Wohin führt uns die moderne Hirnforschung?: Ein Beitrag aus phänomenologischer und erkenntniskritischer Sicht [1 ed.] 9783428517862, 9783428117864

In der modernen Hirnforschung wird die Frage nach der Herkunft des »Mentalen« erneut kontrovers diskutiert. Kann es z. B

123 112 10MB

German Pages 104 [105] Year 2005

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Wohin führt uns die moderne Hirnforschung?: Ein Beitrag aus phänomenologischer und erkenntniskritischer Sicht [1 ed.]
 9783428517862, 9783428117864

Citation preview

EWALD RICHTER

Wohin führt uns die modeme Himforschung?

Philosophische Schriften Band 59

Wohin führt uns die modeme Himforschung? Ein Beitrag aus phänomenologischer und erkenntniskritischer Sicht

Von

Ewald Richter

Duncker & Humblot . Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-11786-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Friedrich- Wilhelm von Herrmann in enger Verbundenheit

Vorwort Die moderne Hirnforschung hat das Interesse des Verfassers seit längerem auf sich gezogen. Er hat sich ihr bisher mehr am Rande zugewandt, hat dabei jedoch schrittweise deutlicher gesehen, daß die Hirnforschung nicht nur mit zentralen philosophischen Fragen konfrontiert ist, sondern auch philosophische Ansätze und Lösungen aus eigener Sicht einbringt. So nahm der Entschluß zur vorliegenden Untersuchung schließlich konkrete Gestalt an. Dieser Entschluß fällt zusammen mit der Tatsache, daß die Hirnforschung in den letzten Jahren ein besonders hohes öffentliches Interesse erzielt hat. Sie konnte dies einerseits durch stärkere Verbreitung gut gesicherter Erkenntnisse erreichen, andererseits aber auch durch beigegebene Bemerkungen über deren besondere Tragweite. Zwischen beidem muß ein strenger Unterschied gemacht werden. Im Vergleich mit den objektiven Erkenntnissen sind die zusätzlich abgegebenen Erläuterungen und Einschätzungen nicht in derselben Weise abgesichert, wie die objektiven Erkenntnisse selbst. Im Prinzip wird dieser Unterschied kaum bestritten werden können. Dennoch ist festzustellen, daß jene Erläuterungen sich bisweilen den Anstrich neuer philosophischer Einsichten geben, die unmittelbar aus den Forschungsresultaten hervorgehen. Hier nun sieht der Verfasser den Ansatzpunkt zu einer philosophischen Erörterung, in der Gesichtspunkte aufgezeigt werden können, die bisher bei der Hirnforschung nicht im Blickfeld waren. Der besonders zu beachtende Punkt liegt darin, daß die gesicherten Forschungsergebnisse und eine philosophische Erörterung nicht auf einer Ebene liegen, daß also die Philosophie nicht als der verlängerte Arm der Wissenschaft angesehen werden kann. Nicht zu bestreiten ist, daß unabhängig von dem wachsenden öffentlichen Interesse ein grundsätzliches "philosophisches" Problem der Hirnforschung immer schon öffentlich präsent war. Die moderne Medizin, die sich auf der Grundlage wissenschaftlicher Forschung weiter entwickelt, vermag dem kranken Menschen umso besser zu helfen, je gründlicher der menschliche Körper erforscht wird. Wenn man dementsprechend sagt, der Mensch "fühle sich" nach einer erfolgreichen Behandlung besser, dann ist damit implizit gesagt, daß sich in Abhängigkeit von den physischen Vorgängen (auf die eine Behandlung Zugriff hat) das eigene Wohlbefinden verbessert hat. Eine generelle Abhängigkeit des "Erlebens" vom Physischen wird man dementsprechend auch bei Hirnprozessen erwarten, also auch von ganz speziellen Prozessen des Wahrnehmens, Denkens und Fühlens. Wird hier allerdings näher nachgefragt,

8

Vorwort

wie der Zusammenhang des Physischen und Psychischen zu erklären sei, dann bekommt man aus verständlichen Gründen zumeist ausweichende Antworten. Bei den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum komplexen Aufbau des menschlichen Nervensystems sind jedoch große Fortschritte erzielt worden. Man zweifelt auch kaum noch daran, daß alles Psychische letztlich physikalisch erklärbar ist. Doch mischt sich für viele Laien das über die Hirnforschung Gelesene mit vagen eigenen Vorstellungen über das, was man sich unter den Begriffen "Seele" oder "Geist" bisher vorgestellt hatte. Starkes Aufsehen erregte somit in jüngster Zeit die Schilderung gesicherter Ergebnisse, die sich auf eine Handlung beziehen, die vom Menschen leichthin für das Ergebnis seiner jeweils "jetzt" getroffenen freien Entscheidung gehalten wird. Eine derartige "freie Entscheidung des Ich" ist aber den genannten Ergebnissen gemäß bereits "vor" einem derartigen "Jetzt" durch kausal ablaufende Gehirnvorgänge festgelegt. Der Mensch, so wurde von Hirnforschern dazu angemerkt, täusche sich also in dem, was er als seine "freien Entscheidungen" ansieht. Er müsse, und dabei wird an Darwins Aufsehen erregende Ergebnisse gedacht, heute noch einmal wieder einen gewaltigen Abstrich von seinem Eigendünkel machen. Er müsse sich nämlich eingestehen, daß er nicht, wie er meint, der freie Autor seiner selbst ist. Für einen philosophisch interessierten Leser wird das genannte wissenschaftliche Ergebnis der Hirnforschung das Denken nicht zwangsläufig in völlig neue Bahnen lenken. Er wird sich vielleicht schon zuvor gefragt haben, wie die Gründe für verantwortliches Tun mit kausal verknüpften (und nicht etwa mit ganz oder teilweise indeterminierten Vorgängen) vereinbar sein können. Anders gesagt, das Problem der "Selbstzuschreibung freier Taten" hat, wie viele wissen, etwas mit der Frage nach dem "Selbst" und mit der Frage des Zeitbezuges des "Selbst" zu tun. So haben es Philosophen wie Kant und Schelling (in seiner Freiheitsschrift) auch gesehen. Zugegebenermaßen kann das hier vorliegende Problem als tiefgreifendes philosophisches Problem nicht einfach abgehakt werden. Doch besteht wenig Veranlassung, vorschnelle Folgerungen aus den Ergebnissen der Hirnforschung zu ziehen. Daß z. B. die erwähnte Einsicht in kausal bedingte Handlungen einen Weg in ein humaneres Denken eröffnen könnte (wie dies bisweilen vermutet wird), ist ein gewagter Schluß. Man könnte ja auch der Auffassung sein, daß die Erfolge der Hirnforschung zur Überschätzung des Könnens führen und damit die Hybris fördern, in die Gehirnvorgänge eines Menschen vorschnell mit Verbesserungsabsichten einzugreifen. Der Hinweis auf die Fragwürdigkeit einer übergreifenden Beurteilung der gesicherten Ergebnisse der Hirnforschung wurde mit Absicht an den Schluß dieses Vorwortes gestellt. Der Hinweis soll ankündigen, daß im Folgenden dreierlei als klar voneinander getrennt im Vordergrund steht: Erstens die strengen wissenschaftlichen Erkenntnisse, zweitens eine schrittweise philosophisch

9

Vorwort

aufweisende Erörterung (die nicht von vornherein "abgesichert" sein kann) und drittens ein hinhörender Umgang mit überlieferten Werken der Philosophie, der sich nicht vom jeweiligen Zeitgeist beeindrucken läßt und eine durchdachte Kritik von einer Kritik um der Kritik willen zu trennen bemüht ist.

Meiner Tochter Dr. Birgit Richter danke ich für ihre hilfreichen Anregungen und für die Durchsicht des Manuskriptes. Hamburg, im August 2004

Ewald Richter

Inhaltsverzeichnis

Einführung ..........................................................................

15

Kapitell

Die Grundpositionen der modernen Hirnforschung Thesen und kritische Fragen

20

I. Rückblick und neuere Positionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

11. Identitäts- und Perspektiventhese .............................................

27

III. Das Problem der Korrelierung des Mentalen und Physischen ................

29

IV. Ausbildung des "Ich" und kognitive Leistungen. . ... . . . .. ... . . . .. . . .. . . . . . ...

32

V. Kritische Anmerkungen .......................................................

33

Kapitel 2

Die Problematik der Subjekt-Objekt-Relation

41

I. Die entstehenden Schwierigkeiten bei Voraussetzung der Subjekt-ObjektRelation ........................................................................

41

11. Kants Ablehnung eines Abbildungsverhältnisses .............................

44

III. Identität des Gemeinten und Gegebenen bei E. Husserl ......................

46

IV. Die Rolle der sinnlichen Wahrnehmung in der objektiven Erkenntnis........

48

V. Die sog. "aktiven Erkenntnisleistungen" ......................................

50

12

Inhaltsverzeichnis Kapitel 3

Die Bedeutung der "hermeneutischen Phänomenologie" für die Aufgaben des Denkens

52

I. Beweisendes und aufweisendes Denken bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

H. Heideggers Idee zu einer "künftigen Philosophie" von 1919 und v. Herrmanns Nachweis ihrer grundlegenden Bedeutung ............................

55

III. Martin Heidegger über Verstehen, Auslegung und Zirkel struktur des Verstehens ......................... ........................ .......... ... ..... ..... ....

57

Kapitel 4

Das Problem des Kreisganges in Wissenschaft und Philosophie

60

I. Vorbemerkung über Denkanstöße in Wissenschaft und Philosophie ..........

60

11. Eindeutigkeit in den Wissenschaften. Ihre Verletzung und Wiederherstellung ... ............................. ................. ..... ........ ..... ..... ....

62

III. Der Vollzug eines "Kreisganges" beim Prinzip der "semantischen Konsistenz" (c. F. von Weizsäcker) ..................................................

69

IV. Die "Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung" in Kants theoretischer Philosophie ....................................................................

71

V. Die "Kehre" bei Martin Heidegger ............................................

72

KapitelS

Die Seinsweise des Menschen

76

I. Vorbemerkung ......... . .......................................................

76

11. Die verengte Fassung des "Ich-Problems" in der Himforschung .............

79

III. Das "Ich denke" bei Immanuel Kant ..........................................

81

IV. Dasein und Zeitlichkeit ........................................................

82

V. Heideggers Thesen zum "Selbst" ..............................................

85

Inhaltsverzeichnis

13

VI. Die ungewohnte Rede von der Wahrheit als ..Offenheit des Seins" .. . . . . . . . . .

88

VII. Der .. verborgene Sinn der technischen Welt" .................................

90

VIII. Die naturwissenschaftliche Wirklichkeit und die ..Wahrheit des Seins" ......

92

Literaturverzeichnis .................... . .................................. . ........

98

1. Bewußtseinsproblem, Himforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

2. Philosophie und Grundlagenforschung ........................................

99

Personenregister ..................................... . .............................. 102 Sachregister ......................................................................... 103

Einführung In einem neuen Gewand kommt ein philosophisches Problem auf uns zu, das äußerlich gesehen kein sehr neues ist. Der modemen Physik ist es Schritt für Schritt gelungen, Bereiche zu bearbeiten, die ihr bisher grundsätzlich entzogen zu sein schienen. Hieraus leiten zahlreiche Wissenschaftler die Berechtigung ab, den Wirklichkeitsbegriff der Physik für die Beschreibung der Hirnprozesse des Menschen in Anspruch zu nehmen. Das, was der Mensch erlebt, wird er zunächst zwar nicht in der Sprache der Physik beschreiben, wenn jedoch angenommen wird, daß diesem Erleben "in Wirklichkeit" (d. h. physikalisch) Himprozesse entsprechen, dann müßte es möglich sein, erfolgreich nach physikalischen Korrelaten des menschlichen Wahrnehmens, Denkens und Fühlens zu fragen. Die Himforscher bezeichnen sich dementsprechend zumeist als Physikalisten oder Materialisten, präzisieren dies jedoch durch Unterscheidungen wie "reduktionistischer" und "nicht-reduktionistischer" Physikalismus. Es werden hierbei verschiedene Perspektiven und entsprechende Beschreibungssysteme unterschieden, wobei das naturwissenschaftliche Beschreibungssystem dasjenige ist, in dem die genannten Korrelate anderer Beschreibungen als zugeordnete aufzuweisen sind. Folgende Frage rückt nun in den Vordergrund: Wenn wie erwähnt verschiedene Perspektiven und Beschreibungssysteme unterschieden werden, dann entsteht das Problem, ob es ausreichend sein kann, sich auch für dasjenige, das sich von Haus aus in völlig anderer Weise darbietet, mit Vorrang auf die physikalischen "Korrelate" zu beziehen. Die Beziehung der sog. "mentalen" Himvorgänge auf neuronale Korrelate ist in prinzipieller Hinsicht stets möglich. Vergleicht man jedoch die Korrelate mit dem Erleben, dem sie zugeordnet sind, so wird man einen Sinnverlust feststellen können. Daher räumen einige Forscher, um einer entsprechenden Verarmung nach Möglichkeit zu entgehen, den Inhalten der nichtphysikalischen Perspektiven eine gewisse "Realität" ein. Da man jedoch grundsätzlich Physikalist bleiben will, wird die zugestandene Realität als sekundäre Realität unvermeidlich abgewertet. Andere denken an eine Erweiterung der Physik und verweisen auf hochkomplexe physikalische Zustände, deren geringe Beherrschbarkeit sie als Besonderheit in Kauf nehmen wollen. Hier behält die physikalische Vorgehensweise auch dann das letzte Wort, wenn ausdrücklich kein "Reduktionismus" vertreten wird. Die Verwendung der Sprache der Physik und damit das von der Physik Gesagte, werden nun als "heilsame Ernüchterung" gegenüber solchen Vorstellungen eingestuft, mit denen sich fiktive Überzeugungen verbinden.

16

Einführung

Die Motivation für den mehr oder weniger konsequent vertretenen Physikalismus liegt in Folgendem: Man sieht sich seit langem in der Überzeugung bestätigt, daß im Wirklichkeitsbegriff der Physik die grundlegende Wirklichkeit erfaßt wird. Es gehe hier um das, was das "eigentlich Wirkliche" ist. Insbesondere bei der Beschreibung des Menschen eröffnen sich durch die hohe Gewichtung der physikalisch beschreibbaren neuronalen Himprozesse ungeahnte Möglichkeiten. Trotzdem besteht in der Frage, wie sich z. B. das in der Ich-Perspektive Erlebte zur physikalischen Wirklichkeit verhält, insbesondere aber in der Frage, "ob und wie" es möglich ist, daß Ersteres aus Letzterem hervorgeht, durchaus keine Einigkeit. In Kap. 1, I. wird mit Blick auf diese Fragestellung die Entwicklung von den Anfängen der Kybernetik bis hin zur modemen Himforschung kurz skizziert werden. Daß die Frage der Art des Bezuges zu einer physikalischen Basis nicht in einhelliger Weise beantwortet wird, liegt auf Grund des bereits Angedeuteten nahe. In aller Kürze werden wir auf die unterschiedlichen Lösungswege jeweils an geeigneter Stelle eingehen. Es wird sich dabei zeigen, daß sich einige zentrale Diskussionspunkte herausgebildet haben, bei denen die Kontroversen mit ungewohnter Schärfe ausgetragen werden. Dies kann jedoch kein großes Erstaunen auslösen. Denn der Streitfall betrifft ja im Kern nichts Geringeres als die Nahtstelle des Physischen und Mentalen und führt hier auf eine "fundamentale Erklärungslücke". Eine besondere Rolle spielt der folgende Gedankengang. Zu jeder Wissenschaft gehört jeweils eine bestimmte Vorstellung von dem, was ihr gemäß unter "Wirklichkeit" zu verstehen ist. Der modemen Physik z. B. kommt ein Wirklichkeitsbegriff zu, bei dem das Seiende jeweils den Charakter eines zu beschreibenden Objektes hat. Wird nun diese Beschreibung als Beschreibung einer tragenden Basis angesehen, dann ist es unerläßlich, eine solche Einschätzung durch einen Rückbezug auf die Wissenschaft Physik zu rechtfertigen. Damit ergibt sich zugleich, daß auch der angesetzte Basischarakter des Wirklichkeitsbegriffes der modemen Himforschung einen Rückbezug auf die Grundlagen des Aufbaues der Physik eiforderlich macht. Darüber hinaus werden wir in unserer Untersuchung Folgendes zeigen: Die physikalische Erkenntnis ist als objektivierendes Verstehen kein ursprüngliches Verstehen. Es liegt ihr als für sie unerläßlich ein primäres Verstehen schon zugrunde. Der Verlauf bisheriger Diskussionen in der Himforschung und nicht zuletzt das Auftreten der erwähnten Erklärungslücke wurden für den Verfasser zum Anlaß seines eigenen Beitrags. Hier wird auf Fragestellungen eingegangen werden, die bisher keine hinreichende Berücksichtigung gefunden haben. Die gegebenen Antworten richten sich aber nicht gegen spezielle Ergebnisse der Himforschung. Vielmehr wird der große Erfolg dieses modemen Forschungszweiges als solcher voll anerkannt. Der eigene Beitrag des Verfassers läßt sich am besten durch zwei kritische Gesichtpunkte charakterisieren.

Einführung

17

Der erste kritische Gesichtpunkt lautet: Die Hirnforschung ist weitgehend zur Überzeugung gekommen, daß der "Cartesianische Mythos" (die Zweisubstanzenlehre) in die Irre führt. Zu ihrer eigenen Grundüberzeugung gehört, wie dargelegt wurde, die Annahme einer "physikalischen Basis", die als Basis für andere Perspektiven und Beschreibungen angesehen wird, so daß sich in ihr die "eigentliche Wirklichkeit" des Seienden ausdrückt. Hier ist zunächst folgende Frage zu stellen: Woher kennen wir das, was wir "physikalische Wirklichkeit" nennen? Wir kennen es durch die Beschreibung, die uns die Wissenschaft Physik von dieser Wirklichkeit vermittelt. Wenn aber nun - und dies mit Recht - keine "zweite Substanz" in Anspruch genommen werden soll, dann muß dem sog. "Subjekt" ebenfalls physikalische Wirklichkeit zugesprochen werden. Es wird damit selbst zu etwas "objektiv Realem" und dies gilt sogar insgesamt für die Subjekt-ObjektRelation als solche. Wie ist es dann möglich (ohne daß die Begründung in altbekannte Aporien zurückHHlt), daß das Subjekt eine Beschreibung von der Wirklichkeit erstellen kann, noch dazu eine, die sich als korrekt ausweisen läßt? Kurz gesagt: Wie lautet die Begründung dafür, daß eine objektivierende physikalische Beschreibung die "Objekte selbst" treffen und somit "zutreffend" beschreiben kann? Der zweite kritische Gesichtspunkt lautet: Den modernen, "exakten" Wissenschaften geht es mit Recht um begriffliche Eindeutigkeit. Menschliches" Verstehen" ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem von vornherein abgesicherten "eindeutigen Denken" und das oben schon erwähnte fundamentale Verstehen darf auch nicht als vage Vorstufe des exakten wissenschaftlichen Denkens angesehen werden. Eindeutiges Denken und primäres Verstehen haben jedes ihren besonderen Ort, so daß jeweils eigene Maßstäbe anzulegen sind. Dabei zeigt sich, daß selbst das "strenge Denken" nicht so definitiv abgesichert sein kann, wie bisweilen vermutet wird (vgl. Kap. 4, 11.). Sogar in der "exakten Wissenschaft" Mathematik kommt es bisweilen zu einem unerwarteten Auftreten eines Widerspruches, der dann zu einer Rückbesinnung auf das schon Durchlaufene zwingt, um dort den kritischen Punkt aufzuspüren. Doch dürfen widerspruchsfreies, eindeutiges Denken und Verstehen bereits von vornherein nicht gleich gesetzt werden. Hieraus ergibt sich der entscheidende zweite Gesichtspunkt, der sich auf den "sekundären Charakter" der Physik bezieht. Der Ausdruck "sekundär" besagt hier erstens, daß Seiendes schon in umfassenden Bezügen verstanden wird, bevor sich die physikalische Erkenntnis konstituiert. Zweitens wird mit dem Ausdruck "sekundär" verbunden, daß das primäre Verstehen der Physik unumgänglich zugrunde liegt. Auf dieses "Zugrundeliegen" wird dann im Weiteren die besondere Aufmerksamkeit gelenkt. 2 Richter

Einführung

18

Wird das Zugrundeliegende übergangen, dann entzieht sich zugleich die Möglichkeit, die Frage nach den "Objekten selbst" in Angriff zu nehmen. Nun kann die Subjekt-Objekt-Beziehung selbst nur noch als objektiv vorhandene Relation angesetzt werden. Die Frage, wie es zugeht, daß der verstehende Mensch immer schon bei Seiendem selbst ist, wird keiner befriedigenden Antwort mehr zugeführt werden können. Hiermit wird deutlich, daß die modeme Himforschung hinsichtlich der Überwindung der Schwierigkeiten, die mit dem Subjekt-Objekt-Schema verbunden sind, bisher eine heilsame Hilfe in den Wind geschlagen hat. Diese Hilfe, die von der Himforschung hätte in Anspruch genommen werden können, geht auf Kant zurück und ist, was die wenigsten vermuten werden, in der Kantinterpretation M. Heideggers besonders klar und eindringlich ausformuliert worden. Das von Heidegger Ausgeführte ist freilich nicht in einer Sprache abgefaßt, bei der die von der modemen Wissenschaft geforderte begriffliche Eindeutigkeit verbürgt ist. In einem solchen Fall hätten zentrale Begriffe, wie derjenige der "Erfahrung", nicht sinnvoll herangezogen werden können. Dies hatte, wie Heidegger zeigen konnte, schon Kant selbst gesehen und bei der Erörterung der Beweise der "Grundsätze des reinen Verstandes" ausdrücklich erwähnt (vgl. 4, IV.). Heidegger interpretiert zentrale Sätze Kants aus der Einsicht heraus, daß wir Menschen zum Seienden "nicht hinauskämen", wenn wir nicht im recht verstandenen Sinn immer schon dort wären. Er schreibt: "Worauf Kant stieß und was er als Grundgeschehnis immer neu zu fassen suchte, ist dieses: Wir Menschen vermögen das Seiende, das wir selbst nicht sind, zu erkennen, obzwar wir dieses Seiende nicht selbst gemacht haben. Seiend zu sein, inmitten eines offenen Gegenüber von Seiendem, das ist das unausgesetzt Befremdende".! Heidegger ist dem "Befremdenden", das nicht nur für Kant ein Befremdendes war, sehr eindringlich nachgegangen. Er schreibt 1941: Es sei ein "Zusammentreffen von Subjekt und Objekt (und umgekehrt) nur möglich in einem in sich schon wesenden Offenen, dessen Offenheit einen eigenen, von aller bisherigen Philosophie noch nie erfragten Wesensursprung hat".2 Hier kommt es wieder darauf an, zu verstehen, was es besagt, daß der Mensch in den Offenheitsbereich der Wahrheit nicht hineingelangen könnte, stünde er zunächst völlig außerhalb der Wahrheit. Es bietet sich zum Verständnis an, sich an eine aufschlußreiche Bemerkung Hegels zu erinnern. Hegel entlarvte bezüglich des Erkennens mit klaren Worten die "besorgte" Annahme, es stünde etwas "auf der anderen Seite" der Wahrheit, obwohl man dabei implizit voraussetzt, daß es in dieser Gegenüberstellung "wahrhaft sei". Damit wird nach Hegel offenkundig, daß "das, was sich M. Heidegger, Die Frage nach dem Ding, Max Niemeyer, Tübingen 1962, S. 188. Die Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling 1941, Klostermann (s. Lit-Verz.), S. 56. 1

2

Einführung

19

Furcht vor dem Irrtum nennt, sich eher als Furcht vor der Wahrheit zu erkennen gibt,,3.

Die Vorstellung einer Wirklichkeit "auf der anderen Seite", die korrekt repräsentiert werden müsse, wird in der heutigen Hirnforschung größtenteils als selbstverständlich zugrunde gelegt. In sekundärer Hinsicht und speziell für die Physik ist diese Vorstellung auch akzeptabel, sofern nur die Begründungsfrage nicht wegen des dabei übersehenen Verstehensfundamentes in die Irre führt. Abbildtheorien helfen hier nicht weiter, ebenso wenig wie der Versuch, ein "Hervorgehen" des Mentalen aus dem Physischen mit inakzeptablen Analogien zu "erklären". Die philosophische Fragestellung, die sich in den Zitaten Kants, Heideggers und Hegels zu Wort meldet, wird nach unserer Auffassung von der modernen Hirnforschung zu ihrem eigenen Nachteil nicht als relevant erkannt. Nur wenn dieses Defizit überwunden wird, können die großen wissenschaftlichen Erfolge dieser Forschung in ein rechtes Licht gerückt werden. Und es wird dann nicht mehr heißen können, alle denkerische Bemühung der Menschheit sei "im Grunde nichts anderes" als jeweils ein physischer Vorgang, der am besten aus der "Dritte-Peson-Perspektive" gesehen und entsprechend beschrieben wird.

3 G. W. Fr. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1807, Phil. BibI. Felix Meiner Bd. 114, S. 64 f. 2*

Kapitell

Die Grundpositionen der modernen Hirnforschung Thesen und kritische Fragen I. Rückblick und neuere Positionen Das "psychophysische Grundproblem" hat, wie wir in der Einleitung andeuteten, in der modemen Himforschung eine neue Gestalt angenommen, bei der sich aus der Frage nach der physikalischen Basis des Mentalen neue Probleme ergeben haben. Wenn die Bestimmung des Verhältnisses des Mentalen zum Physischen neue Probleme aufwarf, so geschah dies vor dem Hintergrund der großen Fortschritte der "Neurowissenschaften". Je weiter das Gehirn und sein äußerst komplexes Nervensystem der Forschung zugängig wurde, desto mehr sah man sich in ein umfangreiches Arbeitsgebiet versetzt, in dem man einerseits gut vorankommen konnte, mit dem jedoch andererseits eine kaum zu ermessende Fülle noch zu lösender Aufgaben verbunden war und weiterhin verbunden ist. Keine dieser Aufgaben gibt jedoch, so weit man sehen kann, Veranlassung zur Annahme, die Physik habe keine Mittel bereit, mit denen sich wenigstens "im Prinzip" die Lösung anstehender Probleme erreichen ließe. Auf dem jeweiligen Stand ihrer Forschung beschreibt so gesehen die Physik eine Wirklichkeit, bei der es sich im Falle des menschlichen Gehirns um die "tragende Basis" der geistigen Vorgänge handelt. Bei anderen "Beschreibungssystemen", die in der Himforschung herangezogen werden, muß es dieser Grundannahme gemäß zu den dortigen Beschreibungen auch im Bereich der physikalischen Basis entsprechende Beschreibungen geben. Es muß dann nur die Art der Korrelierung genauer bestimmt werden. Das Problem, das unter diesen Voraussetzungen in die Augen fällt, liegt aber in der Andersartigkeit der Beschreibung des Mentalen (hier wird zumeist die "natürliche Sprache" verwendet) im Vergleich zur Wissenschaftssprache der Physik. Wegen dieses Unterschiedes verschärft sich das Problem, ob denn das "selbst Erlebte" stets auf das physikalisch Erklärte zurückbezogen werden könne. In der Ausdrucksweise der modemen Himforschung geht es um die Frage des Verhältnisses der "Erste-Person-Perspektive" (der Ich-Perspektive) zur "Dritte-Person-Perspektive" (der naturwissenschaftlichen Perspektive). Der Streit, ob es sich "wirklich" um ganz Verschiedenes handelt, das grundsätzlich

I. Rückblick und neuere Positionen

21

nie ineinander wird übergehen können, oder ob ein solcher Übergang im Prinzip doch möglich sei, ist eine bis heute lebhaft diskutierte Streitfrage. So selbstverständlich dem einen der grundsätzliche Unterschied zu sein scheint, so selbstverständlich ist dem anderen, daß es hier nichts anderes "gibt" als physikalische Prozesse. Fragen wir angesichts dieser scheinbar hoffnungslosen Situation zunächst: Was besagt es, daß sich derartige Streitfragen noch verschärfen mußten, als die Hirnforschung die Chance ergriff, Hand in Hand mit der Physik die großen Möglichkeiten der Informationstheorie erfolgreich zu nutzen? Um hier einen angemessenen Eindruck zu bekommen, müssen wir unseren Blick in gebotener Kürze den zurückliegenden letzten Jahrzehnten zuwenden. Wer sich bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts zurückversetzen kann, hat das Aufkommen der "Kybernetik" und der Thematik der "künstlichen Intelligenz" noch unmittelbar vor Augen. Er wird sich vermutlich an das Erstaunen der Öffentlichkeit erinnern, das durch vergleichsweise simple Maschinen ausgelöst wurde, die im bescheidenen Ausmaß menschenähnliches Verhalten nachahmen konnten. Zwar wunderte man sich schon nicht mehr so sehr über Geräte, die wie ein Thermostat ein Ziel anstreben können, wohl aber z. B. über die Möglichkeit, Lernfähigkeit zu simulieren (wie es K. Steinbuchs "Lernmatrix" leistet).4 Erst recht aber wunderte man sich darüber, daß auch die Fähigkeit, sich an veränderliche Umweltbedingungen anzupassen, simuliert werden konnte. Der sog. Homöostat W. R. Ashbys5, der diese Fähigkeit besitzt, verlieh dem Namen seines Erfinders einen weitgehenden Bekanntheitsgrad. Man könnte heute fragen: Was eigentlich hätte gegen jene Fähigkeit sprechen sollen? Sollen sich etwa schon derartige Fähigkeiten der physikalischen Erklärung entziehen? Dennoch wird es allererst diese Zeit gewesen sein, in der das Zutrauen wuchs, daß Physik auch zu Erkenntnissen in Bereichen befähigt ist, bei denen man sich bisher eher im Felde der Biologie umsah. Kybernetiker konnten den Sprung zum Menschen wagen und davon sprechen, daß der Mensch in seinem "Außenaspekt" kybernetisch beschreibbar, bezüglich seines "Innenaspektes" aber Sache des subjektiven Erlebens sei. Bei den genannten beiden Aspekten dachte man an zwei Seiten "desselben", so daß in diesem Sinne auch schon in der heute üblichen Weise von "Perspektiven" hätte gesprochen werden können. Aufschlußreich ist jedoch, daß zwar ein naturwissenschaftlich ausgerichteter Mensch dieser Zeit sich beim Wort "Bewußtsein" vorwiegend gewisse komplizierte physikalische Vorgänge vorstellte, während die meisten anderen dem normalen Sprachgebrauch folgend bei diesem Wort an ein "subjektives" Eigenerleben dachten (das vielleicht auch partiell wie "kleine Perzeptionen" unter der Bewußtseinsschwelle liegt). 4 Vgl. K. Steinbuch, Automat und Mensch, Berlin / Göttingen / Heidelberg, 2. Aufl. 1963. 5 Vgl. W. R. Ashby, Design for a Brain, New York/London 1952.

22

Kap. 1: Die Grundpositionen der modernen Hirnforschung

Erstaunlicherweise blieb aber der große Streit, den wir heute kennen, noch aus oder lag allenfalls nur latent in der Luft. Die Schwierigkeiten, die sich in der Folgezeit aus der Frage des Verhältnisses von Körper und Geist ergaben, führten zu gründlichen Diskussionen über sinnvoll erdachte Gedankenexperimente. Um zu zeigen, daß für die naturwissenschaftliche Perspektive etwas nicht erfaßbar sein kann, wurde vorwiegend auf das Problem der sog. "Qualia" verwiesen (man dachte an sog. "subjektive Qualitäten" des Erlebens etwa bei Farb- und Geruchswahrnehmungen sowie bei beliebigen Gefühlen). Will man heute die Qualia in dieser Form diskutieren, muß man einige Zusatzfragen stellen (z. B. die Probleme, die mit dem Subjektbegriff oder auch mit dem intentionalen Charakter der Wahrnehmungen verbunden sind). Dennoch konnte Th. Nagel dem Kemproblem eine klassisch zu nennende und bis heute viel zitierte Fassung geben, indem er die Frage stellte: "Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?,,6 Nagel argumentierte folgendermaßen: Die Fledermaus ist ein relativ einfaches physikalisches Objekt. Nichts steht im Wege, eine Fledermaus neurobiologisch mit äußerster Präzision zu untersuchen. Dennoch können wir prinzipiell nicht wissen, was eine Fledermaus erlebt und wie sie z. B. Schmerz empfindet. Es gibt daher eine grundsätzliche Grenze für die Neurowissenschaften. Denkt man an die Ersetzung von "Fledermaus" durch "Mensch", so scheint hier zunächst insofern ein anderer Fall vorzuliegen, als man beim Menschen bereits über Korrelate des eigenen Erlebens zum neuronal zugrunde Liegenden verfügt. Es ist somit nicht verwunderlich, daß die modeme Himforschung mit speziellen Verfahren (wie der Simulation) den Übergang auch zur objektivierenden Erforschung bei "entsprechenden Vorgängen" des Anderen laufend zu vollziehen sucht. Doch bleibt der Hinweis auf die mentale Besonderheit der sog. "Qualia" hiervon unberührt. Im Zusammenhang mit der Diskussion der Qualia liegt es nahe, sich an ein anderes älteres Gedankenexperiment zu erinnern, welches ebenfalls in der heutigen Diskussion noch lebendig ist. Es ist die vom Philosophen Frank Jackson in einer Auseinandersetzung mit P. S. Churchland vorgetragene und gedeutete Geschichte von Mary. 7 Mary wurde in einer Wohnung gehalten, in der sie bisher nur schwarzweiße oder graue Dinge sehen konnte (also niemals Farbiges). Sie hat sich aber optimales naturwissenschaftliches Wissen auch über Farben und die Wirkung farbiger Dinge auf Menschen aneignen können. Die Frage lautet, ob sie etwas Neues erfährt, wenn sie ihre Wohnung verläßt und erstmals die farbigen Dinge wie z. B. den blauen Himmel sieht. Da sie alles über Farben sowie farbige Dinge und deren Wirkung auf Menschen be6 Th. Nagel, What is it like to be a bat? in: Philosophical Review 83 (1974), S. 435 ff. 7 F. C. Jackson, What Mary Didn't Know, in: The Journal of Philosophy 83, 1986, S. 291 ff.

I. Rückblick und neuere Positionen

23

reits wußte, erfährt sie diesbezüglich nichts Neues. Was sie jetzt berichten kann, übersteigt ihr bisheriges Wissen nicht und das heißt: Was sie erfahren hat, ist allein ihr eigenes Blauerleben. Diese persönliche "Erfahrung" ist das Neue für sie (und dies auch für sie allein). Wird nun die Intentionalität mentaler Zustände mit berücksichtigt, dann läßt sich die Problematik einer rein naturwissenschaftlichen Fassung der Gehirnvorgänge verständlicherweise im neuen Rahmen behandeln. Als entschiedener Gegner der Rückführung semantischer Gehalte der Sprache auf die Syntax (die dann als maschinell begründbar angesehen wird) sei an erster Stelle J. Searle genannt. In den gründlichen Arbeiten Searles geht es um eine Vertiefung der "Sprechakttheorie" Austins, die sich mehr und mehr mit einer "Philosophie des Geistes" verband. In der letzteren bekämpft Searle sowohl den Materialismus als auch den Körper-Seele-Dualismus im Sinne Descartes. Genauer gesagt vertritt Searle die Auffassung, daß die Intentionalität zwar "physikalisch realisierbar", aber nicht auf die neuronale Struktur des menschlichen Gehirns reduzierbar ist. Die erwähnte These der nicht reduzierbaren Semantik der Sprache hat Searle in einem berühmten Gedankenexperiment, dem sog. "chinesischen Zimmer",8 zu untermauern versucht und sie in entsprechenden Ergänzungen gegen Angriffe verteidigt. Besonders auch für die Erklärung sozialer Sachverhalte, in denen z. B. ein Geldschein als Zahlungsmittel eine besondere Rolle spielt, bezieht sich Searle auf kollektiv akzeptierte Regeln und zeigt, in welcher Weise physische Tatsachen durch "kollektive Intentionalität" eine neue Formung erhalten. Aus diesen kurzen Hinweisen zu Searle wird verständlich werden, weshalb er der modernen Hirnforschung den Vorwurf machte, die sog. "lch-Perspektive" mangelhaft ausgearbeitet zu haben. Mit seiner These, die Intentionalität sei physikalisch realisierbar, aber nicht auf die neuronale Struktur reduzierbar, hat er in klar formulierter Weise dem Reduktionismus widersprochen. Bevor wir weitere, mit der modernen Hirnforschung sich auseinandersetzende Denkansätze einbeziehen, bietet es sich an, kurz auf den" Funktionalismus" einzugehen. In verschiedenen Ausprägungen wird diese Position von vielen Forschern dort vertreten, wo den Grundannahmen des Physikalismus zugestimmt wird, ohne jedoch eine reduktionistische Identitätsthese zu vertreten. Dem "Funktionalismus", der auf Gedanken H. Putnams9 und J. Fodors lO zurückgeht, liegt die These zugrunde, daß das Mentale allein durch eine "mul8 J. Searle, Minds, Brains, and Programs, The Behavioral and Brain Sciences 3 (1980), S. 417 ff. 9 Hilary Putnam, Psychological Predicates, in: Art, Mind and Religion, Pittsburgh University Press, Pittsburgh 1967, S. 37 ff. 10 J. A. Fodor, Psychological Explanation, Random House, New York 1968, The Language ofThought, Harvard University Press, Cambridge/Mass. 1975, The Modularity of Mind, MIT Press, Cambridge / Mass. 1983.

24

Kap. 1: Die Grundpositionen der modemen Hirnforschung

tipel realisierbare" Funktion bestimmt wird, d. h. durch eine Funktion, die zwar physisch realisiert ist, dies jedoch unabhängig davon, wie diese Realisierung konkret beschaffen ist (s. auch Kap. 1, III.). Eine derartige Bestimmung des Mentalen gibt noch keine befriedigende Antwort auf die Frage, inwiefern das "Mentale" ein jeweils Erlebtes ist. Eine Erklärungslücke bleibt somit bestehen. Doch gibt der "Funktionalismus" Raum für einen hierarchisch gedachten Aufbau von Funktionen, die mit wachsender Höhe in der hierarchischen Ordnung schließlich zu verschiedenartigen "geistigen Phänomenen" hinführen würden. Diesen Gedanken hat auch D. C. Dennett in seine Theorie der Intentionalität eingehen lassen. Nimmt man an, das Mentale gehe aus dem Zusammenwirken lauter kleiner mentaler Einheiten hervor, dann könnte man zunächst meinen, das Problem des Verhältnisses des Mentalen zum Körperlichen träte für jede Einzeleinheit unverändert in derselben Weise wieder auf. Dennett erwidert jedoch, daß dies nicht der Fall ist. Denkt man sich eine Ineinanderschachtelung in kleine "homunculi" fortgesetzt, dann könnten diese mit jedem Schritt der Unterteilung auf immer einfachere Funktionen bezogen werden, so daß die kleinsten "geistigen Einheiten" diesen Namen nicht mehr beanspruchen könnten. 11 Dennoch bleibt auch hier die generelle "Erklärungslücke" bestehen. Wenn nämlich dank hoch komplexer und vielr