich/Großraum/Großmacht, Darmstadt 1942, S. 39; Lothar Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung, Die Konstruktion einer „deutschen Monroe-Doktrin", Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Nr. 4, Stuttgart 1962, S. 22. 62 Die Schweizer Weltwoche hat i n ihrer Ausgabe vom 6. Dezember 1940 Carl Schmitt als den Theoretiker des Großraumes vorgestellt: für die von Deutschland ausgehende Revolution spiele er „eine Rolle w i e Rousseau für die französische Revolution". Der Großraumkonzeption erkannte die Weltwoche „einen starken K e r n von Wahrheit" zu; jedoch sollten „die Großmächte, denen die Neuordnung der Welt einmal anvertraut werden w i r d , nicht nur an ihre eigenen Interessen denken, sondern auch an die Interessen der kleinen Staaten und Völker...". Vor der Großraumkonzeption hatte sich eine andere Rechtsfigur Carl Schmitts als bis tief i n andere Disziplinen, z. B. i n das Privatrecht hinein als überaus anregend erwiesen: das konkrete Ordnungsdenken. Vgl. Carl Schmitt, Uber die drei A r t e n des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934; zu der W i r k u n g vgl. Karl Engisch, Die Idee der Konkretisierung i n Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 1953, S. 112 f. und passim. Die W i r k u n g der Großraumkonzeption von Carl Schmitt auf ein umfangreiches wirtschaftswissenschaftliches Schrifttum ist selbst der fleißigen Arbeit von Gruchmann (s. o. Note 61) entgangen. 63 Hans J. Wolff, Besprechung der Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung", 2. Ausgabe, i m Verwaltungsarchiv 1940, S. 264: Ohne allgemeine Gerechtigkeitsgedanken sei „weder ein Recht innerhalb des Großraums noch zwischen den Reichen möglich".

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Reichsbegriffs 64 ; man konnte dessen räumliche Ausdehnung über das Staatsgebiet hinaus anscheinend nur schwer mitvollziehen; diese Bedenken wurden jedoch durch die Terminologie des deutsch-russischen Paktes vom 28. September 1939 widerlegt 6 5 , ebenso wie die K r i t i k an dem Plural „Reiche", die sich auf die „volkliche Gebundenheit des Reichsbegriffs" berief und Reich nur als Deutsches Reich gelten lassen wollte 6 6 . Damit ist die Stoßrichtung der nationalsozialistischen K r i t i k an Carl Schmitt gekennzeichnet. Sie wandte sich mit Vehemenz gegen die Verankerung der Begriffe Großraum und Reich i m Raum statt i m Volk und i n der Rasse. Wo i n der Schrift von Volk die Rede ist, w i r d der Begriff i m Sinne der überlieferten Staatslehre, wie heute ζ. B. i n den Präambeln der Verträge über die Europäischen Gemeinschaften, verwendet, d. h. juristisch und nicht ausschließlich biologisch. Entsprechendes gilt auch für den längst i n die internationale Diskussion über den „Peaceful Change" eingegangenen Begriff Lebensraum. Josef L. Kunz hat diesen Gegensatz zu der NS-Ideologie i n seiner Besprechung sehr wohl bemerkt 6 7 , ebenso Hermann Jahrreiß: „Gegenüber allen Neigungen, nur das Volk als Grundlage, Ziel und Maß der politischen Macht gelten zu lassen, . . . gibt Carl Schmitt dem Raum seinen Rang 6 8 ." I n derselben Linie liegt die Bemerkung von Friedrich Bülow, „daß sich Carl Schmitt nicht wie andere Staatsrechtler . . . i n eine staatsfeindliche Position hineinmanövriert" 6 9 . Der Großraum steht dem Staat also noch näher als dem bloß biologisch aufgefaßten Volk, obwohl der Großraum den Staat dialektisch aufhebt u n d r e l a t i v i e r t 7 0 . Denn das Großraumdenken Carl Schmitts steht ebenso

wie die überlieferte Staatstheorie in der Tradition des abendländischen Rationalismus, dem der Nationalsozialismus insgesamt nicht angehörte 71 . 64 Viktor Böhmert, Besprechung der Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung" i n der Zeitschr. f. V R X X I V , 1940, S. 134,139 f. 65 s. oben m i t A n m . 44. 68 „Der V a t i k a n könnte auf der Grundlage der Schmitt'schen Überlegungen genau so gut sein »Reich4 über einen ,Großraum 4 ausdehnen, wie Deutschland über Mitteleuropa u n d Italien über den Mittelmeerraum" (H. Lemme, Bespr. der Schrift „Völkerrechtliche Großraumordnung" i n „Nationalsozialistische Monatshefte", S.D. aus Folge 129, Dezember 1940, S. 826 f.). 67 „Whereas the others s t i l l cling to the ,racial community 4 , he thinks i n terms of the ,German people's l i v i n g space4. A l t h o u g h paying homage to the ,people 4 , he recognizes the necessity of the territorial element i n international l a w " (American Journal of International Law, 1940, S. 175 f.). 68 Z A d R 1939, S. 609. Ebenso Mallmann , a.a.O. (s. o. Note 37). 89 Bespr. der Schrift i n : Raumforschung und Raumordnung, 4, 1940, S. 378. 70 Dadurch hört „das Staatsgebiet auf, die einzige Raumvorstellung des V ö l kerrechts zu sein. Das Staatsgebiet erscheint dann . . . als n u r ein F a l l völkerrechtlich möglicher Raumvorstellungen, u n d zwar der dem damals verabsolutierten inzwischen durch den Reichsbegriff relativierten Staatsbegriff zugeordnete Fall 4 4 (Völkerrechtliche Großraumordnung, 4. Aufl., S. 53). 71 Hans-Adolf Jacobsen bemerkt zutreffend, daß sogar Europa für H i t l e r weniger ein geographischer als ein blutsmäßig bedingter Begriff w a r (Der Zweite Weltkrieg, Grundzüge der P o l i t i k u n d Strategie i n Dokumenten, Fischer-Bücherei, F r a n k f u r t 1965, S. 178.

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Die intellektuelle Überlegenheit der Jurisprudenz über die Weltanschauung gibt dem rational konstruierten Großraumbegriff seinen Rang und seine Beständigkeit gegenüber allen aus der Ideologie von Volk und Rasse abgeleiteten Expansionsideen. Dieser tiefe Gegensatz war instinktiv leicht zu erfassen 72 . Wo er intellektuell begriffen wurde, richtete sich die K r i t i k „gegen die Grundlage des Schmittschen Begriffsgebäudes"; „diese Grundlage ist der von ihm . . . immer als selbstverständlich vorausgesetzte Begriff des Völkerrechts' " 7 3 . Die nationalsozialistische Polemik gegen die Großraumkonzeption von Carl Schmitt ist nicht eine Einzelerscheinung, sondern die m i t System

und Methode i n Angriff genommene Arbeit einer politisch markanten Gruppe, vor allem i n der SS. Diesen Publikationen kommt heute kaum ein aktuelles staats- oder völkerrechtliches Interesse zu, und i n einer juristischen Studie könnte das Ganze fast auf sich beruhen bleiben, wenn die zeitgeschichtliche oder politikwissenschaftliche „Bewältigung der Vergangenheit" eine ihrem ganzen Aufwand einigermaßen entsprechende Aufmerksamkeit und Würdigung diesen leicht zugänglichen und auch ziemlich umfangreichen „Schmittiana" gewidmet hätte. Unter den gegebenen Umständen muß jedoch wenigstens auf diese Literatur hingewiesen werden 74 . I n diesem Schrifttum w i r d die tiefe Unvereinbarkeit von biologischrassischem „Lebensraum" und rational konstruiertem „Großraum" sichtbar. Hieran scheitern auch jüngere Versuche, die Praxis der nationalsozialistischen Großraumpolitik darzustellen und „dabei die ,ideale4 Zweckbestimmtheit des v o n Carl Schmitt entworfenen ,neuen V ö l k e r -

rechts 4 sichtbar" zu machen 75 . 72 „Schmitt entgeht nicht der Gefahr eines Völkerrechtlers, letzten Endes beim Pazifismus zu landen" (H. Lemme, i n : Nationalsozialistische Monatshefte, a.a.O., S. 826). 73 γ /erner Best, Nochmals: Völkische Großraumordnung statt: „Völkerrechtlicher" Großraumordnung, i n : Deutsches Recht, 11, 1941, S. 1533; vgl. auch Best, Völkische Großraumordnung, a.a.O., 10, 1940, S. 1006 f. und Best, G r u n d fragen einer deutschen Groß räum-Verwaltung, i n : Festgabe für Heinrich H i m m l e r (1941), S. 33—60, zit. bei W. Mallmann, Idee u n d Ordnung des Reiches, Z A d R 1942, S. 274. 74 Vgl. Werner Best, a.a.O. (s. o. Note 73); Reinhard Höhn, Reich/Großraum/ Großmacht, Darmstadt 1942; R. Höhn, Großraumordnung u n d völkisches Rechtsdenken, i n : Reich, Volksordnung, Lebensraum, Zeitschrift f ü r völkische Verfassung u n d Verwaltung, Bd. I, Darmstadt 1941, S. 356 ff. I n Anm. 1 dieses Aufsatzes heißt es: „Zugleich eine Auseinandersetzung m i t der nunmehr i n dritter Ausgabe vorliegenden Schrift von Carl Schmitt, „ V ö l kerrechtliche G r o ß r a u m o r d n u n g . . . " . 75 Lothar Gruchmann, Nationalsozialistische Großraumordnung, Stuttgart 1962, S. 10. M i t der falschen apriorischen Identifikation der nationalsozialistischen m i t der von Carl Schmitt entwickelten völkerrechtlichen Großraumkonzeption macht es sich diese Arbeit sehr leicht. Das zeigt sich auch an manchen Thesen der Arbeit, so wenn die nationalsozialistische D o k t r i n sogar m i t einer einzelnen italienischen Stimme identifiziert w i r d , u m den „aggressiven Charakter" der nationalsozialistischen D o k t r i n zu beweisen (vgl. S. 50 m i t S. 40). So 3

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Die Entwicklung der Großraumtheorie knüpft an wirtschaftliche Sachverhalte an, die seit Beginn der zwanziger Jahre geläufig waren: die Energiefernversorgung i n Gestalt eines die Grenzen überschreitenden Verbunds, die Gasfernversorgung, die sich insgesamt entwickelnde „Großraumwirtschaft"; dieser Begriff wurde schon wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg geprägt 76 . Diese die Grenzen überschreitende w i r t schaftliche Struktur ist Element in einem Steigerungsprozeß, der seit der wirtschaftlichen Erholung nach dem Ersten Weltkrieg allgemein zu größeren Räumen tendiert hat. Dieser Prozeß hält heute noch an und hat sich noch intensiviert und beschleunigt. Der Großraum ist darin ein umfassender, zusammenhängender „Leistungsraum" 77 . Er ist ein die nationalen Grenzen überschreitender „Bereich menschlicher Planung, Organisation und A k t i v i t ä t " 7 8 . Die gegenwärtige Teilung und Einteilung der Welt in einen Pluralismus von Großräumen, die sich geographisch zum Teil überschneiden, hat ihre eigenen, nicht mehr nur räum-, sondern auch funktionsbezogenen Nomoi. Dazu zählt die Einteilung i n „industriell entwickelte und weniger entwickelte Gebiete, verbunden mit der unmittelbar sich anschließenden Frage, wer wem industrielle Entwicklungshilfe gibt und wer, auf der anderen Seite, von wem industrielle Entwicklungshilfe n i m m t " 7 9 . III. Die Technostruktur ist großräumig. Gäbe es keine politischen Motive für Großraumbildungen, so wären Organisation und Verwaltung der Wirtschaft, d. h. die durch ihre Technik bedingte Struktur 8 0 , heute dennoch großräumig. Und ihre politischen und gegebenenfalls auch militäriwerden nicht n u r alle Konturen verwischt, solchen Urteilen mangelt auch der gebotene Ernst. Das steht i n auffallendem Gegensatz zu dem großen Fleiß i n der Sammlung auch entlegenen Materials und zu der A k r i b i e i n der Methode. Vgl. zu dieser von Ernst Fraenkel angeregten Berliner phil. Diss, auch oben Anm. 51 a. E. und 61 sowie 62 a. E. 76 Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung, 4. Ausg., S. 6 f.; Justus Wilhelm Hedemann, Der Großraum als Problem des Wirtschaftsrechts, i n : Deutsche Rechtswissenschaft, 6,1941, S. 180 ff. 77 Diesen Begriff hat Carl Schmitt dem Werk von Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis, Leipzig 1940, S. 129 entnommen (vgl. Völkerrechtliche Großraumordnung, a.a.O., S. 7 Anm. 5). 78 Carl Schmitt, a.a.O., S. 7. Wesentliche für die Entwicklung maßgebliche, wirtschaftliche Gesichtspunkte sind dargestellt i n E. A. G. Robinson (ed.), Economic consequences of the size of Nations, Proceedings of a Conference held by the International Economic Association, London 1963. 79 Carl Schmitt, E l Orden del Mundo despues de la Segunda Guerra Mundial, i n : Revista de Estudios Politicos, und separat, Madrid 1962. 80 John Kenneth Galbraith verwendet den Begriff „technostructure" zur Kennzeichnung des Entscheidungsmechanismus der durch die beherrschende Rolle von Großunternehmen gekennzeichneten Industriewirtschaft (The New Industrial State, London 1967, S. 60 ff., 154 passim): „ . . . much of our life, and nearly of all of i t that involves the procurement and use of income, is subject to the decisions of the technostructure" (S. 111).

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sehen I m p l i k a t i o n e n w ä r e n es n a t ü r l i c h ebenfalls auch ohne spezifisch politische oder m i l i t ä r i s c h e M o t i v a t i o n . Das G r o ß r a u m t h e m a ist j e d e n f a l l s schon der w i r t s c h a f t l i c h e n P h ä n o m e n e w e g e n u n l e u g b a r a k t u e l l . I n E u r o p a h a t es als europäisches T h e m a s o w o h l T r a d i t i o n als auch — v o r a l l e m i n den Europäischen Gemeinschaften — k o n k r e t e n j u r i s t i schen Gehalt. V o r n e h m l i c h als europäisches T h e m a m a n n i g f a l t i g e r h i s t o rischer D i m e n s i o n 8 1 h a t es h i e r auch einen a k t u e l l e n p o l i t i s c h e n S i n n 8 2 . A l s A r b e i t s b e g r i f f erscheint Großraum v o r e r s t u n e n t b e h r l i c h , o b w o h l die g r o ß r ä u m i g e n G r u n d v e r f a s s u n g e n unserer Epoche n i c h t m e h r i n d e m selben Maße r a u m h a f t s i n d w i e die der N a t i o n a l s t a a t e n ; gerade i n den die Staaten ü b e r g r e i f e n d e n O r d n u n g e n g e w i n n e n neben den r ä u m l i c h e n v e r schiedene f u n k t i o n a l e B e s t i m m u n g s g r ü n d e an G e w i c h t 8 3 : Großräume sind gekennzeichnet durch eine auf bestimmte Zwecke gerichtete Organisation tatsächlich wirksamer und in der Regel auch rechtlich begründeter Vgl. auch die diesem Begriff nahekommenden Vorstellungen von JeanJacques S erv an-Schreib er, Le Défi Américain, Paris 1967. 81 Hier sei wenigstens noch auf den „Grand Dessin" des Herzogs von Sully und Heinrichs IV. von Frankreich hingewiesen; dieser Plan aus dem Beginn des 17. Jahrhunderts hat eine eigenartige, terminologische Entsprechung i n dem „Grand Design" des Präsidenten John F. Kennedy gefunden. Einen Hinweis auf Sully und andere Planer eines großräumigen Europa findet sich bei Johann Caspar Bluntschli, Die Organisation des europäischen Staatenvereines, 1878, Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt 1962. 82 So wenig dieses gegenwärtig aus deutscher Perspektive der Hervorhebung bedarf, so bemerkenswert ist der darin liegende Unterschied zu Frankreich, das nach dem wenig erfolgreichen Versuch, sein Kolonialreich i n einen französischen Großraum, Union und Communauté Française, zu überführen, unter General de Gaulle andere mögliche Ausdrucksformen eines französischen Großraums nicht vernachlässigt hat, und sei es nichts anderes als die Frankophonie. Zur Frankophonie vgl. Karel Vasak, De Γ OC A M à la francophonie institutionnalisée?, ZaöRV 27, 1967, S. 24 ff., und die dort angeführte L i t e r a t u r ; ferner die m i t O. F. gezeichneten Berichte der Neuen Zürcher Zeitung „Die ,Ethnie française' und die Separatisten", „Der Einfluß der französischen Presse i n der Westschweiz", „Fallstricke der ,Frankophonie' ", N Z Z v. 9. 2., 18. 3. und 13. 8. 1967; in dem erstgenannten A r t i k e l u n d bei Vasak, S. 44 ff., eine Aufzählung der für die Frankophonie entworfenen politischen Institutionen. Großräumige Vorstellungen sieht Guy de Carmoy i m deutsch-französischen Freundschaf tsvertrag von 1963 v e r w i r k l i c h t : de Gaulle habe damit gehofft, „faire triompher les positions françaises. Ces moyens ayant échoué, i l réclame ouvertement le droit de veto" i n den Europäischen Gemeinschaften (Les politiques étrangères de la France (1944—1966), Paris 1967, S. 458. Zutreffend hebt Carmoy die Raumbezogenheit der französischen Außenpolitik hervor: de Gaulle habe es unternommen, engager la France dans une grande partie géostratégique" (S. 486). 83 Weshalb neben räumlich angrenzenden zunehmend auch raumüberspringende Zusammenhänge i n Erscheinung treten, die nicht nur i n traditionellen Bündniskonstellationen sondern auch i n politischen, wirtschaftlichen, ideologischen und anderen Gemeinsamkeiten und sich darauf gründender Übereinstimmung von Interessen, Homogenität und Konsens ihre Wurzeln haben (ζ. B. Bandung-Gruppe, blockfreie Staaten, D r i t t e Welt und die nach dem K r i t e r i u m der industriellen Entwicklung organisierten Staatengruppen der UNCTAD). 3

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Ausübung politischer Macht 8 4 . Sind deren Träger nationale (oder vergleichbare) Institutionen, so ist die Struktur des Großraums hegemonial. Sie ist kollegial i m Fall institutioneller Integration der einen Großraum bildenden Staaten. Für deren fortgeschrittene Form ist der juristische Terminus „Gemeinschaft" geläufig. Mischformen sind die Regel. Da den Integrationsprozessen eine starke (obgleich nicht unumkehrbare) Tendenz zur Fortentwicklung innewohnt, ist die Verfestigung der Großraumstrukturen abzusehen. Völkerrechtliche Großraumkorrelate sind besondere Befugnisse, Zuständigkeiten, Ausschlußrechte und ein eigener domaine réservé 85 . Das hat sich am deutlichsten in der Kubakrise 1962, aber auch i n der Ungarn- (1956) und Tschechenkrise (1968) erwiesen. Thukydides hat den Steigerungsprozeß i n der Geschichte empirisch wahrgenommen und als solchen i n einer Abbreviatur als Faktum festgestellt (I, 22). Gegenstand seines historischen, politischen und gelegentlich am Recht orientierten Urteils sind jeweils die Resultate, zu denen die Geschichtsbewegung geführt hat: die Größe der seetüchtigen Fahrzeuge, der Reichtum, Landnahmen wie die der Insel Melos durch Athen, der von Athen beherrschte, umkämpfte, verlorene Großraum, die politische Macht. Der Steigerungsprozeß selbst fordert nur i n einem einzigen, seine Erfahrung allerdings schlechthin dominierenden Belang eine über die Beschreibung hinausgehende Feststellung des Historikers heraus: Das Wachstums Athens ist ursächlich für den Peloponnesischen Krieg. Von dieser Feststellung eines Kausalzusammenhangs abgesehen handelt es sich aber auch hier nur um ein großes Paradigma der quantitativen Steigerung 86 . Die Steigerung geschichtlicher Größen hat heute nicht nur die räumliche Ausdehnung (in Großräume und schließlich i n den Weltraum), sondern überall auch die besondere Dimension des ökonomischen Wachstums. W i r beobachten diese A r t der Steigerung nicht nur wie einen schicksalhaften Ablauf, sondern steuern sie. Das ist eine technisch bedingte, vornehmlich wirtschaftswissenschaftliche und juristische Aufgabe 87 . Der Nomos des Wachstums ist Planung 8 8 . 84

Wäre der Zweck universell, so wäre der Großraum ein Staat. Vgl. J. H. Kaiser, Internationale u n d nationale Zuständigkeit i m Völkerrecht der Gegenwart, Berichte der deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 7,1967, S. 5 ff. 86 Dazu s. o. Ziff. I. 87 Z u der Frage, „ w i e geschieht es, daß rechtlich gilt, was ökonomisch sein oder werden soll?". Vgl. Joseph H. Kaiser, ökonomische Ordnungspostulate u n d juristische Normierung, i n : Z u r Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften, Ringvorlesung der Rechts- u n d Staatswissenschaftlichen Fakultät Freiburg i. Br., Abhandlungen, Bd. 27, Karlsruhe 1967, S. 49 ff. 88 Eine Diskussion über Thukydides i n meinem Seminar mündete schließlich i n einem Dialog m i t Dr. Peter Schneider i n diese Formulierung. Z u m Ganzen vgl. auch J. H. Kaiser, Kartelle i m Großraum, demnächst i n der Festschrift für Götz Briefs. 85

Vergangene Z u k u n f t der frühen Neuzeit* Von Reinhart Koselleck, Heidelberg

I m Jahre 1528 bestellte sich Herzog Wilhelm IV. von Bayern eine Reihe von Historienbildern, die für sein neu errichtetes Lusthaus am Marstallhof gedacht waren. Die Themenwahl war christlich-humanistisch bestimmt, sie umfaßte eine Serie biblischer und eine Serie klassisch-antiker Begebenheiten. Das zu Recht berühmteste dieser Tafelwerke ist die Alexanderschlacht von Albrecht Altdorfer. Auf einer Fläche von anderthalb Quadratmetern enthüllt uns Altdorfer das kosmische Panorama einer weltgeschichtlichen Entscheidungsschlacht, der Schlacht von Issus, die i m Jahre 333, wie w i r heute sagen, das Zeitalter des Hellenismus eröffnete. M i t einer bis dahin unbekannten Meisterschaft verstand es Altdorfer, Tausende und Abertausende einzelner Streiter als geschlossene Heerhaufen darzustellen; er zeigt uns den Aufeinanderprall gepanzerter Reiterkolonnen und mit Speeren bewaffneter Fußtruppen; die siegreiche Stoßrichtung der Makedonen mit Alexander weit voraus an der Spitze; die Verwirrung und Auflösung, die sich gerade der Perser bemächtigte; die abwartende Haltung der griechischen Kampfreserven, die dann den Sieg vollenden sollten. Eine exakte Betrachtung des Bildes ermöglicht es uns, den Gesamtablauf der Schlacht zu rekonstruieren. Altdorfer hat die Geschichte in ein Bild gebannt, so wie damals „Historie" zugleich ein Bild und eine Geschichte meinen konnte. U m möglichst genau zu sein, hat der Maler bzw. der ihn beratende Hofhistoriograph den Curtius Rufus zu Rate gezogen, dem die vermeintlich exakten Zahlen der Kampfteilnehmer, der Gefallenen und der Gefangenen entnommen wurden. Die Ziffern finden sich verzeichnet auf den Bannern der Heerhaufen, auf denen also Gefallene angeführt werden, die i m Bilde selbst noch unter den Lebenden weilen, * Der vorliegende Aufsatz wurde i n verschiedenen Varianten, u. a. als A n trittsvorlesung i n Heidelberg 1965, vorgetragen. Es handelt sich u m die Skizze eines Buches über die Temporalstrukturen der Geschichte, an dem ich derzeit arbeite. Die Gespräche, die ich m i t Dr. Gerhard Hergt geführt habe, sind i n diese Arbeit eingegangen. Z u m Terminus der, Vergangenen Zukunft' siehe dessen Verwendung auch bei R. Aron , Introduction à la philosophie de l'histoire, Paris 1948, S. 182 und R. Wittram, Z u k u n f t i n der Geschichte, Göttingen 1966, S.5.

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ja die vielleicht selber das Banner halten, unter dem sie demnächst tot zusammenbrechen werden. Es war ein bewußter Anachronismus, dessen sich Altdorfer bediente, um die vergangene Schlacht ihrem Ablauf getreu anschaulich zu machen. Weit auffälliger ist uns heute freilich ein anderer Anachronismus. Wir, die w i r heute das B i l d i n der Pinakothek betrachten, glauben den letzten Ritter Maximilian vor uns zu sehen oder die Landsknechtshaufen der Schlacht zu Pavia. Die meisten Perser gleichen vom Fuß bis zum Turban den Türken, die i m selben Jahr, da das Bild entstand, 1529, Wien vergeblich belagerten. M i t anderen Worten, das geschichtliche Ereignis, das A l t dorfer festhielt, war für ihn gleichsam zeitgenössisch. Alexander und Maximilian, für den Altdorfer Illustrationen verfertigt hatte, rücken exemplarisch zusammen; der historische Erfahrungsraum lebte aus der Tiefe einer Generationseinheit. Und der Stand der damaligen Kriegstechnik bot noch keine prinzipiellen Hindernisse, die Alexanderschlacht zeitgenössisch darzustellen. Machiavelli hatte sich gerade in den Discorsi bemüht, i n einem ganzen Kapitel nachzuweisen, wie wenig die modernen Feuerwaffen die Kriegstechnik verändert hätten. Zu glauben, daß die Erfindung der Geschütze die vorbildlich Kraft der Antike verdunkele, sei gänzlich irrig. Wer den Alten folge, könne über eine solche Ansicht nur lächeln. Gegenwart und Vergangenheit wurden von einem gemeinsamen geschichtlichen Horizont umschlossen. Eine zeitliche Differenz wurde nicht etwa willkürlich eliminiert, sie trat als solche gar nicht i n Erscheinung. Der Beweis dessen ist nun auf dem Alexander-Bilde selbst erkennbar. Altdorfer, der die dargestellte Historie geradezu statistisch erhärten will, indem er die Schlachtteilnehmer in zehn Zahlenkolonnen aufführt — er hat auf eine Zahl verzichtet, auf das Jahresdatum. Seine Schlacht ist nicht nur gleichsam zeitgenössisch, sie scheint ebenso zeitlos zu sein. Als Friedrich Schlegel knapp dreihundert Jahre später das B i l d kennenlernte, ergiff ihn, wie er schrieb, „bei Erblickung dieses Wunderwerkes" ein grenzenloses „Erstaunen". I n langen gedankensprühenden Kaskaden feierte Schlegel das Gemälde, auf dem er „das höchste Abenteuer alten Rittertums" wiedererkannte. Damit hatte er zu dem Meisterwerk A l t dorfers eine historisch-kritische Distanz gewonnen. Schlegel weiß das B i l d sowohl von seiner eigenen Zeit zu unterscheiden wie auch von der antiken Zeit, die es darzustellen vorgibt. Die Geschichte hat für ihn damit eine spezifisch zeitliche Dimension gewonnen, die bei Altdorfer offensichtlich fehlte. Grob formuliert war für Schlegel in den 300 Jahren, die ihn von Altdorfer trennten, mehr Zeit, jedenfalls eine andersartige Zeit verflossen als für Altdorfer in den rund achtzehnhundert Jahren, die zwischen der Schlacht von Issus und seiner Darstellung lagen.

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Was hat sich in diesen dreihundert Jahren ereignet, die zwischen unseren Zeugen Altdorfer und Schlegel liegen? Welche neuartige Qualität hat die geschichtliche Zeit gewonnen, die diesen Zeitraum von etwa 1500 bis 1800 sozusagen ausfüllte? Diese Frage wollen w i r uns zu beantworten suchen. Wenn uns eine Antwort gelingt, so müssen w i r etwas aufweisen, das den besagten Zeitraum nicht nur ausgefüllt hat, sondern ihn als einen spezifischen Zeitraum erst charakterisiert. Um meine These zugespitzt zu formulieren, so handelt es sich i n diesen Jahrhunderten um eine Verzeitlichung der Geschichte, an deren Ende jene eigentümliche A r t der Beschleunigung steht, die unsere Moderne kennzeichnet. Wir fragen also nach der Eigenart der sogenannten frühen Neuzeit. Dabei beschränken w i r uns auf jenen Aspekt, der sich uns heute aus der jeweiligen Zukunft der damaligen Generationen bietet, knapper gesagt, auf die vergangene Zukunft. I. Die unmittelbare Präsenz und die außerchronologische Pointe, die w i r an Altdorf ers B i l d entdeckt haben, wollen w i r uns zunächst verdeutlichen. Versuchen w i r das B i l d mit den Augen eines damaligen Zeitgenossen zu betrachten. Für einen Christen bedeutete der Sieg Alexanders über die Perser den Übergang vom zweiten zum dritten Weltreich, dem mit dem römischen Imperium das vierte und letzte Reich gefolgt war. I n einem solchen Kampf waren auch himmlische und kosmische Mächte beteiligt, die wie Sonne und Mond auf dem B i l d Altdorfers als Kräfte des Lichts und der Finsternis den beiden Königen zugeordnet sind, wobei die Sonne zugleich über einem Schiff steht, dessen Mast ein Kreuz darstellt. Die Schlacht, i n der das Perserreich untergehen sollte, war nicht irgendeine Schlacht, sondern eines der wenigen Ereignisse zwischen Weltanfang und Weltende, das auch den Untergang des heiligen römischen Reiches präfigurierte. Bei dem noch ausstehenden Weltende standen analoge Ereignisse zu erwarten. Das Tafelwerk Altdorfers hatte, mit anderen Worten, eschatologischen Rang. Die Alexanderschlacht war zeitlos als Vorspiel, als Figur oder Typus des Endkampfes zwischen Christ und Antichrist; ihre Mitkämpfer waren Zeitgenossen all derer, die i n Erwartung des jüngsten Gerichts lebten. Die Geschichte der Christenheit ist bis in das 16. Jh eine Geschichte der Erwartungen, oder besser eine ständige Erwartung der Letztzeit einerseits und der dauernden Verzögerungen des Weltendes andererseits. Wie unmittelbar die Erwartungen waren, das wechselte von Situation zu Situation, aber die Grundfiguren der Endzeit standen fest. Die mythischen Umkleidungen der Johannesapokalypse konnten der jeweiligen Lage angepaßt werden, und auch die außerkanonischen Weissagungen variier-

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ten nur eine relativ geringe Zahl von Gestalten, die i n der Endzeit auftreten sollten, etwa die Engelspäpste, den Friedenskaiser oder Vorläufer des Antichrist wie Gog und Magog, die nach einer orientalischen, auch i m Westen geläufigen Überlieferung bis zu ihrem Aufbruch von Alexander i m Kaukasus eingeschlossen blieben. Wie immer die Endzeitbilder variiert wurden, ein fester Bestandteil blieb darin die Rolle des Römischen Reiches: solange es Bestand hatte, wurde der endgültige Untergang aufgehalten. Der Kaiser war der ,katechon' des Antichrist. A l l diese Figuren schienen nun i m Zeitalter der Reformation i n die geschichtliche Wirklichkeit zu treten. Luther sah den Antichristen auf dem heiligen Stuhl, Rom war ihm die Hure Babylon, die Katholiken sahen den Antichristen i n Luther, der Bauernaufruhr und die sich abzeichnenden militanten Fronten der zerfallenden Kirche schienen den letzten Bürgerkrieg vorzubereiten, der dem Weltende vorausgehen sollte. Die Türken schließlich, die i m Jahr des Alexanderbildes Wien bestürmten, schienen das entfesselte Volk Gog zu sein. Altdorfer, an der Vertreibung der Juden aus Regensburg beteiligt und i n Beziehung zu dem Astrologen Grünpeck, kannte sicher die Zeichen. Als Stadtbaumeister sorgte er, während sein B i l d entstand, für die Verstärkung der Befestigungen, um gegen die Türken gewappnet zu sein. „Wenn w i r den Türken wegschlagen", sagte damals Luther, „so ist Daniels Prophezey aus und hinweg, alsdenn ist der jüngste Tag gewißlich fur der Thür 1 ." Die Reformation trug als religiöse Erneuerungsbewegung alle Zeichen des Weltendes mit sich. Luther sprach häufig davon, daß der Untergang i m kommenden, ja in diesem Jahr noch zu erwarten sei. Aber, fügte er einmal hinzu, wie uns ein Tischgespräch überliefert, Gott werde die letzten Tage abkürzen den Auserwählten zuliebe, „dan die weit eilet davon, quia per hoc decennium fere novum saeculum f u i t " 2 . Luther glaubte die Ereignisse des neuen Jahrhunderts in einem Jahrzehnt zusammengedrängt, das seit dem Reichstag zu Worms abgelaufen, und an dessen Ende, wie w i r wissen, die Alexanderschlacht entstanden war. Die Zeitverkürzung deutete darauf hin, daß das Weltende, bleibt auch das Datum verborgen, mit großer Geschwindigkeit herannaht. Halten w i r hier einen Moment inne und blicken die rund dreihundert Jahre voraus, deren temporaler Strukturwandel unser Thema ist. A m 10. Mai 1793 ruft Robespierre in seiner berühmten Rede zur Revolutionsverfassung aus: „Die Zeit ist gekommen, jeden zu seiner wahren Bestim1 Luther, Tischreden W A , 678. Z u Altdorfer siehe u. a. Ernst Buchner, Albrecht Altdorfer und sein Kreis, Katalog, München 1938; ders., Die A l e x a n derschlacht, Stuttgart 1956; K. Oettinger, Altdorfer-Studien, Nürnberg 1959; A. Altdorfer, Graphik, Hrsg. F. Winzinger, München 1963. 2 Luther, a.a.O., 2756 b (Zusatz).

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mung aufzurufen. Der Fortschritt der menschlichen Vernunft hat diese große Revolution vorbereitet, und gerade Ihr seid es, denen die besondere Pflicht auferlegt ist, sie zu beschleunigen 3 ." Die providentielle Phraseologie Robespierres kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich, gemessen an unserer Ausgangssituation, der Erwartungshorizont verkehrt hat. Für Luther ist die Verkürzung der Zeit ein sichtbares Zeichen für Gottes Willen, das jüngste Gericht hereinbrechen zu lassen, das Ende dieser Welt. Für Robespierre ist die Beschleunigung der Zeit eine Aufgabe der Menschen, das Zeitalter der Freiheit und des Glücks, die goldene Zukunft heraufzuführen. Die beiden Positionen, so sehr die Revolution aus der Reformation hervorging, markieren Anfang und Ende unseres Zeitraums. Versuchen wir, ihn am Leitfaden der Zukunftssicht zu gliedern. Es war ein Herrschaftsprinzip der Römischen Kirche, alle Visionäre unter ihre Kontrolle zu bringen. Visionen der Zukunft erforderten zu ihrer Verkündung, wie noch das 5. Laterankonzil (1512—17) beschloß, eine kirchliche Autorisation. Das Verbot der joachimitischen Lehre vom dritten Reich, das Schicksal der Jeanne d'Arc, die für die standfeste Behauptung ihrer unlizensierten Visionen den Scheiterhaufen besteigen mußte, oder der Feuertod Savonarolas mögen als Beispiel dienen, wie nachbiblische Prophetien abgekappt wurden. Der Bestand der Kirche durfte nicht gefährdet werden, ihre Einheit war — wie die Existenz des Reiches — Garant der Ordnung bis zum Ende der Welt. Diesem Sachverhalt entspricht es, daß die Zukunft der Welt und ihr Ende i n die Geschichte der Kirche hineingeholt wurden, wodurch neu aufflammende Prophetien zwangsläufig unter Häresieverdikt gerieten. Das ausbleibende Weltende konstituierte nämlich die Kirche derart, daß sie sich unter der Drohung des jederzeit möglichen Weltendes und in der Hoffnung auf die Parusie stabilisieren konnte 4 . Das unbekannte Eschaton ist zu verstehen als der Integrationsfaktor der Kirche, die sich dadurch als Welt setzen und als Institution gestalten konnte. Die Kirche ist i n sich schon eschatologisch. Aber i m Augenblick, da die Figuren der JohannesApokalypse auf konkrete Ereignisse oder Instanzen appliziert werden, w i r k t sich die Eschatologie desintegrierend aus. Das Weltende ist nur solange ein Integrationsfaktor, als es in einem geschichtlich-politischen Sinne unbestimmbar bleibt. Die Zukunft als mögliches Ende der Welt ist somit als für die Kirche konstitutiv in die Zeit hineingenommen worden, sie liegt nicht i n einem linearen Sinne am Ende der Zeit: vielmehr kann das Ende der Zeit nur erfahren werden, weil es immer schon in der Kirche aufgehoben ist. Solange blieb die Geschichte der Kirche die Geschichte des Heils. 3 4

Robespierre, Oeuvres, Paris 1958, I X , S. 495. Augustinus, De civ. Dei X V I I I , c. 53 u. X X c. 7.

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Diese Tradition wurde durch die Reformation in ihrer inneren Voraussetzung zerstört. Weder Kirche noch weltliche Mächte waren fähig, die Energien einzubinden, die mit Luther, Zwingli und Calvin i n die Welt Europas einbrachen. Luther selbst verzweifelte i m Alter an der Möglichkeit des Friedens: die Reichstage richten nichts mehr aus, er bete, der letzte Tag möge kommen, „allein daß ich bitte, daß sie es nicht ärger machen, auf daß noch ein wenig Aufenthalt sey" 5 . Der Beruf des Reiches, das Weltende aufzuhalten, schwingt noch durch den Notschrei eines Mannes, der für diese Welt keinen Ausweg mehr sieht. Das Reich habe versagt. Kurz darauf, 1555, wurde der Religionsfriede zu Augsburg geschlossen, — wie es i m § 25 heißt, um „diese löbliche Nation vor endlichem vorstehenden Untergang zu verhüten". Die Stände einigten sich, daß ein „beständiger, beharrlicher, unbedingter, für und für ewig währender Fried aufgericht" 6 werde. Auch dann, und das war so entscheidend wie umstritten, auch dann, wenn die Religionsparteien zu keinem Vergleich, keiner Einigung finden sollten. Der Friede und die Einheit der Religion waren seitdem nicht mehr identisch, Friede hieß jetzt, die religiösen Bürgerkriegsfronten stillegen, sie einfrieren lassen. Es läßt sich heute nur schwer ermessen, wie ungeheuerlich diese Zumutung damals empfunden wurde. Der aus der Not geborene Kompromiß barg aber i n sich ein neues Prinzip, das der ,Politik', die sich i m folgenden Jahrhundert durchsetzen sollte. Nur um das Zeitliche, nicht ums Ewige scherten sich die Politiker, wie ihnen von den Rechtgläubigen aller Parteien vorgeworfen wurde. „L'heresie n'est plus auiourd'huy en la Religion; elle est en l'Estat" 7 antwortete ein französischer Jurist und Politiker während des konfessionellen Bürgerkrieges. Häresie existiert nicht mehr in der Religion, sie besteht i m Staat. Ein gefährliches Wort, wenn w i r es heute wiederholen. Sein Sinn 1590 bestand aber darin, die Rechtgläubigkeit zu einer Frage des Staatsrechts zu formalisieren. ,Cuius regio, eius religio' ist eine frühe Formel dafür, daß sich die Fürsten, gleich welcher Konfession sie folgten, in ihrer Eigenschaft als Fürsten über die Religionsparteien erhoben. Aber erst nach dem dreißig Jahre währenden Krieg waren die Deutschen soweit zermürbt, daß sie das Prinzip religiöser Indifferenz zur Basis ihres Friedens machen konnten. Was vornehmlich als religiöser Bürgerkrieg der Stände des römischen Reiches begonnen hatte, endete mit dem Friedensschluß souveräner Fürsten, zu denen sich die Territorialherren eman5

Luther, Tischreden W A 6893. Zeumer, Quellensammlung zur Gesch. d. dt. Reichsverf., Tübingen 1913, S. 346 f. 7 Zit. nach Roman Schnur, Die Französischen Juristen i m konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, i n : Festschrift für Carl Schmitt, Berlin 1959, S. 186. β

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zipiert hatten. Während sich i m Westen aus der guerre civile und aus dem civil war eine moderne Staatlichkeit ergab, verwandelte sich i n Deutschland der religiöse Bürgerkrieg — kraft der Interventionen — i m Laufe der dreißig Jahre in einen zwischenstaatlichen Krieg, dessen Ergebnis paradoxerweise das Reich am Leben erhielt. Freilich unter völlig neuen Voraussetzungen: Die Friedensordnung von Münster und Osnabrück galt bis zur Französischen Revolution als die völkerrechtliche Basis der Toleranz. Welche Folgen hatte die neue Zuordnung von Religion und Politik für die Ausbildung moderner Zeiterfahrung, bzw. welche Verschiebung der Zukunft hatte diesen Vorgang mit geprägt? Die i n einem Jahrhundert blutiger Kämpfe gewonnene Erfahrung war zunächst die, daß die religiösen Bürgerkriege offenbar nicht das Jüngste Gericht einleiteten, wenigstens nicht in dem handfesten Sinne, wie es früher erwartet wurde. Vielmehr wurde ein Friede erst möglich, im Maße wie sich die religiösen Potenzen i m offenen Kampf verzehrten oder erschöpften, bzw. wie es gelang, sie politisch einzubinden oder zu neutralisieren. Damit wurde eine neue und neuartige Zukunft erschlossen. Der Vorgang vollzieht sich langsam und war sei langem angelegt. Erstens fällt es auf, daß bereits i m 15. Jh. und ζ. T. schon vorher das erwartete Weltende mehr und mehr hinausgeschoben wurde. Nicolaus von Cues setzte es einmal auf den Anfang des 18. Jh.s fest; Melanchthon rechnete mit dem Ablauf von 2 000 Jahren nach Christi Geburt, bis das letzte Zeitalter zur Neige gehe. Die letzte große Papstprophetie 1595, die dem heiligen Malachias zugeschrieben wurde, erweiterte die bis dahin übliche Papstliste um mehr als das dreifache, so daß das Ende aller Zeiten nach der durchschnittlichen Regierungsdauer der Päpste frühstens um 1992 anzusetzen wäre. Eine gar nicht zu unterschätzende Rolle spielte — zweitens — die Astrologie, die ihre Blüte in der Renaissance erreichte, deren Wirkung aber unvermindert anhielt, bis die Naturwissenschaften, die gleichsam auf ihrem Rücken hochgetragen wurden, die Astrologie langsam i n Mißkredit brachten. Noch Newton prohezeite um 1700 das Ende der Papstherrschaft für 2 000. Die astrologische Zukunftsberechnung schob, sie einkalkulierend, die eschatologischen Erwartungen in eine immer fernere Zukunft. Schließlich wurden die Enderwartungen von den scheinbar naturalen Determinanten unterwandert. Es ist von symbolischer Koinzidenz, daß i m Jahre des Augsburger Religionsfriedens, 1555, Nostradamus seine Centurien veröffentlichte. Nostradamus schließt zwar seine Visionen traditionsgemäß mit einer Endprophetie, aber für die Zwischenzeit hat er eine unendliche Fülle undatierbarer, variabler Orakel formuliert, so daß dem neugierigen Leser eine unermeßlich spannende Zukunft erschlossen wurde.

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Drittens: M i t dem Verblassen endzeitlicher Erwartungen ging jetzt, anders als früher, dem Heiligen Römischen Reich seine eschatologische Funktion verloren. Spätestens seit dem Westfälischen Frieden war es evident, daß die Friedenswahrung, wenn überhaupt, Aufgabe des europäischen Staatsystems geworden war. Bodkin wirkte hier als Historiker ebenso bahnbrechend wie mit der Begründung des Souveränitätsbegriffs. Indem Bodin die Sakralgeschichte, die menschliche und die Naturgeschichte voneinander trennte, verwandelte er die Frage nach der Endzeit i n ein Problem astronomischer und mathematischer Berechnung. Der Weltuntergang w i r d zu einem Datum des Kosmos, die Eschatologie in eine eigens dafür bereitgestellte Naturgeschichte abgedrängt. Bodin hielt es m i t kabbalistischer Tradition durchaus für möglich, daß diese Welt erst nach einem Zyklus von 50 000 Jahren ende. Damit war auch das Römische Reich deutscher Nation jeder heilsgeschichtlichen Aufgabe entblößt. Die menschliche Geschichte, als solche betrachtet, habe kein Ziel, sondern sei das Feld der Wahrscheinlichkeit und menschlicher Klugheit. Friede zu wahren, sei Aufgabe des Staates, nicht Mission eines Reiches. Wenn überhaupt ein Land die Nachfolge des Imperiums beanspruchen dürfe, dann höchstens das türkische, denn es erstrecke sich über drei Kontinente. Die Freilegung einer historia humana, die von der sakralen Geschichte absieht, und die Legitimierung des modernen Staates, der heilsgewisse Religionsparteien zu zähmen weiß, sind für Bodin ein und derselbe Vorgang. Das führt uns auf einen vierten Punkt. Die Genese des absoluten Staates ist begleitet von einem anhaltenden Kampf gegen religiöse und politische Weissagungen aller Art. Der Staat erzwingt sich ein Monopol der Zukunftbeherrschung, indem er die apokalyptischen und astrologischen Zukunftdeutungen unterdrückt. Damit übernahm er, freilich m i t antikirchlicher Zielsetzung, eine Aufgabe der alten Kirche. Heinrich VIII., Eduard VI. und Elisabeth von England erließen strenge Verbote gegen jede A r t solcher Voraussagen. Lebenslängliches Zuchthaus erwartete rückfällige Propheten. Heinrich I I I . von Frankreich und Richelieu schlossen sich dem englischen Beispiel an, um ein für alle Mal die ständig fließende Quelle religiöser Erwartungen zuzustopfen. Grotius, der 1625 als Emigrant vor religiöser Verfolgung sein Völkerrecht veröffentlichte, zählte den Willen, Weissagungen zu erfüllen, ,voluntatem implendi vaticinia', zu den ungerechten Gründen eines Krieges. Und er fügte die Warnung hinzu: „hütet Euch, allzu übermütige Theologen; hütet Euch, Politiker, vor den allzu übermütigen Theologen 8 ." Insgesamt kann man sagen, daß es eine harte Politik erreicht hatte, die handfesten religiösen Zukunftshoffnungen, die nach dem Zerfall der Kirche wucherten, aus dem 8

Grotius, De jure belli ac pacis, Amsterdam 1670, 389, 398 (II, 22, § 15).

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Bereich der politischen Willensbildung und -entscheidungen langsam zu eliminieren. Das zeigt sich auch in England, wo i n der puritanischen Revolution noch einmal die alten, prophetisch verpackten Erwartungen emporschössen. Aber der letzte große Weissagungskampf auf politischer Ebene, 1650, ob die Monarchie wiederkehre oder nicht, wurde bereits mit philologischkritischen Federn geführt. Der republikanische Astrologe L i l l y wies dem Kavalier nach, seine Quellen falsch exzerpiert zu haben. Und wenn Cromwell seine Absichten für das kommende Jahr i n Form astrologischer Kalenderpraktiken populär machte, dann darf man dies füglich mehr auf dem Konto seines kalten Realismus als auf dem seiner Offenbarungsgewißheit verbuchen. I n Deutschland stammt die letzte breitenwirksame Endprophetie aus dem dreißigjährigen Krieg: der Kommentar zur Apokalypse von Bartholomäus Holzhauser, der eine Frist weniger Jahrzehnte setzte. Die Topoi der Weissagungen waren immer begrenzt, aber bis ins 17. Jh. wurden sie schöpferisch kompiliert. Seitdem häufen sich reine Nachdrucke, wie etwa die „Europäischen Staatswahrsager", die alte Texte auf die schlesischen Kriege applizieren wollten. Eine Tradition, die bekanntlich bis heute reicht. Und der letzte Versuch, die Lehre von den vier Monarchien zu retten, wurde 1728 gedruckt. Es war ein Nachspiel. Es kennzeichnet den Verlauf des 17. Jh.s, daß die wie auch immer motivierten Zukunftsdeutungen destruiert wurden. Der Staat verfolgte sie, wo er, wie zuletzt i m Cevennenaufstand, die Macht dazu hatte, und drängte sie i n private, lokale, folkloristische Kreise oder i n geheime Zirkel zurück. Parallel dazu entwickelte sich die literarische Fehde humanistischer und skeptischer Geister gegen Orakel und derlei abergläubige Dinge. Die ersten bekannten Namen sind Montaigne und Bacon, die ihren Zeitgenossen weit voraus i n scharfen Essays die Weissagungen psychologisch entlarvten. Auch i n Deutschland meldete sich — 1632 — ein „schriftmäßiges Bedenken von Gesichten". Die konsequenteste K r i t i k der Prophétie lieferte Spinoza 1670. Er bekämpfte nicht nur religiöse Visionen als üblichen Vorwand ehrgeiziger und staatsgefährdender Parteien seiner Gegenwart. Er ging einen Schritt weiter und suchte selbst die kanonischen Propheten als Opfer primitiver Einbildungskraft zu demaskieren. M i t Fontenelles „Histoire des oracles" 1686 erreichte die literarische Fehde i n selbstgewissen, rational unterkühlten Formeln ihren Höhepunkt stilistischer Eleganz, an dem gemessen aller Spott, den Voltaire über die Propheten ausgießt, nur noch der Spott eines Siegers ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der sich die Erwartungen gläubiger Christen oder Weissagungen jedweder A r t in politische Handlungen umsetzen, war seit 1650 dahin. Politische Berechnung und humanistischer Vorbehalt steckten einen neuen Horizont der Zukunft ab. Weder das

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große Weltende noch die vielen kleinen konnten anscheinend dem Lauf menschlicher Dinge etwas anhaben. Statt der erwarteten Endzeit hatte sich tatsächlich eine andere, eine neue Zeit eröffnet. Damit berühren w i r einen fünften Punkt. Man konnte es sich nunmehr leisten, auf die Vergangenheit als „mittelalterlich" zurückzublicken. Die Begriffe selber, die Trias von Altertum, Mittelalter und Neuzeit standen bereits seit dem Humanismus zur Verfügung. Aber durchgesetzt, und zwar für die ganze Historie, haben sich die Begriffe erst in der zweiten Hälfte des 17. Jh.s. Man lebte in einer neuen Zeit und wußte sich in einer neuen Zeit lebend. Das gilt selbstredend nur abgefächert nach Nationen und Ständen, aber es war ein Wissen, das sich, mit Hazard, als Krise des europäischen Geistes begreifen läßt 9 . II. Verfolgten w i r bisher die Eindämmung oder Unterhöhlung, den Verzehr oder die Kanalisierung endzeitlicher Erwartungen, so erhebt sich die Gegenfrage nach den Zukunftsentwürfen, denn um solche handelt es sich, die sich an die Stelle der vergehenden Zukunft setzten. Zwei Typen können herauspräpariert werden, so sehr sie unter sich zusammenhängen und auf die Heilserwartungen zurückverweisen: einmal die rationale Prognostik, zum anderen die Geschichtsphilosophie. Zum Gegenbegriff damaliger Prophetie wurde die rationale Voraussicht, die Prognose. Die diffizile Kunst des politischen Kalküls ist i m Italien des 15. und 16. Jh.s, dann i n den Kabinetten der europäischen Höfe des 17. und 18. Jh.s zur höchsten Meisterschaft entwickelt worden. Als Motto dieser Kunst kann man ein klassisches Zitat des Aristoteles wiederholen, das Guiccardini i n die politische Literatur eingeführt hat: De futuris contingentibus non est determinata Veritas. — Über zukünftige Geschehnisse bleibt die Wahrheit unbestimmt —. Es gebe Leute, sagt Guiccardini, die Abhandlungen über den Verlauf der Zukunft ausarbeiteten. Solche Traktate ließen sich vielleicht ganz gut lesen, aber, „da jeder Schluß in diesen Überlegungen von einem anderen abgeleitet ist, fällt das ganze Gebäude, wenn nur einer falsch ist, in sich zusammen" 10 . Diese Erkenntnis, die Guiccardini i m Ursprungsland der modernen Politik, i n Italien, gewonnen hatte, führte zu einem bestimmten Verhalten. Die Zukunft wurde zu einem Bereich endlicher Möglichkeiten, der in sich nach Graden größerer oder minderer Wahrscheinlichkeit abgestuft war. 9 Z u m vorangegangenen Abschnitt vgl. A. Hübscher, Die große Weissagung, München 1952; A. Klempt, Die Säkularisierung der universalhistorischen A u f fassung, Göttingen 1960; W. E. Peuckert, Die große Wende, 2 Bde., Darmstadt 1966; R. Taylor, The political prophecy i n England, New Y o r k 1911. 10 Guiccardini, Ricordi, B a r i 1935 I I , 58, 114; hier zit. nach der A u s w a h l von E. Grassi (Das politische Erbe der Renaissance, Bern 1946, S. 36 f.).

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Es ist derselbe Horizont, den Bodin als Thema für die historia humana freigelegt hat. Das Abwägen der Wahrscheinlichkeit eintretender oder ausbleibender Ereignisse eliminierte nun zunächst eine Auffassung der Zukunft, die i n den Religionsparteien selbstverständlich war: nämlich i n der Gewißheit des jüngsten Gerichts als einzige Handlungsmaxime die Alternative von Gut oder Böse zu erzwingen. Das einzige moralische Urteil hingegen, das einem Politiker übrig blieb, richtete sich nach Maßgabe eines größeren oder kleineren Übels. I n diesem Sinne sagte Richelieu, daß nichts für eine Regierung nötiger sei als die Voraussicht, da man nur so den vielen Übeln zuvorkäme, die, einmal eingetreten, nur mit größter Schwierigkeit geheilt werden könnten. Die zweite Folge eines solchen Verhaltens war die Einstellung auf mögliche Überraschungen, da meist nicht die eine oder andere, sondern eine dritte, vierte oder sonstwievielte Möglichkeit sich realisierte. Aus dem täglichen Umgang m i t derartigen Ungewißheiten erwuchs der Zwang zu erhöhter Voraussicht, und nur so gewinnt der topos bei Richelieu seinen spezifischen Klang, wenn er sagt 11 , es sei wichtiger, die Zukunft zu bedenken als die Gegenwart. Es ist sozusagen die politische Vorform der Lebensversicherungen, die mit der Berechenbarkeit der Lebenserwartung seit der Wende zum 18. Jh. um sich griffen. Während die Prophetie den Horizont der kalkulierbaren Erfahrung überschreitet, weiß sich die Prognose eingebunden i n die politische Situation. Sie ist so sehr eingebunden, daß eine Prognose stellen bereits die Situation verändern heißt. Die Prognose ist ein gewußtes Moment politischer Aktion. Sie ist auf Ereignisse bezogen, deren Neuigkeit sie entbindet. Daher w i r d die Zeit immer wieder auf unvorhersehbar vorhersehbare Weise aus der Prognose entlassen. Die Prognose produziert die Zeit, aus der heraus und i n die hinein sie sich entwirft, wogegen die apokalyptische Prophetie die Zeit vernichtet, von deren Ende sie gerade lebt. Die Ereignisse, gesehen i m Horizont der Prophetie, sind nur Symbole für das bereits Gewußte. Ein enttäuschter Prophet kann an seinen Weissagungen nicht irre werden. Variabel wie diese gehalten sind, können sie jederzeit prolongiert werden. Mehr noch: mit jeder enttäuschten Erwartung steigt die Gewißheit kommender Erfüllung. Eine verfehlte Prognose dagegen kann auch als Fehler nicht wiederholt werden, denn sie bleibt ihren einmaligen Voraussetzungen verhaftet. Die rationale Prognostik bescheidet sich in innerweltliche Möglichkeiten, produziert aber eben dadurch einen Überschuß stilisierter Weltbeherrschung. Immer spiegelt sich in der Prognose die Zeit auf über11 Richelieu, Testament politique, ed. L. André und Léon Noel, Paris 1947, S. 334.

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raschende Weise; das immer Gleiche der eschatologischen Erwartung w i r d abgelöst durch das immer Neue einer sich entlaufenden Zeit, die prognostisch eingefangen wird. So läßt sich, auf die Temporalstruktur hin gesehen, die Prognostik als der Integrationsfaktor des Staates verstehen, der die ihm überlassene Welt auf eine begrenzte Zukunft hin überschreitet. Nehmen w i r ein beliebiges Beispiel der klassischen Diplomatie. Die erste polnische Teilung. Nicht den Grund, aber die A r t , wie sie stattfand, darf man füglich auf Friedrich den Großen zurückführen. Friedrich lebte nach dem erbitterten Ringen des siebenjährigen Krieges unter einer doppelten Furcht: erstens unter der Furcht vor einer österreichischen Revanche. U m diese Zukunftsmöglichkeit zu verringern, Schloß er ein Bündnis mit Rußland. Damit aber band er sich an eine Macht, deren wachsenden Druck, nicht zuletzt gemessen an der steigenden Bevölkerungszahl, er auf die weitere Ferne hin als die größere, ja als die Gefahr überhaupt empfand. Beide Voraussagen, die österreichische Nahprognose und die russische Dauerprognose, gingen nun auf eine Weise i n die politische A k t i o n ein, daß sie die Voraussetzung der Prognose, nämlich die Situation veränderten. Die griechisch-orthodoxe Bevölkerung Polens lieferte den Russen einen ständigen Vorwand, als religiöse Schutzmacht i n Polen zu intervenieren. Der russische Gesandte — Repnin — herrschte i n Warschau quasi als Generalgouverneur, unter dessen unmittelbarer Aufsicht die polnischen Reichstagssitzungen stattfanden. Mißliebige Abgeordnete wurden kurzerhand nach Sibirien transportiert. Polen sank de facto zu einer russischen Provinz herab, dessen blutige, von Rußland geschürte Bürgerkriege eine ständige Verschärfung der russischen Aufsicht zur Folge hatten. Der wachsende Druck aus Osten rückte die Erfüllung der Dauerprognose i n bedrohliche Nähe. I m gleichen Maße schwand Friedrichs eigenes Ziel, Westpreußen seinem Reich einzufügen, i n unerreichbare Ferne. 1770 verschlechterte sich die Situation. Rußland war gerade dabei, nicht nur Polen, sondern ebenso Rumänien zu schlucken, und zwar in einem Krieg gegen die Pforte. Dies wollte Österreich auf keinen Fall dulden. Es erblickte i n der Annexion Rumäniens den casus belli. Und damit wäre Friedrich als Verbündeter Rußlands obendrein zu dem zweiten gefürchteten Übel verpflichtet worden, nämlich zum Kampf gegen Österreich, den er auf alle Fälle vermeiden wollte. Die Lösung, die Friedrich aus diesem Dilemma fand, 1772, ist verblüffend. Gerade nachdem Friedrich — bevor die Russen es wissen konnten — erfahren hatte, daß die Österreicher vor dem Krieg zurückschreckten, brachte er Rußland unter dem Druck seiner Beistandsverpflichtungen dazu, auf eine Annexion Rumäniens zu verzichten. Als Entschädigung erhielt Rußland den östlichen Teil Polens, den es sowieso beherrschte,

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Preußen und Österreich aber bekamen zum Ausgleich Westpreußen und Galizien: bedeutende Länder, die auf diese Weise obendrein dem russischen Einfluß entzogen wurden. Statt seinem gefürchteten Verbündeten i n einem Krieg den Weg i n den Westen zu ebnen, hatte Friedrich erstens seinen Frieden gerettet und obendrein dem russischen Vordringen einen strategischen Riegel vorgeschoben. Was sich scheinbar gegenseitig ausschloß, hatte Friedrich zu seinem doppelten Vorteil zusammengefügt. Es ist klar, daß ein derartig elastisches Spiel mit einer begrenzten, aber innerhalb der Grenzen fast unendlichen Zahl von mannigfachen Möglichkeiten selber nur möglich war i n einer bestimmten historischen Lage. Welches ist der zeitgeschichtliche Horizont, innerhalb dessen sich das Raffinement absolutistischer Politik erfalten konnte? Die Zukunft war überschaubar, und zwar insofern, als die Zahl der politisch agierenden Kräfte auf die Zahl der Fürsten beschränkt blieb. Hinter jedem Souverän stand ein an Truppen- und Bevölkerungszahl, an Wirtschaftskraft und Geldflüssigkeit kameralistisch berechenbares Potential. I n diesem Horizont war die Geschichte noch vergleichsweise statisch, und das Wort von Leibniz, „daß die ganze künftige Welt i n der gegenwärtigen stecke und vollkommen vorgebildet sei" 1 2 , ließ sich auf die Politik anwenden. I m Horizont fürstlich-souveräner Politik, allerdings nur i n diesem, konnte sich nichts prinzipiell Neues ergeben. Charakteristisch dafür ist die äußerste Grenze, innerhalb derer sich das politische K a l k ü l bewegte. Hume, der selber schon langfristige Eventualprognosen stellte, meinte einmal 1 3 , ein Arzt traue sich nicht mehr als vierzehn Tage, ein Politiker höchstens für einige Jahre vorauszusagen. Ein Blick i n damalige diplomatische A k t e n bestätigt diese Feststellung. Freilich gab es Konstanten, die des öfteren i n eine mehr und mehr hypothetische Zukunft eingingen. Man rechnete ζ. B. mit der Konstanz der Charaktere, die sich etwa i n der Bestechlichkeit der Minister dauerhaft bewähren konnte. Vor allem aber wurde die vermutliche Lebensdauer der regierenden Herrscher ein stetiges Moment der politischen Wahrscheinlichkeitsrechnung. Die äußerste Zukunft, die i m Jahre 1648 der venezianische Gesandte i n Paris für die kommende Jahrhunderthälfte voraussagte, war der ihm sicher scheinende Fall eines spanischen Erbfolgekrieges: ein Fall, der genau fünfzig Jahre später eintrat. Die Tatsache, daß die meisten Kriege innerhalb der europäischen Fürstenrepublik des 17. und 18. Jh.s als Erbfolgekriege geführt wurden, zeigt uns unmittelbar, wie menschlich natural der Horizont der geschichtlichen Zeit noch war. Aber auch hier blieb, wie unser venezianischer Gesandter 12 Leibniz , Brief an Coste, 19.12.1707. Vgl. Dt. Schriften Hrsg. Guhrauer 1838, I I 48 ff. 13 Hume, Theory of Politics, ed. F. Watkins; Essays I, 7, Edinburgh 1951, S. 162.

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berichtete, „noch Spielraum für Zeit und Zukunft, denn nicht alles, was eintreten könnte, pflegt zu geschehen" 14 . Man erinnere sich nur an die kriegswendende Rolle, die dem Tod der Zarin 1762 zufiel. Eingespielt auf Leben und Charakter handelnder Personen, konnte die europäische Fürstenrepublik tatsächlich ihre Geschichte noch naturhaft verstehen. Es nimmt nicht Wunder, wenn das antike Kreismodell, das Machiavell wieder i n Umlauf gebracht hat, allgemeine Evidenz gewinnen konnte. Die dieser Geschichtserfahrung eigene Wiederholbarkeit band die prognostizierte Zukunft an die Vergangenheit zurück. Damit freilich erweist sich auch der Abstand des frühneuzeitlichen politischen Zeitbewußtseins von der christlichen Eschatologie keineswegs als so groß, wie es zunächst den Anschein haben mochte. Sub specie aeternitatis kann sich nichts Neues mehr ereignen, ob die Zukunft gläubig verhalten oder nüchtern kalkulierend anvisiert wird. Ein Politiker konnte klüger oder auch gerissener werden, er mochte seine Techniken raffinieren, er konnte auch weiser oder vorsichtiger werden: aber die Geschichte trug ihn niemals i n neue, unbekannte Regionen der Zukunft. Die Umbesetzung prophezeiter Zukunft i n prognostizierbare Zukunft hatte den Horizont der christlichen Erwartung noch nicht prinzipiell zerrissen. Das ist es, was die Fürstenrepublik, auch wo sie sich nicht mehr als christlich verstand, mit dem Mittelalter verbindet. Erst die Geschichtsphilosophie ist es, die die frühe Neuzeit von ihrer eigenen Vergangenheit ablöste und mit einer neuen Zukunft auch unsere Neuzeit eröffnete. I m Schatten der absolutistischen Politik bildete sich, zunächst geheim, später offen, ein Zeit- und Zukunftsbewußtsein heraus, das aus einer kühnen Kombination von Politik und Prophetie heraus lebt. Es ist ein dem 18. Jh. eigentümliches Gemisch rationaler Zukunftsprognostik und heilsgewisser Erwartung, das i n die Philosophie des Fortschritts eingegangen ist. Der Fortschritt entfaltete sich i n dem Maße, als der Staat und seine Prognostik nie den soteriologischen Anspruch befriedigen konnten, dessen Motivationskraft durch einen Staat hindurchreichte, der i n seiner Existenz von der Eliminierung der Enderwartungen abhängig blieb. Was war das Neue der dem Fortschritt eigentümlichen Zukunftserwartung? Das ausbleibende Weltende hatte die Kirche konstituiert und in eins damit eine statische Zeit, die als Tradition erfahrbar ist. — Auch die politische Prognostik hatte eine statische Zeitstruktur, soweit sie nämlich mit naturalen Größen operierte, deren potentielle Wiederholbarkeit den Kreislaufcharakter ihrer Geschichte ausmachte. Die Prognose impliziert eine Diagnose, die die Vergangenheit in die Zukunft 14 Barozzi e Berchet, Relazioni degli ambasciatori Veneti nel secolo decimosettimo. Ser. I I : Francia, Venedig 1859, I I , vgl. Battista Nani , E i n Venezianischer Gesandtschaftsbericht, Hrsg. Α. ν. Schleinitz, Leipzig 1920, S. 61, 72.

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einbringt. Durch die so immer schon gewährleistete Zukünftigkeit des Vergangenen wurde der Handlungsraum des Staates ebenso erschlossen wie begrenzt. Insofern also die Vergangenheit nur erfahrbar ist, weil sie selbst ein Element des Kommenden enthält — wie umgekehrt —, deshalb bleibt die politische Existenz des Staates mit einer Zeitstruktur verknüpft, die sich als statische Bewegtheit verstehen läßt. — Der Fortschritt öffnet nunmehr eine Zukunft, die den überkommenen prognostizierbaren, naturalen Zeit- und Erfahrungsraum überschreitet und der dadurch — i m Zug seiner Dynamik — neue, transnaturale und langfristige Prognosen provoziert. Die Zukunft dieses Fortschritts w i r d durch zwei Momente gekennzeichnet: einmal durch die Beschleunigung, m i t der sie auf uns zukommt, und zum anderen durch ihre Unbekanntheit. Denn die i n sich beschleunigte Zeit, d. h. unsere Geschichte, verkürzt die Erfahrungsräume, beraubt sie ihrer Stetigkeit und bringt immer wieder neue Unbekannte ins Spiel derart, daß selbst das Gegenwärtige ob der Komplexität dieser Unbekannten sich i n die Unerfahrbarkeit entzieht. Das beginnt sich bereits vor der Französischen Revolution abzuzeichnen. Der Träger der modernen Geschichtsphilosophie war der sich aus absolutistischer Untertänigkeit und kirchlicher Vormundschaft emanzipierende Bürger, der ,prophète philosophé 4 , wie er i m 18. Jh. einmal treffend charakterisiert wurde. Die von der christlichen Religion ausgelösten und jetzt freigesetzten Spekulationen über die Zukunft sowie politisches K a l k ü l standen beide Pate, als der prophetische Philosoph seine Weihen empfing. Lessing hat uns diesen Typus geschildert. Er tue „oft sehr richtige Blicke i n die Zukunft", aber er gleiche ebenso dem Schwärmer, denn, „er kann die Zukunft nur nicht erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschleunigt und wünscht, daß sie durch ihn beschleunigt w e r d e . . . Denn was hat er davon, wenn das, was er für das Bessere erkennt, nicht noch bei seinen Lebzeiten das Bessere w i r d " 1 5 ! Die so sich beschleunigende Zeit benimmt der Gegenwart die Möglichkeit, sich als Gegenwart zu erfahren, und entläuft sich in eine Zukunft, durch die die unerfahrbar gewordene Gegenwart geschichtsphilosophisch eingeholt werden muß. M i t anderen Worten, die Beschleunigung der Zeit, ehedem eine eschatologische Kategorie, w i r d i m 18. Jh. zur Pflicht irdischer Planung, noch bevor die Technik den der Beschleunigung adäquaten Erfahrungsraum vollends erschließt. Erst i m Sog der Beschleunigung entsteht eine Verzögerung, die die geschichtliche Zeit i m Wechselspiel von Revolution und Reaktion vorantreiben hilft. Was vor der Revolution als katechon begriffen werden 15 Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechtes, § 90 (G. W. Leipzig 1858, 9. 423).

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mochte, w i r d selbst zum Stimulans der Revolution. Die Reaktion, i m 18. Jh. noch als mechanistische Kategorie verwendet, w i r d jetzt funktional zu einer Bewegung, die sie aufzuhalten trachtet. Die Revolution, anfangs aus dem naturalen Sternenumlauf abgeleitet und kreisförmig i n die naturhafte Bewegung der Geschichte eingelassen, gewinnt seitdem eine unumkehrbare Richtung. Sie scheint sich i n eine herbeigesehnte, aber der jeweils gegenwärtigen Erfahrung sich völlig entziehende Zukunft hinein zu entfesseln, indem sie die Reaktion ständig von sich abstößt und zu vernichten sucht i n dem Maße, als sie diese reproduziert. Denn die Revolution bleibt immer affiziert von ihrem Gegenteil, der Reaktion. Dieses Wechselspiel von Revolution und Reaktion, das einen paradiesischen Endzustand herbeiführen soll, ist als zukunftslose Zukunft zu verstehen, weil die Reproduktion und die immer wieder nötige Aufhebung des Gegensatzes eine schlechte Unendlichkeit fixieren. Auf der Jagd nach dieser, wie Hegel sagte, schlechten Unendlichkeit w i r d das Bewußtsein der Akteure an ein endliches »Noch-nicht' geheftet, das die formale Struktur eines perennierenden Sollens besitzt. Seitdem w i r d es möglich sein, Fiktionen wie das tausendjährige Reich oder die klassenlose Gesellschaft i n die geschichtliche Realität zu überführen. Die Fixierung der Handelnden an einen Endzustand erweist sich als Vorwand für einen Geschichtsprozeß, der sich der Einsicht der Beteiligten entzieht. Daher w i r d eine Prognostik nötig, die als ein legitimes K i n d der Geschichtsphilosophie den geschichtsphilosophischen Entwurf relativiert. Auch dafür gibt es Zeugen schon vor der Französischen Revolution. Die Voraussagen der Revolution von 1789 sind zahlreich, nur wenige weisen über sie hinaus. Rousseau gehört zu den großen Prognostikern, sei es, daß er den Dauerzustand der Krise voraussah, sei es, daß er die Unterjochung Europas durch die Russen, der Russen durch die Asiaten avisierte. Voltaire, der die ,belle révolution' farbloser und deshalb günstiger zu beurteilen nicht müde wurde, denunzierte deshalb seinen Gegner als falschen Propheten, rückfällig i n das Gebaren überwundener Zeiten. Hier sei abgesehen von einer Analyse der mannigfachen Wunsch- und Zwangsprognosen, m i t denen sich die Aufklärung ihre Selbstgewißheit zueignete. Unter ihnen befindet sich aber eine der größten Voraussagen, die bisher i m Dunkel der Anonymität und geographischer Verkleidung unbekannt geblieben ist. Es handelt sich um eine Prognose aus dem Jahre 1774, die scheinbar auf Schweden gemünzt, i n Wirklichkeit auf Frankreich zielte. Sie speist sich aus der klassischen Bürgerkriegsliteratur, aus den Despotielehren der Antike und aus der K r i t i k am aufgeklärten Absolutismus, aber ihr Ausgang ist modern. Ihr Verfasser ist Diderot.

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Diderot schrieb: „Unter dem Despotismus w i r d das über seine lange Leidenszeit erbitterte Volk keine Gelegenheit versäumen, seine Rechte wieder an sich zu nehmen. Aber da es weder Ziel noch einen Plan hat, gerät es von einem Augenblick zum anderen aus der Sklaverei in die Anarchie. Inmitten dieses allgemeinen Durcheinanders ertönt ein einziger Schrei — Freiheit. Aber wie sich des kostbaren Gutes versichern? Man weiß es nicht. Und schon ist das Volk i n die verschiedenen Parteien aufgespalten, aufgeputscht von sich widersprechenden Interessen... Nach kurzer Zeit gibt es nur noch zwei Parteien i m Staat; sie unterscheiden sich durch zwei Namen, die, wer sich auch immer dahinter verbergen mag, nur noch lauten können ,Royalisten' und ,Antiroyalisten'. Das ist der Augenblick der großen Erschütterungen. Der Augenblick der Komplotte und Verschwörungen... Der Royalismus dient dabei ebenso als Vorwand wie der Antiroyalismus. Beides sind Masken für Ehrgeiz und Habgier. Die Nation ist jetzt nur noch eine von einem Haufen von Verbrechern und Bestochenen abhängige Masse. I n dieser Lage bedarf es nur noch eines Mannes und eines geeigneten Augenblicks, um ein völlig unerwartetes Ergebnis eintreten zu lassen. Kommt dieser Augenblick, erhebt sich auch schon der große M a n n . . . Er spricht zu den Menschen, die gerade noch alles zu sein glaubten: I h r seid nichts. Und sie sprechen: Wir sind nichts. Und er spricht zu ihnen: Ich bin der Herr. Und sie sprechen wie aus einem Munde: Ihr seid der Herr. Und er spricht zu ihnen: Hier sind die Bedingungen, unter denen ich euch zu unterwerfen bereit bin. Und sie sprechen: W i r nehmen sie an . . . Wie w i r d die Revolution weitergehen? Man weiß es n i c h t . . . Quelle sera la suite de cette révolution? On l'ignore 1 6 ." Diderot enthüllt einen Prozeß, der den meisten Beteiligten verborgen bleiben sollte. Er stellte eine langfristige Prognose, indem er den noch unbekannten Beginn der Revolution als sicher voraussetzt und darüber hinaus auch das unerwartete Ende des weiteren Verlaufs voraussieht. Wie es danach weitergehen sollte, blieb ihm dunkel. Deshalb formulierte er dieselbe Frage, die Tocqueville wieder aufnehmen sollte und die zu beantworten noch heute unser Los ist. Werfen w i r zum Abschied noch einmal einen Blick auf das B i l d A l t dorfers, das uns auf dem Weg von der Reformation zur Revolution geleitet hat. Der vorausgesagte Mann, Napoleon, entführte das B i l d im Jahre 1800 nach Paris und hängte es in seinem Badezimmer zu St. Cloud auf. Ein Mann von Geschmack ist Napoleon nie gewesen. Aber die 16 Raynal, Histoire Philosophique et Politique des établissements et d u commerce des Européens dans les deux Indes, Genf 1780, IV. 488 ff. Herbert Dieckmann hat i n der Rev. d'Hist. l i t t , de la France, 1951, S. 431 den Nachweis für Diderots Handschrift dieser Passagen erbracht. Vgl. Diderot, Oeuvr. pol., Paris 1963, Introd. v. P. Vernière p. X X X I I I .

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Alexanderschlacht war sein Lieblingsbild, und so mochte er es i n seine Intimsphäre einbeziehen. Ob er geahnt hat, wie präsent die Geschichte des Abendlandes auf diesem Bilde war? W i r dürfen es vermuten. Napoleon verstand sich selber als die große Parallelfigur des großen Alexander. Aber mehr noch. Die Schubkraft der Herkunft war so stark, daß selbst durch den vermeintlichen Neubeginn der Revolution von 1789 hindurch die längst verblaßte heilsgeschichtliche Aufgabe des Reiches hindurchschimmerte. Napoleon, der das Heilige Römische Reich endgültig zerstört hatte, heiratete darauf die Tochter des letzten Kaisers — genau wie rund 2000 Jahre zuvor Alexander die Tochter des Darius, und zwar ebenfalls i n zweiter Ehe. Und Napoleon erhob seinen Sohn zum König von Rom. Als er gestürzt wurde, sagte Napoleon, diese Heirat sei der einzige Fehler gewesen, den er wirklich gemacht habe, d. h. eine Tradition aufgenommen zu haben, die die Revolution und er selbst an ihrer Spitze zerstört zu haben schienen. War es wirklich ein Fehler? Napoleon, noch auf der Höhe der Macht, sah es anders: „Selbst mein Sohn w i r d es oft nötig haben, mein Sohn zu sein, u m i n Ruhe mein Nachfolger sein zu können 1 7 ."

17 Gespräch i n E r f u r t am 9.10.1808. Talleyrand, Broglie, Paris 1891,1.

Mémoires, ed. Le Duc de

Dezisionismus i n der Moral-Theorie Kante Von Hermann Lübbe, Bochum I. Das philosophische Interesse an vergangener Philosophie ist älter als das historische Bewußtsein i n der Philosophie. Bevor noch das historische Bewußtsein das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Vergangenheit i n Kontrolle nahm, gab es bereits dieses Verhältnis. Eine der wichtigsten Absichten, die i n der K u l t u r dieses Verhältnisses verfolgt wurden, war stets die Absicht der Unterstützung der eigenen, gegenwärtigen Philosophie durch Berufung auf frühere Philosophie anderer. I n der Praxis dieser Berufung lassen sich mehrere Figuren unterscheiden — mindestens drei. Die erste Figur, die bereits Aristoteles i n seiner Topik diskutiert hat, ist die Figur der Abstützung eines philosophischen Arguments durch den Nachweis seiner historisch-allgemeinen Verbreitung: man empfiehlt, was man zu sagen hat, indem man nachweist, daß es immer schon gesagt worden und unwidersprochen geblieben sei. Die zweite Figur ist die der Unterstützung eines Arguments durch den Nachweis seiner Originalität. Wer paradox argumentiert, hat es dabei nicht schwer; gewöhnlich fällt es weniger leicht, originell zu sein. Die dritte Figur, dergemäß eine gegenwärtige philosophische Position sich durch Rückbezug auf vergangene Philosophie aufbauen läßt, ist komplizierter. I n ihr verknüpfen sich die beiden zuerst genannten Figuren, indem für ein Philosophem zugleich Traditionalität und Originalität i n Anspruch genommen werden: für's Problem nämlich traditionsreiches Alter, und Neuheit für seine gegenwärtig vorgetragene Lösung. Präzis i n dieser zuletzt skizzierten Weise figuriert sich das Verhältnis der praktischen Philosophie Kants zur philosophischen Uberlieferung. Sie ist darin „dialektische" Philosophie i m Sinne des schlichten Gebrauchs des Wortes „Dialektik", den Aristoteles macht. Ein Problem ist i m Sinne der aristotelischen Dialektik das, worüber man verschiedener, i m Extremfall sich widersprechender Meinung ist, und die Lösung eines Problems ist regelmäßig i n jener Mitte zu suchen, die zwar nicht bei vermittlungsunfähigen logischen Widersprüchen, aber doch sonst und zumal i m Begründungszusammenhang ethischen und politischen Handelns zwischen Extremen die Wahrheit zu sein pflegt. Diesem Schema entsprechend

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nimmt Kant das Thema seiner praktischen Philosophie als „Problem", das heißt als eine nach These und Antithese dissonante Überlieferung auf und präsentiert als eigene Leistung die Lösung. Nach Analogie des aristotelischen Organon gliedert sich Kants K r i t i k der praktischen Vernunft, ebenso wie die K r i t i k der reinen Vernunft, an wichtiger Stelle i n zwei hauptsächliche Stücke. Es gibt ein „erstes Buch" unter dem Titel „ A n a l y t i k der reinen praktischen Vernunft", und dann ein „zweites Buch", überschrieben „Dialektik der reinen praktischen Vernunft". Und gleich zu Beginn dieses zweiten Buches läßt Kant diese Dialektik der praktischen Vernunft durch die Antithetik zweier schulphilosophischer Positionen philosophiegeschichtlich repräsentiert sein. Kant bringt Epikureer und Stoiker i n Opposition — eine Gegenüberstellung, die natürlich ihrerseits wieder eine alte, von Kant nicht reflektierte Tradition hat. Kant wörtlich: „Der Epikureer sagte: sich seiner auf Glückseligkeit führenden Maxime bewußt sein, das ist Tugend; der Stoiker: sich seiner Tugend bewußt sein, ist Glückseligkeit 1 ." A n etwas späterer Stelle heißt es: „Der Begriff der Tugend lag nach dem Epikureer schon i n der Maxime, seine eigene Glückseligkeit zu befördern; das Gefühl der Glückseligkeit war dagegen nach dem Stoiker schon i m Bewußtsein seiner Tugend enthalten." Und noch ein drittes Mal wiederholt Kant die historische Exposition seines Problems: „Der Stoiker behauptete, Tugend sei das höchste Gut und Glückseligkeit nur das Bewußtsein des Besitzes derselben als zum Zustand des Subjekts gehörig. Der Epikureer behauptete, Glückseligkeit sei das ganze höchste Gut und Tugend nur die Form der Maxime sich u m sie zu bewerben, nämlich i m vernünftigen Gebrauche der Mittel zu derselben 2 ." Stoizismus und Epikureismus sind nach Kant die beiden philosophiegeschichtlich repräsentativen Versuche zur Bildung einer „Koalition" zwischen den Begriffen „Tugend" und „Glückseligkeit". Es sind mißlungene „Koalitions ver suche", und die Relation der beiden fraglichen Begriffe richtig zu bestimmen — das ist die „noch immer" „unaufgelöste Aufgabe" 3 der Moral-Philosophie, die Kant sich stellt. — Die Worte „Tugend" und „Glückseligkeit" haben kaum mehr einen aktuellen Gebrauch. Auch der Sache nach ist die Unterscheidung, die durch diese Worte i m Kontext der Kantischen Moral-Theorie vertreten wird, kein aktuelles philosophisches Thema. Dennoch ist sie verständlich geblieben, und dieses Verständnis läßt sich sogar schärfen, indem man den modernen handlungstheoretischen Begriff der Dezision hermeneutisch auf die Kantische Theorie zurückbezieht, um damit zugleich auch die moral-theoretische Relevanz dieses Begriffs zu erweisen. 1 1 5

Kant, K r i t i k der praktischen Vernunft, Cass. 5,121. a.a.O., S. 122. a.a.O., S. 123.

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Gut sein und es gut haben — das ist nicht dasselbe: Tugend und Glück sind zweierlei. Problem ist, wie beides zusammenhängt. Pädagogik zum Beispiel wäre wahrscheinlich nicht möglich, wenn nicht wenigstens normalerweise und eine gewisse Strecke weit die Unterstellung berechtigt wäre, daß die ja ohnehin stets auch sozial bezogene „Tugend" zuverlässigste Mittlerin zumindest desjenigen „Glücks" ist, das aus sozialen Zusammenhängen dem Menschen zuwächst. Dennoch unterstellt auch der äußerste pädagogische Enthusiasmus niemals, daß die Güter des Lebens dem Menschen nach dem Maß seiner Tugend zufallen werden. Ganz i m Gegenteil ist keine vernünftige, das heißt auch die unveränderlichen Realitäten i n Rechnung stellende Erziehung denkbar, die nicht auf die unvermeidliche Erfahrung vorbereitete, daß es auch dem nach bestem Wissen und Gewissen geführten Leben übel ergehen kann, und vor allem: daß es zugleich manchen anderen weitaus besser geht als sie sind. Eben weil das so ist, weil aus Gründen sozialer Dependenz oder aus den Zufälligkeiten des handlungsmäßig ohnehin nicht voll beherrschbaren Naturlaufs „Tugend" und „Glück" niemals (es sei denn aus Zufall) i n prästabilierter Harmonie miteinander verknüpft sind, ist das „Ideal" einer solchen Verknüpfung selber ein unvermeidlicher Wunsch und Gedanke. Es ist das der von Kant sogenannte Gedanke des „Höchsten Gutes", i n welchem „eine natürliche und notwendige Verbindung zwischen dem Bewußtsein der Sittlichkeit und der Erwartung einer ihr proportionierten Glückseligkeit" 4 als sachlich berechtigt vorgestellt wird. Eine Welt, die dieser Vorstellung entspräche, wäre eine „moralische Welt", das heißt ein „System der mit der Mor alitât verbundenen proportionierten Glückseligkeit" oder ein „System der sich selbst lohnenden Mor alitât" 5 . Evidenterweise leben w i r nicht i n einer „moralischen Welt" dieser Kantischen Definition. Das heißt allerdings nicht, der Ort unseres Daseins sei i m Gegenteil eine „unmoralische Welt". Ein Zusammenhang, i n welchem Tugend m i t Versagung des Glücks proportional verbunden wäre, besteht auch nicht, und der Versuch, ihn zu denken, würde i n individueller Beziehung das Pathologische und i n kollektiver Beziehung das Absurde streifen; Zynismus wäre ihr gegenüber die angemessene Haltung, das heißt die Einstellung dessen, der Illusionen durchschaut, ohne daraus einen anderen Vorteil als den der Lust, durchschaut zu haben und darin den anderen überlegen zu sein, ziehen zu können. „Tugend", das heißt die habitualisierte Steuerung unseres Tuns und Lassens durch die Achtung vor jenem moralischen Gesetz, das uns i m Gebrauch unserer Freiheit an die Bedingung ihrer Kompatibilität m i t der Freiheit anderer bindet — Tugend also w i r k t nach keiner nachweisbaren empirischen Regel als Mechanismus der Glücksverhinderung. Nur 4 5

a.a.O., S. 129. Kant, K r i t i k der reinen Vernunft, Β 837 f.

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gilt eben auch umgekehrt, daß gutes Leben uns nicht nach dem Maß unserer Tugend zugeteilt ist. „Daher ist auch die Moral nicht eigentlich die Lehre, w i r w i r uns glücklich machen, sondern wie w i r der Glückseligkeit würdig werden sollen 8 ." I n dieser Formel ist die Kantische Theorie der Relation zwischen Tugend und Glück konzentriert. Es ist eine Formel, die gegen Stoizismus und Epikureismus festhält, daß es nicht möglich sei, „zwischen äußerst ungleichartigen Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der Tugend, Identität zu ergrübein" 7 . Gegen die Stoiker bleibt geltend zu machen, daß „Glück" nicht „ i m Bewußtsein der sittlichen Denkungsart m i t eingeschlossen" ist. Die Stoiker hätten „durch die Stimme ihrer eigenen Natur hinreichend . . . widerlegt werden können" 8 , daß „Seelenruhe", die sich aus Erfüllung der moralischen Pflichten erzeugt, nicht m i t jener Erfahrung des Glücks identisch ist, die w i r i n einem erhofften Dasein der Fülle zu machen gewiß sind. Die Philosophie in ihrer schwierigen Bemühung, Ordnung, das heißt einen Zusammenhang kompatibler, interdependenter Bestimmungen derjenigen Kategorien herzustellen, durch die w i r bei jeglicher Praxis von der Wissenschaft bis zur Politik vorweg orientiert und verortet sind — Philosophie also ist nicht selten i n der Gefahr, über der Genugtuung, einer Kategorie endlich ihren vermeintlichen systematischen Ort bestimmt zu haben, zu übersehen, daß dabei der fragliche Begriff gerade um das gebracht wird, was er i n der Praxis des Lebens leistet. Dieser Gefahr ist nicht durch keine Philosophie, durch Verzicht also auf kritische Analyse der Aprioritäten, das heißt der in jeglicher Praxis vorausgesetzten kategorialen vermeintlichen Selbstverständlichkeiten zu begegnen, sondern einzig durch bessere Philosophie. Als der bessere Philosoph hat Kant sich durch das Kantisch reproduzierte stoische Argument, das Glücksverlangen erfülle sich i n der Pflichterfüllung, sozusagen nicht verblüffen lassen, und er beharrt darauf, daß „Glück" und „Tugend" heterogene Größen sind, die weder eins für das andere noch eins durch das andere zu haben sind. Eben das müssen auch die Epikureer gegen sich gelten lassen, die, i n der unbestreitbaren Gewißheit, daß der Mensch, klug, ein ganze Menge für sein Glück tun kann („wozu auch Enthaltsamkeit und Mäßigung der Neigungen gehört" 9 ), fälschlich Moral m i t dem Inbegriff der Regeln solcher Lebensklugheit identifizierten. Demgegenüber rühmt Kant die „Lehre des Christentums" 1 0 , weil i n dieser weder die frustrierende Zumutung enthalten sei, i n der religiösen Erfüllung unserer moralischen Pflichten als göttlicher • Kant, K r i t i k der praktischen Vernunft, Cass. 5,141. 7 a.a.O., S. 122. a.a.O., S. 138. • a.a.O., S. 137. 10 a.a.O., S. 138 ff.

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Gebote 11 uns schon glückselig zu wissen, noch auch umgekehrt jene Verkehrung des Sinns dieses Gehorsams gegen Gott, i n der er, vergeblich, i m Interesse einer adäquaten Glückseligkeitsmaximierung geübt wird. II. Kants Moral-Theorie ist keine Pflichten-Lehre. Sie gibt auf die Frage, „Was soll ich tun?" keine A n t w o r t i m Hinblick auf konkrete, institutionelle rechtliche oder sittliche Verhältnisse. Sie ist eine Theorie derjenigen Praxis, i n der w i r uns auf das „Ganze" unseres Daseins und Lebens beziehen. Von einer solchen Praxis zu reden hat offensichtlich nur dann einen Sinn, wenn man die Voraussetzung macht, es ließen sich die mannigfachen Güter des Lebens als auf ein „höchstes Gut" bezogen denken. Kant macht diese Voraussetzung i n Gemäßheit philosophischer und theologischer Traditionen, die auch heute noch, und sei es i n politischideologischer Transposition, mächtig genug sind, um die Kantische Voraussetzung zumindest mit dem Anschein der Plausibilität, ja der Selbstverständlichkeit auszustatten. So kann man sich i n der Tat wünschen, daß unser Tun oder Lassen jeweils i n letzter Instanz beziehbar bleibt auf den Zweck der Verwirklichung einer „moralischen Welt", i n der „Tugend" und „Glück" i n prästabilierter Harmonie miteinander verbunden sind, Fülle des guten Lebens und Reinheit des guten Willens herrschen, so daß i m Proporz beider die Wirkungen einer Gnade nicht anders als die Wirkungen der Gerechtigkeit ausfallen könnten. Gewiß ist auch für Kant dieser Gedanke einer moralischen Welt „eine bloße . . . Idee", „aber doch eine praktische Idee, die wirklich ihren Einfluß auf die Sinnenwelt haben kann und soll, um sie dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen" 12 . Für den, der willens ist, sein Handeln i n letzter Instanz an dieser Idee auszurichten, gilt nun eine Unterscheidung, die ebenso alt wie beachtlich ist, nämlich die Unterscheidung dessen, was i n unserer Macht steht, von dem, was aus anderen Gründen als aus den unseres Willens geschieht. „ E t h i k " und „Physik" sind die aristotelischen Namen der Theorien, die es mit dem einen oder m i t dem anderen Bereich zu tun haben, und dem entspricht i n kompliziertem begriffsgeschichtlichen Zusammenhang der Kantische Gebrauch seiner Hauptworte „Natur" und „Freiheit". Und dieser Unterscheidung sind nun die beiden Elemente einer moralischen Welt, „Tugend" und „Glückseligkeit" zugeordnet. „Glückseligkeit", als „der Zustand eines vernünftigen Wesens i n der Welt, dem es i m ganzen 11 cf. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Cass. 5, 302: „Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote." 11 Kant, K r i t i k der reinen Vernunft, Β 836.

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seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht" 1 3 , braucht als Ziel dem Menschen nicht erst vorgeschrieben zu werden; er w i l l sie schon „von Natur aus", sie ist „sein eigener letzter Naturzweck" 1 4 . „Tugend" dagegen als Selbstbindung unseres Handelns an die Bedingung der Verträglichkeit seiner Maximen mit der entsprechenden Freiheit anderer, ist aus der Pragmatik des natürlichen Verlangens nach Glück unableitbar. Auch der Schmied seines Glückes handelt selbstverständlich frei, und er besitzt auch „ K u l t u r " , das heißt er handelt unter institutionellen und individuellen Voraussetzungen, die die „Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken" garantieren 15 . Aber allein „Tugend" ist diejenige K u l t u r der Freiheit, i n der diese sich selbst Zweck ist und „autonom" ihre Ausübung an die individuellen und sozialen Bedingungen ihres eigenen Daseins bindet. Insofern läßt sich dann, kantisch, sagen, daß, wenn „Glückseligkeit der vernünftigen Wesen i n der Welt ein Zweck der N a t u r " 1 6 ist, i n der „Tugend" die Freiheit sich zum Selbstzweck geworden wäre. Zur Freiheit des Freien gehört es, frei zu sein, seinen „natürlichen" Neigungen entsprechend nach bestem Können und Gelingen sein Glück zu machen. Aber zugleich muß sich die Freiheit als solche behaupten, das heißt muß ein jeder „moralisch", nach bestem Wissen und Gewissen für die Erfüllung der Bedingungen sorgen, unter denen allein seine Freiheit m i t der Freiheit eines jeden anderen koexistenzfähig ist. Von den beiden Elementen der moralischen Welt, der „Glückseligkeit" einerseits und der „Tugend" andererseits, steht nun allein die tugendhafte moralische Reinheit des guten Willens gänzlich zu unserer Disposition. Fürs Glück sorgen w i r klug und geschickt; aber die Totalität seiner Bedingungen beherrscht niemand. Ganz davon abgesehen, daß „Glück", wie Kant durchaus wußte, eine Leerformel ist, deren konkrete Ausfüllung der Mensch innerhalb ungewisser natürlicher Grenzen „ a u f . . . verschiedene A r t " jeweils „ e n t w i r f t " , abgesehen auch von der zur Natur des Menschen gehörigen Unfähigkeit, es bei einem seiner einschlägigen Entwürfe schließlich zu belassen und „irgendwo i m Besitze und Genüsse aufzuhören und befriedigt zu werden" 1 7 , ist jedes erstrebte oder gewonnene Glück ständig von der Intervention natürlicher oder auch gesellschaftlicher Mächte bedroht, die es stören und nicht i n jedem Falle voraussehbar oder abwendbar sind. Es gibt mannigfache „Geschicklichkeit, sich ein Glück zu erwerben" 1 8 , und Fortschritt in der 13

Kant, K r i t i k der praktischen Vernunft, Cass. 5,135. Kant, K r i t i k der Urteilskraft, Cass. 5, 510. 15 a.a.O., S. 511. 1β a.a.O., S. 516 Anm. 17 a.a.O., S. 510. 18 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag i n der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Cass. 6, 361 A n m . 14

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K u l t u r ist mindestens unter anderem Fortschritt i n dieser Geschicklichkeit, „Klugheitsregeln", das heißt i n Handlungsanweisungen transformierte Zweck-Mittel-Relationen auf der Basis experimenteller oder lebenserfahrungsmäßiger Empirie „pragmatisch" zu konstituieren und zu befolgen 19 . Aber schon i n diesem Zusammenhang gilt, daß „ i m Fortschritte" der K u l t u r „die Plagen" zugleich „wachsen", wenn etwa auf jener „Höhe" kultureller Entwicklung, die „Luxus heißt", „der Hang zum Entbehrlichen . . . dem Unentbehrlichen Abbruch zu t u n anfängt". Alsdann ist auch „das Übergewicht der Übel, welche die Verfeinerung des Geschmacks bis zur Idealisierung desselben, und selbst der Luxus i n Wissenschaften, als einer Nahrung für die Eitelkeit, durch die unzubefriedigende Menge der dadurch erzeugten Neigungen über uns ausschüttet, . . . nicht zu bestreiten" 20 . — Kant ist kein Kulturpessimist, und noch die Leiden am luxurierenden kulturellen Fortschritt integriert er geschichtsphilosophisch i n die Ökonomie der Tugend, indem sie zumindest das Ende jener „Rohigkeit" unserer „Neigungen" indizieren, „die der Ausbildung zu unserer höheren", sittlichen „Bestimmung am meisten entgegen sind" 2 1 . Aber es bleibt doch dabei, daß die pragmatische Kalkulation des Glücks aufs Ganze und auf die Dauer der Zeit gesehen selbst i m glücklichen Fall, wo immerhin die Kräfte der Natur und der Gesellschaft nicht wider unsere Erwartungen walten, niemals aufgeht. Aber dieser glückliche Fall ist nicht die Regel, denn diese lautet, daß die Natur uns „ i n ihren verderblichen Wirkungen, i n Pest, Hunger, Wassergefahr, Frost" etc. immer wieder einmal überkommt, während zugleich die Gesellschaft durch den „Druck der Herrschaft", die „Barbarei der Kriege" usw. „sonst erreichbares Glück mindert oder zerstört" 2 2 . Zwar läßt sich sagen, daß der Mensch, als Teil der Natur und als Glied der Gesellschaft, nicht i n Permanenz prekär existiert. Es läßt sich sogar, i m Blick auf die Natur, eine „Teleologie" erfahren, der gemäß, was von Natur aus ist, zum Zwecke unseres Daseins zusammenstimmt —, nicht, als seien tatsächlich Zwecke die bewegenden Kräfte i m Lauf des Naturgeschehens, aber doch so, daß, was kausal zur Totalität der Bedingungen unserer Existenz und damit zu ihrer Produktion und Erhaltung zusammenwirkt, aus der Perspektive dieser unserer Existenz so erscheint, „als ob" es zum Zwecke unserer Existenz und ihrer Erhaltung wirke. Die Schönheit der Natur ist die ästhetische Präsenz dieses „als ob". — Dergleichen ist i n unserem existentiellen Naturverhältnis die Regel. Aber zur regelmäßigen Ausnahme i n diesem Verhältnis gehört auch die Erfahrung des Furchtbaren und der Schrecknisse der Natur, und nur, solange w i r uns 19 20 21 22

cf. dazu Kant, K r i t i k der reinen Vernunft, Β 834. Kant, K r i t i k der Urteilskraft, Cass. 5, 512 f. a.a.O., S. 513. a.a.O., S. 510.

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i m übrigen noch i n Sicherheit befinden, ist diese Erfahrung ästhetisch i n die Erfahrung des Erhabenen transponierbar. Analog gilt auch für unser Dasein i n der Gesellschaft, daß sie uns regelmäßig i n unserem Bemühen, eines guten Lebens teilhaftig zu werden, trägt und schützt, so daß Gehorsam gegen die Gesetze, die i n ihr gelten, eine zugleich zweckmäßige bürgerliche Pflicht ist. Aber die Gefahr, daß die Herrschaft, die den wohltätigen Gesetzen Geltung verschafft, i n eine Tyrannei, die Glück und Leben bedroht, umschlägt, ist ständig präsent, und selbst wenn es keine moralische Berechtigung gäbe, die Schrecken der Revolution gegen die Schrecken der Tyrannei aufzubieten, so hat doch die gelungene Revolution gegen das, was sie liquidierte, aus denselben Gründen wie dieses Legitimität (es herrscht Ruhe und Ordnung), und der Enthusiasmus, mit der die bessere Ordnung begrüßt wird, findet seine Gründe nicht zuletzt i n den Opfern an Leben und Glück, die man zu bringen bereit war, um einen Schritt zumindest vermeintlich weiterzukommen. Das sind kantische Reflexionen, breit mit den schönsten Passagen kantischen Textes belegbar. Sie besagen i n unserem Zusammenhang, daß „Glück" i n der Totalität seiner Bedingungen pragmatisch nicht kalkulierbar ist. Es gibt keine Technologie, die, zuverlässig wie eine Gebrauchsanweisung, E i n t r i t t und Dauer des guten Lebens gewährleisten könnte. Dieses Moment einer künftigen „moralischen Welt" steht nicht zu unserer Verfügung. Das ist der Grund, der nach Kant auf die auf das Endziel menschlicher Praxis zielende Frage „Was soll ich tun?" eine Antwort i n Form pragmatischer Maximen des Glücks nicht zuläßt. Klugheitsregeln der Lebensführung sind nützlich, ja unentbehrlich; ob aber die Wirkung ihrer Befolgung gutes Leben sein wird, hängt selbst dann, wenn sie als diese Regeln richtig gewesen sein sollten, von Bedingungen, Umständen, Neben- und Rückwirkungen ab, die niemand jemals vollständig voraussehen und berücksichtigen kann. Daher lautet die A n t wort auf die zusammenfassende Frage nach dem praktischen Sinn unseres Daseins: „Tue das, wodurch Du würdig wirst, glücklich zu sein 23 ." Diese Regel hat „unbedingten" Charakter, weil die einzige Bedingung, von der abhängt, daß eintritt, was sie verheißt, als unser guter Wille bei uns selbst liegt 2 4 . Daß diese Regel nur einen formellen Charakter hat und einen materiellen Inhalt unserer Pflichten weder angibt noch ohne Rücksicht auf konkrete rechtliche und sittliche Verhältnisse bestimmbar macht, ist offenkundig. Hegel hat recht, wenn er die formelle Anweisung des moralischen Gesetzes, jegliches Handeln der Bedingung zu unter28

Kant, K r i t i k der reinen Vernunft, Β 836 f. cf. dazu Dieter Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre v o m F a k t u m der Vernunft, i n : Die Gegenwart der Griechen i m neueren Denken. Festschrift für Hans-Georg Gadamer zum 60. Geburtstag. Tübingen 1960, S. 77—115,103 ff. 14

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werfen, daß seine Absicht jedermanns Absicht sein könnte 2 5 , eine Vorschrift nennt, die selbst unter extrem verschiedenen rechtlichen und sittlichen Verhältnissen i n gleicher Weise Gültigkeit haben kann. Ob es i n einer Gesellschaft die Institution des Eigentums unserer gesetzlichen Definition gibt oder nicht gibt, ob die Menschen i n der Ordnung der Familie unserer sittlichen Tradition leben oder nicht — so oder so gibt es allgemein verbindliche Pflichten, und die moralische Gesinnung bei ihrer Erfüllung kann sich an höchst verschiedenen, ja gegeneinander exklusiven sittlichen Inhalten erweisen 26 . Diese prominent zuerst von Hegel und seither wiederholt vorgetragene Charakteristik des kantischen Pflicht- und Tugendbegriffs t r i f f t zu. Aber einen polemischen Sinn braucht man dieser Charakteristik von der Sache her nicht zu unterstellen, und es ist nicht erkennbar, daß Kant hätte interessiert sein müssen, ihr zu widersprechen. Noch einmal: Kants Moral-Theorie ist nicht eine konkrete Pflichten-Lehre, sondern eine Theorie dessen, was als möglicher Beitrag zur Verwirklichung einer moralischen Welt über die i m Gelingen von zahllosen nicht beherrschbaren Bedingungen abhängige Pragmatik der Lebensklugheit 27 hinaus einzig bedingungslos zu unserer Disposition steht, nämlich unser Wille, nach bestem Wissen und Gewissen nur i n allgemeinverträglicher Absicht zu handeln. III. Definiert man eine Notsituation als Situation des offenbar gewordenen Unvermögens, die M i t t e l verläßlich zu bestimmen und bereitzustellen, die für die Erreichung eines Zieles erforderlich sind, das seinerseits nicht aufgegeben werden kann, so existiert der Mensch permanent i n einer Notsituation, sofern er nicht umhin kann, sich jegliche Praxis i n letzter Instanz „auf das höchste i n der Welt mögliche Gut (die i m Weltganzen m i t der reinsten Sittlichkeit auch verbundene, allgemeine, jener gemäße Glückseligkeit)" h i n zu orientieren 28 . Aus dem Mangel-Charakter der Welt erzeugt sich diese Endzweck-Orientierung menschlicher Praxis: „Das Bedürfnis, ein höchstes auch durch unsere M i t w i r k u n g mögliches Gut i n der Welt, als den Endzweck aller Dinge, anzunehmen, i s t . . . ein Bedürfnis aus M a n g e l . . . an äußeren Verhältnissen". Kant nennt dieses Bedürfnis ein „moralisches Bedürfnis", dem die „Pflicht" 25 cf. dazu Norbert Hoerster, Das Argument der Verallgemeinerung. E i n Beitrag zur Theorie des ethischen Handelns, Diss. Bochum 1967. 26 cf. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 135. Dazu: Joachim Ritter, Moralität und Sittlichkeit. Z u Hegels Auseinandersetzung m i t der k a n t i schen Ethik, i n : K r i t i k und Metaphysik. Studien. Heinz Heimsoeth zum 80. Geburtstag. B e r l i n 1966, S. 331—351. 27 cf. dazu Friedrich Kaulbach, Weltorientierung, Weltkenntnis u n d pragmatische Vernunft bei Kant, i n : K r i t i k und Metaphysik, a.a.O., S. 60—75. 28 Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag i n der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Cass. 6, 362.

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korrespondiert, „nach allem Vermögen es zu bewirken, daß . . . eine Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen . . . existiere" 2 9 . Unsere einschlägige Vermögenslage ist nun aber offenkundig unzulänglich. W i r wissen, daß Kant, einem gegenwärtig geläufigen Vorurteil gegen ihn als fortschrittsgewissen Geschichtsphilosophen zuwider, ein Skeptiker hinsichtlich der Fähigkeit des vergesellschafteten Menschen war, eine Glückseligkeitsqualität und Dauer des guten Lebens gewährleistende „ K u l t u r " zu entwickeln. Auch höchstentwickelte „Pragmatik" vermag lediglich i m Detail, für diesen und jenen begrenzten Zweck, zuverlässige Technologien, das heißt Mittel-Verwendungsregeln bereitzustellen. Das „Ganze" unseres Daseins jedoch kriegen w i r auch i n seinem gesellschaftlichen Aspekt, geschweige denn i n seinen naturalen Bezügen handlungsmäßig nicht voll i n den Griff. Der geschichtliche Fortschritt, dessen Struktur und Tendenz die Geschichtsphilosophie beschreibt, hat kein angebbares, ihn handlungsmäßig vollbringendes Subjekt, das als diese Person oder als diese Gruppe identifizierbar wäre 3 0 , und daß die Naturbedingungen unseres Lebens i n ihrer Totalität jemals Produkt unserer Tätigkeit werden könnten, behauptet ohnehin niemand. Dieser unserer mannigfach bedingten, durch unsere Werke niemals einholbaren Lage entspricht es, daß die Maximen der Lebensklugheit sich nicht i n verläßlicher Weise zu einem Handlungskonzept bündeln und systematisieren lassen, dessen Befolgung Verhältnisse schüfe, die als der verwirklichte Endzweck auch vom ideologisch Unvoreingenommenen anerkannt sein würden. Dieser unserer Situation, i m Hinblick auf einen unaufgebbaren Endzweck zu existieren, für dessen Verwirklichung w i r die Mittel hoffnungslos nicht beieinander haben, korrespondiert die moralische Forderung als die Forderung zu tun, was uns i n jedem Falle zu tun möglich ist und was zugleich auch ohne empirisch-pragmatische Erfolgskontrolle unbedingt richtig ist. Die Unterwerfung unter die Forderung des moralischen Gesetzes ist ein dezisionistischer A k t i n der existentiellen Notsituation der Ungewißheit und Unsicherheit des Weges zum Ziel des höchsten Gutes. „Dezision" heiße eine Entscheidung dann, wenn sie i n einer Situation unter Zeitdruck und entsprechendem Handlungszwang fällt, bevor noch die „Gründe", das heißt Zweck-Mittel-Relationskenntnisse beieinander waren, die sie i m materiellen Sinne zur „richtigen", erfolgssicheren Entscheidung hätten machen können 31 . Die klassische Situation, i n der eine 29

a.a.O., S. 362 Anm. cf. dazu meinen Aufsatz „Herrschaft u n d Planung. Die veränderte Rolle der Z u k u n f t i n der Gegenwart", i n : Die Frage nach dem Menschen. Aufriß einer philosophischen Anthropologie. Festschrift f ü r M a x Müller. Freiburg/ München 1966, S. 188—211. 31 cf. dazu meinen Aufsatz „ Z u r Theorie der Entscheidung", i n : Collegium philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag. Basel/Stuttgart 1965, S. 118—140. 30

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Dezision dieser Definition fällig ist, ist die Situation des Verirrten, der, ohne Gewißheit, i n welcher Richtung Rettung sei, sich dennoch unverzüglich für eine Richtung entscheiden und an dieser festhalten muß; Descartes hat diese Situation in seiner Abhandlung über die Methode des richtigen Verstandesgebrauchs als Beispiel für wiederkehrende Notwendigkeiten verwendet, i n prekären Lagen aus praktischer Vernunft Entscheidungen treffen zu müssen, deren materielle Richtigkeit theoretische Vernunft nicht zu garantieren vermag 3 2 . Auch die moralische Entscheidung ist, unter dem Druck des Handlungszwangs, dem Sterbliche ausgesetzt sind, die den Tod nicht suchen, sondern übers pure Leben hinaus gutes Leben erstreben, eine Dezision angegebener Definition. Wie der Verirrte nicht sicher weiß, ob i n dieser oder i n anderer Richtung der richtige Weg ins Vertraute führt, so verfügen w i r nicht über eine Pragmatik des Glücks, deren Richtigkeit bereits durch den Erfolg bewiesen wäre. Aber wie der Verirrte weiß, daß er unbedingt sich für den Aufbruch, i n welche Richtung auch immer, entscheiden muß, so wissen wir, daß wir, i n welcher Richtung auch immer w i r auf den Endzweck des höchsten Gutes h i n handeln mögen, ihn m i t Sicherheit verfehlen müssen, wenn w i r die Maximen unseres Handelns nicht nach bestem Wissen und Gewissen an die Bedingung ihrer Allgemeinverträglichkeit binden. Dies ist das einzige, was w i r m i t Sicherheit praktisch wissen, und dieser Sicherheit entspricht der rigorose, unbedingte Charakter der moralischen Forderung. Die „Ausführung" der Idee des „Systems der sich selbst lohnenden Moralität", sagt Kant, beruht „auf der Bedingung, daß jedermann tue, was er soll, das ist alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle P r i v a t w i l l k ü r i n sich oder unter sich befaßt, entsprängen" 33 . Aber niemand, der in diesem Sinne moralisch handelt, kann durch dieses Handeln den Eintritt dieser Bedingung ihres Erfolgs sicherstellen. Wäre die Bedingung erfüllt, so vermöchte prinzipiell unsere „durch sittliche Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst unter der Leitung solcher Prinzipien Urheber ihrer eigenen, und zugleich anderer dauerhaften Wohlfahrt" zu sein 34 . Aber die fragliche Bedingung ist nicht erfüllt, und es gibt keine verläßliche pragmatische Regel, sei es der Pädagogik, sei es der Politik, ihre Erfüllung zu garantieren. Die einzige Chance, zu ihrer Erfüllung einen Beitrag leisten zu können, ist die Chance, die moralische Forderung bedingungslos bei sich selbst zu erfüllen. Der Pragmatismus der moralischen Forderung ist ihr Rigorismus. 32 33 34

cf. a.a.O., S. 137. Kant, K r i t i k der reinen Vernunft, Β 838. a.a.O., Β 837.

37 Festschrift für Carl Schmitt

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Dezisionen sind Entscheidungen, durch die i n Notsituationen gegebenen Handlungszwangs ein Graben mangelnder theoretischer Gewißheit, ob auch die Bedingungen des Erfolgs der Entscheidungen gegeben seien, übersprungen wird. Die Theorie, die normalerweise der Praxis vorausläuft und sie begründet, hinkt in praktischen Situationen fälliger Dezisionen nach, und es bleibt der Praxis nichts als die Hoffnung, durch Theorie nicht nachträglich desavouiert zu werden. I n Entscheidungssituationen waltet ein „Primat der praktischen Vernunft", und eben das ist auch die kantische Formel für die Souveränität der die moralische Dezision treffenden praktischen Vernunft über die „spekulative", die allerdings prinzipiell außerstande ist, theoretisch zu begründen oder auch zu widerlegen, was als „Hoffnung" und „Postulat" die EndzweckZuversicht des moralisch-praktischen Dezisionismus trägt 3 5 . Kants MoralTheorie ist die Theorie einer Moral, deren dezisionistischer Charakter vor den Enttäuschungen schützt, denen ausgesetzt wäre, wer sie nur wegen ihrer erhofften wohltätigen Wirkungen auf die Gesellschaft zu schätzen vermöchte. Daß deren „Moralisierung" weit entfernt ist, hält Kant für unzweifelhaft. Misanthropische Konsequenzen zieht er aus dieser Überzeugung gleichwohl nicht, und zwar aus moralischen Gründen, die es verbieten, das Menschsein des Menschen als Grund der Feindschaft zwischen Menschen zuzulassen. Insofern nennt Kant die misanthropische Neigung, „Menschen zu fliehen", „verächtlich" 3 6 . Diese moralische Verurteilung der Misanthropie hat aber Kant nicht gehindert, sich i n einer Weise skeptisch über die Menschen zu äußern, die den unpragmatischen Dennoch-Charakter der von ihm theoretisierten Moral unterstreicht. Seine Sympathie gilt jenen „wohldenkenden Menschen", die „vom Wohlgefallen am Menschen durch eine lange traurige Erfahrung weit abgebracht", einen „Hang zur Eingezogenheit" entwickeln und den „phantastischen Wunsch" hegen, „auf einem entlegenen Landsitze" ihre „Lebenszeit zubringen zu können". I n ästhetischer Distanz von der Erfahrung, daß gerade i n der Verfolgung ihrer „für wichtig und groß gehaltenen Zwecke" „sich Menschen selbst untereinander alle erdenkliche Übel antun", stellt sich „Traurigkeit" ein, die „erhaben" ist und zu den „rüstigen Affekten" gehört, weil sie „ i n moralischen Ideen ihren Grund hat" 3 6 . I n der Reflektion des Affektes präsentiert sich i n jener „Traurigkeit" die Wahrheit, daß die Forderung des moralischen Gesetzes nicht unerfüllbar, aber doch, nach Ausweis ausgebliebener Wirkungen, unerfüllt ist und eben deshalb je zu ihrer Erfüllung einer Dezision bedarf, i n der der Mangel an sie begründender und empfehlender Erfahrung für unbeachtlich erklärt ist. 35 cf. dazu Kant, K r i t i k der praktischen Vernunft, Cass. 5, 130 ff.: „ V o n dem Primat der reinen praktischen Vernunft i n ihrer Verbindung m i t der spekulativen." 36 Kant, K r i t i k der Urteilskraft, Cass. 5, 348 f.

Der Weg der „Technokratie" von Amerika nach Frankreich* Von A r m i n Möhler, München Die Begriffe „Technokratie" und „Technokrat" sind i m deutschen Sprachgebrauch nicht so geläufig wie i n Frankreich oder den Vereinigten Staaten. Dort sind sie gebräuchlicher Bestandteil der alltäglichen Konversation, fallen als solcher gar nicht mehr auf. I m deutschen Sprachgebiet stutzt man noch, wenn diese Begriffe auftauchen. Zwar gab es hier einmal eine kurze Blüte „technokratisch" etikettierter Publizistik 1 * Nach der am 10. Januar 1967 gehaltenen Probevorlesung zur Habilitation vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck. 1 Parrish, Wayne W.: „Technokratie — die neue Heilslehre", V o r w o r t von Hermann Sörgel, übertr. von Dipl.-Ing. Hans Prinz, 263 S., München 1933, Piper. — Dr. Erich Kraemer, „Was ist Technokratie?" 101 S., B e r l i n 1933, K u r t Wolff Verlag / Der Neue Geist Verlag. — Ing. Eduard Pfeiffer, „Technokratie. Wie amerikanische Techniker u n d Forscher sich die Uberwindung der Maschinenherrschaft denken", 64 S. m i t Abb., 3. Auflage, Stuttgart 1933, Franckh'sche Verlagshandlung. (Auf Umschlag U n tertitel: „Erlösung durch die Maschine? Der Mensch als Markenartikel.") — Werner, Julius: Schriftenreihe „Technokratie", i n Kommission beim Verlag Rohrer, Brünn, Prag, Leipzig, Wien: 1) „Technokratie. A u f r u f an die wissenschaftliche Weltintelligenz", 40 S. 1933; 2) „Wissenschaft u n d Technokratie", 54 S., 1933; 3) „Wirtschaftsform der Technokratie", 132 S., 1933; 4) „Technokratie u n d Soziotechnik", 92 S., 1934. — Das i n dieser L i t e r a t u r oft als grundlegend zitierte Buch von Werner Kuntz, „ V o r den Toren der Neuen Zeit", X I I + 279 S., Leipzig 1926, F. Meiner Verlag, gehört, wie schon der zeitliche Abstand zeigt, nicht i n diesen Zusammenhang; anscheinend w i r d es zitiert, v/eil K . i n der deutschen Technokratenbewegung u m 1933 persönlich eine Rolle spielte. — Der Versuch einer objektiven Einführung ist Irene Margarete Witte und Rud. Lellek, „ t e c h n o k r a t i e ' . Ein Zeitschlagwort oder mehr? Sachliche Darstellung u n d kritische Untersuchung", 117 S., B e r l i n 1933, Rüdiger Verlag. — Die Schrift von Adrien Turel, „Technokratie, Autarkie, Genetokratie", 62 S., B e r l i n 1934, W. Hoffmann Verlag, steht der A r t dieses eigenwilligen Ideologen gemäß außerhalb der technokratischen Orthodoxie und ist übrigens seine letzte Veröffentlichung i n Deutschland vor 1945. — Eine Streitschrift gegen die technokratische Bewegung ist Friedrich Markus Huebner, „Schaffen u n d Ruhen. Adel der Arbeit. Sinn der Erholung", 91 S., Darmstadt 1933, Verlag G. Peschko. — Nach dem Abklingen der technokratischen Welle i m Reich erschien i n Österreich von K a r l Resar, „Technokratie, Weltwirtschaftskrise und ihre endgültige Beseitigung. Physikalische Quellenforschung und Zielsetzung der Technokratie", 202 S., Wien 1935, C. B a r t h Verlag für Wirtschaft u n d Architektur. — W i r sind i n den bibliographischen Angaben über die technokratische Spezialliterat u r etwas ausführlicher als üblich, w e i l es sich u m ein schwer auffindbares Schrifttum handelt; außerdem sind gerade bei einer L i t e r a t u r dieser A r t Details wie Untertitel, Vorwort-Verfasser, Verlagsangaben oft recht aufschlußreich. 37*

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— das war aber nicht von Dauer. Noch immer fragt man sich, wie diese Vokabeln gemeint sind. Die historische Methode ist i n den Geisteswissenschaften, was i n den Naturwissenschaften das Experiment ist: sie schafft erst den Ausgangspunkt für jede Systematik. Die Frage muß deshalb lauten: wann und auf welchem Wege sind jene Begriffe zu uns gelangt?

I. Für die gegenwärtige Verschwommenheit der deutschen Begriffe „Technokrat" und „Technokratie" mag ein zufällig aus der Tagespresse herausgegriffenes Beispiel zeugen. Es fand sich i n der K r i t i k des Vortrages eines höheren Kommunalbeamten über Stadtbauprobleme 2 : „ . . . M i t erschreckender Deutlichkeit wurde wieder einmal sichtbar, daß an maßgebenden Stellen der Technokrat entscheidet — und das i n einer Stadt wie München, wo die baumeisterliche und künstlerische Tradition zu mehr verpflichten sollte als nur zu technischen Lösungen . . . " . Der Begriff „Technokrat" w i r d nicht erläutert, also als bekannt vorausgesetzt. Er w i r d als Gegensatz zur „künstlerischen Tradition" verwendet, mit der man Vorstellungsinhalte wie „Freiheit", „schöpferisch" assoziiert. Er w i r d aber auch mit „baumeisterlich" konfrontiert, was schon mehr ins Zweckgebundene hineinführt. Offensichtlich w i r d mit „Technokrat" aber auch mehr als bloß der „Techniker" gemeint. Begleit-, ausdrücke wie „ m i t erschreckender Deutlichkeit", „an maßgebenden Stellen" versetzen den Begriff i n ein affektives Klima. Eine bedrohliche Entwicklung w i r d suggeriert. Anscheinend haftet dem Begriff ein Ruch von dunkler Verschwörung an — ob der Berichterstatter das nun beabsichtigt hat oder nicht.

II. Technokrat, Technokratie sind Begriffe, die zum politischen Wortschatz gehören — mögen sie auch ursprünglich anders gemeint gewesen sein. Politische Begriffe jedoch haben ihre besondere Problematik. Politische Begriffe, die noch virulent sind, werden selten als bloße Sachbezeichnungen verwendet — fast immer wollen sie auch etwas bewirken: sei es, daß sie einen bestimmten Zustand herbeiführen, sei es, daß sie einen vorhandenen Zustand verschleiern oder i n ein bestimmtes Licht rücken wollen. 2

„Münchner M e r k u r " v o m 22.12.1966.

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Die politischen Begriffe haben denn auch meist einen positiven und einen negativen Sinn zugleich. Bei den Wörtern Technokratie, Technokrat ist das überdeutlich; während die einen sich i n Propheten- oder Verschwörerpose m i t ihnen schmücken, sind sie für andere abwertend gemeinte Begriffe, die vor einer angeblich drohenden Gefahr warnen sollen. Aufschlußreich sind Begriffs-Nachbarschaften. Die Vokabeln Technokraten und Technokratie gehören i n eine Familie von politischen Begriffen, m i t denen sie sich teilweise überschneiden. Zunächst einmal w i r d das Wort „Manager" oft parallel verwendet — insbesondere seit James B u r n h a m dieses Wort durch seine „Managerial Revolution" von 1941 zum politischen Schlagwort gemacht hat. Immerh i n ist dieser Begriff eindeutiger geblieben. Seine ursprüngliche nationalökonomische Bedeutung hat sich genügend i m Bewußtsein erhalten — nämlich als Bezeichnung einer neuen Führungsschicht, die i n der W i r t schaft nach der Trennung von Besitz und Entscheidungsgewalt entstand. I m m e r h i n hat schon B u r n h a m selbst den „Manager" i m verschwommeneren und politisch aufgeladenen Sinne des „Technokraten" verstanden. Allerdings gibt es auch Begriffe, neben denen die Wörter Technokratie, Technokraten sich nicht als das Spannungsgeladenere, sondern das Sachlichere, Distanziertere ausnehmen. Das t r i f f t vor allem dort zu, wo w i r auf Vokabeln der Verschwörungstheorie stoßen, etwa die vielzitierten „200 Familien" oder die „Synarchie". Die These von der „Synarchie" 3 ist, gemessen an Antisemitismus, A n t i f r e i m a u r e r t u m und Antijesuitismus, eine der jüngsten Verschwörungstheorien, und sie ist zudem auf das französische Sprachgebiet beschränkt. Sie muß jedoch hier genannt werden, w e i l sie i n Frankreich auf weite Strecken die F u n k t i o n erfüllt, welche andernorts dem negativen Technokratie-Mythos zufällt 4 . Sie ist während der 30er Jahre dieses Jahrhunderts populär geworden und ber u f t sich auf die Schriften eines esoterischen Autors, Saint Yves d'Alveydre. Aus ihnen schließt diese vor allem i m bedrängten Kleinbürgertum verbreitete Ideologie auf die Existenz eines kleinen Elite-Zirkels, der sich gleichmäßig auf die verschiedenen politischen Gruppen (auch die offiziell „antikapitalistischen") verteile und i n geheimer Absprache die Geschicke Frankreichs lenke. 3 Es gibt noch keine wissenschaftliche Untersuchung dieser Ideologie. Die Zusammenfassungen über „Synarchie" sind von Verfechtern dieser Verschwörungstheorie verfaßt: Geoffroy de Charnay, „Synarchie. Panorama de 25 années d'activité occulte", Paris 1946; Jacques Weiss, „Synarchie. L'autorité contre le pouvoir", Paris 1955. Bei Drucklegung dieses Aufsatzes w i r d das Erscheinen eines ersten distanzierten Buches über die Synarchie-Bewegung angekündigt: André Ulmann u. Henri Azeau, „Synarchie et pouvoir", Paris 1968, Editions Julliard. 4 Die Verbindung w i r d schon i m Titel der bisher letzten Zusammenfassung dieser A r t sichtbar: „Les Technocrates et la Synarchie", Hrsg. Henry Coston, Paris 1962 (sehr materialreich, aber unkritisch).

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Weitere Abgrenzungen wären noch vorzunehmen — so gegen Vokabeln, die aus Automation und Kybernetik allmählich i n den politischen Wortschatz eindringen. III. Wann t r i t t der Begriff „Technokratie" zum ersten Male auf? Darüber besteht i n der schon recht breiten, zwischen Wissenschaft und Mythomanie gefährlich schwankenden Literatur über die Technokratie keine Einigkeit 5 . Darin unterscheidet sich jedoch dieser Begriff kaum von anderen politischen Vokabeln. Das erste Auftreten eines solchen Begriffes dürfte meist zufällig sein. Er w i r d tastend irgendwo gebildet 6 , w i r d zögernd da und dort verwendet, und zwar oft i n widersprechender Weise. Für die Begriffsgeschichte wesentlich ist, wann ein solches Wort virulent w i r d und damit festen Inhalt gewinnt. Es t r i f f t dann gezielt auf eine bestimmte geschichtliche Situation und w i r d plötzlich zum Schlagwort der Stunde. Das schließt nicht aus, daß der Wortsinn später wieder — bei „Technokratie" ist das der Fall — sich verändert, daß die Präzision, zu welcher der Begriff i n jener Situation gelangte, sich wieder verliert. Für die Begriffe Technokraten und Technokratie läßt sich die geschichtliche Situation genau bestimmen, i n der sie virulent wurden. Es ist die Weltwirtschaftskrise,

die m i t dem „Schwarzen Freitag"

vom

24. Oktober 1929 an die Oberfläche brach. Die von diesem New Yorker Börsenkrach ausgelöste Kettenreaktion schuf den Bewußtseinszustand, i n dem die „Technokratie" zu einer A r t von Heilslehre 7 werden konnte, die einen Ausweg aus allen Nöten zu weisen schien. Teils pittoreskere, teils fürchterlichere Ereignisse haben i n der Folge das geschichtliche Bewußtsein erheblich von diesen Vorgängen abge5 Auch das durchaus wissenschaftliche Werk von W. H. G. Armytage, „The Rise of the Technocrats. A social history", London u n d Toronto 1965, gibt hier keine Auskunft. Es ist eine sehr nützliche u n d b r i l l a n t geschriebene Geschichte der m i t Technik beschäftigten Intelligenz von 1563 bis heute; unserem Thema w i d m e t sie leider n u r wenige Seiten, die historisch nicht mehr bringen als die orthodoxe technokratische L i t e r a t u r selbst. 6 So hatte sich die amerikanische Technokratenbewegung m i t einem 1855 geborenen Vorläufer W i l l i a m Henry Smyth auseinanderzusetzen, der bereits 1920 i n Berkeley/Calif. eine Schriftenreihe „Technocracy" herausgab u n d sich 1933 nach Aufschießen der technokratischen Welle wieder zum Worte meldete m i t „Technocracy explained by its originator, W i l l i a m H. Smyth", 23 S., Berkeley/Calif., California Advertising Service. Erich Naujoks, „Was ist Technokratie?", S. 1204 f. i n Reclams Universum, Leipzig, Jg. 49, 1933, berichtet von einem Mann aus Baltimore, der sich die gesetzlichen Rechte am Wort „Technocracy" gesichert hatte u n d von der offiziellen Technokratenbewegung 5 Cents f ü r jede Verwendung des Wortes i n A r t i k e l n oder Vorträgen verlangte. 7 Vergleiche die T i t e l der zitierten Schriften von Parrish, Pfeiffer u n d Resar.

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lenkt. Der 24. Oktober 1929 ist jedoch i m Gesamtverlauf der neueren Geschichte eines der wichtigsten Daten: damals verlor die moderne Industriegesellschaft ihre Unschuld. Die pessimistische Einstellung zu dieser Gesellschaft, die bis dahin Sache von Einzelgängern und oppositionellen Minderheiten war, wurde von da ab eine Massenstimmung. Die durch die Weltwirtschaftskrise ausgelöste Bewußtseinskrise läßt sich i m wesentlichen i n fünf Punkte zusammenfassen: a) Der Glaube an das liberale oder — grob gesagt — „kapitalistische" Wirtschaftssystem als eines sich selbst regulierenden Mechanismus ist zum ersten Male auch bei dessen Trägern von Grund auf erschüttert. b) Parallel dazu läuft eine Krise des parlamentarischen Systems. I n jenen Jahren beginnt man i n denjenigen Ländern, welche das liberale Repräsentativsystem beibehalten hatten, i n bemerkenswerter Häufung zu fragen, ob diese A r t der politischen Willensbildung den Sachaufgaben der Zeit noch gewachsen sei. Die Vorstellung vom Parlamentarier als einem überforderten Menschen und von der Notwendigkeit seiner Ersetzung durch Fachleute beginnt sich zu verbreiten. c) Den Hintergrund dazu bildet eine allgemein-geistige Krise: die des humanistischen Bildungsideals. I n Frage gestellt w i r d das B i l d eines Menschen, der von der klassischen Bildung aus die verschiedensten Lebensgebiete zu überschauen vermag und deren jeweiligen Anforderungen gewachsen ist. Das Gegenbild ist auch hier das des Spezialisten: desjenigen Menschen also, der nur noch ein bestimmtes Fachgebiet beherrscht, sich den Sachzwängen dieses Faches unterwirft und jede Kooperation unter dem Gesichtspunkt eines Ausgleichs zwischen Sachzwängen sieht. d) Das bedingt auch ein neues Verhältnis zur Technik. Deren instrumentale Auffassung t r i t t mehr und mehr zurück und w i r d durch die Vorstellung einer technischen Eigengesetzlichkeit verdrängt. Das geht weit über die Annahme einer Eigengesetzlichkeit des Wirtschaftlichen hinaus, wie w i r sie aus dem 19. Jahrhundert, und nicht erst seit Marx, k e n n e n . Wirtschaft

und Technik treten im Bewußtsein

auseinander.

Die

Technik w i r d dämonisiert — und zwar ins Positive wie ins Negative. Unabhängig vom menschlichen Willen w i r d sie für die einen zum automatischen Heilbringer, für die andern zum Träger von Schrecken. e) Logisch i n Widerspruch dazu steht etwas, was de facto doch ohne die Annahme einer Eigengesetzlichkeit der Technik nicht seine besondere Intensität hätte gewinnen können: das Planungsdenken dringt nun auf breiter Front i n die liberale Wirtschaftspraxis ein — ein Denken also, das bis dahin i m nichttotalitären Bereich der Welt nur i n Ausnahmesituationen, etwa während des Ersten Weltkrieges, zum Zuge gekommen war.

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Gewiß waren das damals Entwicklungen, deren Wurzeln bereits weit zurücklagen. Aber erst mit dem „Schwarzen Freitag" von 1929 traten sie breit ins Bewußtsein der Öffentlichkeit ein. Gewiß dämpfte der zweite, mit 1933 einsetzende Schub des Totalitarismus diese Entwicklungen wieder etwas. I n Abwehr der recht gewaltsamen totalitären Lösungsvorschläge zur Krise wurde i n der liberalen Welt das Krisenbewußtsein wieder etwas gedämpft, wurden problematisch gewordene Institutionen und Gewohnheiten wieder rehabilitiert. Nach 1945 zeigte sich jedoch, daß mit dem Untergang Hitlers die Probleme der modernen Industriegesellschaft noch nicht gelöst waren. Sie tauchten i n der alten Form wieder auf, jedoch mit verstärkter Intensität. Auch die technokratische Bewegung — d. h. die technokratische Ideologie und die von ihr getragenen Personenkreise und Organisationen — bekam jene bremsende Wirkung zu spüren. I m Winter 1932/33 in den USA jäh aufgeschossen, verbreitete sie sich zwar blitzschnell nach Europa hinüber 8 , mußte sich aber dann bald zu langsamerer Gangart bequemen. Und i n dieser Verlangsamung veränderte sie sich aus einem personell und organisatorisch immerhin faßbaren Gebilde zu einer diffusen Stimmung. Das lag schon i n der paradoxen Ausgangssituation der technokratischen Bewegung begründet. IV. Der Personenkreis, von dem die technokratische Bewegung ausging, ist genau lokalisierbar. Dabei ergibt sich die überraschende Feststellung, daß es sich um eine vergleichsweise marginale Angelegenheit handelt. Die weltweite Wirkung läßt sich nur damit erklären, daß das Wort „Technokratie" allein schon fantasiebeflügelnde Wirkung hatte. Wenn w i r feststellten, daß auf die Periode, in der ein Begriff virulent w i r d 8 Manfred Schröter, „Philosophie der Technik" (Handbuch der Philosophie), München 1934, spricht S. 59 f. von einer gleichzeitigen, voneinander unabhängigen Entstehung der Technokratenbewegung i n USA u n d Deutschland. Als Beleg zitiert er die zwei Aufsätze von „Philotechnicus" (id est, laut Schröter, Günther Bugge), „Technokratie", i n : Technik voran! Zeitschrift des Reichsbundes Deutscher Technik, Berlin, 5./20. Okt. 1932, S. 296 — 8, 313 — 6. Das frühe D a t u m dieser Aufsätze dürfte aber als Beweis nicht genügen; man liest bei Philotechnicus alias Bugge S. 296 immerhin: „ M i t dem neuen, bisher n u r selten oder mißbräuchlich gebrauchten Wort ,Technokratie' soll programmatisch eine neue Weltanschauung, eine neue Bewegung, zugleich auch ein neues System der Regelung der wirtschaftlichen u n d politischen Verhältnisse bezeichnet w e r d e n . . . " Dieser Satz dürfte w o h l als Hinweis auf eine Auseinandersetzung m i t den amerikanischen Vorgängen aufzufassen sein. — Schröters Schrift ist übrigens zusammen m i t seiner (bis Hardensett reichenden) L i t e r a turübersicht „ K u l t u r f r a g e n der Technik. Versuch einer kritischen Sichtung des Schrifttums", Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, Berlin, 1. A p r i l 1933, S. 349—53, die beste Einführung i n den damaligen Stand der geistigen Auseinandersetzung m i t der Technik i n Deutschland.

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und damit festen Inhalt erhält, Phasen einer Verflüchtigung dieses Inhaltes folgen können, so läßt sich dem hier zufügen, daß das Wort „Technokratie" wohl erst durch eine solche „Gepäckerleichterung" jene weltweite Wirkung erreicht hat. Auf jeden Fall hat alles, was sich heute als „technokratisch" etikettiert, wenig mehr mit der Initialbewegung von 1932/33 zu tun 9 . Die technokratische Bewegung hat i m Bereich der weltanschaulichen Sekten begonnen. A n ihrem Anfang steht der Amerikaner Howard Scott — ein Mann von offensichtlich charismatischer Begabung. U m i h n sammelte sich eine kleine Gruppe von Anhängern — Ingenieure, W i r t schaftstheoretiker und Laien 1 0 —, und zwar nach deren eigenen Angaben als „Technical Alliance", bereits seit etwa 192011. Die i n diesem Kreis ausgebrüteten Ideen wurden i m Winter 1932/33 i n den Staaten dank eines geschickten Journalisten und Vulgarisators, Wayne W. Parrish, zu einer kurzfristigen, aber heftigen Sensation. Für einige Monate war „Technocracy" eine Angelegenheit der Schlagzeilen. V. Wer war dieser Howard Scott? I n den gebräuchlichen amerikanischen Biographien finden sich keine Angaben über ihn 1 2 . So sind w i r auf eine Darstellung seiner Person aus dem Kreis seiner Anhänger angewiesen. Sie dürfte etwa aus dem Jahre 1932 stammen 13 und lautet: „Scott ist gerade 42 Jahre alt. Er wurde in Virginia geboren, wuchs i n Europa auf und wurde dort erzogen. Sein Vater war einer der Erbauer der Bagdadbahn. Der junge Scott war von früher Jugend an i m Laboratorium. Sein Vater hatte das Prinzip, seinen Sohn zur Selbständigkeit zu erziehen. I m Alter von 10 Jahren reiste er allein durch Europa. Er besuchte die verschiedensten Schulen i n Frankreich und Deutschland und promovierte früh an der Universität Berlin und besitzt drei oder vier akademische Grade, einschließlich des Dr. ing. der Universität Berl i n . . . Anfang der Zwanziger hatte er eine verantwortliche Stellung i n der deutschen Farbenindustrie . . . Bei Ausbruch des Weltkrieges ging er nach England. Das Familienvermögen, das i n Konstantinopel angelegt 9 Das w i r d etwa deutlich i n Alfred Frisch, „Großmacht Technokratie. Die Z u k u n f t der Gesellschaft", 124 S., Frankfurt/M. 1955, Agenor Druck- u n d Verlagsgesellschaft. 10 Parrish, op. cit., gibt S. 33 eine Liste der wichtigsten Namen, darunter den des Soziologen Thorstein Veblen (1857—1929). 11 Die Gründungslegende der Technokraten w i r d nach den zitierten Schriften von Parrish und Kraemer wiedergegeben. 12 Fotos von Scott sind selten. I n Naujoks, op. cit., findet sich eine von Scott zusammen m i t seinem Mäzen K i n g Hubbert. 13 Als Zitat ohne Verfasser- und Quellenangabe i n Kraemer, op. cit., S. 20 f. abgedruckt.

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war, wurde konfisziert und Scott erarbeitete seine Reise nach Kanada als Packer. Er gab sich den kanadischen Behörden zu erkennen, wurde Munitionssachverständiger und leitete den Bau zweier kanadischer Munitionsfabriken. Nach dem Krieg ging er i n die Vereinigten Staaten und wurde als Techniker beim Bau der Muscle Shoal Project (dem Projekt eines großen Stickstoffwerkes) angestellt. Später eröffnete er ein technisches Informationsbüro i n New York. I n jungen Jahren reiste er durch die ganze Welt und leitete technische Bauten i n Mexiko, Spanien und anderen Ländern. Er ist sechs Fuß zwei Zoll ( = 1 Meter 88) groß, er läßt sich nicht Doktor nennen und hat eine Professur ausgeschlagen, um seine ganze Zeit der Vervollkommnung seiner Theorie zu widmen." W i r haben die typische legendäre Biographie eines Sektengründers vor uns. Es wimmelt i n ihr von Unwahrscheinlichkeiten: ein Dr. ing. der Universität Berlin, Beschlagnahme eines amerikanischen Vermögens durch die Türken bei Beginn des Ersten Weltkrieges usw. Ähnliche Biographien kennen w i r etwa von dem Maler Diego Rivera oder von Malraux. Wie bei letzterem hat sich Scotts Legende dadurch etabliert, daß ihr Objekt die auf Andeutungen von ihm selbst fußenden Veröffentlichungen Dritter nie dementiert hat. Aufschlußreich ist auf jeden Fall, daß selbst Scotts Apostel Parrish folgende Einschränkungen 14 macht: Scott „besitzt eine große Erfindungsgabe bezüglich seiner eigenen Vergangenheit und erwarb sich einen besonderen Ruf wegen seiner unglaubwürdigen Erzählungen. Einige dieser Erzählungen entstanden noch i n den Anfängen der Technokratie. Zu jener Zeit waren seine Mitarbeiter immer noch i n dem Glauben, daß er ein Diplom der Technischen Hochschule Berlin 1 5 und anderer europäischer Hochschulen besäße, und daß er als leitender technischer Ingenieur mit dem Muscle Shoals-Projekt und mit kanadischen Munitionsfabriken i n Verbindung gestanden sei". Immerhin fügt Parrish an gleicher Stelle bei: „Es ist bekannt, daß er während einiger Zeit i n den Jahren 1920 bis 1930 eine Fabrik für Bodenwachs und Möbelpolitur i n Pompton Lakes, New Jersey, gegründet und aus diesem Betrieb Einkünfte bezogen hat." Dieser Anschein von Vita activa, beim Begründer der Technokratie nicht unwesentlich, w i r d aber durch die anschließenden Sätze wieder weggewischt: „Die mit diesem Projekt verknüpften kommerziellen Verpflichtungen erwiesen sich jedoch als lästig. Scott zog es vor, sich wirtschaftlichen Diskussionen zu widmen, herumzusitzen und seine Theorien zu predigen, zu lesen, zu studieren und seine Gedanken über unser Wirtschaftssystem neu zu ge14

Op. cit., S. 34 f. Die Ersetzung des unglaubwürdigen „Universität B e r l i n " durch „Technische Hochschule Berlin geht w o h l auf Kosten der deutschen Übersetzung, nach der w i r zitieren. 15

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stalten. Erzählungen über seinen früheren Reichtum wurden verbreitet, Scott jedoch fuhr weiter fort, i n Greenwich Village zu leben und i n kleinen Wirtschaften zu essen . . . Groß und schlank, mit einem erstaunlichen Gedächtnis für Zahlen und Tatsachen und einem unermüdlichen Eifer, einem jeden, der ihm zuhören wollte, seine Gedanken zu entwickeln, wurde er i n den Jahren 1920 bis 1930 zu einer bekannten Persönlichkeit i n Greenwich Village." Was biographisch bei solcher Quellenlage allein mit einer gewissen Sicherheit feststellbar ist, dürfte also sein, daß Howard Scott i m New Yorker Künstlerviertel sowohl den Ruf eines anregenden Debattierers wie den eines Schnorrers genoß. Dazu paßt die Gründungslegende der technokratischen Bewegung 16 : „Die Freunde Scotts hatten wiederholt den Versuch gemacht, die alte Technical Alliance neu auferstehen zu lassen und mehr als einmal Büroräume gemietet und Geld und Mitarbeiter kostenlos zur Verfügung gestellt, um es Scott zu ermöglichen, seine Theorien zu fördern. Diese Versuche sind alle fehlgeschlagen, bis ein junger Geophysiker, der vor mehreren Jahren von Chicago an die ColumbiaUniversität kam, Scott zufällig i n Greenwich Village traf und sich für ihn interessierte. Das war Mr. K i n g H u b b e r t . . . Er begann damit, Scotts rückständige Mieten zu bezahlen . . . Hubbert war sehr darauf bedacht, die Theorien Scotts auf wirtschaftlichere 17 Grundlage zu stellen und dank seiner Bemühungen begannen die Forschungsarbeiten, die heute an der Columbia-Universität durchgeführt werden. Ehemalige Mitglieder der Technical Alliance wurden angespornt, ihr Interesse an dieser Arbeit zu erneuern und bildeten eine neue Organisation unter dem Namen Technokratie. Auf Veranlassung von Professor Walter Rautenstrauch wurden ihre Mitglieder als Gäste der Abteilung für Maschinenbau eingeladen, um unter dem Vorsitz und Protektorat dieser Abteilung eine Energievermessung Nordamerikas durchzuführen." Dieser letzte Satz des zwischen Legende und Objektivität seinen Weg suchenden Parrish läßt bezeichnenderweise die Rolle Scotts bei diesem berühmten „Energy Survey of North America" i m Unklaren. Der intellektuelle Anstoß zu dieser Energievermessung mag von Scott stammen; zu dessen Glaubenssätzen gehört ja, daß Zivilisation gleich Energie sei. Die i m Mittelpunkt der Gründungslegende stehende Tätigkeit Scotts als „Direktor" eines Universitätsinstitutes m i t einem Groß-Stab von Wissenschaftlern läßt sich nicht belegen 18 . 16

Parrish, op. cit., S. 35 f. Druckfehler? Auch „wissenschaftlichere" könnte gemeint sein. Naujoks, op. cit., berichtet, daß Scott durch Intrigen einen Direktorposten an der Columbia-Universität verloren habe. A m gleichen Ort findet sich ü b r i gens die Angabe, daß Scott lange von einer Monatsrente von 600 Dollars gelebt habe, die i h m ein Chemietrust für die Auswertung eines Scottschen Verfahrens zur Verflüssigung von Kohle zahlte. Der Zusammenbruch dieses Trusts habe jedoch diesen Zahlungen ein Ende gemacht; seither (1923) sei Scott mittellos. 17

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Selbst Parrish distanziert sich 19 von „etwas dramatisch gehaltenen Berichten der Technokratie" und sagt salomonisch: „Technokratie ist in einem sehr wichtigen Sinne gleichbedeutend mit Howard Scott, dem erstaunlichen Theoretiker und Neuerer, der sich durch seine Aufnahme an der Columbia-Universität einen gewissen Grad der Anerkennung erworben hat. I n einem anderen Sinne ist Technokratie gleichbedeutend mit der Forschungsarbeit, die unter Scotts Leitung durchgeführt wurde. Die Durchführung und Auslegung dieser Arbeiten liegt i n Händen von Professor Rautenstrauch, Hubbert, Jones und Ackermann." Daran schließt Parrish die Bemerkung an, er habe diese Hinweise nicht mit der Absicht veröffentlicht, „Scott i n Mißkredit zu bringen oder die Bedeutung seiner Ergebnisse und Folgerungen auf dem Gebiet der Technokratie zu schmälern". Daß es sich bei jenen Arbeiten des Rautenstrauchschen Instituts an der New Yorker Columbia-Universität zum mindesten für europäische Auffassungen um ein größeres Unternehmen gehandelt haben muß, zeigt Parrishs Aufzählung 2 0 : „Der eigentliche Beginn der Energievermessung Nordamerikas geht auf den A p r i l 1932 zurück, als M. Ackermann den Ausschuß zur Unterstützung bedürftiger Architekten überredete, einen Teil des Unterstützungsfonds dazu zu verwenden, arbeitslose Konstrukteure i n den Laboratorien der ColumbiaUniversität zu verwenden. Seit jener Zeit waren durchschnittlich 25 bis 30 Leute beschäftigt. I m November 1932 bot der Ausschuß zur Milderung der Arbeitslosigkeit in New York . . . dem Forschungslaboratorium weitere 100 Leute an und zur Jahreswende wurden diese Leute als Angestellte angenommen nach Maßgabe des zur Verfügung stehenden Raumes. Sie wurden bei der Vermessung und der Auswertung der Ergebnisse verwendet." VI. Howard Scott war offenbar nicht imstande, seine Vision schriftlich gültig zu formulieren. Es liegt wohl eine Broschüre 21 vor, die er mit AnDie Jenaer Dissertation von 1936, Herbert Moeller, „Technokratie". 195 S., Leipzig 1939, Verlag K a r l Lange, meldet S. 19: „Die Energieuntersuchung an der Columbia-Universität mußte Anfang des Jahres 1933 abgebrochen werden. Der Rektor veröffentlichte eine Erklärung, wonach die Forschungsergebnisse nicht i m Geiste der reinen Wissenschaft verwertet, sondern zwecks propagandistischer Ausnutzung übertriebene und falsche Schlußfolgerungen daraus gezogen worden seien." 19 Op. cit., S. 36 f. 20 Op. cit., S. 37. 21 „Introduction to Technocracy. B y Howard Scott and others. W i t h an i n t r o ductory statement by the Continental Committee of Technocracy and a selected reading list for laymen from the literature of science", 61 S., New York, The John Day Co, und London, John Lane. A n weiteren Schriften Scotts

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h ä n g e r n z u s a m m e n 1933 i n e i n e m a m e r i k a n i s c h e n u n d gleichzeitig e i n e m englischen V e r l a g herausgegeben h a t . D i e w e n i g e n v o n i h m s t a m m e n d e n Seiten dieser S c h r i f t s i n d n i c h t n u r nach M e i n u n g n a t i o n a l ö k o n o m i s c h e r Fachleute, sondern selbst nach der v o n S y m p a t h i s a n t e n schwer v e r ständlich22. H o w a r d Scotts Chance w a r , daß seine I d e e n v o n d e m J o u r n a l i s t e n W a y n e W . P a r r i s h z u e i n e m e i n g ä n g i g e n ( u n d mindestens i m a m e r i k a nischen O r i g i n a l leicht lesbaren) D i g e s t v e r a r b e i t e t w u r d e n . Dieser D i g e s t erschien zunächst als A r t i k e l s e r i e i n der Z e i t s c h r i f t „ T h e N e w O u t l o o k " ( v o m N o v e m b e r 1932 b i s z u m J a n u a r 1933) u n d d a n n als B u c h u n t e r d e m T i t e l „ A n O u t l i n e of T e c h n o c r a c y " 2 3 , G r ü n d z ü g e d e r T e c h n o k r a t i e . E i n e n w e i t e r e n Z u g a n g z u r technokratischen B e w e g u n g 2 4 b i e t e t der U m s t a n d , daß sich Scotts K r e i s a u f einen angesehenen wissenschaftlichen scheint es sonst n u r noch zu geben: „Technocracy vs (versus) Chaos", 22 S., Chicago 1933; „America prepares for a t u r n i n the road, by Howard Scott, director-in-chief, Technocracy, Inc.", 8 S., New Y o r k 1935, Technocracy Inc.; „The Evolution of Statesmanship. Science and Society", 26 S., New Y o r k 1939, Continental Headquaters Technocracy, Inc. Dazu darf man w o h l i n einem weiteren Sinne den ohne Verfasserangabe erschienenen „Katechismus" der „Technocracy, Incorporation" rechnen: „Technocracy Study Course. A n outline of those elements of science and technology essential to an unterstanding of our social mechanism. A n analysis of the price system. Technocracy's social synthesis. For members of Technocracy, Inc.", X I I I + 291 S., New Y o r k 1940. 22 Stuart Chase, „Technocracy. A n interpretation" (The John Day Pamphlets, 19), 32 S., New Y o r k 1933, The John Day Comp., ist sicher auch zu den technokratischen Gründungsschriften zu rechnen, da Chase ein treuer A n h ä n ger Scotts war. Schröter, „Philosophie der Technik", op. cit., S. 59, hält Chase m i t seinem Buch „Moloch u n d Maschine. Die K u l t u r - und Wirtschaftskrise der Welt. Übersetzung u n d Bearbeitung des amerikanischen Buches ,Men and Machines 4 durch Ing. Eduard A. Pfeiffer", 2. Aufl., Stuttgart 1931, Dieck & Co., für den eigentlichen Vorreiter der Bewegung. Moeller, op. cit., S. 125, skizziert aus größerem zeitlichem Abstand eine etwas ausführlichere Liste von „ V o r läufern". W i r finden auf i h r unter anderem den Oxforder Professor u n d Chemie-Nobelpreisträger Frederick Soddy, „Wealth, V i r t u a l Wealth and Dept. The Solution of the economic paradox", 320 S., London 1926, A l l e n & U n w i n ; als weiteren Engländer Fred Henderson , „Economic Consequences of Power Production", 220 S., London 1931, gleicher Verlag; von den Amerikanern vor allem Henry Ford m i t seinen zahlreichen wirtschaftspolitischen Büchern. Bei den Deutschen weist Moeller neben Bugge alias Philotechnicus (Anm. 8) und Hardensett (Anm. 37) vor allem auf den Schriftsteller Eugen Diesel (einen Sohn von Rudolf Diesel) und den Gründer der Paneuropa-Bewegung, Richard Graf Coudenhove-Kalergi („Revolution durch Technik", 101 S., Wien u n d Leipzig 1932, Paneuropa-Verlag) hin. Manfred Schröter auch hier einzureihen, wie Moeller das tut, dürfte aus unserem Abstand nicht aufrechtzuerhalten sein: dieser Philosoph der Technik hat das Unveränderliche i m Menschen nie so aus dem Blick verloren, wie das bei den Technokraten üblich w a r (und noch ist). 23 W i t h an introduction by Harold Rugg, X I I + 242 S., New Y o r k 1933, Farrar & Rinehart. Von Harold Ordway Rugg stammt auch das i n denselben Zusammenhang gehörende Buch „The great Technology. Social chaos and the public m i n d " , X I V + 308 S., New Y o r k 1933, The John Day Co. 24 I n einen weiteren Umkreis technokratischer „Gründungsliteratur" gehören außerdem: „For and against Technocracy. A Symposium", hrsg. von Justus George Frederick, V I I I + 278 S., New Y o r k 1933, Business Bourse; Frank

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Ahnen berief: den bereits 1929 verstorbenen amerikanischen Soziologen Thorstein Veblen 25 . Nach technokratischer Legende ist dessen Buch „Die Ingenieure und das Preissystem" von 192 1 2 6 die Frucht intensiver Gespräche mit Scott. Die beiden Thesen dieses Buches sind die Denunzierung der Wirtschaftsführer als der eigentlichen Hemmschuhe der technischen und sozialen Entwicklung sowie der kaum verhüllte Aufruf an die Techniker, verantwortlich die Macht i m Staate zu ergreifen. Das sind zwei Thesen, die durch die gesamte technokratische Literatur geistern. Ein weiteres Merkmal dieser Literatur ist ein gewisser Produktionslyrismus 2 7 . Überall stößt man i n diesen Schriften auf die Faszination durch das sprunghafte Ansteigen der technischen Produktionskapazität, etwa i n dieser A r t 2 8 : „Noch vor kurzem b e t r u g . . . die Höchstleistung einer Zigarettenmaschine 500—600 Stück i n der Minute. Die neueste Maschine liefert 2500—2600 in der Minute . . . Noch deutlicher ist ein Beispiel aus der Glühlampenindustrie. A n einer modernen Maschine leistet heute ein Arbeiter in der Stunde so viel wie 1914 i n 9000 Stunden." Sogar zu recht unsinnigen Vergleichen kommt es — etwa dem, daß ein moderner Drucker 19 OOOmal so viel leiste wie ein Handschreiber des Mittelalters. So geht es jeweils über viele Seiten hinweg, und i n diesem Produktionsrausch verschwimmen die Konturen der Ideologie. Immerhin läßt sich erkennen, daß bei Scott zwei Thesen alle anderen dominieren: a) Der Regulationsmechanismus von Angebot und Nachfrage ist für die Wirtschaft hinfällig geworden, weil das Angebot wegen des sprunghaften Ansteigens der Produktionskapazität i n Zukunft notwendig stets größer sein w i r d als die Nachfrage. Arkright, „The A B C of Technocracy, based on authorized material", V I I I + 73 S., New Y o r k u n d London 1933, Harper; Prof. John Lardner u n d Dr. Thomas Sugrue , „The Crowning of Technocracy", illustrated by Mear Lucke, w i t h a forew o r d by Horace Power Ergenjoule, 103 S., Abb., New Y o r k 1933, Laboratory of R. M. McBride & Co.; Henry Mayers , „The what, who, when and how of Technocracy", 31 S., Los Angeles/Calif. 1932, The Angelus Press; Graham A l l a n Laing, „Towards Technocracy", introduction by Charles A. Beard, 100 S., gleicher Verlag 1933. Eine Artikelserie aus der New Y o r k Herald Tribune v o m Dezember 1932 — eine der Serien, welche die technokratische Bewegung zur Weltsensation machten — ist zu einem Buch umgearbeitet worden von A l l e n Raymond , „ W h a t is Technocracy?", V i l i + 180 S., New Y o r k und London, Mac C r a w - H i l l Book Co. 25 Vgl. Joseph Dorfmann , „Thorstein Veblen and his America", New Y o r k 1934. 26 „The Engineers and the Price System", New Y o r k 1921. 27 „ L y r i s m u s " ist auch recht wörtlich zu nehmen. I n der recht uferlosen technokratischen L i t e r a t u r stößt man sogar auf eine Umsetzung des technokratischen Impulses i n — Verse: „ A Technocrat's Dream", w r i t t e n by Roland C. Morris, edited and collaborated by Adele Tyler Teuber, New Y o r k 1933. Ebenso ist es Lyrismus, wenn die Zeitschrift einer Regional-Organisation von Technocracy, Inc. sich „Streamline Age" nennt (Phoenix/Arizona 1937, 3 N u m mern erschienen). 28 Pfeiffer, op. cit., S. 14,16.

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b) Gesellschaftlich ist damit der Aufbau der Gesellschaft als einer Leistungsgemeinschaft, i n der jeder nach seiner Leistung entlöhnt wird, hinfällig geworden. Die Problematik dieser Thesen sei hier nicht untersucht. Es soll nur auf die Zeitgebundenheit dieser Ideologie hingewiesen werden. I n der auf den „Schwarzen Freitag" folgenden Depression schwebt den Anhängern Scotts offensichtlich eine Verteilung des Sozialprodukts nach abstrakten Prinzipien vor. Die A r t der Verteilung w i r d aber — wohl die auffälligste Denklücke i n diesen Schriften — nicht näher beschrieben. Man muß sich m i t Andeutungen begnügen wie der, daß i n absehbarer Zeit die 16Stundenwoche (an einer Stelle w i r d sogar von der 8-Stundenwoche gesprochen) eingeführt werden könne. Es w i r d jedoch nirgends auf die Problematik eingegangen, die aus so viel Freizeit entstehen könnte. Die menschlichen Probleme sind in diesem Produktionslyrismus i n auffälliger Weise ausgespart. Viel wichtiger ist den Technokraten beispielsweise, eine neue Maßeinheit wie das „erg" — als Maßeinheit sowohl für physikalische Energie wie für Arbeit — einzuführen . . . VII. Scotts Thesen 29 sind so naiv, ihre Schwäche liegt so offen zu Tage, daß die von seiner Sekte ausgehenden Fernwirkungen schwer verständlich sind. Diese können nur von den Affekten her verstanden werden, die unter den Thesen mitschwingen. Das Affektgebräu ist das eigentlich Wirksame an dem von Howard Scott ausgestreuten Samen. Dieses Affektgebräu ist nicht leicht aufzuschlüsseln. Rational durchgeführte Behauptungen verlieren ihre Konturen i n dem sie umgebenden irrationalen Kontext. Folgende Dominanten könnten etwa hervorgehoben werden: a) Einen Bestandteil kennt man seit Beginn der Neuzeit: die Überzeugung, daß alles Wirkliche quantitativ meßbar sei, und das damit verbundene Mißtrauen gegen alles, was sich dann doch solcher Messung entzieht. b) Von Veblen übernommen ist die Überzeugung, daß die Männer der kapitalistischen Wirtschaft die eigentlichen Hindernisse auf dem Weg zum Glück der Menschheit seien — aber dies nun nicht mit dem marxistischen Argument der „Ausbeutung", sondern dem technokratischen der „Inkompetenz". 29 I n deutscher Ubersetzung ist von Howard Scott der kurze Text „Technokratie", i n Kraemer. op. cit., S. 87—101, am bekanntesten geworden, der dort von Kraemer als „die einzige authentische Darstellung der technokratischen Lehre aus der Feder ihres Schöpfers" vorgestellt w i r d . I m m e r h i n findet sich ein etwas längerer, ebenso grundsätzlicher Text von Scott i n der Zeitschrift „Technokratie", vgl. Anm. 36.

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c) Parallel dazu läuft, mit dem gleichen Argument, die Polemik gegen die Berufspolitiker und die Ablehnung jeder politischen Ideologie und jeder politischen Partei. d) Das alles überdacht die verbale Ablehnung jeglicher Ideologie überhaupt (was bekanntlich Inhalt so mancher Ideologie ist). Die Kehrseite dazu bildet die Überzeugung, daß der technischen Entwicklung eine Sachgesetzlichkeit innewohnt, die alles zum Besten wende, solange sie nicht durch unsachliche Eingriffe m u t w i l l i g gestört werde. Man sieht: ein Determinismus 30 , neben dem sich etwa die marxistische Ideologie mit ihrem verbalen Kampf gegen die Entfremdung geradezu als subjektivistische Verirrung ausnimmt. e) Die logische Folge davon ist eine modernisierte Elite-Ideologie, welche den Techniker zur einzigen legitimen Figur des Zeitalters zu stempeln sucht. Howard Scotts Sekte ist nicht mehr als eine Kuriosität. Das geschilderte explosive Gemisch von logien jedoch hat — alle zeitgeschichtlich bedingten berechnet — bis heute nichts von seiner Intensität immer noch i n neue soziale Gruppen ein.

geistesgeschichtliche Affekten und IdeoSchwankungen einverloren. Es dringt

VIII. Eine Geschichte der technokratischen Ideologie und ihrer Auswirkungen ist noch zu schreiben. Hier sei nur die zweite Etappe ihrer V i r u lenz — in Frankreich — kurz skizziert. I n den USA bricht die „technokratische" Mode gegen Ende des Winters 1932/33 brüsk ab 31 . Franklin Delano Roosevelt — November 1932 30

Dieser Determinismus n i m m t i n der technokratischen L i t e r a t u r zuweilen groteskkomische Züge an. So etwa i n der Bildlegende, die sich i n E. Pfeiffer, op. cit., S. 13, neben dem Foto der Halle eines Walzwerkes findet: „Das Walzw e r k ohne Menschen. Wie feurige Schlangen schießen die Walzstäbe auf der Walzstraße dahin. K e i n Mensch braucht sie mehr zu führen. Sie kennen selbst ihren Weg u n d wissen i h n zu finden. Menschenleer ist die von Dampf u n d Glut, Zischen und Gepolter erfüllte Halle." Inzwischen (seit 1933) hat der Verfasser w o h l die immense I n f r a s t r u k t u r an Büros u n d Laboratorien kennengelernt, die nötig sind, damit die Walzstäbe ihren Weg finden. 31 Die einzige uns bekannte Quelle, die dem widerspricht, ist der erstaunlich umfangreiche A r t i k e l „Technocracy" i n der „Encyclopedia Canadiana", Bd. 10, Ottawa 1965, S. 29 f. Sein Verfasser C. E. Phillips berichtet nicht n u r von Ortsgruppen, m i t 25 und mehr Mitgliedern, i n einer Großzahl amerikanischer Städte und Orte u m 1933. Er weist auch auf eine Vortragstournee von Howard Scott durch den nordamerikanischen Kontinent i m Jahre 1934 hin, die diesen auch nach Kanada geführt habe. Daraus seien, vor allem i n Westkanada, eine größere Z a h l örtlicher Sektionen entstanden. Die kanadischen Technokraten hätten zu den aktivsten gehört (worauf auch die Erwähnung von drei technokratischen Zeitschriften, 1935/1936 gegründet, schließen läßt). Interessant der Hinweis, daß sich die technokratische Gesamtbewegung („Technocracy, Inc.") gegen den Ein-

Der Weg der „Technokratie" von A m e r i k a nach F r a n k r e i c h 5 9 3 z u m n e u e n P r ä s i d e n t e n g e w ä h l t ; A m t s a n t r i t t M ä r z 1933 — absorbierte m i t seinem R e f o r m p r o g r a m m d i e A u f n a h m e b e r e i t s c h a f t d e r u n t e r der Depression L e i d e n d e n 3 2 . Bezeichnenderweise w i r d berichtet, H o w a r d Scott habe i m M ä r z 1933 K o n k u r s a n m e l d e n m ü s s e n 3 3 . I n d e m v o n der Depression a m h ä r t e s t e n e r f a ß t e n L a n d Europas, i n Deutschland, b r i c h t der I m p u l s ä h n l i c h b r ü s k a b 3 4 . Z w a r k o m m t es i n d e n ersten z w e i J a h r e n des D r i t t e n Reiches, i n d e n e n die konsequente ideologische Gleichschaltung noch v o r a n d e r e m z u r ü c k t r i t t , z u einer k u r z e n „ t e c h n o k r a t i s c h e n " B l ü t e . P a r r i s h s B u c h erscheint, v o n e i n e m I n g e n i e u r übersetzt, m i t d e m V o r w o r t eines d a m a l s b e k a n n t e n u t o p i s t i schen I d e o l o g e n ( H e r m a n n Sörgel) i n e i n e m d e r b e d e u t e n d s t e n V e r l a g e . D a r u m h e r u m sprießt e i n K r a n z landeseigener P r o d u k t e , i n d e n e n das expressionistische Menschheitspathos noch n a c h k l i n g t 3 5 . 1933 w u r d e eine Z e i t s c h r i f t „ T e c h n o k r a t i e " 3 6 g e g r ü n d e t ; p a r a l l e l d a z u l i e f eine „Deutsche t r i t t Nordamerikas i n den Zweiten Weltkrieg gewendet habe. Deshalb sei sie i n Kanada 1940 verboten, 1943 aber wieder zugelassen worden. Phillips gibt zu, daß die Bewegung nach dem K r i e g i m steigenden Wohlstand an W i r k u n g verloren habe. Der aus der Reihe tanzende Bericht scheint von einem Sympathisanten zu stammen. — Die New Y o r k Public L i b r a r y verzeichnet von 1935 bis 1942 22 erschienene Nummern der Zeitschrift „Technocracy, The official Magazine of Technocracy, Inc."; i n ihren Katalogen taucht die „Technocracy, Inc." als Organisation bis i n die 60er Jahre hinein auf. Die uns letztbekannte Schrift dieser Organisation ist „Continentalism: the mandate of survival", 28 S., New Y o r k 1947. 32 Vgl. Henry A l f r e d Porter , „Roosevelt and Technocracy", 73 S., Los Angeles/Calif. 1932, Wetzel Publishing Co. Eine ab Jan. 1933 i n Los Angeles erscheinende Zweimonatsschrift „Technocracy", Technocracy Publishers, nennt sich i m Untertitel sogar ausdrücklich „The Magazine of the New Deal". 33 Kraemer, op. cit., S. 22. Hingegen Naujoks, op. cit., spricht von Anfang A p r i l 1933. 34 Die deutschen Dissertationen von Moeller, op. cit., u n d Hans Malorny, „Technokratie", I V + 67 S., Würzburg 1937, Triltsch (Diss. Breslau 1937), konzentrieren sich auf die ideologische Auseinandersetzung und bringen wenig Historisches. Ob eine Wiener Dissertation von Walter Hoffmann, „Die technokratische Lehre. Versuch der systematischen Darstellung u n d K r i t i k " , w i r k l i c h i m Druck erschienen ist, konnten w i r nicht feststellen. 35 Vgl. die aufschlußreichen Verlagsangaben zu Kraemer, op. cit., i n der Ubersicht über diese L i t e r a t u r i n Anm. 1. 36 „Technokratie. Zeitschrift der Deutschen Technokratischen Gesellschaft e.V.", zweimonatlich, Berlin, Verlag Georg Siemens; Schriftleitung: Reg.- u n d Baurat K a r l Verlohr, ab 1934/2: W. Dreusicke. Die erste Nummer erschien i m September 1933; i m Februar 1936 ging die Zeitschrift i m Industrieblatt auf. Den Zeitumständen gemäß w i r d Gewicht auf „Deutsche Technokratie" gelegt: „ I n diesem Sinne w i l l die deutsche Technokratie auch dem Nationalsozialismus eine getreue Helferin sein" (1933/1). I n Heft 1934/2 w i r d dem Nationalsozialismus eine „Ehrenrettung der E t h i k der Maschine" zugute gehalten. Daneben werden aber Texte der „Technocracy, Inc." abgedruckt, so i n 1933/3 u n d 1934/1 ein längerer Aufsatz von Howard Scott, „ E i n Technokrat erörtert unsere w i r t schaftlichen Verhältnisse." Allerdings liest man i n 1935/1 von Pg. Hans Triebel auch: „Die Deutsche Technokratische Gesellschaft hat i n ihrer wirklichkeitsbeflissenen nationalsozialistischen Orientierung von jeher größte Skepsis gehabt gegen alles, was sich bei der amerikanischen Technokratie bedenklich i n utopistischen Gedankengängen zu verlieren droht." M a n erhält auch Einblick 38 Festschrift für Carl Schmitt

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Technokratische Gesellschaft", Berlin 3 7 . Aber diese Entwicklung w i r d durch die nationalsozialistische Revolution abgestoppt, i n die erst viel später technokratische Elemente eindringen 38 . Burnhams Versuche, die Staaten von Hitler und Stalin in sein System einzubeziehen, gehören zu den am meisten bestrittenen Partien seines Buches. I n Frankreich jedoch kommt es zu einer starken technokratischen Welle, die seither, bei allen Schwankungen, nicht aufgehört hat. Wie i n den USA läßt sich auch hier der Ansatzpunkt genau lokalisieren. Zwar gibt es Vorstufen schon seit etwa 1931; seit damals bildeten sich als A n t wort auf die Weltwirtschaftskrise kleine ideologienstreuende Gruppen, die der Technocracy-Bewegung von Howard Scott zum mindesten i m Stil verwandt sind 39 . Wie jene proklamierten sie die Abwendung von der Politik als das negative Heilmittel und als das positive die Hinwendung zur streng naturwissenschaftlich zu erfassenden Sachgesetzlichkeit der technischen Zivilisation. Hauptrekrutierungsgebiet dieser frühen Gruppen scheint die Schüler- und Dozentschaft der Ecole Polytechnique gewesen zu sein — also derjenigen unter den „Grandes Ecoles", welche seit Napoleon die französische Techniker-Elite heranzüchtet. Der eigentliche Auftakt der technokratischen Bewegung i n Frankreich fällt erst ins Jahr 1934. Er ist markiert durch das Erscheinen einer aufsehenerregenden Broschüre, die nach alter französischer Sitte mit der Fixierung an ein konkretes Datum einen grundsätzlichen Wandel suggerieren will. Sie heißt „Plan du 9 juillet" und erschien mit einem Vorwort des Romanschriftstellers Jules Romains 40 . A n jenem 9. J u l i 1934 i n die zeitgenössischen Vorwürfe gegen die Technokratie. So zitiert 1933/3 von Joseph Drexel (fälschlich: J. Drexler), aus Niekischs Zeitschrift „ W i d e r stand" : die Technokratie setze gegen den „struggle for life" den „struggle for leisure". 37 Der „Große Brockhaus", Bd. 18, 1934, S. 515, nennt neben Verlohr, Woldt, Bugge, Dreusicke als Promotor dieser Gesellschaft auch Heinrich Hardensett, dessen Schrift „Der kapitalistische u n d der technische Mensch", 128 S., München 1932, Verlag R. Oldenbourg, eine „technokratische" Programmschrift vor Bekanntwerden dieses Namens i n Deutschland war. 38 I m Verlauf der Umstellung von der völkisch bestimmten Ideologie der Kampfzeit über die von „Großdeutschland" auf die Ideologie des „Neuen Europa" nach Preisgabe der völkischen Grundsätze. Darüber ist i n der umfangreichen L i t e r a t u r über Nationalsozialismus und Drittes Reich noch k a u m gearbeitet worden. 39 Leider finden sich i n dem grundlegenden französischen Werk über die Technokratie von dem an der Universität Lausanne lehrenden Politologen Jean Meynaud, „ L a Technocratie. Mythe ou Réalité?", 297 S., Paris 1964, Ed. Payot (eine Vorstufe davon: „Technocratie et Politique", 115 S., Lausanne 1960, Selbstverlag), n u r spärliche historische Hinweise — die systematischen Interessen des Professors haben den Vorrang. 40 Coston, op. cit., gibt auf S. 12 ff. eine Aufzählung des beteiligten Personenkreises, u n d zwar m i t ausführlicher Beschreibung des jeweiligen Tätigkeitskreises. Auch sonst ist Costons Buch die bisher an historischem Material reichste Darstellung der Technokratie i n Frankreich. Es ist aber zugleich ein K a m p f buch gegen die Technokraten, was kritischen Abstand unmöglich macht.

Der Weg der „Technokratie" von A m e r i k a nach Frankreich

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hatte eine um Romains gruppierte Equipe von Polytechniciens, Managern, jungen Ministerialbeamten und „Jungtürken" verschiedener politischer Organisationen beschlossen, mit diesem Aufruf zur Umgestaltung Frankreichs an die Öffentlichkeit zu treten. Zwei Unterschiede zu Howard Scotts Bewegung fallen sogleich auf. Der erste ist äußerlicher Natur. Die Vokabel, unter der man sich trifft, ist die des „Plans". M i t dieser Broschüre setzt eine A r t von Plan-Mystik ein, die bis heute für die französische Intelligenz kennzeichnend ist. Das Wort „technocratie" w i r d i n diesen Kreisen zunächst nur zurückhaltend verwendet 4 1 — das Wortspiel „Polytechnocratie" liegt zu nahe. „Technocrates" werden die Vertreter dieser französischen Bewegung erst allmählich von ihren Feinden genannt, und zwar alternierend mit dem bereits genannten Schimpfwort „Synarchistes". Der zweite Unterschied ist wesentlicher. Man spürt sogleich, daß hier keine Außenseiter, keine Sektierer am Werke sind. W i r haben es vielmehr mit einer Elite des Landes zu tun, und zwar nicht nur derjenigen der Technik, sondern auch der Verwaltung 4 2 und sogar der Politik. I n jenen Jahren vollzog sich i n der „Radikalen und Radikalsozialistischen Partei" — also der Partei, die Inbegriff des repräsentativen Parlamentarismus i n Frankreich ist — eine Revolte der jungen Kader 4 3 . Diese „Jeunes Radicaux" oder radikalen „Jungtürken", von denen Pierre Mendès-France später der bekannteste wurde, verfochten gegen den „Immobilismus" ihrer Parteichefs eine Abkehr von den traditionellen Formen der „Politik" (im verächtlichen Sinne gemeint). Wissenschaftliche Erfassung der Sachzwänge der modernen Welt sollte die sogenannten „combinaisons" ersetzen — mit welchen Kombinationen man die von kleinlichen Interessen bestimmte Politik eines bestimmten (karikierten) Parlamentariertyps meinte. Eine partiell anti-politische Haltung prägte also diesen Nachwuchs einer der damals wichtigsten politischen Parteien. Und dieser Nachwuchs wiederum hat die technokratische Bewegung i n Frankreich entscheidend gefärbt 44 . 41 Für das frühe Auftreten des Wortes „Technocratie" i n Frankreich vgl. i m m e r h i n Maurice Druesne, „Les Problèmes économiques et la Technocratie", 124 S., Paris 1933. 42 Kennzeichnend die Definition des „Technocrate" durch den „ G r a n d L a rousse", Bd. 10, Paris 1964, S. 208: „Staatsmann oder Verwaltungsbeamter, der seine A u t o r i t ä t auf Grund ausgiebiger theoretischer Studien der ökonomischen Mechanismen a u s ü b t . . . " — eine Versündigung am Geiste von Veblen und Howard Scott. Übrigens endet die Definition m i t dem Nachsatz: „ . . . doch oft ohne den menschlichen Faktoren genügend Rechnung zu tragen." 43 Vgl. Peter J. Larmour, „The French Radical Party i n the 1930's", Stanford 1964. 44 Nicht zufällig wurde die Ministerpräsidentschaft von Pierre MendèsFrance (Juli 1954—Februar 1955) von dessen Feinden polemisch als Versuch einer Machtergreifung durch die „Technocrates" verketzert.

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Es ist darum auch nicht verwunderlich, daß die Programmatik des „Plans vom 9. J u l i " weniger sektiererisch, dafür konkreter und realistischer als diejenige von Howard Scott ist. Gewiß steht auch hier die Abkehr von den traditionellen Formen der Politik und die Lobpreisung des Technikers i m Vordergrund. Aber i n der Figur des Technikers ist der Verwaltungsfachmann mitgemeint. Und der Staat w i r d nicht negiert wie bei Scott (wo er sich zur Begrenzung des autarken Energiebereichs verdünnt), sondern er soll reformiert werden. Rationalisierung der Verwaltung; Wiederbelebung der vom Pariser Zentralismus verödeten Provinz durch die Schaffung autarker „Regionen"; organische Verbindung von Mutterland und afrikanischen Besitzungen i n einer „eurafrikanischen" Wirtschaftseinheit sind daher sinnvolle Bestandteile der Programmatik. Die technokratischen Affekte, von denen die Rede war, treten hier also nur i n einer gezähmten Form auf — die französische politische Vernunft hat da ihr Werk getan. Die französischen „Technocrates" verfügen über mehr kritischen Abstand zum eigenen Denken und Tun als Howard Scotts Sekte. Sie sind auch psychologisch geschickter. Das, was i m Kern ihrer Vision steckt, w i r d sorgsam verschwiegen: daß nämlich Frankreichs Struktur als eines ausgesprochenen Mittelstands-Landes einschneidend verändert werden müsse, um i h m den Weg i n die Moderne zu öffnen. Ein Programmpunkt weist allerdings deutlich i n Frankreichs damalige politische Zukunft: die Forderung, die Regierung müsse mehr als bloß ein Ausschuß des Parlamentes sein. Die Verstärkung der Exekutive, insbesondere durch stärkere Heranziehung von unpolitischen Fachleuten und Sachverständigen an Stelle von Berufspolitikern — das weist bereits auf de Gaulles Fünfte Republik hin. Das Frankreich von heute ist nicht zu verstehen ohne Einsicht i n die Rolle — und zwar eine recht komplizierte Rolle —, welche i n i h m die Technokraten spielen 45 . Der technokratische Impuls — und die technokratischen Affekte zählen zu den bestimmenden Faktoren unserer Zeit. Der Weg der technokratischen Bewegung von der „Technocracy" (—crazy!) Howard Scotts von 1932/33 zum französischen „Planisme" von 1934 zeigt ungefähr die Spannweite, innerhalb derer jener Impuls, jene Affekte sich auswirken können. Es ist an der Zeit, sich historisch — an Systematik fehlt's nicht — mit diesem Phänomen auseinander zu setzen.

45 Vgl. das K a p i t e l „Die Technokraten werben u m de Gaulle", S. 88 ff. i n A r m i n Möhler, „Die Fünfte Republik", München 1963; dort auch S. 290 ff. eine kritische Bibliographie der umfangreichen L i t e r a t u r von und über die französischen Technokraten. Diese L i t e r a t u r konnte deshalb hier, i m Gegensatz zur amerikanischen u n d deutschen Literatur, weitgehend weggelassen werden.

Die Eigenständigkeit der plenitudo potestatis i n den spanischen Königreichen des Mittelalters Von Alfonso Otero, Santiago de Compostela Das Thema meines Beitrages habe ich mehrfach behandelt 1 . Wenn ich heute wiederum darauf zurückkomme, so vor allem deshalb, weil m i r der mittelalterliche Begriff der plenitudo potestatis i n mancher Hinsicht deutlicher geworden ist, sowohl i n seinem Ursprung wie auch i n den Gründen, die es erklären, daß diese plenitudo und die ihr zugehörige Formel von dem superiorem non recognoscens für die spanischen Königreiche des Mittelalters einen andern Sinn hatte als für die unabhängigen Königreiche auf französischem oder italienischem Boden. Die Formel besagt, daß der König, der keinen Höheren anerkennt, i n seinem Königreich der K a i s e r ist: rex superiorem

non recognoscens est imperator

in

regno suo. Darin erblicken viele Autoren bereits einen Ausdruck moderner staatlicher Souveränität, unter Verkennung der geschichtlichen W i r k lichkeit des Mittelalters und der Besonderheiten der Königreiche der Reconquista — vor allem Leon, Kastilien und Aragonien — sowie des frühmittelalterlichen Königreiches der Westgoten. I n der Kodifikation des kastilianischen Königs Alfons X. (1252—1284), die unter dem Namen Las Partidas oder Siete Partidas bekannt ist, erscheint die Formel mehrmals. Das w i r d unten näher erörtert werden und ist den Rechtshistorikern bekannt. Der berühmte deutsche Romanist Paul Koschaker z. B. erwähnt das in seinem Buch „Europa und das römische Recht" (1947). Aber Koschakers Hinweis ist nur flüchtig und aus zweiter Hand; das Rechtsbuch Alfons X. — eines der größten Dokumente i n der Geschichte des römischen Rechts und seiner Rezeption — scheint er nicht näher zu kennen. Unter Bezugnahme auf die allgemeine Formulierung der Glosse des Baldus sagt er: „Das Prinzip (sc. princeps imperator in regno suo) begegnet auch schon i n den Siete Partidas (1265) Alfons X. von Kastilien." Hierfür zitiert er die Stelle Partidas 2, 1, 5, die w i r unten behandeln werden, nach einem Zitat von Kienast. Der deutsche Romanist setzt voraus, daß das Prinzip vom rex superiorem non recognoscens 1 Sobre la idea de soberaniâ y su reception en Espana, i n dem Sammelband Derecho de gentes y organisation internacional, Bd. I I , Santiago 1957; ferner Sobre la „plenitudo postestatis" y los reinos hispanicos, i n dem Jahrbuch für spanische Rechtsgeschichte (Anuario de Historia del Derecho Espanol), M a d r i d 1964, S. 143—162.

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Otero

durch einen päpstlichen Juristen i n der römischen Kurie formuliert und dann von Kommentatoren und kaiserfeindlichen Legisten benutzt worden sei; doch habe auch schon Alanus zu Beginn des 13. Jh.s mit i h m operiert, wobei Alanus ebenfalls aus zweiter Hand (nach Kempf) zitiert wird. „Woher sie (sc. die Formel rex Franciae est imperator in regno suo) stammt, ist bisher nicht ermittelt 2 ." M i t dem Buch des italienischen Rechtshistorikers Francesco Calasso „ I Glossatori e la Teoria della Sovranità", das den gegenwärtigen Stand des Problems für uns am besten erkennen läßt, werden w i r uns i m folgenden eingehender auseinandersetzen 3. Vorher sei eine Bemerkung zur rechtsund verfassungsgeschichtlichen Methode angebracht. Die geschichtlichen Ereignisse und Zustände folgen aufeinander, aber sie wiederholen sich nicht. Historiker wie Otto von Gierke, S. W. Woolf, Fr. Ercole und auch Calasso zentrieren das geschichtliche Problem der staatlichen Souveränität i n dieser Formel vom rex imperator in regno suo, als hätte diese Formel für das Rechtsbewußtsein ihrer Epoche, also vom 13. zum 15. Jh., den Sinn, dem König alles das zu geben, was man heute unter einer staatlichen Souveränität versteht. Für das mittelalterliche Bewußtsein ist ein solcher Souveränitätsanspruch aber ganz unvollziehbar. Alle mittelalterlichen Ansprüche auf eine plenitudo potestatis sprechen ausdrücklich oder mit stillschweigender, jedoch unbedingter Selbstverständlichkeit nur von der potestas temporalis. Der „superior", der nicht mehr anerkannt wird, ist der superior nur i n temporalibus, z. B. nach feudalem Recht, niemals der superior i n spiritualibus, also niemals der römische Papst. Der Begriff der modernen staatlichen Souveränität ist aus den konfessionellen Bürgerkriegen Europas i m 16. und 17. Jh. entstanden und juristisch zuerst i n dem Werk von Jean Bodin geprägt. Es empfiehlt sich deshalb, vorsichtig zu sein und die Zeit- und Epoche-Gebundenheit der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Vorstellungen und Formeln zu beachten. Für die deutsche Verfassungsgeschichte des 19. Jh.s hat ErnstWolfgang Böckenförde i n einer gut dokumentierten und anschaulichen 2 Koschaker, Paul: Europa und das Römische Recht, München u n d B e r l i n (Biederstein) 1947, S. 77/78; das Zitat der Stelle i n den Partidas I I 1, 5 nach dem Buch von Kienast: Deutschland u n d Frankreich i n der Kaiserzeit, 1943, S. 108. Eine spanische Übersetzung von Koschakers Buch durch José Santa Cruz Tei jeiro m i t einem V o r w o r t von M a x Käser ist 1953 i n M a d r i d erschienen. — Neben dem hier behandelten Buch von Calasso wäre f ü r das allgemeine Thema noch zu nennen Onery, Sergio Mocchi: Fonti canonistiche dell'idea moderna dello stato (Imperium spirituale — iurisdictio divisa — sovranità) i n den Pubblicazioni dell'Università Cattolica del Sacro Cuore, Nuova Seria voi. 38, Mailand 1951; dazu die Besprechung von H. Barion i n der ZSavRG, Kan. A b t . 38,1952. 3 Calasso, Francesco (von der Universität Rom): I Glossatori e la Teoria della Sovranità, Studio d i d i r i t t o comune publico. 3. Aufl., Milano (Giuffrè) 1957.

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Darlegung 4 gezeigt, wie die deutschen Rechtshistoriker die Begriffe und Vorstellungen ihrer Gegenwart i n die frühgermanische Zeit hineinprojiziert haben. Der Rechtshistoriker darf heute davon ausgehen, daß Term i n i wie Staat, Souveränität, Staatgebiet und Staatsbürger einer Erkenntnis der konkreten mittelalterlichen Wirklichkeit i m Wege stehn und sie i n oft grotesken Anachronismen verfehlen. Der moderne Staat und seine Souveränität ist aus der Krisensituation konfessioneller Bürgerkriege hervorgegangen. W i r bewegen uns hier i n den Gedankengängen von Carl Schmitt und seiner Definition der Souveränität, die er als Entscheidung über den Ausnahmezustand erkannt hat. Die aus einer Krisis der mittelalterlichen potestas spiritualis hervorgegangene, modern-staatliche Souveränität hat mit der mittelalterlichen plenitudo potestatis temporalis konkret-geschichtlich nichts mehr zu tun. Das ist für die politische Wirklichkeit der spanischen Königreiche des Mittelalters von entscheidender Bedeutung. Die kritische Situation konfessioneller Bürgerkriege hat es i n den Königreichen der Reconquista niemals gegeben, während die politische Entwicklung i n Deutschland, Frankreich und England nur daraus zu verstehen ist, daß der Fürst, auf dem Wege über die Ausübung des jus reformandi, sich einer potestas spiritualis bemächtigte, auch dann, wenn — wie i n Frankreich — die römisch-katholische Kirche Staatskirche wurde. Man muß sich also stets vor Augen halten, daß es bei der mittelalterlichen plenitudo potestatis nur um die von einer starken plenitudo spiritualis überhöhte plenitudo temporalis geht und daß i m westlichen Europa drei Figuren i m Spiele sind: der römische Papst als der unbestrittene Inhaber der vollen plenitudo potestatis spiritualis, der römische Kaiser eines erneuerten römischen Imperiums mit unaufhörlichen Konflikten zwischen Kaiser und Papst und mit einem seit Friedrich Barbarossa förmlich erhobenen Anspruch auf ein Sacrum Imperium, und schließlich drittens die vom römischen Kaiser sich emanzipierenden reges superiorem non recognoscentes. Die Königreiche des Mittelalters, die auf spanischem Boden entstanden, wie Kastilien, Leon und Aragonien, bedurften keiner Emanzipation von einer potestas temporalis. Sie haben — von 4 Böckenförde, Ernst-Wolf gang : Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung i m 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen u n d Leitbilder, Schriften zur Verfassungsgeschichte Bd. 1, B e r l i n (Duncker & Humblot) 1961; vgl. bes. die i m Sachregister angegebenen Stellen zu den Stichworten: Staat u n d Staatsbegriff, Staatsbürgergesellschaft u n d Verfassung. Außerdem Böckenförde, Ernst-Wolf gang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkulärisation, i n : Ebracher Studien, Ernst Forsthoff zum 65. Geburtstag, Stuttgart (W. Kohlhammer Verlag) 1967, S. 75—94. F ü r die spanische Rechtsgeschichte wäre i n diesem Zusammenhang das rechts- u n d verfassungshistorische Werk von Francisco Martinez Marino von besonderem Interesse (Teoria de las Cortes 1820); der Kanonikus Martinez Marino nennt sich auf dem T i t e l blatt seines verfassungsgeschichtlichen Werkes el ciudadans Don Francisco, also: citoyen.

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zufälligen feudal-rechtlichen Bindungen abgesehen — von Anfang an keinen superior in temporalibus anerkannt. Was die potestas spiritualis angeht, so war zur Zeit des westgotischen Königreiches (von 476—711) die päpstliche potestas spiritualis noch nicht so entwickelt wie seit dem Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst (1057—1122), und in der Zeit der Reconquista und der Repoblación (vom 11. bis zum Ende des 15. Jh.s) war die Rückeroberung und Rückbevölkerung spanischen Bodens gegenüber der potestas spiritualis einwandfrei als Kreuzzug gegen die Mauren legitimiert und anerkannt. Es gibt i m Mittelalter einige Fälle eines besonderen „spanischen Kaisertums", aus denen sich die Unvergleichbarkeit ergibt. Ich möchte hier nicht näher darauf eingehen und mir weitere Ausführungen dazu nur für den Fall vorbehalten, daß die Diskussion sich auf diesen Punkt verlagern sollte. Die mittelalterlichen Erscheinungsformen eines spanischen „Imperiums" sind untereinander sehr verschieden. Garcia Gallo behandelt in seinem Aufsatz von 19535 sechs Fälle: das erste Imperium von Leon, die Imperien Ferdinands I, Sanchos II, Alfons' VI. (1085), das Imperium Alfons' V I I . (1135), in welchem Garcia Gallo eine gewisse Analogie zu der Krönung Karls des Großen und der Doppelrolle von Kaisertum und Königtum findet, und schließlich die Krisis des Kaisergedankens unter Alfons X., dem nach dem Tode Friedrichs II. von Hohenstaufen während des Interregnums (1257) die Kaiserkrone angeboten wurde, der sich aber, wie Garcia Gallo sagt, nicht i n die Netze (las redes) des papstfeindlichen germanischen Kaisertums hineinziehen ließ 6 . Der gefährlichste Moment i n diesem ganzen halben Jahrhundert war vielleicht das Jahr 1085, als Alfons VI. (1072—1109) „Kaiser beider Religionen", nämlich des Christentums und des Islam sein wollte, eine Gefahr, die bereits 1086 überwunden war, nachdem das Konzil von Burgos die untrennbare Einheit Spaniens mit der Kirche von Rom besiegelt hatte. Wieweit die Rezeption römischen Rechts durch ein kodifiziertes Rechtsbuch wie die „Partidas" und die Pflege des römischen Rechts an den Universitäten — Palencia 1212, Salamanca 1215 — den Keim eines imperialen Anspruchs i n sich barg, brauchen w i r hier nicht weiter zu vertiefen. I n zwei Epochen der spanischen Geschichte, i n den Königreichen des 12. und 13. Jh.s und i m westgotischen Königreich seit dem Ende des west5 Gallo, Carcia: E l Imperio medieval espanol, i n der Sammlung Historia de Espana o Estudios Publicados en la Revista Arbor, M a d r i d 1953, S. 103—143. Das Thema erfreut sich des besonderen Interesses deutscher Historiker, von denen Garcia Gallo Hüffer, Ernst Mayer, Stengel u n d P. E. Schramm heranzieht. β Bei der W a h l u n d der K r ö n u n g Rudolfs von Habsburg (1273) durch die deutschen Fürsten und bei den anschließenden Approbationsverhandlungen m i t Papst Gregor X . blieben die Ansprüche Alfons X . ganz außer acht.

D i e Eigenständigkeit der plenituido potestatis

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römischen Imperiums (476), ist die Eigenart der Rechtsgrundlage mittelalterlich-spanischer plenitudo potestatis am deutlichsten zutage getreten. I n beiden Fällen erklärt sich die Besonderheit schließlich aus der A r t und Weise der Niederlassung der Westgoten auf dem Boden der römischen Provinzen Hispanien und Gallien und aus den Besonderheiten ihrer Landnahme und Landteilung. Die Formel in der Darstellung Calasso's Calasso bemerkt i n seiner Untersuchung über den Ursprung der allg e m e i n e n F o r m e l Rex superiorem

non recognoscens in Regno suo est

Imperator, daß dieser Grundsatz i n der zweiten Hälfte des 13. Jh.s m i t einer Emanzipationstendenz der ältesten Monarchien des römisch-christlichen Europa verbunden war und sich nicht nur zugunsten der französischen und der sizilianischen Monarchie, sondern auch zugunsten des „Königreichs Spanien" auswirkte, wo die „Partidas" Alfons des Weisen das Prinzip i n ihre Kodifikation aufnahmen (I Glossatori, a. a. Ο., p. 37). Die Ausdrucksweise „Königreich Spanien" ist offensichtlich ungenau, obwohl sie der Ausdrucksweise der Glossatoren entspricht. I m übrigen hat Calasso weder seine Vorstellungen von den spanischen Königreichen der Reconquista noch seine Ansicht von der Rechtsnatur der „Partidas" irgendwo dokumentarisch unterbaut. Die Frage ist, ob der König von Kastilien sich auf die Formel beruft, um die volle Jurisdiktion i n seinem Königreich Kastilien gegenüber dem Kaiser zu rechtfertigen, oder aber, i m Gegenteil, ob er die Formel i n sein Rechtsbuch, die Partidas, aufnahm, weil ihm eine geläufige Wendung gegenüber innerpolitischen Konkurrenten bei der Gesetzgebung oder auch für den didaktischen Zweck seines Rechtsbuches willkommen war. W i r müssen also die wiederholten Zitierungen der Formel näher untersuchen. Der erbitterte Streit der Gelehrten um die Heimat der Formel — Frankreich oder Süditalien — verliert dadurch für Spanien an Bedeutung. Der italienische Rechtshistoriker Francesco Ercole hatte, von den Ergebnissen Woolfs ausgehend, Frankreich für das Ursprungsland der Formel gehalten und i n den Schriften des burgundischen Juristen Jean Blanot (Johannes Blanosco, um 1255) sowie i m „Speculum iudiciale" des Wilhelm Durantis (zwischen 1272 und 1278) ihre ersten publizistischen Bekundungen gesehen. Nach Ercole konnte die Formel nur unter den politischen Bedingungen, wie sie i n der zweiten Hälfte des 13. Jh.s i n Frankreich gegeben waren, überhaupt erst konzipiert werden 7 . Calasso 7 Ercole, Francesco: Da Bartolo all'Althusio, Saggi sulla Storia del Pensiero pubblicistico del Rinascimento Italiano (in der Reihe Collana Storica, Vallecchi Editore), Florenz 1932.

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dagegen meint, daß nur die politische Situation des Königreichs Sizilien gegen Ende des 13. Jh.s reif für die Formel war. Dafür beruft er sich auf das Prooemium, das der süditalienische Jurist Marino da Caramanico seinem Buch über die Constitutionen Friedrichs II. von Hohenstaufen für das Königreich Sizilien vorausgeschickt (etwa 1280, i n den letzten Jahren der Regierung K a r l II. von Anjou), sowie auf spätere Schriften. Calasso erklärt die These vom französischen Ursprung der Formel für unhaltbar, auch wegen anderer Texte, insbesondere einer Glosse von Alanus (I Glossatori S. 23 und 31 ff.). I n der S t r u k t u r der F o r m e l rex superiorem

non recognoscens in regno

suo est imperator erkennt und unterscheidet Calasso zwei Elemente: ein negatives, die Exemtion, die Nicht-Anerkennung eines Höheren von Seiten der unabhängigen Könige, und ein positives, die Zubilligung der vollen potestas, die der Kaiser in der Welt ausübte, an jeden dieser Könige i n seinem Königreich. Das sind für Calasso die elementaren Prinzipien der Souveränität und die ersten, noch weit zurückliegenden Ursprünge einer Idee, nämlich der Souveränität, die zeitlich viel später und als Frucht anderer Situationen entstanden ist. Aber die Formel ist die erste, i n der die beiden Elemente sich harmonisch verbinden, trotz des verschiedenen Ursprungs. Jeder unabhängige König diskutierte und demonstrierte seine Unabhängigkeit vom Kaiser mit besonderen Argumenten. So wurde die exemptio ab Imperio des Königs von Frankreich auf die Dekretale Innocenz III. Per venerabilem (1202) gegründet, während die exemptio des Königs von Sizilien mit der Excomunikation Friedrichs II. von Hohenstaufen (1245) gerechtfertigt wurde. Daraus ist zu entnehmen, daß die Inanspruchnahme der Unabhängigkeit vom Imperium nicht als theoretisches Prinzip entstanden ist, sondern als eine politische Erklärung. Dagegen ist der positive Bestandteil, die Zuerkennung der plenitudo potestatis, eine Frucht doktrinärer Erwägungen, eine Errungenschaft juristischen Denkens, langsam i n ihrer Durchsetzung, aber von dauernder Wirkung, wenn sie einmal rezipiert ist. Man kann die Geschichte der Formel als die theoretische Entwicklung der Behauptung einer Unabhängigkeit vom Kaiser konstruieren; die Dekretale Innozenz I I I . hatte dafür eine autoritative Basis geboten 8 . Aber trotz allem genügte das dem König von Frankreich nicht für seine politischen Ziele und Zwecke. Denn die Dekretale ließ i m Unklaren, ob die Unabhängigkeit de jure oder nur de facto anerkannt war und ob das eine Anerkennung der plenitudo potestatis implizierte, die ein Merkmal der Potestas des Kaisers war. Calasso nimmt an, daß das traditionelle Ver8 Liber E x t r a 4, 17,13, Calasso folgt der i n Deutschland üblichen Zitierweise: 13 X 4,17 Per venerabilem.

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hältnis zwischen den beiden Elementen der Formel sich geändert hat und daß die positive Zuerkennung aller kaiserlichen Rechte und Befugnisse an den unabhängigen König theoretisch vor der Erklärung der Unabhängigkeit vom Kaiser erfolgte. Solche Unabhängigkeitserklärungen begegnen uns i n der juristischen Literatur seit dem 13. Jh., gestützt auf die Dekretale Per venerabilem. Dabei hat die Gewohnheit, den konkreten Inhalt dieser Dekretale beiseite zu lassen, viel dazu beigetragen, es von seinen wirklichen geschichtlichen Grundlagen zu isolieren. Es muß hervorgehoben werden, daß die Bezugnahme auf den König von Frankreich in dieser Dekretale nur incidenter geschieht. Der Papst wendet sich an einen Vasallen, an den Feudalherrn von Montpellier, der u m die Legitimation seiner natürlichen Kinder bittet und eine Legitimation, die derselbe Papst den natürlichen Kindern des französischen Königs gewährt hatte, als Präzedenzfall zur Begründung seiner Bitte anführt. Der Papst erledigt die Berufung auf den angeblichen Präzedenzfall mit folgenden Worten: Insuper cum rex ipse superiorem in tempo ralibus minime recognoscat, sine juris alterius laesione, i n eo se subjicere p o t u i t . . . tu autem nosceris aliis subjacere. Der Papst verweist also auf den Unterschied der Rechtslage des Vasallen, des Grafen von Montpellier, und der des französischen Königs; der Vasall ist lehnsrechtlich untergeordnet; er hat einen lehnsrechtlichen superior , nämlich den König von Frankreich; dieser König dagegen hat keinen solchen superior. Der Papst w i l l hervorheben, daß das Königreich kein feudum ist, sondern freies, souveränes Allod, alleux souverain. Indem Innozenz III. bestätigte, daß der König von Frankreich keine Höheren anerkennt, insistierte er nicht auf dem Begriff einer absoluten Unabhängigkeit vom Kaiser; er bezog sich nur auf ein Problem, i n welchem sich die Summe der Machtbefugnisse, die jurisdictio spiegelt, die dem König als einem superiorem non recognoscens zukam. Deshalb betont der Papst, er habe der Bitte des Königs von Frankreich nur gnadenhalber entsprochen; er sagt ausdrücklich, daß es sich bei der Legitimation unehelicher Kinder um die Ausübung einer jurisdictio temporalis handle, die ihm, dem Papst, nur incidenter und ausnahmsweise und nur unbeschadet aller Rechte Dritter zustehe. Trotzdem entwickelte sich der Gedanke Innozenz I I I . durch die Umstände zu einer vorbehaltlosen Inanspruchnahme der päpstlichen Suprematie und schuf die Grundlage für eine Entwicklung von Ideen, die das 13. Jh. erfüllten. Die Dekretale Innozenz I I I . verlor ihre konkrete Individualität und wurde zu irgendeinem Fragment i m kanonischen System, als sie von ihrem Ursprungsboden getrennt und i n die gregorianische Kodifikation übertragen wurde, wo sie i n dem Buch von der Ehe unter der Rubrik „Legitimation von Kindern" ihren Platz fand. Aber das Einsprengsel von

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der „Nicht-Anerkennung eines Höheren" durch den König von Frankreich erregte schnell die Aufmerksamkeit der Juristen und erlebte dann, vom Text getrennt, seine eigene, dem Inhalt der Dekretale völlig fremde Geschichte. Der Umstand, daß eine solche incidenter gemachte Bemerkung einer päpstlichen Dekretale i n solchem Maße die Aufmerksamkeit der Juristen auf sich lenken konnte, ist ein deutliches Symptom dafür, daß hier ein akutes Problem berührt worden war. Doch darf man nicht vergessen, daß die Kanonistik den Worten des Papstes eine ernste Einschränkung anf ü g t e d u r c h d e n Z u s a t z : de facto; de jure tarnen subest Romano

Imperio.

A u f diese Weise wurde eine interessante Unterscheidung geschaffen, die auf den politischen Moment ihrer Formulierung ein helles Licht wirft. Man zitierte bei diesem Anlaß den Kanon in Apibus des Decretum, Causa 7, 9. 1, c. 41, der die Notwendigkeit des unus imperator bekräftigt, und einen anderen Dekretale Innozenz III, 1, 6, 34, i n dem von der Wahl des Kaisers die Hede ist und dem Recht des Papstes, die Fähigkeit und Geeignetheit des Gewählten zu prüfen. Aus dem ersten dieser beiden Texte folgert die Glosse den Grundsatz, daß der Kaiser alle Könige kröne, und auf der Basis des zweiten wurde der Begriff des Kaisers dahin konkretisiert, daß er die Welt i m Auftrage des Papstes regiere. Die Frage der Beziehungen zwischen den particulären Ordnungen und dem universalen Imperium beschäftigte die Juristen. Das hatte starke Auswirkungen in das Gemeine Recht hinein. Die Texte Huguccios und Sinibaldos de Fieschi konnten i n die kanonistische Strömung einmünden, die sämtliche juristisch-politische Ordnungen dem Papst und — i m Zuge dieser Tendenz — auch dem Kaiser unterordnete. Auf diese Weise entstand die hierokratische Lehre, die von der kanonistischen Wissenschaft des 13. Jh.s weiter ausgearbeitet wurde 9 . Die ratio pontificis, auf die sich Huguccio, der Lehrer Innozenz III., als Rechtstitel für die Unterwerfung unter den Kaiser berief, steht i n starkem Gegensatz zu der ratio Imperii, die von der Zivilrechtswissenschaft auf der Grundlage der akkursischen Glosse verteidigt wurde; sie richtete sich gegen die Franzosen und andere „Ultramontane", die jede Bindung an das Imperium ablehnten und infolgedessen auch die Unterwerfung unter das römische Recht verneinten. Trotz dieser Verschiedenheit trafen sich die beiden Thesen — die kanonistische und die römisch-rechtliche — i n der Verteidigung des Dogmas vom Imperium. 9

Die Entwicklung der hierokratischen Praxis u n d Lehre des Mittelalters ist Gegenstand einer Meinungsverschiedenheit zwischen Walter Ulimann (The g r o w t h of papal government i n the Middle Ages, London 1955) u n d F. Kempf S. J. (in den Saggi storici intorno al Papato della Facultà d i Storia Ecclesiastica, Rom 1959); darüber der meisterhafte Bericht i n der Savigny-Zeitschrift, 77. Bd., Kanonist. Abt. X L V I (1960), S. 481—501.

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Ein berühmter Text des Kanonisten Alanus (Et quod dictum est de imperatore dictum habeatur de quolibet rege vel principe qui n u l l i subest. Unusquisque enim tantum iuris habet i n regno suo quantum imperator i n Imperio) bezieht sich zweifellos auf einen originären Charakter der plenitudo potestatis, die jedem rex vel princeps qui nulli subest zustehen soll. Das setzt voraus, daß der Autor den Grundsatz zum jus gentium rechnet. Aus den Notwendigkeiten und Bedürfnissen der menschlichen Natur entspringt die Vielzahl der Königreiche, welche die Einheit des römischen Imperiums zerbricht. Die partikulären Ordnungen sind nach Alanus aber nicht aus dem Zusammenbruch des Imperium Romanum entstanden, denn dieses ist eine göttliche Schöpfung und demnach, nach mittelalterlicher Vorstellung, ewig. Die Vielheit bleibt i m Bereich jener Einheit, und zwar kraft eines neuen jus gentium. Die beständige Bezugnahme auf den Kaiser beweist, daß das Imperium immer weiter besteht und herrscht. Der Text des Alanus ist der Kommentar zu einem Dekretale Alexanders III., aus dem er hervorgeht, um die Frage zu stellen, ob der Kaiser seine weltliche Macht vom Papst ableitet; die A n sicht, der Kaiser leite seine Macht von seinen Wählern ab, weist Alanus zurück, aber nur um zu bekräftigen, daß alle weltliche Macht vom Papst abgeleitet ist, weil Christus seinem Stellvertreter beide Gewalten, die geistliche und die weltliche, übertragen habe. I n diesen Grundsätzen und Doktrinen spiegelt sich die Umwelt des europäischen 12. und 13. Jh.s, während die Umrisse der nationalen politischen Einheit sich i m Bereich der römisch-christlichen Welt-Ordnung bereits abzeichneten. Man pflegt immer wieder darauf hinzuweisen, daß es sich dabei um die natürliche Entwicklung alter Grundsätze und neuer politischer Vorstellungen handelte, die allerdings i n jedem Land, gemäß den verschiedenen Traditionen und politischen Zielen ihr eigenes Leben führten, was ein Beweis der Spontaneität dieser Entwicklung zu sein scheint. Diese Darstellung dringt nicht zu den Ursachen vor, die den Begriff der plenitudo potestatis, also eine politische, i n einer Krisensituation entstandene Formulierung bestimmen. Man müßte einen Schritt weiter zurückgehen, um den der Formel vorangehenden Moment zu verstehen. Dann zeigt sich, daß die übliche Darstellung zwar die damals entstehenden europäischen Nationen beachtet, aber auf keinen Fall die christlichen Königreiche der iberischen Halbinsel. Deren politische Lage war von Frankreich oder Italien völlig verschieden, sowohl hinsichtlich der i n ihnen herrschenden Traditionen wie auch der i m 12. Jh. neuentstehenden Situationen. Die christlichen Königreiche der iberischen Halbinsel erlebten damals einen jener typischen Momente ihrer Entfernung von Europa und seinen Problemen, wie sie ihn schon früher einmal i n der westgotischen Zeit erlebt hatten.

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Das alte Prinzip, die traditionale Legitimitätsvorstellung, die i n dem Spanien dieser Epoche w i r k s a m war, lag ausschließlich i n der Ableitung aus der westgotischen Monarchie, als deren Erben die Könige der Reconquista sich betrachteten. W i r werden noch sehen, daß die westgotische Monarchie ihre plenitudo potestatis praktisch vollkommen ausgebildet und gerechtfertigt hatte. Die neu hinzukommenden Situationen waren durch die Präsenz des Islam u n d Rückeroberung und Rückbevölkerung des Bodens der Halbinsel bestimmt. Erbe und Eroberung waren die beiden bewegenden Prinzipien i n den Königreichen der Reconquista. Die bloße Tatsache, daß eine eigene A r t spanischen Kaisertums auftreten konnte, beweist die Entfernung vom übrigen Europa und die geringe E i n w i r k u n g der Idee eines universalen römischen Kaisertums. Statt dessen sah man i n der Herkunft von der westgotischen Monarchie die eigentliche Legitimitätsgrundlage. Das ist auch nicht verwunderlich, denn das westgotische Königreich hatte sich eine eigene politische Persönlichkeit geschaffen, unabhängig vom damaligen römischen I m p e r i u m und seiner Idee, und hatte das gerade gegenüber dem oströmischen Imperium und gegenüber den Franken durchgesetzt. M a n darf also nicht, wie Calasso, meinen, die Gleichheit des politischen ambiente hätte i n den spanischen Königreichen eine ähnliche Bewegung hervorgerufen wie bei den europäischen Nationen, die aus dem Zerfall der Einheit des mittelalterlichen Imperiums entstanden und aus diesem Grunde die i n Italien ausgearbeiteten Prinzipien rezipierten. Das Fehlen eines solchen gleichen oder ähnlichen ambiente w i r d durch das Schweigen der spanischen Quellen bestätigt, und dieses Schweigen erklärt sich daraus, daß die fundamentale Voraussetzung, nämlich die Notwendigkeit einer Emanzipation von dem mittelalterlichen Imperium, i n den spanischen Königreichen entfiel. Es gibt aber einige Ausnahmen von diesem Schweigen der Quellen. E i n Reflex der auf dem Boden der Kanonistik entstandenen Lehren von der plenitudo potestatis findet sich i n dem „Partidas", dem Rechtsbuch Alfons X . Es handelt sich dabei, wie w i r gleich sehen werden, u m eine bloße incidenter-Rezeption. Die Formel in dem Rechtsbuch Alfons X . (Partidas und Especulo) Der K ö n i g Alfons X . von Kastilien, der den Beinamen E l Sabio, der Weise, führt, hat sich bemüht, das chaotische Neben- und Durcheinander der vielen lokalen und regionalen Satzungen und Gewohnheiten seines Landes zu ordnen und die Aufzeichnungen der zahlreichen großen und kleinen sog. Fueros zu vereinheitlichen. Er hat diesen lokalen und regionalen Rechtssammlungen ein Fuero Real entgegengesetzt. Außerdem aber ließ er ein Buch verfassen, den Libro del Fuero, eine gemeinrechtliche Kodifikation, i n die römisches und kanonisches Recht zu einem Ge-

D i e Eigenständigkeit der plenitudo potestatis

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samtwerk i n mehreren Teilen (daher der Name „Partidas") systematisch verarbeitet war. Daraus wurden später (zu Beginn des 14. Jh.s) die Siete Partidas (die sieben Teile oder Bücher), die bis zur Einführung des spanischen Codigo Civil von 1889 als subsidiäres gemeines Recht galten. Die Kodifikation Alfons X . entstand i n den Jahren 1256—62. Sie ist i n der Landessprache, also kastilianisch geschrieben, obwohl die Juristensprache noch Jahrhunderte hindurch lateinisch blieb. Zu ihr gehört auch ein Rechtsspiegel, ein Espéculo, ebenfalls i n kastilianischer Sprache, dessen exaktes Verhältnis zu den Partidas nicht recht klar ist. Nach A. Garcia Gallo ist der Espéculo nicht etwa nur eine unverbindliche Vorarbeit oder ein bloßer Entwurf, sondern die erste Redaktion der Partidas selbst, die später, nach dem Tode Alfons X., noch mehrfach umgearbeitet wurden 1 0 . Wir haben es hier mit einer Kodifikation zu tun, die ein Buch, und zwar ein Rechtsbuch sein will, i n dem eminenten Sinne des Wortes Buch, wie ihn das Corpus juris Justinians verkörpert, und zugleich ein Spiegel i m Sinne des Mittelalters, der aber nicht, wie der Sachsenspiegel und die von ihm beeinflußten folgenden Spiegel i n dem Deutschland des 13. Jh.s, nationales oder Stammesrecht wiedergibt, sondern universales, allgemein vernünftiges Recht spiegelt. Beide, Spiegel und Partidas, wollen nicht nur die chaotische Kasuistik der bisherigen Aufzeichnungen praktisch beheben, sie arbeiten vielmehr m i t rechtswissenschaftlichem Bewußtsein und unterscheiden die verschiedenen Rechtsquellen: Präzedenzfälle, Gewohnheit und „die Rechte", d. h. die beiden Rechte, das jus utrumque, römisches und kanonisches Recht, wozu i m Espéculo als drittes noch das „Recht der spanischen Gesetze, die die Goten machten", hinzukommt. Die rechtswissenschaftliche Bewußtheit verbindet sich mit einer lehrhaften, didaktischen Tendenz, nach A r t eines offiziellen Lehrbuches und autoritärer „Institutionen" i m Sinne Justinians. Eine der Stellen i n dem Partidas, die unsere Formel zitieren, findet sich i m 2. Buch (Partidas 2, 1, 5). Sie ist kurz und antwortet auf die Frage: Was ist der König? Die Antwort lautet: „Stellvertreter Gottes sind die Könige, jeder i n seinem Königreich, gesetzt über die Völker für das Zeitliche (quanto a lo temporal), aber insoweit gesetzt, um die Völker i n Gerechtigkeit und Wahrheit zu erhalten, so wie der Kaiser i n seinem Imperium." Diese Stelle ist inhaltlich klar und bedarf nach unsern obigen Darlegungen keines weiteren Kommentars für ihren Text, der die bekannte Formel wiederholt. Es handelt sich, wie man ohne weiteres sieht, nur um eine doktrinäre Verzierung. 10 Gallo, Alfonso Garcia: E l L i b r o de las Leyes de Alfonso E l Sabio; del Espéculo a las Partidas, i n dem Jahrbuch für Spanische Rechtsgeschichte, Anuario de Historia del Derecho Espanol, Bd. 21/22, M a d r i d 1951/52, p. 345—528.

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Von der anderen Stelle findet sich eine Version i m Espéculo 1, 1, 13, die andere i m ersten Buch der Partidas (1, 1, 15). Beide Versionen sollen beweisen, daß die kastilischen Könige befugt sind, Gesetze zu erlassen; ihre Befugnis ergibt sich erstens aus der Vernunft (por razon) mit der Begründung, daß Könige, die ihr Reich durch Wahl erhalten haben, Gesetze machen können, um so mehr also solche, die es nach Erbrecht erhalten haben; zweitens aus Vorgängen und Präzedenzfällen (por fazanas), weil auch Grafen, Richter und Adelantados, die einen Höheren über sich hatten, Recht setzen konnten, erst recht also ein König, der von Gottes Gnaden ist und i m Zeitlichen (en el temporal) keinen Höheren über sich hat. Bis dahin stimmen die beiden Stellen i m wesentlichen überein. Die Stelle i m Espéculo nennt aber — nach por razon und por fazanas — noch einen dritten Grund: por derecho, und meint mit diesen drei derechos, wie gesagt, das Römische Recht und das Recht der heiligen beiden leyes romanas, das Römische Recht und das Recht der heiligen Kirche, el derecho de santa eglesia, das Kanonische Recht, nennt aber drittens noch die spanischen Gesetze, die die Goten machten, las leyes despana que fezieron los Godos, nach welchem die Kaiser und Könige Gesetze machen, erweitern, vermindern und ändern können. U m dem Leser unseres Aufsatzes eine Übersicht zu geben und ihm die Kontrolle zu erleichtern, geben w i r auf der nebenstehenden Seite die beiden Texte des Espéculo und der Partidas auf einer besonderen Seite synoptisch wieder. Der Espéculo ist nach der bisher einzigen Edition (der Königlichen Akademie der Geschichte i n Madrid) von 1836 zitiert; der Text der Partidas nach der Ausgabe derselben Akademie von 1807; i n der Edition von Gregorio Lopez und i n andern Manuskripten fehlt dieser Text der Partidas 1,1,15. Die Partidas, zu denen w i r hier auch den Espéculo rechnen, waren der einzige Text der ganzen Zeit, i n dem solche von einer ausländischen Doktrin ausgearbeitete Prinzipien einen Platz finden konnten. W i r brauchen uns also nicht darüber zu verwundern, daß sie gerade hier und nicht i n andern zeitgenössischen Texten erscheinen. Ebensowenig darf man die Tatsache ihrer Aufnahme i n die Texte der Partidas überschätzen und den didaktischen Charakter des alfonsischen Rechtsbuches außer acht lassen, dessen Redaktoren viele anachronistische Äußerungen bewußt i n ihren Text aufgenommen haben. Der König von Kastilien beruft sich für sein Rechtsbuch wiederholt auf die Rechtsstellung seines Königs, superiorem non recognoscens, nicht um gegenüber einem Höheren seine volle, freie Rechtsetzungsgewalt zu begründen, denn für ihn war sie wohlbegründet und wohlerworben, nämlich durch Erbfolge, durch Ableitung aus der westgotischen Monarchie. Das war, wie der Text zeigt, ein höherer Rechtstitel als bloßer Besitz der Macht, Auftrag oder Wahl. Die Berufung auf das Fehlen eines superior, die Voraussetzung der

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plenitudo potestatis, erscheint als p r a k t i s c h e R e c h t f e r t i g u n g gegenüber d e m eigenen V o l k . Das i s t begreiflich, w e n n m a n d i e w e c h s e l v o l l e G e schichte der „ G e l t u n g " d e r Siete P a r t i d a s u n d a n d i e S c h w i e r i g k e i t e n des Versuches einer R e c h t s v e r e i n h e i t l i c h u n g i n d e r d a m a l i g e n Z e i t d e n k t . Vergleichende Ü b e r s i c h t ü b e r z w e i S t e l l e n des Espéculo u n d der P a r t i das, i n denen die F o r m e l v o m superior in temporalibus erscheint: Espéculo 1,1,16:

Partidas 1,1,18:

Por esta ley se prueva corno el rey don Alfonso puede facer leyes e las pueden facer sus herederos. — Por facer entender a los omes desentendudos que nos el sobredicho rey don Alfonso avemos poder de facer estas leyes también corno los otros que las fezieron ante de nos, oy mas queremos lo mostrar por todas estas maneras por razon e por fazana e por derecho. E por razon, que si los emperadores e los reys que los imperios e los regnos ovieron por eleccion p u dieron fazer leys en aquello que tovieron corno en comienda, quanto mas nos que avemos el regno por derecho heredamiento. Por fazana, ca non tan solamiente los reys de Espana que fueron antiguamiente las fezieron, mas condes e jueces e adelantados que eran de menor guisa e fueron guaradas fasta en este tiempo. E pues que estos las fezieron que avien mayores sobre si, mucho mas las podremos nos fazer que por la merced de Dios non avemos mayor sobre nos en el temporal. Por derecho, ca lo puedemos probar por las leyes romanas e por el derecho de santa eglesia e por las leys despana que fezieron los Godos en que dize en cada una destas que los emperadores e los reyes an poder de fazer leyes e de anader en ellas e de minguar en ellas e de camiar cada que menester sea. Onde por todas estas razones avemos poder complidamente de fazer leyes. E por ende queremos comenzar en el nombre de Dios.

Por mostrar a los hombres razones derechas, por que el sobredicho rey Don Alfonso hubo poder de facer estas leyes. — Por razon, que si los emperadores et los reyes, que los emperios et los regnos hobieron por eleccion, podieron facer reyes en aquello que tovieron corno en comienda, cuanto mas nos que habemos el regno por derecho heredamiento. Por fazanya, que non tan solamiente los reyes de Espania que fueron antigamiente, mas cuendes, et iuizes et adelantados que eran de menor guisa, et fueron guardadas fasta en este tiempo; et pues que estos las ficieron que habian mayorales sobre si, mucho mas las podemos nos facer que por la merced de Dios non habemos mayor sobre nos en el temporal.

Angesichts der M e n g e l o k a l e r Rechte u n d S t a t u t e n i m d a m a l i g e n S p a n i e n w a r das U n t e r n e h m e n , d e n W i r r w a r r v o n K a s t i l i e n h e r d u r c h eine K o difikation zu bereinigen, ungewöhnlich u n d unerhört, nicht n u r wegen 39 Festschrift für Carl Schmitt

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zahlloser entgegenstehender lokaler und anderer Interessen, sondern auch als das Problem der Rechtseinheit überhaupt. Infolgedessen hat A. Garcia Gallo angenommen, Alfons X . habe seinen Gegnern den W i n d aus den Segeln nehmen wollen, als er unauffällig i m Espéculo 1, 1, 13 seine drei razones anbrachte und sich auf drei „Rechte", römisches, kanonisches und gotisches Recht, berief. Die Vereinheitlichung des Rechts stieß natürlich auf den heftigsten Widerstand der lokalen und munizipalen Gewohnheiten. Ihnen gegenüber mußte sich der Kodifikator legitimieren, nicht gegenüber einem weit entfernten römischen Kaiser; aber der Kodifikator war seiner Legitimität absolut gewiß. Spätestens seit dem 15. Jh. verbreiten sich allgemein Ansprüche einer absoluten, keinen Höheren in temporalibus anerkennenden Rechtsstellung, die aus den Umständen des 12. und 13. Jh.s geboren und am Kompaß der römisch-kanonistischen D o k t r i n orientiert sind. Seit der sog. Pragmatischen Sanktion Johanns II. (1427) werden sie benutzt, u m Gesetze zu rechtfertigen, die der König ohne Vorschlag oder Zustimmung der Cortes, n u r k r a f t seiner „absoluten königlichen Macht" erlassen hat 1 1 . Die Verkündungsformel ist bezeichnend: „ M i t sicherem Wissen und kraft meiner königlichen Gewalt, keinen Höheren i n temporalibus über mich anerkennend, widerrufe, kassiere und annuliere ich, durch niemand behindert, Gesetze, Fueros, Ordonanzen, Gewohnheiten und Präzedenzfälle (fazanas)... und als souveräner Herr etabliere, anordne u n d befehle ich es, und es ist meine Gnade und mein Wille, daß es fest, dauerhaft und rechtskräftig sei als wäre es i n den Cortes verfaßt und angeordnet, gemacht und eingerichtet." Wiederum erscheinen hier die Fueros, Gewohnheiten und Präzedenzfälle (fazanas), gegen die Alfons X . seine gesetzgebende Gewalt rechtfertigte. Außerdem aber zeigt sich, daß es notwendig geworden war, die Gesetze, die der K ö n i g allein erließ, als ranggleich m i t den vom K ö n i g i n den Cortes und m i t ihnen gemeinsam erlassenen Gesetzen zu rechtfertigen. I n Kastilien und i n den andern Königreichen der iberischen Halbinsel bedurfte es keiner Rezeption der Theorie von der plenitudo potestatis, obwohl sich die Formeln und Formulierungen der römisch-kanonistischen D o k t r i n verbreiteten und, wie w i r sehen, gelegentlich zutage traten. Trotz einiger Spuren dieser Thorie war sie i n Spanien nicht notwendig, w e i l das westgotische Reich seine exemptio ab Imperio bereits vollzogen hatte und die Königreiche der Reconquista an der späteren Renovatio des römischen Imperiums durch die fränkischen und die folgenden deutschen Könige und Kaiser nicht beteiligt waren. Infolgedessen brauchte man sich nicht von ihnen zu emanzipieren oder m i t ihrer „Superioritas" auseinanderzusetzen. 11 Gallo, Alfonso Garcia: L a Ley comofuente del Derecho en Indias en el siglo X V I , i m Anuario de Historia del Derecho Espanol, Bd. 21/22 (1951/52), S. 624.

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Das Ende der westgotischen Bindung an das Imperium Die spanischen Könige der Reconquista waren — jeder für seinen A n teil und sein Stück der einheitlichen westgotischen Macht — Erben der westgotischen Monarchie, die bereits eine A r t gotischen Nationalismus verwirklicht und dadurch die Rechtsgrundlage für eine eigene plenitudo potestatis geschaffen hatte. Das Bewußtsein der Kontinuität und das darauf beruhende Ideal einer Rekonstruktion der gens gotorum war stets gegenwärtig und bestimmte die Reconquista wenigstens i n ihren ersten Jahrhunderten. Das bekundet sich klar und eindeutig i n allen hauptsächlichen Chroniken. Das Kontinuitäts-Bewußtsein und die bereits i n der westgotischen Epoche zustandegekommene Emanzipation vom Imperium bedurfte keiner neuen Theorie von der plenitudo potestatis. Gegenüber dem byzantinischen Imperium, i m Kampf u m die Befreiung des 70 Jahre lang (554—624) von oströmischen Truppen besetzten Gebietes i m Südosten der Halbinsel, war seit dem König Atanagildis (554—567) eine Unabhängigkeitsbewegung gegenüber dem Imperium entstanden, die der westgotischen Monarchie eine Rechtsgrundlage verschaffte. A u f der andern Seite präzisierte sich die westgotische Unabhängigkeit gegenüber den Franken. Seit der Schlacht von Vogladum bei Poitiers (507), wo Chlodwig das Heer Alarichs II. besiegt hatte, waren die Franken der andere große Feind der Westgoten. Es waren die Franken, die später, durch K a r l den Großen, das römische Imperium i m Westen erneuerten. Die spanischen Königreiche waren nicht darin einbezogen. Die Fälle eines besonderen „spanischen Imperialismus", von denen w i r oben gesprochen haben, erklären sich aus der Verschiedenheit der Situation gegenüber dem Problem, die Bindung an ein universales Imperium zu beenden. Die Formeln und Begriffe, mit denen sich die Könige von Frankreich und Sizilien der Bindung an ein renoviertes, sich jetzt sogar Sacrum Imperium nennendes römisches Imperium i m 13. Jh. entzogen, konnten für das Spanien der Reconquista niemals aktuell werden. Bei der Begründung der westgotischen Unabhängigkeit gegenüber dem Imperium spielte die Toledanische Kirche eine wichtige Rolle. Sie brachte ihre Erfahrungen mit einem kirchlichen Nationalismus mit. W i r erinnern nur an die Tätigkeit und M i t w i r k u n g der Konzilien von Toledo und an den langjährigen Bischof Isidor von Sevilla (Bischof von 599 bis 636), der eine Lehre von den Fragen der Politik ausgebildet hat, die durch das 4. Konzil von Toledo i n gotisches Recht überführt und mit andern toledanischen Texten dem westgotischen Liber iudiciorum, als eine A r t Verfassung des westgotischen Reiches, einverleibt wurde. Der mittelalterlichen Tradition Spaniens war das Problem der plenitudo potestatis und der Unabhängigkeit von einem Imperium also nicht neu. Die Lage i n 39

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Spanien war schon aus diesem Grunde wesentlich anders als die i n den übrigen Ländern Europas. Die Westgoten hatten sich, wie andere germanische Stämme, i n der großen Völkerwanderung auf dem Boden des römischen Imperiums niedergelassen. Die rechtliche Form der vielen Landnahmen und Teilungen war i m Falle der Westgoten nicht die Eroberung, sondern das Foedus, also Bündnis-Verträge mit den Römern. Der erste und grundlegende Foedus-Vertrag wurde nach dem Siege Constantins i m Jahre 332 abgeschlossen. Die Bündnisform brachte eine große Elastizität m i t sich; sie ermöglichte den Westgoten, ihr eigenes politisches Bewußtsein zu entwickeln und hielt die „Barbaren" trotzdem i m Rahmen des römischen Imperiums und seiner Institutionen; sie ermöglichte Land Verleihungen und die sogenannte hospitalitas, d. h. Einquartierung westgotischer Truppen m i t Teilung des Eigentums zwischen Goten und den bisherigen römischen Eigentümern; kurz, sie ermöglichte eine Koexistenz und sogar Symbiose des Gotenvolkes m i t der eingesessenen römischen Bevölkerung. W i r können dieses Bündnissystem hier auch nicht annähernd schildern, ebensowenig wie die dreihundert wechselvollen Jahre der westgotischen Geschichte auf spanischem Boden. Uns kommt es nur auf einige Zusammenhänge an, in denen der Vorgang der Lösung von einem Imperium und die gleichzeitige Bindung an die weitergeltende Idee eines solchen sichtbar wird, so daß sich die weitere Frage der Loslösung von der Bindung an diese Idee erhebt. Diese Frage hatte das Westgotische Reich schon beantwortet, lange bevor sie i m 12. und 13. Jh. für andere Nationen des römisch-christlichen Westens i n neuer Gestalt aktuell wurde. Solange das römische Imperium i m Westen noch bestand, bis zum Jahre 476, erlaubte die große Elastizität der Foedus-Praxis alle A n passungen an die wechselseitigen Machtverhältnisse. Insbesondere war eine Synthese und Koexistenz des Kaisers und der kaiserlichen Verwaltung m i t den germanischen Königen und ihrer Volks- und Heeresorganisation möglich. Selbst nach dem Untergang des weströmischen Reiches war es für die germanische Foderati schwierig, den Gedanken des bewunderten Imperiums und seiner Architektur fallen zu lassen und das Bündnisverhältnis zu beendigen, solange noch i m Osten ein starkes Imperium bestand. Vielleicht hatte die Gesandtschaft, die der König Eurich an den Kaiser des Ostens schickte, den Sinn, eine solche Beendung des foedus und eine Anerkennung der Souveränität zu verlangen 12 . Aber selbst wenn das gelungen wäre, beweist es nur die mindestens theoretisch immer noch festgehaltene Superiorität des Kaisers und des Imperiums. Als eine höhere Organisation, i n die sich alle andern Organisationen 12 Schmidt, L u d w i g : Geschichte der deutschen Stämme, Die Ostgermanen, München 1934, S. 403 ff., 437.

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einzuordnen hatten, ideal und unumgänglich, bestand das Imperium auch nach 476 für die Germanen weiter. Die Westgoten vollzogen tatsächlich eine Sukzession in das Imperium. Freilich keine universale oder abstrakte Sukzession; sie vollzog sich i n Gallien und i n Spanien konkret i n dem Raum römischer Provinzen und war durch die Autorität, auf Grund deren sie geschah, demnach ex auctoritate Romana oder sub specie Romanae ordinationis, konkret bestimmt. Die westgotische Ansiedlung hatte streng provinziellen Charakter 1 3 . I n der gleichen Weise wie die gotische Schrift aus der Schrift der Provinzregierungen entstand und nicht aus der kaiserlichen Kanzlei abgeleitet war, ist auch die Macht der germanischen Könige auf dem ihnen überlassenen Boden kein Ausfluß der absoluten Macht des Kaisers, sondern aus den Amtsbefugnissen provinzialer römischer Magistrate abgeleitet, die für den betreffenden Amtsbezirk zuständig waren. Römische Regierungs- und Verwaltungsbezirke wurden auf diese Weise für den räumlichen Bereich der neuen germanischen Königreiche maßgebend. Das westgotische Königreich auf spanischem und gallischem Boden entstand auf der Grundlage der diocesis Hispaniarum und zum Teil aus den Diözesen Galliens, möglicherweise infolge des tatsächlichen Machtbereichs der Praefectura Praetorii der gallischen Provinzen i n den letzten Zeiten des Imperiums. Das hatte große politische Auswirkungen: einerseits die Vorstellung einer Zusammengehörigkeit und die Tendenz der Westgoten, ganz Gallien zu beherrschen, wodurch sie m i t den Franken zusammenstießen und i n die vielleicht echteste und langwierigste Feindschaft ihres westgotischen Reiches gegen ein anderes germanisches Volk gerieten; und auf der andern Seite die Vorstellung einer Verschiedenheit, die sowohl die gemeinsame Regierung gotischer Herrscher (Luiva und Leovigildis) wie auch eine Reihe von Rebellionen bewirkte, z. B. die des Dux Paulus (672), die sich an feste, territoriale Grenzen hielten. Die Struktur des westgotischen Gemeinwesens und seine verfassungsrechtliche Entwicklung ist also durch die Methoden der Landnahme und der Teilung des Bodens bestimmt. W i r bedienen uns mit solchen Begriffen der Gedanken von Carl Schmitt, der die rechtliche und politische Bedeutung der divisio primaeva wieder zum Bewußtsein gebracht hat 1 4 . Der Ursprung des westgotischen Reiches auf der iberischen Halbinsel, fons et origo seiner Entwicklung auf spanischem Boden, war die geschichtliche Tatsache, daß die Niederlassung und Ansiedlung i n der Form 13

Gibert, Rafael: E l reino visigodo y el particularism© espariol, i n den Estudios visigoticos I, Rom - M a d r i d 1956, S. 24, 26. 14 Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde i m Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, K ö l n 1950 (seit 1960 Berlin, Duncker & Humblot), S. 97, sowie i n dem Aufsatz Nehmen/Teilen/Weiden, abgedr. i n den Verfassungsrechtlichen Aufsätzen, Berlin (Duncker & Humblot) 1958, S. 489—504.

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der hospitalitas vor sich gegangen war und die Westgoten den Boden als Verbündete des Imperiums m i t den bisherigen Eigentümern dieses Bodens teilten. Die Geschichte des Reiches der Sueben liefert das Gegenbeispiel einer i m Kampf gegen Rom vorgenommenen Eroberung eines Landes. Die germanischen Stämme der Völkerwanderung waren ein Volk i n Waffen. Wenn ein solches Volk auf Grund von Foedus-Verträgen auf dem Boden einer römischen Provinz seßhaft wurde, erhielt der germanische Volkskönig neben seiner Stellung als König und Heerführer noch die Funktionen eines römischen Magistrates der Provinz. I n dieser Eigenschaft war er kein unumschränkter Herrscher; er war einem Höheren, dem unumschränkten Kaiser, untergeordnet. Bei i h m liefen zwei verschiedene Rang- und Herrschaftsreihen zusammen, zwei verschiedene Hierarchien. Er war germanischer König und römischer Magistrat. Das dauerte bis zum Ende des Weströmischen Reiches. Damals teilte sich das römische Imperium nach Ost und West. I m Osten blieb ein I m perium real bestehen, i m Westen entfiel es. Die Westgoten brauchten einige Zeit, um die neue Situation zu begreifen, aber sie haben sie schließlich begriffen. Jedenfalls hörte i m Westen das Foedus auf, wenn der oströmische Kaiser i n Byzanz nicht als Rechtsnachfolger des weströmischen Kaisers anerkannt wurde. Die Vorstellung von der Magistratur aber blieb und wurde weitergeführt. Diese A r t von Sukzession in das römische Imperium äußert sich darin, daß die westgotischen Könige noch lange Zeit nach dem Ende des weströmischen Reiches nur Edikte und keine Gesetze (leges) erließen, weil die leges dem Kaiser vorbehalten gewesen waren. Das Imperium bestand als die Idee einer umfassenden, höheren Ordnung weiter, universal und transzendierend. Für die Ostgoten war der römische Kaiser der reale Nachfolger i n diese höhere Ordnung. Für die Westgoten war eine ideale Form der Weitergeltung des Imperiums unbestreitbar. Sie äußert sich i n dem von Jordanes gebrauchten imaginare: die provinzialen magistratischen Ämter werden beibehalten und durch den germanischen König unter dem römischen Kaiser ausgeübt. Solche Formen der idealen Weiterführung finden sich auch bei andern germanischen Völkern bis zur Erneuerung des westlichen Reiches durch die fränkischen Könige seit K a r l dem Großen; sie mediatisieren und beschränken die Macht der Könige durch die Vorstellung eines Kaisers, dem eine plenitudo potestatis zukommt 1 5 . Die Besonderheiten der rechtsgeschichtlichen Entwicklung auf der iberischen Halbinsel erklären sich daraus, daß die Westgoten i n offenen Kampf und erbitterte Feindschaft gegen das oströmische Reich gerieten. Die Oströmer waren gelegentlich einer der vielen inneren westgotischen 15 D'Ors, A l v a r o : Coloquios sobre teoria politica de la antiguidad clasica, i n den Estudios Clasicas 44, M a d r i d 1965, S. 158—160.

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Streitigkeiten von einer Partei zu Hilfe gerufen worden. Sie besetzten Cartagena und andere Gebiete i m Südosten Spaniens und benutzten diese Okkupation, u m 70 Jahre hindurch (554—624) einen wichtigen Teil spanischen Bodens zu behalten. I m Kampf gegen sie hat sich i n der Zeit des Königs Leovigildis (568—586) die Absetzung vom Imperium vollzogen und die politische Persönlichkeit eines unabhängigen, souveränen Gebildes deutlich profiliert. Es kommt hinzu, daß Leovigildis i n diesen Jahren auch die Sueben besiegte (585) und ihr Land dem westgotischen Reich einverleibte. Damit war die iberische Halbinsel eine politische Einheit geworden. Weil die Sueben ihren Boden erobert und nicht auf Grund eines vom römischen Imperium abgeleiteten Rechtstitels erworben hatten, wirkte die Einverleibung weit über eine bloße Gebietserweiterung hinaus; sie stärkte das Bewußtsein der Unabhängigkeit vom Imperium, m i t dessen oströmischer Fortsetzung man überdies i n einem erbitterten Kampf lag. Die Einverleibung des suebischen Reiches hat nicht nur die politische Einheit der Halbinsel hergestellt; sie bedeutete außerdem für die Westgoten die geschichtliche Begegnung mit der von Rom völlig unabhängigen politischen Existenz der Sueben. Leovigildis gewann durch seine militärischen Erfolge gegenüber dem oströmischen Imperium das Bewußtsein souveräner Unabhängigkeit. Er wagte es, Münzen zu schlagen, das Wort Fiscus zu gebrauchen und sich kaiserliche Titel und Attribute zu geben 16 . Die Gesetzgebung — vielleicht die am meisten hervorstechende, ausschließlich dem Kaiser zustehende Befugnis — wurde i m großen Stil von dem König Recared (586—601) und seinen Nachfolgern ausgeübt, die sich sogar erkühnten, den Titel Flavius zu führen, der von den Kaisern des späten Imperiums gebraucht wurde. Es ist bezeichnend, daß die große legislative Tätigkeit der westgotischen Könige erst seit ihrem offiziellen Übertritt vom Arianismus zum Katholizismus (589) einsetzt, und zwar i n Übereinstimmung mit den Konzilien von Toledo. Der Krieg gegen Byzanz machte es den Westgoten unmöglich, an der Idee der Einheit des römischen Imperiums festzuhalten 17 . Die Feindschaft erzwang eine Situation der Gleichheit gegenüber dem Imperium. A u f diese Weise ergab sich eine exemptio für das westgotische Königreich. Das war die erste exemptio ab Imperio. Jetzt stand der Weg für eine Zuerkennung der plenitudo potestatis an die westgotischen Könige offen. Das vollzog sich aber nicht vermittels einer Zuerkennung derselben potestas, die der Kaiser hatte, i n der A r t und 18

Garcia de Valdeavellano, L.: Historia de Espana, M a d r i d 1952, p. 26. Die Abhandlung „Das Zweikaiserproblem i m früheren Mittelalter" von Werner Ohnesorge, Hildesheim 1947, trägt den Untertitel: „Die Bedeutung des byzantinischen Reiches für die Entwicklung der Staatsidee i n Europa." Leider beachtet diese vorzügliche Arbeit nicht die Entwicklung der westgotischen Monarchie und läßt sich dadurch ein wichtiges Stück europäischer Entwicklung entgehen. 17

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Weise, wie später die deutschen Könige i n die plenitudo potestatis des römischen Kaisers einrücken wollten. Soviel ich weiß, erlaubt keine Stelle i n den westgotischen Quellen die Deutung, daß der westgotische König sich als Nachfolger der römischen Imperatoren i m Besitz einer kaiserlichen plenitudo potestatis fühlte, weil er König in seinem Königreich war. U m so klarer ist die A n t w o r t auf der kirchlichen Ebene. Schon vor dem offiziellen Übertritt der Westgoten zum Katholizismus war das kirchliche Element i m westgotischen Reich der am klarsten entschiedene Feind des oströmischen Imperiums. Eine der wichtigsten Persönlichkeiten des westgotischen Katholizismus, Isidor von Sevilla, der spätere Bischof und Heilige, war vor den Oströmern emigriert, die seine Heimatstadt Cartagena besetzten. Die i n der Tradition eines kirchlichen Nationalismus großgewordene westgotische Kirche trug dazu bei, die Loslösung vom Imperium zu beschleunigen. I n den letzten Zeiten des römischen Imperiums hatte die Kirche einen kirchlichen Nationalismus begünstigt, der an der Ausbildung des kanonischen Rechts m i t w i r k t e und eine gewisse Unabhängigkeit der einzelnen Länder förderte. Seit dem 7. Jh. übernahm die spanische Katholische Kirche die führene Rolle und stellte sich an die Spitze einer Entwicklung des Rechts i m Westen. Der kirchliche Nationalismus war m i t einer i n etwa autonomen Ausarbeitung des Rechts verbunden und half die Krisis überwinden, die mit der Loslösung vom I m perium verbunden war. Die Kirche lieferte gleichzeitig das Modell für eine Stärkung der Monarchie. Der kirchliche Nationalismus stellt sich an die Seite des gotischen Nationalismus. Die Kirche brachte, neben ihrer großen Verwaltungserfahrung, ihre Lehre vom Ursprung und Wesen der Macht i n diese Verbindug ein. Die Patristik und Isidor von Sevilla hatten bereits eine Doktrin ausgearbeitet. Die Konzilien von Toledo, ein Organ von großer legislativer Erfahrung, wirkten mit. Hier wurde die spätere westgotische Gesetzgebung ausgearbeitet und die Verfassung der westgotischen Monarchie geschaffen, des ersten großen germanischen Königreiches, das sich auf dem Boden des untergegangenen römischen Imperiums konsolidiert hat.

Anmerkungen zu einer Theologie der Revolution Von Günter Rohrmoser, Münster Theologen beider Konfessionen bemühen sich i n intensiver Weise u m eine Grundlegung des Verhältnisses von Christentum und Marxismus. Die Bemühungen der Paulus-Gesellschaft fanden ihren bisherigen Höhepunkt i n einem Treffen i n Marienbad i n der Tschechoslowakei, also i n einem vom Kommunismus beherrschten Lande, auf dem katholische und evangelische Theologen mit Theoretikern des Marxismus über Möglichkeiten und Grenzen eines christlich-marxistischen Dialoges diskutierten. Die Entschiedenheit, mit der sich die katholische Kirche nach dem Konzil um eine Herstellung des Verhältnisses der Koexistenz auch i m Bereich der sogenannten ideologischen Fragen bemüht, hat die Tatsache fast vergessen lassen, daß die evangelische Kirche die Auseinandersetzung mit dem Marxismus bereits kontinuierlich seit 20 Jahren i n der Marxismuskommission der evangelischen Studiengemeinschaften in Heidelberg führt. Von den Einsichten und Ergebnissen aus, die i n der langjährigen Teilnahme an dieser Arbeit gewonnen wurden, soll nun versucht werden, den Stand des gegenwärtigen Gespräches von Christentum und Marxismus zu bestimmen. Es ist keine Frage, daß sich die außerordentlich weitgehende Annäherund der Standpunkte i n dem Dialog, dort wo er geführt wird, nur aus dem grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen und politisch-geschichtlichen Voraussetzungen erklären läßt, der beide Partner i n diesem Gespräch ebenso unmittelbar wie kritisch betrifft. Diese Veränderung der realgeschichtlichen Voraussetzungen t r i f f t den Marxismus i n seiner ursprünglichen Gestalt mindestens ebenso stark wie die Theologie unter den gegenwärtigen Bedingungen einer industriellen Wirtschaftsgesellschaft. Das Resultat einer wechselseitigen Bestimmung von Marxismus und Theologie i n der Gegenwart ist u m so paradoxer, als die politische Konstellation nach dem Kriege für beide Mächte günstiger war, als irgendwann seit der Mitte des 19. Jhs. Die säkulare Welt schien durch den Ausgang des zweiten Weltkrieges i n entscheidender Weise geschwächt worden zu sein. Der Tod Stalins versprach i m kommunistischen Herrschaftsbereich durch eine Lockerung des terroristischen Gewaltsystems die Chance zu bieten, einen freieren und den positiven humanen K e r n des Marxismus verwirklichenden Kommunismus zu etablieren.

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Doch eben die macht-politische Gunst der geschichtlichen Stunde hat zur Entwicklung einer gegenseitigen geistigen Angleichung der Positionen geführt, die i n einem befremdenden und unüberbrückten Gegensatz zu den gesellschaftlich-politischen Realitäten steht, die eben die Annäherung i m ideologischen Bereich motiviert haben. Es geht ja i n dem gegenwärtigen Dialog zwischen Christen und Marxisten nicht mehr nur um die Möglichkeit bloßer Koexistenz, sondern um den Versuch, sachliche Gemeinsamkeiten i n den Voraussetzungen und gesellschaftlich-politischen Zielen zu finden und herauszustellen. Man geht von der Voraussetzung aus, daß man der ständigen Auseinandersetzung und des unaufhörlichen Dialoges mit dem Anderen bedarf, u m zu dem Eigenen zu kommen. Der Marxismus sucht sich i n einer qualitativ neuen Weise das religiös christliche Erbe anzueignen, so wie sich der christliche Theologe Voraussetzungen, Methoden und Ziele des Marxismus positiv zueignet. Es wäre überspitzt, aber nicht ganz falsch, wenn man von einer Theologisierung des Marxismus und von einer Sozialisierung der Theologie spräche. Jedenfalls bewegen sich beide, von ihren einander ursprünglich entgegengesetzten Voraussetzungen aus, aufeinander zu. Diese Bewegung aufeinander hin, so wie sie sich gegenwärtig mit einem unterschiedlichen Grade der Intensität und Ausdrücklichkeit zu vollziehen scheint, bedarf der Interpretation. Positiv ist dieser Vorgang zu bewerten, als er dem Willen und der Realität einer allen Menschen gemeinsamen Zukunft in einer Welt entspricht, in der sich die Menschheit auf dem geschichtslosen Boden einer technisch-industriellen Reproduktion ihres natürlichen Lebens ebenso tendentiell vereinigt wie sie i n zunehmendem Maße dazu neigt, alle die bloße natürliche Selbsterhaltung übersteigenden Fragen eines geistigen Inhalts substantiell geschichtlicher Einheit als ideologieverdächtig auszuklammern. Von diesem Verdacht ist aber der Marxismus heute ebenso betroffen wie die christliche Theologie. Die von K a r l Marx an den Vollzug der gesellschaftlichen Revolution geknüpfte Hoffnung auf Aufhebung aller, also auch religiöser Gestalten menschlicher Selbstentfremdung ist durch den Gang der Geschichte ebenso dementiert worden wie die von der existentialen christlichen Theologie gehegte Hoffnung, das Erleiden geschichtlicher Katastrophen vermöchte auf die Dauer und von neuem die Aktualität des christlichen Glaubens wieder herzustellen. Die Beschwörung einer alle bisherige Geschichte an positiver menschlicher Selbstverwirklichung überbietenden Zukunft, i n deren Namen der gegenwärtige Dialog geführt wird, sollte nicht den Unterton von Enttäuschung und Verbitterung überhören lassen, den die geschichtliche Gegenwart für die christliche Theologie wie für den Marxismus erzeugt.

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So läßt sich auch als entscheidender Einwand gegen den bisherigen Verlauf des Dialogs von Christentum und Marxismus die einseitige Ausrichtung auf die Zukunft machen. Das Gespräch geht von rein theoretischen, also für einen Marxisten ebenso wie für den Christen abstrakten Voraussetzungen aus. Es gehört zu den Grundlagen und Voraussetzungen des gegenwärtigen Dialoges, auf die sich beide Partner geeinigt haben, daß von der Praxis, der real-geschichtlichen Bewährung des theoretisch Gemeinten oder i m Glauben Gewollten, abgesehen werden soll. Das klingt plausibel. Es wäre sicher nicht ergiebig, wenn man sich gegenseitig die Verfehlungen und Versäumnisse der Vergangenheit aufrechnen wollte. Denn i n der Auslegung aller bisherigen Geschichte als einer Geschichte bloßen Verfalls, zunehmender Entfremdung und wachsender Enttäuschung scheint man sich völlig einig zu sein. Indem aber die geschichtliche Gegenwart als ein bloß verschwindender und sich aufhebender Durchgang für den alles Sein verwandelnden Ausbruch i n Zukunft verstanden wird, reduziert sich die Differenz, u m die zwischen Marxisten und Christen noch gestritten wird, auf den Unterschied i n der Einschätzung der an keiner Realität mehr überprüfbaren und als positiv unterstellten zukünftigen Möglichkeiten. Die Vereinigung und wechselseitige Durchdringung von Marxismus und Theologie scheint sich auf dem Boden eines gedämpften Optimismus zu vollziehen. Der Rückzug i n das unbestimmte Sein einer m i t der Gegenwart und der geschichtlichen Erfahrung völlig unvermittelten Zukunft macht die hier bezogenen Positionen und vertretenen Theorien unangreifbar, was natürlich keine Beeinträchtigung ihrer psychologischen Wirksamkeit zu bedeuten braucht. Wer hier zu widersprechen geneigt ist, setzt sich dem Verdacht aus, kein Menschenfreund zu sein und die Geschäfte böser, an bloßer Unterdrückung interessierter, an sich überflüssig gewordener und darum irrationaler Herrschaft zu betreiben. Eine solche Vereinigung i m Namen des Prinzips Zukunft war natürlich nur auf Grund tiefgreifender Wandlungen des jeweiligen Selbstverständnisses der den Dialog führenden Partner möglich. Die kommunistische Praxis bedeutet offensichtlich nicht, wie auch von keinem Marxisten mehr bestritten wird, positive Verwirklichung der Humanität i m ursprünglichen marxschen Sinne, ja es muß befürchtet werden, daß der Marxismus i m Versuch der Herstellung der Bedingungen für eine solche Verwirklichung der Welt ohne Entfremdung gerade das Subjekt auflöst, das sich sein i n der bisherigen Geschichte vorenthaltenes Wesen nach Marx erst i m Kommunismus aneignen können sollte. Die marxsche Unterstellung, daß in der Aneignung seiner gesellschaftlichen Gattungsnatur i n der Revolution des Proletariats das Individuum zu sich selbst und

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zu seinem Eigenen käme, ist auch für heutige Marxisten problematisch geworden, und zwar eben durch den Kommunismus selber. Die Alternative zum Stalinismus bedeutet nicht die politisch-gesellschaftliche Praxis einer unmittelbaren Herstellung des totalen Menschen, sondern, wie die Entwicklung des Sowjetkommunismus und wie seine Auslegung durch Chruschtschow zeigte, den Gulaschkommunismus. Der Gulaschkommunismus als zukünftige Wirklichkeit marxistisch inspirierter und von ihm bestimmter Praxis ist aber bereits, worauf westliche Marxisten bestehen, Gegenwart i n der westlichen Überflußgesellschaft als einer Gesellschaft menschlicher Entfremdung i m Konsum. Es ist die Aporie i m marxistischen Zukunftsentwurf, welche die Frage nach der Rolle des Individuums, der Bedeutung der Sinnfrage menschlichen Daseins und damit der Aneignung des religiös-christlichen Erbes neu stellen läßt. Es wäre durchaus möglich, daß die Erfahrung des Leidens von Menschen durch Menschen, die subjektiv das Beste wollten, bewirkt, daß die Aneignung des religiösen Erbes unter den Bedingungen kommunistischer Herrschaft zu einer Aktualisierung gerade der reformatorischen Grunderfahrung führt, die i m Erleiden von Welt und Selbst Freiheit für den Einzelnen durch Gottes Handeln i m Zugriff des Evangeliums begründet. Indem aber der Marxismus heute die Frage nach seinem ursprünglichen Sinn unter Bedingungen zu stellen gezwungen ist, die er selbst m i t zu verantworten hat, w i r d ihm die Vollendung der Geschichte i m Zeichen seiner Exklusivität zweifelhaft. Der Wille, diese Geschichte, die durch den Kommunismus selbst in aller Welt i n Gang gekommen ist, zu einem halbwegs guten Ende zu bringen, läßt ihn nach Partnern i n unserer Welt Ausschau halten, die wenigstens i n diesem guten Willen m i t ihm übereinstimmen. Vielleicht besteht das Positive, aber auch die Grenze einer Theologie der Revolution i n der Gegenwart darin, daß sie merkwürdig unbewegt durch die Erfahrungen, die Menschen mit den Revolutionen i n unserem Jahrhundert zu machen gezwungen waren, von der Substanz christlichen Glaubens i n das Gespräch nicht mehr einzubringen vermag als die radikal eschatologisch begründete Zuversicht, daß es genüge, einen solchen entschlossenen W i l len zu haben, die Welt i m Interesse befriedeter, autonomer und von allem Zwang freigewordener Menschlichkeit zu ändern. Heil i m christlichen Sinne bedeutet „nicht Seelenheil, individuelle Rettung aus der bösen Welt, Trost i m angefochtenen Gewissen allein, sondern auch V e r w i r k lichung eschatologischer Rechtshoffnung, Humanisierung des Menschen, Sozialisierung der Menschheit, Frieden der ganzen Schöpfung" (Moltmann, Theologie der Hoffnung). Nach der Beseitigung der Metaphysik i n der These ihres Endes, der Rezeption der atheistischen Religionskritik von Feuerbach, totaler Escha-

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tologisierung aller Inhalte der christlichen Theologie und der erfahrenen Ohnmacht der Existential- und Sprachtheologie ist diese Umfunktionalisierung christlicher Hoffnung auf die Ebene der Vorstellungen einer gesellschaftlichen Revolution nicht mehr so erstaunlich. Die Verständigung m i t der politisch-gesellschaftlichen Revolution bedeutet dann kein ernsthaftes Problem mehr, wenn christliche Zukunft der Logik der Utopie folgt. Seltsamer mutet es jedoch an, daß diese Umfunktionalisierung der Theologie auf Utopie als Exodus der Theologie aus dem Getto der Metaphysik und bloßer, unverbindlicher Innerlichkeit gefeiert wird. Der Fortschritt ist so groß nicht, wie er auf den ersten Blick hin erscheint. Das klassische, eigentlich nur bei Luther und Hegel durchbrochene und entscheidend i n Frage gestellte Schema der Auslegung des Seins nach den Bereichen der Immanenz und Transzendenz kehrte i n der Form einer reinen Verzeitlichung wieder, so, daß nun zwischen einer Zukunft geschieden wird, deren Subjekt der Mensch ist, von einer solchen, die Gottes ist. Da die Marxisten daran festhalten, daß für alle Geschichte, und daher auch für alle zukünftige, nur der Mensch aufkommt und die Theologen das zwar zugestehen, aber unter dem Vorbehalt, dahinter käme noch eine andere, nämlich die Geschichte des immer nur zukünftigen Gottes, hat sich eigentlich gar nichts geändert. Die Gemeinsamkeit zwischen Marxismus und Christentum ist eine solche bloßer, als zukünftig unterstellter Möglichkeiten, für die nur noch ein Subjekt gefunden werden müsse, das fähig und willens ist, sich i n den Dienst der V e r w i r k lichung dieser Möglichkeiten zu stellen. Da das Proletariat entwickelter Industriegesellschaften sich geweigert hat und immer noch weigert, die i h m i n der marxschen Theorie zugedachte Rolle eines Retters der Menschheit zu übernehmen, ist der Gedanke — von den gemachten Voraussetzungen aus — nicht mehr völlig abwegig, diese Funktion den Christen, wenn auch mit eschatologischem Vorbehalt, übernehmen zu lassen. Die innere Reserve, die liberale und sich als positiv i m Sinne moderner Wissenschaft verstehende Wissenschaftler angesichts der den Dialog von Marxismus und Theologie beherrschenden Voraussetzungen erkennen lassen, ist verständlich, aber nicht wirklich produktiv. Die festen Konturen zweitausendjähriger christlicher Theologie wie genuin marxistischer Theorie revolutionärer Praxis drohen i n diesem etwas gespenstig anmutenden Dialog zu verschwimmen. Es dürfte daher notwendig und nützlich sein, an den Zusammenhang von Religionskritik und Revolution bei Marx zu erinnern. Von Theoretikern des Marxismus, die sich i n der Gegenwart u m seine Erneuerung bemühen, ist immer wieder gefordert worden, die Dialektik auch auf den Marxismus selber und seine Geschichte anzuwenden. Darauf kommt es i n der Tat an. Es ist bemerkenswert, daß diese berechtigte Forderung von den Theologen, die den Marxismus teilweise zu rezipieren

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versuchen, nicht eingelöst wird. Es kann doch nicht übersehen werden, daß die geschichtliche Wirkung des Marxismus nur dialektisch begriffen werden kann. Die Geschichte hat die Marxsche Theorie bestätigt, indem sie von der Geschichte gleichzeitig widerlegt wurde. Die Geschichte hat den Marxismus bestätigt, als die von Marx erhobene Forderung einer totalen Vergesellschaftung des Menschen sich i n dem Maße vollzieht, wie die Geschichte fortschreitet. Soweit die marxistische Theorie noch ein das Bewußtsein bestimmendes Element ist, erfüllt sie die Funktion, diesen epochalen Vorgang zu bejahen, zu beschleunigen und noch vorhandene Differenzen zwischen dem individuellen Bewußtsein und dem gesellschaftlichen Gesamtprozeß abzugleichen. Die Geschichte hat aber Marx auch widerlegt, indem die an diesen Vorgang geknüpfte Hoffnung auf eine Aufhebung menschlicher Selbstentfremdung durch die Praxis des Kommunismus zu einer Utopie wurde. Angesichts dieses beunruhigenden Tatbestandes kann und darf die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß heute das Ziel revolutionären Denkens und Handelns auch darin bestehen könnte, die vom Marxismus unterstellte Entfremdung vor ihrer durch die Gesellschaft drohenden Aufhebung zu retten. Das t r i f f t vor allem für die Religion zu, wenn man m i t Marx an der grundlegenden Bedeutung der Religionskritik für die gesellschaftliche Revolution festhält. I n der theologischen Diskussion blieb dieser Zusammenhang von Religionskritik und Grundlegung der Revolution häufig verborgen, weil dem Atheismus eine nur zufällige, zeitbedingte Bedeutung für den Marxismus zugesprochen wurde oder man den Versuch machte, den Atheismus als eine Konsequenz des Endes der Metaphysik oder der Tradition idealistischer Philosophie zu begreifen. Nicht Marx, sondern Hegel sei für den Atheismus der modernen Welt verantwortlich. Marx habe nur den praktischen Atheismus der bürgerlichen Gesellschaft ausgesprochen und als Voraussetzung für ein Denken anerkannt, das sich nichts mehr, wie Marx das genannt hat, vormachen wolle. Nun gab es allerdings für Marx und Feuerbach keinen Zweifel daran, daß es sich i n der Religion um einen vom Menschen selbst produzierten Schein handele, durch den der Mensch seiner wahren Wirklichkeit ausweiche und sich nur so i n einer illusionären Weise befriedige. Was die K r i t i k von Marx an Feuerbach auch heute noch bedeutsam erscheinen läßt, ist, trotz grundsätzlicher Übereinstimmung mit Feuerbach in den Surrogatcharakter religiösen Verhaltens, die wichtige Einsicht von Marx, daß Religion nicht theoretisch beseitigt werden könne. „Das religiöse Elend ist i n einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und i n einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der

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bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist" (Karl Marx). Marx sieht also völlig zutreffend i m Unterschied zu allen Versuchen, Religion als ein Produkt unwissenschaftlichen Bewußtseins oder als Priesterbetrug zu begreifen, i n der Religion einen Ausdruck und eine Gestalt der für den Menschen konstitutiven Entzweiung m i t seiner Welt. M i t der sich i n der Religion darstellenden Entzweiung t r i t t der Mensch erst als ein menschliches Wesen aus der ihn umfangenden Einheit mit der unmittelbar mit sich identischen Natur hervor. Die den Menschen eigene Entzweiung w i r d dann für Marx zur Entfremdung, wenn die gesellschaftliche Produktion als die vergegenständlichte gesellschaftliche Produktivkraft, als die K r a f t der Entäußerung zu einer dinglichen Gewalt über den Menschen wird. Aber, und dies ist wohl der entscheidende Punkt, wenn die gesellschaftlichen Produktivkräfte reich genug entwickelt sind, dann brauchen sie nur vom arbeitenden Menschen als der entäußerte Reichtum seiner Natur i n der Revolution angeeignet zu werden. Die Entfremdung, die Religion motivierende Entzweiung werden dann aufgehoben und das menschliche Subjekt kehrt i n die Einheit seines nun gesellschaftlich vermittelten Wesens zurück. Alles hängt an der Dialektik des gesellschaftlichen Prozesses. Indem die als Gesellschaft und ihre Entwicklung begriffene Geschichte die Entfremdung und den sie religiös kompensierenden Schein produziert, erzeugt sie nach Marx gleichzeitig die Bedingungen ihrer endgültigen Aufhebung. Der für das Marxsche Denken zentrale Begriff der Revolution ist unter dieser Voraussetzung das in ihm gedachte Ereignis, i n welchem die beiden Momente, der i n der Geschichte erzeugte gesellschaftliche Reichtum und die Bedingungen der Aufhebung ihrer Entfremdungsgestalten, nun auch faktisch und real zusammenfallen. Wesen und Existenz, Notwendigkeit und Freiheit, Natur und Gesellschaft werden i n der Form ihrer unentfremdeten Selbstreproduktion eins. Die Natur vermittelt sich i n der kommunistisch organisierten Gesellschaft mit sich selbst. Die Geschichte ist ein Teil der Naturgeschichte. Marx mußte es als einzigartigen Glücksfall betrachten, i n der Existenz des Proletariats das Subjekt gefunden zu haben, an dem er das theoretisch gewonnene Postulat einer möglichen Aufhebung menschlicher Selbstentfremdung nun auch empirisch verifizieren zu können glaubte. I n der revolutionären Aktion des zu einem Subjekt vereinigten Proletariats sollte die Einheit von Produzent und Produkt hergestellt werden. Die Entfremdung des Menschen mußte sich dann aufheben, der Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit i n das Reich der Freiheit mußte nun gelingen. M i t der irdisch diesseitigen Gestalt war auch die der religiösen Entfremdung selbst aufgehoben. So wie die Religionskririk zu den selbst-

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verständlichen Voraussetzungen, so gehört die These vom geschichtlichen Verschwinden der Religion zu den unabdingbaren Zielen der marxistischen Revolutionstheorie. I m Versuch einer praktischen Verwirklichung der marxistischen Theorie steht also auch immer das geschichtliche Schicksal der Religion überhaupt auf dem Spiel. Die von der dialektischen Theologie vertretene These, daß der christliche Glaube selber keine Religion sei und daher m i t Gelassenheit und nicht ohne eine gewisse Genugtuung dem den Religionen vom Marxismus bestimmten Ende zusehen könnte, verfängt schon darum nicht, weil die Marxisten sich mit Recht bisher geweigert haben, so subtile Unterscheidungen, die ja rein spekulativ bleiben, praktisch ernst zu nehmen. Aus dem Ansatz der marxschen Theorie einer in der Revolution sich vollziehenden Aufhebung der Religion geht aber auch ebenso deutlich hervor, daß ein direkter oder indirekter Kampf gegen die Religion und ihre Institutionen für Marx völlig unvorstellbar gewesen wäre. Marx war überzeugt, daß i n einer vom Kommunismus beherrschten und unter die Kontrolle des Menschen gebrachten Gesellschaft das religiöse Bedürfnis, wie der Staat übrigens auch, von selbst absterben würde. Das faktische Ausbleiben der Revolution, wie sie sich Marx vorgestellt und wie er sie gefordert hat, ist also keineswegs gleichgültig für die Stellung zu der von Marx unterstellten Notwendigkeit, daß m i t der gesellschaftlichen Ungleichheit auch die Religion verschwinden müsse. Die unmittelbar sinnlich und gegenständlich werdende Einheit von Produzent und Produkt i m Vollzug der proletarischen Revolution wiederholt i n einer eigentümlichen Weise die Bestimmung des metaphysischen Gottesbegriffes der antik-christlichen Tradition. Denn auch i n diesem Gott wurde die Einheit von Existenz und Wesen, von Vollzug und Vollzogenem, von Freiheit und Notwendigkeit angenommen. I n fetischistischer Form verhält sich der gläubige Kommunist zu den grundlegenden Bestimmungen des Gottes der Metaphysik, indem er sich nämlich auf das Proletariat und seine ihm i m Marxismus zugedachte Rolle eines Befreiers der Menschheit aus dem Elend ökonomischer und geistiger Entfremdung bezieht. Die nicht verwirklichte Revolution erzwingt also eine Wiederherstellung des religiösen Verhältnisses, das m i t den Formen religiösen Ausdrucks i n den westlichen Industriegesellschaften die Anonymität teilt. Diese seine Unbewußtheit und Gestaltlosigkeit Bewußtsein erst absterben und i n eine zynische Herrschaft umschlagen läßt. Es entspricht einer schichte, daß i m Verhältnis zur Zweideutigkeit

ist es, die das religiöse Bejahung bestehender tiefen Ironie der Gedes Religiösen i n der

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bürgerlichen Gesellschaft erst der Kommunismus völlig eindeutig die Bestimmungen herausgearbeitet hat, die den Bedingungen und Voraussetzungen der Feuerbachschen Religionskritik genügen. Die Aufhebung der Metaphysik und der Religion bleiben bei Marx, wie bei jedem anderen Versuch, zweideutig. Die i n der Religion dargestellten und ausgelegten Grundbestimmungen des menschlichen Daseins halten sich i n der Form der Verkehrung ihres ursprünglichen Sinnes auch i m Marxismus und der von ihm bestimmten Praxis durch. Die Entzweiung, die für alles menschliche Sein und alle religiöse Verwirklichung grundgelend ist, ist auch dann nicht aufzuheben, wenn eine bewußte, sich revolutionär nennende Praxis sich auf dieses Ziel richtet. Dann ist i m Sein mehr als i m Bewußtsein. Ohne Entfremdung ist das bewußte Sein des Menschen nicht denkbar. Die Durchbrechung dieser Struktur scheint nur punktuell und als augenblickshafter Vollzug möglich zu sein. Es bedeutet zweifellos eine Schwäche der marxschen Theorie, und das gilt gerade für den jungen Marx, durch eine falsch bestimmte Dialektik der Entfremdung und ihrer Aufhebung erreicht zu haben, daß heute die ins Unbedingte und Totale umschlagende gesellschaftliche Entfremdung des Menschen mit ihrer Aufhebung verwechselt werden kann. Die Bewußtlosigkeit, die den Marxismus i n der Frage nach den substantiellen, nicht durch die Gesellschaft gesetzten und daher auch nicht in die Gesellschaft auflösbaren Voraussetzungen der Freiheit auszeichnet, ist i n seinem Selbstverständnis als Vollendung der Emanzipation begründet. Was Marx i n seinem Programm einer Aufhebung der Religion als Gestalt menschlicher Selbstentfremdung versuchte, ist die V e r w i r k lichung einer Möglichkeit, die i m Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft angelegt ist. Die Entfremdung des religiösen Seins des Menschen von seiner gesellschaftlichen Existenz gehört strukturell zur bürgerlichen Gesellschaft. Für sie ist das Sein des Menschen i n der Religion, i n der Geschichte mit und unter Gott prinzipiell gleichgültig. Sie toleriert den Atheismus ebenso wie den christlichen Gottesglauben. I n der These vom geschichtlichen Ende der Religion geht es also um die durch die bürgerliche Gesellschaft wenigstens i m Prinzip bejahte Befreiung der Gesellschaft von allen Gestalten des geistig Allgemeinen, die durch die Gesellschaft nicht gesetzt werden können. So ist der Kampf gegen die Religion nicht nur taktisch begründet als Bestandteil der politischen Revolution, sondern ist vielmehr i m Begriff der Emanzipation selbst angelegt. Die marxsche Bestimmung der Theorie als Moment revolutionärer Praxis ist von seinem Anspruch her zu begreifen, das Gesetz der bürgerlichen Gesellschaft, die Emanzipation an dieser zu vollziehen. Sie soll von ihren bürgerlich-kapitalistischen Schranken befreit werden. Die Ent40 Festschrift für Carl Schmitt

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deckung der Bewegungsgesetze des Kapitalismus als der Notwendigkeit, der die bürgerliche Gesellschaft folgt, fiel für Marx m i t der Einsicht i n den revolutionären Ablauf zusammen, durch den die bürgerliche Gesellschaft gezwungen sei, sich revolutionär aufzuheben. Indem aber die bürgerliche Gesellschaft an den Gegensätzen zerbricht, die sie an ihrer Entfaltung hindern, kommt die Bestimmung des Menschen heraus, die sie allein anerkannte: Die Gattungsnatur des Menschen als eines i m Prozeß gesellschaftlicher Arbeit seine Bedürfnisse sinnlich und gegenständlich befriedigenden Wesens. Die Widerlegung der Religion und des christlichen Staates ist angesichts der Lage des Proletariats für Marx keine Frage der Theorie, sondern eine Frage der Auslegung tatsächlich bestehender Verhältnisse. I n der Existenz des Proletariats hat sich für Marx die überkommene religiös-sittliche Weltordnung faktisch aufgelöst. Der Nachweis der Nichtigkeit von Religion, Sittlichkeit und Philosophie ist i n der Existenz des Proletariats praktisch durch die Gesellschaft erbracht worden. Die List der Vernunft arbeitete, so schien es, nicht mehr i m Dienste des Hegeischen Gottes, sondern seines Gegenparts. Marx offenbarte ein Stück negativer Dialektik des Geschichtsprozesses. Das hat m i t Säkularisation christlicher Eschatologie (Löwith) oder gar m i t einem nur metaphysisch begreifbaren Aufstand gegen das Sein (Heidegger) oder mit einem die Geschichte utopisch unter das Gesetz eines Totalentwurfes zwingenden Denkens (Jaspers) unmittelbar gar nichts zu tun. Eine Auseinandersetzung mit dem Marxismus kann sinnvollerweise nur darin bestehen, das Auftreten eben der Strukturen zu verhindern oder zu überwinden, die K a r l Marx an der Existenz des Proletariats i m 19. Jh. aufgewiesen hat. Der Kapitalismus hat zwar bewiesen, daß er m i t der ökonomischen Verelendung fertig werden kann, die Frage dagegen nach einer Lösung für das Elend des Bewußtseins, wie K a r l Marx es genannt haben würde, ist i n der Gesellschaft des Ostens ebenso offen und ungelöst wie i n der Gesellschaft des Westens. Ist Religion Ideologie, eine Gestalt falschen Bewußtseins, von der sich der Mensch i m Fortschritt der Geschichte befreit, so fällt das Individuum der Macht eben der Gesellschaft anheim, von der es dann keine Freiheit mehr geben kann. Die Dialektik des Marxismus fordert, daß die Frage nach dem Zusammenhang von Revolution und Freiheit neu gestellt wird. Die Frage nach der Revolution und der von ihr erhofften Befreiung des Menschen ist in einer Weise i n diesem Lande wieder aktuell geworden, wie das niemand nach den Erfahrungen unseres Jahrhunderts erwarten konnte. Man wird, so scheint es, einen vielleicht sehr hohen Preis dafür zu zahlen haben, daß sich die Philosophie nach diesem Krieg der Aufgabe entzogen hat, sich mit der Erfahrung versuchter revolutionärer

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Befreiung i n unserer Zeit so auseinanderzusetzen, wie das der deutsche Idealismus, vor allem Hegel, m i t der französischen Revolution getan hat. Zwar reden w i r von unserem Zeitalter als einem Zeitalter technischer und industrieller Revolutionen, aber beunruhigt werden w i r erst w i r k lich dann, wenn grundsätzlich das Mittel der Gewalt als ein Mittel politischen Kampfes, und sei es auch nur indirekt, ins Auge gefaßt wird. Aber alle diese Formen revolutionärer Bewegungen, politische, technische, soziale und wissenschaftliche, sind nur Erscheinungen des die Bewegung der neuzeitlichen Welt i n ihrem Grunde bestimmenden Prinzips der Revolution. Es geht um die Einlösung der bereits am Beginn der Neuzeit von Francis Bacon ausgesprochenen Hoffnung, durch die moderne Wissenschaft und ihre gesellschaftlich-technische Anwendung ein regnum hominis, das Reich des Menschen, zu errichten. Es ist der das geschichtliche Wesen der neuzeitlichen Welt bestimmende Wille, den Menschen aus allen Formen der Abhängigkeit zu befreien, die Macht der Natur und die i n ihr begründete Herrschaft des Menschen über den Menschen zu brechen. Der Mensch soll, wie Marx das formuliert hat, aufhören, ein verächtliches Wesen zu sein. Dieses i n der Charta aller neuzeitlichen Revolutionen niedergelegte Programm hat trotz aller Enttäuschungen und aller Schrecken nichts von seiner ursprünglichen Faszination verloren. Für eine überwiegende Mehrheit der gegenwärtig lebenden Menschen verbindet sich mit der Revolution die Hoffnung auf ein Leben ohne unerträgliche soziale Ungerechtigkeit und ohne eine ständige Bedrohung durch Hunger und Unterdrückung. Nicht ohne Grund ist auf der letzten ökomenischen Tagung i n Genf die Frage gestellt worden, ob ein Christ sich an der Revolution, und d. h. an dem Versuch einer gewaltsamen Veränderung sozial-unerträglicher Verhältnisse, beteiligen soll oder darf. Ganz unabhängig davon, wie man den Sinn von Revolution philosophisch oder theologisch denken mag, bleibt Revolution ein bewegendes und grundlegendes Element in der Geschichte der Gegenwart. Nicht also das Faktum der Revolution oder revolutionäre Entwicklungen als solche sind heute problematisch, sondern ausschließlich die Frage, wie sich dadurch das Maß menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung vergrößern läßt. Den suggestiven Theorien revolutionärer Befreiung stellt die Geschichte ihre Realität wachsender Unfreiheit entgegen, und zwar einer Unfreiheit, die eben den Revolutionen zu danken ist, die an ihrer humanen Bestimmung scheiterten. Sowohl die geschichtlich-unreflektierte Erneuerung revolutionärer, nun i n den westlichen Industriegesellschaften utopisch gewordenen Hoffnungen, wie die kassandrahaften Beschwörungen geschichtlicher Verhängnisse werden i m Prinzip der Verlegenheit eman40*

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zipativer Befreiung nicht gerecht. Die illusionslose Theorie eines reinen, von allen umfassenden Zielen sich frei wissenden Pragmatismus scheint dagegen selber eine Illusion zu sein. I n dieser Situation geschichts- und erinnerungsloser Gegenwart bleibt uns daher nichts als die Geschichte und ihre unbegriffene Erfahrung. Angesichts des Umschlags der französischen Revolution i n eine Tugendherrschaft des Schreckens, i n der das Leben des Einzelnen soviel wert war wie das Abschlagen eines Kohlhauptes, hat Hegel eine Einsicht ausgesprochen, die merkwürdig unbekannt und verborgen geblieben ist. Sie lautet: „Es ist nur für eine Torheit neuerer Zeit zu achten, ein System verdorbener Sittlichkeit, deren Staatsverfassung und Gesetzgebung ohne Veränderung der Religion umzuändern, eine Revolution ohne Reformation gemacht zu haben. Zu meinen, mit der alten Religion und ihren Heiligkeiten könne eine entgegengesetzte Staatsverfassung Ruhe und Harmonie i n sich haben." I n diesem Satz stellt Hegel ein Konsequenzverhälnis zwischen Reformation und Revolution her, und er bezeichnet es als eine Torheit neuerer Zeiten, zu glauben, man könne nach der Reformation eine Revolution ohne oder gegen die Reformation machen. Hegel hat das Christentum, d. h. das Erscheinen Gottes i n der Geschichte, und die Reformation als die Aneignung dieses Ereignisses durch die glaubende Subjektivität als zwei für die Weltgeschichte der Freiheit fundamentale revolutionäre Ereignisse begriffen. „Hierin — i n der Verkündigung Jesu — liegt eine Abstraktion von allem, was zur Wirklichkeit gehört, selbst von den sittlichen Banden. Man kann sagen, nirgends sei so revolutionär gesprochen als i n den Evangelien. Denn alles sonst Geltende ist als ein Gleichgültiges, nichts zu Achtendes gesetzt." Und Hegel fährt fort: „Das Weitere ist dann, daß dieses Prinzip sich entwickelt hat, und die ganze folgende Geschichte ist die Geschichte seiner Entwicklung." Die Welt selber i n den Mächten ihres Herkommens, i n ihren politisch-gesellschaftlichen Ordnungen, als Gewalt der Natur ist i n diesem Ereignis abgetan und außer Kraft gesetzt worden. Von allem ist der Mensch i m Glauben frei geworden. Geschichte der Freiheit ist für Hegel nur und nur solange Geschichte der Freiheit, als sie sich i n dem durch den Glauben eröffneten Horizont ihres Verständnisses hält. T r i t t sie aus diesem Grund und Zusammenhang heraus, dann fällt sie an die Macht der Natur zurück, der sie emanzipativ entrinnen will. Die Reformation ist für Hegel die entscheidende Zäsur für die Verwirklichung dieser Freiheit, und nicht die politische Revolution i n Frankreich. „So — i n der Reformation — w i r d der subjektive Geist i n der Wahrheit frei, negiert seine Partikularität und kommt zu sich selbst i n seiner Wahrheit. So ist die christliche Freiheit wirklich geworden." Die geschichtliche Aktualität der Reformation ist also für Hegel m i t der

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geschichtlichen Aktualität der Freiheit selber i n allen ihren Gestalten, auch politisch und gesellschaftlich, identisch. Wenn sich die Subjektivität ohne diesen Inhalt setzt, dann bleibt nur der natürliche Wille. M i t der Reformation „ist das neue, das letzte Panier aufgetan, um welches die Völker sich sammeln. Die Fahne des freien Geistes, der bei sich selbst, und zwar i n der Wahrheit ist, und nur i n ihr bei sich selbst ist. Dies ist die Fahne, unter der w i r dienen und die w i r tragen". Wenn w i r heute nach dem Verhältnis von Reformation und Revolution fragen, bedeutet das, die Frage zu stellen, ob i m Gang der nachreformatorischen Revolutionsgeschichte, also durch die politische Revolution i n Frankreich und durch die gesellschaftliche Revolution i n Rußland, die These Hegels widerlegt worden ist, daß es sich i n der Reformation um die Errichtung des letzten Paniers der Freiheit gehandelt habe. Hegel hat jedenfalls das Scheitern der politischen Revolution i n Frankreich, i n der es um die Herstellung eines Zustandes politischer Gleichheit für alle ging, als einen Schritt i n der Verwirklichung christlicher Freiheit grundsätzlich bejaht und gefeiert. Die Verkehrung von Freiheit i n Terror dagegen hat er als eine Konsequenz der Verneinung von einer in der Geschichte durch die Reformation bereits erreichten Gestalt von Freiheit begriffen. Das politische Prinzip der Revolution sei abstrakt, weil es die Tiefe und Unendlichkeit des subjektiven Geistes außer sich habe. Sie habe in ihrem Prinzip nicht die Tiefe des im Willen Gottes gebundenen Gewissens und der substantiellen sittlichen Gesinnung in sich, sondern den bloßen natürlichen Willen des Individuums als eines Sohnes der bürgerlichen Gesellschaft. Aber dieser natürliche, i n allem nur sich selbst und seine Befriedigung suchende Wille, der sich in der Revolution aus der Geschichte befreit hatte, sollte zum Prinzip der Institutionen der Freiheit i n der modernen Welt werden. Doch der bloße, sich selbst wollende und suchende Wille des Menschen ist, reformatorisch beurteilt, der blinde Naturwille, den Luther als das Wesen vom peccatum, der Sünde, bestimmt hat. Hegel hat bereits von den Institutionen der Freiheit, die auf diesem Grunde errichtet wurden, gesagt, daß sie in der L u f t hingen. Die Dialektik von Anarchie und Terror, welche die politische Geschichte der neuzeitlichen Welt i n zunehmenden Maße bestimmte, auch wenn diese Dialektik die Gestalt von Utopie und Zynismus annimmt, ist i n der Revolution angelegt und begründet, die die Freiheit gegen die Reformation verwirklichen wollte. Es gehört zu den tiefen — von Hegel übernommenen — Einsichten des Marxismus, daß K a r l Marx die Notwendigkeit einer neuen, gesellschaftlichen Revolution mit der These begründet hat, daß die politische Revolution noch unvollendet sei. Erst m i t der gesellschaftlichen Revolution sollte nicht nur die politische, sondern auch die religiöse Frei-

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heit als Gestalt noch nicht vollständig aufgehobener menschlicher Selbstentfremdung verschwinden. Indem der Marxismus sich als die Vollendung der Geschichte revolutionärer Befreiungen begreifen möchte, versteht er sich tatsächlich zugleich als das Ende aller der Freiheiten und ihrer Bedingungen, die i m Gang der Weltgeschichte von den Griechen her über das Christentum, die Reformation und die politische Revolution bereits erreicht wurden. So unzulänglich und kritikbedürftig diese Gestalten von Freiheit auch immer gewesen sein mögen, so wenig kann auf sie verzichtet werden. Die moderne Welt hat das leider immer erst dann gemerkt, wenn es zu spät und sie verloren waren. Die Opfer, die es kostete, sie auch nur teilweise wiederzuerlangen, wurden immer größer. Vollendung des die neuzeitliche Welt tragenden Prinzips revolutionärer Befreiung durch Emanzipation i m Marxismus bedeutet, wie w i r heute alle wissen können, daß i n den Traditionen politischer Demokratie und religiös-christlicher Reformationen erreichte Bedingungen von Freiheit verschwinden und untergehen. Vollendung der Revolution i m Marxismus heißt, daß die religiöse, die Freiheit des Einzelnen i m Gewissen bei sich selbst und die politische Freiheit als die i n der Form des Rechtes garantierte Gleichheit aller vor dem Gesetz als uneigentliche Verhüllungen gesellschaftlicher Ungleichheit aufgelöst und zerstört werden sollen. Uber die von Hegel gerügte Torheit der französischen Revolution hinaus arbeitet der Marxismus i n der Wendung des postulierten Endes der Geschichte gegen die Vernunft ihrer Entwicklung an der Beseitigung des Inhaltes von Freiheit, deren Bedingungen er herstellen w i l l . Die von Hegel erkannte substantielle Bedeutung der Subjektivität als des eigentlichen Ortes und Ursprungs von Freiheit für die emanzipierte Welt, die ihn bestimmte, i n der Reformation die letzte fundamentale Gestalt von verwirklichter Freiheit überhaupt zu sehen, w i r d durch die geschichtliche Erfahrung bestätigt. Nicht nur i n der bolschewistischen Revolution i n Rußland, sondern i n allen Formen versuchter revolutionärer Praxis scheitert heute Revolution der Freiheit, wie es ja auch der revisionistische Marxismus bei Herbert Marcuse zugibt, daran, daß revolutionäre Theorie kein Subjekt mehr findet. I n der westlichen Welt findet revolutionäre Theorie keinen Adressaten mehr. Ein zur Distanzierung und Überholung bestehender Verhältnisse befähigtes und gewilltes Subjekt ist i n unserer Welt nicht mehr auszumachen. A n die Stelle sich i n der Revolution befreiender Subjektivität ist heute als Träger revolutionärer Prozesse die Wissenschaft getreten, die sich als die stärkste und produktivste Kraft aller revolutionären Veränderungen erwiesen hat. Der Gang der Revolution hat das Subjekt einer möglichen

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revolutionären Veränderung i m Sinne des Begriffs einer Verwirklichung von Freiheit selbst aufgelöst. Damit ist Revolution i m Sinne des hier entwickelten und i m Verständnis des i n der Neuzeit vorausgesetzten Begriffs von Revolution an ihre eigene Grenze, an ihr eigenes Ende gekommen. Revolution nicht als Veränderung aller Lebensbedingungen durch Wissenschaft, Technik und Industrie, sondern als Zurückholen der entfremdeten Welt i n die Verfügung autonomer menschlicher Freiheit ist heute an ihr eigenes, durch die Revolution selbst produziertes Ende gelangt, weil das Subjekt einer möglichen Verwirklichung von Freiheit durch die nunmehr total und unbedingt gewordene Emanzipation selbst abgeschafft wird. Problematisch ist nicht nur, ob der Mensch diese fertig gewordene Welt der Emanzipation revolutionär überholen und verändern kann, sondern ob er sich überhaupt noch als das Subjekt eines Willens begreift, der etwas anderes w i l l , als das, was sowieso schon geschieht. I n den skurrilen Formen, i n denen die Jugend der Wohlstandsgesellschaft des Westens ihre total-gemeinte Weigerung zu artikulieren versucht, länger mitzumachen und aus der Geschichte auszusteigen, drückt sich eine Bejahung dessen aus, was abstrakt negiert werden soll. Freiheit meint auch hier nichts anderes als Freiheit i n der Befriedigung von Bedürfnissen. Dieses Prinzip nimmt auch dann nicht mehr für sich ein, wenn es parasitär erfüllt wird. Marx hat die Notwendigkeit eines Gelingens der Revolution des Proletariats m i t dem sonst unausweichlichen Rückfall i n die Barbarei begründet. Aber nicht nur nach oben, sondern auch nach vorn ist uns die Aussicht versperrt. Die Gegenwart ist zu dem Kreuz geworden, als welche sie Hegel in der Einleitung zu seiner Philosophie des Rechts bestimmt hat. Hegel hatte die Hoffnung, daß die glaubende Subjektivität die Kraft i n sich finden würde, es anzunehmen. Er teilte nicht die Hoffnung einer Theologie der Revolution, es, wenn auch erst allmählich, i n Zukunft zu zerbrechen.

Revolution u n d Utopie Die Gestalt der Zukunft im Denken der russischen revolutionären Intelligenz Von Peter Scheibert, Marburg/Lahn I. Noch i n seiner „ K r i t i k des Gothaer Programms" von 1875 hielt Marx daran fest, daß „ i n einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft . . . die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden", die Arbeit „das erste Lebensbedürfnis geworden" sein werde und „ m i t der allseitigen Entwicklung der Individuen . . . auch alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen" 1. I n seinen Vorarbeiten zu „Staat und Revolution" hat Lenin gerade diese Stelle aus Marx wörtlich ausgezogen und für sein Theorem von der „höchsten Form der kommunistischen Gesellschaft" verwertet 2 . Aufhebung der Arbeitsteilung bleibt Voraussetzung des vollen gesellschaftlichen Reichtums, der uneingeschränkten Fülle der Güter, der unabsehbaren Möglichkeiten der menschlichen Natur. Als nicht weniger wichtig für die Überwindung jeglicher Repression haben beide Theoretiker die Vernichtung der Staatsmaschinerie gesehen, ihre Ersetzung durch eine höhere Vergesellschaftung. Diese wurde von Marx bekanntlich aus der Pariser Kommune hypostasiert, als ob der Sprung aus der Gewalt seinerzeit mit einem Schlage geglückt sei. Wie sich aber konkret „das Staatswesen i n einer kommunistischen Gesellschaft" umwandeln werde, sei nur wissenschaftlich zu beantworten, hieß es ebenfalls i n der „ K r i t i k " 3 ; diese Frage blieb also offen. Es liegt nahe, hier eine verschlüsselte Antwort auf Bakunins groß angelegte K r i t i k am „Volksstaat" Lasallescher und Liebknechtscher Prägung zu vermuten 4 . 1 K . Marx: Werke — Schriften — Schriften (ed. H. J. Lieber), I I I , 2, D a r m stadt 1960, S. 1024; für den Zusammenhang: Th. Ramm: Die künftige Gesellschaftsordnung nach der Theorie von M a r x und Engels, i n : Marxismus-Studien (ed. I. Fetscher) I I , Tübingen 1957, S. 90—93. 1 V. Lenin: Polnoe sobranie socinenii, 5. Ausg. X X X I I I , Moskau 1962, S. 184. s M a r x , a.a.O., S. 1032. 4 M. Bakounine: Gosudarstvennost' i anarchija — Etatisme et anarchisme (ed. A. Lehning), Leiden 1967, S. 157 ( = Archives Bakounine I I I ) ; August Bebels

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Das Kommunemodell der „direkten Demokratie" mit der ständigen Abwählbarkeit der Delegierten konnte von Lenin i n der genannten Programmschrift aktualisiert werden; denn, wie er meinte, hätten die Bedingungen der entwickelten kapitalistischen Produktion alle technischen Mittel geschaffen, um „einen Großteil der Funktionen der alten Staatsmacht . . . auf solche einfachen Operationen der Registrierung und Kontrolle" zurückzuführen, daß jedermann, der nur lesen und schreiben könne, sie auszuführen vermöge und dafür — bei beständiger Ablösung — nur den „durchschnittlichen Lohn eines Arbeiters" empfange 5 . Diese beiden Aspekte der Theorie von der vollendeten kommunistischen Gesellschaft — optimale Entwicklung der Produktion und Überwindung des alten Staatsapparates — gewannen mit dem Heraufziehen neuer Produktionsverhältnisse wesentlich an Bedeutung. Schien doch mit der deutschen Kriegswirtschaft die kapitalistische Wirtschaftsweise aus dem Stadium der Planlosigkeit heraus i n eine neue Dimension gerückt. Bucharin interpretierte diese i n einem Aufsatze, dessen Druck Lenin 1916 verhinderte, als Staatskapitalismus, i n welchem der Staat als alleiniger Unternehmer schließlich alle Bedürfnisse regele und die Lohnarbeit überhaupt zum Verschwinden gebracht werden könne. Dieser Staat als alleiniger Unternehmer müßte demnach von innen zersprengt werden 6 . Gegen diesen Aufsatz hat bekanntlich Lenin sein „Staat und Revolution" konzipiert; es ging ihm darum, den Staat für die Zeit des Überganges — als Mittel der Unterdrückung i n der Hand des siegreichen Proletariats — zu bewahren und i n der höchsten Konzentration aller Machtmittel die Chance möchlichst effektiver und rascher Revolutionierung der Gesellschaft durch die Übernahme sämtlicher Lenkungsinstanzen i n der Hand zu halten. So hing die Zeitspanne der Diktatur des Proletariates — und damit Risiko bzw. Spielraum für die Herausbildung neuer Repressionsmedien i n Gestalt einer neuen Bürokratie — bis zum Übergang i n die allseitige Freiheit wesentlich, wenn auch nicht ausschließlich, an technischen und organisatorischen Voraussetzungen 7 . Der stürmische Verlauf der Revolution selbst öffnete unerwartete Perspektiven — der Zusammenbruch der alten Wirtschaftsordnung, vor allem die rapide Geldentwertung, enteignete nicht nur die alte besitzende Schicht, sondern schien auch den Weg Briefwechsel m i t Friedrich Engels (ed. W. Blumenberg), Den Haag 1965, S. 33 (Engels an Bebel, März 1875). 5 Lenin, a.a.O., S. 44. • N. Bucharin: Κ teorii imperialistiöeskogo gosudarstva, gedruckt i n dem sehr seltenen Bande: Revoljucija prava. Sbornik statej I, Moskau 1925, v. a. S. 7—30. 7 Bucharin hat nach der Oktoberrevolution das Phänomen der wirtschaftlichen Allmacht des Staates anders gedeutet: „ I n der kommunistischen Gesellschaft stellt der staatliche Zwang eine Methode des Aufbaus der Gesellschaft dar", also „funktionale Gegensätzlichkeit der formal ähnlichen Erscheinungen." N. Bucharin: Ökonomik der Transformationsperiode, Hamburg 1922, S. 133.

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zur neuen ausbeutungsfreien, bargeldlosen Verteilung und Bedarfsdeckung i n Verbraucherkommunen zu öffnen 8 . Die Einführung des A r beitsbuches und die Bezahlung der Arbeiter m i t Produkten schien der „stärkste Schlag" gegen die Geldwirtschaft zu sein; allerdings sah man sofort, daß diese Ordnung der Verteilung erst dann funktioniere, wenn der Staat über soviele Konsumgüter verfüge, daß alle arbeitenden Glieder der kommunistischen Gesellschaft versorgt seien®. M i t dem Übergang zur Neuen ökonomischen Politik i m März 1921 wurde bekanntlich für eine vorerst unbekannte Zeitspanne darauf verzichtet, den kommunistischen Gesellschaftsaufbau voranzutreiben. Vor allem blieb der Gegensatz von Stadt und Land erhalten, damit verschwand die Möglichkeit einheitlicher Organisation der Verteilung. Auch Stalin hat offenbar dieses Ziel vollendeter kommunistischer Gesamtwirtschaft nicht aus den Augen verloren, so am Vorabend des ersten Fünf jahresplanes 10 , wie überhaupt die neue Wende zur umfassendsten Wirtschaftsplanung einen neuen Aufschwung utopischer Literatur brachte. Diese Hinweise sollten nicht mehr geben als den Hintergrund für jene umfassenden Entwürfe der Veränderung der Welt und des Menschen, wie sie nicht nur von einzelnen Literaten, sondern auch von verantwortlichen Politikern geträumt wurden. II. A m Schlüsse seines Buches von 1923 „Literatur und Revolution" wagte Trockij folgende Voraussage: . . . „Der Mensch w i r d es lernen, Flüsse und Berge zu versetzen, Menschenpaläste auf den Höhen des Mont Blanc und i n den Tiefen des Ozeans zu bauen; und er w i r d seinem Dasein nicht nur Reichtum und Farbe und dramatische Spannung, sondern auch einen höchst dynamischen Charakter v e r l e i h e n . . . Der homo sapiens, der jetzt auf der Strecke b l e i b t , . . . w i r d sich selbst als das Objekt der kompliziertesten Methoden künstlicher Zuchtwahl und psychophysischer Erziehung behandeln. Diese Aussichten folgern aus dem Ganzen der menschlichen Entwicklung. Er beginnt damit die Dunkelheit aus der Produktion und dem Denken zu vertreiben, indem er mit Hilfe der Technologie die barbarische Routine seiner Arbeit zerschmettert und die Religion mit Hilfe der Wis8 Das Parteiprogramm v o m März 1919 hielt die Abschaffung des Geldes so lange für unmöglich, als nicht die kommunistische Produktion u n d Verteilung vollständig organisiert sei. Text bei B. Meissner: Das Parteiprogramm der K P d S U 1903 bis 1961, K ö l n (1962), S. 138. 9 N. Bucharin, E. Preobraschensky : Das A B C des Kommunismus, Hamburg 1921, S. 342. 10 Vgl. I. V. Stalin: Werke X , Berlin 1953, S. 117 (Unterredung m i t der amerikanischen Arbeiterdelegation, 5.11.1927).

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senschaft besiegt... Dann w i r d er mit Hilfe der sozialistischen Organisation die blinde elementare Spontaneität aus den ökonomischen Verhältnissen ausmerzen . . . Letztlich, da i n den tiefsten und dunkelsten Schlupfwinkeln des Unbewußten die menschliche Natur auf der Lauer liegt, w i r d er auf sie die höchste Kraft seines Geistes . . . konzentrieren. Die Menschheit w i r d nicht etwa aufgehört haben, vor Gott, dem Kaiser und dem Kapital zu kriechen, um sich demütig den dunklen Gesetzen der Vererbung und der blinden geschlechtlichen Zuchtwahl zu u n t e r w e r f e n . . . Der Mensch w i r d danach streben, seine Gefühle zu beherrschen, seine Triebe auf die Höhe seines Bewußtseins zu bringen und sie mit Klarheit zu erfüllen, seine Willenskraft i n die Tiefen seines Unbewußten zu lenken; und auf diese Weise w i r d er eine neue Bedeutung erlangen, w i r d er zu einem überlegenen biologischen und sozialen Typus — zum Übermenschen, wenn man w i l l . Es ist genauso schwer i m voraus zu sagen, was die dem Menschen erreichbaren Grenzen seiner Herrschaft über sich selbst sind, wie sich voraussehen läßt, wie weit er seine technische Herrschaft über die Natur ausdehnen können wird. Soziale Konstruktivität und psychophysische Selbsterziehung werden die Zwillingsaspekte eines einzigen Prozesses sein. Alle Künste — die Literatur, das Theater, die Malerei, die Bildhauerei, die Musik und die Architektur — werden diesem Prozeß eine sublime Form verleihen. . . . Der Mensch w i r d unvergleichlich stärker, weiser, feingearteter werden, sein Körper harmonischer; seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme musikalischer werden. Die Formen seiner Existenz werden eine dynamische, theatralische Qualität annehmen. Der Durchschnittsmensch w i r d sich zur Statur eines Aristoteles, Goethe, Marx erheben. Und über diesen Höhen werden neue Gipfel aufsteigen 11 ." Der eher nüchterne Trockij hat während des Jahres 1922, als er i m Kampf um Lenins Nachfolge abwartete, aber noch nicht aufgegeben hatte, diese erstaunliche Vision voll erfüllter kommunistischer Zukunft niedergeschrieben. Gewiß hat dieser Entwurf, nach den Entbehrungen der Jahre des Kriegskommunismus und angesichts der geordneteren Verhältnisse unter der Ägide der Neuen ökonomischen Politik, die Geister der jungen sowjetischen Intelligenz bewegt. Solche Entwürfe hatten indes bereits ihre geniale, verzweifelte Parodie, den Roman „ M y " von Zamjatin, produziert, der wesentliche Züge der makabren Utopien von Huxley bis Orwell vorausnahm. Jene Zeit des Kriegskommunismus und Bürger-

11 L . N . Trockij: Literatura i revoljucija, 1923; engl.: Leon Trotsky: Literature and Revolution, A n n A r b o r (1960), S. 255—257. F ü r den biographischen Zusammenhang H. Brahm: Trotzkijs K a m p f u m die Nachfolge Lenins, K ö l n (1964), S. 102—112.

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krieges war zugleich die der großen Pläne zum Bau neuer Städte 12 , zur Verwandlung des menschlichen Lebens. Malevic, der große abstrakte Maler, hat damals sein neues Phalansterium entworfen, Gemeinschaftshäuser, i n denen die Menschen i n freier Gemeinschaft und glücklicher Harmonie wohnen, und damit die naiven, aber erhabenen Träume der frühen französischen Utopisten, vor allem des Ledoux, wiederaufgenommen. M i t dem Verdikt über Trockij sind die Ansätze i n Richtung auf neues Leben in neuer Umgebung und verwandelter Natur, neuer Kunst als Gesamtkunstwerk geächtet worden; ihre Träger fielen den Säuberungen zum Opfer. Der sozialistische Realismus, der stalinistische Baustil, die kleinbürgerliche Lebenshaltung trat an deren Stelle. Die Verinnerlichung der Revolution ist unterblieben und kann jedenfalls auf dem Boden der Sowjetunion i n einer etablierten Gesellschaft so lange nicht wieder aufgenommen werden, so lange diese den Instinkt für die Gefährdung des eigenen Machtmonopols nicht völlig eingebüßt hat. Die Verwandlung des Menschen als Verinnerlichung der Revolution, als ernstzunehmende Aneignung, kann nicht gut beiseite getan werden. Insofern der Kommunismus seine Verwirklichung anstrebt, darf es nicht bei schlichten Absichten eines technisch bedingten bürgerlichen Wohlstandes bleiben; die ursprüngliche Fülle des Menschen muß auf einer höheren Stufe wiederhergestellt werden. Die Forderung der Aufhebung der Arbeitsteilung, als endgültige Überwindung der Entfremdung, läßt sich nicht als ferner Horizont, als „Prinzip Hoffnung" formalisieren, jedenfalls nicht für das Bewußtsein der Betroffenen, die die Revolution erleiden oder erkämpfen. Dadurch, daß Marx und Engels selbst ihre sozialistischen Vorgänger als Utopisten beiseite taten, war das Feld der erfüllten Zukunft vom Gestrüpp naiver Kombinationen zwar freigemacht, aber nicht auf Dauer als Brache für künftige Saat offenzuhalten. Das Problem des Kommunismus ist nicht zuletzt ein anthropologisches, insofern der Mensch als neu aufgedecktes Naturwesen zur hegenden, nicht mehr feindlicher Natur i n ein neues Verhältnis tritt. Auch die weitgehend gezähmte, unvorstellbar bildbare Natur als Rohstoff technischer Anverwandlung ist heute i n Ost und West bewältigte, doch nach wie vor gefährliche Macht. I n einem Kommunismus, der sich der Vollendung nähert, müßten Unfälle der Weltraumfahrer ausgeschlossen sein. So sind die Berichte vom kommunistischen Ikarus, dem Major Komarov, i n der Sowjetunion mit bestürzter Ergriffenheit, glaubwürdigen Berichten zufolge, aufgenommen worden.

12 Vgl. ζ. B. E l Lissitzky: Erinnerungen, Briefe, Schriften, Dresden 1967; ders., Rußland, Architektur f ü r eine Weltrevolution (1930), Neuausgabe F r a n k f u r t (1965).

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III. Die vollends erkannte Menschengeschichte bleibt für den Marxisten i n die Naturgeschichte eingebettet 13 — es lebte i n den Erzvätern der neuen Lehre wie i n deren Nachfahren diese Zuversicht. Nur verblaßte etwa i n der deutschen Sozialdemokratie sie i n dem Maße, als i n parlamentarischen Verhältnissen nur mehr die bürgerliche Gesellschaft als Lebensform für alle erkämpft werden sollte. I n Rußland dagegen hatte sich die junge Intelligenz schon seit den 60er Jahren den Ausblick auf die umfassendste Umgestaltung der Gesellschaft und durch sie des Verhältnisses von Mensch und Natur durchaus zu eigen gemacht. Nach dem Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis der Jahrhundertmitte schien der Mensch als reines Naturwesen durchschaut und die Probleme seiner individuellen wie seiner gesellschaftlichen Existenz als solche prinzipiell materieller und quantitativer Natur erfaßt. Der integrale Materialismus bot sich für Generationen einer mit den Verhältnissen unzufriedenen studierenden Jugend an, die vielfach aus illiteraten provinziellen Kleinbürgerverhältnissen an die Universität strömte und hier die Formeln für die schlechthinnige, keiner Überprüfung bedürftige Negation des Bestehenden als überliefertes Unrecht und falsches Bewußtsein mitbekam sowie die Handreichungen für die revolutionäre Erzwingung einer künftigen heilen Welt ohne Leid und Konflikte vermittelt erhielt 1 4 . U m ihretwillen mußte nicht nur das eigene Opfer gebracht, sondern auch Entbehrungen, ja das Leben von Mitmenschen gefordert werden können. Die Position etwa des Jahres 1854 ist bis heute prinzipiell i n der offiziellen Ideologie i n der Sowjetunion sakrosankt, wobei die Übernahme neuer Einsichten (Relativitätstheorie, Quantentheorie, Kybernetik) jeweils durch den technischen Wettbewerb erzwungen ist; der integrale Materialismus als solcher läßt sich von der Sache her nicht grundlegend revidieren. Eine schlichte materialistische Metaphysik 1 5 als Lehre von Natur und natürlichem Menschen ermöglichte den leidenschaftlichen Atheismus, der aus soziologischen und sozialpsychologischen Gegebenheiten des alten Rußland durchaus abzuleiten ist, aber hier erst seine volle Schärfe erhielt. Ein solcher erst konnte den potentiell unsterblichen Menschen, gleichsam 13 Dazu soeben den wichtigen Aufsatz von D. Groh: M a r x , Engels, D a r w i n : Naturgesetzliche Entwicklung oder Revolution?, i n : Politische Viertel jahresschrift V I I I , 1967, S. 544—549. 14 Vgl. etwa den radikalen Petersburger Journalisten u n d ehemaligen Priesterzögling G. Z. Eliseev, i n : Sovremmenik 1961, Heft 10, S. 164: „Über allgemeine Fragen jetzt etwas Neues zu sagen, ist schwierig; der Vorrat an fertigen Ideen ist groß, an ihrer Popularisierung muß die nächsten 200 bis 300 Jahre, vielleicht auch noch länger gearbeitet werden. 15 Dieser Terminus m. W. zuerst bei N. Berdjaev i n dem Sammelband: Vechi, Sbornik statej ο russkoj inteligencii, Moskau 2 1909, S. 5.

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den kollektiven Übermenschen, proklamieren 1 6 . Diese neue Lehre verkündete i n Rußland Nikolaj Cernysevskij, dessen Gedanken mit denen von Engels i m „Anti-Dühring" das wissenschaftliche Weltbild i m revolutionären Rußland vor und nach dem Jahre 1917 ausmachten. Sein Roman „Was tun?" (1863), jenes kunstlose Opus, enthält die A n thropologie der russischen Revolution und deren Lehre vom Übermenschen, und zwar die als Traum der Heldin nur obenhin verfremdeten Ausführungen über die Aspekte einer schlechthin fortschrittlichen Gesellschaft. Ganz i m Sinne des „Utopisten" Fourier — und Trockij s — erscheint die gemeinsame Arbeit als Lust, als unmittelbares Bedürfnis, nicht mehr als Last; dann nämlich, wenn die Vereinzelung, nicht zuletzt die Ehe als die Urform der Sonderung, aufgehoben sei und nicht nur sozial kollektiv gearbeitet, sondern auch kollektiv gelebt werde. Die menschliche Körperlichkeit solle sich wandeln, die Menschen würden größer, schöner, singen alle vollendet, bewegen sich i n schönster Harmonie, werden schließlich unsterblich 17 . Damit ist der Tod als das NichtFortschrittliche an sich überwunden. Sollte der Mensch keine Eigenständigkeit oberhalb bzw. außerhalb der Natur besitzen, könnten auch andere, eventuell höherstehende Wesen auf anderen Planeten entdeckt und solcherart die Menschen von ihrer Sonderstellung entthront werden. Das Problem der Relativität der irdischen Verhältnisse i m Hinblick auf mögliche andere Welten hatte bereits Fontenelle zu seinen Betrachtungen über die Bedingungen menschlicher Ethik bewogen. I n Rußland wurden diese Dinge aktuell, als ein Moskauer Zoologie-Professor den geflügelten Menschen als einen denkbaren Bewohner ferner Planeten und ein i n jeder Hinsicht fortschrittliches Wesen entwarf. Der geistvolle Schriftsteller Strachov, Freund Dostoevskij s, hat sofort die notwendigen Folgerungen gezogen: da die Gleichförmigkeit der Verhältnisse i m Weltraum eine Denkvoraussetzung jeder astronomischen oder sonst wissenschaftlichen Bemühung bleibe, so müsse auch überall die Entwicklung eine gleichförmige sein und denselben Weg gehen. Auf die Anschauung von der Einzigartigkeit der Menschengeschichte und damit des Menschen i n der Welt zu verzichten, zwinge daher, die Wiederkunft des ewig Gleichen zu behaupten 18 . Der Ausgriff ins Weltall ist i m russischen Denken des 19. Jahrhunderts noch i n anderer Weise gedacht worden. Nikolaj Fedorov, Bibliothekar in Moskau (gest. 1903), hat zu Lebzeiten seine Schriften nicht veröffentlichen lassen; nach seinem Tode wurden sie in privaten Drucken unter Freunden 16 Vgl. meinen Beitrag, i n : Der Übermensch, eine Diskussion (ed. E. Benz), Zürich (1961), S. 179—196. 17 N. Tschernyschewskij: Was tun?, Zürich (1949), S. 415—436. 18 N. N. Strachov: Die Einwohner der Planeten, zuerst i n Dostoevskij s Zeitschrift: Vremja, 1861, Heft 1 (2), wieder abgedruckt i n : ders., M i r k a k celoe, Moskau 1872, vor allem S. 253—256.

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und Jüngern verbreitet; dennoch hat er auf manche Zeitgenossen, vor allem Dostoevkij und Tolstoj, bedeutenden Einfluß gehabt. Seine „Gemeinde" besteht auch i n unseren Tagen noch in der Sowjetunion — jedenfalls ist der Pionier der sowjetrussischen Weltraumfahrt, Ciol'kovskij, seinen Gedanken eng verbunden 19 . I m Zentrum seines Denkens steht der große gemeinsame Auftrag an die Menschheit, die Wiedererweckung der Toten. I n einer umfassenden, planmäßigen Anstrengung aller werde die Erde überall fruchtbar gemacht werden können, vor allem ferne Sterne erobert, damit die erweckten Ahnen dort Platz fänden. Auch hier, wenn auch in anderer Fassung, der Gedanke der letztlich wohltätigen Natur, die dem neuen rechten gemeinschaftlichen Bewußtsein bereitwillig zuhanden sei. Die Ursache des Bösen war für Fedorov i m Egoismus des Einzelnen beschlossen — Gott habe keine vollendete Welt geschaffen, nur die potentiell beste, die durch den Einsatz der Menschen — und durch sie handele Gott — zur schlechthin vollkommenen, zur Welt ohne Tod entwickelt werden könne.

IV. I n dem Maße, vor allem nach 1905, i n dem durch den täglichen Kampf und die Intrigen i n der Emigration die russischen Revolutionäre absorbiert waren, traten weltanschauliche Probleme und die Frage nach der Gestalt der Zukunft i n den Hintergrund. Dennoch gab es auch i m Bereich der bolschewistischen Fraktion Spekulationen über die künftige Welt. Bogdanov — sein eigentlicher Name Malinovskij —, einer der bedeutendsten Bolschewisten, war 1907 an Lenins Stelle an die Spitze der Fraktion gewählt und hatte die Organisation i n Rußland selbst fest i n Hand; daher zog er sich den wütenden Haß seines Rivalen Lenin zu. Dieser konnte ihn schließlich unter nicht ganz geklärten Umständen 1911 aus der Partei hinausdrängen 20 . Worum es Bogdanov bei seinen Theoremen ging, läßt sich aus einem frühen Zitat ablesen: „ I n der Gesellschaft des höchsten Typs, mit kollektiv organisierter A r beit, würde durch die Entfernung der inneren Widersprüche und der schroffen Unterschiede das einzelne menschliche Ich nicht mehr als Zent r u m einer besonderen, der individuell-psychischen Welt dienen; i n der engen, wechselseitigen Verständigung, i m tiefen wechselseitigen Verständnis der Menschen würde jede Neigung, die eigene ,Psyche' der Psyche anderer Menschen entgegenzustellen, verschwinden; und die harmonisch organisierte kollektive Erfahrung würde der Menschheit eine 19

N. Mihajlov: Moskauer Sommer 1964, Bern (1965), S. 62. Ausführlich neuerdings D. Grille: Lenins Rivale — Bogdanov u n d seine Philosophie, K ö l n 1966. 20

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solche grandiose Lebensfülle erteilen, von der wir, die Menschen der Epoche der Widersprüche, uns keinen Begriff zu bilden vermögen 21 ." Wir können auf die interessante Grundlegung einer allgemeinen Organisationswissenschaft hier nicht eingehen; sie zielte auf eine universale Quantifizierung der Naturvorgänge mit Mitteln etwa der Kybernetik zur vollständigen Organisation des kollektiven Lebens der Menschheit 22 . Bogdanov ist nach der Oktoberrevolution nicht wieder i n die Partei eingetreten, doch hat seine Idee der umfassenden Organisation und Grundlegung des kollektiven Lebens i m Sozialismus ungeheuren Eindruck gemacht. Waren seine Theoreme doch die einzigen zuhandenen, anscheinend marxistischen, für alle die Aufgaben, die nicht zuletzt i n der Bildungspolitik, dem Aufbau einer neuen proletarischen K u l t u r und Schule auf die jungen bolschewistischen Kader zukamen. Wenn die richtige, das heißt sozialistisch verstandene Wissenschaft die organisierte kollektive Erfahrung des Menschen sei und das Werkzeug zur Organisierung der Massen, dann müßten sich die Proletarier diese vor allem aneignen. Doch nicht als Wissenschaft der Bourgeoisie; denn diese sei spezialisiert, zersplittert, entsprechend der Anarchie kapitalistischer Produktionsweise. Jene habe sich immer mehr vom reellen Boden gesellschaftlicher Arbeit abgewandt, sei nicht einer zielstrebigen Organisation eingefügt. Die proletarische Wissenschaft werde dieser gegenüber einheitlich sein, damit einfacher, weil sich — gemäß der zutage kommenden Weltvernunft — die durchgängige Einheit des Weltprozesses und der Erfahrung erweise. Als proletarische werde die Wissenschaft dem kollektiven Arbeitseinsatz dienen: so w i r d die Astronomie zur Wissenschaft von der Vorbereitung der Arbeit i m Weltall 2 3 . Dem proletarischen Bewußtsein schienen technische Erfahrung, organisatorisches Verständnis und der Mut zu neuen Synthesen besonders eigen zu sein. Proletarische Universitäten, i n denen die Arbeiter das Notwendige lernen, hatten ebenso wie die „Arbeitsschulen", i n denen die Schüler statt des bisherigen „toten Wissens" i n die Produktion eingeführt werden sollten — alles Entwürfe von 1918 —, nicht zuletzt den Sinn, Schüler wie Studenten am Organisationsprozeß teilnehmen zu lassen. Früher, hieß es, führte das Proletariat nur Aufgaben aus, die i h m zugewiesen wurden; jetzt aber nimmt es selbst die Organisation in die Hand. Insofern alle Arbeit zielstrebig organisiert werde, stelle sich i m Kollektiv innere Disziplin durch wissenschaftlich vermittelte Einsicht i n die Aufgaben eines jeden ein. Nur so könne, von innen heraus, das individualistische Bewußtsein der Kleinbürger, die auf 21

Bogdanov 1903, zitiert Grille, a.a.O., S. 83—84. Das theoretische H a u p t w e r k i n späterer Fassung deutsch vorliegend: A. Bogdanov: Allgemeine Organisationslehre — Tektologie I, B e r l i n 1926. 23 Bogdanov an mehreren Stellen, z.B. i n der Broschüre: Nauka i raboöij klass, Moskau 1918 und dem gleichnamigen Aufsatz i n : Proletarskaja kul'tura, Heft 2, J u l i 1918, S. 21—23. 22

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ihren Besitz und auf ihre Position stolz sind, überwunden werden, wie es sich allenthalben auch noch i m Proletariat findet 24. So sprach Lenins Frau, die Krupskaja, auf dem ersten allrussischen Kongreß der proletarischen K u l t u r - und Volksbildungsorganisationen i n Moskau i m September 1918. Hier wurden die Grundlagen der kommunistischen Erziehungs- und Wissenschaftspolitik der proletarischen K u l tur i n der Organisation „Proletkult" unter Bogdanovs maßgeblicher Mitarbeit gelegt. Bei der gleichen Gelegenheit ist, als nach einer Gestalt wahrer proletarischer Dichtung gefragt wurde, übrigens Faust genannt — am Ende seines Suchens habe er sich dem tätigen Leben zugewendet und Sümpfe entwässert. I h m sei zwar das falsche Bewußtsein durch seine individuelle Erfahrung gegeben gewesen, aber er befand sich auf dem rechten Wege. Große Kunst, wurde ausgeführt, ließe sich ohnehin in der Geschichte als jeweiliges Zentrum kollektiver Organisation deuten, Götterbilder, große Kirchen. Nur i n der Bourgeoisie sei die Kunst zum Gegenstand individuellen Genusses herabgesunken; daher rühre ihre Krise 2 5 . Diese Aussage ist des Überlegens wert, wenn auch i n Herleitung und Prognose naiv. Kunst als Versuch des säkularisierten Menschen, sein Selbst zu konstituieren als Verwandlung der zuhandenen Natur i n ein Gesamtkunstwerk — das scheint der gemäße Traum von heute. Insofern sind die großen künstlerischen Entwürfe jener vielversprechenden ersten Jahre nach der Revolution von großem Gewicht geblieben 26 . Als das Schwerste i m Bürgerkrieg durchgemacht war und die erste Periode des Aufbaus begann, strömten die jungen europäischen Architekten nach Sowjetrußland, Le Corbusier an der Spitze, um dort durch die großen „funktionalistischen" Bauten den neuen Menschen sich selbst finden zu lassen. Kunst i m umfassenden Sinne war ja auch der Aufruf an das Proletariat selbst, sich zum Ausdruck zu bringen, Gestalt zu finden. Arbeiter wurden aus Fabriken i n Kunstschulen abkommandiert, um dort als die unverbildeten, unmittelbaren, eigentlichen Menschen die wahre Kunst zu schaffen. I n den Jahren des Bürgerkrieges waren gewiß nicht viele Kräfte verfügbar, und man hat schon während des Jahres 1919 viel weniger von solchen Projekten gehört. Das Proletariat selbst, schrieben die Theoretiker, sei i n besonderer Weise auf Kunst vorbereitet. Es kenne die Materialien, die Oberflächen und ihre Wirkungen — offenbar ist hier i n erster Linie an Skulptur gedacht —, es bringe also künstlerisches Ver24 Ν. K . Ul'janova-Krupskaja, i n : Protokoly pervoj vserossijskoj konferencii proletarskich kurturno-prosvetitel'nych organizacii 15—20 sentjabrija 1918 g., Moskau 1918, S. 60. 25 P. I. Lebedev-Poljanskij, ebendort, S. 75. 26 Als Materialsammlung noch nicht übertroffen: R. Fülöp-Müller: Geist und Gesicht des Boschewismus, Zürich-Leipzig-Wien 21928.

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ständnis an die ganze es umgebende Realität heran 27 . Wer, so hieß es i m Statut der proletarischen Kunstschulen, den Geschmack der Bourgeoisie nachahme, werde für immer aus der Schule entfernt 2 8 . Die Kunstschulen des „Proletkult" traten bald i n Rivalität m i t der „abstrakten Linken", den Futuristen, mit Chagall und Malevic, den w i r schon nannten, an der Spitze als Künstler, mit Majakovskij als dem führenden Literaten 2 9 . Die Arbeiter jedenfalls, bei aller Skepsis gegenüber dem Überkommenen, haben sich, von Ausnahmen abgesehen, allem Anschein nach an der futuristischen Bilderstürmerei nicht beteiligt. Doch gab es Ausnahmen; w i r übersetzen aus dem Gedicht „ W i r " des damals mit vielen Lorbeeren bedachten Arbeiterdichters Vladimir K i r i l l o v : I m Namen unseres Morgen verbrennen w i r Raffael, zerstören w i r Museen, zertrampeln w i r die Blüten der Kunst, Die Mädchen i m hellen Reiche der Z u k u n f t werden schöner sein als die Venus von Milo. W i r vergaßen den D u f t der Sträucher und Frühlingsblumen, w i r verliebten uns i n die K r a f t des Dampfes u n d die Wucht des Dynamits, den Gesang der Sirenen u n d das Sichregen der Achsen u n d R ä d e r . . . W i r wurden dem Metalle gleich, unsere Seele verschmolz m i t den Maschinen. Die Muskeln unserer A r m e drängen nach der A r b e i t von Giganten, Schöpferisches Sehnen durchglüht die Brust des Kollektivs, Selbst sind w i r unsere Gottheit, Richter wie Gesetz 30 .

V. Die Bewegung „Proletkult", von Bogdanov inspiriert und von der Partei unabhängig, zählte anfangs als Mitarbeiter die Krupskaja, den Volkskommissar für das Bildungswesen Lunaöarskij, den führenden Historiker Pokrovskij. Sie breitete sich als eine A r t Arbeiterbildungswerk ziemlich rasch aus und hat i n der Vermittlung elementarer Kenntnisse unter dem Programm „Organisation von Gesellschaft und Natur" zeitweise recht große Bedeutung gehabt. I h m korrespondierten die ersten konkreten Überlegungen einer geplanten Wirtschaft, wie sie zur Überwindung der anarchischen Produktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft und bestmöglichen Nutzung der spärlichen Produktionsmittel unter den gegebenen Verhältnissen sich aufdrängten 31 . „Organisation", mit 27 Sovetskoe iskusstvo za 15 let — Materialy i dokumentacija (ed. I. Maca), Moskau-Leningrad 1933, S. 209. 28 a.a.O., S. 208. 29 F ü r die Polemik vgl. z. B. den Aufsatz von P. BezsaVko: Futurismus und proletarische K u l t u r , i n : P. BezsaVko, F. Kalinin : Problemy proletarskoj kul'tury, Petersburg 1918, S. 31—39. 30 V. Kirillov: Stichotvorenija 1914—1918 gg., Moskau 1918, S. 9. 31 Von „größtmöglicher Zusammenfassung aller Wirtschaftstätigkeit des Landes nach einem gesamtstaatlichen Plan" spricht allgemein das Parteiprogramm von 1919. Meissner, a.a.O., S. 133.

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immer neuen Theoremen, schien das Künftige i n denkbar kurzer Zeit und mit dem geringsten Kräfteverschleiß möglich zu machen. I n der Praxis schien sich diese neue Effektivität vor allem i n der Nutzung des elektrischen Stromes niederzuschlagen. Man erinnert sich des Schlagwortes: „Was ist Kommunismus? — Sowjetmacht plus Elektrifizierung." Als ersten umfassenden Planentwurf und erste große Wirtschaftskampagne finden w i r den allrussischen Elektrifizierungsplan von 192032. Das Land m i t Hochspannungsleitungen überspannen, Licht und Aufklärung auch i n die entferntesten Dörfer zu bringen, den Aberglauben, religiöse Relikte solcherart vertreiben und die schwere Arbeit vor allem der Bauern erleichtern — was hätte anziehender sein können für den jungen Komsomolzen, was auch die Bauern eher aus ihrer Reserve herauslocken, i n die sie während des Bürgerkrieges durch Ausbeutungen und Ablieferungspflicht zurückgetreten waren. Die „höchste Mathematisierung des Wirtschaftens", wie es i n einem Aufsatz von Ende 1919 hieß, sollte fortschreitend dem Menschen die Last und Depravation der eintönigen, spezialisierten Handarbeit abnehmen; sie sollte die Aufhebung der Arbeitsteilung vorbereiten 33 . Diesem umfassenden Konzept von „Organisation" entsprach die Rationalisierung der Arbeit selbst. I m Wissenschaftlichen Arbeitsinstitut (NOT) wurden Arbeitsabläufe durchforscht und der geringste Zeit- und Kraftaufwand, wenn auch mit etwas simplen Methoden, zu berechnen versucht; Gastev, der Leiter des Instituts, war als Arbeiterdichter i m Proletkult m i t seinen Gedichten zum Preise der Maschinenwelt rasch berühmt geworden 34 . Nennen w i r aus dem Gedicht „Fabriktore" folgende Zeilen: „Ich fröstle u n d renne zu euch, schwarze Rohre, Gehäuse, Kurbelstangen, Zylinder. Ich w i l l m i t euch sprechen, vor euch die Hände erheben, euch lobsingen, meine eisernen Freunde . . . Ich b i n voller Morgen, Sonne, i m Golde der Jugend, vor m i r steigt endlich das Wunderbare auf. Ich gehe zur F a b r i k wie zu einem Festtag, zu einem Gelage 3 5 ." 52 Neuausgabe: Plan ëlektrificacii RSFSR — Doklad V I I I s-ezdu sovetov gosudarstvennoj komissii po élektrificacii Rossii, Moskau 1955; vgl. Trockijs Bericht auf der vereinigten Sitzung des I I I . Kongresses der Volkswirtschaftsräte u n d des Moskauer Arbeiter- u n d Soldatenrates, i n : Rykov u. Trotzky: Die Wirtschaft i n Sowjetrußland und i n Westeuropa, B e r l i n 1929, S. 49. 83 M. Smit: Die Proletarisierung der Wissenschaft, i n : Proletarskaja k u l ' t u r a 11—12, November 1919, S. 29. 34 A. Gastev (I. Dozorov): Poezija rabocago udara (etwa: Poesie des Arbeitsrhythmus), Petrograd 1918. 35 ders., ebendort, S. 82.

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Diese gleichsam metaphysische Einheit von Mensch und Maschine äußert sich etwa auch i n dem Prosagedicht „ W i r wachsen aus Eisen": „ . . . I n den Adern fließt das neue eiserne B l u t . . . m i r wachsen stählerne Schultern u n d riesig starke Arme, ich b i n m i t dem Eisen des Baus verschmolzen... ich erhob mich, m i t den Schultern stieß ich die Balken heraus, deckte das Dach ab. Meine Füße sind noch auf der Erde, aber mein Kopf ragt schon aus dem Gebäude heraus. Ich atme noch schwer unter der unmenschlichen Anstrengung, aber schon schreie ich: „Ich bitte ums Wort, Genossen!" U n d kein Erzählen, keine Rede, n u r eines, mein Eisernes r u f t : W i r siegen 3 6 !"

Trotz der großen Resonanz dieser kalten, blühenden Emphase widmete sich Gastev bald ganz der Organisation der künftigen Gesellschaft mit Appellen zur Rationalisierung von Arbeit und persönlichem Leben. So etwa mit einem Vortrag i m Arbeitsinstitut Anfang 1923 über die „Ausrüstung der gegenwärtigen K u l t u r " : „ I h r müßt Künstler des Schlagens und Drückens werden. I h r müßt die Konstruktion von Messer und Hämmerchen von Grund auf kennen, sie teuflisch l i e b e n . . . und ein Instrument wie es die Einheit dieser beiden ist, die Schönheit weil? . . . Wir müssen es vollkommen gestalten, denn dann haben w i r eine Kraft, von der w i r nicht einmal träumen." Oder „Man muß schlafen l e r n e n . . . auf dem Bette liegen und i m gleichen Augenblick die vollkommene Passivität aller Muskeln erreichen, als ob ihr quer durch die Erde f a l l t " 3 7 . I m Zuge der ersten Säuberungen ist auch das Arbeitsinstitut untergegangen — was blieb, sind die zahllosen Abkürzungen, m i t denen auf Gastevs Anregung gleich i n den ersten Jahren der Revolution die russische Sprache neuen Stils durchsetzt wurde und die sie bis heute charakterisieren. Die Überlegungen Gastevs und seiner Mitarbeiter waren offenbar angeregt durch den Amerikaner Taylor, der vor dem Kriege als erster Zeitstudien i n Industriebetrieben durchführte. Der Sinn der sowjetischen Unternehmungen sollte selbstredend ein anderer sein, nämlich die Ausbeutung auf die schnellste Weise i m Zeichen der Weltrevolution zu überwinden — ob die Arbeiter dort es selbst so verstanden und erlebt haben, steht dahin. Gastev ging sehr weit: Er glaubte beobachten zu können, daß die Psychologie des Proletariers sich durch eine weitgehende Anonymität auszeichne, so daß die jeweilige proletarische Einheit mit einer Nummer qualifiziert werden könne. I n Zukunft werde die Tendenz unversehens se

ders., ebendort, S. 7. cit. A. Menàutin, A. Sinjavskij : Poezija pervych let revoljucii 1917—1920, Moskau 1964, S. 186. 17

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die Möglichkeit individuellen Denkens ausschließen, und dieses sich i n die objektive Psychologie einer ganzen Klasse verwandeln. So werden die Bewegungen dieser Kollektivkomplexe sich den Bewegungen von Dingen nähern, denen sozusagen kein menschliches Gesicht mehr eigen sei; also w i r d es normalisierte Schritte geben, Gesichter ohne Ausdruck, ohne Lachen, vielmehr Manometer und Taksometer 38 . — Vielleicht war er sich der unheimlichen Implikation dieser Thesen nicht voll bewußt. Hoffen w i r es. VI. Daß es sich bei der allgemeinen Organisationslehre um ein kosmisches Prinzip handele, hat Bogdanov selbst 1907 und 1912 i n zwei Büchern dargestellt, die — ebenso wie bei Cernyâevskij — das vorerst Unglaubhafte i n die Form des Romans kleideten 39 . Das erste Buch handelt vom „Roten Stern", nämlich dem Mars — dort funktioniert die allgemeine Organisation i n einer A r t kybernetischer Steuerung aller Lebensvorgänge. Wegen des vollständigen Zusammenfalls von individuellem und kollektivem Willen und Interesse ist jede Arbeit freiwillig, jeder kann nach seinen Bedürfnissen m i t jeglichen Produkten versehen werden. Durch ständigen Blutaustausch w i r d das Altern der Menschen weithin verzögert, und es scheint, als ob endlich das Sterben eine A r t freiwilliger Verzicht sei und nicht ein Müssen. W i r sehen die Reihe Zamjatin bis Orwell wieder hinter dem Horizont auftauchen. I m Blickfelde bleiben jedenfalls zwei, i m wesentlichen ernstgenommene Fernziele, die Verlängerung des Lebens und die Eroberung des Weltraums. Bogdanov, von Beruf Arzt, ist 1928 an Selbstmordversuchen gestorben, die, wie berichtet wird, dem ersten der beiden Ziele dienten. Damals war die Bewegung des Proletkults längst ihrer Bedeutung beraubt. Daß Bogdanov sich außerhalb der Partei, aber gemeinsam mit führenden Bolschewiki, sein eigenes Reich aufbauen konnte, hat Lenin ungeheuer gereizt (Bogdanovs Versuch, innerhalb der sogenannten Arbeiteropposition m i t einer eigenen Gruppe zu wirken, sei nur angemerkt) 40 . Lenin forderte Oktober 1920 gegen den Widerstand Lunaöarskijs die Unterordnung des Proletkult unter die Partei — i m Briefe des Z K hieß es, daß unter der Flagge der proletarischen K u l t u r den Arbeitern bürgerliche Anschauungen in der Philosophie, nämlich Bogdanovs eigene, und i n der Kunst sinnlose, verderbte Geschmacksrichtungen, der Futurismus ein88

A. Gastev: I n d u s t r i a l ' n y j mir, Char'kov 1919, S. 75—77. Α. A. Bogdanov: Krasnaja zvezda (Utopija), St. Petersburg 1908, 156 S.; ders.: Inzener Mènni (Fantastièeskij roman), Moskau 1913, 154 S.; ausführlich Grille, a.a.O., S. 158—170. 40 R. V. Daniels: The Conscience of the Revolution. Communist Opposition i n Soviet Russia, Cambridge, Mass. 1960, S. 161. 89

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getrichtert würden 4 1 . Letzteres stimmte nicht, denn Proletkult und die Futuristen m i t Majakovskij an der Spitze hatten sich nie vertragen. Was nach diesem Beschluß überrascht, ist, daß sich der Proletkult dennoch einige Zeit halten konnte, er hatte offenbar immer noch mächtige Protektoren. Die Organisation lehnte sich nunmehr an die Gewerkschaften und deren Bildungsarbeit an — dies ging noch für einige Zeit gut, obgleich Lenin auch hier sofort zu intervenieren versuchte 42 . 1924 finden w i r die Proletkultler i m Verein m i t dem wissenschaftlichen Arbeitsinstitut m i t einer Studie über die Rationalisierung der künstlerischen Arbeit befaßt. Auf dem Gebiete der bildenden Kunst — und hier früher als i n der Literatur — befand sich seit 1922 der sozialistische Realismus i m Vormarsch, i n Gestalt der „Vereinigung von Künstlern, die das revolutionäre Leben erforschen" (AChR). Hier traten die Veteranen des sozialkritischen Realismus vor der Jahrhundertwende wieder auf den Plan. 1930 wurde schließlich der Fünf jahresplan für Kunst verkündet, wonach der Formalismus der Künstler, ihr Streben nach sogenannter „Qualität" kritisiert wurde 4 3 — sie wären weit entfernt, Kunstwerk und Künstler klassenmäßig zu differenzieren. Dieser Ausblick i n die schlichte Kleinbürgerlichkeit sei nur kurz angefügt. Den einen politischen Aspekt für die Abwürgung der Ansätze einer kommunistischen „Welt-Anschauung" und Zukunftsplanung haben w i r bereits kennengelernt — der zweite liegt zweifelsohne darin, daß es sich hier um „Trotzkismus" zu handeln schien. Gerade weil dieser Begriff die verschiedensten irgendwie heterodoxen Strömungen und Phänomene zu decken und innerhalb der Parteigeschichtsschreibung zu tabuieren hat, läßt er sich innerhalb des gegenwärtigen Selbstverständnisses der Inhaber des Machtmonopols nicht abbauen. VII. Nach dem Gesagten erscheint es vielleicht verständlich, daß auch Fedorovs kosmologische Anregungen nach der Revolution weiterverfolgt wurden 4 4 . Zwar sind seine Schriften nur zum Teil i n den zwanziger Jahren in der Mandschurei veröffentlicht worden, doch hat sich sein A n 41

Sovetskoe iskusstvo, S. 204. Ebendort, S. 261—263. Osnovy planirovanija iskusstva — Materialy vsesojuznogo soveSCanija po planirovaniju iskusstva p r i Gosplane SSSR 10 - 12 - V I 1930 g., Moskau 1930. Dort ein Bericht von Proletkult m i t 35 Zweigstellen (S. 46). 44 Uber Nachklänge Fedorovs i n religiösen Spekulationen vgl. meinen A u f satz: Die Besiegung des Todes — ein theologisches Programm aus der Sowjetunion (1926), i n : Glaube, Geist, Geschichte — Festschrift Ernst Benz, Leiden 1967, S. 431—447; einige Jünger Fedorovs gründeten ein „ K r e a t o r i u m der Biokosmisten" : A. Svjatogor, P. Ivanickij: Biokosmizm, Materialy, No. I , Moskau 1921, 14 S. 42

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denken i n Rußland lange gehalten; anscheinend haben die meisten seiner Anhänger den Umsturz als Anruf zum gemeinsamen Handeln an der Erneuerung der Menschheit verstanden. Unter ihnen war vor allem Valerian Murav'ev aus der bekannten Adelsfamilie, der während der Revolution verhaftet 4 5 und zum Tode verurteilt war, doch dem Vernehmen nach von Trockij befreit, mit dem er i m Briefwechsel stand. 1929 wurde er wieder eingesperrt und i n den hohen Norden verbannt, wo er bald starb 46 . I m Arbeitsinstitut hat er gemeinsam mit Gastev gearbeitet; 1924 brachte er i m Selbstverlag ein sehr seltenes Werk über die „Beherrschung der Zeit als Grundaufgabe der Organisation der Arbeit" heraus: Je bewußter die Menschen gemeinsam handeln, desto mehr vermöchten sie über die Natur, so daß schließlich die Welt eine A r t erweiterter Gesellschaft werde und i n ihr schlechthin alles Mögliche vollbracht werden könne. So wäre schließlich die Zeit als Funktion erfüllter Arbeit bewältigt und die „kosmische Revolution" vollbracht. Wiederum w i r d hier Faust zitiert 4 7 . I m einzelnen kann auf die kühne, formale Gedankenführung nicht eingegangen werden. Nach einer späteren Nachricht sollen Murav'evs Buch bzw. Fedorovs Programm i n dem genannten Arbeitsinstitut eine A r t kanonischer Geltung gehabt haben. Aus Murav'evs Nachlaß wurde i m Ausland eine „Allgemeine Produktionsmathematik" veröffentlicht: durch die vollendete Quantifizierung der ganzen Welt mittels einer künftigen Mathematik werde die elementare Natur durch eine sekundäre, vom menschlichen Geiste erbaute Natur ersetzt, d. h. die bisherigen Naturgesetze dank dieser wahren Mathesis universalis durch neue Gesetze abgelöst, die der Geist der Natur vorschreibt. Der homo creator schaffe so die wahre „Anthropotechnik", er verjünge sich selbst, verwende die Energie der Atome, sende Raketen ins A l l — CioFkovskij w i r d genannt —, überwinde die Übervölkerung durch künstlichen Regen und durch Lenkung der Witterung, besiege schließlich die Zeit 4 8 . Hier erscheint Trockij s Vision nochmals überhöht, die Metaphysik des Computers eindrucksvoll vorweggenommen. Der ungeheure Optimismus, die Schau von der Welt als einer einheitlichen, i n der alle Gutwilligen zum gemeinsamen Werke aufgerufen sind, unterscheidet sich sehr von unserer Erfahrung der zwiegeteilten Welt, i n der eher Furcht und Resignation die Geister regieren. 45 Wahrscheinlich wegen seiner Mitarbeit an dem bei Erscheinen sofort verbotenen Sammelband bedeutender Philosophen: Iz glubiny, De profundis, Sbornik statej po r u u k o j revoljucii (1918), Neudruck Paris 1967, darin V. Murav'ev, S. 225—246. 4 · Seine Biographie i n dem Sammelband: Vselenskoe delo (etwa: Der kosmische Auftrag), Sbornik I I , Riga 1934, S. 181. 47 V. Murav'ev: Ovladenie vremeni kak osnovnaja zadaòa organizacii truda, Moskau 1924,127 S. 48 Vselenskoe delo I I , S. 116—140.

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Immer traf man oder t r i f f t man i n Rußland biedere Menschen, die hoffen, alle mögen zusammenstehen und gemeinsam das Notwendige tun. Seinerzeit hat Stalin die Träumer oder Architekten unserer künftigen Welt liquidiert, und sein Schatten lagert, je weniger von i h m die Rede ist, um so dunkler über der russischen Landschaft, die von den Sternen des K r e m l recht trübe erleuchtet wird. Vielleicht ist die Dialektik von Revolution und Reaktion unaufhebbar und konsolidiert sich Macht als Feind des Fortschritts i n jeder Phase unmittelbar neu; dann wäre das technisch Neue nicht das Bessere, sondern nur das perfektere gegenwärtige Schlechte.

V o m Geisteegrund u n d der Feindschaft i m „Begriff des Politischen" bei Carl Schmitt Von Hermann Wilhelm Schmidt, München „Nicht mitzuhassen, mitzulieben b i n ich da!" —

Jeder Versuch, das menschliche Handeln und Verhalten denkend zu erfassen und philosophisch zu bestimmen, enthält i n seinem tieferen Grunde die Hoffnung, den unmittelbar existierenden Zustand der Geschichte und dessen Tendenzen, wie immer reichhaltig, aber auch widerspruchsvoll, faszinierend, aber auch schreckend und dämonisch sie sich zeigen, m i t dem Mittel der geistigen Durchdringung i n das Licht ihrer höheren harmonischen Bestimmung zu rücken. I m folgenden sei versucht zu erfassen, wie eine solche tiefere Intention Carl Schmitts berühmte Auseinandersetzung mit dem „Begriff des Politischen" bewegt 1 . Es ist bekannt, daß die Freund-Feind-Unterscheidung i m Mittelpunkt der Gedankengänge jener Abhandlung steht. Bekannt ist auch, daß Carl Schmitt die Freund-Feind-Unterscheidung „existentiell" verstanden wissen w i l l . Das Mißverständnis und der Streit, das Politikum dieser Unterscheidung selbst, das freundliche oder feindliche kritische Verständnis, mit dem sie ihrerseits ausgelegt werden kann, entzündet sich an der Frage, ob „existentiell" hier nur ein Engagement i n bestehende oder aufkommende Geschichtstendenzen, in den freundlichen oder feindlichen Gruppierungen der politisch hervortretenden Einheiten, vor allem der Völker und Staaten, meint. Alle Völker der Menschheit stehen heute i n dem universellen Prozeß der Industrialisierung, der Entwicklung eines technischen Machtpotentials, das bei den einen früher, bei den anderen später, auch die Verfügung über die atomare Macht einschließen kann. Innerhalb dieses universellen Prozesses aber erweist sich, daß die Völker weiterhin ihren eigenen Geist, das Organische ihrer Geschichtswelt bewahren und entfalten wollen. Kapitalistische, kommunistische oder sozialistische Industrieentwicklung geschieht stets auf dem Boden des geprägten nationalen Selbstbewußtseins, das die Entwicklung einer modernen Technik not1 Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 m i t einem V o r w o r t und drei Corrollarien, B e r l i n 1963.

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wendig nur i m Zusammenhang m i t den vorgegebenen geographischen und ethnologischen Voraussetzungen aufnehmen kann und so das universelle Anliegen, die Entfaltung der technischen Welt, doch wieder mit je eigenem Geist durchdringt, der zum Geist der anderen Völker, ihren Voraussetzungen und Entfaltungen, i n politischer Spannung steht. Erweist nun die Freund-Feind-Unterscheidung den existentiellen Charakter allein i n einer Affirmation des Faktums der Nationalitäten, ihres Geschichtsgeistes und ihrer Rivalitäten? Die Unterscheidung Freund-Feind w i r d nach Carl Schmitt i m Sinne einer „letzten Unterscheidung" getroffen und i n Analogie gesetzt zu den letzten Unterscheidungen, die alle Gebiete des Geistes kennzeichnen, „auf dem Gebiete des Moralischen Gut und B ö s e . . . ; i m Ästhetischen Schön und Häßlich; i m ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Unrentabel" 2 . Die Selbständigkeit der Freund-FeindUnterscheidung besteht „nicht i m Sinne eines eigenen neuen Sachgebiets, sondern i n der Weise, daß sie weder auf einem jener anderen Gegensätze oder auf mehreren von ihnen begründet, noch auf sie zurückgeführt werden kann" 3 . Nun liegt aber doch ein gemeinsames Moment der FreundFeind-Unterscheidung mit den anderen Unterscheidungen darin, daß sie alle „letzte Unterscheidungen" sind. Was bedeutet dieses „letzte" und i n welchem Sinne ist die Unterscheidung von Freund und Feind, die das Politische kennzeichnet, anders als die anderen eine „letzte"? Nach Carl Schmitt bestimmt sich die Freund-Feind-Unterscheidung als der „äußerste Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation" 4 . Ein Äußerstes in der Intensität einer gemeinsamen Verbundenheit liegt, so meinen wir, darin, daß man diese Assoziation mit allen Mitteln zu verteidigen bereit ist. Die M i t t e l befinden sich dabei innerhalb der Assoziation, aber so daß sie mehr sind als das bloße Wagnis. Gerade i n der Herausforderung erweisen sie ihr Wesen derart, wie es auch sachgemäß, gebietsmäßig (wissenschaftlich, wirtschaftlich, ästhetisch) besteht. Von den Gebieten her zeigt sich erst, wie alle M i t t e l eines Staates für die Assoziation oder Dissoziation, für die Aufnahme oder für die Zurückdrängung politischer Einflüsse wichtig werden. Eine Assoziation oder Dissoziation schließt, so lautet also die These, die Mittel, die sie ermöglichen, ein, primär den Raum der Erde. Freund ist, m i t dem sich gemeinsam i m Erdraum siedeln, arbeiten, eine Welt des Lebens entfalten und genießen läßt. Für die Völker unserer Zeit, die ja ihren K u l t u r r a u m bereits erfüllen, ist jeweils der verbindende größere Erdraum das primäre „Gebiet", das als Medium der Assoziation oder der Dissoziation i n Frage kommt, so i m Seehandel und Seekrieg das Meer. * Schmitt, Carl, a.a.O., S. 26. Schmitt, Carl, a.a.O., S. 27. 4 Schmitt, Carl, a.a.O., S. 27. 3

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Das Grundmedium, der Erdraum (Meerraum, Luftraum), w i r d aber erst durch seine geistig und technisch bestimmte Zugänglichkeit wahrhaft vermittelnd, wie etwa der Seemann durch Schiffsbau und Nautik (Merkatorprojektion, Sextanten etc.). Die geistig bestimmte Zugänglichkeit ist ihrerseits wieder existentiell bedingt und liegt begründet i n der nationalen Eigenart und dem Entwicklungsstand eines angrenzenden Volkes und seiner Kultur. I n der Verflechtung des Grundmediums des Erdraums mit den geistigen Medien einer nationalen K u l t u r und ihrer Tendenz auf Entfaltung einer Technik ergeben sich die Assoziationen und Dissoziationen i n den politischen Gruppierungen der Staaten und Völker. Ein bloßes Fremdsein ohne verbindendes Medium, darin das Fremde i n der gemeinsamen menschlichen Tendenz auf den Geist und seine Entfaltung i n der Geschichte begegnet, ergibt keinen Konfliktsfall: der Fremde muß „ i n einem besonders intensiven Sinn existentiell etwas anderes und Fremdes" 5 sein. Obgleich nun die „Gebiete", des Erdraums wie des Geistes, i n dem angedeuteten Sinn als Medien der Assoziation oder Dissoziation wirken, gilt doch, daß die eigenen Unterscheidungen der geistigen Gebiete — i n der Wirtschaft etwa Rentabel-Unrentabel — nicht ohne weiteres auf die politische Unterscheidung übertragbar sind: „der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen" 6 . Entscheidend für die Bestimmung des Politischen gemäß der FreundFeind-Unterscheidung bleibt nach Carl Schmitt allein die „Intensität welche die Assoziation der Freundschaft oder die Dissoziation der Feindschaft bestimmt, ja, sie überhaupt erst auffällig werden läßt, sie spürbar macht und schließlich lenkt, sie aber auch verschleiern und hintertreiben kann. So kann hinter der Geschäftsfreundschaft von Staaten die politische Feindschaft wachsen, weil sich diese Freundschaft nicht auf den W i r t schaftsraum bezieht, der die Geschäfte auf der einen wie auf der anderen Seite je eigen ermöglicht. Obwohl der andere Wirtschaftsraum durch die Geschäfte an Produktivität gewinnt und für den Konfliktsfall des Krieges an Macht zunimmt, kann er dem Geschäftspartner politisch fremd bleiben. Er stellt dann, wenn diese Fremdheit wachsen sollte, i n einem gegebenen Moment auch wieder die Geschäftsfreundschaft i n Frage, die, i n ihrer politischen Auswirkung nicht beachtet, vielleicht sogar dazu beitrug, die Dissoziation zu fördern. Das Befremden oder Befreunden i m politischen Sinne beruht i n einer geschichtlichen Entfaltung, die sich nicht auf ein Gebiet beschränken und m i t seiner Hilfe, etwa der Wirtschaft i n einer „Wirtschaftsexpansion zum 5 β

Schmitt, Carl, a.a.O., S. 27 (eigene Sperrung). Schmitt, Carl, a.a.O., S. 27.

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Fortschritt des menschlichen Wohlstandes", neutralisieren läßt. Ein solches Neutralitätsargument propagiert die Neutralität immer gleich für eine bestimmte Form der Wirtschaft (kommunistisch oder kapitalistisch) und innerhalb der Form für die besondere Ausprägungsmöglichkeit in der Entfaltung einer Technik, die ein Erdraum und eine nationale K u l t u r bieten, und findet die Technik nur bei sich selbst neutral. Die Technik, ihre Entwicklung i m Erdraum, ist das eigentliche Medium der Befremdung und Befreundung: ihr Verständnis, nicht i m wissenschaftlich-neutralen, sondern i m philosophisch-politischen Sinne umfaßt stets alle Gebiete. Denn die Technik ist nicht nur die angewandte Wissenschaft, sondern die ökonomisch, ästhetisch, sozial sinnvoll angewandte Wissenschaft i n einer Kultur. I n den an die Abhandlung über den „Begriff des Politischen" anschließenden Ausführungen über „Das Zeitalter der Neutralisierungen" 7 hat Carl Schmitt die Vergeblichkeit aller einseitigen Neutralisierungsversuche des Freund-Feind-Problems herausgestellt. Bei diesen Versuchen ergeben sich, wie gezeigt wird, zunächst „Stufen" 8 der Neutralisierungen. W i r wollen die Problematik dieser Stufung (besonders die des ersten Übergangs „von der überlieferten christlichen Theologie zum System der natürlichen Wissenschaftlichkeit") 9 jetzt nicht weiter verfolgen. Entscheidend bleibt, daß trotz der Vorherrschaft eines Gebietes auf einem bestimmten Entwicklungsstand der Moderne (die „Verlagerung" geht „vom Theologischen ins Metaphysische, von dort ins Humanitär-Moralische und schließlich zum ökonomischen") 10 immer alle beteiligt bleiben (es besteht stets „ein pluralistisches Nebeneinander verschiedener bereits durchlaufener Stufen") 1 1 . Letzten Endes geht es darum, wie die Technik, die sich m i t der Vorherrschaft des ökonomischen immer mehr herausstellt, einen Grundbezug zu allen Gebieten behält. Der Grundbezug der Technik zu allen Gebieten ist wiederum nicht m i t der Vorherrschaft einer bestimmten Klasse von Menschen aufzunehmen, für welche die „clercs" 1 2 das vorherrschende Gebiet und die darin zu befreienden Mächte und Menschen kraft der Macht einer „Erlösung" durch dieses Gebiet quasi priesterlich vertreten. Erst nach der Vorherrschaft der Gebiete t r i t t zusammen m i t der voll entfalteten Technizität auch die Existenz des Menschen i n ihrer Unabhängigkeit hervor: bei Kierkegaard und seinen Nachfolgern zunächst unabhängig von der konkreten Geschichte; bei Carl Schmitt i n ihrem schöpferisch offenen Bezug zur Technik und zum geistigen Sinn der Technik i n der Geschichte. Der Grundbezug der Tech7

Schmitt, Carl, a.a.O., S. 79 ff. Schmitt, Carl, a.a.O., S. 88. Schmitt, Carl, a.a.O., S. 88. 10 Schmitt, Carl, a.a.O., S. 81. 11 Schmitt, Carl, a.a.O., S. 81. " Schmitt, Carl, a.a.O., S. 87.

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nik zu allen Gebieten des Geistes bleibt dabei eine Frage des realen philosophisch-politischen Verständnisses der konkreten historischen Situationen. Diese lassen sich nicht auf ein „erlösendes" Gesamtverhältnis zur Technik reduzieren, sondern stellen i m Rahmen des rechten philosophischen Gesamtverständnisses der Technik nach deren Gebieten immer wieder konkrete politische Aufgaben. Politisch konkret entwickelt sich die Technik samt ihren Gebieten i m Grundmedium des Erdraums und zwischen den nationalen Kulturräumen der Völker. Die Technik, so sagt die entscheidende Einsicht i n den existentiellen Charakter der Politik, steht mit ihrer Entfaltung weiterhin auf dem Boden der Erde bzw. i n einer Bindung an die Materiegestalt des historischen Kosmos der Planeten und Gestirne. I n diesem Sinne kann Carl Schmitt bestreiten, daß die Technik ihrerseits einen letzten „neutralen Boden" 1 3 abgebe, i n welchem alle Stufen und Vorherrschaften der Gebiete so zusammenkämen, wie sie politisch und philosophisch fraglos, vielmehr rein spezialistisch neutral für die Nutzung des Erdraums zum Wohle der Menschheit anzusetzen sind. Die In-Anspruchnahme solcher universellen Neutralität der Technik bleibt selbst wieder ein Politikum, das mit Hilfe der clercs und ihrer Zentralgebiete betrieben wird, um eine historisch momentane Auslegung der Technik (in dieser Form des Kapitalismus oder jener Form von Kommunismus) universell zu rechtfertigen. I n gewissem Sinne läßt sich aber dennoch kaum bestreiten, daß das Verhältnis, das die Gebiete des Geistes innerhalb der Technik finden, zu einer neuen Form i n dem Verständnis führt, das sich die politischen Gegensätze für ihren Austrag geben. Zwar gibt es i n der Technik keine universelle Aufhebung und Neutralisierung der politischen Konfrontationen. I m Gegenteil, die Konfrontation w i r d gesteigert, solange man die Neutralisierung und den menschheitlichen Sinn der Technik nur für die eigene Seite beansprucht. Wohl aber w i r d mit eben dieser Einsicht i n den politischen Existenzsinn der Technik, den uns Carl Schmitt nahelegt, eine Verwandlung des Austrags jener Konfrontation eröffnet, die sich m i t den Mitteln der Technik und aus den Gebieten des Geistes anders anbahnt als die alten direkten politischen Machtgegensätze von Völkern und Kulturen. Dies berührt zunächst einmal das Mittel des Krieges als eine Form des Austrags von Konflikten. Wie verwandelt die Technik dieses Mittel? Indem sie seine Zerstörungskraft steigert, fordert sie unabdingbar eine Begrenzung oder Aufhebung der politischen Drohungen, die sich damit verbinden. Die Technik verwandelt die Formen der Kriegsdrohung derartig radikal, daß sie sie mit der Atommacht ins Absurde einer gegenseitigen totalen Vernichtung führt. Aber damit verwandelt sie auch den Charakter der Freund-Feindbeziehungen, die sich in den Kon13

Schmitt, Carl, a.a.O., S. 94.

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frontationen der Staaten und Völker aus der Entwicklung ihrer Technik ergeben. Es sind Konfrontationen, denen immer schon eine Skala von Vernichtungsstufen der Technik vorausliegt, die man also, ob man es w i l l oder nicht, i m Lichte des Geistes der Technik aushandeln und also i m politisch existentiellen Sinne „neutralisieren" muß. Indem die Heere der absolutistischen Staaten i n einem gewissen Grade durch die Technik bestimmt waren, mußte auch hier schon die Form der Auseinandersetzung, auf die sie hinwiesen, festgelegt werden. Man weiß, daß Carl Schmitt hierfür den völkerrechtlichen Begriff der „Hegung" des Krieges entwickelte 14 . Der Begriff der „Hegung" umfaßt aber mehr als die Kennzeichnung eines historischen Zustandes i m Völkerrecht der modernen Staaten. Wenn w i r ihn auf die Freund-Feind-Unterscheidung i m technischen Zeitalter beziehen und wenn w i r diese Unterscheidung nicht national-existentiell, sondern existentiell auf der Grundlage der politischen Geistigkeit der Gebiete verstehen, kann der Begriff der Hegung eine neue Form der Weltpolitik und ein neues Verständnis des Völkerrechts heraufführen. Nach unserer These sind es also die Gebiete des Geistes, aus denen sich eine freundliche Assoziation oder eine feindliche Dissoziation i m Grundmedium des Erdraums anbahnt. Sie geben den Grad jener Intensität i n der Fremdheit oder Verbundenheit zu spüren, nach denen sich Freundschaft wie Feindschaft offen oder geheim oder i m Wechselbezug von offen und geheim politisch betreiben lassen. Zwar haben die Gebiete des Geistes, Wirtschaft, Wissenschaft etc. i n einer Hinsicht eine Tendenz zur neutralen Eigenständigkeit. I n anderer aber, nämlich gerade i n der politischen Hinsicht, bleiben sie Medien, mit denen sich aus der existentiellen Lage einer staatlich oder politisch-bündnismäßig assoziierten Einheit zu einer anderen ein neuer weltgeschichtlicher Zusammenhang, eine neue Machtkonstellation gewinnen läßt. Denn existentiell ist nicht allein der Konflikt, der die Gefahr des Krieges heraufbeschwört. Existentiell sind auch die politischen Voraussetzungen eines Konfliktes in der Macht der Technik, i n deren Ursprung und Verantwortung, die so in den Gebieten des Geistes gründet, wie diese sich i n den nationalen Kulturen vermitteln. Als existentielle Medien der Politik enthalten damit die Gebiete die Voraussetzungen zu der Kunstfertigkeit, eine Freundschaft politisch zu gewinnen und zu erhalten. Sie enthalten jene Voraussetzungen, welche die konkreten Fertigkeiten entwickeln lassen, die einen Politiker kennzeichnen und ihn als politischen Menschen bestimmen. Unmöglich beinhaltet ja der bloße Affekt, mit dem eine Gemeinsamkeit oder Fremdheit empfunden wird, auch schon die Geschicklichkeit, die eine Lage existentiell erfassen und politisch i m Zusammengehen mit dem Freund, i m Vorgehen 14 Siehe Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde, K ö l n 1950, Sachregister, S. 305, dort der Begriff „Hegung".

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gegen den Feind, meistern läßt. Denn selbst die höchste Entschiedenheit zu dem leidenschaftlichen Gefühl einer gemeinsamen Sache verlangt vom Politiker mehr als die Parole des Einsatzes, verlangt Überblick, Einsicht und Verstehen, um zu erfassen, wie die gemeinsame Sache bei den verschiedenen Menschen und Berufsgruppen, i n ihrem Verhältnis zu den geistigen Kulturgebieten und zu den bebauten Landschaften vertreten ist. Das Problem jener Bestimmung, die der Begriff des Politischen i m technischen Zeitalter finden sollte, besteht darin, zu deuten, wie die Gebiete und deren Unterscheidungen beschaffen sind derart, daß sie die FreundFeind-Unterscheidung von der bloßen Affektspannung lösen und von deren existentieller Lage zu den existentiellen Gründen führen, nach denen sich das Wachsen einer Assoziation freundschaftlich fördern, das Wachsen einer Dissoziation aber politisch selbstbewußt und i n Abwendung von dem M i t t e l des bewaffneten Krieges neutralisieren läßt. Das technische Zeitalter verlangt ja, wie w i r sahen, eine Art, feindliche Standpunkte zu bestreiten, die nicht absolut den gegenseitigen Untergang, die gegenseitige Vernichtung anstrebt. Sind doch Militär und Technik so miteinander verflochten, daß sie nur miteinander den Krieg heraufführen können und damit den totalen Einsatz heraufbeschwören, der die Drohung gegenseitiger Vernichtung einschließt, die i n den atomaren Kampfmitteln bereitliegt. Kein Kontrahent eines konkreten politischen Gegensatzes (etwa, ob ein bestimmtes Gebiet — Vietnam — kapitalistisch oder kommunistisch bewirtschaftet werden soll) kann sich angesichts dieser Situation ernstlich als Vertreter der absoluten Wahrheit, der Menschheit, des Rechtes usw. auf werf en. Die Verbundenheit jeder Konfrontation m i t ihren technischen Mitteln legt es heute nahe, eine Form und Institution zu finden, die den Austrag des Gegensatzes so betreibt, daß er auf den Erweis eines i n dem Gegensatz verborgenen höheren Rechtes zielt, das über dem unmittelbaren Widerspruch steht, i n dem sich die Kontrahenten befinden. Wenn w i r hier nun also den Begriff der „Hegung" ansetzen und i h n über die Kennzeichnung einer historischen Situation hinaus als ein Grundpostulat des industriellen Zeitalters festhalten möchten, dann m i t der Frage, i n welcher Weise die Technik i n den militärischen Mitteln und Drohungen und mit ihnen schließlich, statt ihrer, auch friedliche M i t t e l an die Hand gibt, eine Konfrontation verhandlungsmäßig zu betreiben und zu schlichten. Fragen wir, i n welchem Sinne eine Feindschaft nach ihrem philosophisch zu erfassenden Grundcharakter überhaupt hegbar wird. Die Feindschaft w i r d gehegt i n Hinsicht auf den unbekannten Sinn der Zukunft, dessen Recht nicht i n der unmittelbaren Position der Standpunkte liegt, sondern nur durch den geregelten Austrag der Gegensätze sichtbar wird. Solche Hegung der Feindschaft durch die Regelung ihres Austrags liegt eigentlich jeder unmittelbaren politischen Konfrontation stets schon 42 Festschrift für Carl Schmitt

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als Möglichkeit voraus. Denn jeder Konflikt nährt sich aus einem Hintergrund der Lage und der M i t t e l und hat darin sein politisches Wesen, wie dieser Hintergrund an die Konfrontation herangenommen und für die Aufnahme ihres Auftrags fruchtbar gemacht w i r d (auf die für Carl Schmitt so wesentlichen Begriffe des Nomos und der Nähme sei hier nur verwiesen) 15 . So, nämlich i n der Aufnahme eines Konfliktes aus einer Lage (im praktischen Austrag von Logos und Nomos) nach den Mitteln, die die Lage an die Hand gibt (in einer anderen A r t von ,Zuhandenheit' als sie Heidegger analysiert) haben die Politiker ihre Politik stets schon als »Handwerk' praktiziert. I m Zeitalter der Industrie und der Technik sind nun die Mittel, die eine nationale K u l t u r i n sich bereithält oder entwickelt, nicht nur ein i m Hintergrund angewachsenes Machtpotential. Die Mittel sind vielmehr auch Gegenstand der theoretischen Reflexion, sie sind als Mittel reflektiert und werden nach ihren Grundlagen erforscht. Alle Werkzeuge der Produktion werden nach Gesetzen installiert, die zuvor von der Wissenschaft ermittelt und gemäß der Effektivität ihrer Anwendbarkeit ausgewiesen sind. Sie werden damit zu Maschinen der Industrie. Entsprechend ist der Hintergrund der Mittel i n den Kulturräumen und in der Technik, die i n ihnen heranwachsen kann, auch nicht mehr Sache einer Politik, die nur ,Handwerk' bliebe. Es geht nicht mehr nur u m den Austrag einer Konfrontation m i t der Praxis aller i m Hintergrund ihrer historisch-existentiellen Lage verfügbaren Mittel. Dies, wie w i r schon sagten, um so weniger, als die Technik i n den Mitteln die Drohung einer absoluten Vernichtung wachsen läßt, der gegenüber Tapferkeit und Kampfeslust wenig bedeuten. Entsprechend hat der Hintergrund der Mittel, aus dem sich i m industriellen Zeitalter eine politische Konfrontation anbahnt, nicht mehr nur das Grundmedium, den Erdraum, die Einflußsphären bestimmter Erdgebiete zum Vordergrund, nämlich gemäß der Frage, ob sie so oder so zugeordnet werden sollen, zu dieser oder jener Nation, zum Kapitalismus oder Kommunismus. Wo dies ,So' jedem Kontrahenten eindeutig erscheint, affirmiert er selbstgerecht nur seine eigene existentielle FreundFeind-Position und geht nicht zu den Gründen der Assoziation oder Dissoziation, wie sie für beide Seiten bestehen. Jede freund-feindliche Assoziation oder Dissoziation w i r d zwar i m Erdraum angebahnt. I h n w i l l sich jeder der Kontrahenten primär assoziieren gemäß der eigenen Form seiner Kultur, die heute sowohl technisch universell wie national differenziert zur Wirkung kommt und dabei auch wieder die Planungsformen der Technik innerhalb einer kapitalistischen, kommunistischen oder sozialistisch orientierten Grundplanung differenzieren kann (ist doch etwa der Kommunismus i m Planungscharakter der chinesischen W i r t 15

Siehe ebenda, Sachregister S. 307, dort der Begriff „Nomos".

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schaft nicht gänzlich dem der russischen oder jugoslawischen konform, ebenso wenig das Ausmaß der Monopole i n den USA dem i n der Schweiz). Das primäre Element der Assoziation, der Erdraum seinerseits, bietet seinen Vordergrund, seine industrielle Aufschließung durch diese oder jene Staats- und Wirtschaftsform der Technik, i n einem ,höheren 4 Vordergrund dar, i n einem Vordergrund, den die Gebiete des Geistes nach ihrem Entwicklungsstand ausweisen. Wo nämlich der Hintergrund der politischen Machtmittel sehr entschieden und durchgreifend von der Technik bestimmt wird, treten aus i h m die Gebiete des Geistes hervor und verweisen gemäß ihrer Vorschau und Planhaftigkeit auf jene politische Planung (Herrschaftsplanung), die i n Form einer institutionellen Hegung den möglichen politischen Konfrontationen vorhergehen kann. Die Konfrontationen treten so i n das Grundmedium, i n den Vordergrund des Erdraums ein, wie die Gebiete des Geistes darin eine Vor-Schau auf ihren Austrag anweisen und Institutionen nahelegen, i n denen sich der Einfluß aller Gebiete auf die Technik und die Konfrontationen aufweisen lassen, die durch die technische Entwicklung heraufgeführt werden. Auch ohne völkerrechtliche Institution befindet sich der gesamte Erdraum unter dem sog. „Atomschirmunter einer jedes konkrete politische K a l k ü l ausschließenden technischen Vernichtungsmacht. Die geistige Vor-Schau dieser Macht besteht eben darin, daß man m i t i h r i m Erdraum als Grundmedium nichts als Vernichtung bewirken kann. Zugleich aber verweist der Stand der Wirtschaftskapazität der Staaten, die planbaren Kräfte ihres Gebietes sowie die national (romantisch-ästhetisch) reflektierten Eigengehalte der K u l t u r e n und dann vor allem auch der Entwicklungsstand der Wissenschaften und ihrer Anwendungen als so viele weitere Gebiete auf ebensoviele Einflußnahmen, die aus ihnen heranwachsen und unter dem ,Atomschirm' weiterhin zu politischen Konflikten und Konfrontationen führen können. I m ,Lichte < dieser Gebiete, wie sie aus dem universellen technischen Machtpotential hervortreten und m i t ihrer Vor-Schau auf die Konfrontationen i m Grundmedium des Erdraums und Planetenraums einwirken, können die Mächte ihre Konflikte i n einer Institutionalisierung einfangen, i n der sie sich hegen und gehegt aushandeln lassen. Wenn heute die Weltpolitik den Konfliktsfall i n Form der Eskalation erfährt, die sie dem Einsatz der kriegerischen M i t t e l geben könnte, so zeigt dies, daß nicht einfach ein Hintergrund von M i t t e l n Einfluß gibt derart, wie ein Politiker sie i n seiner politischen Besonnenheit oder Kühnheit existentiell für die Ziele der Zukunft seines Staates i n der Hand hält. Die M i t t e l deuten von sich aus, nämlich ,vordergründig' nach dem Gesetz ihrer Planbarkeit auf Grade oder „Intensitäten", i n denen eine Feindschaft noch betrieben werden kann oder aber sinnlos wird. Die 42*

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Spannung von Kapitalismus und Kommunismus so intensiv zu empfinden (in einem ideologischen Feindaffekt), daß man sich gegenseitig als ,Feind der Menschheit' bezeichnet und absolut konfrontiert findet, bedeutet Blindheit gegenüber den realen Intensitäten, i n denen der Gegensatz zu überlegen und auf einen völkerrechtlich institutionellen Austrag anzulegen ist danach, wie er sich aus den Gebieten der technischen und soziologischen Entwicklung angebahnt hat und von ihnen her auf das Konfliktsfeld des Erdraums verweist. Konfliktsfeld sind heute vor allem die Entwicklungsländer und die darin kontrahierenden Einflußnahmen, wobei die Entwicklungsländer selbst das politische Ziel haben, Subjekt zu bleiben, das aus eigener Instanz einen institutionell geregelten Austrag der Einflußnahmen erheischt. So wenig wie die Technik, können sich auch die Entwicklungsländer von sich aus als ,neutrale Dritte' etablieren. Denn eben dies verlangt schon eine institutionelle Form der Kontrolle der Neutralität, die sich ja in der Entwicklung einer Technik vollzieht und dabei bestimmte Tendenzen verfolgt und aus ihnen notwendig A n lehnungen an andere Mächte vornehmen muß. W i r haben damit auszuweisen versucht, wie die technischen Mittel durch ihre Planbarkeit den existentiellen Freund-Feind-Konfrontationen gewisse Formen institutioneller Hegung einfach abverlangen. Die Technik bedingt, daß das Grundmedium jeglicher Assoziation und Dissoziation, der Erdraum, den Geschichts- und Entfaltungskräften der Staaten selbst schon i n militärischer Hinsicht eine andere Konfrontation bietet als dies i n den historischen „Landnahmen" der alten Kulturkreise der Fall war. Die Konfrontation erfolgt jetzt i n der Einflußnahme auf die Entwicklung der Industrie der sog. ,unterentwickelten' (d. h. industriell unterentwickelten) Nationen. I n imperialistischer Zeit konfrontierte man noch unmittelbar i n Form des Anspruchs auf Annektion von Gebiet (Raumgebiet, das nach äußeren Grenzen einverleibt wurde oder nicht — Faschodakonflikt). Heute ist der eigene ,Vorentwurf' der geistigen Gebiete, ihres Entwicklungsstandes und ihrer rational wie national (ästhetisch) differenzierbaren Applizierbarkeit so stark, daß die ,unterentwickelten' Erdgebiete, deren Bevölkerungs- und Kulturstruktur, ihre Assoziierbarkeit oder Eigenständigkeit nur i m Lichte dieser geistigen Gebiete ausweisen. Assoziierbarkeit kann auch niemals mehr ,Einverleibung', völlige Assimilation meinen, sondern nur einen Grad der Anlehnung oder Abwendung (höchstens bis zum ,Satelliten'). Jede Einflußnahme der Großmächte muß sich deshalb an die Eigenständigkeit der neu erwachsenden Wirtschaftsstrukturen orientieren. Sie muß die Kooperationsweise der Bevölkerung unter bestimmten Wirtschaftsformen berücksichtigen (nicht alle Völker vermögen die Technik i n Form des individuellen Kapitalismus zu entfalten). Die Einflußnahme muß i m Lichte des ästhetischen Gebietes sehen, wie die nationalen Kooperations-

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weisen durch bestimmte Überzeugungen angeregter vollzogen werden. — Man kann, wie das abschreckende Beispiel des Vietnamkrieges erweist, keine ,freie 1 Wirtschaft und Industrie einführen, nur indem man dort Geld, Maschinen und schließlich, wenn trotz allem die entsprechende Assoziation nicht eintritt, Militär hinbringt. Das ,Hineinpumpen 4 von Wirtschaftsmitteln fördert nur die direkte militärische Konfrontation, solange der andere seine Machtmittel (Partisanen und deren Unterstützung) ebenfalls ,hineinpumpt'. Wahrhaft politisch w i r d die Einflußnahme erst dann, wenn die Gebiete des Geistes i n ihrer spezifisch einzuschätzenden Anwendbarkeit auf das Entwicklungsland i n Betracht gezogen werden. Solange dies nicht geschieht und man von beiden Seiten der Einflußnahme nicht darüber mit dem Gegner verhandelt, wie weit i n der Innenstruktur zwischen Lenkung und Freiheit der Wirtschaft — und nicht nur i n Form einer Teilungsgrenze des äußeren Gebietes, NordSüd, Ost-West, hier kommunistisch, dort kapitalistisch, aber nirgends ein eigener Sozialismus — ein Kompromiß zu treffen ist, konfrontiert man militärisch und unterwirft die Politik dem Geist der Eskalation. I n der militärischen Eskalation erfährt man unwillkürlich, weil unreflektiert, dann ebenfalls die Nötigung, das umstrittene Einflußgebiet i m Erdraum (dem Grundmedium) nach den Vorplanungen der Gebiete der Technik anzugehen. Denn indem die Technik die Konfrontation ja trägt, entfaltet sie ihren Geist als bloße Macht darin, daß sie Stufen der Eskalation vorzeichnet, je nachdem wie die Gebiete der Wirtschaft (Potential) und der Wissenschaft (Wirkungsgrad bestimmter Waffen eines Potentials) zusammenwirken können, um i n einem bestimmten Erdgebiet, das man ja nicht atomar ausschalten kann, sondern konkret beeinflussen muß, Macht zu gewinnen. Wenn Wirtschaft und Wissenschaft so auch i m militärischen Machtpotential ,rein technisch', i n neutraler Vor-Schau bestimmte Eskalationsstufen ausweisen mögen, so bleibt selbst machtmäßig gesehen ihr Einsatz eine politisch zu lösende Frage. I n einem unterentwickelten' Gebiet können die Einflußnahmen der Kontrahenten zu militärischen Kämpfen führen, die einen bestimmten Eskalationsgrad erreichen (wie dies i n Vietnam der Fall ist). Der Eskalation stehen dann die Partisanenverstecke und Partisanengesinnungen, die der Erdraum gerade als unterentwickelter' erlaubt, solange gegenüber, bis die Eskalation das ganze Gebiet überrollt, damit aber i n die atomare Konfrontation und in die absoluten Vernichtungen der ort- und raumlosen Materie gelangt. Eskalation steht solange der Gegen-Eskalation gegenüber, wie das Unverständnis andauert, mit dem die wahre Vor-Schau der Gebiete des Geistes übergangen wird, die i m konkreten Erd- und K u l turraum des Entwicklungslandes hinweisen auf die eigenständigen sozialen Bedingungen und Kooperationsformen, die eine Industrie fordert, die hier und so ihre Entwicklung anbahnt.

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W i r haben den politischen Grundsinn der Freund-Feind-Unterscheidung i m technischen Zeitalter darin zu deuten gesucht, wie er sich bei Carl Schmitt aus der tieferen Intention ergibt, m i t der die Begrifflichkeiten des Denkens dazu beitragen möchten, daß i n den existentiellen politischen Gruppierungen und Konflikten jene höhere Harmonie mächtiger wird, die sie verborgenerweise trägt. W i r haben diese verborgene Harmonie als die Vor-Schau behandelt, welche die Gebiete des Geistes nicht i m neutralen, sondern i m existentiell politischen Sinne gestatten. Träger der Vor-Schau der Gebiete bleibt der Mensch, der die Politik nach ihrer geistigen Grundlage reflektiert. Welche Überzeugung von sich, vom Sinn des Lebens aber trägt den geistig politischen Menschen? Der von Carl Schmitt geprägte Begriff der ,Hegung 1 , den w i r auf die völkerrechtliche Institutionalisierung der Feindkonflikte zu übertragen suchten, die das technische Zeitalter erfordert, impliziert die Anerkennung des Feindes als feindlichen Menschen, mit dem auch i n der vordergründigen Feindschaft eine hintergründige Gemeinsamkeit des Menschlichen bestehen bleibt. Aus welcher Gesinnung vermag der Mensch eine solche Anerkennung zu vollziehen? Die Gesinnung, die hier i m letzten Grunde dafür entscheidend wird, den Anderen, den politischen Gegner als Menschen anzuerkennen, liegt beim eigenen Verhältnis zum Tode. Carl Schmitt erklärt: „Wer keinen anderen Feind mehr kennt als den Tod und i n seinem Feind nichts erblickt als leere Mechanik, ist dem Tode näher als dem Leben 1 6 ." Der Tod als Urfeind der Menschheit ist nach christlichem Glauben i n jener Sinnfülle überwunden, i n der Jesus Christus lebte, starb und auferstand. I n Abwendung von diesem Glauben — eine Abwendung, die zugleich eine unausdrückliche Zuwendung bedeuten kann — läßt sich der Tod auch auf jene Überwindung beschränken, die uns Menschen primär und natürlich ist und die w i r i n unserer K u l t u r und Arbeit, i n der Fortführung des Lebens der Generationen vollziehen und die i n jener Entwicklungsfülle liegt, welche die menschliche Geschichte aus dem Abgrund der Zukunft, dem Schoß der Materie und der Erdräume heraufführt. Hierbei aber hat jeder Mensch, hat jede Gemeinschaft und Gemeinschaftsbildung ihren eigenen endlichen Stand und innerhalb der universellen Macht der Technik ihre eigensten Sinnaspekte. Wenn sie den Tod nur i n ihnen überwunden glaubt, setzt sie sich damit i n eine absolute Position gegen die Mitmenschen einer anderen Geschichtslage und Verfügung der Technik. Sie negiert den eigenen realen Tod, affirmiert nur die eigene Form technischer Macht, darin sie ihn zeitlich-geschichtlich überwindet, und negiert wiederum die Entwicklungskräfte, die auch i n anderen Formen und Ausprägungen technischer Macht gefunden, verborgen und noch zu finden sind. Sie wälzt den eigenen unverstandenen, negierten Tod damit ab, daß 16

Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, S. 95.

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sie die Entwicklungskräfte des Feindes für seelenlos, ausrottbar, unmenschlich, „roh-mechanisch" 17 erklärt und sie so als den Tod fixiert, den man i n sich selbst nicht versteht, den man auf den Feind projiziert, i n i h m auslöschen möchte, um selbst i n der Geschichte als Sieger verherrlicht zu sein. I n Wahrheit aber besitzt jede menschliche Gemeinschaft inmitten ihrer technischen Produktionswelt und i n Abhebung zu ihr das eigene Leben und auch den endlichen, am Tode zu entscheidenden Geschichtssinn dieses Lebens nicht i n deren Macht und Selbstdurchsetzung, nicht i n deren Sieg als Sieg einer bestimmten menschlichen Lebensordnung über alle Geschichte und selbst über den Tod. Gottfried Benn fragt i n einem seiner Gedichte nach dem Todessinn des Siegers — auch wohl i m Sinn jenes Rilkewortes: „wer spricht vom Siegen, Überstehn ist alles" — und nennt seinerseits den „Nenner" der Geschichte — den Nenner der erobernden „Nähme" — als „ein paar sterbende Krieger, gequält und schattenblaß, sie heute und morgen der Sieger"; und i n Sicht auf den Sieger der Sieger, den Tod, fragt er und steigert i m durchklingenden Aufhalt der Frage das Gedicht zur Höhe und Reife der Form: „ w a r u m erschufst D u das?" — Nicht als konfessionelle, etablierte Geschichtsmacht, sondern als Bekenntnis „Jesus is the Christ", das Thomas Hobbes als Grundlegung des absolutistischen Staates und seiner Hegung des konfessionellen Bürgerkrieges proklamierte 1 8 , fordert das Christentum die Feindesliebe. Die Feindesliebe ist angewiesen auf die Anerkennung, daß das Menschliche, daß das Humanum auch i m Feinde lebt. I m Sinne einer Humanität, die den Feind gerade i n den Tendenzen seiner Feindlichkeit umfassen möchte, ergibt sich die Forderung, der sich auch die Antigone des Sophokles stellt mit jenen berühmten Worten: „nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da" (Verse 522/23). Das Mit-Dasein i m Lieben w i r d i m Urtext aus dem gemeinsamen Grunde ausgesprochen, i n welchem die Menschen i n der Natur aufwachsen: „ b i n ich da" lautet auf Griechisch έφύ. Der gemeinsame Grund des Wachsens liegt i m Geist der Natur (φύδις) und ist dort mehr als der Gemeinschafts- und Machtgeist, der die Freundschaften oder Feindschaften wachsen läßt. Das Humanum jeder menschlichen Gemeinschaft, nämlich daß sie sich m i t ihrem Geist i n der Geschichte und dort i m Gegen- und Miteinander zu anderen Gemeinschaften verwirklichen w i l l , ruht beim Geistgrund der Natur. Es w i r d aber dort, i m Schöße der Materie, erst schöpferisch human, wenn es mehr ist als der Mangel an Zeit und Zukunft unseres hiesigen Lebens, mehr als dessen Verwirklichung und Tod, mehr auch als der Einsatz eines Lebens und Todes i n einer Gemeinschaft gegen das Leben und den Tod einer feindlichen Gemeinschaft. Das Humanum ist der Geistgrund der Natur als 17 18

Schmitt, Carl, a.a.O., S. 95. Schmitt, Carl, a.a.O., S. 122.

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die Sinnfülle, die den Austrag der Feindschaften, die Anbahnung der Freundschaften lenkt. Das Humanum lenkt i m Sinne jenes Mitliebens, das inmitten des wachsenden Konflikts der Feindtendenz des Anderen aus der gemeinsamen unbekannten Fülle zu begegnen sucht, darin die Menschheit reift. W i r danken Carl Schmitt ein gut Teil neuer Sicht i n diese Fülle.

Enemy oder Foe Der Konflikt der modernen Politik Von George Schwab, New York Der Begriff des Politischen ist bereits so häufig und dabei so unterschiedlich definiert worden, daß ein jeder etwas anderes darunter verstehen kann. Unter dem Gesichtspunkt der hier aufgeführten Auslegungsmöglichkeiten wäre es daher unnötig, ja unergiebig, noch eine weitere Definition hinzuzufügen. Da nun aber der Terminus der Betrachtung vorangestellt ist, soll wenigstens i n etwa erklärt werden, wie er gebraucht wird. Ausgangspunkt ist die Betrachtung über den Begriff des Politischen von Carl Schmitt. A n Stelle einer umfassenden Definition hat sich Carl Schmitt i n seinem 1927 erschienenen Aufsatz auf die Erklärung beschränkt, das grundlegende K r i t e r i u m der internationalen Politik i n der Zeit des modernen Nationalstaates i n Europa sei die Unterscheidung zwischen Freund und Feind 1 . Sein K r i t e r i u m gilt auch für innenpolitische Beziehungen. I n dieser Hinsicht ist es jedoch nur dann zu verwenden, wenn Auseinandersetzungen an den Band eines Bürgerkrieges geraten. Er mißt die politischen Beziehungen an der allgegenwärtigen Möglichkeit, i n einen Konflikt verwickelt zu werden, der i n letzter Konsequenz zur Tötung führen kann 2 . Obwohl Carl Schmitt nicht den Versuch macht, den Begriff des Politischen zu definieren, offenbaren seine Schriften zu diesem Thema doch jedenfalls eine entscheidende Tatsache: da er sich i n seiner Argumentation an die Epoche des modernen Nationalstaates i n Europa gebunden erachtet, unterstellt er die internationalen politischen Beziehungen souveräner Staaten i m Friedenszustand gewissen anerkannten Spielregeln, was natürlich auch ganz bestimmte Folgen für das Verhalten der Staaten 1 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, A r c h i v f ü r Sozialwissenschaft u n d Sozialpolitik, Bd. 58, Heft 1, Aug. 1927. Nach Erscheinen dieses A r t i k e l s behandelte C. Schmitt diesen Begriff des Politischen ausführlicher i n seinem Buch. A l l e Verweise sind der letzten Ausgabe entnommen: Der Begriff des Politischen, Text von 1932 m i t einem V o r w o r t u n d drei Corrollarien, Berlin: Duncker & Humblot, 1963. Dazu auch J. Freund, L'essence du politique, Paris: Editions Sirey, 1966, S. 442 ff., eine ausführliche Auseinandersetzung m i t C. Schmitts Freund-Feind-Begriff. 2 Carl Schmitt, Der B e g r i f f . . . , S. 28 ff.

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i m Kriegszustand hat. Dadurch erhält der Begriff des Politischen bei Carl Schmitt nun einen ganz bestimmten Inhalt. Die politischen Beziehungen zwischen unabhängigen politischen Einheiten i n Friedenszeiten haben jedoch i n verschiedenen Epochen der westlichen Zivilisationsgeschichte unterschiedliche Formen besessen und waren daher nicht immer durch gegenseitig anerkannte Regeln festgelegt. Folglich waren auch dem Verhalten i m Kriege keine festen Grenzen gesetzt. Heute nun, zur Zeit des Niedergangs des modernen Nationalstaates in Europa, muß vor allem der Feindbegriff, wie ihn Carl Schmitt versteht, hinsichtlich der Begriffsunterscheidung, die den beiden Termini Feind i m absoluten Sinne (engl, foe) und Feind i m Sinne von Gegner (engl, enemy) innewohnt, doch wohl neu überdacht werden. I. Die Unterscheidung absoluter Feind (foe) — konventioneller Feind (enemy) im Alten Testament, in der antiken Welt der Griechen und Römer und in den Religionskriegen des Mittelalters Oberflächlich betrachtet mag es scheinen, als sei diese terminologische Unterscheidung (im Englischen) nur linguistisch von Bedeutung. Es soll aber hier der Versuch gemacht werden zu zeigen, daß ohne eine Begriffsunterscheidung ein sinnvolles Verständnis der modernen Politik fast unmöglich ist. Manche Sprachen haben vor anderen den Vorteil, daß sie zwei verschiedene Termini zur Bezeichnung eines Opponenten oder Widersachers besitzen. Die englischen Worte enemy und foe entsprechen denen des Lateinischen, Griechischen und Hebräischen. Wie w i r gleich sehen werden, hat diese linguistische Unterscheidung bestimmte Folgen für die politische Begriffswelt. So spricht das Alte Testament ζ. B. durchgehend von dem privaten Gegner als lcjie und von dem öffentlichen Gegner als a'ilc. Auch die Griechen haben streng zwischen dem εχθρός, dem privaten und dem πολέμιος, dem öffentlichen Feind unterschieden. Die Römer benutzten jeweils die Termini inimicus und hostis. I n der englischen Umgangssprache werden die beiden Ausdrücke zur Bezeichnung des privaten und des öffentlichen Feindes oft als Synonyme verwendet. Der Grund für diese Verwechslung soll noch behandelt werden. Ob das typische Merkmal internationaler politischer Beziehungen in Friedenszeiten auf der Vorstellung des konventionellen Feindes (im Sinne von Gegner) oder des absoluten Feindes beruht, w i r d am ehesten i n Momenten aktiver Feindseligkeiten klar. Wie so oft, w i r d i n extremen oder außergewöhnlichen Situationen plötzlich deutlich, was unter normalen Umständen verborgen bleibt. Entscheidend für die Herleitung einer „Feind" (enemy) — „Feind" (foe) Unterscheidung ist die Befolgung bestimmter anerkannter Regeln der Kriegsführung durch die Kom-

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battanten. Häufig sind die Ausschreitungen bei der Kriegsführung nicht die Folge gewöhnlicher Propagangakampagnen, die dem Konflikt vorausgehen, sondern ergeben sich vielmehr aus tiefen religiösen oder ideologischen Überzeugungen, die bereits vor Ausbruch der Feindseligkeiten bestanden. Wenn also versucht werden soll, eine „Feind — Feind" Unterscheidung i m Politischen und gleichzeitig auch eine den beiden Terminie enemy und foe inherente Begriffsunterscheidung festzustellen, so dürfen vor allen Dingen gewisse fundamentale Kriterien nicht außer acht gelassen werden. So ist neben der Frage, ob die Kombattanten die grundlegenden Regeln der Kriegsführung befolgen, auch die Behandlung der Kriegsgefangenen und der besiegten Bevölkerung von Bedeutung. I n engem Zusammenhang damit steht auch die A r t der Ausgestaltung internationaler Beziehungen i m Frieden, d. h. ob sich potentielle politische Gegner dabei als gleichberechtigt anerkennen. Das läßt sich natürlich i n Friedenszeiten nicht immer klar erkennen. Da die Hauptpfeiler des Gedankenguts westlicher Zivilisation und K u l t u r i n bestimmten Vorstellungen des Alten Testaments, sowie i n bestimmten Gedanken und Praktiken der Griechen und Römer der Antike zu finden sind, soll diese Untersuchung mit einer kurzen Betrachtung des Begriffs des Politischen und den i m alten Testament entnommenen Kriegspraktiken der Israeliten beginnen. Es ist wohl bekannt, daß das politische Verhalten der Israeliten eine Folge ihres religiösen Denkens war. Die Religion bildete die eigentliche Grundlage ihres politischen Handelns. Wie bereits eben erwähnt, wurde i m Alten Testament streng zwischen Icjie und a'tlc unterschieden, und i n dieser Hinsicht ist auch das Gebot „liebet euren Nächsten" zu verstehen (3, Moses 19:18). M i t dem Nächsten ist ein Mitglied der Gemeinschaft der Israeliten gemeint, und wenn durch private Streitigkeiten unter ihnen Schaden entsteht, oder wenn Israeliten Anschläge auf Gesamt-Israel verüben, so w i r d die Strafe gemäß den Gesetzen ihres Volkes festgesetzt. Anderes gilt jedoch für Beziehungen zwischen Israeliten und „anderen". I m alten Testament, besonders i m 5. Buch Moses, sind m i t „anderen" i m allgemeinen die Völker bezeichnet, welche die von Gott auserwählten Kinder bei ihrer Wanderung i n das gelobte Land behindern 3 . Da sich die Israeliten für das auserwählte Volk hielten, betrachteten sie die „anderen" definitorisch und infolgedessen auch i n der Praxis nicht als gleichwertig. A m deutlichsten zeigte sich das i n ihren heiligen Krie8 Das alte Testament enthält eine Reihe von Qualifikationsunterschieden m i t bestimmten Rechtswirkungen. Es w u r d e unterschieden zwischen dem Clan einerseits u n d dem Ausländer, dem geschützten Besucher oder dem ansässigen Fremden andererseits. (Β. N. Nelson, The Idea of Usury: F r o m T r i b a l Brotherhood to Universal Otherhood, Princeton: Princeton University Press, 1949, S. I X ff.) Diese Zwischenunterscheidungen beeinflußten nicht die Hauptunterscheidung.

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gen, die sie m i t Gottes Segen und seinem unmittelbaren Eingreifen zu führen meinten 4 . I n ihrem Glauben, für eine gerechte Sache zu kämpfen, hielten es die Israeliten i n der Regel nicht für notwendig, i n ihren Kriegen einen grundlegenden Unterschied zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten oder zwischen Kampfgebiet und Nicht-Kampfgebiet zu machen. I n Kriegszeiten wurden alle Gegner ausnahmslos getötet. Dasselbe Schicksal ereilte auch alle Besiegten. Vom Kriege unversehrt gebliebener Besitz wurde entweder zerstört oder von den Siegern konfisziert 5. I n Griechenland und i m antiken Rom änderte sich dieses politische Bild allmählich. Bemerkenswert für diese Zeit ist, daß i n Friedenszeiten für die Aufnahme internationaler Beziehungen keine besonderen religiösen Erwägungen mehr angestellt wurden. I n dieser verhältnismäßig weltlichen Atmosphäre wurde es dann auch möglich, internationale politische Beziehungen zwischen unabhängigen politischen Einheiten festzulegen. Ein deutlicher Ausdruck dieser Entwicklung kann i n den verschiedenen Arten von Verträgen gesehen werden, die zu jener Zeit geschlossen wurden®. Nachdem die politischen Beziehungen i m Mittelmeerraum langsam geordneter wurden, entstand auch ein relativ gefestigtes Verfahrensmodell zur Eröffnung der Feindseligkeiten. Bei Herodot steht zu lesen, daß die Griechen der klassischen Epoche üblicherweise eine offizielle Kriegserklärung abgaben, ehe sie aktive Kriegshandlungen gegen eine organisierte politische Einheit eröffneten 7 . Ähnlich bemerkt auch Cicero i n seinen Gedanken zur römischen Staatspraxis, daß gerechte Kriege nur gegen zivilisierte Gemeinschaften und nicht gegen Individuen geführt werden können, die nur als lose, unorganisierte Gesellschaft zusammenleben 8 . Die Führung eines justum bellum bedeutete bei den Römern, daß bestimmte Formalitäten, insbesondere die Kriegserklärung selbst, dem Ausbruch der Feindseligkeiten vorauszugehen hatten 9 . I n 4

E i n genereller Überblick über die heiligen Kriege i m alten Testament bei D. G. v. Rad, Der heilige K r i e g i m alten Testament, Zürich: Z w i n g l i Verlag, 1951, S. 6 ff. 5 I m 5. Buch Moses heißt es i m K a p i t e l X X über die Kriegspraktiken, daß außerhalb der israelischen Grenzen liegende Städte, die sich Israel unterwerfen, dem Staat als tributpflichtig angegliedert wurden. Wollten sich diese Städte nicht ergeben, so w u r d e n n u r die Männer getötet. Von Städten innerhalb der Grenzen Israels waren alle Einwohner zu töten. N u r Obstbäume sollten verschont bleiben u n d den Siegern zu Nutzen sein. β Beispiele vgl. H. Bengtson, Die Verträge der griechisch-römischen Weltv. 700—338 v. Chr., München 1962. 7 Herodot, History V I I , 9, 2. 8 Cicero, De Republica, I, 25; siehe auch Digesten X L I X , 15, 7. ® C. Phillipson, The International L a w and Customs of Ancient Greece and Rome, London 1911, Bd. I I , S. 179—180 ff.

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dieser Hinsicht machten sowohl die Römer als auch die Griechen einen klaren Unterschied zwischen Friedenszustand und Kriegszustand — inter pacem et bellum n i h i l es medium. Trotz dieser Entwicklung i m Bereiche der internationalen Beziehungen ist insofern, als die eigentlichen Kriegspraktiken behandelt wurden, bis dahin noch keine tiefgreifende Veränderung der Begriffe πολέμιος und hostis erkennbar. Obwohl zeitweilig Waffenstillstände zustande kamen, um die verwundeten Soldaten zu behandeln und die Toten begraben zu können, blieben die Kriegsbräuche grausam. Weder die Griechen noch die Römer dachten daran, Nicht-Kombattanten i m Kriege zu verschonen oder m i t Ausnahme von Tempeln, Gräbern und anderen geheiligten Stätten, einen Unterschied zwischen Kampfgebiet und Nicht-Kampfgebiet zu machen. Phillipson erklärt diesen offensichtlichen Widerspruch zwischen Friedens- und Kriegspraktiken damit, daß i m letzten Fall jeder zur Gegenpartei gehörende und oft auch deren Verbündete, den Charakter des absoluten Feindes behielt 1 0 . Dafür gab es viele Gründe, die an wenigen, aber bedeutsamen Beispielen demonstriert werden sollen: i n vielen Fällen sind die „anderen" auf politischer und rassischer Ebene nicht akzeptiert worden, wie i n den persischen und punischen Kriegen, und in anderen Fällen sind es tief verwurzelte ideologische Unterschiede, wie sie i n den peloponnesischen Kriegen auftauchten. Augenscheinlich galt das Hauptinteresse der Griechen und Römer der Behandlung der Besiegten. Während die Maßnahmen der Sieger i n Griechenland weitgehend von deren Großzügigkeit abhing, waren die Römer zeitweilig human i n der Behandlung der Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung. Dies galt jedoch i n der Regel nur bei freiwilliger Unterwerfung und nicht, wenn der Gegner i m Angriff besiegt wurde 1 1 . Wie die Hebräer, die Griechen und die Römer, so haben i m Mittelalter auch die Christen streng zwischen dem privaten und dem öffentlichen Feind unterschieden. Das Gebot „liebet eure Feinde" (Math. 5:44 und Lukas 6:27) heißt lateinisch „diligite inimicos vestros" (and i n Greek: άγαπατε τους εχθρούς ύμων) und nicht „diligite hostes vestros". Der inimicus ist der private Feind und so ist über den öffentlichen Feind, den hostis, nichts ausgesagt. Da fast das ganze Mittelalter hindurch i n den meisten Fällen die Kirche bestimmte, wer der öffentliche Widersacher war 1 2 , soll auch die Haltung 10 ibid., S. 196. Unglücklicherweise benutzt Phillipson die Worte έχθρός, πολέμιος u n d hostis als Synonyme (S. 166) und scheint damit den Begriffsunterschied, der diesen T e r m i n i zugrundeliegt, nicht erkannt zu haben. 11 ibid., S. 234 ff. 12 Die Frage der privaten Kriegführung muß hier gänzlich außer acht gelassen werden. I m m e r h i n sind einige charakteristische Merkmale davon erhalten geblieben und i n die A r t der Kriegführung der unabhängigen Nationalstaaten i n Europa übernommen worden. Vgl. M. H. Keen, The Laws of War i n the Late Middle Ages, London: Routledge & Kegan Paul, 1965, S. 241 ff.

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der Kirche zum Krieg angedeutet werden. Seit den Anfängen des Christentums bis zum ausgehenden Mittelalter lassen sich drei verschiedene Einstellungen dazu unterscheiden. Ganz zu Beginn erachtete die Kirche jegliche A r t des Tötens als unvereinbar m i t dem christlichen Gebot der Liebe. Diese pazifistische Periode endete mit Konstantin. Nun war das Christentum m i t Rom eng verbunden. Der hl. Ambrosius und her hl. Augustinus entwickelten, neben anderen, den Begriff des justum bellum. Für sie war die Verteidigung des Reiches eng m i t dem Schutz des Glaubens gegen die Arianer verknüpft. Der hl. Augustinus erklärte alle die Kriege für gerecht, durch die Unrecht gesühnt wird. Für ihn wie für den hl. Ambrosius war die Sache Roms gerecht, denn sie war christlich. Gewalt um der Gewalt willen war vom hl. Augustinus untersagt 13 . Die Haltung der Kirche zum Krieg änderte sich jedoch, als sie auf dem Wege war, die höchste Macht i m Reiche zu erlangen, was i n der Zeit der Kreuzzüge erreicht war. Diese Kreuzzüge, zu denen die Kirche aufrief, erinnern an die heiligen Kriege der Israeliten, allein mit dem Unterschied, daß die Kreuzzüge „nicht so sehr m i t Gottes Hilfe als i m Namen Gottes, nicht für menschliche Ziele, die Gott segnen könnte, als für eine heilige Sache, die Gott befohlen haben könnte", geführt wurden 1 4 . Die Tatsache, daß der öffentliche Widersacher von vornherein verdammt war, bedeutete i m Grunde, daß er allein auf emotioneller Basis bezichtigt wurde, vom Teufel besessen zu sein und also nicht geschont zu werden brauchte. Der religiöse Fanatismus, der den Kreuzzügen gegen die Ungläubigen und die Ketzer vorausging, zeigte, daß sie von der Kirche nicht als „Gleiche" betrachtet wurden, und i n gewissem Sinne wurden sie daher auch fortwährend bekämpft. Getreu dem Glauben machte man i n den Kreuzzügen bei aktiven Kriegshandlungen i m allgemeinen keinen Unterschied zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten oder zwischen Kampfgebiet und Nicht-Kampfgebiet. Das Los der Besiegten war gewöhnlich der Tod, und den Siegern gehörte i m allgemeinen die errungene Beute. Der Geist der Kreuzzüge, demzufolge der Gegner bereits verdammt ist, lebte i n den blutigen Religionskriegen des 16ten und 17ten Jahrhunderts wieder auf. M i t Ausnahme der Wiedertäufer und später der Quäker haben die verschiedenen protestantischen Staatskirchen den Katholizismus energisch und oft sogar m i t Gewalt bekämpft. Besonders grausam waren die religiösen Konflikte i n Frankreich, wo der Calvinismus sich schnell verbreitete. Die Katholiken weigerten sich, die Ketzerei i n Frankreich anzuerkennen, und für die Calvinisten war der Über18 H. R. Bainton, Christian Attitudes T o w a r d War and Peace: A Historical Survey and Critical Re-evalution, New Y o r k : Abingdon Press, 1960, S. 77, 85 ff.; auch E. Nys, Les origines d u droit international, Paris: T h o r i n & Fils, 1894, S. 44—46. 14 Bainton , Christian Attitudes . . . , S. 44—45.

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lebenskampf eine religiöse Angelegenheit, bei der Betrachtungen zur Menschlichkeit i m Streit um eine heilige Sache keinen Platz fanden 15 . Die Grausamkeiten, zu denen es auf beiden Seiten kam, erinnern an die Metzeleien von Béziers, wo ein Gesandter des Papstes gefragt wurde, ob wenigstens die Katholiken verschont werden sollten. Aber aus Angst, es könnten sich Ketzer unter ihnen verbergen, befahl er: „Töte sie alle, Gott kennt die Seinen 16 .