Wissenschaft um der Menschen willen: Festschrift für Klaus Zapotoczky zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428510153, 9783428110155

Der mit der vorliegenden Festschrift zu Ehrende hat seit 1976 den Lehrstuhl für Politik- und Entwicklungsforschung an de

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Wissenschaft um der Menschen willen: Festschrift für Klaus Zapotoczky zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428510153, 9783428110155

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Wissenschaft um der Menschen willen Festschrift für Klaus Zapotoczky

Wissenschaft um der Menschen willen Festschrift für Klaus Zapotoczky zum 65. Geburtstag

Herausgegeben von

Christian Pracher und Herbert Strunz

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-11015-3 Gedruckl auf allerungsbesländigem (säurefreiem) Papier enlsprechend ISO 9706@

Vorwort der Herausgeber Als wir uns entschlossen, eine Festschrift zum 65. Geburtstag von o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky am 22. März 2003 herauszugeben, entschieden wir uns, da eine Geheimhaltung ohnehin unmöglich erschien, den Jubilar in das Projekt einzuweihen. Dies geschah kurz darauf dann auch tatsächlich im Cafe Sperl in Wien. Ursprünglich schwankten wir zwischen zwei Varianten: wenige, aber ausruhrliehe Beiträge oder eine größere Anzahl von Autoren, dafiir aber kürzere Beiträge. Gemeinsam kamen wir zur Überzeugung, dass aufgrund des umfassenden Wirkungskreises und der Vielzahl von dem Jubilar nahestehenden Personen nur die zweite Variante wirklich in Frage kommt. Das Ergebnis war das nunmehr in der Festschrift verfolgte Konzept. Um das Werk in einem handhabbaren Umfang zu halten, gaben wir den Umfang der einzelnen Beiträge mit ca. fiinf Druckseiten vor, wenngleich einige Autoren diesen - zugegebenermaßen engen - Rahmen aus unterschiedlichen Gründen etwas überschritten haben. Wir erwähnen dies nur zur Entlastung jener, die sich an die Vorgabe hielten. Wir danken allen, die an der Erstellung der Festschrift mitgewirkt haben. Ganz besonders danken wir Dipl.-Kffr. Monique Dorsch, die ganz wesentlich am Entstehen des Werkes beteiligt war. Nicht zuletzt wollen wir mit dieser Festschrift unserem lieben väterlichen Freund o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky die herzlichsten Glückwünsche zu seinem 65. Geburtstag entbieten.

Berlin und Wien, im März 2003

Christian Pracher Herbert Strunz

Inhaltsverzeichnis Erster Teil

Zum Geleit August Kürmayr Lieber Klaus! ....... ..................... ............................................................................

17

Peter Atteslander Ein Leben filr Harmonie in einer anomischen Welt ........................ ............. ........

21

Zweiter Teil

Bildung für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts Erhard Busek Auf der Suche nach dem Geist ......................................... ............. .......................

29

J. Hanns Piehier

Von der Zeitlosigkeit des universitären Bildungsauftrages- Ein kritisches Plädoyer im Anblick zeitgenössischer "Reformen" ......................................... ....

33

Bruno Schurer Globalisierung, Rationalisierung, Flexibilisierung, Höherqualifizierung ... Und wo bleiben die Verlierer des Wandels der Arbeits- und Berufsgesellschaft?Kritische Anmerkungen zu einer epochalen Herausforderung und Chance der Wirtschaftspädagogik ................................................................................. ..........

49

Monika Petermandl Wissensgesellschaft und Bildungshürden ...... ......................... ..............................

63

Rupert Vierfinger Plädoyer fiir eine autonome Schule in Österreich .................. ..............................

75

Hermann Brandstät/er Der bildungsökonomische Nutzen des Linzer Modells der Studienwahlberatung .... ................... ........................ ......... ... ......... ................ ........ .. ...... ............

85

8

Inhaltsverzeichnis

Johannes Ried/ Der Blick- Ein Grundphänomen des pädagogischen Bezugs .............. ...... .........

93

Dritter Teil

Spannungsverhältnisse zwischen Kunst und Gesellschaft Manfred Wagner Kultur als Wissenschaftsprinzip ........ ... ......... .............. .............................. ... .... ....

99

Fritz Paschke Kunst und Technik.. ..... .... ............ ........ .... .............. ........................ .......... .............

I 05

He/muth Gsöllpointner Zum Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft ...................... ........

I 17

Franz Rohrhofer Wissenschaft und Öffentlichkeit: Heraus aus dem Elfenbeinturm! .....................

123

Vierter Teil

Von speziellen Soziologien zur Soziologie der Weltgesellschaft Waller Raberger "Alles Leben ist Problemlösen" ............................................................................

129

Kurt Wimmer Der Christ und die Angst ......................................................................................

143

RudolfKern Institutionen und sozio-ökonomische Entwicklung- Eine wirtschaftssoziologische Perspektive ........................ .............................................................

155

Rudolf Richter Selbstorganisation und Zivilgesellschaft- Überlegungen zum intermediären Sektor der Gesellschaft ... ...... .. ... .. .. ..... .. .. ...... .... ...... .. .. ... ..... .. .......... .. ... ..... .... ....... .

171

Roland Girt/er Die alte Kultur der Bauern, ihre rebellische Tradition und ihre Ehrfurcht vor der Natur ...............................................................................................................

179

Heinrich Pfusterschmid-Hardtenstein Das Europäische Forum Alpbach als Wegbereiter einer Offenen Gesellschaft...

185

Inhaltsverzeichnis Heinz Holley Globalisierung: Bedenklich und notwendig zugleich- Soziologische Überlegungen zu einem kontroversen Disput ..................... ....... .. ....... .........................

9

191

Fünfter Teil Gesundheitswissenschaft als gesellschaftliche Herausforderung Meinrad Peterlik Medizin-Wissenschaft um der Menschen Willen.................................................

201

Reinhart Waneck Gesundheit als Wirtschaftsfaktor ....... .. ... ............ ................................ ......... ... ... ..

207

Otto Pjeta Gesundheitswissenschaft als Gradmesser einer sozialen Gesundheitspolitik .. ....

213

Gerhard Grassmann Gesundheitswissenschaften als gesellschaftliche Herausforderung ............. ... .....

219

Helmut Renöckl Hochleistungsmedizin und christliche Ethik- Hoher ethischer Orientierungsbedarf in unübersichtlicher Zeit ................ ................................................ ............

229

Elmar Doppelfeld Medizinische Forschung im gesellschaftlichen Spannungsfeld-ZurBedeutung von Ethik-Kommissionen .. ......... ........................................................ .................

243

Eugen Hauke und Elke Holzer-Möstl Das Menschenbild vom Patienten als Herausforderung fiir das Management im Gesundheitswesen ...... ..... .. .. ..... ... .. .. ........ .... .... .... ..... ... .... .. .. .. ... .... ........ ... .... .... .....

263

Reli Mechtler Systemtheoretische Aspekte zur Integration und Koordination im Gesundheitswesen ............................................................................................................ .

271

Manfred Prisehing Gesundheitsförderung im Wellness-Kontext .......................................................

279

Alfred Grausgruber Empowerment- Ein Beitrag zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens? ..

295

Helmut Mittermayer Prävention von nosokomialen Infektionen - Eine interdisziplinäre Aufgabe ... .. .

309

10

Inhaltsverzeichnis

Peter Bischof VorartbergeT Gesundheitsfonds- Ganzheitlich planen- aus einem Guss finanzieren ........................................................................................................... . Elisabeth Zanon-zur Nedden Prof. Zapotoczky- Motor der Alpbacher Gesundheitsgespräche .......................

321

327

Sechster Teil

Sicherheitspolitik und Streitkräfte Herbert Scheibner Human Security - Ein zentraler Bestandteil der neuen Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin ............................................................................................

333

Horst Pleiner Sicherheitspolitik und Streitkräfte ..................................................................,.....

339

Kar! Majcen Eine sicherheitspolitische Spurensuche .... .. .............. .................... .................... ...

347

Erich Reiter Die neue Österreichische Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin ........................

353

Friedrich Hesse! Das Rollenbild des Soldaten in der Gesellschaft von heute.................................

361

WolfRauch Militär und Wissenschaft - Sicherheit in einer vernetzten Welt ..........................

3 71

Hans Wallner Zehn Jahre Wissenschaftskommission beim Bundesministerium für Landesverteidigung- Ein Bericht...................................................................................

379

RudolfHecht Universitärer Weg der Landesverteidigungsakademie ........................................

387

Rüdiger Stix Vom Nuklearen Holocaust in Zentraleuropa zum Kampf der Kulturen?- Eine kleine Geschichte wehrpolitischer Kommunikation und der wissenschaftlichen Politikberatung des BMLV ..................................... ..............................................

399

Alfred Vogel Weltraumgestützte lnformationsübertragung, Navigation und Ortung filr Sicherheitspolitik und Streitkräfte ........................................................................

405

Inhaltsverzeichnis

II

Siebter Teil

Politik und Gesellschaft Josef Ratzenböck Politik und Gesellschaft

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Josef Pühringer Ehrenamt in Oberösterreich ...............

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Gunther Trübswasser Wieviel Entstaatlichung verträgt diese Gesellschaft? .. Reinhard J. Dyk Die Stadt Linz im Meinungsbild der Bevölkerung Kurt Holm Wahlhochrechnung und Wählerstromanalyse

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Helmuth Schattovits Leistungsausgleich als neuer Ansatz in Wohlfahrtskonzepten- Eine Herausforderung an die Politik

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42 I

425

429

437

445

457

Achter Teil

Recht und Gerechtigkeit zwischen Ordnung und Moral Theo Mayer-Maly Soziale Gerechtigkeit als Rechtsbegriff

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Helmuth Pree Kommunikation und Meinungsäußerungsfreiheit- Einekanonistische Problemskizze :.....

475

479

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Peter Oberndorfer Die Demokratie als Grundlage der Österreichischen Verfassungsordnung JosefMenner Summum ius summa iniuria- Zum Begriff Gerechtigkeit

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Christion Huber Die "Wertschätzung" familiärer Dienstleistungen im Österreichischen und deutschen Schadenersatzrecht ..............

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493

503

513

12

Inhaltsverzeichnis

Herbert Kalb Aktuelle Probleme des "Kultusrechts" oder wie geht der Staat mit Religionsgesellschaften um- Einige Anmerkungen zur Anerkennung von Religionsgesellschaften .......................................................................................................

529

Neunter Teil

Gesellschaft und Wirtschaft Maria Schaumayer Gesellschaftspolitische Aspekte einer europäischen Währungspolitik ................

545

Peter Mitterbauer Globalisierung- Konflikt zwischen Wirtschaft und Gesellschaft? .....................

549

Gerhard A. Wührer und Zeynep Bi/gin Aufstrebende Märkte (Emerging Markets) - Neue Perspektiven für Marketingstrategien ........................................................................................................

555

Friedrich Schneider Zunehmende Schattenwirtschaft in Deutschland- Eine wirtschafts- und staatspolitische Herausforderung ....................... ...................... .............................

571

Hubert Missbauer Die Rolle des Menschen in dezentralen PPS-Systemen .......................................

583

Kar/ Greyer Standards fiir Feasibilitystudien .......................................................................... .

593

Christian Pracher Der Beitrag der Betriebswirtschaftslehre zur effizienten und effektiven Erstellung sozialer Dienste ......................................... ......................................... .

603

Herbert Strunz Betriebswirtschaftslehre und Gemeinwohl ..........................................................

613

Zehnter Teil

Entwicklungszusammenarbeit als globale Herausforderung Heinz Löjjler Wissenschaft und Entwicklungszusammenarbeit- Globale Herausforderungen

623

Andreas J. Obrecht Von Armut und Reichtum in unsicheren Zeiten .... ... ............ ....... ............ .......... .. . 629

Inhaltsverzeichnis

13

Franz Nuscheler Politische Konditionalität in der Entwicklungspolitik- Erpressung oder Imperativ universeller Menschenrechte?..............................................................

647

Josef Schmid Demographie und Konflikt im 21. Jahrhundert ....................................................

661

Anse/rn Skuhra Entwicklungspolitik der Europäischen Union nach Cotonou ..............................

675

Gerhard Bittner Strukturreform in der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit ................

683

Petra C. Gruber Nachhaltige Entwicklungen und Globalisierungen ..............................................

689

George F. McLean The Emergence ofSubjectivity as Culture and Globalization .............................

697

Elfter Teil

Familie und Freunde als Basis jeder Gesellschaft Hans Georg Zapotoczky Zum Wesen der Brüderlichkeit............................................................................

711

Peter Koits Familie und Freundschaft .....................................................................................

717

Alois Füreder Emotionale Geborgenheit im Freundeskreis - Energiequelle des Lebens .. ... ......

729

Laszlo A. Vaskovics Familie und Verwandtschaft als Solidargemeinschaft- Untersucht am Beispiel der Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien des 2. Weltkrieges............................

735

Meinrad Ziegler Jugend im Spannungsfeld zwischen Familie und einer sich globalisierenden Kultur ................................................................................................................... .

751

Werner Schöny Das Leben eines Vielseitigen ...............................................................................

759

Werner Peter Zapotoczky Die beiden Kleinen ..............................................................................................

763

14

Inhaltsverzeichnis

o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky Lebenslauf o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky ......................................................

769

Bibliographie der wissenschaftlichen Publikationen o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky ................................................................................................................

771

Verzeichnis der Autoren ................ ................................................................ ........ ....

787

Erster Teil

Zum Geleit

Lieber Klaus! Von August Kürmayr Du feierst nun Deinen 65. Geburtstag. Deine Freunde haben auch mich eingeladen, zur Festschrift für Dich einen Beitrag zu leisten. Unsere Bekanntschaft und dann Freundschaft geht zurück auf bald 50 Jahre, als wir in meiner Heimatpfarre Linz-Herz-Jesu gemeinsam Tischtennis gespielt haben - zwei Menschen im Spannungsverhältnis mit einem Ball um einen Tisch, der trennt und verbindet. Während der Studienzeit in Wien ging jeder seine Wege: Du wurdest Soziologe ("Wissenschaft um der Menschen Willen"), ich wurde Architekt (Architektur und Städtebau auch um der Menschen Willen). Anders gesagt: was sind die sozialen Architekturen, die den Menschen fl>rderlich sind? Und was sind die architektonisch-städtebaulichen Strukturen, die uns Menschen angenehm, ilirderlich sind? - "Die architektonischen Strukturen sollen den sozialen Strukturen folgen ..." 1 Nach meinem Architektur-Studium an der Technischen Hochschule Wien kamen wir wieder in Linz zusammen, in unserer Heimatstadt, draußen im Auhof, wo die neue Hochschule ftir Sozial- und Wirtschaftswissenschaften auf Starhemberg'schem Grund errichtet wurde: ich als Mitarbeiter in der Planungsgruppe Hochschule, Du als Assistent am Institut ftir Soziologie bei Prof. Erich Bodzenta. Es entstand unter uns allen, die am Aufbau der neuen Hochschule beteiligt waren, unter den Wissenschaftlern und Technikern eine intensive Lebensgemeinschaft; um den gemeinsamen Mittagstisch im Gasthaus Lehner, dann in der Mensa, in den Räumen des I. Instituts-Gebäudes, in den Sekretariaten am Tisch beim Kaffee, in den Höfen und bei den Spaziergängen um den Teich vor

1 Christopher Alexander: Eine Muster-Sprache, Städte, Gebäude, Konstruktion (übers. v. Czech, Hermarui), Wien 1995.

August Kürmayr

18

der Hochschule und im Starhemberg'schen Bannwald oberhalb der SoWi und um das Schloß Auhof. Wir haben nicht nur mitsammen gearbeitet, wir haben mitsammen Feste gefeiert: "Eine Lebensgemeinschaft löst sich auf, die nicht auch mitsammen ißt und trinkt (und tanzt)."2 Wir dachten, die Fragen des Miteinanderseins, die Fragen der Gesellschaft können nicht mehr nur von einer Disziplin gelöst werden. Wir müssen sie gemeinsam, interdisziplinär bedenken und Lösungen finden. Du hast den Kontakt zu allen anderen Disziplinen hergestellt. Zu den Psychologen, Juristen, Nationalökonomen, Betriebswirten ... Versammelt um einen Tisch, um einen Hof, um einen Teich. Einen Raum dazwischen, ohne diesen leeren Raum gibt es ja keine Beziehungen, keine Kommunikation, kein Leben, keinen Sinn im Leben. "Dem Leben einen Sinn geben, heißt, Dinge und Menschen binden." (Exupery) Diese Ideen haben sich manifestiert in Deiner Arbeit über die Familie3 und bei mir im sozialen Wohnbau beim Projekt "Demonstrativbau - VLWWohnanlage Marchtrenk" (soziologische Betreuung- "Mitbestimmung": Josef Lins, Erich Bodzenta). Ich habe Deine Fragenstellungen und ihre Probleme in meine Arbeit einfließen lassen: meine Wohnbauprojekte, in denen ich versucht habe, den Menschen in allen Formen Räume vorzustrukturieren, in denen sie sich versammeln können, sein können, um einen Tisch, um einen Hof, um einen Platz. Das verdanke ich Dir. Dieser Gedanke der Teamarbeit und der gemeinsamen Problemlösung (Wissenschaft ftlr Menschen und Technik ftlr Menschen), angeregt durch unseren Monsignore Strobl in der katholischen Hochschulgemeinde, hat mich dann auch zu den Künstlern der Kunstvereinigung Maerz in Linz geftlhrt, in der ich 1978-1981 Präsident war. Im Jahre 1976 haben wir die kosmischen Bilder der Malerin Uta Prantl-Peyrer4 ausgestellt. Du warst auch dabei. Ich konnte Dich überreden, ein Bild der Künstlerin zu kaufen. Bei unserem letzten gemeinsamen Treffen, der Tagung "Stadtluft macht frei" 2002 im Uni Center Linz, draußen im Auhof (die Hochschule Linz ist ja

2

Ebd.

Klaus Zapotoczky: Das große Familienbuch, Bd. 2: Sein und Gestaltung, Wien/ LinVPassau 1967. 4 Uta Prant/-Peyrer: Plakat zur Ausstellung. März 1976, Galerie Maerz, Linz Taubenmarlet 3

Lieber Klaus!

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inzwischen eine Universität geworden), sagte ich Dir: "Damals haben wir Dir das Bild eingeredet, jetzt nach 26 Jahren liebst Du es schon, Du hast Dich im Bild gefunden, seine Strukturen sind Deine Strukturen geworden, ja es zeigt gesellschaftliche Strukturen auf, von einer geglückten Gesellschaft." Indem es der Einzelperson, der Gruppe und der ganzen Gesellschaft Privatheit und Öffentlichkeit mit Orten der Versammlung, Identität und Sinn stiftet. Kunst als Darstellung, Sichtbarmachung eines Soziogramms unserer Gesellschaft, in der Menschen sich wohl filhlen. Kunst als Hilfe filr das Zusammenleben der Menschen, Wissenschaft als Hilfe filr das Zusammenleben der Menschen. Kunst = Wissenschaft im um/' im Zwischenraum Architekur beginnt im Zwischenraum Gesellschaft beginnt im Dazwischen6 "Baust Du einen Weg, ein Haus, ein Quartier, dann denke an die Stadt." (L. Snozzi) Gestaltest Du eine Person, eine Gruppe, ... dann denke an die Gemeinschaft! Danke Klaus filr Dein So Sein, und es ist gut, Dich unter uns zu wissen.

5

Peter Hand/ce : Versuch Ober den geglückten Tag, Ftankfurt!M. 1991.

6

"Einzeln sind wir nichts als Leere ... Alle sind nur Sonnenbrot ftlr alle andern" (Octa-

vio Paz: Suche nach einer Mitte, Frankfurt/M. 1979).

Ein Leben für Harmonie in einer anomischen Wett Von Peter Atteslander Anomie ist einer der wenigen Begriffe moderner Soziologie, der seit über l 00 Jahren universale Geltung beansprucht und auch erhalten hat. Anomisch sind Gesellschaften, bei denen Orientierung ftlr einzelne Menschen immer schwieriger wird, weil überlieferte Verhaltensweisen und Erklärungen vielen Menschen in ihrer Bewältigung des Alltags nicht mehr helfen. Ratlosigkeit ist die Folge, wie dies zutreffend Dürkheim an der Wende zum 20. Jahrhundert beschrieb. ln anomischen Gesellschaften wird Regellosigkeit in vielen Bereichen zur Regel. Für immer mehr Menschen stellt sich deshalb die Sinnfrage, der Bedarf an Orientierung wächst. Die Struktur dieses Bandes, die Tatsache, dass viele Menschen aus unterschiedlichsten Bereichen Klaus Zapotoczky würdigen, die Liste seiner Veröffentlichungen sind Belege daftlr, dass es unmöglich ist, in wenigen Druckseiten der zu ehrenden Person und deren Lebenswerk in objektiver Weise gerecht werden zu können. Unausweichlich wird mein Text durch persönliche Erlebnisse und durch eine von Empfindungen getragene persönliche Wertung geprägt. Menschen wie Klaus Zapotoczky, deren Lebenslauf zunächst wie ein Flikkenteppich aus Zufälligkeilen aussieht - erster Eindruck auch seiner beachtlichen Publikationsliste - laden zu Missverständnissen ein. Zumindest - und das wäre eigentlich positiv - stellen sich Fragen ein. Die Frage an den Wissenschaftler Zapotoczky, etwa nach einem bedeutenden Lehrbuch, oder nach seinem leicht identifizierbaren theoretischen Handwerk, werden ihm nicht gerecht. Beides hat er auf den ersten Blick nicht vorzuweisen. Der Schein trügt meines Erachtens. Zunächst ist Zapotoczky zwar keiner Schule soziologischen Denkens und Forschens eindeutig zuzurechnen. Er selber würde sich wahrscheinlich auf Dürkheim berufen, den er zwar kaum je als theoretischen Urgrund seiner wissenschaftlichen Tätigkeit bezeichnete. Wesentlich sieht er sich durch Rene König und dessen Auffassung der Soziologie beeinflusst. Ähnlich wie König ist er einer umfassenden Kultursoziologie verpflichtet. Wie dieser hat er sich zu vielen Fragen moderner Gesellschaften geäussert, und dies nicht nur ftlr

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Peter Atteslander

die Mitglieder seiner Zunft, sondern über Fachgrenzen hinaus an eine weitere Öffentlichkeit gerichtet. Wie König ist Zapotoczky ebenfalls einer der wenigen Vertreter, der die Wichtigkeit, aber auch Schwierigkeit, sich zur öffentlichen Wissenschaft zu bekennen, erlebt. In seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor mag er sich vielen Organisationen und Regierungsstellen nicht verschliessen, selbst wenn es darum geht, Soziologie als erklärende Disziplin auch dann zu vertreten, wenn gesicherte, möglichst in Zahlen ausgedrückte Daten nicht zur Verfilgung stehen. Er hat professionelle Orientierung als wesentliche Aufgabe erkannt. Es ist zweifellos einer Disziplin wie der Soziologie zuzumuten, dass sie ihre Wissenschaftlichkeit belegt. Viele der Arbeiten, die Zapotoczky vorzuweisen hat, sind jedenfalls durch Anwendung strenger empirischer Forschungsmethoden entstanden. Themenwahl jedoch und Schlussfolgerungen weisen oft darüber hinaus: Sie sollen einer allgemeinen Orientierung dienen; Orientierung nunmehr nicht verstanden als ex cathedra Verkündigungen, wie Fragen moderner Gesellschaften zu werten seien, welche Rezepte die Wissenschaft anzubieten hätte. Orientierung ist gerade dort vonnöten, wo die Empirie an ihre Grenzen stösst. Hinweise auf Ungelöstes und die Aufforderung, sich weiteren Fragen zu widmen, sieht er als seinen wesentlicher Beitrag. Orientierung in einer anomischen Welt kann nicht darin bestehen, in Anlehnung an Max Frisch "dem anderen seine eigene Wahrheit sozusagen ins Gesicht zu schlagen, sondern vielmehr ist ihm ein Mantel bereitzuhalten, in den er hineinzuschlüpfen vermag oder eben auch nicht". Diese unermüdliche Bereithaltung gleichsam eines Mantels erheblicher sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse, sehe ich als entscheidenden Beitrag Zapotoczkys zum weitgehend unbefriedigten gesellschaftlichen Orientierungsbedarf. Drei weitere Stichworte mögen sein Lebenswerk charakterisieren: Interdisziplinarität, Praxisorientiertheit und sozialpolitisches Engagement. Zur Interdisziplinarität: Sein Engagement filr die Universität innerhalb ihrer selbst und für Forschungsorganisationen hat er immer in der Überwindung von Fachgrenzen gesehen. Einmal mehr kann jemand nur interdisziplinär wirken, wenn er eine eindeutig gesicherte Fundierung in seinem eigenen Wissenschaftshereich besitzt. Transdisziplinarität kann einer nur ertragen, wenn er eigene Standpunkte, möglicherweise Methoden und Theorien, existenzieller Kritik auszusetzen vermag. Sein Engagement für die Freiheit der Forschung, verbunden mit der Verpflichtung gesellschaftlich zu wirken, ist nur dann verständlich, wenn man, wie er es unermüdlich tut, in unzähligen mündlichen und schriftlichen Bekundungen die moderne Universität nicht nur als Institution von sich immer stärker vereinzelnen Fächern sieht. Universität ist nicht zuletzt auch zu verstehen als Ort, an dem Sinnfragen nicht auszuschliessen sind und Gelegenheit des sich Orientierens Zeit und Raum gewährt werden sollte. In diesem

Ein Leben flir Harmonie in einer anomischen Welt

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Sinne hat sich Zapotoczky den L'eitsatz der Johannes Kepler Universität zu Linz und "Netzwerk für Forschung, Lehre und Praxis" voll zu eigen gemacht und wird in einer weiteren Öffentlichkeit auch durchaus als einer der bekanntesten Vertreter seiner Alma Mater wahrgenommen. Ohne Grundlegende Ausrichtung auf Bedürfnisse der Praxis, was nichts anderes heisst, als auf die Bedürfnisse der Gesellschaft einzugehen, ist Orientierung nicht zu leisten. In diesem Sinne ist beides, Inter- und Transdisziplinarität sowie Praxisausrichtung, mit Risiko verbunden, deshalb oft von Missverständnissen begleitet. Es wird zu leicht übersehen, dass diese risikoreichen Aufgaben nur dann langfristig und mit Erfolg betrieben werden können, wenn sie von Wissenschaftlichkeit getragen werden. Das heisst, Befunde müssen in nachvollziehbarer Weise entstehen, sie müssen der Öffentlichkeit mit der nötigen Relativierung versehen angeboten werden. Im Glücksfall kann Sozialwissenschaft auch zu einer Begleitung sozialpolitischer Massnahmen werden. Als Beispiel seien etwa gesundheitspolitische Fragen zu nennen, auf die noch einzugehen ist. In welcher Weise kann das eben Beschriebene geschehen? Wohl nur durch Vemetzung. Klaus Zapotoczky ist einer der aktivsten, nachhaltigsten und möglicherweise sogar erfolgreichsten "Vernetzer", dem ich je begegnet bin. Wiederum erinnert dies mich an meinen verehrten Lehrer und Freund Rene König, von dem etwa 20 Bände seines Lebenswerkes erscheinen, jedoch das eine und alles überragende Standardwerk möglicherweise gerade deshalb fehlt, weil auch er einen Grossteil seiner Zeit gernäss seinem wissenschaftlichen Ethos dem Zusammenbringen unterschiedlichster Menschen widmete. Im Übrigen kam er wie Zapotoczky, wie so viele der älteren Soziologengeneration, auf Umwegen zu seinem wissenschaftlichen Tätigkeitsgebiet Wer Zapotoczky auf internationalen Tagungen und Versammlungen beobachtet, mag seine Leichtigkeit im Umgang mit Menschen, seine Unbekümmertheit in der Kontaktaufnahme möglicherweise mit ironischer Kritik versehen. Es sei die Frage erlaubt, wie denn sonst ein "professioneller Vemetzer" agieren soll. Zu Zapotoczkys Interdisziplinarität gesellt sich seine Internationalität. Vemetzung übrigens bedarfdes Augenblicks, bedarf der spezifischen Gruppen, bei denen Gespräche von Angesicht zu Angesicht das Wesentliche sind, wenn auch nur zeitweilig: Zapotoczky hat voll im und dem Kairas gelebt. Dabei kommt ihm durchaus auch eine gewisse Leichtigkeit zugute. Schon sein Äusserliches widerspiegelt die charakteristische Form eines "bonhomme". Ein weiteres Charakteristikum sehe ich in einer steten Beschäftigung mit der Sinnfrage. In vielen Veröffentlichungen geht er diesem Sinn, vielmehr der Sinnstiftung gesellschaftlicher Tätigkeiten, wie etwa der Arbeit nach. Diese

24

Peter Atteslander

Sinnfrage ist zweifellos in einer tiefen Religiosität begründet, die allerdings gelegentlich kritische Distanzierung zu seiner Kirche erlaubte, für die er sich in ungernein vielfältiger Weise engagiert. In seiner tiefen Gläubigkeit sehe ich in ihm stets einen Suchenden und- wie ich in einigen Bereichen miterleben durfte -auch als zutiefst menschlich Helfenden. Sein ganz praktisches Engagement fiir viele ihm in irgendeiner Form Anvertrauten, fiir Freunde, Mitarbeiter, Studierende ist ihm eigen. Auch in dieser Beziehung habe ich selbst Menschen getroffen, die mir gegenüber aussagten, wie viel sie ihrem Freund, Lehrer, dem Menschen Zapotoczky verdanken; dies beileibe nicht in durch ihn ermöglichten Karrieren, sondern vielmehr im Sinne der Orientierung in schwierigen Lebenslagen. So scheint Klaus Zapotoczky von Anfang an ein ihn prägendes Bedürfnis nach Verknüpfung verschiedenster Lebensbereiche und deren wechselseitigen Beeinflussungen zu spüren. Sinnfragen sind immer auch verbunden mit jener der Gerechtigkeit. So mag sein Wirken, das in alter Frische anhält, in Lebensabschnitte unterteilt werden. Er promovierte in Jurisprudenz. Zu verweisen ist neben seiner Beschäftigung mit rechtsbezogenen Fragen auf seine Forschungsvorhaben und Veröffentlichungen über die Jugend, auf seine Auseinandersetzung mit Literatur und Kunst. Als herausragende Schwerpunkte nenne ich seine Beschäftigung mit Arbeit, Familie, Entwicklungsländern, Bildung, Universität, schliesslich Kirche und Religion. Zapotoczky ist nicht nur "Vernetzer", sondern immer auch "Aufklärer", indem es ihm immer wieder gelang und gelingt, Positionen zu klären und gegeneinander abzugrenzen, sie aber - und dies vor allem - miteinander zu verknüpfen. Dies äussert sich in den unzähligen Veröffentlichungen, für die er als Herausgeber oder als Mitherausgeber verantwortlich zeichnet. Er hat sich darüber hinaus nie einer Mitarbeit in zahlreichen Sammelwerken entzogen. Dies nimmt alles erheblich Zeit in Anspruch und wird in engeren Fachkreisen eigentlich nicht besonders honoriert. Er sieht auch sie als orientierende Funktion für eine weitere Öffentlichkeit. Aufklärer im Übrigen ist er nicht zuletzt auch in seiner Bereitschaft zur risikoreichen, bisweilen sogar wagemutigen Auseinandersetzung mit neuen Fragestellungen, insbesondere aber im Benennen von so gern und oft verdrängten sozialen Problemen. Ein weiterer Aspekt seines Tuns: Ein engagierter, "guter" Professor ist jener, der sich den Studenten insofern in den Vorlesungen und Seminaren annimmt, ohne sich selbst zu verleugnen, sich nicht mit eigenen, oft ausschliesslichen Auffassungen in den Vordergrund setzt, sondern so objektiv wie möglich die Grundzüge seines Faches in ausgeglichener Weise vermittelt. Wir sind alle

Ein Leben für Harmonie in einer anomischen Welt

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mehr oder weniger Zwerge, die auf den Schultern von Grossen stehen, was viele von uns allzu oft zu vergessen scheinen. Nicht so Zapotoczky. Als ein Beispiel eines besonders aktiven Tätigwerdens von Zapotoczky gelten die Gesundheitsgespräche, die ich mit ihm im Zusammenhang mit dem Europäischen Forum Alpbach seit acht Jahren organisieren und durchführen durfte. Sozialpolitisch von höchster Brisanz, Paradebeispiel der Beeinflussung gesellschaftlicher Strukturen durch den ungeheuren medizintechnologischen Fortschritt, kommen sie ohne Sinnfrage nicht aus. Wie kann die Würde des Menschen in einer Apparatemedizin noch gewahrt werden, wie ist eine gerechte Verteilung der heute möglichen, aber nicht mehr bezahlbaren Gesundheits- und Krankheitsleistungen möglich, schliesslich ist die Zuständigkeit und Verantwortlichkeit von Gruppen und Institutionen zu klären. Der Erfolg dieser Diskurse besteht darin, dass ein erhebliches Bedürfnis für nicht Konflikt scheuende, freie Gespräche unter verschiedensten Berufsgruppen besteht und dies auch ermöglicht wird. Pionierarbeit hat Zapotoczky zweifellos geleistet, indem er für eine Integration der Pflegeberufe einstand und zumindest in seinem Land die erste diesbezügliche universitäre Einrichtung schaffen konnte. Das höchst persönlich gehaltene Porträt würde dem zu Ehrenden nicht gerecht, würden nur Sonnenseiten geschildert. Es liegt auf der Hand, dass bei dieser beinahe unübersichtlichen Fülle der Alltagsgeschäfte, der schier unübersehbaren Mitgliedschaften in unterschiedlichsten Organisationen, möglicherweise ein Fehlen administrativer Prioritäten in diesem Tun in nicht wenigen Fällen dazu führten, dass er sich zu viel und zu lang und für zu vieles engagierte. Sein "back ojjice" wies oft nicht jene Effizienz auf, die seinen Vemetzungserfolgen hätte entsprechen müssen. Seine gelegentliche bürokratische Ineffizienz, die zuweilen von seinen Zeitgenossen ein gerütteltes Mass an Geduld abforderte, sei ihm angesichts seines Lebenswerkes verziehen. Denn dies bestand und besteht darin, ein Höchstmass an Harmonie zwischen Menschen und Institutionen herbeizufilhren. Darin liegt möglicherweise sein zentrales LebenszieL Der soziologische Begriff des Institutionalisierens bedeutet das über die persönliche Tätigkeit Hinausgehende, mithin ein gesellschaftliches Gebilde, das unabhängig von seinen Akteuren weiterbesteht Dies dürfte zweifellos auf den Geehrten zutreffen: Zapotoczky ist gleichsam selbst zu einer Institution geworden.

Zweiter Teil

Bildung für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts

Auf der Suche nach dem Geist Von Erhard Busek "Löscht den Geist nicht aus" war einmal das Motto eines Katholikentages in Österreich in den 60er-Jahren. Aus guten GrUnden hat man sich damals der Anrufung des Geistes verschrieben, wobei dieses Bibelzitat in eine Linie mit der damals durch Georg Picht sowie die Situation virulent gewordenen Bildungsgesellschaft gestellt wurde. Der Hinweis des Paulus von Tarsus, dass es "der Geist ist, der lebendig macht" war für eine ganze Generation von entscheidender Wichtigkeit. Das Engagement unter solchen Aspekten blieb nicht ohne Folgen, denn der Horizont erweiterte sich aus der Nachkriegswelt heraus in globale Dimensionen. Wissenschaft und Forschung haben neue Dimensionen des Geistigen eröffnet, die letztlich im Endergebnis nicht nur den globalen Bezug zur Welt hergestellt haben, sondern auch Grenzüberschreitung zu einem wissenschaftlichen Prinzip gemacht haben. Was ist daraus geworden? In einem Weißbuch zur Bildung hat die Europäische Union darauf hingewiesen, dass die Informationsgesellschaft die Globalisierung des Wissens und das wissenschaftlich-technische Zeitalter die bestimmenden Elemente unserer Zeit sind. Das ist ein ganz nüchterner Bezug, der einer in sich und nach außen wachsenden Einheit wie der EU durchaus ansteht. Aufgabe von Forschung und Forschungspolitik bleibt es allerdings auch, sich mit allen Erscheinungen auseinander zu setzen, die uns heute begleiten. Es sei festgehalten, dass wir in einer unendlich positiven Entwicklung in den letzten Jahrzehnten leben, die allerdings auch Begleiterscheinungen hat, die wir mit Sorge und der Gabe der Unterscheidung, die eben eine Gabe des Geistes ist, verfolgen müssen. Neben ungeheuren Möglichkeiten, einer Verbreitung der Demokratie und immer weiter akzeptierter Standards der Menschenrechte erleben wir auch eine dramatische Entmenschlichung, die allerdings wieder ganz neue Systeme der Konfliktlösung, der Friedenssicherung und der internationalen Kooperation erzeugt. Zum Zeitgeist müssen wir allerdings auch Phänomene zählen, die von einer unerklärbaren Wut gegen das Andere und Fremde begleitet sind und mithilfe einer geistig unbewältigten Technik ihren freien Lauf finden. Es ist ein ganz

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eigentOmliebes Kontrastprogramm, bei dem es gleichzeitig eine HochblUte der bildungsgesellschaftlichen Entwicklung gibt. Die visualisierten Erzählbände und Mythensammlung unserer Tage, die Kino- und TV-Filme nämlich sind nicht nur optisch, sondern auch nach ihrem Reaktionsgehalt auf eine reale Gegenwart zu lesen. Man kann erkennen, dass die Spannung wächst und die Dynamik, die uns die Forschung gebracht hat, noch nicht bewältigt ist. Der gänzlich falsche Schluss wäre, sich gegen Forschung auszusprechen - im Gegenteil, wir mUssen alles intensivieren was in diese Richtung fUhrt und zur Bewältigung beiträgt. Bildung ist Voraussetzung daflir, die Dynamik von Wissenschaft und Forschung, von Technik und Wirtschaft, aber auch von Kultur und Demokratie weiterzuentwickeln. Die Zukunft muss sich selbst zu ihrem Bildungsinhalt machen. Mag sein, dass das predigthaft wirkt, aber Mitmenschlichkeit und Verantwortung, Befiihigung zum Umgang mit der technischen Entwicklung und integrierte Bewältigung der spezifischen Konsequenzen sind ebenso notwendig wie die Vorbereitung auf die Informationstechnologie und die Reflexion auf ihre Auswirkungen auf die Wahrnehmung durch den Menschen. Mobilität des Denkens und in der persönlichen Lebensflihrung lässt sich leicht sagen, sind aber notwendige Konsequenzen aus der GrenzOberschreitung, die wir nahezu täglich durchfUhren. Umso mehr ist es von entscheidender Bedeutung fUr die Wissenschaft. Der gesellschaftlich-technische Wandel verläuft mit großer Geschwindigkeit. Nicht nur neue Produktionstechniken, sondern auch neue Organisationsund Arbeitsformen sowie Verhaltensweisen und neue Werthaltungen stellen neue Qualifikationsanforderungen. Die zunehmende Internationalisierung verstärkt diese Entwicklung, Weiterbildung gewinnt eine zentrale Bedeutung. Am Beispiel der Gesundheitspolitik lässt sich klar erkennen, dass der "Konsument" unserer Gesundheitseinrichtungen selbst Jemen muss, mit den Dingen umzugehen. Anders sind Probleme wie Medikamentenmissbrauch, aber auch der Versuch, sich durch medizinische Behandlung quasi psychiatrisch betreuen zu lassen, nicht zu bewältigen.

I. Sprache des Geistes - Geist der Sprache Offensichtlich gehen wir auf die Notwendigkeit der Sicherung der Sprachkompetenzen in unserer Zeit zu. Sprachenpolitik ist immer auch Friedenspolitik, die VerknOpfung des Spracherwerbes mit der Vermittlung kultureller Identität ist immer auch ein Beitrag zur Friedenssicherung. Die politische Rentabilität von Fremdsprachenkenntnissen erfordert es, den Nachbarsprachen und

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Minderheitensprachen genügend Raum zu geben, was insbesondere in der Gegend, in der Österreich zu Hause ist, notwendig ist. Das Erlernen der Sprachen der "anderen", "des Fremden" als Beitrag zur Konfliktlösung in der kulturpluralistischen Gesellschaft kann der Abwehr von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Ethnozentrismus dienen. Sprachenpolitik muss in den Dienst der Erziehung zu Toleranz und demokratiefOrdernder Akzeptanz der Meinungsvielfalt gestellt werden. Sprache kann aber auch nicht nur im Sinne der technischen Verständigung gemeint sein. Wissenschaft und Forschung haben die Aufgabe, eine Sprache zu finden, die auch verstanden wird. Gegenwärtig ist die Sorge groß, dass permanent Angst verbreitet wird, anstelle jene Neugierde zur Zukunft zu haben, die hier eine ganz entscheidende Voraussetzung für deren Bewältigung darstellt. Ein modernes Bildungssystem muss die begabungsorientierte Bildungsentwicklung llirdern, um zu einer tiefen Mitwirkungsbereitschaft und demokratischen Ganzen sowie zum Verstehen der Zusammenhänge führen, dann wird man sich vor der Globalisierung der Wirtschaft nicht fUrchten und mit den Instrumenten der Technik umgehen können. Ebenso wird man auch den Umgang mit den natürlichen Ressourcen genauso bewältigen wie mit den gesteigerten Möglichkeiten eines integrierten Lebensvollzugs. Primitiv gefragt: "Wissen wir wirklich genügend über Europa und was es ausmacht?". Bildung muss mehr sein als eine ständige Akkumulation von Wissen. Dem kann sich auch die Forschung nicht entziehen, denn darin besteht der Beitrag, dass sich der Mensch entfalten kann - mit, aber auch ohne Anleitung. Forschung ist nicht mehr etwas, das wenigen, quasi "Giasperlenspielern" der Gesellschaft überlassen ist, sondern das Leben der vielen bestimmt.

II. Wert des Geistes Wir haben uns daran gewöhnt, viel vom Wertewandel und Paradigmenwechsel zu reden. Gleichzeitig findet aber auch oft eine gewisse Verhöhnung des Geistes statt. Man kann sie ruhig in unserer Event- und Seitenblickegesellschaft sehen, allerdings auch in gewissen fundamentalistischen Tendenzen, die das Kontrastprogramm dazu darstellen. Diese Erscheinungen sind erst recht eine Provokation des Geistes. Die Literatur kennt viele Parabeln dazu. Im "ersten Kreis der Hölle" von Solschenizyn lässt ein entmenschtes Regime intelligente Gefangene sinnlose Werke verrichten, z. B. ein nicht abhörbares Telefon filr Josef Stalin. Bei Ernst JUnger in "Eumesville" entzieht man sich der überorganisierten Welt durch den Gang in den Urwald, um seine eigene Geistigkeit bewahren zu können. "Im Namen der Rose" lässt Umberto Eco eine Parabel

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entstehen, die wegen der verkitschten Aufnahme seines Romans oft untergegangen ist. Er weist auf die Bedeutung der Bücher, aber auch deren Vernichtung hin, die immer wieder auch einen kritischen Punkt im humanitären Aspekt unserer zeitlichen Entwicklung darstellt. All das weist darauf hin, dass der Zuruf "Löscht den Geist nicht aus!" mehr als aktuell ist. Jemand, der in Wissenschaft und Forschung tätig ist, aber auch Bildungsaufgaben durchgefiihrt hat, kann man ruhig zurufen, dass es schön ist, den Geist der Zeit zu gestalten. Wir aber müssen alle wissen, dass der Geist weht, wo er will und das Bemühen um den Geist eine bleibende Verpflichtung darstellt. Nicht umsonst versieht uns die Kirche mit dem Zuruf "Veni creator spiritus-Komm Schöpfer Geist!"

Von der Zeitlosigkeit des universitären Bildungsauftrages Ein kritisches Plädoyer im Anblick zeitgenössischer "Reformen" Von J. Hanns Piehier "Die Geschichte der Universität" kann geschrieben werden als "Folge ... ihrer jeweiligen Bedeutung fiir Staat, Kultur und Gesellschaft ... aber auch als Ausdruck der Geistesgeschichte unserer Tradition ... " 1 Helmut Schelsky

Weitgehend im Einklang mit obiger Feststellung, ja noch pointierter formuliert der bekannte Kölner Soziologe und Kulturwissenschaftler, Rene König, bereits geraume Zeit früher, daß die "Idee der Universität ... der normative Rahmen [schlechthin] ... vor dem alle Universitätsreform sich auszuweisen" habe; und mit eben diesem Anspruch sei sie somit stets auch "zur Gegenwart zu rechnen". 2 Beide, Schelsky wie König, legen damit gleichermaßen den Finger auf die Frage nach Rolle und Bedeutung universellen Bildungsauftrages vor jeweils sich stellenden gesellschaftlichen Anforderungen; vor Herausforderungen auch einer heute "postindustriell" geprägten Gesellschaft, die Ober bloß nutzenorientiert-ökonomische, technisch-technokratische oder vorwiegend auf 1 Helmut Schelsky: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Harnburg 1963; vgl. auch Alois Mosser/Herwig Palme/Horst Pfeiffle!J. Hanns Piehier (Hrsg.): Die Wirtschaftsuniversität Wien. Bildung und Bildungsauftrag. Analysen - Perspektiven - Herausforderungen, Wien 1998.

2 Rene König: Vom Wesen der deutschen Universität, Berlin 1935; im thematischen Zusammenhang dazu ferner J. Hanns Pich/er: Das Bild der amerikanischen Universität im Lichte der deutschen Universitätsidee und der gegenwärtigen Reformen, in: Zeitschrift fiir Ganzheitsforschung, 8. Jg., 11/1964.

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"Fertigkeiten" abzielende Inhaltsgebungen in einem überhöhenden Sinne hinausweisen. Anforderungen bzw. Herausforderungen, denen nicht zuletzt der Adressat dieser Festschrift sich aus innerlich angelegener Aufgeschlossenheit wie auch nach außen hin gelebter gesellschaftlicher Verantwortung in seinem akademischen Wirken und darüber hinaus zeitlebens zu stellen wwsste, wofür ihm mit vorliegendem Band verdiente Anerkennung und Würdigung zuteil werde. Diesem somit weiter gespannten, gesellschaftlich überhöhenden Anspruch sei im folgenden Rechnung getragen anhand bewußt kritischer Auseinandersetzung mit- oftmals gar überstrapazierten- Modebegriffen bzw. Worthülsen in deren diffusen Schattierungen wie Informationsgesellschaft oder auch einer sogenannten "Informatik-Gesellschaft" 3 als pointierte Charakterisierung des Anblicks postindustrieller Befindlichkeit im besonderen. Zu fragen bliebe, was solchen Begriffsgebungen das im Grunde gemeinsam Kennzeichnende sei? Vordergründig rücken dabei nicht so sehr geistige, vielmehr eher statistisch quantitative Merkmale in das jeweilige Blickfeld, wie z.B.: "lnformationsgesellschaft", gemessen an meist unfassenderen sozioökonomischen Phänomenen bzw. Umgliederungen, wie etwa am Beitrag des - wiederum eher diffus definierten, weil schwierig auch eingrenzbaren - "Informationssektors" zum Sozialprodukt (als Ausdruck von neuerdings sog. "Megatrends"). 4 Oder "Bildungsgesellschaft", gemessen an soundso vielen Absolventen oder auch Inskribenten, ohne zumeist tiefer lotende Reflexion auf Qualität von Bildungsniveaus und Bildungsprofilen in deren, nicht zuletzt, gesellschaftsbedingtem Wandel mit einhergehenden "Reformen"; aufgegriffen etwa in der immer wieder von neuem aktualisierten Debatte um neue- informatikgestützte (als solche verstärkt auch "schablonisierte") Lernformen und deren Inhalte gegenüber mehr universell "humanistisch" geprägtem Bildungsgut. 5 3 Adam Schaff Wohin fiihrt der Weg? Die gesellschaftlichen Folgen der zweiten industriellen Revolution, Wien/München/Zürich 1985; ferner Daniel Bell: The Coming of the Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting, New York 1973 (dt. Die nachindustrielle Gesellschaft, 1975); weiters auch J. Hanns Pichler: Die informierte Bildungsgesellschaft in der Arbeitswelt von morgen, Forum "Postindustrielle Gesellschaft- flexible Arbeitswelt", Alpbach, Aug. 1985.

4 V gl. John Naisbitt: Megatrends. 10 Perspektiven, die unser Leben verändern werden, Bayreuth 1984, bes. S. 35 ff.

5 Einschlägig sowie stellvertretend zugleich fiir diesbezüglich kritische Stimmen auch anderweitig, Marian Heitger: Schule, Wirtschaft, Gesellschaft. Blick aufs Ganze, Konsequenzen fiir die Pädagogik, in: Zeitschrift fiir Ganzheitsforschung, 32. Jg., I/1988; ähnlich auch Walter Heinrich: Bildung und Wirtschaft - die Dioskuren von heute, Schriften der Nürnberger Akademie fiir Absatzwirtschaft, Essen 1966.

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Hiebei geht es sichtlich um Quantitäten, um vornehmlich also mengenmäßig faßbare und so auch zu analysierende "Daten", einschließlich ihrer Umsetzung (ihrem "processing"), ohne deren inhaltlicher Relevanz eingehender nachzuspüren: der Frage somit einer letztlich auch konzeptionellen Sinngebung bzw. "Verkraftbarkeit" im Blick auf einzufordernde entsprechungsgerechte Vermittlung von Wissen und Bildung. Nicht untypisch hieflir das als zeitgenössischer "Megatrend" apostrophierte Phänomen einer vorwiegend technokratischprozeßhaft bestimmten gesellschaftlichen Entwicklung, wobei Datenfillle und deren Umsetzung bzw. Verarbeitung im Sinne von "Information" mit ihrer sprunghaften Beschleunigung sozusagen als Kriterium in den Mittelpunkt rükken; identifiziert oder "gemessen" etwa anband von Datenmengen und deren Fülle als Merkmal eben einer sogenannten "lnformationsgesellschaft".6 So z. B., als lediglich illustrativer Seitenblick hierzu, wenn im Zuge jüngster - mittlerweile deutlich abgekühlter - "new economy" Euphorie einhergehende Schaffung von Arbeitsplätzen überwiegend dem Informations- bzw. Servicesektor, hingegen in viel geringerem Maße dem "industriellen" Fertigungsbereich im traditionellen Sinne zugerechnet wurde; dabei nicht weiter reflektierend allerdings darauf, wie sich denn dieser Bereich - als weithin identifiziert mit dem "Informationssektor'' -wirklich definiert und abgrenzt? Bei genauerem Hinblick stößt man da rasch auf erhebliche Grauzonen mit unzulässigen Schematisierungen abseits der ökonomischen Realität: so etwa anhand einer wie zunehmend sich herausstellt - diffusen "new economy" bedingten "Deindustrialisierung", ohne dabei jene filr den Informationssektor selbst existenzbegründenden Strukturvoraussetzungen in Betracht zu ziehen, deren bedarfsprägende Impulse letztlich aus dem real produzierenden Bereich kommen. Solche Beispiele ließen sich fortsetzen, z. B. am meist sehr verzerrend dargestellten gesamtwirtschaftlichen Arbeitskräfteanteil des Agrarsektors, ohne dessen vielschichtig mittelbaren Wirtschafts- bzw. Beschäftigungsimpulse in den verschiedensten Sektoren, von der Kunstdüngererzeugung über das Transportwesen bis hin zur Nahrungsmittelindustrie, entsprechend in Rechnung zu stellen (wobei das tatsächliche Bild dann wesentlich andere Konturen bekäme).

I. Information, Informationsfülle und "Wissen" Charakteristisch, ja nachgerade frappierend nehmen sich aktuelle Befunde über zunehmend anfallende Daten- bzw. Informationsfillle aus, wie hier bloß exemplarisch an einigen Schlaglichtem veranschaulicht werde: 6 o. V.: System Overload. Excess information is clogging the pipes of commerce- and making people ill, in: TIME, Dec. 9, 1996.

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"The world spent nearly 60 billion minutes on the telephone - talking, faxing and sending data- in 1995. In 1985, the time spent was 15 billion minutes; in 2000 it is ... to be 95 billion minutes." 7 Oder auch: "More new information has been produced within the last 30 years than in the last 5.000. Over 9.000 periodicals are published in the United States each year and almost 1.000 ... books daily around the world.''8 Solche - schier unentrinnbare - Entwicklungen provozieren geradezu weiterführende Fragen, wie: welche Information bzw. Daten oder welche Art bzw. Qualität ihrer Vermittlung? Wie sinnvoll umsetzbar, wie überhaupt geistig und somit auch kritisch verkraftbar erweist sich Information als "Wissen" - nicht zuletzt im Sinne von Bildung? Drohen aufgrund solcher Trends und Zwänge heutige Bildungs- bzw. Ausbildungsformen nicht gefahrvoll abzugleiten, wie gerade in diesem menschlich so sensitiven Bereich auch real erfahrbar; abzugleiten in nicht mehr sinnvoll reflektierbare Überproduktion von mehr und mehr unverdaubarer "Wegwerf-Information", die im Taumel ihres Anfalles sich buchstäblich selbst fortwährend ein- und überholt? Es erhebt sich weiters die Frage, inwieweit Information, inwieweit lnformationsfillle mit Bildung in deren eigentlichem Anspruch letztlich überhaupt vereinbar sei? Inwieweit also Informations- und Bildungsgesellschaft - kritisch betrachtet - nicht eine Art contradictio in adiecto an sich darstellen? Aus geistesgeschichtlich tradierter Sicht - und somit relevant filr Anblick wie Ausblick jedweder noch so "informierten" Gesellschaft- scheint zwischen Informationsfülle (oder gar -überfillle) und Bildung in der Tat eine innere Dichotomie gegeben. Dies vor allem im Hinblick auf eine letztlich am Maße des Menschen sich orientierende Verkraftung von Information als Wissen und essentielle Grundlage damit ftlr jegliche Bildung in deren zugleich eminent gesellschaftlichen Relevanz; sich artikulierend etwa in Form wachsenden Unbehagens über eine - sozusagen äußeren Zwängen folgende - Vernachlässigung bzw. Zurückdrängung universell überhöhender Inhalte in gegenwärtigen Bildungs- und Ausbildungssystemen, welche paradoxerweise zugleich die in der gesamten Bildungsgeschichte wohl "informiertesten" sind. Diesbezüglich warnte z. B. eine einschlägige amerikanische Studie vor einiger Zeit besorgt9 , daß mit zunehmend spezialisierten, "modernen" Lehr- und 7 The BT/MCI Global Communications Report 1996/97. Trends, Analysis, Implications, in: TIME, Dec. 9, 1996. 8 Susan Hubbard: Information Skills for an Information Society. A Review of Research, in: TIME, Dec. 9, 1996. 9 U.S. Scholars Criticize Quality of Colleges, in: International Herald Tribune, Oct. 20-21, 1984; vgl. auch John J. Piderit: Where Universities Have Gone Wrong. Academic Address, Loyola University, Chicago 1997.

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Lerninhalten am gesellschaftlich relevanten Bedarf gefahrvoll vorbeiproduziert und damit einer der wichtigsten pädagogischen Grundsätze vernachlässigt werde: nämlich der, daß "die beste Vorbereitung filr die Zukunft" nicht in der Aneignung fachspezifisch orientierter Inhalte zu suchen sei, sondern immer noch in einer bewußt zu fördernden Universalität von Bildung und Ausbildung mit der Offenheit filr eine - heute mehr denn je geforderte - "Anpassung an eine ständig sich ändernde Umwelt". Anpassung also an die Dynamik gesellschaftlichen, technologischen wie wirtschaftlichen Wandel, der im Sinne vorausblikkender- und als solcher durchaus auch wirtschaftlich relevanter- Strategien in der Regel bedeutet, daß er eher "durch ein Übermaß und nicht durch einen Mangel an Chancen gekennzeichnet" ist. 10 So mehren sich denn auch Stimmen, die angesichts aktuell sich stellender Herausforderungen an Unternehmen und Führungskräfte einen universellen Bildungsanspruch schlicht als unabdingbar einfordern. Im Lichte dessen nicht ganz überraschend, kommt z.B. eine neuere englische Studie auf die Frage, "Was einen Manager ausmache?", zu bemerkenswerter Übereinstimmung mit durchaus traditionellen Vorstellungen etwa eines Wilhelm v. Humboldt, wenn es da sinngemäß heißt: Wer einmal gelernt hat, etwas zu können, kann auch"on the job"- alles Können lernen. 11 Gefordert wird damit nichts weniger als eine Besinnung wiederum auf das integrierende "klassischer" Bildungsinhalte, als zugleich rückhaltverleihende Orientierung gegenüber weitgehend schablonisierten (als solchen auch "prograrnmierbaren") Formen oftmals diffus sich darstellender InformationstUlle und deren Vermittlung. Es manifestiert sich darin auch die Sorge über weithin nicht mehr nachvollziehbare Konturen aus einem umfassenderen Verständnis von Bildung als Bedingung schlechthin filr eine zukunftsorientiert sinnverleihende Gestaltung jeweiliger Lebensform. Deutlicher vielleicht als anderswo erklären gerade so sich Realität und Anblick europäisch-abendländischer Lebensform mit ihren Werthaltungen als Bildungsgut schlechthin Uber geschichtlich-soziale Wandlungen hinweg. In AnknUpfung an solcherart tradierte Inhalte und damit an das Geschichtliche, folgert demnach filr jedwede verantwortungsbewußte Gestaltung von Bildungspolitik, in deren stets zugleich gesellschaftlichen Relevanz, ein normati10 Wi/fried Stol/: Unternehmenspolitik, Manuskr. (Esslingen 1984), S. 4; ferner auch FESTO: Der Weg zum Ganzen. Ein Essay zum 50. Geburtstag von Dr. Wilfried Stoll, Esslingen 1987, bes. S. 5-11. 11 What makes a Manager?, Director, May 1988; vgl. auch .Wa/ter Heinrich: Humanistische Bildung und neuzeitliche Wirtschaftsfilhrung, Wien 1955, sowie Walter Heinrich: Wirtschaft und Persönlichkeit. Die Führungsaufgaben des Unternehmers und seiner Mitarbeiter in der freien Welt, Salzburg 1957.

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ver Anspruch. Nicht nur von ungefähr sprechen wir denn auch von "Bildungsidealen", die als solche an geschichtlich gewachsenen und damit gemeinschaftlich verbindlichen Normen, Inhalten und Wertvorstellungen sich orientieren. Kein Geringerer als ein lrnrnanuel Kant stellte dahingehend so auch fest, daß Bildung und Erziehung - verstanden als gesellschaftlicher Auftrag und damit im Blick zugleich auf das Politische - eine der herausforderndsten und anspruchvollsten Aufgaben von nachgerade schicksalhafter Tragweite, worin Auftrag wie Anspruch in einem sich rnanifestieren. 12

II. Bildungsanspruch- wozu? Diese - heutzutage nur allzu oft- einer verdinglichenden Zweckorientierung frönende Problernstellung bliebe zu hinterfragen: Bildung nach welch geistigen und damit letztlich gesellschaftlich geformten bzw. zu formenden Inhalten? Denn hierin wohl liegt die eigentliche Kernfrage nach Sinngebung aller Bildungspolitik schlechthin befaßt, unabhängig von sich wandelnden Techniken, jeweiligen "Praktiken" oder Lernforrnen. Seit jeher meint denn auch Bildung abendländischen Zuschnitts in ihrem überhöhenden Anspruch nicht allein zweckgerichtete "Gebrauchsbildung", nicht fachspezifische Auf- und Zersplitterung, sondern vor allem (mit Wilhelrn v. Hurnboldt) Streben nach "Bildung durch Wissenschaft" als "Selbstaktus im eigentlichen Verstande ... durch und in sich selbst ..."; 13 als Aktus "sittlicher Vervollkommnung" in und aus Verantwortung gegenüber dem Hurnanurn, womit nicht zuletzt die "Verantwortung der Wissenschaft" in deren Grenzen selbst abgesteckt wird. Diese solcherart immer wieder neu sich stellende bildungspolitische Herausforderung - als legitime Forderung auch an eine "Informatik-Gesellschaft" liegt letztlich in der Wahrung bzw. Schaffung entsprechungsgerechter gesellschaftlicher Eingliederungsbedingungen bzw. -optionen; sprich, in deren je-

12 Einschlägig dazu Walter Becher: Platon und Fichte. Die Königliche Erziehungskunst. Eine vergleichende Darstellung auf philosophischer und soziologischer Grundlage, Deutsche Beiträge zur Wirtschafts- und Gesellschaftslehre, Hrsg. Othmar Spann, Bd. 14, Jena 1937; ähnlich Marian Heitger, 1988, bes. S. 19 (Fn.). 13 V gl. Ernst Anrich: Die Idee der deutschen Universität. Die ffinf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus, Darmstadt 1965; einschlägig weiters Erich Heinte/: Die Stellung der Philosophie in der "Universitas litterarum", Österreichische Akademie der Wissenschaften, Sitzungsberichte, 557. Bd., Wien 1990; vgl. auch J Hanns Pich/er: Von der Universität als "Idee", in: wu aktuell, Nr. 6/1997.

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weils gegebene oder wie auch immer zu gestaltende (z.B. wirtschaftlich geprägte) Strukturen. Dies wiederum gilt es mit allen zu Gebote stehenden Mitteln - nicht zuletzt mit den zeitgemäßen Möglichkeiten und Instrumenten der Informatik - zu verwirklichen in einem subjektiven wie in einem darüber hinausweisenden objektiven Verständnis: 14 Im subjektiven Hinblick bedeutet es schlichtweg Bildung im Sinne nachhaltig geistiger Formung von Persönlichkeit. Bildung also im Sinne einer unseren abendländischen Wertvorstellungen gemäßen Persönlichkeitsformung unter Wahrung von Eigenleben, der "vita propria'" des einzelnen, auf Grundlage eines dahin auch ausgerichteten Bildungs- und Ausbildungssystems: demnach nicht unformierend oder gar einseitig normierend (etwa im Sinne einer postulierten "gesellschaftlichen Bewußtseinsform"), sondern Formung in durchaus persönlichkeitsbezogener Achtung und Anerkennung jeweils unantastbarer individueller Würde. Nach wie vor gelte so gesehen auch "als vornehmstes Ziel der pädagogischen Institutionen, daß sie ,Bildung' vermitteln" im Sinne von "Anregung und Hilfe zur Persönlichkeitsentfaltung ... zum selbständigen Denken und abgewogenen Urteilen ... zur Entfaltung und Ausformung der je eigenen Individualität ... der je eigenen Möglichkeiten in der Fülle ihrer Erscheinungen.'"5 Birgt, subjektiv gesehen, gesellschaftliche Eingliederung des einzelnen somit persönlichkeitsgetragene Bewährung und Verwirklichung, basierend auf bewußt mitgestaltender Annahme jeweils gegebener (z.B. institutionell oder betrieblich geprägter) Bedingtheiten, richtet sich - objektiv betrachtet - solche Eingliederung nach jeweils gesellschaftlich bestimmten Voraussetzungen in einem umfassenderen Sinne (für die Arbeitswelt konkret etwa nach bestehenden Strukturen eben im Bereiche der Wirtschaft).

In Anknüpfung an tradierte, gemeinschaftlich getragene Inhalte bzw. Wertvorstellungen und damit an das Geschichtliche liegt so, zum einen, Fundierung wie Rechtfertigung filr jedwede daran sich orientierende Gestaltung im Politischen; zum anderen aber auch Bewahrung vor Beliebigkeit, vor Opportunität oder gar Willkür in der Anpassung von Bildungsinhalten an den Wandel oftmals bloß kurzlebiger - gesellschaftlicher Phänomene oder Strömungen

14 Hiezu im bes. Othmar Spann: Ausblicke auf eine ganzheitliche Erziehungslehre. Lebenskunst und Eingliederung in die Gesellschaft, in: Kämpfende Wissenschaft, Graz 1969 (= Othmar Spann Gesamtausgabe, Bd. 7), S. 153 ff.; einschlägig auch Gerhard Fuchshuber: Schulbildung und Berufswelt, in: Zeitschrift filr Ganzheitsforschung, 25. Jg., I/I 981, sowie ders.: Bildung und Wirtschaft. Versuch einer ganzheitlichen Betrachtung, in: Zeitschrift für Ganzheitsforschung, 39. Jg., IV/ 1995; weiters Walter Heinrich: Die industrielle Gesellschaft als Bildungsgesellschaft. Rektoratsrede, Hochschule für Welthandel, Wien 1964; Hans Freyer: Die Industriegesellschaft als Erziehungsgesellschaft, in: Die Aussprache, Heft 12, 1963; ferner J. Hanns Pichler: Der universellganzheitliche Anspruch an Bildung und Ausbildung vor dem Anblick einer postindustriellen Gesellschaft und Arbeitswelt, in: FESTO: Der Weg zum Ganzen, I 987. 15 Marian Heitger 1988, S. 18 f.

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selbst. In solcherart tradierten und damit gemeinschaftlich geformten Inhalten sowie darin wiederum gründenden Bildungszielen liegt deren Bewahrung auch vor jeglicher Verabsolutierung, indem sie sozusagen aus sich heraus auf das Universelle hin angelegt sind gegenüber mitunter allzu "verlockenden" Engfilhrungen fachspezifischer Einseitigkeit. Dahingehend bewußt genützt, vermögen moderne Methoden der "Informatik" bzw. gezielt aufbereitete Informationsvermittlung einen zweifellos fruchtbaren Beitrag zu leisten. Zeitgemäß erscheint so auch eine verstärkt wiederum zu ortende Besinnung auf Bedeutung und Rolle von "Geschichte" im Fächerkanon; verstanden nicht als fachlich spezialisierte oder "seminaristisch" minutiöse Befassung mit Einzelausschnitten, sondern - mit Cicero gesprochen - als "magistra vitae" in einem umfassenderen Sinne, nämlich: als "moralisches und ethisches Fundament staatsbürgerlicher Bildung von hohem erzieherischen und pädagogischen Wert". Denn in "der Vergegenwärtigung ... in der Aufarbeitung des Geschehenen erkennt der Mensch sich selbst"; erkennt er, "daß eigenes Tun eingebunden ist in Bedingungen, deren Grund frühere Generationen legten". Indem auf solche Weise "Orientierung" vermittelt und der Blick filr Zusammenhänge geschärft wird, vermag "die Beschäftigung mit der Geschichte zu Verantwortungsbewußtsein zu erziehen und zur Bereitschaft, an der Gestaltung einer ... freiheitlichen Lebensordnung mitzuwirken". 16

111. Im Blick auf zeitgenössische "Syndrome" In vielfach immer wieder zu ortender, wenn gleich verfehlter Abkehr vom Universellen und so im Verlust geistiger Anknüpfung an das Geschichtliche zeigt sich - gewissermaßen symptomatisch - eine weithin unübersehbare Zerrissenheit mit dementsprechend orientierungslosen (in ihren Konsequenzen z.T. gar verheerenden) Reformen und Reform-" versuchen" im heutigen Bildungsgeschehen. Sich manifestierend etwa "im Verlust des Bildungsbegriffes als einer normativen Orientierung ... " mit impliziter "Absicht, pädagogisches Handeln auf Verwertbarkeit seines Erfolges festzulegen." 17 Geradezu kennzeichnend hiefilr zeigt sich dies u. a. darin, daß die zeitgenössische "Wissenschaft'' nach tradiertem Selbstverständnis, wie ein bekannter Wissenschaftshistoriker tref-

16 Vgl. Gerhard Mayer-Vorfelder: Holt die Geschichte raus aus der untersten Schublade!, in: MUT, Nr. 252, Aug. 1988, S. 31 f.; ähnlich auch Marian Heitger, 1988, bes. 23 f. u. ö.

17 Marian Heilger 1988, S. 20 f.; vgl. auch J Hanns Pichler: Der universellganzheitliche Anspruch ... , 1987.

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fend bemerkt, weitgehend "ihre Unschuld verlor" 18, d.h. ihrer Einheit und so der Rückverbindung in einer sie selbst überhöhenden, sprich integrierend geistigen Fundierung verlustig ging; verdeutlicht z. B. in einem sich fortzeugenden Nebeneinander von Disziplinen und damit notorischer Übernachtung von Lehrbzw. Lerninhalten mit davon letztlich wiederum auch denkerisch geprägter, sozusagen baukastenartig ("modulhaft") beliebiger Zusammensetzbarkeit unter Aushöhlung einstens universell gefiigten Bildungsverständnisses. Nicht bloß als äußerliches Symptom und mit wachsender pädagogischer Sorge registriert, wird dies deutlich im sichtlichen Verfall von Sprache und Sprachkultur mit geistig wie kulturell tiefgreifenden Konsequenzen. Symptom letztlich auch fiir eine Preisgabe der Sprache als Kulturgut an Zwänge einer "Informatik-Gesellschaft" mit ihren spezifischen Techniken und Formen entpersönlichter, programmier- bzw. schablonisierbarer Schemata der Kommunikation. Aber immer noch, wie immerhin ein renommierter ComputerFachmann hiezu bemerkt, "besteht eine geheimnisvolle Verbindung zwischen Denken und der Sprache. So lange ... die Sprachkraft des Computers so bescheiden ist ... muß auch ihre Denkkraft bescheiden sein. Umgekehrt werden Fachleute mit ärmlicher Sprache nur bescheidene Denkerfolge erzielen können. Die Beherrschung ... von formalen Sprachen ist nicht das gleiche wie die Beherrschung einer natürlichen Sprache. Je mehr wir ... programmieren, umso mehr menschliche Intelligenz und ... menschliches Verständnis sind erforderlich, um den Anwendungen voraus zu sein .. . davon zu profitieren, statt ihr Opfer zu sein." 19 In der Sprache und ihrer Pflege liegt seit je denn auch ein geistig universell formender Anspruch. Nie hatte sie so gesehen die Rolle lediglich instrumenteller Vermittlung, von Kommunikation als bloße "Transmission von Information". Immer schon war- und ist- Sprache essentieller Ausdruck von Kultur, verkörpert sie als solche Kultur- und Bildungsgut, ist sie Bildungskraft selbst. Demgegenüber erfahren wir im aktuellen Bildungsgeschehen eine mitunter geradezu naiv kindliche Überbewertung von fertigkeitsgeprägten Techniken, basierend aufvorwiegend instrumentell orientiertem "Wissen" bis hinein in die universitäre - und damit teuerste - Bildungsebene. Es stellt sich dabei nicht allein rhetorisch, sondern konkret auch ökonomisch die Frage, inwieweit wir hier nicht Zeugen sind einer eklatanten, von einem gehörigen Maß Irrationalität

18 Armin Hermann: Wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor. Macht und Mißbrauch der Forscher ( 1982), Neuaufl., Berlin 1984. 19 Zit. nach Heinz Zemanek, in: Erich Schmutz: Schulreform und eine Milliarde und was daraus werden kann. Hat das AHS-Oberstufenkonzept Zukunft?, in: Die Presse, 16./17. Juli 1988, S. 5.

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geleiteter Fehlallokation wertvoller Ressourcen - nicht zuletzt in Form von Bildungskapazitäten. (Gewissermaßen symptomatisch hiefllr: Lehrsäle vollgepfropft mit Computern zum vorwiegend propädeutischen "Erlernen" von Textverarbeitungs-, Formatierungs- und Tabulierungstechniken, die auf universitärem Felde als "Bildungs-Einrichtungen" zumindest fragwürdig und effizienter wohl vor- bzw. auszulagern wären; schließlich wurden zu Zeiten der Erfindung der Schreibmaschine auch nicht auditoria maxima oder Hörsäle unserer Universitäten mit derlei Gerätschaften belegt.}20 Im vielfach kritisch erhobenen Ruf nach einzufordernder universeller Fundierung von Bildung auf Grundlage kulturkreisgeprägter Gemeinsamkeit, läge Auftrag und Legitimation zugleich für dementsprechend bildungspolitische Zielformulierung. Insoferne - wenn anderweitig auch mit Vorbehalt - wäre Adam Schaff in seiner eingangs erwähnten Club of Rome-Studie durchaus zuzustimmen, wenn er bemerkt, "daß das Auftreten von neuen Techniken der Informationsübertragung (als charakteristisches Signum einer "InformatikGesellschaft", J.H.P.) seine Auswirkungen auf dem Gebiet einer breit verstandenen Kultur haben muß"; insbesondere fllr "die Kultur der entwickelten Gesellschaften", die "immer gleichzeitig national und übernational ist, das heißt, daß sie außer den kulturspezifischen Elementen eines bestimmten Volkes auch ... Elemente enthält, die einer ganzen Nationengruppe gemeinsam sind (Regionalkultur), sowie schließlich ... universelle Elemente". 21 An sich kein besonders revolutionärer Befund, fügt er sich doch mehr oder weniger in die große Tradition abendländischen Bildungsanspruches und trifft sich hierin mit diesbezüglich überwölbenden kultur- bzw. geschichtsphilosophischen Deutungen und Sichtweisen.22 Über die Jahrhunderte hinweg hat denn

20 Eine empirische Studie fiir England zeigte diesbezüglich kritisch auf, daß bis zu 90% (!) universitär vermittelter EDV-"Kenntnisse" sich vornehmlich auf simple Textverarbeitungstechniken und somit auf "skills" beschränkten, die in weiten Bereichen nicht zuletzt so in der Wirtschaft - auf unterer administrativer Ebene angesiedelt sind (wofilr somit universitäre Ausbildung bzw. Einrichtungen an sich zu kostspielig!). 21 Adam Schaff, 1985, bes. S. 86 u. 89 f. ("Wandel der kulturellen Gesellschaftsformation"). 22 Vgl. dazu Fritz Schachermeyr: Die Tragik der Voll-Endung. Stirb und Werde in der Vergangenheit, Europa im Würgegriff der Gegenwart, Wien/Berlin 1981; einschlägig weiters Alfred Müller-Armack: Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart 1959; Reinhold Schneider: Europa als Lebensform, Köln/Oiten 1957; Leopo/d Ziegler: Der europäische Geist (1927), neu Hrsg. von S. Latour, Zug/Kusterdingen 1995; ferner Alexander Rüstow: Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik, 3 Bde,, Erlenbach/Zürich 1950-57; sowie Walter Heinrich, Wirtschaft und Persönlichkeit ... , 1957;

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auch die so arteigen geprägte Universalität abendländischer Lebensform ihre Bildungswelt, hat sie deren Inhalte und Leitbilder entscheidend mitgeformt Bildung blieb solcherart eingebettet in einer sie überhöhenden geistigen Fundierung; aufgehoben in einer Universalität, deren Wiederbelebung unter dahingehend bildungspolitischen Akzenten nachhaltig zu fordern bliebe. Denn, wie ein seit Jahrzehnten an vorderer Front aktuellen Bildungs- und Forschungsgeschehens einschlägig Bewanderter treffend bemerkt, läge die grundlegende bildnerische Aufgabenstellung, neben der Vermittlung von Kenntnissen, vorrangig immer noch in der Weckung von Arbeits- und Leistungsbereitschaft, von Initiative und Kreativität ... gepaart mit Urteils- und Kritikfähigkeit- unabhängig von jeweils gegebenem Wissensstand. Nicht so sehr die Ziele demnach sind es, sondern die Inhalte bildnerischen Bemühens, "an denen man lernt". Entsprechende Umsetzung und Verwirklichung einer solchen, an universell gültigen Zielen sich orientierenden Politik gelingt jedoch nie "allein durch ... Wissensvermittlung, durch die Aneignung von Kulturtechniken ... und durch didaktische Tricks"; vielmehr gilt es, vorgegebene "Einseitigkeiten des Lernprozesses" in bestehenden Lehrplänen mit weitgehend "reduktionistischen Weltbildern" in Bildung und Ausbildung schlechthin zu durchbrechen, "damit wieder der ganze Mensch in die Lehr- und Lernprozesse einbezogen wird", um so in einem ganzheitlichen Sinne "Intellekt, Gemüt und Willenskräfte in gleicher Weise zu bilden". 23

IV. Menschliches Maß und der Zukunft ,,Preis" Jedweder Anmaßung im Sinne etwa "pontifizierender'' Thesen oder - modern gewordener - "szenarischer'' Entwürfe zu Anblick und Ausblick einer von sich wandelnden Kulturtechniken mit geprägten künftigen Gesellschaft und deren Bildungsanspruch sei hier bewußt entsagt. Dies nicht aus bequemer Scheu, vielmehr im Einklang nicht nur mit der Weisheit eines Platon in seinen Dialogen (worin u.a. vom "Sinn des Künftigen" die Rede), im Einklang auch mit der Selbstbescheidung diesbezüglicher Betrachtung des zeitgenössischen Sprach- und Kulturphilosophen Franz Vonessen, der da feststellt: Eine "Zukunftswissenschaft", verstanden als Wissenschaft, könne es aus dem Wesen der Sache nicht geben und enthielte "nur fllr den Dummen eine Gewähr ... ". Hanferner auch J. Hanns Pichler: Europa und seine "Begriftlichkeit'' im Spiegel von drei Jahrtausenden, in: Zeitschrift ftlr Ganzheitsforschung, 41. Jg., 1/1997. 23 Raoul Kneucker: Einmallernen genügt nicht mehr. Die Welt von 2000- Herausforderungen an Schule und Erziehung, in: Die Presse, 27./28. Juli 1985 (spectrum); weiters auch J. Hanns Pichler: Der universell-ganzheitliche Anspruch ..., 1987.

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delt es sich dabei doch nicht um irgendeine oder irgendeines, sondern stets um "unser aller Zukunft", von der wir seit jeher mit Sicherheit eines nur "wissen": daß sie in jedem Falle- und im wahrsten Sinne des Wortes- "ihren Preis" hat. Die Frage nur ist, welchen? Sie kann erreichbar gemacht, sie kann "gewonnen" werden; sie kann jedoch, wie wir wissen, buchstäblich auch "verspielt" werden.24 Auf zukunftsorientierte Gestaltung einer informatikgestUtzten Bildungsgesellschaft und deren Anspruch im besonderen gemünzt, mUßte die unabdingbare Forderung sonach wohl lauten: daß dieser "Preis" - wie immer auch deren der Anblick - letztlich nicht die Bildung als zu bewahrendes hohes Gut und damit letztlich der Mensch in seiner geistigen WUrde selbst sein dürfe. So stand denn auch am Eingang der bekanntesten Orakelstätte der Antike, dem Tempel des Apoll zu Delphi, überraschender Weise (obgleich "Orakel" erwartungsgemäß wohl von Künftigem handeln) nicht: Erkenne die Zukunft; weniger anmaßend, jedoch herausfordernder zugleich hieß es da: "Erkenne Dich selbst"! In überkommener Deutung besagt dies; daß alles Künftige - nicht zuletzt im gesellschaftlichen Hinblick- "nicht um der Zukunft, sondern um des Menschen willen" erkannt und gestaltet werde, als an den Menschen selber letztlich gerichteter Auftrag zu sich bescheidender Orientierung am Erreichbaren und so zugleich an dessen- vielleicht einzigem- "Preis", der ihm im Ringen um "eine seiner würdigen Zukunft ... abverlangt wird ... ". 25 Es birgt dies Mahnung und Auftrag im Sinne einer immer wieder von neuem sich artikulierenden Forderung nach vor allem dem "Maße des Menschen" gerecht werdender Zukunftsgestaltung, die ihm - in seinen Grenzen - erreichbar und so schließlich auch "bezahlbar" sein müsse. Allzu leicht nur könnte angesichts einer heute zunehmend dem Schablonenmäßigen, dem unpersönlich Apparathaften und Instrumentellen verhafteten Gesellschaft solche, in Grenzen und Maßen des Menschen sich bewegende "Bezahlbarkeit", könnte eben dieser "Preis" auch verspielt werden. Davon ktlnden uns nicht allein populär gewordene Visionen eines ,,Apparatschik", eines "Sowjetmenschen", von einer "Brave New World" bis zu "1984" oder einer "Animal Farm". 26 Ein solcher Einsatz, solches "Verspielen" hätte- was

24 Vgl. Franz Vonessen: Der Preis ftlr die Zukunft, in: Scheidewege, Vierteljahresschrift ftlr skeptisches Denken, Frankfurt/M., Jg. I, Heft 2, 1971, bes. S. 123 u. 135 f. 25 Ebd., S. 142 f. 26 Dazu u.a Neil Postmann: Wir amüsieren uns zu Tode- Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt/M. 1985; auszugsweise auch in: Die Presse, 7./8. Sept. 1985 (spectrum): "Wenn die Kultur zum Variete verkommt. Zur Gefahr, daß Aldous Huxley, nicht etwa Orwell recht hatte."

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Ziele und damit Sinngebung filr jedwede gesellschaftliche Gestaltung einschließlich deren Bildungsauftrag anlangt - nicht bloß irgendeinen Preis: er wäre, da den Menschen und seine Lebensform unmittelbar betreffend, ein in der Tat wohl "unbezahlbarer"!

Literatur Anrich, Ernst: Die Idee der deutschen Universität. Die fiinf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus, Darmstadt 1965. Becher, Walter: Platon und Fichte. Die Königliche Erziehungskunst Eine vergleichende Darstellung auf philosophischer und soziologischer Grundlage, Deutsche Beiträge zur Wirtschafts- und Gesellschaftslehre, hgg. v. Othmar Spann, Bd. 14, Jena 1937. Bell, Daniel: The Coming of the Post-lndustrial Society. A Yenlure in Social Forecasting, New York 1973 (dt. Die nachindustrielle Gesellschaft, 1975). Freyer, Hans: Die Industriegesellschaft als Erziehungsgesellschaft, in: Die Aussprache, Heft 12, 1963. Fuchshuber, Gerhard: Bildung und Wirtschaft. Versuch einer ganzheitlichen Betrachtung, in: Zeitschrift fiir Ganzheitsforschung, 39. Jg., IV/1995.

- Schulbildung und Berufswelt, in: Zeitschrift fiir Ganzheitsforschung, 25. Jg., 1/1981. Heinrich, Waller: Bildung und Wirtschaft - die Dioskuren von heute, Schriften der Nürnberger Akademie fiir Absatzwirtschaft, Essen 1966.

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Kneucker, Raoul: Einmallernen genügt nicht mehr. Die Welt von 2000- Herausforderungen an Schule und Erziehung, in: Die Presse, 27./28. Juli 1985 (spectrum). König, Rene: Vom Wesen der deutschen Universität, Berlin 1935. Mayer-Vorfelder, Gerhard: Holt die Geschichte raus aus der untersten Schublade!, in: MUT, Nr. 252, Aug. 1988. Mosser, Alois!Palme, Herwig!Pfeiffle, Horst!Pichler, J. Hanns (Hrsg.): Die Wirtschaftsuniversität Wien. Bildung und Bildungsauftrag. Analysen - Perspektiven - Herausforderungen, Wien 1998. Müller-Armack. Alfred: Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart 1959. Naisbitt, John: Megatrends. 10 Perspektiven, die unser Leben verändern werden, Bayreuth 1984. o. V.: System Overload. Excess information is clogging the pipes of commerce - and making people ill, in: TIME, Dec. 9, 1996.

Pich/er. J. Hanns: Das Bild der amerikanischen Universität im Lichte der deutschen Universitätsidee und der gegenwärtigen Reformen, in: Zeitschrift für Ganzheitsforschung, 8. Jg., 11/1964.

- Der universell-ganzheitliche Anspruch an Bildung und Ausbildung vor dem Anblick einer postindustriellen Gesellschaft und Arbeitswelt, in: FESTO: Der Weg zum Ganzen. Ein Essay zum 50. Geburtstag von Dr. Wilfried Stoll, Esslingen 1987. - Die informierte Bildungsgesellschaft in der Arbeitswelt von morgen, Forum ,.Postindustrielle Gesellschaft- flexible Arbeitswelt", Alpbach, Aug. 1985. - Europa und seine "Begrifflichkeit" im Spiegel von drei Jahrtausenden, in: Zeitschrift für Ganzheitsforschung, 41. Jg., 1/1997. - Von der Universität als "Idee", in: wu aktuell, Nr. 6/1997. Piderit, John J.: Where Universities Have Gone Wrong. Academic Address, Loyola University, Chicago 1997. Postmann, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode- Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt/M. 1985. Rüstow, Alexander: Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik, 3 Bde., Erlenbach/Zürich 1950-57. Schachermeyr, Fritz: Die Tragik der Voll-Endung. Stirb und Werde in der Vergangenheit, Europa im Würgegriff der Gegenwart, Wien!Berlin 1981. Schaff. Adam: Wohin führt der Weg? Die gesellschaftlichen Folgen der zweiten industriellen Revolution, Wien/München/Zürich 1985.

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Schelsky, Helmut : Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Harnburg I 963 . Schmutz, Erich: Schulreform und eine Milliarde und was daraus werden kann. Hat das AHS-Oberstufenkonzept Zukunft?, in : Die Presse, 16./17. Juli I 988. Schneider, Reinhold: Europa als Lebensform, Köln/Oiten 1957. Spann, Othmar: Ausblicke auf eine ganzheitliche Erziehungslehre. Lebenskunst und Eingliederung in die Gesellschaft, in Kämpfende Wissenschaft, 2. Aufl., Graz 1969 (= Othmar Spann Gesamtausgabe, Bd. 7). Stall, Wilfried: Unternehmenspolitik, Manuskr., Esslingen 1984. The BT/MCI Global Communications Report 1996/97. Trends, Analysis, Implications, in : TIME, Dec. 9, 1996.

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Ziegler, Leopold: Der europäische Geist (I 927), Zug/Kusterdingen 1995.

Globalisierung, Rationalisierung, Flexibilisierung, Höherqualifizierung ... Und wo bleiben die Verlierer des Wandels der Arbeits- und Berufsgesellschaft? Kritische Anmerkungen zu einer epochalen Herausforderung und Chance der Wirtschaftspädagogik Von Bruno Schurer Die moderne Ökonomie schafft neuen Wohlstand- Gemeinschaft und Sinn stiftet sie nicht. ... Ins Leere geht die Hoffnung, die "gute Gesellschaft" lasse sich von Staats wegen machen .... In der offenen Gesellschaft muss soziale Kohäsion das Werk der Bürger sein- jeder andere Weg geflihrdet die Freiheit selbst. Ralf Dahrendorf

Entgegen populären Prognosen, die das Ende der modernen Arbeits- und Berufsgesellschaft verkünden und an deren Stelle die zunehmend an Mechanismen des Alltags und Konsums orientierte Freizeit-, Erlebnis- oder Spaßgesellschaft setzen, gibt es empirisch überzeugende Anzeichen daftlr, dass uns die Arbeit auch in abschätzbarer Zukunft auf breiter Linie zwar nicht mehr- soweit dies überhaupt jemals der Fall war - als alleiniges, auch nicht unbedingt als das, aber ohne Zweifel als ein, in der Regel sogar als ein maßgebendes und in mehrfacher Hinsicht kaum verzichtbares Medium der Entwicklung und des Ausdrucks personaler und sozialer Identität begegnen wird, und dass die Arbeitsgesellschaft ihr damit verbundenes Wertgeftlge wohl nicht grundlegend austauschen wird, zumindest nicht so schnell, wie manche Auguren glauben machen wollen• . Und sie wird auch als Berufsgesellschaft Bestand haben. Denn es scheint des Weiteren nichts definitiv dagegen zu sprechen, die unter dem Gesichtspunkt realer ökonomisch-technischer Funktionalität nachgefragten Qualifikationen auch künftig prinzipiell in berufshafteT Kompatibilität mit 1 Vgl.

im Überblick Schurer 2000, S. 26 ff.

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Bruno Schurer

diesen individuellen Bedürfnissen zu sehen, dem Prinzip Beruflichkeil in dieser Hinsicht sogar eine wieder steigende Adäquanz, gar Notwendigkeit zu attestieren und von der Erwartung aus~gehen, Arbeit und speziell berufsförmige Arbeit werde objektiv wie subjektiv eine wichtige Kategorie der Bestimmung des Leistungs- sowie Individual- und Sozialpersönlichkeitsprofils vieler Menschen bleiben. Wohlgemerkt: vieler, folglich aber offensichtlich doch nicht aller Menschen, denn es sind hierbei zwei Dinge strikt auseinander zu halten: die Entwicklung der qualitativen Struktur der Arbeitsplätze und die Entwicklung der Zahl der Arbeitsplätze. Der empirische Trend zur Höherqualifizierung behauptet zunächst lediglich, dass die künftigen Arbeitsplätze insgesamt wieder in einem höheren Maße beruflich verfasst sein werden, sagt aber nichts aus über deren Anzahl und lässt zum Beispiel offen, ob nicht gleichzeitig ein mehr oder weniger großer Teil der bisherigen ungelernten Tätigkeiten der Rationalisierung, dem down-sizing im Zuge von Iean-management und lean-production, zum Opfer fällt und dadurch ,technologische Arbeitslosigkeit' produziert wird. Und in der Tat, tagtäglich erreichen uns neue Meldungen über massiven Stellenabbau in expandierenden Industrien. Es zeigt sich, was es aus klassischer Expertensicht eigentlich gar nicht geben dürfte: Wachstum, das keine Arbeitsplätze schafft, die gleichzeitige Zunahme von Arbeit und Arbeitslosigkeit. Und selbst klassische Dienstleistungsbereiche sind von bislang ungeahnten Wirklichkeiten und Möglichkeiten der Rationalisierung betroffen, so dass auch die Hoffimng auf Fourasties optimistische Kompensationstheorie mehr und mehr schwindet. Waren in Deutschland vor zwanzig Jahren etwa 80 Prozent der Erwerbstätigen vollbeschäftigt, sind es heute noch rund sechzig Prozent, und selbst wenn man die Rede von der 20:80Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der nur noch zwanzig Prozent der Erwerbstabigen arbeiten, ins Reich der Fabel verweist, ist eine außerordentlich prekäre Entwicklung unverkennbar: einerseits ist Arbeit nach wie vor essentielles sinnstiftendes Element des menschlichen Lebens, bleibt der Wertekern der Arbeitsgesellschaft nicht zuletzt wegen des FehJens einer identitätsstiftend tragfähigen sozialutilitären Alternative erhalten2 • Arbeit charakterisiert den Menschen, weil sie in der Regel unumgängliches Medium der materiellen Existenzsicherung ist, und sie charakterisiert ihn, weil sie in unserer Gesellschaft nach wie vor den vertrautesten, kommunikabelsten, am leichtesten nachvollziehbaren und damit konsensfähigsten Ausdruck des Utilutätskriteriums Leistung darstellt. An der Arbeit hängt, zur Arbeit strebt doch alles, bringt es Karl Otto Hondrich 3 auf den Punkt. Andererseits aber wird Arbeit gleichzeitig zum knappen Gut. Und damit droht der uralte Wunschtraum der Menschen, nicht mehr arbeiten zu müssen, der

2

Siehe dazu Schurer 2000, S, 51 ff.

3

Hondrich 1996, S. 3.

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bei uns seit den fiinfziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch ein Sinken der Jahres- und Lebensarbeitszeit bereits konkrete Fonnen anzunehmen schien, zum Alptraum der Arbeitslosigkeit zu werden! Das ist nicht zuletzt auch ein sozialer und pädagogischer Alptraum, denn seit Marienthal stellen wir unverändert fest, dass die Selbst- und Fremdbewertung von Arbeitslosen sich nahezu ausschließlich unter Bezugnahme auf die Kategorie Arbeit äußert, genauer: in negativen Attributenkraft des Verlustes und des andauernden FehJens von Arbeit. Die filr die Zukunft wegweisende Fragestellung in diesem Zusammenhang wird also aller Voraussicht nach nicht mehr nur lauten , Wie ist die Arbeit strukturiert' und ,Welchen subjektiven Wert hat sie?', sondern unausweichlich und weitaus komplexer auch: , Wer hat überhaupt Arbeit?', , Was geschieht mit denen, die keine Arbeit haben?', , Wie kann verhindert werden oder wie kann damit umgegangen werden, dass die Gesellschaft sich immer mehr in zwei Teile spaltet: jene, die das knappe Gut Arbeit haben - und jene, die davon ausgeschlossen und in vielfacher, materieller und ideeller, Hinsicht ausgegrenzt sind und in dieser massiven Zukunfts- und Chancenbeschränkung das Risiko längst überwunden geglaubter Klassenkonflikte aufs Neue eröffuen?' und ,Inwieweit sind von den Implikationen dieser Probleme nur die Arbeitslosen betroffen oder auch jene, die Arbeit haben?'. Insbesondere Soziologen wie Kar! Otto Hondrich oder Ulrich Beck befassen sich mit dem Problem der ökonomischen und sozialen Integration und Legitimation von Menschen, die nicht arbeiten können oder dürfen. Und in fachspezifischer Zuständigkeit sieht sich die Pädagogik, speziell die Wirtschaftspädagogik, mehr denn je mit der Frage nach der personalen Verwirklichung und Stabilisierung derer konfrontiert, die auf lange Sicht keine oder selten Arbeit haben. Woraus genau nährt und legitimiert sich jener authentische Verhaltenskodex, den etwa der Kolumnist des Wiener Standard, Peter Vujica (2000) journalistisch so eingängig fonnuliert und der sich dann aber doch als so ungemein anspruchsvoll entpuppt? Wie nämlich vennittelt und festigt man inmitten einer immerhin noch anhaltenden wohlfahrtsstaatliehen Phase die Einsicht, dass es an Stelle des dauernden Geredes von der Wiederkehr der Vollbeschäftigung realistischer wäre, "sich allmählich mit dem Gedanken anzufreunden, dass man Menschen, die nicht direkt an der Steigerung des Bruttonationalproduktes mitpudeln und mithudeln, nicht länger als Sozialschmarotzer diffamieren, zu Zwangsarbeit verdonnern und durch verdrossen gewährte Almosen entwürdigen kann"? Und wie gelangt man von dieser Einsicht dann weiter zum konkreten Verhalten? Denn man wird "in einer multikulturellen globalen Gesellschaft, von deren Veränderung ja die ganze Zeit schlag- und fremdwortreiche Rede ist, nicht umhin können, Menschen ohne Arbeit als vollwertige Mitglieder anzuerkennen und auch entsprechend zu versorgen." Und last but, gerade unter pädagogischem Interesse, bei weitem not least: woher beziehen sie, die Leistungsschwachen und Leistungsversager, ihre Selbstwerte und ihre soziale

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Identität? Müssen sie einfach nur flexibler werden, wo doch die Propheten der allgegenwärtigen Frohbotschaft der Flexibilität, wie Dettling (1999) in Anlehnung an Ritkin formuliert, nur die halbe Wahrheit sagen, dass Flexibilität nämlich vielerorts gut und notwendig ist, aber zugleich einen ganzen Irrtum verkünden: dass auf diese Weise auch eine gute Gesellschaft wie von selbst entstehe? Um Missverständnissen vorzubeugen: auch die die technologische Arbeitslosigkeit bewirkende Rationalisierung an sich verkörpert beileibe kein Teufelsding. Im Gegenteil. "Ist es nicht das Beste", fragt Helmut Heid4 , "was den (allermeisten) Arbeitsplätzen passieren kann? Es war von Anfang an der Sinn der Technik, die Produktivität nicht nur der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch der natürlichen Ressourcen zu steigern." Daraus erwachsen zugegebener• maßen neue Probleme, beträchtliche Probleme sogar, "aber diese liegen auf einer völlig anderen ... Ebene". Der Pädagoge Heid trifft sich hier offensichtlich mit den Soziologen Hondrich (1996 passim) und Beck (1996 passim), deren diesbezügliche Ausftlhrungen - prototypisch filr die in der wissenschaftlichen wie in der Alltagsdiskussion zu beobachtende Renaissance eines ebenso schlichten wie originären Sinn- und Verhaltenskriteriums, das im Zeitalter einer dominierenden und in der Wohlstandsgesellschaft weithin als selbstverständlich und unproblematisch empfundenen Fixierung auf Individual- und Partialinteressen aber allzu oft an den Rand gedrängt, mitunter sogar als überholt erachtet wird -gleichfalls in diese Richtung einer anderen Ebene weisen, auf eine letztlich genuin pädagogische Kategorie mit eminent politischer Bedeutung: soziale Verantwortlichkeit, Toleranz, sprich Solidarität. An die Stelle eines überbordenden individuellen und ökonomischen Egoismus, der vielfach durch eine Fehlinterpretation des analytisch-modellhaften homo oeconomicus als empirischer Begriff und präskriptive Handlungsregel begünstigt werde, müsse eine neue Solidarität treten. Diese setze eine neue Sicht der Dinge, einen neuen Gesellschaftsvertrag voraus, der Solidarität nicht nur als Solidarität der Arbeitenden mit den Arbeitslosen versteht, sondern als Solidarität aller, als Solidarität insbesondere, wie keineswegs nur Philippe Seguin fordert 5, auch des Kapitals, sowohl beispielsweise im Rahmen einer Gewinnbeteiligung oder einer breiteren Streuung des Produktivvermögens unter den Erwerbstätigen (Stichwort ,Volkskapitalismus') als auch einer materiellen wie ideellen Beschäftigungs- und Sozialverantwortung6 •

Heid 1999, S. 243. Vgl. Afheldt 1996; siehe etwa auch Dönhoff1991. 6 Siehe auch Hondrich/Koch -Arzberger 1992, S. 115 passim, oder Jeremy Rifkins1995, S. 218 - ultimative Forderung nach einer Abzweigung der Produktivit!tsgewinne, 4

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Es liegt auf der Hand: ein solcher Wandel der Arbeitsgesellschaft, in gewisser Weise die Zerstörung des gerade erst in einem ,finalen' Individualisierungsschub verwirklicht geglaubten alten Renaissancetraumes der Befreiung von traditionellen Strukturzwängen und Zwangsgemeinschaften hin zu Selbständigkeit, Selbstverwirklichung und Ungebundenheie.. wird nicht reibungslos vor sich gehen. Er wird vielmehr, nach Lage der Dinge sogar unweigerlich, von massiven ökonomischen und sozialen Konflikten mit epochalen Umbrüchen überlagert sein. Aber deren Ausmaß dürfte umso geringer werden, und auch etwaige (politische) Zwänge oder einseitige Zumutungen werden umso mehr akzeptiert werden, je eher und je mehr die neue Denk- und Handlungsweise betreffend Arbeit und Arbeitslosigkeit zum Allgemeingut, zu den eingewurzelten Prinzipien individuellen wie sozialen und ökonomischen Denkens und Tuns gehört. Diesbezüglich müssen wir allem Anschein nach weniger einen Erkenntnismangel, wohl aber einen Umsetzungsmangel konstatieren. Und an dessen Ursprung wiederum stehe, wie vielfach beklagt wird, ein politischer Mangel. Die politische Debatte, so Jeremy Rifkin ( 1997), verharrt bis heute im Spannungsfeld vom Markt und Staat. In dieser Fixierung entzieht sie sich selbst den Boden unter den Füßen und begibt sich der Möglichkeit, den Herausforderungen und Chancen des neuen Zeitalters gerecht zu werden. Ein Blick zurück zu den Wurzeln der modernen Gesellschaft zeigt nämlich, vor den Märkten und vor den Regierungen haben sich im Laufe der Geschichte immer soziale Gemeinschaften etabliert, und immer ging sozialer Austausch dem Warentausch voran. Sich dessen zu vergewissem heißt, den sozial-gemeinnützigen Bereich in unserer Gesellschaft nicht mehr nur zu marginalisieren, sondern als dritte gesellschaftliche Säule zwischen Staat und Markt wieder ernst zu nehmen, als Bereich, der in Wirklichkeit immer noch die Grundlage der beiden anderen bildet. Damit "änderte sich das Wesen des politischen Diskurses grundlegend. Dann endlich würde sich (auch über die theoretischen Reflexionen hinaus; B. S.) eine vollkommen neue Sicht von Politik und Wirtschaft, vom Wesen der Arbeit und der Gesellschaft eröffnen." Eine Utopie? Wenn ja, dann unverkennbar eine nützliche, sogar notwendige Utopie, zudem eine Utopie, die mit ihrer realen Vergangenheit auch künftige Realisierbarkeit indiziert. Und auch eine Utopie, die eine Vielzahl gegenwärtiger Dilemmata auf den Punkt bringt und decouvriert. Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg hat dies mit prinzipiell identischer geschichtlicher Bezugnahme wie Rifkin präzise ins Bild gesetzt. "Die Städte der Renaissance die die dritte industrielle Revolution dem Marktbereich beschert, zur Finanzierung gemeinnütziger Tätigkeiten im Dritten Sektor. 7 Vgl. Ferchhoff!Kurtz 1994, S. 487, mit Bezug auf lmhofund Beck.

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... waren geprägt durch Kirche, Rathaus und Marktplatz. Die Kirche als Ort fiir die religiöse Wahrheit. Das Rathaus als Arena fiir die res pub/ica. Der Markt zum Austauch wirtschaftlicher Güter. Wo immer sich die Balance zwischen Religion, Politik und Ökonomie auflöst, beginnt der Weg in die Knechtschaft, mag sie auch verschiedene Masken tragen: Kapitalismus oder Wirtschaftsgesellschaft. Kommunismus oder Staatsgesellschaft. Fundamentalismus oder Gottesstaat" 8 • Gerade die jüngste Vergangenheit hat in der Tat gezeigt: staatsdominierte Entwicklung hat ebenso versagt wie staatenlose. Der Markt fiir sich vermag, und das wohl einzigartig, Wachstum zu schaffen, und das wiederum kann einer ökonomisch und sozialstaatlich einvernehmlichen Entwicklung in entscheidender Weise den Weg ebnen. Aber ökonomisches Wachstum und gesellschaftlicher Reichtum sind dabei nur ein Faktor, der vor allem keinen Automatismus im Sinne eines gleichläufigen, von Verteilungsgerechtigkeit bestimmten Wachstums sozialer und humaner Konditionen birgt und aller Erfahrung nach alleine auch nicht ausreicht, das Elend aus der Welt zu schaffen. Um etwas von Wachstum und Wohlstand zu haben, um ein Leben nach humanen Werten und Ansprüchen fUhren zu können, brauchen die Menschen daher verbürgte Chancen, gerechte Chancen durch Bildung und Ausbildung, durch Gesundheit, durch Arbeitsplätze und Einkommen. Und dafiir muss die Politik die Voraussetzungen schaffen. Sie kann sich dabei nicht unbesehen auf ,bewährte' Rezepte verlassen, verfUgt im Fall der Globalisierungsproblematik auch gar nicht über solche, und sie darf nicht nur reagieren oder abwarten nach dem Motto, dass die Menschen bisher immer noch Antworten gefunden haben auf die Herausforderungen eines exzessiven Marktes, sei es der Sozialstaat ausgangs des neunzehnten oder seien es die Bürgergruppen ausgangs des zwanzigsten Jahrhunderts. Denn darin beruht zunächst nicht mehr als eine Hoffnung sowie der empirische Hinweis auf einen durchaus wichtigen, wirksamen und möglicherweise sogar unerlässlichen Beitrag zur Gestaltung der künftigen Verhältnisse, aber jedenfalls keine historische Gesetzmäßigkeit mit der Konsequenz eines etwaigen Dispenses fiir die Politik, die Zukunft einer sozialen Marktwirtschaft völlig den vielleicht und mit einiger Wahrscheinlichkeit ohnehin nur langsam und unter schmerzhaften Begleitumständen greifenden Selbstregulierungskräften des Marktes oder der Gesellschaft zu überlassen. Das heißt einerseits, Politik darf nicht überregulieren, darf nicht etwa Verteilungsgleichheit an die Stelle von Verteilungsgerechtigkeit setzen wollen, auch muss sie nicht unbedingt und immer selbst handeln (siehe z. B. Peter Ulrichs Entwurf einer ,deliberalistischen Politik'). Und sie kann vor allem den

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Zit. nach Dettling 1996.

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Einzelnen nicht aus Selbstverantwortung und Eigeninitiative entlassen, zumal im Zuge der kaum mehr zurückschraubbaren, vielfach auch sinnvollen und notwendigen Flexibilisierung nahezu zwangsläufig wieder mehr Risiken von Staat und Wirtschaft auf den Einzelnen verlagert werden. Hier kann man mit Schumpeter eine schöpferische Zerstörung der Wirtschaft preisen - aber doch nicht, so rückt Ulrich Beck (2002) die Perspektive zurecht, die Zerstörung des Menschen! Und eben diesbezüglich muss die Politik andererseits Rahmenbedingungen setzen und nicht nur unter vordergründiger Berufung auf vermeintliche Sachzwänge einer transnationalen, nicht mehr kontrollierbaren Ökonomie agieren oder in einem falsch verstandenen Sinn von ,Zivilgesellschaft' Kosten und Probleme auf den sogenannten selbstverantwortlichen Bürger abwälzen. Damit wird aber auch deutlich, dass man es sich dann doch zu einfach machte und im Hinblick auf die Problembewältigung zu kurz griffe, Versäumnisse bei der institutionalisierten Politik allein oder nur bei der Wirtschaft orten und künftige Handlungserfordernisse nur von ihnen, als quasi außerhalb des Individuums stehenden Instanzen, einfordern zu wollen. Denn wie auch immer die Lösung der in Rede stehenden Probleme vonstatten gehen soll und wird, ihre Bewältigung ist jedenfalls, das scheint der öffentlichen Diskussion allzu oft aus dem Blick zu geraten, in entscheidendem Maße eine Frage der Individuen oder, genauer, eine Frage derer Erziehung, derer Bildung und Ausbildung und damit notabene auch eine Aufgabe der wissenschaftlichen Reflexion und Begründung des Bildungswesens9 • Denn fundamentale Voraussetzungen filr jegliches auf diese Probleme zielende ökonomische Handeln im Sinn eines human und sozial verantwortlichen sustainable development sind ein entsprechendes Problem- und Wertebewusstsein und die Fähigkeit und das Wollen, diese Werte umzusetzen. Am Anfang steht Erziehung, und die äußere Handlungsweise entspricht der inneren Haltung. Das gilt filr das Individuum wie filr die Gesellschaft, und nicht zuletzt wird daher auch, so zitiert Heid 10 Schleiermacher, die Politik "nicht ihr Ziel erreichen, wenn nicht die Pädagogik ein integrierender Bestandteil derselben ist" Das betrifft unseres Erachtens die praktische wie die wissenschaftliche Pädagogik. Zwar gilt filr Letztere, dass sie nicht notwendigerweise unmittelbarer Bestandteil der Politik sein muss. Aber sie kann politisch werden, und wir sind sogar der Meinung, dass sie es im Rahmen einer besonnenen Öffnung des Wertfreiheitsprinzips sensu Prim/Tilmann 11 , die auch (explizit ausgewiesene) präskriptive Einflussnahmen erlaubt oder sogar fordert, auch soll. Demgegen-

9

V gl. auch Schurer 2000, S. 179 ff.

10 11

Heid 1991, S. 282. Prim/Ti/mann 2000, S. 128 ff.

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über gibt es für die Integration von Politik und praktischer Pädagogik, also Erziehung selbst, kein ,kann' oder ,wenn nicht', denn beide sind immer untrennbar miteinander verbunden. So wie im Übrigen auch Politik auf die Erziehung einwirkt, geht Erziehung ihrerseits der Politik in substantieller Weise voraus, und zwar in doppelter Hinsicht. Einerseits wird die Nachhaltigkeit politisch gesetzter Rahmenbedingungen, zumindest in der Demokratie, letztendlich in den jeweils vorfindliehen Überzeugungen, Wertungen, Denk- und Handlungsmaximen ihrer Adressaten, eben in den Resultaten derer Erziehung, entschieden. Und andererseits wird - so banal es klingen mag, so wichtig scheint es doch, sich im Hinblick auf erzieherische Einflussmöglichkeiten und -notwendigkeiten daran zu erinnern - Politik nicht von ,der' Politik gemacht, sondern letzten Endes von Menschen, ist Resultat deren Denkens und Handelns, welches wiederum in derselben Art und Weise von konkreten persönlichen Maßstäben, Werthaltungen, Überzeugungen, Einstellungen geleitet ist. "Denn aus der Eiche oder aus dem Felsen erwachsen doch die Verfassungen nicht, sondern aus den Charakteren", können wir schon in Platons Politeia (544 d) nachlesen. Gleicherweise wie ökonomische Globalisierung, der ,entfesselte Kapitalismus', entgegen manchem Anschein und mancher fatalistischen Überzeugung keine objektiv gegebenen, dem subjektiven Einfluss entzogenen Sachverhalte sind, sondern Resultat menschlichen Wollens und menschlicher Aktivitäten, sprich Tat-Sachen, ist demgemäß auch politisches oder soziales Denken und Handeln genau genommen eben kein Denken und Handeln eines jeweiligen Makrosystems oder einer mehr oder weniger anonymen Institution an sich, sondern gesellschaftsbezogenes, von Werthaltungen und Maßstäben der Vernunft, der Verständigungs- und Verständnisbereitschaft und des Verantwortungsbewusstseins getragenes und geprägtes Denken und Handeln eines jeden Einzelnen. Und wohl noch deutlicher als in genuin politischen und wirtschaftlichen Wirkungszusammenhängen zeigt sich gerade vor dem Hintergrund eines häufig als antinomisch empfundenen Verhältnisses von autonomem ,Ich' und solidarischem ,Wir': solches Denken und Handeln, Subjekte wie ,Objekte' politischen Handeins für die Notwendigkeiten und Bedingungen eines abstrakten Systems zu sensibilisieren, Einsichten und Rücksichten und damit die personalen und sozialen Voraussetzungen ftlr dessen Konkretisierung zu schaffen, lässt sich nicht verordnen, sondern basiert auf individueller Gesinnung und Selbstverpflichtung, hat sehr viel und in entscheidender Weise mit Erziehung, allgemeiner wie ökonomischer Erziehung zu tun. "So eindrucksvoll es klingt, von Werten und Rollen als geltend oder herrschend zu sprechen, so sehr bleiben solche Reden bloße Zusicherung, wenn wir die Zwischenglieder zwischen den Werten und den Menschen, die sie in ihrem Verhalten zur Schau tragen sollen, nicht bestimmen. Damit herrschende Werte auch gelten, reicht es nicht, sie in Parteiprogramme, Gesetze oder selbst Verfassungen zu schreiben. Die

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Menschen müssen die Werte ... lernen .... Erst indem diese Werte von der Verfassung in die Erziehung und durch die Erziehung in die verhaltenssteuernden Zentren im einzelnen Menschen wandern, wird ihre Herrschaft begründet." Was Ralf Dahrendorfl 2 hier als abstrakten Grundsatz flir das Zusammenwirken von Politik und Erziehung formulierte, präzisiert Klaus Kruber 13 in programmatischer Form flir die ökonomische Bildung und das ökonomische Handeln überhaupt: es ist Sache der Politik, speziell der Wirtschaftspolitik, "den Wirtschaftsmechanismus funktionstahig zu halten und unvermeidbare Funktionsstörungen sozial abzusichern." Dabei hat der Einzelne zwar (im unmittelbaren Einzelfall; B. S.) wenig Einwirkungsmöglichkeiten, aber er "ist in der Demokratie aufgerufen, Wirtschaftspolitik zu beurteilen und Politiker zu wählen, die sachgerechte Konzepte vertreten und durchsetzen. Dazu sollte ökonomische Bildung (ich gehe noch weiter: dazu muss sie mehr denn je; B. S.) einen Beitrag leisten .... Benötigt werden insbesondere ökonomisches Orientierungswissen und Urteilsfähigkeit, um grundlegende Zusammenhänge zu erkennen, sich in der komplexen Konsum- und Arbeitswelt behaupten und wirtschaftspolitische Konzepte politischer Parteien und Positionen von Verbänden auf ihre Konsequenzen überprüfen zu können". Die entwickelte moderne Wirtschaft bietet hierzu Chancen, "ist aber auch ein Macht- und Konfliktraum, in dem die Qualität des Mitmenschlichen verloren gehen kann und die Mündigkeit des einzelnen durch soziale Zwänge und institutionalisierte Herrschaft bedroht ist. Sinnvolle Lebensgestaltung in einer durch Materialismus und Individualismus geprägten Welt erfordert Persönlichkeitsbildung", das heißt neben Orientierungswissen "Fähigkeit zur Teilhabe an konkreten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Prozessen- aber auch zu Auswahl und Verzicht-, Mitgestaltungsfähigkeit und Verantwortung." Hierin liegt offensichtlich eine der vorrangigsten aktuellen Erziehungsaufgaben begründet, will man sich nicht allein auf die ohnehin mehr und mehr fraglich werdenden ,selbstheilenden' Kräfte der gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklung verlassen - das könnte allzu leicht auf das berühmte Warten auf Godot hinauslaufen - oder frei nach dem Motto verfahren: je größer die Krise, umso mehr steigt die Emptanglichkeit filr neue Denkansätze, umso mehr steigen Mut und Wille zu tief greifenden Maßnahmen und die Bereitschaft, auch Opfer auf sich zu nehmen. Jedenfalls dürften die allgemeinen Voraussetzungen dafilr, seitens der Pädagogik zur Gestaltung eines national wie global orientierten human und sozialverträglichen Weges in die Zukunft beizutragen, die zwischen Autonomie und Solidarität vermittelnden Utopien eines Ulrich Beck,

12

13

Dahrendor/1968, S. 341 f. Kruber 1996, S. 139 f.

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KarlOtto Hondrich, Jeremy Ritkin, Philippe Seguin, Hans Küng oder Anthony Giddens greifbar zu machen, am Ende gar nicht so schlecht sein und die erzieherischen Erfolge eines konsequent verfolgten Lernzieles Zukunft wohl auch gar nicht so intergenerativ lange auf sich warten lassen, wie die Kassandrarufe mancher Skeptiker und Pessimisten glauben machen wollen. Die Produktivität in den westlichen Industrieländern ist allem Anschein nach keineswegs so gering oder instabil und scheint sich auch nicht so weiter zu entwickeln, dass sie einer breiten Solidarität im besagten Sinne nicht die adäquate materielle Basis bieten könnte. Auch das oft beklagte, aber via Problemprojektion wohl allzu gern auch als Entschuldigung fur individuelle Unterlassungen und Verweigerungen vorgeschobene Versagen der Politik oder der Ökonomie erweist sich wie im Übrigen auch die um sich greifende Politikverdrossenheit - als vordergründig, denn ökonomische, technische, soziale Entwicklungen sind in letzter Konsequenz immer hausgemacht, sprich in den Werten und Handlungsbereitschaften der Individuen begründet und somit durch diese respektive durch Erziehung beeinflussbar. Und nehmen wir die empirischen Ausgangsszenarien der modernen Gesellschaft in den Blick, insbesondere das Bild der heutigen Jugend, so zeigt sich, dass es keinen Anlass gibt, die aktuellen Veränderungen nur negativ zu beurteilen. Jugendliche schauen, wie u. a. die gewichtige SheiiStudie Jugend 2000 zeigt, wieder mit deutlich gestiegener Zuversicht in die Zukunft, sie haben ein gesundes Verhältnis zur Modernität und sind sich der Bedeutung einer menschlichen, sozial gerechten und ökologisch zu gestaltenden Umwelt sehr wohl bewusst. Und sie scheinen durchaus bereit und in der Lage zu sein, Verantwortung fiir sich und namentlich auch fiir andere zu übernehmen- so man sie nur lässt. Vermutlich ist, wie Roman Herzog 14 darlegt, die immer wieder zu hörende Klage über ihr fehlendes Engagement ohnehin nur allzu oft ein Vertuschen dessen, dass die Älteren nicht bereit sind, entsprechende Funktionen aus der Hand zu geben, dem Nachwuchs Frei- und eigene Erfahrungsräume und die daran geknüpfte Chance zu gewähren, Neues oder gar Riskantes auszuprobieren. 15 Und der vielberufene Werteverfall? Er entpuppt sich ohnehin eher als Wertewandel im Sinn von Pluralisierung und Differenzierung 16, allerdings als tief-, weit- und rasch greifender Wandel mit der Folge verbreiteter Wertunsicherheit. "Nirgends mehr gibt es einen Ruhepunkt, der mit Sinn oder Selbstbesinnung verbunden ist" klagt Horst Opaschowski. 17 Mit hinreichendem Grund und Optimismus stellen wir (und im Übrigen schließlich auch Opaschowski selbst u. a. 14 15 16 17

Herzog 1999, S. 17. Vgl. auch Elwert 1997. Vgl. Ferchhoff/Kurtz 1994, S. 483 . Opaschowski 1996, S. 156.

Globalisierung, Rationalisierung, Flexibilisierung, Höherqualifizierung ...

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in seiner empirischen Studie ,Deutschland 2010') dem die Frage gegenüber, warum der so sehr vermisste Ruhe- und Orientierungspunkt- wenigstens partiell - nicht nach wie vor auch weiterhin im Beruf zu orten sein soll, unter Bezugnahme auf und Qualifizierung für ein nach wie vor hochgradig arbeitsmarktfähiges, in seinen Binnenstrukturen wie in seinen Außenbezügen jedoch gewandeltes beziehungsweise ohne Verlust an prinzipieller Substanz anpassungsfahiges Prinzip ,Berutlichkeit'. Mit besonderem Bedacht auch auf ein erweitertes, flexibles Sozialutilitätsverständnis von Arbeitsformen und -zusammenhängen (z. 8. im Hinblick auf Bürgerarbeit sensu Beck) und, wie mit Kruber expliziert, auf Hilfeleistung für die Entwicklung und Praxis individueller Wertorientierungssysteme im Spannungsfeld zwischen sozioökonomischer Verantwortung und dem Recht auf Verwirklichung persönlicher Autonomie. Mit Hondrich/Koch-Arzberger 18 auf die Solidarität speziell mit den Arbeitslosen fokussiert heißt das: Weckung und Stärkung der Einsicht bei den Leistungsstarken, dass die ihnen abverlangten Solidarbeiträge der gerechte Preis sind für Entfaltungschancen, welche auf ihrer Kehrseite bei denen, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht mithalten können, Leistungsversagen bewirken. Wie auch immer die neue Verteilungs- und damit Chancengerechtigkeit aussehen wird, ob zum Beispiel Arbeitslose hierzulande ihre Zukunft in neuen Formen der Arbeits- und Arbeitszeitverteilung, in Niedriglohnsektoren oder in Bürgerarbeit finden werden, oder wie viel soziale Ungleichheit wir weltweit hinnehmen können: in dem Maße, wie es der Erziehung gelingen wird, ein Verantwortungsbewusstsein im besagten Sinne zu formen, in einen entsprechenden Handlungswillen zu überführen und in kompetent einsetzbaren Handlungsformen zu festigen, wird die oft beschworene, aber vielfach noch ausstehende Solidarität der Individuen, selbst oder gerade wenn sie ungleichgewichtig eingefordert oder gerade dort, wo sie per Ordnungsethik ,verordnet' werden sollte, leichter zu erreichen sein und bereitwilliger angenommen werden. In diesem Maße wird auch das derzeit eher utopisch anmutende, aber langfristig wohl unumgängliche Unterfangen realistischer werden, eine Wirtschaftsethik als soziale Vereinbarung zu begreifen, welche sowohl ökonomischen Maximen als auch ethischen Vernunftüberlegungen gehorcht. 19 Und im selben Maße wird auf der Basis solcherart beschaffener Einsicht und Kompetenz die Zukunft uns insgesamt nicht als ein unabänderliches, von Megaentwicklungen und -maschinen diktiertes Schicksal, weniger als Bedrohung und nicht nur als bloßer Traum erscheinen, sondern als Herausforderung und Aufgabe und in deren Konsequenz als das, was wir daraus machen, was jeder Einzelne und, in gemeinschaftsbezogener Verschränkung der

18

Hondrich/Koch-Arzberger 1992, S. 115.

19

Vgl. Beck 1996.

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selbstbewussten Einzelperspektiven, was die Gesellschaft aus ihr macht. Das Handeln des Einzelmenschen wird trotz oder gerade wegen der Macht der Megamaschinen zukunftbeeinflussend. 20 Oder, anders gewendet, die GesellschaftHilimann (2002) spricht mit Blick auf deren Zukunftsflihigkeit bereits vom neuen Typ der ,Überlebensgesellschaft' - ist Resultat menschlichen Handelns. Dass sie sich dabei nicht einfach wunschgemäß über geplante Erziehung der nächsten Generation herstellen lässt, quasi als deterministisches Resultat eines menschlichen Entwurfs, dass vielmehr fremderzieherische Verhaltensformung und Verhaltenslenkung ihre Grenzen immer im selbstbestimmenden Individuum finden, mag fiir den einen bedauernswert oder gar ärgerlich und filr den anderen eher ein Grund zur Beruhigung sein, liefert aber beileibe keinen Anlass, die in jeder Hinsicht grundlegenden Möglichkeiten der Erziehung zu unterschätzen oder gar auf jegliche erzieherische Aktivität und Reflexion zu verzichten.21 "Denn aus der Eiche oder aus dem Felsen erwachsen doch die Verfassungen nicht, sondern aus den Charakteren", hatten wir zuvor mit Platon die maßgebende Diffusion individueller Werte beispielsweise in politisches Tun illustriert, und es lohnt sich an dieser Stelle, ihn nochmals zu bemühen. In der Ignoranz, verstanden als das Nichtkennen des eigenen Ichs, sah er die chronische Krankheit der Politiker, und folgerichtig war fiir ihn nicht der Erwerb eines bestimmten technokratischen Könnens erste Voraussetzung filr das "Politiker-Handwerk", sondern die Bildung im Sinn der Erkenntnis des Guten, sprich der platonischen "Philosophie" mit ihrer Achse, der Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis, die sich in besonders anschaulicher Weise in dem realisiert, was Ulrich Beck in die knappe Formel kleidet: ohne Ich kein Wir. Aber zugleich auch ohne Wir kein Ich. Denn das Individuum kann das aufgeklärte Bild seines Selbst nur dann hinlänglich entfalten, wenn es dieses in dialektischer Verschränkung mit einem gleichermaßen elaborierten Bild vom Anderen, von der offenen Gesellschaft, von der Welt entwickelt. Kategoriale Bildung hat Wolfgang Klatki das genannt, Bildung, die die Welt dem Menschen und eben darin den Menschen filr die Welt erschließt

Literatur Afheldt, H.: Vom Ungenügen des ökonomischen Denkens, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 272. 25. November 1996, S. II . Bechmann, A. : Vom Technikoptimismus zur Auflösungsgesellschaft, in: Schüler 1998. Zukunft, Seelze 1998, S. 10-17.

20 21

Vgl. Rechmann 1998, S. 17. Vgl. Heyting 1999, S. 45.

Globalisierung, Rationalisierung, Flexibilisierung, Höherqualifizierung ...

61

Beck. K.: ,Berufsmoral' und ,Betriebsmoral'- Didaktische Konzeptualisierungsprobleme einer berufsqualifizierenden Moralerziehung, in: Beck, K. u. a. (Hrsg.): Berufserziehung im Umbruch, Weinheim 1996, S. 125-142. Beck. U.: Arbeit ist ein bewegliches Ziel, in: Die Zeit, Nr. 7, 7. Februar 2002, S. 7.

- Ohne Ich kein Wir, in: Die Zeit, Nr. 25, 23 . August I996, S. 10. Dahrendorf. R.: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1968. Dettling, W.: Gute Zeiten flir Einzelkämpfer. in : Die Zeit, Nr. 34, 19. August 1999, S. 8.

-

Was heißt Solidarität heute? Mehr als Geben und Nehmen, in: Die Zeit, Nr. I, 27. Dezember 1996, S. I.

Dönhoff, M.: Zivilisiert den Kapitalismus- Grenzen der Freiheit, Stuttgart 1997. Elwert, G.: Unsere Gesellschaft braucht junge ,Krieger' : an Afrika ein Beispiel nehmen?, in : Körber-Stiflung (Hrsg.): Reflexion und Initiative, Harnburg I 997, S. 72-77. Ferchhoff, W./Kurtz, T. : Jugend, Berufund Gesellschaft, in: Zeitschrift flir Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Heft 5. 1994, S. 478-498. Heid, H.: Pädagogik und Politik, in : L. Roth (Hrsg.): Pädagogik, München 1991 , S. 281 289.

-

Über die Vereinbarkeit individueller Bildungsbedürfnisse und betrieblicher Qualifikationsanforderungen, in: Zeitschrift flir Pädagogik, Heft 2. 1999, S. 23 I -244.

Herzog, R. : Das Leben ist der Ernstfall, in: Die Zeit, Nr. 24, 10. Juni 1999, S. I7. Heyting, F.: Über Pluralität und Verantwortung, in: Neue Sammlung, Heft I 1999, S. 40-45. Hillmann, K. H.: Zukunftsfiihige Gesellschaft, in: Forschung und Lehre, Heft 6 2002, S. 309-311 . Hondrich, K. 0.: Die Mär vom Ende der Arbeit, in: Die Zeit, Nr. 41 , 4. Oktober 1996, S. 3. Hondrich, K. 0/Koch-Arzberger, C.: Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt!M. 1992.

Jugend 2000. Die 13. Sheli-Jugendstudie, 2 Bände, Leverkusen 2000. Kruber, K. P.: Leitziele und kategoriale Bildungsgehalte ökonomischer Bildung, in: Bauer-Schröder, M./Sel/in H. (Hrsg.): Technik, Ökonomie und Haushalt im Unterricht, Hohengehren 1996, S. 138-151. Opaschowski, H. W.: Deutschland 2010 - Wie wir morgen leben. Voraussagen der Wissenschaft zur Zukunft unserer Gesellschaft, Hamburg/Ostfildern 1997.

62 -

Bruno Schurer Medien, Mobilität und Massenkultur, in: Benner, D. u. a. (Hrsg.): Bildung zwischen Staat und Macht, Weinheim/Basei 1996 (35. Beiheft der Zeitschrift fUr Pädagogik), s. 143-169.

Prim, R./Tilmann, H.: Grundlagen einer kritisch-rationalen Sozialwissenschaft, 8. Aufl., Wiebelsheim 2000. Rifkin, J.: Die dritte Säule der neuen Gesellschaft, in: Die Zeit, Nr. 19, 2. Mai 1997, S. 32. Schurer, B.: Was ist und zu welchem Zweck studiert man Wirtschaftspädagogik?, Bergisch Gladbach 2000. Ulrich, P.: lntegrative Wirtschaftsethik-Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, Bern 1997. Vujica, P.: Listen und Fakten, in: Der Standard, 4. Mai 2000, S. 37.

Wissensgesellschaft und Bildungshürden Von Monika Petermandl

I. Vorwort an den Jubilar Seit nahezu 10 Jahren begegnen wir uns regelmäßig im Beirat der Dr. Maria Schaumayer Stiftung. Unser Bemühen ist, Frauen in ihrer wissenschaftlichen Berufslautbahn zu bestärken. Frauen, wenn sie die Chancen der neuen Informations- und Kommunikationstechnik nutzen, werden die Gewinner in der Gesellschaft des 21 . Jahrhunderts sein, da Mobilitätseinschränkungen durch familiäre und häusliche Verpflichtungen nicht weiter ins Gewicht fallen. Doch bauen sich neue Hürden durch die Beschleunigung des Informationswachstums und die steigenden Anforderungen an die Wissensverarbeitung auf, die manche gesellschaftliche Gruppen ins Abseits zu bringen drohen. Ein neues Verständnis von Bildung kann als Gegenmaßnahme gesehen werden. Mein Beitrag wird diese Maßnahmen zu skizzieren versuchen.

II. Zeit der Veränderung Es ist ,,nicht übertrieben, wenn ich sage, daß wir gerade die ersten turbulenten Tage einer Revolution erleben, die in ihrer geschichtlichen Dimension nur wenige Vorläufer aufweist." 1 Diese Aussage bezieht sich auf den Übergang der postindustriellen Gesellschaft zur Informations-, Wissens- und Kommunikationsgesellschaft. Dieser Wandel wird erst allmählich in seiner Tragweite begriffen. Zunächst stand die Faszination durch die immer rascher produzierte Informationsmenge im Vordergrund. Dann kam das Begreifen hinzu, dass Informationen erst dann eine Bedeutung erhalten, wenn sie durch aktive Aneignung des Individuums zu Wissen geformt werden. Schließlich setzte sich die Erkenntnis durch, dass im Austausch von Wissen die eigentliche Wissensgenerierung begründet ist. 2

1

Tapscolt 1999, S. 13.

2

Vgl. Wingens 2002, S. 12f.; Wol.ff1999, S. 17 f.

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Das Internet ist der technische Ausdruck dieses Prozesses, der bereits wahrnehmbar gewaltige Auswirkungen auf unser wirtschaftliches und soziales Leben hat. Für immer mehr Menschen wird Wissensaneignung und -Weitergabe eine Rolle spielen. Darauf deuten (vielleicht kühne) Prognosen hin. 3 Die Zahl der Internetnutzer wird weltweit von 329 Millionen im Jahr 2002 auf l Milliarde im Jahr 20 l 0 steigen. Auch traditionelle Medien wie Bücher und Fernsehen verlieren nicht an Bedeutung. Allerdings werden die TV -Geräte zunehmend zu multifunktionalen und interaktiven Medien. Die Einschätzung der Auswirkungen dieser Entwicklungen sind konträr. Tapseort spricht von einer "Zeit der Hoffnungen". 4 Er sieht im Netz die volkswirtschaftliche Basis filr die weltweite Erzeugung von Reichtum. Auch industriell wenig entwickelte Schwellenländer können konkurrenzfähig werden, wenn sie eine intelligente Netzstruktur aufbauen und Wissen und Kommunikationsfähigkeit der Nutzer ausbilden. Die Chancen liegen ftir ihn im Abbau schwerfälliger hierarchischer Organisationsstrukturen und zentraler Firmensitze sowie im Zusammenschluss von Unternehmen zu flexiblen E-Business Communities, die ohne Zeitverzögerung auf globale Marktbedürfnisse reagieren. Als Vision sieht er das Zeitalter des "vernetzten menschlichen Geistes" nahen, in dem Menschen "über die Netze ihre Intelligenz, ihr Wissen und ihre Kreativität bündeln und steigern, um auf diese Weise Wohlstand zu schaffen und die Gesellschaft voranzubringen". 5 Aber diese Hoffnung Tapseorts setzt auf einen Wissenswertlauf, der in einer Konkurrenzwirtschaft nur jene überleben lässt, die einen Wissensvorsprung halten können, seien es Unternehmen oder Individuen. Zwar spricht auch Tapseort von einer "Zeit der Gefahren" 6, doch deutlichere Warnungen kommen von anderen Autoren. 7 Wissen wird in der vernetzten Gesellschaft zu einem hohen Gut, wobei eine einmalige Investition in Form einer Grundbildung nicht mehr ausreicht, sondern der ständige Neuerwerb von Wissen gefordert ist. Wegen seiner wirtschaftlichen Bedeutung verweist Lohmann auf die Kommerzialisierung des Wissens. 8 Wissen wird zur Marktware des Individuums, filr dessen Aneignung und Finanzierung es selbst Sorge tragen muss. Zunehmend muss es sein Wissen auch als "neuer Selbständiger" anbieten. Wenn Unternehmen in Weiterbildung investieren, betrachten sie diese Leistung als ihr Eigentum. 3

Vgl. profilextra Juli 2002, S. 68.

4

Vgl. Tapscolt 1999, S. 15 ff.

5

Tapscolt 1999, S. 21.

6

Vgl. Tapscolt 1999, S. 22 ff.

7

Vgl. Drossou u.a., 1999.

8

Vgl. Lohmann 1999, S. 543 ff.

Wissensgesellschaft und Bildungshürden

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Wenn sich bei Ausscheiden eines Mitarbeiters die Weiterbildungsleistung noch nicht amortisiert hat, sind die Kosten von diesem zurückzuerstatten. Unter diesen Voraussetzungen können oder wollen sich viele die laufende Aktualisierung ihres Wissensstandes nicht mehr leisten, fiihlen sich auch intellektuell, physisch oder psychisch überfordert und verlieren den Wissenswettlauf. Es wird zu einer zentralen Frage, ob und mit welchen Mitteln sich abzeichnenden gellihrliehen Entwicklungen der Wissensgesellschaft entgegengesteuert werden soll. Der erste Teil dieser Frage läuft auf ein Bekenntnis zur Wahrung der Unabhängigkeit des Individuums hinaus und zur Herstellung gleicher gesellschaftlicher Chancen fiir alle Individuen. Der zweite Teil dieser Frage bezieht sich auf die Tauglichkeit von Mitteln, Autonomie und Chancengleichheit zu erreichen. Zum ersten Teil der Frage gibt es zumindest eine positive Stellungnahme eines übergeordneten Komitees, des Club of Rome, in der die Autonomie des Individuums unter Wahrung seiner Integration in die Gesellschaft als Ziel von Lernprozessen definiert wird 9 • Der zweite Teil der Frage wird in der Folge den Mittelpunkt der weiteren Überlegungen bilden. Dazu werde ich zunächst die Veränderungen in der Wissensgesellschaft konkretisieren und auf die Bereiche Bildung und Beruf beschränken, um die Problematik fassbar zu machen. Veränderungen bedeuten einerseits "Abschied nehmen" und andererseits sich neuen Anforderungen stellen.

111. Abschied nehmen Folgende wichtige Rahmenbedingungen unseres Lebens werden in der Wissensgesellschaft nicht mehr selbstverständlich sein:

1. Bildung als Weichenstellung für das Leben

Bisher entschieden Schul- und Hochschulabschlüsse über zukünftige Berufschancen. In der Wissensgesellschaft verlieren die ersten Bildungswege diesen Automatismus. 10 Bei sinkender Halbwertszeit vor allem von spezifischem Berufswissen, ist permanente Weiterbildung der eigentlich bestimmende Faktor filr Berufslaufbahnen 11 • Gleichzeitig wachsen die Möglichkeiten ftir zweite Bildungswege durch den vereinfachten Zugriff auf" Wissen aus dem Netz". 9

Vgl. Peccei, 1979.

10

Vgl. Görgens 2000, S. 179 f.

11

Vgl. Wingens 2002, S. 18.

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2. Bildung als öffentliches Gut Wissen wird zu einem wirtschaftlichen Erfolgsfaktor. Deswegen zeigen privatwirtschaftliche Unternehmen zunehmend Interesse an Bildung und Weiterbildung, gründen Eliteschulen, Privatuniversitäten, Trainingsakademien. Das angebotene Wissen kommt einem Kreis zugute, der sich an das Unternehmen bindet oder ist vom Bildungsteilnehmer teuer zu bezahlen. Das öffentliche Bildungswesen kann nicht die Ressourcen aufbringen, um lebensbegleitendes Lernen sicherzustellen. 12

3. Arbeitsplatz als Heimat Durch das Internet sind Arbeitsplätze nicht mehr ortsgebunden. Formen von mobiler Arbeit, häuslicher Telearbeit, Outsourcing von Arbeitsbereichen und neuer selbständiger Dienstleistung nehmen zu. 13 Der häufige Wechsel von Arbeitgebern ist in einer dynamischen Konkurrenzwirtschaft oft unvermeidbar und auch nicht mehr mit negativem Image für den Arbeitnehmer verbunden. Das Geborgensein in einer bestimmten Umgebung, die Möglichkeit sich in dieser "wie ein Fisch im Wasser" zu bewegen 14 , gehen verloren.

4. Identität über den Beruf Über den Beruf finden Menschen ihren Platz in der Gesellschaft. Er ermöglicht soziale und personale Identifikation. Berufe stehen filr Einkommenspotenzial, Wertschätzung, Gestaltungsmöglichkeiten. 15 Bei der hohen Innovationsintensität in der Wissensgesellschaft verlieren aber Berufe ihre festen Konturen. Noch nicht bezeichenbare Tätigkeitsfelder entstehen, traditionelle Berufe werden durch Automatisierung ihres Gehalts beraubt.

12 13

Vgl. Lohmann 1999, S. 543 ff. Vgl. Cebri(m 1999, S. 162 f. und S. 223.

14

Bourdieu 1996, zit. nach Kraft, Jg. 1966,2002, S. 234.

15

Vgl. Dosta/2002, S. 179 ff.

Wissensgesellschaft und Bildungshürden

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IV. Neue Anforderungen Die neuen Anforderungen folgen aus den beschriebenen Veränderungen: I. Bildung als Lebensaufgabe

Wenn der erste Bildungsweg nicht mehr ausreicht, müssen neue Formen von lebensbegleitendem Lernen gefunden werden, die sich in Arbeitstätigkeit und Freizeit integrieren lassen. Ein wichtiger Ansatz ist die Qualifizierung in der Arbeitssituation selbst, durch Aufgreifen von Herausforderungen, die neuartige Arbeitsaufgaben und die laufende Optimierung von Aufgaben stellen, und sie in Lernanlässe umwandeln. Damit verbunden ist die Bereitschaft und Fähigkeit, Lernen selbst zu organisieren. Möglichkeiten des selbständigen Wissenserwerbs bieten neue Lernmedien, die über das Internet oder Intranet einer Firma verfiigbar sind. 16 Ein ganz wesentlicher Aspekt in der Wissensgesellschaft ist aber Wissenserwerb durch Kommunikation, die über das Netz geografisch unbegrenzt sein kann. 17 Zweifel am tatsächlichen Freiraum fiir selbstgesteuertes Lernen in Unternehmen und auch an Chancengleichheit ftlr alle Mitarbeiter, diese Lernform fiir sich zu nutzen, meldet allerdings Kraft an 18 •

2. Bildung im Interesse von Unternehmen und Individuum Wenn Unternehmen in eigenem Interesse Bildung und Weiterbildung unterstützen und anbieten, so muss das zwar einerseits wegen der vermuteten Fremdbestimmung "verdächtig" sein 19, aber andererseits den eigenen Interessen des Individuums nicht unbedingt entgegenlaufen. Im Gegenteil: Persönliche Ziele eines Individuums können auch auf das Unternehmen einwirken und diesem eine bestimmte Prägung geben 20, wenn Mitarbeiter befähigt werden selbständig ihren Wissensstand aufrecht zu erhalten, neues Wissen zu generieren und Innovationen auszulösen. Probleme sieht Kraft aber, wenn Unternehmen die selbständige Weiterbildung zum Zwang ftlr ihre Mitarbeiter machen und sich selbst dieser Verpflichtung entledigen 21 •

16

17

Vgl. Severing 2001, S. 11 f.; Geldermann/Spieß 2001, S. 63. Vgl. Mohr 2001, S. 74 f.

Vgl. Kraft, Jg. 1960,2002, S. 195 f. und S. 203 f. Vgl. Kraft, Jg. 1960, 2002, S. 207 f. 20 Vgl. Geldermann/Spieß 2001, S. 63. 18

19

21

Vgl. Kraft, Jg. 1960,2002, S. 204.

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3. Flexibilität Wenn ein klassisches, statisches Arbeitsverständnis immer weniger der Realität entspricht, dann ist Bereitschaft zur Flexibilität notwendig. 22 Das bedeutet Akzeptanz von Veränderungen von Arbeitsabläufen, Arbeitsinhalten, Arbeitsstrukturen, Arbeitgebern, Arbeitskollegen. Eine solche Forderung ist leicht zu formulieren, aber schwer zu leben. Dahinter stehen Schicksale von Menschen, die mit "Trennung" verbunden sind. 23

4. Neues Selbstbewusstsein Wenn der Berufwegen Auflösung seiner traditionellen Konturen nicht mehr Identität erzeugt, dann muss die Person in sich selbst ihr individuelles Bewusstsein finden. Dieses beruht auf Eigenschaften, die Anschlusstahigkeit in einer sich ändernden Umwelt sichern, wie Kreativität, Fachkompetenz die über eingeübte Fertigkeiten hinausgeht und Transfer von Wissen und Methoden ermöglicht, Verantwortung ftlr Aufgabenerfiillung, berufliche Ethik. 24 Görgens stellt die Konsequenzen ftlr das Bildungswesen heraus: "Dieses zu bewältigen erfordert Kompetenzen und Eigenschaften, die über das, was bisher an Schulen geleistet werden kann, hinausgehen". 25

V. Differenzierung der Gesellschaft- Hürde Bildung Die Wissensgesellschaft ftlhrt durch ihre besonderen Anforderungen zu einer Spaltung zwischen "wissensnahen" gesellschaftlichen Gruppen, die sich ohne Schwierigkeiten neues Wissen aneignen, und "wissensfemen" gesellschaftlichen Gruppen, die bezüglich ihres Wissenstandes immer weiter zurückbleiben.26 Die Trennlinie verläuft zwischen jenen, die einen komplexen Bildungshintergrund haben und damit Lemtahigkeit besitzen, und jenen, die einen einfachen Bildungshin-



22 Vgl. Görgens 2000, S. 19 f. 23 24

Vgl. Kraft, Jg. 1966,2002, S. 230 ff. Vgl. Görgens 2000, S. 16; Dosta/2002, S. 182.

25 Görgens 2000, S. 16. 26 V gl. Kuwan/Waschbüsch 1999, S. 23.

Wissensgesellschaft und Bildungshürden

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tergrund haben, deren einmal erworbenes Wissen veraltet ist und deren Arbeitschancen damit schwinden; 27 •

zwischen jenen, die Zugriff auf Wissen haben, ans Netz angeschlossen sind und die richtigen Fragen bei der Wissenssuche stellen können, und jenen, die keinen Zugriff auf Wissen haben 28, weil sie nicht geübt sind, ihren Wissensbedarf zu formulieren oder weil sie nicht ans Netz angeschlossen sind; davon betroffen sind vor allem ältere Menschen, arme Bevölkerungsschichten, z.T. Familienfrauen;29



zwischen jenen, die Mitglied einer ausgeprägten Lernkultur sind, wie sie große, internationale Unternehmen häufig bieten oder großstädtische Gemeinschaften, und jenen, die in wenig lern freundlichen, traditionell orientierten Umgehungen leben, wie Mitarbeiter in kleinen Gewerbebetrieben und Personen im ländlichen Raum;



zwischen jenen, die zumindest virtuell mobil sind und Wissens- und Arbeitschancen aktiv suchen, wie sie sich über das Netz auch bisher Benachteiligten bieten, z.B. Behinderten, ans Haus gebundenen Frauen, Menschen in geografisch entlegenen Regionen, und jenen, die verfestigt sind, diese neuen Chancen nicht suchen wollen oder wegen ihrer weiter oben aufgezeigten Bildungsbenachteiligungen nicht suchen können.

Um in der differenzierten Wissensgesellschaft auf der "richtigen Seite" zu sein oder noch auf diese zu wechseln, sind letztlich Bildungshürden zu überwinden. Dieser Kraftakt setzt Lemmotivation, Lemflihigkeit, Zugriff auf Wissen, Anregungen durch die Umgebung und persönliche Mobilität voraus. Diese Bedingungen müssen durch eine neue Form der Erstausbildung grundgelegt werden. Weitere Rahmenbedingungen in der Lebens- und Arbeitsumwelt eines Individuums müssen in der Folge unterstützend wirken.

VI. Neues Verständnis von Lernen I. Schlüsselqualifikationen frühzeitig erwerben

Waren und sind schulische Lehrpläne bisher fachorientiert, so sollen in Zukunft Fachinhalte weniger eine Ziel- als eine Zweckfunktion haben. Die Auseinandersetzung mit ihnen dient der Ausbildung langfristig wichtiger Kompe27 28

29

Vgl. Görgens 2000, S. 12 und S. 176. Vgl. Kuwan/Waschbüsch 1999, S. 23. Vgl. Tapseoft 1999, S. 24; Cebran 1999, S. 116 und S. 163.

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tenzen, die den Anschluss an eine unspezifische, noch nicht greifbare Zukunft möglich machen. Solche Kompetenzen basieren auf dem Beherrschen der so genannten Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen, EDV-Kenntnisse, Fremdsprachen) und betreffen Beschaffung, Bewertung und Einsatz von Informationen, Kommunikationsfiihigkeit, Teamfiihigkeit, Fähigkeit der persönlichen Veränderung durch informelles Lernen und gezielte Weiterbildung, vernetztes Denken, antizipatives Denken, Arbeitsfiihigkeit. 30 Diese Kompetenzen werden nicht so sehr Uber bestimmte Lerninhalte, als Uber Lernmethoden erworben, z.B. durch Teamarbeit, Präsentationen, selbständige Informationsbeschaffung, auch unter Nutzung elektronischer Informationsmedien und des World Wide Web, selbstgesteuertes Lernen. Die Lehrpläne der Zukunft sollten daher methodenorientiert sein. Auch die berufliche Erstausbildung muss diese Schlilsselkompetenzen verstärken. Arbeits- und Berufsfiihigkeit beinhaltet nicht mehr nur "Tugenden" wie Pilnktlichkeit, Fleiß, Zuverlässigkeit, Ausdauer, sondern auch Lernbereitschaft, Selbständigkeit, Fähigkeit zur Zusammenarbeit, Fähigkeit zur Kritik, berufliches Selbstverständnis, berufliche Zukunftsorientierung. 31 Auf Vor- und Nachmachen begrenzter Fertigkeitenerwerb ist unter dieser Zielsetzung nicht ausreichend, sondern bedarf komplexer Lernmethoden, wie sie die Leittextmethode32 oder Projektarbeit darstellen.

2. Vertrauen in Autonomie und Veränderungsfähigkeit aufbauen Selbstvertrauen entsteht durch Bewährung in komplexen und unvertrauten Situationen. Je frilher und je öfter Menschen erfahren können, dass sie herausfordernde Aufgaben bewältigen, Entscheidungen autonom treffen, neue Technologien erlernen, sich in neuen Strukturen, Gemeinschaften und Kulturen zurechtfinden können, um so besser werden sie sich in einer komplexer werdenden Welt orientieren, flexibel reagieren, an ihre eigenen Problemlösungsfiihigkeit glauben. Bereits Schule und Ausbildungseinrichtungen können derartige herausfordernde Situationen bereitstellen, durch schwierige Aufgaben, Begegnungen mit anderen Menschen, Praktika in Unternehmen, über- und zwischenbetriebliche Trainings, Schüler- und Lehrlingsaustausch, der auch durch die Mobilitätsprogramme der Europäischen Union gefi}rdert wird.

30 V gl. Görgens 2000, S. 17 f.; Peccei 1979, S. 40 ff. 31 Vgl. Grieser 1992, zit. nach Görgens 2000, S. 191 f. 32 Vgl. Koch u.a., Hrsg., 1991.

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3. Herausfordernde Arbeitsumgehungen schaffen Die Zerlegung von Arbeitsaufgaben, wie sie in Industrieunternehmen zunehmend betrieben wurde, hat zu ihrer Automatisierbarkeit geführt. Die noch von Menschen durchzuführenden Arbeitsaufgaben sind dadurch wieder komplexer geworden. Der Wissenswettlauf, in den sich moderne Unternehmen begeben, verlangt geradezu danach, Arbeitsplätze mit Freiräumen zu gestalten, die die Arbeitsplatzinhaber mit ihrer Erfahrung, Fachkompetenz, Lernfähigkeit und Kreativität ausfüllen können. So ergeben sich laufend Lernanlässe unmittelbar aus der Arbeitssituation heraus. Nicht zu unterschätzen ist dabei der Faktor Kommunikation, wenn Mitarbeiter sich gegenseitig beraten und ihr Wissen austauschen. Projektarbeit, als Teamarbeit organisiert, macht sich diesen Effekt zu Nutzen. 33 Bei gezielter Weiterbildung bietet arbeitsplatznahes Lernen die Vorteile der unmittelbaren Umsetzung in Arbeitshandlungen. Es können ohne großen organisatorischen Aufwand auch Personen Weiterbildung erhalten, die bei traditionellen seminaristischen Bildungsveranstaltungen zumeist nicht zum Zuge kommen, nämlich Arbeiter und Frauen mit familiären Verpflichtungen. 34 Es ist interessant zu beobachten, dass trotz steigendem Weiterbildungsbedarf in den Unternehmen die ausgewiesenen Bildungsveranstaltungen zurückgehen. Die Lernprozesse sind zunehmend in die Arbeitsprozesse integriert. 35

4. Wissen auf Abruf im Netz zur Verfügung stellen Externes Wissen ist auch bei Betonung des selbstorganisierten Lernens am Arbeitsplatz eine wichtige Unterstützung ftlr neuen Wissenserwerb. Das externe Wissen beziehen wir traditionell vom Lehrer, Meister, Experten. Mit der neuen Informations- und Kommunikationstechnik kann dieses Wissen g~spei­ chert und bei Bedarf, auch Uber räumliche Distanz, abrufbar gemacht werden. Informationen, Anleitungen, Lehrprogramme stehen heute schon für die unterschiedlichsten Fachbereiche im Internet und in Firmen-Intranets zur Verftlgung, und das Angebot sollte weiter ausgebaut werden. Erfolgreich verlaufene Modellversuche und Pilotprojekte sprechen dafUr. Wie andere Autoren konnte auch ich mit meinen Projektpartnern die Erfahrung machen, dass viele Mitarbeiter in Klein- und Mittelbetrieben, in geografisch entlegenen Regionen, auf diese Weise erstmals die Gelegenheit hatten, sich weiterzubilden und ihr Wis33

Vgl. Kraft, Jg. 1966,2002, S. 236 f.

34

Vgl. Scholz 2001, S. 43 ff.

35

V gl. Severing 2001, S. 10 ff.

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sen in ihrem Unternehmen umzusetzen. 36 Ein weiterer wichtiger Ansatz liegt in einem gut durchdachten Wissensmanagem ent in einem Unternehmen. Dabei werden individuelles Wissen und Erfahrungen von Mitarbeitern über das Intranet und andere Kommunikations medien allen anderen verfiigbar gemacht. In der Wissensgesellsch aft entscheiden Lernflihigkeit und Lernbereitschaft über den Platz, den ein Individuum einnimmt. Die Chancen sind durchaus neu verteilt. Die gesellschaftlichen Entscheidungsträ ger sind herausgefordert, die geeigneten Rahmenbedingun gen zu schaffen, der Einzelne, die Chancen zu ergreifen.

Literatur Cebrüin, Juan Luis: Im Netz- die hypnotisierte Gesellschaft, Stuttgart 1999. D 'haenens, Bart!Govaert, Andre/ Lepeleer, Gert de: IN-Study: Online Courses for Small and Medium Sized Enterprises, in: Loebe, Herbert/Severing, Eckart (Hrsg.): Zukunft der betrieblichen Bildung, Bielefeld 2001, S. 142-147. Dosta/, Werner: Beruflichkeil in der Wissensgesellschaft, in: Wingens, Matthias/Sackmann, Reinhold (Hrsg.): Bildung und Beruf, Weinheim und München 2002, S. 177194. Drossou, Olga u.a.(Hrsg.): Machtfragen und lnfonnationsgesellschaft, Marburg 1999. G/edermann, Brigitte!Spieß, Erika· Selbstorganisiertes Lernen und Selbstevaluation als Elemente einer lernenden Organisation und die Rolle der Führung, in: Loebe, Herbert/Severing, Eckart (Hrsg.): Zukunft der betrieblichen Bildung, Sielefeld 2001, S. 57-72. Görgens, Sigrid: Ausbildung filr einen neuen Arbeitsmarkt, Frankfurt 2000. Koch, Johannes u.a (Hrsg.): Leittexte- ein Weg zu selbständigem Lernen, 2. völlig überarb. Aufl. Berlin 1991. Kraft, Susanne (Jg. 1960): Selbstgesteuertes Lernen- kritische Anmerkungen zu einem scheinbar unstrittigen Konzept, in: Wingens, Matthias!Sackmann, Reinhold (Hrsg.): Bildung und Beruf, Weinheim und MOnehen 2002, S. 195-211. Kraft, Susanne (Jg. 1966): Sozialer Wandel im Unternehmen, in: Wingens, Matthias!Sackmann, Reinhold (Hrsg.): Bildung und Beruf, Weinheim und MOnehen 2002, s. 229-240. 36 Vgl. Petermandi!Buchsteiner 2000; No/ten 1998; Verhagen 1998; Pascoe 1998; Serio 2001; D'haenens/Govaertlde Lepe/eer 2001; Scholz 2001, S. 83 ff.

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Kuwan, HelmuVWaschbüsch, Eva: Wissensgesellschaft und Bildungssysteme - Ergebnisse aus dem Bildungsdelphi, in: Rosenbladt, Bernhard von (Hrsg.): Bildung in der Wissensgesellschaft, Münster 1999, S. 19-35. Lohmann, lngrid: Bildung und die Kommerzialisierung der Informationszugänge in der Eigentumsgesellschaft, in Drossou, Olga u.a. (Hrsg.): Machtfragen in der Informationsgesellschaft; Marburg 1999, S. 543-550. Mohr, Barbara: Der Modellversuch "Selbständig lernen im Betrieb", in: Loebe, Herbert!Severing, Eckart (Hrsg.): Zukunft der betrieblichen Bildung, Sielefeld 2001, S. 73-79. Nolten, Reiner H.: Der Einsatz von Informationstechnologien in Deutschland in KMU in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung, in: Tagungsband des Symposions "Lernen in der Zukunft", 9.bis 10. November 1998 in Innsbruck, bfi Tirol, S. 51-53. Pascoe, Paul: SME Development and Training in ICT, in: Tagungsband des Symposions "Lernen in der Zukunft", 9. bis. I 0. November 1998 in Innsbruck, bfi Tirol, S. 55-64. Peccei, Aurelio (Hrsg.): Das menschliche Dilemma. Zukunft und lernen, 3. Aufl. Wien 1979. Petermandl, Monika!Buchsteiner, Hubert: Projekt "coop.unlimited" - Telelernen in Klein- und Mittelbetrieben, in: Tagungsband des 13. Personalwirtschaftlichen PraxisKolloquiums "Internet: Personalmanagement im Netz", am 8. März 2000, Abteilung ftir Personalmanagement, Wirtschaftsuniversität Wien. Scholz, Barbara· E-Quality Management, Sielefeld 2001. Serio, Luigi: Distance Training in Medium Sized Firms, in: Loebe, Herbert/Severing, Eckart (Hrsg.): Zukunft der betrieblichen Bildung, Sielefeld 2001, S. 142-147. Severing, Eckart: Betriebliche Bildung in der Wissensgesellschaft, in: Loebe, Herbert!Severing, Eckart (Hrsg.): Zukunft der betrieblichen Bildung, Sielefeld 2001, S. 9-15. Tapscott, Don: Die digitale Technik, Hoffnungen und Gefahren, Vorwort zu Cebrilin, Juan Luis: im Netz- die hypnotisierte Gesellschaft, Stuttgart 1999, S. 13-39. Verhagen, George: SME's and the new technologies, in: Tagungsband des Symposions "Lernen in der Zukunft", 9. bis 10. November 1998 in Innsbruck, bfi Tirol, S. 39-50. Wingens, Matthias: Einftihrung: Wissensgesellschaft - ein tragfähiger Leitbegriff der Bildungsreform?, in: Wingens, Matthias/Sackmann, Reinhold (Hrsg.): Bildung und Beruf, Weinheim und München 2002, S. 9-22. Wo/ff, Heimfried: Potentiale und Dimensionen der Wissensgesellschaft-Ergebnisse aus dem "Wissens-Delphi", in: Rosenbladt, Bernhard von (Hrsg.): Bildung in der Wissensgesellschaft, Münster 1999, S. 11-18.

Plädoyer für eine autonome Schule in Österreich Von Rupert Vierlinger

I. Unsere Schule hat die Dottersäcke des Absolutismus noch nicht abgestreift Als sich Maria Theresia anschickte, das Schulwesen zum einen Teil neu zu begründen und zum anderen Teil aus dem Schoß der Kirche zu holen und es neu zu "beheimaten", hätte sie sich am liberalen Gesellschaftsvertrag des John Locke orientieren können, den dieser den Machtansprüchen des Absolutismus gegenübergestellt hatte. Locke wollte, dass die Erziehung ans Haus gebunden sei, bzw. an die väterliche "Gewalt" (im Gegensatz zum Zugriff der staatlichen "Gewalt"). Die Regentin hielt sich aber lieber an ihren Zeitgenossen Montesquieu, der zwar auch kein Freund des (mitlerweile aufgeklärten) Absolutismus war, der von der Erziehung aber meinte, dass sie eine Funktion der Regierung zu sein habe 1• Anstelle der Schule als "Ecclesiasticum" wäre sie als "Privaticum" denkbar gewesen. Maria Theresia aber hat sie als "Politicum" definiert. Dass sich in dem absolutistischen Erbgut mehr Zentralismus befindet als demokratische Strukturen, wird niemanden verwundern. Die Protagonisten einer demokratischen Mitbestimmung der Schulgeschicke haben in den Zeiten revolutionären Aufbegehrens (1790 und 1848) jeweils filr kurze Zeit Hoffuung auf Erfolg haben können. 2 Das Reichsvolksschulgesetz (RVG) aus 1869 hat die Omnipotenz des Staates aufs Neue besiegelt und die bis heute operierenden Hierarchieebenen der Schulaufsicht eingezogen. Das Schulgesetz aus 1962 hat am bildungspolitischen Paternalismus3 wenig geändert, auch wenn bei den Landes- und Bezirksschulräten Kollegien geschaf-

1 J. 2

Oelkers 1988.

E. Lechner 1989, S. 37 und H. See/1996, S. 77.

3 Ulrich van Lith, der diesen Begriff geprägt hat, beklagt, dass sich der Staat nicht darauf beschränkt, die Einhaltung gewisser Mindeststandards zu gewährleisten, sondern dass er auch den Lehrerbedarf plant, die Inhalte und die Organisation der Lehrerbildung

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fen wurden, deren stimmberechtigte Mitglieder proportional nach den Ergebnissen der Landtagswahlen zu bestellen sind. Die Kollegialorgane haben den Einfluss der politischen Parteien gesichert, mit dem Delegieren von Entscheidungsbefugnissen an die Basis aber hat deren Installierung eher nichts zu tun. Die Verwaltungsbeamten haben die größere Rechtssicherheit begrüßt, die das Schulgesetzwerk 1962 gebracht hat; die Insider des unmittelbaren pädagogischen Geschehens aber beklagen das außerordentlich hohe Maß an Regelungsdichte, das sich in den Jahren seither noch verstärkt hat. Gemäß der Logik des Verwaltungsdenkens scheint dies dennoch seine Richtigkeit zu haben, denn nach dem Legalitätsprinzip des Artikels 18 der Österreichischen Bundesverfassung kann und darf das Handeln der Verwaltung nur auf der Grundlage von Gesetzen bzw. den davon abgeleiteten Verordnungen und Erlässen erfolgen. 4 Ist diese Vorgabe nicht Grund genug fiir eine totale Resignation der Propagandisten einer weitreichenden Schulautonomie? Folgt nicht aus dem entschiedenen Ja zum Rechtsstaat notgedrungen auch ein Ja zu den autonomiefeindlichen Konsequenzen? -Nein, die Verfassungsjuristen lehren uns etwas Anderes: Aus der selbstverständlichen Entscheidung fiir den Rechtsstaat folgt keinesfalls immer auch die Entscheidung ftlr eine Omnipotenz der Staatsverwaltung. Es ist nicht der schlechteste Rechtsstaat, der sich dem Prinzip der Subsidiarität verschreibt und die staatlichen Machtmittel nur dort ausspielt, wo die Aufgaben ftlr die Selbsthilfe seiner BUrger zu umfassend sind. Die Schule kann zweifellos auch nach dem Vertragsmodell organisiert werden, das sich neben dem Verfassungs- und Verwaltungsmodell als mindestens gleichberechtigt anbietet, wenn das Staatsvolk Probleme zu lösen hat. 5 Dass die Verrechtlichung der Schule, die von der Verwaltung zunehmend mehr angestrebt wird, um ihre Entscheidungen justiziahet zu machen, ein Irrweg ist, kommt in voller Deutlichkeit darin zum Ausdruck, dass sogar Juristen davor warnen: Um der Freiheit des einzelnen Lehrers und der Autonomie der einzelnen Schule willen hat zum Beispiel der Deutsche Juristentag 1981 die Reduktion der Steuerung durch die Unterrichtsbehörde und die Umwandlung ihrer Fachaufsicht in bloße Rechts- und Dienstaufsicht gefordert. Der ehemalige Verwaltungsrichter Kopp hat diesem "Erkenntnis" mit der Behauptung zugearbeitet, dass es die Verbestimmt, den Zugang zum Lehrberuf reglementiert, die Lehrkräfte den Schulen zuteilt, die Schulbücher einem komplizierten Genehmigungsverfahren unterwirft, die Standards fllr den Schulbau fixiert, über die schulischen Organisations- und Entscheidungsstrukturen verfllgt, die Klassengröße, die Unterrichtsinhalte, die Unterrichtszeiten dekretiert und vieles andere mehr (Lith, U. v. 1983, S. 7). 4 H. See/1997, S. 247. 5

I. Richter 1994, S. 182 f.

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ordnungsgeber, Parlamente und Gerichte überfordern würde, wollten sie die der Pädagogik eigenen Gesetzmäßigkeiten in Rechtssätzen ausdrücken". 6 In Übereinstimmung mit den Rechtsgelehrten fordert der Sozialphilosoph Habermas, dass die Usurpation von lebensweltlichen Hoheitsgebieten durch formalrechtlich organisierte Mächte wieder rückgängig gemacht werden müsse und die Frontlinie zwischen der "Lebenswelt" und dem "System" neu zu definieren sei. Bestimmte soziale Aufgaben lassen sich nun einmal nicht oder nur sehr schlecht erledigen, wenn sie den kommunikativ strukturierten Handlungsbereichen entzogen und von verwaltungstechnisch strukturierten Funktionärskadern vereinnahmt werden. Die Führungsaufgabe der Lehrer beim Auseinandersetzungsprozess der Schüler mit bestimmten Kulturausschnitten ist der Prototyp eines lebensweltlich und nicht formalrechtlich zu organisierenden Handlungsbereichs7 • Schützenhilfe kommt auch von den Kommunitariern 8, welche die Aufgaben des Staates aufSubsidiarität beschränkt sehen wollen, denn die gegenseitige Bereicherung, die zwischen Individuum und Gemeinschaft im überschaubaren Bereich befruchtend erlebt werden kann, verblasst beim Transfer über die Stufen der Hierarchie bis hin zur Zentrale auf Bundesebene zur abstrakten Schwurformel, die nicht als verpflichtend erlebt wird.

II. Das pädagogische Defizit des schulpolitischen Paternalismus Die Schulverwaltung bedient sich der bürokratischen Organisation - und als Verwaltung muss sie dies auch, um ihr Geschäft effizient verrichten zu können. Genau darin aber liegt der Nukleus des Problems, denn die Denkformen der Bürokratie und die der Pädagogik sind nicht kompatibel: •

Die formale Organisation der Bürokratie legt soziale Distanz nahe. Der Erziehungsprozess ist auf emotional gestützte Identifikation angewiesen. 9



Der Bürokrat lebt im Geiste institutionalisierten Misstrauens. Der Erzieher ist aufrisikoreiches Vertrauen angewiesen.



Bürotechnik muss rationalisieren. Die Pädagogik hat es mit dem Motivieren zu tun.



Das bürokratische Funktionieren des Verwaltungsapparates basiert auf der möglichst perfekten Reglementierung aller Vorgänge, es hat eine Präferenz

6

F. Kopp 1980, S. 29. Habermas 1985, S. 189.

7 J. 8 9

A. Etzioni 1995. H. Fend 1980, S. 234.

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zur Vereinheitlichung und Kontrolle. Es passt optimal dort, wo es sich um uniforme Repetiertätigkeiten handelt. - Unterricht und Erziehung leben vom persönlichen Anspruch und gelingen am besten im Dialog. Die Individualität des menschlichen Antlitzes kommt überall besser zum Ausdruck als dort, wo man in Reih' und Glied zu stehen hat. Die Trennung der Amtswaltung vom sterblichen Ich ist eine Vorbedingung filr das Funktionieren der bürokratischen Organisationsform, die Max Weber "eine Erfindung gleich einer Maschine" genannt hat. 10 Wenn beispielsweise die Geschäfte der Finanz-, Justiz- und Militärverwaltung verlässlich und zeitgerecht erledigt werden sollen, dann darf es keine Beeinträchtigung durch menschliche Gefilhle und Leidenschaften geben. Wegen der Spaltung von Amt und Person als Charakteristikum bürokratischen Handeins kann der Standesbeamte vor dem Gesetz gültig Ehen schließen, auch wenn er selbst von der Ehe nichts hält. - Wie aber soll ein Lehrer filr ein Lied begeistern können, das er selber nicht hören mag, filr ein Buch, von dem er nicht fasziniert ist? Wie soll er zur Demokratie hinfilhren können, wenn er im Herzen ein Faschist ist? Der Schaden ist groß, den die bürokratischen Erfindungen, die keine pädagogischen sein können, in der Schule anrichten. Er reicht von den auf ständige Selektion ausgerichteten Organisationsformen bis zur Leistungsbeurteilung, deren Messgerät (Notenskala) so fehlerhaft ist, dass es von anderen "Firmen" längst zum Müll geworfen würde. Und er reicht von den curricularen Pressionen, welche die Kreativität der Lehrer behindert, bis zur zentralistischen Formatierung von Reformprozessen 11 • Es würde den hier vorgegebenen Rahmen sprengen, diese Anklage detailreich zu belegen. 12 Ein Streifzug durch die Unsinnigkeiten einer vom bürokratischen Staatsapparat normierten Schule würde an seinem Wegrand zahlreiche Fälle filr den Rechnungshof hinterlassen, manche filr den finanziellen, andere filr den geistigen, einige filr beide. - "Man sollte die Illusion verabschieden", hat Horst Rumpf seine Schulerfahrungen resümiert, "man könne im Gehäuse der verwalteten Schule alle die unglaublich gut klingenden Dinge verwirklichen, die nicht nur Präambeln schmücken (... ), man sollte die Worthülsen pädagogischer Herkunft nicht dazu missbrauchen, zu suggerieren, die verwaltete Schule könne eine pädagogische Einrichtung sein". 13

10

M. Weber 1972, S. 128.

Welche Lähmung das zentralistische Diktat an der Basis bewirkt, sei mit dem Konferenzimmer-Bonmot eines Lehrers bebildert: "Ich habe schon flinf Reformen erlebt, aber noch keine mitgemacht." 11

12

Vgl. dazu R. Vierfinger 1993.

13

H. Rumpfl982, S. 124.

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111. Eklektische Orientierung am Markt Die Alternative zum bestehenden System wird nicht blauäugig in der Privatisierung bzw. im unkontrollierten Einbruch des Marktes in das bisherige Schulgetto gesehen. Im Gegenteil! Im Zeitalter des boomenden Neoliberalismus ist es notwendiger denn je, dass der Staat die Schule finanziert, damit es zu keiner Benachteiligung der Kinder aus der unteren Sozialschicht kommt! 14 Nur unter dieser "conditio sine qua non" ist es der Schule erlaubt, mit dem Marktgedanken zu kokettieren, um sich vor allem sein Regulativ namens Privatinitiative zu eigen zu machen. Eine zweite unverzichtbare Aufgabe des Staates hat darin zu bestehen, dass er die "freigelassenen" Schulen an diejenigen Doktrinen bindet, die ftlr das Schulwesen einer reifen Demokratie unabdingbar sind: Das Verbot der Diskrimination nach Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Sozialstatus und Religion. In der Pflichtschulzeit, an deren Ende ja noch keine beruflichen Zertifikate vergeben werden, sollte auch die Selektion nach Leistung verboten sein, weil es doch für die Schwachen höchst nachteilig ist, wenn ihnen die Vorbilder der Tüchtigen geraubt werden. Manche Zeitgenossen wehren sich gegen das Eindringen der Marktidee ins Haus der Bildung, weil das Bildungsgut analog zur Ware gesehen und abgewertet werden könnte. Die Analogie ist aber wegen der grundsätzlichen Andersartigkeit von ökonomischen und geistigen GUtem nicht stimmig. Man bedenke den Tatbestand, dass es in der Bildung die Knappheit der Güter nicht gibt, mit welcher der Markt kalkulieren muss. Das Gegenteil ist der Fall: Je mehr Schüler sich mit einem Kulturausschnitt auseinandersetzen und je höher das erreichte Niveau ist, desto mehr wächst die Kultur insgesamt! Wenn also der Staat der Schule den demokratiepolitischen und den finanziellen Flankenschutz gibt gegen den Angriff der Hydra der menschenverachtenden neoliberalistischen Privatinteressen, dann sollte sie sich den ftlr sie fruchtbaren Ideen des Marktes nicht verschließen. Vielmehr sollte sie der Chancen gewahr werden, die dieses Kommunikationsmodell mit sich brächte: Das Curriculum im engeren Sinne, die Organisationsformen und den zeitlichen Ablauf der Bildungsprozesse würden nicht mehr andere bestimmen, sondern die Lehrer, ihre Schüler und deren Eltern an den Schulen. Sie würden befreit vom polit-bürokratischen Diktat. Privates Engagement und unternehmenscher 14 Bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass sich die derzeitige Schulpolitik in Österreich bereits Nachlässigkeiten in diesem fundamentalen Bereich sozialer Gerechtigkeit zuschulden kommen lässt: Bestimmte unterrichtliche Zusatzangebote, die vorher als Mehrleistungsstunden abgegolten worden sind, müssen nun von den Eltern selbst bezahlt werden.

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Geist wären gefragt und dürften sich entfalten. Die Experimentierfreudigkeil würde geweckt und an die Stelle von Obrigkeitshörigkeit träte Verantwortung}5 In Österreich kann die 14. Schul-Organisations-Novelle aus 1993 (Autonomie-Novelle) als ein kleiner Schritt in diese Richtung angesehen werden. Wer freilich das Ausmaß der darin gewährten Autonomie bedenkt, dem kommt das Wort von den kreißenden Bergen und der Maus in den Sinn. Es werden z.B. "schulautonome Lehrpläne" ermöglicht. Aber die Schulbehörde erster Instanz wird beauftragt, diese aufzuheben, wenn "über die einzelne Schule hinausgehende Interessen der Schüler und Erziehungsberechtigten nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt worden sind". 16 Die Veränderung der Schuleingangsstufe hätte- um ein weiteres Beispiel zu nennen - in die Entscheidungsbefugnis der Schulforen gegeben werden können. Der zuständige Ministerialrat aber hat dies um der "bewährten Einheitlichkeit der Österreichischen Grundschule" willen von sich gewiesen. 17 - Wie heißt es doch bei John Stuart Mill: "Eine allgemeine (vereinheitlichende) staatliche Erziehung ist eine schlechthinige Einrichtung, um die Menschen gleich zu machen. Der Model, in welchen sie diese presst, geflillt der vorherrschenden staatlichen Macht( ... ). Es etabliert sich- so das Vorhaben gelingt- eine Despotie Ober das Denken der Menschen". 18 Wer es mit der Demokratie ernst meint, müsste also äußerst vorsichtig sein mit dem Ruf nach Einheitlichkeit auf Handlungsebenen, die weit unter der von der Verfassung geforderten Gleichheit liegen. Die Reaktion der Lehrerschaft auf den halbherzigen Versuch des Gesetzgebers, der Schule ein wenig Autonomie zu genehmigen, ist zwiespältig 19: Das positivste Ergebnis wird von kleinen Hauptschulen des ländlichen Raumes berichtet, in welchen das gesamte Kollegium als Initiativ- und Planungsgremium eine relativ große Bedeutung erlangt hat. Ein Drittel der Befragten wirft der Schulbehörde vor, dass es ihr mit der Autonomie gar nicht ernst sei, sondern dass diese bloß die Sparpolitik kaschieren soll. Direktoren von Schulen, die sich in die Autonomiebewegung eingebunden haben, fUhren Klage, dass der bürokratische Aufwand grotesker Weise zu- statt abgenommen habe. Das ist 15 Vgl. den Nachweis des positiven Einflusses der neuen "Freiheit" auf Lehrer und Schüler in der Zusammenfassung der Ergebnisse der amerikanischen "EffectiveSchool"-Forschung vonJ Lenz 1991, S. 136. 16 Bundesgesetzblatt Nr. 323 vom I. Juli 1993. 17 W. Wolf1991, S. 502. 18 J St. Mi/11964, S. 161. 19 Vgl. H Bachmann, et al. 1996.

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auch verständlich: Wenn die Aufsicht nicht zurückgenommen wird und die Steuerungskompetenz bei der Behörde bleibt, vermehrt jede Aktivität an der Schule das Ausmaß der "Hofberichterstattung" nach oben. Nicht einmal die Eltern, die doch in den Schulforen und Schulgemeinschafts-Ausschüssen Sitz und Stimme haben, sind zufrieden, weil ihnen die Belange, die zur Abstimmung freigegeben worden sind, weithin als belanglos erscheinen.

IV. Autonome Schulstrukturen sind keine Utopie Es gibt mittlerweile zahlreiche Länder mit basisdemokratischer Schulkultur; dazu gehören u.a. die Niederlande, die skandinavischen Staaten und vor allem der anglo-amerikanische Raum, der sich in der Gründungsära an John Locke orientiert hat. In all diesen Ländern sind Schulregierungen (Schulkuratorien, Schulvorstände "goveming bodies" ... ) filr die Geschicke der Schule voll verantwortlich. Sie bestehen aus gewählten Lehrer- und Eltemvertretem; in Sekundarschulen entsenden auch die Schüler ihre Deputierten. Die Schulregierungen entscheiden über die Inhalte des Unterrichts; pflichtige Vorgaben der Zentrale sind- abgesehen vom Zielkatalog, den die Verfassung vorgibt- weithin Makulatur. Die Schulregierungen organisieren die Lehre von der Lehrfächerverteilung bis zu den zeitlichen Zäsuren im Schuljahr und bis zu der Stundenverteilung pro Tag (Ganztags- oder Halbtagsschule etc.). Sie werben Lehrer an (vgl. die Stellenausschreibung im Education Supplement, der regelmäßigen Freitagsbeilage der Times) und schließen ihre Verträge mit den didaktischen "Bestbietem". Sie bestellen den Leiter- zumeist auf Zeit - oder entscheiden sich filr ein kollegiales Leitungsteam. Schließlich verfUgen sie über das Budget filr sämtliche Anschaffungen - von den Lehrmitteln bis zum Inventar und oft sogar bis zu den Baumaßnahmen. Zur Veranschaulichung sei das amerikanische Modell der Charter-Schools gewählf0 bzw. auch zur Diskussion gestellt. Es ist am Markt orientiert, grenzt sich aber entschieden ab von den Modellen des ungebremsten Marktes neoliberaler Provenienr 1• Die Charter-Schools (Schulfilhrung auf Vertragsbasis) sind der große Renner in der gegenwärtigen Umgestaltung der OS-amerikanischen Schulen. Der Staat Minnesota hat in den 90er Jahren den Reigen begonnen.

20 Der Bericht stützt sich auf Erfahrungen aus meinem einmonatigen Forschungsaufenthalt an der Western Michigan University (1996). Vgl. auch B. Friehs 2000, 9, 10, S. 1153-1169. 21 Vgl. Chubb!Moe, welche der Schule jedwede Selektion freistellen (J. E. Chubb/T. M Moe 1990, S. 221122), und Mi/ton Friedman, der den Schulen die Höhe des Schulgeldes zur Disposition stellt.

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Charter Schools sind eigenständige juristische Personen und operieren auf der Grundlage eines Vertrages mit einem Sponsor. Dieser ist normalerweise eine "non profit organisation" wie eine Universität oder ähnliche Institution, es kann aber auch eine private Firm sein wie z.B. die Education Alternatives Incorporation, die in Florida die Schulen des finanzschwachen Date County School Districts und in Saltimore die Schulen eines Armenviertels betreibt. Der Staat stellt ftir jedes Kind das nötige Geld zur VerfUgung (rund 4.500 Dollar), wovon sich die Betreiberfrrma 3 % abzweigen darf. Von den Schülern darf kein Schulgeld verlangt werden. Auch Aufnahmetests und sonstige Selektionen sind untersagt. Mittlerweile liegen sehr positive Ergebnisse vor: Beispielsweise sind in Baltimore, wo es sich um Schulen mit verwahrlosten Gebäuden, mit Drogenproblemen und entsprechend niedrigem Leistungsniveau gehandelt hat, die Schulversäumnisse zurückgegangen und die Eltern sagen, dass die Kinder jetzt lieber zur Schule gehen. Auch zeigen die Tests in Lesen und Mathematik eine bemerkenswerte Verbesserung der Leistungen. - Was ist geschehen? Die Gehälter des Hilfspersonals sind gekürzt und die Gebäudereinigung an kostengünstige Anbieter vergeben worden, so dass mehr Geld filr die Lehrer und den Sachaufwand zur Verfügung steht. Die Lehrpläne sind überarbeitet und die Lehrer mit den neuesten methodischen Kenntnissen vertraut gemacht worden. Die auffiilligste Erscheinung innerhalb der Charter-School-Bewegung sind die Edison-Schools des Christopher Whittle. Sie betreuen Kinder von der Krabbelstube bis in die Senior High School. Die Betreuungszeit deckt sich mit dem normalen Arbeitstag der Eltern und deckt auch die sogenannten Ferien ab. Das ist dadurch möglich, dass mit den Lehrern individuelle Zeitverträge abgeschlossen werden. Whittle übernimmt sowohl "inner-cities" als auch "suburbs", also keinesfalls nur WohlstandsvierteL Dass es zahlreiche Befilrworter der Edison Schools gibt, sei mit der Entscheidung von Deborah McGriffbelegt, die ihren Posten als Superintendentin der Detroit Public Schools zur VerfUgung gestellt hat, um sich den Edison Schools zu widmen. "Ich werde Marketingdirektor bei den Edison Schools", hat sie zur Begründung ihres Schrittes gesagt, "weil ich meine Ziele, nämlich das von Armut und Kriminalität belastete Schulsystem einer großen Stadt in eine positive Agentur ftir Kinder umzuwandeln, in den bestehenden Verhältnissen nicht erreichen kann. Ich filhle, dass ich in einem Marktsystem wie den Edison Schools erfolgreicher sein werde beim Bemühen, bessere Bedingungen ftir die Kinder aus allen sozialen Schichten und Erziehungsmilieus zu schaffen". 22 Die Gegner sprechen von Mc-Schools (Analogie zur McDonald's Kette). Zu den Gegnern gehören vor allem die Lehrer-Gewerkschaften. Sie ftlrchten um

22

J. Bosco 1996, S. 928.

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die Sicherheit der Anstellung, weil Whittle filr die Tätigkeiten außerhalb der Lehre auch "non licensed persons" aufnimmt. Er fragt sie nach typisch amerikanischer Manier nicht: "Was hast du ftlr ein Zeugnis?", sondern: "Was kannst du?" Den Whittle Schools bzw. allen Charter Schools wird außerdem vorgeworfen, die wirtschaftlichen Fragen ließen keine Zeit filr das Pädagogische. Dass dieser Vorwurf aber konstruiert ist, lehrt uns die Erfahrung mit den sog. Freien Schulen in unseren Landen, die ebenfalls mit der Lösung ihrer wirtschaftlichen Probleme selbst befasst sind. Wer sie besucht, gewinnt die Überzeugung, dass in anderen Schulen kaum so intensiv Pädagogisches erörtert wird wie dort. Bei der Independent Schools genannten Variante der Charter Schools (vergleichbar mit den Opting out Schools in England) erhält nicht eine andere Institution das Geld, um eine Schule zu betreiben, sondern die Schule selbst23• Dies ermöglicht die idealste Ausprägung von unternehmerischer Schulfilhrung durch die Betroffenen an der Basis.

Literatur Bachmann, H. u. a.: Auf dem Weg zu einer besseren Schule- Evaluation der Schulautonomie in Österreich, Wien 1996. Bosco, J.: Alternatives to Public Schooling, in: Sicula, 1.: Handbook of Research on Teacher Education, New York 1996, S. 922-931. Chubb, J. E.!Moe, T. M.: Politics, Markets and America's Schools, Washington D.C. 1990. Deutscher Juristentag: Schule im Rechtsstaat, Bd. I, Entwurf für ein Landesschulgesetz, München 1981. Etzioni, A.: Die Entdeckung des Gemeinwesens, Stuttgart 1995. Fend, H.: Theorie der Schule, München 1980. Friehs, B.: Das Charter-Schooi-Modell als Option filr Österreich, in: Erziehung & Unterricht 2000, 9, 10, S. 1153-1169. Habermas, J.: Dialektik der Rationalisierung, in: Habermas, J.: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt 1985, S. 167-208.

23 "Willst du den Sperling füttern, dann gib den Hafer diesem selbst und nicht dem Amtsschimmel, bei dem er darauf warten muss, was hinten herauskommt" (amerikanischer Slogan).

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Rupert Vierlinger

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490~505.

Der bildungsökonomische Nutzen des Linzer Modells der Studienwahlberatung Von Hermann Brandstätter Mit einer Drop-out-Quote von 47 % und der Konsequenz, dass derzeit nur etwa I 0 % eines Jahrgangs einen Universitätsabschluss erreichen, nimmt Österreich im internationalen Vergleich einen der ungünstigsten Rangplätze ein (OECD, 2000). In diesem Beitrag wird aufgrund einer umfassenden Evaluationsstudie gezeigt, dass eine psychologisch fundierte Studienwahlberatung der Maturanten, wie sie seit 1991 an der Universität Linz in Kooperation mit dem Landesschulrat von Oberösterreich angeboten wird, das Misserfolgsrisiko wesentlich reduziert und daher auch aus bildungsökonomischer Sicht in hohem Maße zu empfehlen ist.

I. Ausgewählte Ergebnisse der Evaluationsstudie zur Studienwahlberatung Die Studienberatungstests informieren die Teilnehmer/innen in einer schriftlichen Ergebnisrückmeldung darüber, wie gut ihre persönlichen Interessen, Fähigkeiten und Arbeitshaltungen den Anforderungen des geplanten Studiums entsprechen. Die Aussagekraft der Studienberatungstests hinsichtlich des zu erwartenden Studienerfolgs (vor allem des Notendurchschnitts und Drop-outRisikos) wurde im Rahmen einer vom FWF gef6rderten Evaluationsstudie umfassend geprüft und in hohem Maße bestätigt. 1 Das Drop-out-Risiko ist im Verlauf der Studiensemester bei den Beratungsteilnehmern durchwegs um etwa ein Drittel niedriger als bei den Nicht-Teilnehmern. Dies ist, wie statistische Kontrollanalysen zeigen, nicht auf vorweg bestehende Persönlichkeits- und Fähigkeitsunterschiede zwischen Teilnehmern und NichtTeilnehmern zurückzufiihren, sondern stellt einen echten Beratungseffekt dar.

1 Brandstätter/Farthofor/Gri/lich

2001 a u. 2001 b, BrandstätterlFarthofer/Grillich 2002.

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Hermann Brandstätter

Studienwahlberatung vermindert Drop-out-Risiko Studienanfänger (Alter< 24) Uni Linz 1991-1998 ,5

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Studiensemester Abbildung I: Drop-out als Funktion der Teilnahme an den Beratungstests

Bei Studienanfangern mit geringen Schul- und Testleistungen sind nicht nur die Studienleistungen wesentlich geringer, sondern es wächst auch die Zahl der Studienahbrecher im Verlauf der Semester wesentlich stärker als bei Studienanfeingern mit hohen Schul- und Testleistungen (Abb. 2). Wer im Notendurchschnitt des ersten Studienjahres zum schwächsten Fünftel gehört, hat wenig Chancen, das Studium erfolgreich abzuschließen. Wenn man sich bei der Studienwahl nicht an den Ergebnissen der Studienberatungstests orientieren will, kann und sollte sich die Entscheidung über die Fortsetzung des Studiums an die Prüfungsleistungen des ersten Studienjahres halten. Sie lassen recht gut erkennen, wie die Chancen fiir den weiteren Erfolg stehen (ohne Abbildung). · Die Studie hat die Validität der Studienberatungstests nachgewiesen. Die Maturanten sind also "gut beraten", wenn sie die Testergebnisse bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. Anders als in Situationen, in denen psychologische Tests zur Selektion verwendet werden, hängt die Wirksamkeit der Beratungstests aber

Der bildungsökonomische Nutzen des Linzer Modells der Studienwahlberatung 87 ,5

Maturanote + Test

,4

rdert? "Nehmt einem Christen die Angst vor der Hölle und ihr raubt ihm seinen Glauben", meint der französische Aufklärer Denis Diderot sarkastisch. Tatsächlich konnte man im Verlauf der Geschichte des Christentums manchmal den Eindruck gewinnen, dass schlotternde Angst zu seinem Wesen gehörte. Ein Geschäft mit dieser Angst war der Ablasshandel, der sehr viel Geld einbrachte. weil sich Gläubige durch Ablässe von ihren Sündenstrafen loskaufen konnten. Dieses profitable Ärgernis war schließlich eine der entscheidenden Ursachen für die Reformation.

11 12

13

Eugene /onesco: Tagebuch (Journalen miettes), Neuwied/Berlin 1967, S. 88 f. Ebd., S. 118.

Paul Vatery: Cahiers!Hefte, Bd. I, S. 86 u. 131.

150

Kurt Wimmer

VII. Angstgetöntes Erbe Hier hatsich ein grundlegender Wandel vollzogen, aber fraglich ist, ob man heute wirklich von einem "Ende des religiösen Tertiär" sprechen kann, ein Ende, das Friedrich Heer im Sog des zweiten Vatikanums optimistisch prophezeite, als er 1970 sein Buch "Abschied von Höllen und Himmeln" publizierte. "Angstgetönt" war auf jeden Fall das alttestamentarische Erbe des Christentums, das der Arzt und Psychotherapeut Raphael Lenne so schildert: "So lebt der Mensch unter der permanenten Angst vor potentiellen Übertretungen des Gesetzes. Um der primitiven Angst vor einem gewaltigen, bisweilen launischen Gott zu entgehen, nimmt der Mensch komplexere, subtilere Angst auf sich. Wir haben also eine Welt der Angst und der Buße vor uns, die auch noch mit göttlicher Ungerechtigkeit und damit verbunden mit der Aufforderung zur menschlichen Resignation überbeladen ist." Lenne fragt auch, ob diese Angst nicht vielleicht filr den Zusammenhalt des jüdischen Volkes nützlich und zweckdienlich gewesen sei- die Angst als Herrschaftsinstrument also. Dann würde allerdings rdem, zur Integration der Gemeinde beitragen und gleichsam Bürgemähe des politischen Systems vermitteln. Poltische Entscheidungen, die von Vereinen im lokalen Bereich getragen werden, gewinnen an Legitimität. Vereine tragen aber nicht unbedingt zur vermehrten Demokratie bei. Wie die Demokratieforschung analysiert und man seit langem aus der politischen Soziologie4 weiß, besteht eine Tendenz zur Oligarchie. Einige wenige Personen, deren Zusammenhalt sich ständig verstärkt, bestimmen im Wesentlichen die Struktur des intermediären Sektors. Das fuhrt dazu, dass Vereine relativ starre Strukturen bekommen. Dies ist in der Entwicklung im letzten Jahrhundert im intermediären Sektor nicht nur in Österreich zu verfolgen. Diese Tendenz zur Oligarchisierung und zur Verfestigung der Struktur bewirkt, dass Vereine dann nicht mehr zur demokratischen Struktur der Gesellschaft beitragen. Die Selbstorganisation in Vereinen wird zu einer Organisation von Eliten und Oligarchien innerhalb der Gesellschaft, die ihren zivilgesellschaftlichen Charakter verlieren. Dies hat Konsequenzen fiir den intermediären Sektor und die Struktur der Zivilgesellschaft. Die Folge könnte in einem Auszug der Bevölkerung aus dem Vereinsleben liegen. Die Mitgliedzahlen sinken. Alternative Formen entstehen.

I. Gesellschaft und Gemeinsinn Putnam (2000) erregte mit seiner Studie "Bowling alone" Aufsehen. In ihr beklagt er den Niedergang der politischen und sozialen Partizipation in den Vereinigten Staaten. Ein neuerer Sammelband5 beinhaltet Beiträge aus verschiedenen Ländern, darunter auch verschiedenen europäischen Ländern. Die grundlegende These Putnams war, dass die Gesellschaft egoistischer und individualistischer wird. Im Laufe der letzten Jahrzehnte habe die Beteiligung an freiwilligen Vereinigungen kontinuierlich und stetig abgenommen, sodass man von einem Rückzug der Amerikaner aus den freiwilligen Vereinigungen sprechen kann. Dies ist nur bedingt auf Europa übertragbar. Allerdings ist die These insofern soziologisch relevant und interessant, als der Rückzug aus dem intermediä-

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Michels 1911.

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Putnam 200 l.

Rudolf Richter

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renSektormit der Entwicklung des Wertewandels und der stärkeren Individualisierung von Gesellschaft begründet wird. Tatsächlich erleben wir in den letzten Jahrzehnten eine verstärkte Individualisierung. Es scheint so zu sein, dass mit der Entwicklung der Industriegesellschaft im westeuropäischen und abendländischen Bereich die Einzelperson stärker in den Mittelpunkt rückt. Der Begriff der Individualisierung ist ja kein neuer Begriff, sondern wurde erstmals von Georg Simmel (1890) präzisiert. In den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts hat Beck ( 1986) in seiner Risikogesellschaft diese Aspekte der Individualisierung nochmals aufgegriffen. Die Gesellschaft der Achtzigerjahre war in Westeuropa durch eine zunehmende Orientierung an ökonomischen wirtschaftlichen Denken gekennzeichnet. Es war das Jahrzehnt, in dem die so genannten Yuppies (Young Urban Professionals), die schnell zu Geld kamen und das eben so schnell wieder verloren, gleichsam die Leitfiguren der Gesellschaft waren. Nach den Kollektivierungs- und Sozialisierungstendenzen der Siebzigerjahre, die in den modernen Wohlfahrtsstaat geftlhrt haben, haben die Achtziger Jahre das erste Mal das Gegenpendel ausschlagen lassen, nicht nur im politischen Sinn durch die Regierungsantritte von Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA. Das, was Soziologen als Individualisierung bezeichnet haben, wurde sehr rasch in populären Journalen als egoistische Gesellschaft etikettiert. In diesem Sinne war es durchaus verständlich, wenn verstärkt bemerkt wurde, dass sich Gesellschaftsmitglieder aus der Öffentlichkeit zurückzogen. Indikatoren wie der Rückgang der Wahlbeteiligung, der Rückgang von gruppenspezifischem Wahlverhalten, das Aufkommen von Wechselwählern verstärken diesen Eindruck. Der Wertewandel tat sein Übriges. Traditionelle Pflichtwerte wurden durch Selbstentfaltungswerte6 ergänzt, die keineswegs immer politisch orientiert waren. Zwar fanden sich auch in den neuen Werten Interesse an Politik, sofern sie sozusagen alternativ war. Ebenso gab es aber Bevölkerungsgruppen, die sich in hedonistisches Freizeitvergnügen aus der politischen Öffentlichkeit, aus der res publica, zurückzogen. Die Verhärtung der Strukturen im intermediären Sektor war daran nicht ganz unbeteiligt. Die oben angesprochenen Oligarchisierungstendenzen ließen das Vertrauen in die Leitungsgremien schwinden. Die so genannte Basis fand sich nicht nur im politischen Makrosystem nicht mehr repräsentiert, sondern auch nicht mehr im intermediären Sektor der Vereine. Selbsthilfebewegungen, das Entstehen von Bürgerinitiativen und basisdemokratischen Initiativen waren die logische Konsequenz. Dazu kam, dass die im 19. Jahrhundert als Vereine gegründeten politischen Interessensvertretungen wie etwa die Gewerkschaften, um nicht auch von den Parteien oder von den verschiedenen Kammern zu sprechen, kaum mehr dem intermediären Sektor der Selbstorganisation zugezählt

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Klages 1985.

Selbstorganisation und Zivilgesellschaft

175

werden konnten. Sie entwickelten sich zu selbstständigen Großorganisationen, die gleichsam ein Bestandteil des makrosozialen politischen Systems sind und bestenfalls noch in ihren Bezirksorganisationen den Anschein von Selbstorganisation und Vermittlung von Basis und Regierenden aufrecht erhalten können. Was fiir die Großorganisationen gilt, gilt aber auch in einem bedingten Ausmaß fiir die traditionellen Vereine. Wandervereine, Blasmusikkapellen, Gesangsvereine klagen und klagten über Nachwuchs. In diesem Sinn verlor der intermediäre Sektor an Bedeutung und es fand ein Rückzug aus der Öffentlichkeit statt. Die Vereine verloren teilweise ihre Mitglieder. Keineswegs kann man aber deswegen von einer Vereinsamung in der Gesellschaft sprechen. Wie die verschiedenen Beispiele aus den verschiedenen Ländern, die auch in Putnam (2001) dargestellt werden, zeigen, herrscht hingegen eine eindeutige Ambivalenz. Ambivalenz deswegen, weil es sowohl Rückzug als auch Zuzug gibt und eindeutig deswegen, weil das wohl global fiir alle Gesellschaften gilt, in denen sich ein intermediärer Sektor herausgebildet hat. Einen Rückzug aus freiwilligen Vereinigungen haben die traditionellen Vereine zu beklagen. Es gibt einen Rückzug aus den traditionellen Institutionen der Kirche, es gibt eine große Distanz zu den politischen Institutionen wie Parteien, aber auch gewerkschaftlichen und anderen lnteressensvertretungen. Hier hat die Mitgliederzahl vor allem auch in Österreich deutlich abgenommen. Abgenommen haben in diesem Sinne auch die Mitgliedszahlen teilweise zu den traditionellen Vereinigungen im Dorf. Zugenommen haben allerdings neue Formen der sozialen und politischen Partizipation. Dazu zählt die Beteiligung an Selbsthilfegruppen, an Freizeitvereinen, insbesondere an Sportvereinen, die allerdings andere Organisationsstrukturen aufweisen. Zumeist verstehen sich diese als Dienstleister, die eine Infrastruktur, sei es in Form von Geräten oder in Form von Trainern zur VerfUgung stellen, die die Teilnehmer in Anspruch nehmen. Die Geselligkeit bleibt zwar wichtig, tritt aber doch hinter die inhaltliche Funktion zurück. Generell gesehen, steigt die Beteiligung und die soziale Partizipation im Dienstleistungsbereich. Dies mag in Europa auch darauf zurückzuftlhren sein, dass seit den Neunziger Jahren verstärkt der Wohlfahrtsstaat abgebaut wird und private Dienstleistungen rapide ansteigen und zunehmen. In diesem Sinne erlebt der intermediäre Sektor, könnte man fast sagen, eine neue Blüte. Die zu erwartende Vergrößerung des Dienstleistungssektors in allen Bereichen könnte auch zu einem Anwachsen des intermediären Sektors in der Gesellschaft ftlhren, da z.B. Betreuungsaufgaben von Vereinen Ubemommen werden. Die neuen Formen schließen in ihren Grundgedanken durchaus an die ursprünglichen Ideen des intermediären Sektors in demokratischen Gesellschaften an, nämlich vor allem an die Idee der Selbstorganisation, ebenso auch an das Prinzip der Subsidiarität. Es geht in einer Zivilgesellschaft nicht nur darum, dass die BUrger die Möglichkeit haben, ihre Interessen gegenUber der Regierung zu artikulieren, sondern es geht in einer demokratisch verstandenen Zivil-

Rudolf Richter

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gesellschaft auch darum, dass Öffentlichkeit durch die praktische Aktivität der Bürger hergestellt wird, dass sich die Bürger an der Gestaltung des Gemeinwesens aktiv beteiligen. Diese aktive Beteiligung kann auch verstanden werden als ein Rückzug des Staates aus der Verantwortung. Sie wird aber in vielen Fällen wohl den eigentlichen Effekt haben, dass Bürger adäquatere Lösungen fiir ihre lokalen Probleme finden. Selbstorganisation ist daher auch ein zentrales Entwicklungsprinzip fiir Gesellschaft allgemein.

II. Schluss Zivilgesellschaft ist ein relativ neu in die Diskussion eingefilhrter Begriff. In den Siebziger Jahren sprach man von sozialer oder politischer Partizipation. Zivilgesellschaft als Terminus tritt interessanterweise erst in den Achtziger und Neunziger Jahren in die politische Diskussion in Westeuropa ein. Das Auftreten dieser Diskussion ist nicht völlig neutral zu beurteilen, denn die stärkere Betonung von Zivilgesellschaft kann auch den Rückbau des Wohlfahrtsstaates und die Entziehung des Staates aus seiner Verantwortung bedeuten. Zivilgesellschaft wird damit ein liberalistisches Programm der Schwächung des Wohlfahrtsstaates. Auf der anderen Seite kann aber damit auch vermehrte politische und soziale Beteiligung der Gesellschaftsmitglieder verstanden werden. Es kommt dazu, dass die Diskussion um Zivilgesellschaft in engem Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostens Europas sich entwickelt hat und hier vor allem unter dem Aspekt der europäischen Vereinigung7 eine wesentliche Rolle spielt. Die ehemaligen kommunistischen Staaten werden erst dann filr eine Beteiligung an Europa reif, wenn sie eine Zivilgesellschaft aufgebaut haben. Wie eine interessante Lebensstilstudie8 zeigt, existierte der öffentliche zivilgesellschaftliche Teil in den kommunistischen Ländern kaum. Vergleicht man Lebensstile Anfang der Neunziger Jahre zwischen West- und Ostdeutschland, so sieht man, dass Lebensstile, die in der Öffentlichkeit stehen, Lebensstile, die die Öffentlichkeit benötigen, im Osten noch weitgehend fehlen. Zivilgesellschaft existierte eher in regimekritischen, kleinen privaten Zirkeln. Diese Aspekte der Zivilgesellschaft haben sich aber sicherlich in den letzten zehn Jahren in Osteuropa vermehrt entwickelt. Freiheiten und freie Artikulation haben zugenommen, sodass wir in den meisten ehemaligen kommunistischen Ländern (nicht in allen) von einer Herausbildung von Zivilgesellschaft sprechen können. Auch hier ist ein zentraler Punkt die Entwicklung von intermediären Organisationen, die das Fundament einer demokratischen Entwicklung darstellen.

7

Vgl. Zapotoczky 1987.

8

Speileberg 1996.

Selbstorganisation und Zivilgesellschaft

177

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Die alte Kultur der Bauern, ihre rebellische Tradition und ihre Ehrfurcht vor der Natur Von Roland Girtler Diesen Aufsatz widme ich in großer Verehrung Herrn Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky. Er war es, der gute Worte filr mich einlegte, damit ich überhaupt meine Universitätslautbahn beginnen konnte. Dafür sei ihm gedankt. Ich verbrachte mit ihm schöne Stunden. An eine solche erinnere ich mich besonders, als ich ihn einmal zu seiner Verwunderung mit dem Fahrrad in Alpbach besuchte. Aufsein Wohlsein erhebe ich ein Glas mit prächtigem Tiroler Wein. Die alte bäuerliche Welt hatte für mich, den Sohn eines Landarztes und einer Landärztin im Oberösterreichischen Gebirge, einen besonderen Zauber, sie war voll der Geheimnisse des Werdens und Vergehens. Voll Ehrfurcht staunten dankten Bauern und Bäuerinnen für das Getreide und das Vieh, das sie als ihre Kumpanen sahen. Diese alte Kultur ist verloren gegangen. Wir leben in einer Welt, in der es den alten und echten Bauern nicht mehr gibt, er wurde zum Manager und Spezialisten. An die alte bäuerliche Kultur, mit der ich mich in mehreren Büchern beschäftigte, erinnert nur mehr wenig. Die Kultur der echten Bauern steht in Widerspruch zur viel diskutierten Globalisierung. Der echte Bauer war und ist autark und auf sich bezogen. Er benötigte keine Förderungen oder so genannte Ausgleichszahlungen, um überleben zu können. Den echten Bauern, der auf einer uralten Kultur aufbaut, zeichnete aus, dass er in Krisenzeiten bestehen konnte, wie eben die früheren Bauern bei uns und die Landler in Siebenbürgen, bei denen ich durch Jahre hindurch geforscht habe und weiterhin forsche.

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Roland Girtler

I. Bauern als Rebellen Bauern hatten immer hart zu kämpfen, gegen die Natur und später gegen Machthaber, die sie zu unterdrücken versuchten. Sie waren daher auch stets so etwas wie Rebellen, denn sie kämpften seit Jahrhunderten filr ihre Freiheiten. Dies taten die mexikanischen Bauernrebellen unter ihrem Führer Aemilano Zapata um 1908. Ihre Nachfolger, die heute in Mexiko gegen korrupte Großgrundbesitzer kämpfen, nennen sich in Erinnerung an den großen Rebellen Zapata Zapatisten. Und die Oberösterreichischen rebellischen Bauern mit dem kühnen Stefan Fadinger an der Spitze fochten im I 7. Jahrhunderts gegen die Ausbeutung und Demütigung durch aristokratische Grundherrn und für die Freiheit, die Religion und darum, selbst zu bestimmen. Die Bauern wollten frei sein, aber es gelang ihnen zunächst nicht. Ihre Aufstände wurden blutig niedergeschlagen. Die Skelette von jungen Bauernkriegern fand man vor ein paar Jahren beim Bau des Kraftwerkes bei Lambach in Oberösterreich. Sie fielen im Oktober I 626 gegen die weit überlegenen Soldaten des Grafen Herberstorff. Die Bauern nannten sich Landler nach dem Gebiet um Eferding, das Land!, in dem der Bauernkrieg 1625 den Ausgang nahm. Sie müssen tapfer gekämpft haben, denn in einem Bericht des Panzergenerals Pappenheim, der die Bauern endlich niederzwang, hieß es bewundernd: "Sie wichen nicht Schritt für Schritt zurück, sondern Fuß fllr Fuß." Man hat die Bauern in Österreich furchtbar behandelt und sie gezwungen, katholisch zu werden. Doch viele weigerten sich als Rebellen, dies zu werden, und blieben standhaft protestantisch. Diese wurden daher unter der wenig gütigen Maria Theresia um 1750 nach Siebenbürgen verbannt. Nachfahren dieser rebellischen Landler leben heute noch in Siebenbürgen als echte Bauern. Leider zieht ihre Jugend heute in den glitzernden Westen, so dass die Landler immer weniger werden. Es fasziniert mich, bei diesen Landlern in SiebenbUrgen seit Jahren mit Studenten zu forschen. Ein Grund auch, um im 16. und 17. Jahrhundert der arroganten Adelsgesellschaft den Kampf anzusagen, war, dass den Bauern die Jagd verboten war. Die Jagd war eine Sache der Aristokratie. Dies ließen sich Bauernburschen jedoch nicht gefallen. Sie wurden zu Wildschützen, die gerade im Gebirge bei den kleine Leuten besonders verehrt wurden, da sie dem aristokratischen Jagdherrn das Wild und vor allem die Gams wegschossen. Die Wildschützen als Repräsentanten einer echten bäuerlichen Kultur genießen heute noch höchstens Ansehen. Sie waren die Helden der kleinen Leute. Sogar ein eigenes Wilderermuseum in dem bäuerlichen Dorf St. Pankraz bei Windischgarsten in Oberösterreich hat man zu ihrer Erinnerung errichtet (unter meiner wissenschaftlichen

Die alte Kultur der Bauern

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Leitung - dies sei in aller Bescheidenheit eingefilgt). Also auch die Wilderer verweisen auf ein echtes Bauerntum. Erst im Jahre 1848 wurde nach einem Antrag des jüngsten Abgeordneten des Reichstages Hans Kudlich in Österreich der Bauer frei, er wurde nun Herr über Grund und Boden und erhielt das Jagdrecht. Allerdings verschuldeten sich die Bauern in der Folge, da sie den alten Grundherren einen Teil des Wertes ihres Bauerngutes in Geld zu zahlen hatten. BauerngUter wurden versteigert und Bauern zum Auswandern gezwungen. Bauernburschen sahen sich nun weiter berechtigt, sich als Wildschützen zu betätigen. Eine ganze Kultur des Wilderos entstand so. Von großer Bedeutung in dieser war die Sennerin, die Frau, die sich auf der Alm um das Vieh zu kümmern hatte. In Liedern wird sie als Kumpanin des Wildschützen heute noch verehrt. Die heutigen Gegner der Bauern sind andere als die, gegen die sie einmal rebellisch vorgehen konnten. Während es früher Aristokraten waren, die den Bauern in die Abhängigkeit zwangen und von ihnen lebten, sind es heute große wirtschaftliche Verbände und politische Mächte, die den Bauern zu dirigieren versuchen, ihn aber auch knechten. Durch Jahrhunderte hatte der Bauer gekämpft filr seine Rechte als freier Bauer. Es geht ihm zwar gut heute, aber er ist unfrei geworden, abhängig von politisch starken Gruppen, ähnlich wie seine Vorfahren vor der Bauernbefreiung. Der Bauer ist unter Druck geraten. Er musste sich neuen Gegebenheiten anpassen. Er wurde zum Agrarspezialisten oder Fleischproduzenten, filr den das Tier zum bloßen Gegenstand des Geschäftes wurde, weil die EU es so will. Nur selten lehnen sich Bauern gegen Vorschreibungen durch die Macht europäischer Bürokraten auf. Das rebellenhafte Feuer ist großteils verloren gegangen. Nur hie und da flackert es heute auf, so vor einigen Jahren, als Bauern aus ganz Niederösterreich mit ihren Traktoren nach Wien ratterten, um dort auf der Ringstraße bis hin zum Bundeskanzleramt um ihre Rechte zu demonstrieren. Ähnlich suchten 1998· französische Bauern die Straße, um ihren Unmut zu zeigen. Voll Zorn gegen die unfaire Preispolitik der Supermarktketten, die hohe Handelsspannen auf Kosten der Bauern einstreifen, luden Bauern vor dem Sitz des Landwirtschaftsministeriums in Paris Gemüse und Äpfel in großen Mengen ab. Andere Bauern unterbrachen die Zugverbindung Paris-Marseille, und wieder andere brachten den Verkehr auf einer sUdfranzösischen Autobahn zum Erliegen. Rebellen gibt es also auch noch heute, allerdings sind sie zaghaft geworden, die Bauern.

182

Roland Girtler

II. Man kann von den alten Bauern lernen Im Netz der Globalisierung kann und darf es den Bauern in seiner traditionalen Echtheit bei uns nicht mehr geben. Und hierin liegt das große Dilemma. Von den alten Bauern könnte man einiges lernen. So die Kenntnisse um den alten Garten, die Behandlung des Viehs, dem noch natürliches, auf den Wiesen gewachsenes Futter verabreicht wird, die Muße des Fußmarsches und die Freude an der Nachbarschaft, also das Wissen, nicht alleine zu sein. Der heutige Bauer hat mit dem alten Bauern kaum noch etwas gemein. Er ist zum Manager geworden, ihm geht es um das Geschäft auf Kosten der Tiere und er ist an das Auto gebunden, er scheint das Gehen verlernt zu haben. Ich sprach mit meinem Freund Erwin, einem früheren Knecht und Bauern, über die alten und heutigen Bauern. Er meinte, man würde heute stets das Schlagwort von der "Nachhaltigkeit" im Munde ftlhren, aber damit will man bloß von den tatsächlichen Problemen ablenken. Dem heutigen Bauern sei die Ehrfurcht abhanden gekommen, die Ehrfurcht vor der Natur, dem Boden und dem Tier. Erwin, der alte Bauer und frühere Wildschütz, hat recht. Es wird heute viel gesündigt. Grausam ist die moderne Massentierhaltung, die jeder Ethik widerspricht. Zur Ehrfurcht gehört die Bescheidenheit. Ehrfurcht und Bescheidenheit können wir von den alten Bauern lernen. Bescheidenheit bezüglich des Konsums ist heute dringlich. Zwar widerspricht Bescheidenheit dem Grundsatz des wirtschaftlichen Wachstums und damit der Gewinnmaximierung, aber Bescheidenheit scheint notwendig in einer Welt, in der drauflos gekauft, konsumiert und weggeworfen wird. Müllberge sind Symbole dieserneuen Welt. In der echten bäuerlichen Kultur achtet man darauf, dass nicht wahllos weggeworfen wird. So auch noch bei den Landlerm. Socken, die ein Loch haben, werden von der Bäuerin noch kunstvoll gestopft, und ähnlich ist es mit kaputten Hosen und Hemden. Bei uns wandern ramponierte Sachen in den Müllcontainern. Man ist unbescheiden geworden, weil man alles kaufen kann und muss. Eine alte Kultur der echten Bauern ist bei uns verschwunden. In Siebenbürgen bei den Österreichischen Landlern gibt es sie noch, die echten Bauern. Ich habe viel gelernt bei ihnen. Und ich habe versucht herauszufinden, was den echten Bauern eigentlich ausmacht. Arbeit, Bescheidenheit und Disziplin bestimmen den Alltag der Bauern, aber auch Übermut, zu dem der heitere Umgang mit den Mädchen gehört, sowie fröhliche Feiern und Feste. Der echte Bauer ist kein Spezialist, z.B. filr Schweinezucht, und kein Manager im modernen Sinn. Der echte Bauer verfUgt über ein weites Wissen von Vieh und Getreideanbau und er weiß, bestmöglich mit der Natur zu leben.

Die alte Kultur der Bauern

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Eine tausendjährige Lebensweise ist mit der bäuerlichen Kultur verbunden. Die Schönheit eines Landes mit Wäldern, Weiden und Äckern hat der Bauer geschaffen. Ganz Europa und die ganze Welt könnte voll blühenden Lebens sein, wenn man Bauern mit ihrer Kraft in Ruhe gelassen hätte. In den Biobauern scheint eine echte Nachfolge der alten Bauern gegeben zu sein. Aber auch sie sind Spezialisten und auf den Markt hin orientiert. Mit dem echten Bauern, wie ich ihn verstehe, haben sie nur wenig gemein. Die Biobauern oder Ökobauern genießen hohen Respekt, sie nehmen an Zahl auch zu. Die alten Bauern kannten noch ein Treueverhältnis zwischen sich und dem Schöpfer. Ihnen war noch viel heilig, was heute missachtet wird. Sie wussten, dass es ein Gleichgewicht in der Natur gibt und das einzuhalten notwendig ist. Dieses Gleichgewicht ist gestört durch Chemisierung der Luft und die Erniedrigung des Tieres, denn heilig ist den Spezialisten der Agrokonzerne nichts mehr. An die alten Formen der Landwirtschaft, die ihren Zauber haben, ist anzuknüpfen, um sie im Sinne der heutigen Zeit zu verbessern. Altes Wissen und die Lilien am Feld, von denen der heilige Matthäus meint, dass nicht einmal König Salomon in seiner Pracht so geschmückt sei wie sie, seien zu achten. Bescheidenheit und Ehrfurcht tut not. Wir haben beides weitgehend verloren, aber in alten Bauemkulturen, wie jener der Landler in Siebenbürgen, finde ich sie noch.

Literatur Girtler, Roland: Sommergetreide- Vom Untergang der bäuerlichen Kultur, Wien 1996. -

Die Letzten der Verbannten (die Landler in Siebenbürgen), Wien 1997.

-

Wilderer- Rebellen der Berge, Wien 1998.

-

Echte Bauern- vom Zauber einer alten Kultur, Wien 2002.

Das Europäische Forum Alpbach als Wegbereiter einer Offenen Gesellschaft Von Heinrich Pfusterschmid-Hardtenstein Das Europäische Forum Alpbach 1 war seit seinen Anfängen im August 1945 von zwei Polen her angelegt: einem politisch-übernationalen, dem aktiven Handeln verpflichteten und einem mehr von der intellektuell-wissenschaft-lichen und kontemplativen Seite des Lebens bestimmten. Sie haben über fiinf Jahrzehnte hinweg wiederholt zu Spannungen dafiir aber auch zu sehr fruchtbaren Verschränkungen gefiihrt. War es zunächst die Aussöhnung der Völker nach einem der bittersten Kriege in Europa, die sowohl ein Eingehen auf die geistigen. Wurzeln der Verbrechen, als auch ganz konkrete Schritte der Neustrukturierung des Kontinents erforderte, so kamen später die weit darüber hinaus reichenden Folgen des gewaltigen Fortschrittes in Wissenschaft und Technik hinzu. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war Ausgangspunkt aller Politik im Inneren wie im Äußeren der souveräne Staat, so wie er sich parallel zur Aufklärung im Außenverhältnis seit Walter Grotius durch das Entstehen eines Völkerrechts entwickelt hatte. Alles Denken und politische Handeln sah in der Gemeinschaft der Nation und dem Staat als ihrem rationalen Organ das Instrument zum Schutz ihrer Angehörigen und zur Förderung von deren Wohl. Die vielfach damit einher gehende Abschließung gegenüber den anderen, hatte zu einer bedauerlichen weder der christlichen Religion noch den Ideen des griechisch-lateinischen Erbes oder der Aufklärung entsprechenden geistigen Verengung gefil.hrt und damit in letzter Konsequenz zu den Exzessen des totalitären Staates und der beiden Weltkriege. Das Streben nach Macht und Ansehen hatte die Offenheit der Gesellschaft gegenüber dem Neuen und Anderen ersetzt. Die Alpbacher Veranstaltungen waren daher das Bemühen, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. In den Diskussionen mit K. R. Popper, F.A. von Hayek2 1 Zur Geschichte des Forums siehe: Alexander Auer (Hrsg.): Das Forum Alpbach 1945-1994, Wien 1994. 2 Aus der umfangreichen Literatur sei nur auffolgende Werke der Autoren hingewiesen: Kar/ R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde BI und II A. Bem 1957 u.

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Heinrich Pfusterschmid-Hardtenstein

und vielen anderen Wissenschaftlern verbreitete sich von Alpbach aus in Österreich das Verständnis fiir die Voraussetzungen einer "Offenen Gesellschaft" und die Gefahren, die andere Formen der Gesellschaft fiir die Entfaltung des Individuums in sich bergen. Nach den Jahren der ideologischen Ausrichtung jedes Lehrens und Denkens, die im kontinentalen Europa unterstützt wurde durch eine Tradition der Lehre vom Katheder herunter, in der ein Wissender den zu bildenden und zu belehrenden seine kaum einen Widerspruch erlaubenden Erkenntnisse mitteilte, war die freie Lehr- und Lerngemeinschaft anglo-amerikanischer Tradition, wie sie nun in den Alpbacher Seminaren und Plenardiskussionen geübt wurde, ein befreiendes Erlebnis fiir junge Menschen, die meist sehr früh in ihrem Leben infolge der Kriegserlebnisse, politischen Verfolgungen und häufig dem Verlust ihrer Heimat neben ihrem nun mit Nachdruck betriebenem auf den Beruf vorbereitendem Studium auch grundsätzliche Fragen zur conditio humana an die Wissenschaften und an die älteren Generationen zu stellen hatten. In dem unglückseligen Vergangenheitsbewältigungswahn von heute- allein dieses Wortungetüm besagt bereits viel - wird häufig übersehen, daß gerade die Aufgeschlossenen der jungen Generation nach 1945 sich sehr wohl mit dem entsetzlichen Geschehen der hinter ihnen liegenden Jahre auseinandergesetzt haben. Die vielen fiirchterlichen, einen jeden belastenden Einzelerlebnisse mußten dazu nicht voyeuristisch ausgebreitet werden, denn sie blieben stets ein von allen erkannter Hintergrund allen Denkens. Nur so war es möglich, die Grundlage fUr eine offene Gesellschaft zu legen, denn ein ständiges gegenseitiges Aufrechnen dessen, was geschehen war, hätte einen Neuanfang innerhalb der Staaten unseres Kontinents und zwischen seinen Völkern unmöglich gemacht. Alpbach wurde damit in Österreich zu einem Zentrum unvoreingenommener, ernsthafter und vorwärts schauender Versuche, die Probleme der Jahre nach dem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch Europas zu bewältigen, denn wirklich bewältigen lassen sich bestenfalls die Probleme der Zeit in der man lebt. Das ist in der westlichen Welt durch eine friedvolle Periode von mehr als einem halben Jahrhundert eigentlich recht gut gelungen. Bemerkenswert ist, daß dabei die Medizin lange Zeit hindurch zu kurz zu kommen schien. Einzelne Vorträge, Seminare und Diskussionen im Plenum, geleitet von Autoritäten dieses vielleicht ältesten Fachgebietes der Menschheit, standen immer wieder im Programm, nicht jedoch als ein eigener Programmteil. Wie läßt sich dies erklären? Die Erklärung auf die Zeitnot der aktiv tätigen Mediziner oder auf die Medizin als eine dem Handeln in der Praxis verpflichtete Disziplin, oder gar auf mangelndes Interesse der Veranstalter abzuschie1958; Friedrich A. v. Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, ZUrich 1952 und Friedrich A. v. Hayek: The Constitution of Liberty, Chicago 1960.

Das Europäische Forum Alpbach als Wegbereiter einer Offenen Gesellschaft 187

ben, heißt gewiß zu kurz zu greifen. Ich sehe zwei wesentlich wirksamere Gründe: Je stärker eine Disziplin auftechnische Apparaturen und umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen angewiesen ist, um so schwieriger wird es, ihre Probleme und Antworten sinnvoll außerhalb von Spezialveranstaltungen zu behandeln. Alpbach legte jedoch stets großen Wert darauf, sich nicht auf das in anderen Zusammenhängen angebrachte, hier aber nicht angemessene Niveau von Volkshochschulen zu begeben. Der zweite Grund mag darin gelegen sein, daß gerade die Fragen der Volksgesundheit, die für eine Behandlung in Alpbach besonders in Frage kommen, lange Zeit im Wesentlichen eine rein nationale Angelegenheit und überdies häufig auch politisch belastet waren. Dies galt nicht nur im Hinblick auf die Bevölkerungspolitik als Basis für die Stärkung der Macht der Nation, sondern überhaupt in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Während der Gedanken- und Erfahrungsaustausch auf rein wissenschaftlicher Ebene schon lange florierte, beschränkten sich die Staaten auf den Austausch von Meldungen über Seuchen und gewisse Vorkehrungen für den Fall von Erkrankungen ihrer Staatsbürger im Ausland. Die Globalisierung setzte dann in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch im Gesundheitsbereich mit voller Macht ein. Es ging von da an nicht mehr nur um den Arzt und seine Patienten, sondern um neue Seuchen, wie Aids, um die grenzüberschreitende Technik im Medizinbereich, wie zum Beispiel in Operationen mit Ärzten, die viele tausend Kilometer voneinander entfernt sind, die erst durch die modernen Kommunikationsmittel möglich gemacht wurden, oder um die Kostenexplosion moderner Medizintechnik und neuerdings zunehmend um die Probleme der Medizin für immer älter werdende Generationen. Dabei handelt es sich um Probleme, die weit über die jeweiligen Grenzen der Fakultäten und Einzelwissenschaften von einst hinaus reichen. Allein die vorauszusetzenden technischen Kenntnisse und Apparaturen sowie die große Zahl von Forschern und Zentren der Forschung erschwerten zunächst den Überblick und damit auch die Möglichkeit, Diskussionen im gewohnten Rahmen zu fUhren. Diese Entwicklung erfaßte auch seit 1995 das Programm des Europäischen Forum Alpbach. In diesem Jahr wurde erstmals ein eigenes Gesundheitsgespräch veranstaltet. Im Jahr darauf kam es geradezu zu einer Schwerpunktbildung rund um Gesundheit und Medizin unter dem Generalthema: " Das Normale und das Pathologische- Was ist gesund?" Eine Reihe von Seminaren zu den Themen: "Mikroben- Gefahr und/oder Chance", "Menschenleben in Menschenhand- Ethische Konflikte", "Die Anwendung von Molekularmedizin und· Ethik" sowie "Schulmedizin - Psychosomatik - Komplementärmedizin" fanden 1996 ihren Abschluß im Gesundheitsgespräch über "Die Beziehung zwischen Arzt und Patient, ein Problem für Gesellschaft und Recht". 1997 befaßte man sich mit: "Tausend Krankheiten- Eine Gesundheit? Multimorbidität als Aufgabe". 1998 folgte "Einer fllr Alle - Alle filr Einen, Eigenverantwortung Subsidiarität - Solidarität: Leitlinien des Gesundheitswesens der Zukunft".

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Heinrich Pfusterschmid-Hardtenstein

1999 schließlich lautete das Thema des Gesundheitsgesprächs "Selbst- oder Fremdbestimmung im Gesundheitswesen?" 3

In diesen Themen kommen die drei Elemente zum Ausdruck, die das Leben des menschlichen Individuums bestimmen: die von der Natur gegebenen physischen Voraussetzungen, die Einbettung des Einzelnen in die Gesellschaft, sowie das, was er durch seine Entscheidungen daraus macht. Das Verhältnis dieser drei zueinander ist einem ständigen Wandel unterworfen. Allerdings wäre ein Gleichgewicht zwischen ihnen stets erforderlich. Die gewaltigen Ergebnisse der Naturwissenschaften einerseits und das damit verbundene zunehmende Vertrauen in die Steuerungsmöglichkeiten der Lebensverhältnisse durch Wissenschaft und Technik hatten jedoch weithin dazu gefiihrt, die Stellung des Individuums in der Gesellschaft in mechanistischer Weise zu betrachten. Wie eine Maschine sollte sie gestaltet und bedient werden. Diese Einstellung erreichte ihren Höhepunkt in den Versuchen, sie zum Wohle der Menschen zentral zu planen. Der Kollektivismus sozialistisch- kommunistisch regierter Staaten, wie der Sowjetunion, dem maoistischen China sowie deren Satelliten endete ebenso wie der Versuch des Nationalsozialismus, die Menschen nach Prinzipien rassischer Selektion und vorfabrizierter Weltanschaung einheitlich zu formen und zu führen in den entsetzlichsten Katastrophen der Geschichte Europas. Dadurch ernüchtert, wendete man sich nach Kriegsende einem Muster der Gesellschaft zu, in dem der Mensch durch Anerkennung von Menschenrechten und durch demokratisch-parlamentarische Verfahren zu einem hohen Maß an Selbstbestimmung gelangte. Das Ende des Jahrhunderts sah in der allgemeinen Annahme des Prinzips einer freien Marktwirtschaft auch in der Wirtschaft die Verlagerung des Schwerpunktes der Lebensgestaltung zum Individuum. Die Folge war in der westlichen demokratischen Industriegesellschaft eine bis dahin noch nie erlebte, über 50 Jahre währende Friedenszone mit einer ebenfalls unvergleichlichen, nahezu linearen Mehrung des Wohlstands. Die offene Gesellschaft schien ein Paradies auf Erden zu bescheren. Nach und nach machte sich jedoch bemerkbar, daß auch ein solches System nicht vollkommen sein kann und durch die Hybris der Erfolgreichen ausgehöhlt zu 3 Heinrich Pfusterschmid-Hardtenstein (Hrsg.): Das Ganze und seine Teile, Europäisches Forum Alpbach 1995, Wien 1996; Heinrich Pfusterschmid-Hardtenstein (Hrsg.): · Das Normale und das Pathologische - Was ist gesund? Europäisches Forum Alpbach 1996, Wien 1997; Heinrich Pfusterschmid-Hardtenstein (Hrsg.): Wissen wozu? Erbe und Zukunft der Erziehung, Europäisches Forum Alpbach 1997, Wien 1998; Heinrich Pfusterschmid-Hardtenstein (Hrsg.): Einer fllr Alle- Alle fllr Einen? Eigenverantwortung - Subsidiarität - Solidarität: Leitlinien des Gesundheitswesen der Zukunft, Europäisches Forum Alpbach 1998, Wien 1999; Heinrich Pfusterschmid-Hardtenstein (Hrsg.): Selbst- oder Fremdbestimmung im Gesundheitswesen? Europäisches Forum Alpbach 1999, Wien 2000.

Das Europäische Forum Alpbach als Wegbereiter einer Offenen Gesellschaft

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werden droht, denn das Funktionieren einer offenen Gesellschaft baut auf Voraussetzungen. Es kann auf Dauer nur bestehen, wenn der einzelne Mensch sich Regeln verpflichtet fühlt, in denen ohne ständige Intervention von übergeordneten Autoritäten die Interessen der Mitbürger und der Gesellschaft insgesamt Berücksichtigung finden. Letztendlich beruht das Wohlergehen einer Gesellschaft aufunendlich vielen Einzelentscheidungen, die von einem Grundkonsens über die zu berücksichtigenden Werte getragen sein müssen. Max Weber4 und andere bedeutende Vertreter der Gesellschaftswissenschaften haben bereits zu Beginn des vergangeneo Jahrhunderts auf die enge Verbindung zwischen dem Vorhandensein dieses ethischen Grundkonsenses und einer auf Wettbewerb und Kapitalbildung beruhenden Wirtschaft hingewiesen. Sie konnten sich dabei auch auf die Ansichten von jenen Philosophen und Nationalökonomen berufen, die wie Adam Smith oder John Stuart Mill den Weg für die offene Gesellschaft bereitet hatten. Die in den letzten Jahren in Alpbach geführten Diskussionen haben entsprechend der allgemeinen Entwicklung gezeigt, daß ein absolut verstandener und gelebter Individualismus zu neuen Konflikten führt und der Gesellschaft angesichts von nicht mehr zu bewältigenden Einzelinteressen ein Infarkt droht. Rücksichtslos und nur am monetären Erfolg ausgerichteter Wettbewerb beginnt die wirtschaftlichen Erfolge ebenso in Gefahr zu bringen wie eine politische Einstellung, die rücksichtslos alle Möglichkeiten der Institutionen und ihrer rechtlichen Verfassung nur zum eigenen Nutzen und auf Kosten der Mitbürger ausnützt. Die Lebensverhältnisse werden für den normalen Menschen unübersichtlich und nicht mehr zu beherrschen. Die Aggressionen nehmen daher zu und mit der Gesellschaft erkrankt auch der einzelne Bürger psychisch und physisch. Man denke nur an die Folgen eines ausufernden Straßenverkehrs, die Umweltbelastung durch den Konsumdruck und die vielen dabei verursachten Allergien und Depressionen. In diese Situation platzen mit aller Gewalt neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Konstitution des Menschen und damit verbunden die Möglichkeit sie zu manipulieren: die Biologie der Gene und die sich dabei abzeichnende Möglichkeit einer gezielten Reproduktion der Menschheit. Ein Gebiet, ftlr das es bisher keine auf Tradition und Erfahrung beruhende Ethik gibt, und in dem selbst die großen Religionsgemeinschaften noch über keine übereinstimmenden Antworten verftlgen. Es ist daher auch nicht erstaunlich, daß sich selbst die Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft in einer Sinnkrise befindet.5

Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1976. Friso D. Heyt: Zweifeln an der Soziologie, in: "Die Presse" vom 16./17. Februar 2002. 4

5

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Die Menschheit steht somit vor einem neuen Abschnitt ihrer langen Geschichte. Es ist daher nötig, über Einrichtungen zu verfllgen, die eine auf Fakten, Erfahrungen und sie verarbeitende rationale Denkweisen beruhende Diskussion ermöglichen. Nur in einer Atmosphäre, wie sie sich in Alpbach in fllnf Jahrzehnten herausgebildet hat, lassen sich Ansichten und ein Verständnis, fllr das was gut oder verwerflich ist entwickeln, aus denen ein gesellschaftlicher Grundkonsens tlir die Zukunft entstehen kann. Klaus Zapototzky hat seit vielen Jahren eifrig und unermüdlich an diesen Bestrebungen mitgewirkt. Zunächst als einer der Mitveranstalter der Alpbacher Dialogkongresse, in denen die Zusammenarbeit zwischen Westeuropa und jeweils einem anderen Teil der Welt (Lateinamerika, Schwarzafrika, Indien u.a) in Politik, Wirtschaft und Kultur im Mittelpunkt stand, und dann, indem er zusammen mit dem Schweizer Universitätsprofessor Peter Atteslander die Gesundheitsgespräche entwickelt und organisiert hat. Durch seine ein weites Feld der Gesellschafts- und Rechtswissenschaften deckenden Kenntnisse und Interessen hat er in eine an Tradition reiche Institution wesentliche neue Aspekte einbringen können.

Literatur Auer. Alexander (Hrsg.): Das Forum Alpbach 1945-1994, Wien 1994. Hayek, Friedrich A. v.: Der Weg zur Knechtschaft, Zürich 1952. - The Constitution ofLiberty, Chicago 1960.

Heyt, Friso D.: Zweifeln an der Soziologie, in:" Die Presse" vom 16./17. Februar 2002. Pfusterschmid-Hardtenstein, Heinrich (Hrsg.): Das Ganze und seine Teile, Europäisches Forum Alpbach 1995, Wien 1996.- Das Normale und das Pathologische - Was ist gesund? Europäisches Forum Alpbach 1996, Wien 1997. -

Einer ftlr Alle - Alle ftlr Einen? Eigenverantwortung - Subsidiarität - Solidarität: Leitlinien des Gesundheitswesen der Zukunft, Europäisches Forum Alpbach 1998, Wien 1999.

-

Selbst- oder Fremdbestimmung im Gesundheitswesen? Europäisches Forum Alpbach 1999, Wien 2000.

-

Wissen wozu? Erbe und Zukunft der Erziehung, Europäisches Forum Alpbach 1997, Wien 1998.

Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, BI und II A., Bem 1957 u. 1958. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1976.

Globalisierung: Bedenklich und notwendig zugleich Soziologische Überlegungen zu einem kontroversen Disput Von Heinz Holley

I. Hilfreiche Fragen zur Klärung Der Begriff der Globalisierung ist vor etwas mehr als einer Dekade als Schlagwort aufgetaucht, welches in zahlreichen, zum Teil sehr heftigen und kontroversiellen Diskussionen in den Mund genommen wurde. In Debatten mit ökonomischem, politischem, kulturellem und auch wissenschaftlichem Hintergrund wurde das Phänomen der Globalisierung ebenso thematisiert, wie im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Olympiaden, Weltmeisterschaften und verschiedenen Sportdisziplinen oder den Wahlen zur Miss World. Der inflationäre Gebrauch der BeifUgung "global" oder des Begriffes Globalisierung hat jedoch nicht unbedingt zu einer Klärung beigetragen. Global wichtig schien nun vieles zu sein, was vorher nicht oder bloß aus lokaler Perspektive gesehen wurde. Und so manche globale Veränderung, welche die einen als wünschenswert erachteten, empfanden die anderen als Bedrohung, gegen die es anzukämpfen galt. Globalisierung: bloß ein anderes (Mode)Wort fiir die Auseinandersetzung zwischen dem Davos-man und dem Seattle-man, wie die Kontroverse zwischen Befilrwortern und Gegnern des so genannten neoliberalen Wirtschaftskonzepts in den Medien benannt wurde oder Sammelbegriff filr komplexe ökonomische, gesellschaftliche, kulturelle und politische Transformationsprozesse, welche weltweit im Gange sind? Schlagwörter haben tatsächlich die Eigenschaft, dass sie mehr erschlagen als zur Erhellung beitragen. Und auch griffige Punzierungen oder vereinfachende Darstellungen, wie sie Medienberichterstattern einfallen, sind eigentlich ungeeignet, um Hintergründe und Zusammenhänge des Globalisierungsphänomens aufzuzeigen. Weder die Teilnehmer am Weltwirtschaftsgipfel in Davos noch die Demonstranten gegen die Konferenz der WTO in Seattle stellen eine globale Repräsentanz der Weltbevölkerung, weder hinsichtlich ihrer Herkunft noch hinsichtlich ihrer Interessen dar.

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Heinz Holley

Um die Bedeutung und die lokalen wie globalen Auswirkungen jenes weltweiten Veränderungsprozesses, der allgemein und oft nicht hinterfragt mit Globalisierung bezeichnet wird, richtig einschätzen zu können, sind zunächst einige wichtige Fragen zu stellen: •

Was versteht man überhaupt unter Globalisierung? Was meint man, wenn sich etwas global ausbreitet oder ausbreiten soll?



Seit wann gibt es den Prozess, und welche Zielpunkte stehen auf dieser Globalisierungsagenda? Mit anderen Worten gefragt: welches Wirtschaftsund Gesellschaftsmodell, welche kulturelle Orientierung sollen dabei global, also weltweit durchgesetzt werden?



Wer sind die Akteure in diesem weltweiten Veränderungsprozess und welche Motive und Interessen sind dabei jeweils im Spiel?



Wer hat Interesse am Prozess der Globalisierung und welche Motivationen stehen dahinter?



Was sind die Auswirkungen, was die sozialen, kulturellen und ökologischen Kosten dieses Transformationsprozesses, welcher in Anspruch nimmt, den gesamten Globus zu erreichen?



Was die ökologische Dimension der Globalisierung betrifft, ist ernsthaft auch danach zu fragen, wieviel Globalisierung der Planet Erde überhaupt vertragen kann.



Und schließlich: gibt es globale Strukturen zur Förderung bzw. zur Kontrolle dieses weltweiten Transformationsprozesses?



Welche Denkmodelle und Verhaltensweisen sind notwendig, um auf die Herausforderungen der Globalisierung adäquat zu reagieren?

Selbstverständlich können die hier aufgeworfenen Fragen im Rahmen dieses Beitrags nicht im Detail beantwortet werden. Die Intention dieses Beitrags ist nicht die, gültige Antworten auf Fragwürdiges zur Globalisierung anzuliefern, sondern bedenkliches zum Thema aus verschiedenen Gesichtspunkten in die Diskussion einzubringen.

II. Globalisierung kein neues Phänomen Globalisierung wird von Beftlrwortern wie auch Gegnern meist als ein Novum im Weltentwicklungsprozess gesehen, der je nach Standort als Chance oder Bedrohung gesehen wird. Was den Zeitpunkt des Globalisierungsbeginns angeht, so sind in der Literatur je nach Globalisierungsverständnis unterschiedliche Zeiten

Globalisierung: Bedenklich und notwendig zugleich

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angefilhrt, wenngleich auch hier jene Vertreter überwiegen, die das Phänomen der Globalisierung eher in einem jüngeren weltgeschichtlichen Kontext ansiedeln. Francis Fukujama, OS-Amerikaner mit japanischer Herkunft, bringt beispielsweise den Beginn der Globalisierung mit dem Ende des Kommunismus in Zusammenhang, da nach seiner sehr vereinfachenden Interpretation der Hegeischen Geschichtsphilosophie nun der Menschheit - am Ende der Geschichte angekommen - außer kapitalistischer Wirtschaft und liberaler Demokratie keine Alternative mehr zur Verfilgung stünde 1• Andere Autoren machen hier eine kleine zeitliche Zugabe, indem sie darauf verweisen, dass bereits in den 70er Jahren Milton Friedman und andere Ökonomen jenen Paradigmenwechsel vorbereitet haben, der sich in weiterer Folge durch Ausbreitung von Reagonomics und Thatcherismus auch in der (wirtschafts)politischen Praxis des damaligen "Westens" durchgesetzt hat, während das planwirtschaftliche Modell des realen Sozialismus im ehemaligen Ostblock seinem Ende entgegen ging. Wer Globalisierung mit der Entwicklung und weltweiten Ausbreitung des Internet im letzten Jahrzehnt in Verbindung bringt, verweist dabei berechtigt auf die wichtige Dimension wissenschaftlicher und technischer Innovationen und deren Einfluss auf die globale Weltentwicklung. Jene, die Globalisierung zeitlich erst mit der Vernetzung der Welt durch das Internet begreifen wollen sind daran zu erinnern, dass schon viel früher, nämlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Verlegung von Tiefseekabeln fiir die transkontinentale Telefonie ein Globalisierungsvorgang von außerordentlicher Tragweite stattfand2 • In einer weltgeschichtlichen Retrospektive zur Globalisierung wird man schließlich auch nicht umhin können, das Faktum der Eroberung Amerikas durch Christoph Columbus und in weiterer Folge den Prozess der Kolonialisierung anzufiihren, womit der Globalisierungsprozess nochmals älter wird, als ursprünglich von vielen vermutet. 3 Zusammenfassend könnte man sagen, dass die Globalisierung kein neues Kennzeichen der Weltentwicklung darstellt, sondern im Grunde genommen ein relativ altes und weltgeschichtlich wiederkehrendes Phänomen ist, welches heute mit Globalisierung "etikettiert" wird. Globalisierung tritt dabei in verschiedener Form auf. Einmal als stille Globalisierung im Sinne einer weltweiten Ausbreitung von Ideen, Kulturtechniken, aber auch Wertorientierungen, die sich prozesshaft und in friedlichem Austausch von Kulturen ergibt. Diese stille

1

Francis Fukuyama: The End of History- The Last Man, New York 1992.

Vgl. J. B. Thompson.: Die Globalisierung der Kommunikation, in: Deutsche Zeitschrift filr Philosophie, Berlin, 45/1997, S. 881-894. 2

3 Vgl. Hanspeter Mattes: Wider den kulturellen Kreuzzug des Westens, in: Orient Journal, 112000, S. 10.

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Heinz Holley

Globalisierung ist durch hohe Akzeptanz ausgezeichnet und wird von den Menschen meist erst im Nachhinein registriert, dass sie stattgefunden hat. Neben dieser stillen oder sanften Globalisierung gab und gibt es auch immer Globalisierungsschübe mit unterschiedlicher Intensität, inhaltlicher Charakteristik und Ausbreitungsrichtungen. Solche Globalisierungsschübe ereignen sich vor allem dann, wenn gleichzeitig verschiedene Veränderungspotentiale (z.B. technische Innovationen, wirtschaftliche und politische Interessen, kulturelle Ansprüche oder Krisen, etc.) gleichzeitig wirksam und von Interessensgruppen bewusst forciert werden. Solche Globalisierungsschübe werden in den jeweiligen Gesellschaften deutlicher wahrgenommen, und es entstehen öffentliche Dispute zwischen jenen Akteuren im Globalisierungsprozess, die sich durch diese Veränderungen Vorteile erwarten und jenen Teilen der Bevölkerung, die sich in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage und/oder ihrer kulturellen Identität bedroht sehen. Es besteht kein Zweifel, dass wir derzeit weltweit (wenngleich in unterschiedlicher Betroffenheit und Intensität) einen solchen Globalisierungsschub erleben. Bei allem Engagement ftir eine gedeihliche Weltentwicklung gilt es, diesen Globalisierungsschub in Hinblick auf seine Gefahren aber auch Chancen nüchtern zu analysieren.

111. Globalisierung: Ein schiefer Prozess Der Blick sowohl auf geschichtliche Fälle von Globalisierung als auch auf die gegenwärtige Weltsituation läßt deutlich erkennen, dass Globalisierung kein Prozess war und ist, zu dem die Nationen und Kulturen dieser Welt gemäß ihrer Größe und Bedeutung in anteiliger Weise beitragen konnten oder gegenwärtig beitragen können. Globalisierung war in der Vergangenheit und ist auch in der Gegenwart ein Vorgang, bei dem das globale Zentrum den Peripherien die "Spielregeln" diktiert. Nicht die Kolonialisierten haben nach den Kolonialmächten gerufen, sondern die damaligen "global players" haben sich die Welt aufgeteilt und die Weltordnung definiert. Die Globalisierung ist in ihrer geschichtlichen Dimension vor allem als Ausbreitungsprozess der Modeme seit der Konquista 1492 zu sehen. Der globale Expansionsprozess der Modeme ging einher mit der Zerstörung der sozialen und kulturellen Identität der eroberten nicht-europäischen Gesellschaften. Enrique Dussel hat in diesem Zusammenhang zurecht darauf verwiesen, dass sichjede Kultur in gewisser Weise ethnozentrisch ist. Dieser Ethnozentrismus war nach Dussel bis 1492 jedoch immer nur regional und provinziell. Erst der europäische Ethnozentrismus war "der erste planetarische Ethnozentrismus mit universalem Anspruch. Dieser Eurozentrismus ist der Anspruch, den anderen partikularen Kulturen die eigene Partikularität von Europa aufzuzwingen. Es handelt sich also um eine Partikula-

Globalisierung: Bedenklich und notwendig zugleich

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rität, die einen universellen Anspruch erhebt." 4 Wir wissen aus den Fakten der Geschichte über die enormen sozialen und kulturellen Schäden, die dadurch anderen, nicht-europäischen Gesellschaften zugefUgt worden sind. Trotz dieser geschichtlichen Erfahrungen scheint es so zu sein, dass auch beim gegenwärtigen Globalisierungsschub dem Rest der Welt eine Partikularkultur aufgezwungen wird. Globalisierung wird heute von vielen als globaler Ausbreitungsprozess des "American Way of Life", einschließlich seiner ökonomischen Rahmenvorgaben (Dominanz von Markt und Kapital, Shareholder-Orientierung, Infragestellung der Gemeinwohlkompetenz des Staates etc.) als förderungswürdig gedacht oder als Bedrohung empfunden. Der Amerikanische Sozialphilosoph Roy Weatherford bezeichnete tatsächlich die amerikanische Gesellschaft und Kultur als Nukleus einer sich herausbildenden einheitlichen Weltgesellschaft und Weltkultur, in der Partikularkulturen überflüssig werden, weil das beste aus ihnen in die Weltkultur eingegangen ist. 3 Mit anderen Worten und auf eine aktuelle Diskussion bezugnehmend könnte man sagen, dass ein solches Verständnis von Weltentwicklung von einer amerikanischen Leitkultur ausgeht, welche sich letztlich global als Weltkultur durchsetzen soll. Eine solche Schiefe Optik von Globalisierung wird vermutlich eher dazu beitragen, dass sich in den verschiedensten Kulturregionen der Welt bei aller Attraktivität einzelner Aspekte des American Way of Life oder überhaupt der westlichen Werte und Lebensweise massive Widerstandsbewegungen formieren. So manche Protestbewegung gegen das Überhandnehmen westlicher Orientierungen und Lebensweisen in islamischen Gesellschaften, die oft vorschnell mit Fundamentalismus in Zusammenhang gebracht wird, ist aus der Sorge um die bedrohte eigene kulturelle Identität entstanden. Die Proteste französischer Bauern und Gastronomen gegen amerikanische Fastfood-Ketten, die immer lauter werdende Kritik europäischer Filmschaffender gegen die Dominanz der Filmindustrie Hollywoods sind im Grunde genommen aus der gleichen Sorge entstanden. Im gesellschaftlichen Phänomen der Globalisierung kommt auch die uralte Frage des Verhältnisses zwischen dem Eigenen und dem Fremden zum Ausdruck: Mit Sicherheit verläuft Globalisierung immer dann schief, und ist dadurch letztlich filr den lokalen wie globalen Frieden kontraproduktiv, wenn entweder das Eigene oder das Fremde gefllhrdet wird. Wer meint, nur das Eigene globalisieren zu können, verkennt, dass es auch das Fremde ist, das mir hilft, meine Eigenheit, meine Identität zu sehen und zu begreifen.

4 E. Dussel: Das andere Gesicht der Modeme, in: Heinz Holley/Kiaus Zapotoczky: Die Entdeckung der Eroberung - Reflexionen zum Gedenkjahr 500 Jahre Lateinamerika Linzer Schriftenreihe filr Entwicklungszusammenarbeit, Band 1, Linz 1993, S. 99100.

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R. Weatherford: World Peace and the Human Family, New York 1993, S. 116.

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Globalisierung beinhaltet in keiner Weise die Notwendigkeit, dass sich eine Regionalkultur letztlich als Weltkultur durchsetzen müsse. Der kulturelle Reichtum der Menschheit liegt gerade in seiner Vielfalt, und das Ziel eines Globalisierungsprozesses kann nicht darin liegen, diesen globalen Reichtum zu vernichten. Eine wirklich globale Denkweise müsste vielmehr darum bemüht sein, durch regionale, nationale und internationale Initiativen dieses gemeinsame "Weltkulturerbe" zu schützen. Nicht Einfalt fiir alle, sondern die Möglichkeit fiir alle, sich in diese Vielfalt einzubringen und umgekehrt auch an dieser Vielfalt zu partizipieren, wäre daher ein wichtiges Globalisierungsziel.

IV. Globalisierung: eingeengt und ökonomistisch verkürzt Analysiert man die Einzelthemen, die mit Globalisierung in Zusammenhang gebracht werden, so fiillt auf, dass sowohl in den öffentlichen Disputen und wissenschaftlichen Diskursen, wie auch in der allgemeinen Wahrnehmung die ökonomischen Aspekte im Vordergrund stehen. Firmen und selbst ganze Nationen sind geschäftig dabei, sich neu zu positionieren, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Die Mächtigkeit der Weltmärkte, an die man sich anzupassen hat, wird dabei auch gerne als Argument angefiihrt, wenn es darum geht, den Abbau von Arbeitsplätzen, den Transfer von Produktionsstätten, spekulative Finanztransaktionen oder die Reduktion von Sozialleistungen "entschuldigend" zu begründen. Fast scheint es so, als ob mit dem Begriff der Globalisierung ein Mythos in die Welt gesetzt wurde, dem sich letztlich alles unterzuordnen hätte. Diese einseitige und ökonomistisch verkürzte Globalisierungspraxis wird nicht bloß von engagierten Globalisierungsgegnern beklagt, sondern selbst von "Insidern" wie George Soros, welcher sogar in seinem Aufsatz "Die kapitalistische Bedrohung" die Auffassung vertrat, dass jene, die an die Unfehlbarkeit des westlichen kapitalistischen Systems glauben, im Grunde genommen totalitär wären. 6 Ähnlich scharf auch die Ablehnung von einseitig wirtschaftlich orientierten Globalisierungsstrategien durch den international angesehenen Zeithistoriker Paul Kennedy, welcher meint, dass es geradezu atemberaubend naiv wäre, die anstehenden demographischen, ökologischen und regionalen Probleme dieses Planeten dadurch lösen zu wollen, indem man bloß den selbstregulierenden Kräften des Marktes, der Wirksamkeit globaler Finanztransaktionen und der Durchdringungskraft des Fernsehens vertraut. 7

6 G. Soros: Die kapitalistische Bedrohung- Hemmungsloser Wirtschaftsliberalismus gefllhrdet die offene Gesellschaft, in: Der Standard, 17. Jänner 1997. 7 Paul Kennedy: In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1996, S. 75.

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V. Geordnete Globalisierung als Notwendigkeit Es gibt mittlerweile viele empirische Hinweise dafiir, dass eine einseitige und ökonomistisch verkürzte Forcierung der Globalisierung mehr Probleme schaffi, als sie einer wirklich gedeihlichen Weltentwicklung dient. Wenn es beispielsweise fiir den Bereich internationaler Finanztransaktionen keine global wirksame Ordnung mit Sanktionsmöglichkeiten gibt, darf es nicht wundern, wenn mit Globalisierung ein spekulativer "Casino-Kapitalismus" assoziiert wird. Tatsächlich hat sich gegenwärtig im so genannten Zeitalter der Globalisierung nicht nur die Kluft zwischen den armen und reichen Ländern dieser Welt vergrößert, sondern es hat auch das Sozialgefli11e innerhalb vieler Staaten im Industrie- und Entwicklungsländern zugenommen. Ein wesentliches Charakteristikum der gegenwärtigen Weltentwicklung ist, dass der Prozess der Globalisierung in vielen Bereichen sozusagen wildwüchsig voranschreitet und genau dadurch eine Fülle von Problemen generiert. Globalisierung im Sinne eines Zusammenwachsens und einer zunehmenden Vernetzung der Regionen dieser Welt ist eine unaufhaltbare Entwicklung. Es geht daher nicht um die Frage, ob Globalisierung beftlrwortet oder abgelehnt werden so11, sondern um die Schaffung von Bedingungen, damit dieser globale Transformationsprozess nicht dominant einer zum Selbstzweck verkommenen ökonomischen Logik folgt, oder ausschließlich den Orientierungen einer Partikularkultur entspricht, sondern wieder mehr die soziale, kultureHe und ökologische Verträglichkeit in den Mittelpunkt rückt. Die bipolare Welt aus der Zeit des kalten Krieges mit ihren alten Ordnungsmustern ist zusammengebrochen. Trotz aller Homogenisierungstendenzen durch die Globalisierung ist die Welt mittlerweile polyzentrisch geworden, und es ist zur Zeit noch keine neue Ordnung ftlr diese veränderte Welt in Sicht, wenn man von einzelnen Bemühungen und zukunftsweisenden Ansätzen absieht. Globalisierung verlangt nach Gestaltung und Strukturierung. Vor a11em in einer sich rasch verändernden Welt sind fiir die Menschen Orientierungen und Grundgewissheiten wichtig. Globalisierung ohne Regeln, Schutzmechanismen und auch Sanktionsmöglichkeiten im nationalen wie internationalen Bereich verkommt zu anomischen Wildwuchs, der sich in weiterer Folge beispielsweise im Entstehen von nationalistischen Tendenzen, fundamentalistischen Bewegungen und der Destabilisierung ganzer Regionen äußert. 8

8 Siehe Heinz Holley: Globalization and Social Anomie - Problems and Chances on the Way to a New World Order, in: Swiss Institute for Development (Hrsg.): SID Working Paper 3/2000.

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Die Sorge um eine friedliche und prosperierende Weltentwicklung, insbesondere die Durchsetzung einer geordneten Globalisierung kann weder von den USA als übriggebliebener Weltmacht, den G7- oder G8-Staaten oder dem Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen bewerkstelligt werden. Der fortschreitende Prozess der Globalisierung macht deutlich, dass zur Bewältigung der anstehenden globalen Herausforderungen eine trag- und umsetzungsflihige "Global Governance-Architektur" geschaffen werden muss. Nur durch eine neue Weltordnungspolitik, in der internationale Institutionen, Regierungen und Regionen ebenso eingebunden sind, wie multinationale Konzerne, NGO's, Vertreter der Zivilgesellschaft und Religionsgemeinschaften, kann ein Globalisierungsprozess in geordneten Bahnen ermöglicht, gefOrdert und eingefordert werden. Globalisierung zu bewältigen heißt schließlich auch, nicht wie von Huntington vorgeschlagen, ideell und materiell fUr einen "Ciash of Cultures"9 zu rüsten, sondern kulturelles Verstehen und interkulturelle Kommunikation durch Schaffung von Bewegungsräumen und Foren des globalen Dialogs zu fördern.

Literatur Dussel, E.: Das andere Gesicht der Moderne, in: Holley, Heinz I Zapotoczky, Klaus: Die Entdeckung der Eroberung - Reflexionen zum Gedenkjahr 500 Jahre Lateinamerika Linzer Schriftenreihe für Entwicklungszusammenarbeit, Band I, Linz 1993, S. 99-100. Fukuyama, Francis: The End of History- The Last Man, New York 1992. Holley, Heinz: Globalization and Social Anomie- Problems and Chances on the Way to a New World Order, in: Swiss Institute for Development (Hrsg.): SID Working Paper 3/2000. Huntington, Samuel P.: The Clash ofCultures, in: Foreign Affairs, Volume 72, No. 3, S. 40. Kennedy, Paul: In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1996, S. 75. Mattes, Hanspeter: Wider den kulturellen Kreuzzug des Westens, in: Orient Journal, 1/2000, s. 10. Soros, George: Die kapitalistische Bedrohung - Hemmungsloser Wirtschaftsliberalismus geflihrdet die offene Gesellschaft, in: Der Standard, 17. Jänner 1997. Thompson, J. B.: Die Globalisierung der Kommunikation, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin, 45/1997, S. 881-894. Weatherford, R.: World Peace and the Human Family, New York 1993.

9

Samuel P. Huntington: The Clash ofCultures, in: Foreign Affairs, Volume 72, No.

3, s. 40.

Fünfter Teil

Gesundheitswissenschaft als gesellschaftliche Herausforderung

Medizin-Wissenschaft um der Menschen willen Von Meinrad Peterlik Die Medizin ist ins Gerede gekommen - und das nicht erst seit gestern. Es scheint, daß wir in dem Maß, in dem wir uns gewöhnt haben, den Erkenntnisund Wissensfortschritt der medizinischen Forschung und klinischen Praxis als selbstverständlich anzunehmen und zu beanspruchen, die Basis all dessen, nämlich die Medizin als Wissenschaft und - wie noch auszufUhren sein wird als Wissenschaftspraxis grundlegend in Zweifel zu ziehen. Es spielt hier sicher ein in vielen Gesellschaftsschichten, aber gerade auch bei Gebildeten, anzutreffender Verdrängungsmechanismus eine Rolle, der bewirkt, daß man sich aus einer Welt, deren Rationalität man nicht mehr zu durchschauen und immer weniger zu erkennen vermag, zurückzieht und Zuflucht sucht bei alternativen Heilslehren und Privatoffenbarungen, deren abstruse Erklärungen der Welt, des Menschen und seiner Befindlichkeit auch aus intellektueller Bequemlichkeit kritiklos übernommen werden. Übrig bleibt - und das bezieht sich nicht nur auf die Einstellungen zur Medizin, sondern zu vielen gesellschaftlichen und politischen Problemen - das Verharren in pseudointellektuellen Kritikritualen, das letztlich zur Diskursverweigerung fUhren muß. Da Medizin mit der Befindlichkeit und Betroffenheit der Menschen nicht nur zu tun hat, sondern diese auch hervorruft, macht sich jeder notwendigerweise ein eigenes Bild von der Medizin. Doch nicht nur mit Begriffen, auch mit Bildern läßt sich trefflich streiten, besonders dann, wenn beide möglichst verschwommen sind. Solange die Anwendung medizinischen Wissens ftlr die Ausübung der Heilkunst auf die klassische Arzt-Patienten-Beziehung beschränkt war, gab es ein öffentliches Gesundheitssystem, wenn überhaupt, nur in Ansätzen, und die Bemühungen der Ärzte, mit einfachen Mitteln und Eingriffen, Leid zu lindern und Krankheiten abzuwenden, wurden insgesamt dankbar und wahrscheinlich unterwürfig wahrgenommen - anders hätte sich das Bild der "Götter in Weiß" wohl nicht entwickeln können. Heute ist Medizin nicht nur die Grundlage sondern ein wesentlicher Bestandteil der öffentlichen und privaten Gesundheitsvorsorge und Gesund(heits)erhaltung geworden. Medizin ist nicht mehr als isoliertes Systemfeld zu begreifen, nicht mehr als Ursa-

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ehe menschlichen Bemühens, sondern - überspitzt formuliert - nur mehr als eine gesellschaftliche Hervorbringung, in die Ärzteausbildung, Facharztausbil~ dung, Fortbildung, Ärztekammer, Spitalswesen, Kranken~ und Sozialversiche~ rung, Rehabilitation, Apotheker, pharmazeutische Industrie und seit neuestem in Österreich auch eigene Medizinuniversitäten involviert sind. Es ist nicht ganz einfach, in diesem Beziehungs~ und Interessensgewirr, in das die Medizin eingeflochten ist, ihre genuin menschliche Dimension auszu~ machen; schon gar nicht, wenn in weithin verbreiteten unreflektierten Kritikri~ tualen der Verlust des Menschlichen durch die Dominanz der "kalten Appara~ temedizin" oder einer "rein naturwissenschaftlich orientierten" Medizin kon~ statiert wird. Es bedarf schon des unverfrorenen Reduktionismus der soge~ nannten Ganzheitsmedizin, um aus Natur, Wissenschaft und Medizin un~ menschliche Gegensätze zu konstruieren. Vielleicht wäre ein Rückblick auf die ideengeschichtliche Entwicklung der Medizin und die damit verbundenen Auswirkungen auf ihre Zweckbestimmung ("saluti et solatio aegrorum") nütz~ lieh. Wenn man Medizin als ein integriertes System wissenschaftlich begründeter Handlungseinsichten und ~möglichkeiten ansieht, dann waren diese am Beginn der Menschheitsgeschichte in den Primitivkulturen sicher nicht - und auch in den Hochkulturen nur beschränkt - vorhanden, weil trotz oder vielleicht auch wegen des hohen Entwicklungstandes von Philosophie und Religion dies die einzigen Deutungsmöglichkeiten der "Conditio humana" waren, die aber aus ihren genuinen Erkenntnismöglichkeiten die Menschen eher zu einer fatalisti~ sehen oder gottergebenen Akzeptanz von Krankheit und Leiden erzogen. Medi~ zin um der Menschen willen zu praktizieren, muß angesichts dieser Sachlage als prometheischer Versuch angesehen werden, den Menschen Hilfe gegen die Widerwärtigkeiten eines blinden Schicksals anzubieten, wobei das Instrumenta~ rium dazu einzig und allein aus der dem Menschen geistig und methodisch noch nicht faßbaren, über die reine Beobachtung hinausgehenden Analyse der Natur gewonnen werden konnte. Da diese Entwicklung der Entmythologisie~ rung der Medizin über die Jahrhunderte nur äußerst langsam vorankam, kam es dazu, daß Medizin als Wissenschaft um der Menschen willen lange Zeit nur auf der Basis unsystematischer und individueller vergleichender Naturbeobachtungen, sozusagen nur auf (vor)wissenschaftlichem "trial and error''-Verfahren aufbauen konnte. Zwar war es dadurch durchaus möglich, zu Erkenntnissen zu gelangen, die auch noch ftlr die Medizin des 2 I. Jahrhunderts Gültigkeit haben, wie sich an Hand der Aussage des Theophrastus Bombastus von Hohenheim, der sich Paracelsus nannte: "Nur die Dosis macht das Gift", illustrieren läßt, doch - um beim Beispiel Paracelsus zu bleiben - waren dessen Anschauungen mehr von der "Schwarzen Kunst'' der Alchemie geprägt, als daß sie einer wissenschaftlichen Heilkunst tbrderlich gewesen wären.

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"lndagandis sedibus et causis morborum" lautet die Inschrift auf dem alten Pathologisch-anatomischen Institut der Universität Wien, der Wirkstätte des großen Pathologen Carl Freiherr von Rokitansky, die in der kürzest möglichen Form Aufgabenstellung der Medizin der Neuzeit und die Richtung, in die sie sich entwickeln sollte und mußte, anzeigt. Rokitansky war es auch, der aus seiner Erfahrung, die er aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem deutschen Pathologen Rudolf Virchow über die Entstehung von Krankheiten gewonnen hatte, der Pathologie im damaligen Österreich den Weg von einer rein deskriptiven, kompilatorischen und komparatistischen Disziplin hin zu einer experimentellen Ursachenforschung wies. Noch gab es sie nicht, die umtriebigen Adepten einer falsch verstandenen Ganzheitsmedizin, die als vermeintliche Aufklärer die Menschen vom Walten des Numinosen befreien wollten, sie aber daftlr der Allmacht des Ominösen einer weiter nicht faßbaren "Gesellschaft" kritiklos unterwarfen. Weit noch war man davon entfernt, eine Dominanz des Psychischen über die körperliche, materielle Verfaßtheil zu konstruieren, und gleichzeitig die Natur als AIIheilmittel rur die Gebrechen des menschlichen Seins ("Die Natur heilt aJies!") zu beschwören. Wir müssen es als gegeben hinnehmen, daß Wissenschaft und Technik die Bewußt-Seins-Lage der Menschheit erweitert haben; wir müssen aber auch verstehen, daß der Antrieb zu diesem Prozeß letztlich in der unendlichen Sehnsucht, die Endlichkeit der Welt zu verstehen, begründet ist. In diesem Prozeß der Entmythologisierung der Welt liegt ein ungeheures Potential, zu einem tieferen Selbstverständnis des Menschen zu gelangen. Auch in diesem Sinn ist Medizin zur Wissenschaft um der Menschen willen geworden - eine Wissenschaft, die dazu beigetragen hat, der Entfremdung des Menschen von seiner Natur entgegenzuwirken, zu der Krankheit und Tod (Kierkegaard: "Das Leben ist eine Krankheit zum Tode") untrennbar gehören. Wie kommt es allerdings, daß wir heute die vielfltltigen diagnostischen Möglichkeiten der modernen Medizin durchaus akzeptieren und vielfach als garantiertes Menschenrecht unbeschadet aller Kostenüberlegungen beanspruchen, auf der anderen Seite viele Behandlungsformen als Ausfluß der Unmenschlichkeit der Apparatemedizin abqualifiZieren. Die durch nichts gerechtfertigte Verunglimpfung mancher Formen der Arzneimitteltherapie, insbesonders der Chemotherapie ("chemische Keule") bei malignen Erkrankungen, macht deutlich, daß die in allen Bereichen des menschlichen Lebens stattgehabte Wissenserweiterung gerade in Situationen persönlicher Betroffenheit entweder nicht einmal partiell vermittelbar ist, oder aber vielen Menschen die Fähigkeit oder auch nur der Wille zu ihrer rationalen Erfassung fehlen. Es scheint, daß zwischen dem Wissenskosmos und der Lebenswelt der Jetztzeit kaum eine Transparenz besteht und daß daher sich in den Menschen in zuneh-

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mender Weise erneut ein Gefilhl der Entfremdung von ihren natUrliehen Lebensgrundlagen breit macht. Der wissenschaftliche Fortschritt der Medizin hat zwangsläufig auch Entwicklungen mit sich gebracht, die zum Phänomen der Entfremdung, wie es hier angedeutet wurde, beigetragen haben. Das ist erstens einmal die "Geburt der Klinik" (M. Foucault), die den Weg von der Intimität der Arzt-PatientenBeziehung und der darin geborgenen Heilkunst zur Entpersönlichung und kollektiven Verantwortungslosigkeit der institutionalisierten Gesundheitsversorgung eröffnete. Es ist ein nicht zu änderndes Faktum, daß - unabhängig vom zeitgebundenen Wissensstand der Medizin- der besondere Schweregrad ernsthafter Erkrankungen eine Hospitalisierung von Patienten erforderlich macht, weil allein schon jegliche ambulante Behandlung nicht ausreicht, um das Krankheitsgeschehen nachhaltig zu beeinflussen; außerdem ist es aber kaum vorstellbar, daß an einem anderen Ort als der Klinik die BUndeJung von Spezial- und Spezialistenwissen in einer derart filr eine große Zahl von Menschen vorteilhaften Art und Weise erfolgen könnte. Es ist sicher leicht und es gibt genUgend Grund, die AuswUchse der immer weiter gehenden Spezialisierung der Medizin zu beklagen, doch kann man nicht an der Tatsache vorbeisehen, daß durch den wissenschaftlichen Fortschritt- und das nicht nur in der Medizin und in den Naturwissenschaften, sondern auch in den sogenannten Geistes- und Kulturwissenschaften - eine Konzentration des Wissens in Einzelpersönlichkeiten nicht mehr möglich ist, und daß daher nachgerade eine Spezialisierung in verschiedene Fächer handlungsrelevantes Wissen filr die Behandlung erst verfilgbar macht - oder anders ausgedrUckt: Medizin erst durch Spezialisierung zur Wissenschaft um der Menschen willen wird. Eine Schwäche der Medizin liegt meines Erachtens darin, daß sie es weitgehend verabsäumt hat, ihren genuinen Beitrag zum Diskurs über das Wesen der Krankheit zu leisten. Nur mit der Verfeinerung der Klassifikationsschemata und der vollständigen Katalogisierung aller Krankheitsgene und der Myriaden ihrer Defekte kann man der Aussage: "Es gibt keine Krankheiten, nur kranke Menschen", in der sich letztlich die Grundhaltung eines therapeutischen Nihilismus verbirgt, nicht wirkungsvoll entgegentreten. Es ist eine paradoxe Situation, daßtrotzaller Fortschritte und Erfolge der Medizin in der Behandlung von kranken Menschen nur selten die Frage nach dem Wesen der Krankheit gestellt wird. Medizin ist ihrem Wesen nach aus der Krankheit geboren, und nur aus dieser Einsicht ist es ihr möglich, ihre nach dem römischen Arzt Galenius eigentliche Aufgabe zu erfilllen, nämlich Anleitungen zu einer gesunden Lebensftlhrung zu geben. Das fehlende Wissen um das Wesen von Krankheit hat dazu gefllhrt; daß Medizin nur allzu leicht instrumentalisiert werden konnte fllr Zwecke, die mit Heilung von Menschen nichts mehr zu tun haben, wie etwa Tötung auf Verlangen, Euthanasie, Schwangerschaftsabbruch, In-Vitro-Fertili-

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sierung und reproduktives Klonen von Menschen. Die ,,Anthropotechnologie" (P. Sloterdijk), die sich der Verftlgbarkeit des menschlichen Lebens verschrieben hat, braucht die Medizin filr die Scheinbegründung ihrer Heilslehren: So wird das therapeutische Klonen und die Forschung an humanen Embryonen propagiert, um dabei den Menschen die hypothetischen Erfolge einer schrankenlosen Ersatzteilmedizin vorgaukeln zu können. Die Medizin gerät dabei in einen Zielkonflikt, wenn sie ihre Aufgabe nur als Methodenlieferantin der Anthropotechniker sieht, sozusagen nur Wissenschaft um des Menschen als eines anthropologischen Konstruktes willen sein will. Nur wenn Medizin ihren Ziel nicht in der Vollendung ihrer methodischen Grundlagen, sondern in der Vervollkommnung ihrer Anwendung sieht, wenn sie also immer weniger zur einer naturwissenschaftlich orientierten, sondern immer mehr zu einer aus der Natur wissenschaftlich begründbaren Heilkunst wird, dann wird ihr niemand das Prädikat "Wissenschaft um der Menschen willen" streitig machen.

Gesundheit als Wirtschaftsfaktor Von Reinhart Waneck Die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen, frei zugänglichen und flächendeckenden Gesundheitsversorgung ist seit vielen Jahren ein deklariertes Ziel der Österreichischen Gesundheitspolitik Im Zusammenhang mit Gesundheitssystemen und der Gesundheitsversorgung wird auf politischer Ebene gemeinhin von Kosten und Ausgaben gesprochen, während bei z.B. Produktionsbetrieben, in der Sauwirtschaft, im Verkehr oder auch bei Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, primär von Umsätzen und Gewinnen die Rede ist. Wir sollten, losgelöst von der Tagespolitik öfter darüber nachdenken, was uns als Gesellschaft unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden, das Wohlbefinden unserer Familien, insbesondere unserer Eltern eigentlich wert ist. Das im emotionellen aber durchaus auch im finanziellen Sinn. Erst langsam beginnt auch ins öffentliche Bewusstsein einzufließen, dass Gesundheit einer der wesentlichsten Wirtschafts- und Beschäftigungsfaktoren in Österreich ist und, so man den Begriff Gesundheit weiter definiert, eine Reihe von ökonomischen Verknüpfungen mit anderen Wirtschaftsbereichen, wie z.B. dem Tourismus, Freizeit und Sport, dem Handel, der Bauwirtschaft usw. gegeben ist. Der vorliegende Beitrag zur Festschrift anlässlich des fUnfundsechzigsten Geburtstags von Prof. Zapotoczky soll einige Überlegungen zur ökonomischen Dimension des Gesundheitswesens anstellen und auch Aktivitäten des Bundesministeriums fUr soziale Sicherheit und Generationen in diesem Bereich darstellen.

I. Welcher Anteil des Gesundheitswesensam BIP ist gerechtfertigt? Der Anteil der Österreichischen Gesundheitsausgaben ausgedrückt als Anteil am BIP liegt seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre bei etwa 8 %. Der Anteil der öffentlichen Gesundheitsausgaben lag in dieser Periode bei etwa 6%.

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Die Aussage, ob diese Zahlen wünschenswerte Anteile am BIP darstellen bzw. ob sie zu hoch oder zu gering sind, ist eine Frage der Sichtweise. Vergleicht man Österreich auf internationaler Ebene mit seinen Partnern in der Europäischen Union, so stellen die Österreichischen Werte - trotz aller nationaler Unterschiedlichkeiten in der Datenerfassung - Mittelwerte dar, die unser Land im westeuropäischen Durchschnitt einreihen. Das Österreichische Gesundheitswesen unterliegt demnach einer Entwicklung, die sich analog in den meisten übrigen EU-Partnerländem zeigt. Wenn auch die Österreichischen Gesundheitsausgaben ausgedrückt als Anteil am BIP während der letzten Jahre keine explosionsartigen Wachstumsraten zeigten (was zumindest teilweise auch aufdie Effekte der EinfUhrung des LKFSystems zurück zu fUhren ist), so deuten gleichzeitig mehrere Einflussfaktoren darauf hin, dass das Gesundheitswesen in Zukunft mehr Ressourcen benötigen wird. Wesentliche Faktoren sind in diesem Zusammenhang die demographische Entwicklung unserer Bevölkerung, der technologische Fortschritt und die Entwicklung des Volkseinkommens allgemein. Es ist davon auszugehen, dass die verstärkte Behandlung und Betreuung älterer Menschen, die Entwicklung neuer medizinischer Technologien und Arzneimittel sowie die durch ein gestiegenes Volkseinkommen allgemein höheren Ansprüche der Bevölkerung an Leistungen aus dem Gesundheitswesen dieses während der nächsten Dekaden auch entsprechend finanziell unter Druck setzen werden. Um hinsichtlich dieser Fragestellung ftlr mehr Transparenz zu sorgen, beteiligt sich das Bundesministerium ftlr soziale Sicherheit und Generationen seit Beginn des Jahres 2001 an einer EU-weiten Studie, welche die zukünftige Nachfrageentwicklung nach öffentlichen Gesundheitsleistungen durch die zunehmende Alterung der Bevölkerung zum Inhalt hat. Aufnationaler Ebene wird diese Studie um einige spezifische Österreichische Fragestellungen erweitert, wie zum Beispiel die Nachfrageeffekte des technologischen Fortschritts und der Entwicklung des Volkseinkommens. Welchen Anteil am BIP das Gesundheitswesen langfristig halten sollte, ist somit eine gesellschaftspolitische Entscheidung. Es geht grundsätzlich um die Frage, wie viel das Gesundheitswesen unserer Gesellschaft wert ist und welche Stellung es im Vergleich zu anderen Bereichen des öffentlichen Sektors in der Konkurrenz um öffentliche Mittel einnimmt. Aus der Sicht der Gesundheitspolitik ist ein hoher Stellenwert des Gesundheitswesens nicht nur ein Garant fUr die Gesundheit unserer Bevölkerung, sondern über Umwegrentabilitäten auch eine oftmals unterschätzte Stütze unserer Volkswirtschaft (hinsichtlich Beschäftigung und Wertschöpfung).

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II. Die wirtschaftliebe Bedeutung des Gesundheitssektors Gesundheit als Wachstumsfaktor unserer Volkswirtschaft Die Leistungen des öffentlichen Sektors werden - wegen fehlender Marktpreise filr seine Outputs - in den allgemein zugänglichen Statistiken über die Ausgaben filr seine Inputs dargestellt. Auch die Aktivitäten des öffentlichen Gesundheitswesens werden demnach über die Sach- und Personalausgaben definiert. Diese Darstellungsweise führt in der Öffentlichkeit oftmals dazu, das Gesundheitswesen als ausschließlich kostentreibenden und unproduktiven Sektor zu betrachten, der keinen positiven Beitrag zu unserer Volkswirtschaft leistet. Übersehen wird dabei, dass das Gesundheitswesen durch seinen Anteil von etwa 8% am BIP in diesem Ausmaß auch zur Wertschöpfung innerhalb unserer Volkswirtschaft beiträgt und einen wesentlichen Wirtschaftsfaktor darstellt, der zu Investitionen und Betriebsansiedlungen sowie zu Einkommen der in diesem Sektor Beschäftigten filhrt. Dabei ist die Frage nach der - wünschenswerterweise auch noch ziffernmäßig in Zeitreihen anzugebenden - volkswirtschaftlichen Bedeutung des Gesundheitssektors nicht einfach zu lösen. Eine volkswirtschaftliche Analyse des Gesundheitswesens muss in erster Linie bei der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) ansetzen. Ein wesentliches Hindernis betreffend die Darstellung von aussagekräftigen Zeitreihen stellen in diesem Zusammenhang die Umstellungen der VGR Erhebungssystematik der Statistik Austria (zuletzt erfolgt im Jahr 1995) dar, die Zeitreihenvergleiche mit vorangegangenen Perioden nur bedingt erlauben. Eine zweite Schwierigkeit besteht darin, das die verfilgbaren Daten nicht immer jenen Detailgrad aufweisen, der filr eine aussagekräftige Darstellung des Gesundheitswesens erforderlich wäre. Dennoch hat das Bundesministerium filr soziale Sicherheit und Generationen bereits in den letzten Jahren durch die Vergabe von Studien Schritte unternommen, die verfilgbaren Daten der VGR bestmöglich zu analysieren und wird in Zukunft auch Initiativen setzen, die Datenqualität schrittweise zu verbessern und im Rahmen einer kontinuierlichen gesundheitsökonomischen Berichterstattung öffentlich zugänglich zu machen. Aufgrund der bislang vorliegenden Studienanalysen kann klar festgehalten werden, dass der Gesundheitssektor ein Wachstumssektor unserer Volkswirtschaft ist. Während der letzten 15 Jahre (Periode 1983-1998) wies das Gesundheitswesen eine jährliche durchschnittliche Wachstumsrate von rund 8 % auf, während das nominelle Bruttoinlandsprodukt im Vergleichszeitraum jährlich nur um etwa 5 % gewachsen ist. Mittlerweile ist etwa jeder 10. Beschäftigte in Österreich direkt oder indirekt fllr das Gesundheitswesen tätig. Dies indiziert eine steigende Bedeutung des Gesundheitssektors in der Volkswirtschaft.

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Ill. Wertschöpfungseffekte des Gesundheitswesens Die Wertschöpfung des Gesundheitssektors machte gemäß VOR-Analysen im Auftrag des Ressorts im Jahr 1998 194 Mrd. ATS aus, das sind 7,6% der gesamt-österreichischen Wertschöpfung. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch eine weitere Untergliederung nach Wertschöpfungsanteilen der einzelnen Gesundheitsproduzenten im Vergleich der Jahre 1983 und 1998. Demnach ist der Anteil des größten Gesundheitsproduzenten, der Krankenhäuser von 43 % auf 39 % gesunken. Der Anteil der niedergelassenen Ärzteschaft ist mit 26 % in beiden Vergleichsjahren konstant geblieben, der Anteil des Fürsorgewesens (beinhaltet insbesondere die Altenbetreuung) ist von 15 % auf 12 % gesunken, der Anteil der Gesundheitsindustrie (umfasst Arzneimittel, Medizinprodukte sowie den Handel mit diesen Gütern) ist von 16% auf23% gestiegen. Generell lässt sich somit feststellen, das während der letzten 15 Jahre eine Verschiebung von den Gesundheitsdienstleistern zur Gesundheitsindustrie erfolgt ist. Aufgrund der im Auftrag des Ressorts erstellten Analysen konnte auch nachvollzogen werden, dass insbesondere der Handel mit den GesundheitsgUtem besonders stark expandierte.

IV. Beschäftigungseffekte des Gesundheitssektors und Verflechtungen mit anderen Wirtschaftssektoren Für das Jahr 1998 wurde auf Basis der seitens des Ressorts in Auftrag gegebenen Analysen eine Gesamtbeschäftigung (direkt und indirekt) im Gesundheitswesen von 314.000 ermittelt. Der größte Teil davon entflUit auf die niedergelassenen Ärzteschaft und Krankenhäuser, gefolgt vom medizinischen Handel und Fürsorgewesen. Während der Anteil der im Gesundheitswesen insgesamt (direkt und indirekt) Beschäftigten im Jahr 1983 rund 7,6% betrug, ist dieser Anteil im Jahr 1998 immerhin auf 9,7 % gestiegen. Das bedeutet in anderen Worten, dass heute rund jede zehnte in Österreich beschäftigte Person (direkt oder indirekt) filr das Gesundheitswesen tätig ist. Dabei ist die direkte Beschäftigung im Gesundheitswesen im Vergleich zur Vergangenheit etwas stärker als die indirekte gewachsen; der Anteil der direkten Beschäftigung ist von etwa drei Viertel aufmehr als vier Fünftel gestiegen. Die Lieferverflechtungen zwischen einzelnen Sektoren einer Volkswirtschaft und damit auch indirekte Beschäftigungswirkungen können aus der seitens der

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Statistik Österreich im Rahmen der VGR erhobenen Input-Output-Tabelle ermittelt werden. Die bedeutendsten Vorlieferanten ftir die niedergelassene Ärzteschaft und die Krankenhäuser waren im Jahr 1998 die Sektoren •

unternehmensbezogene Dienstleistungen (EDV, Finanzberatung, Versicherung, Steuerberatung, etc.),



chemische Industrie (Arzneimittel, etc.).

Die bedeutendsten Vorlieferanten für das Fürsorgewesen (beinhaltet vorwiegend die Altenbetreuung) waren im Jahr 1998 die Sektoren •

Nahrungsmittel und Getränke,



unternehmensbezogene Dienstleistungen (EDV, Finanzberatung, Versicherung, Steuerberatung, etc.).

Über diese wirtschaftlichen Verflechtungen lassen sich fUr das Jahr 1998 71.000 selbstständig und unselbstständige Beschäftigte indirekt auf das Gesundheitswesen zurückfilhren. Der Gesundheitssektor hat damit einen wesentlichen Beitrag zur Schaffung von direkten und indirekten Arbeitsplätzen geleistet.

V. Der Anteil des Gesundheitswesens am Außenhandel Analysen auf Basis der VGR erlauben nicht nur die Darstellung, wer in welchem Umfang Güter produziert hat, sondern auch, wofUr sie verwendet wurden. Unterscheidungen in inländische und ausländische Produktion {Importe) werden möglich. Auch fUr die Endverwendung der Güterproduktion im Gesundheitswesen gilt, dass diese entweder in den privaten Konsum, den öffentlichen Konsum, Investitionen oder Exporte fließt. Mit dieser Analyse wird es möglich, festzustellen, welchen Beitrag das Gesundheitswesen zur Außenwirtschaft leistet. Was die Gesundheitsdienstleistungen (Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte) sowie das Fürsorgewesen (Aitenbetreuung) betriffi, so zeigt die VORAnalyse - wenig überraschend, - dass die Dienstleistungen fast ausschließlich von heimischen Produzenten erbracht wurden und werden. Ähnliches gilt fUr die Leistungen des Handels mit Gesundheitsgütern (v.a. Arzneimittel und medizinisch-technische Güter). Auf der Verwendungsseite flossen die Gesundheitsdienstleistungen (Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte) sowie Fürsorgeleistungen (Aitenbetreu-

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ung) zu einem überwiegenden Teil in den öffentlichen Konsum, zu einem Viertel bis etwa einem Drittel auch in den privaten Konsum. Anders stellt sich die Unterscheidung der Herkunft der pharmazeutischen und der medizinisch-technischen GUter nach heimischen Produzenten und Importen dar. Sie weisen auf intensive Außenwirtschaftsverflechtungen hin. Im Jahr 1998 wurden beispielsweise pharmazeutische GUter im Ausmaß von fast 30 Mrd. ATS importiert, das heimische Produktionsvolumen lag dabei mit rund 25 Mrd. ATS unter dem Niveau der Importe. Die VGR-Analyse zeigte im Zeitablauf, dass bei den Pharmaprodukten die Importe schneller stiegen als das Gesamtaufkommen. Bei den medizinisch-technischen GUtem lagen heimische Produktion und Importe im Jahr 1998 mit jeweils etwa I 0 Mrd. gleichauf, wobei die VGR-Analyse im Zeitablauf zeigt, dass in den letzten Jahren die heimische Produktion stärker gestiegen ist als die Importe. Für den Außenhandel von Interesse sind die Exporte der pharmazeutischen und der medizinisch-technischen GUter. Sie betrugen allein bei den pharmazeutischen GUtem im Jahr 1998 etwa 22 Mrd. ATS, was etwa 73 % der Importe dieses Sektors entspricht. Der Gesundheitssektor leistet demnach Uber die Gesundheitsindustrien (Arzneimittel, medizinisch-technische Produkte) einen wesentlichen Beitrag zur Außenwirtschaft unserer Volkswirtschaft.

Gesundheitswissenschaft als Gradmesser einer sozialen Gesundheitspolitik Von Otto Pjeta Die markante Persönlichkeit ist an sich ein seltener Glücksfall. Dass die seriöse Beschreibung ihrer Eigenschaften und ihres Wirkens den üblicherweise zur VerfUgung stehenden Raum bei weitem sprengt, mag den Betroffenen zwar freuen, versetzt mich aber in Verlegenheit. Das Unterfangen, auch nur einige Aspekte der Gesundheitswissenschaft als gesellschaftliche Herausforderung unter Berücksichtigung der umfangreichen und proaktiven Arbeit von Herrn Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky zu skizzieren, kann daher notgedrungen nur höchst lückenhaft sein. Man möge somit Verständnis fiir dieses Dilemma haben und die folgenden Zeilen als Versuch einer Annäherung an dieses so aktuelle Thema aus der Sicht eines gesundheits- und standespolitisch tätigen Arztes sehen. Zunächst sei festgehalten, dass die Wissenschaft an sich und die auf dem Boden seriöser wissenschaftlicher Erkenntnisse beruhende Tätigkeit der Ärzte keineswegs frei sein sollen von politischen Intentionen. Politisches Handeln ist auf ein Ziel gerichtet, das auf Basis analytischer Bestandsaufuahmen nach Veränderungen strebt. Der Arzt verbindet mit diesem Prozess meistens die Therapie, welche die Befmdlichkeit des Patienten verbessern soll. Doch ist er in seinem Bemühen an zeitlose ethische und gesetzliche Vorgaben gebunden und von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig, die er mit beeinflussen muss, um fiir seine Tätigkeit im Interesse seiner Patienten bestmögliche Voraussetzungen sicherzustellen. Auch das Erkenntnisstreben des Forschers darf nicht im Selbstzweck erstarren, insbesondere dann nicht, wenn die Ergebnisse seiner Arbeit von außerordentlicher gesellschaftlicher Relevanz sind. Was wäre daher naheliegender, dass auch und gerade die Soziologie im Zusammenhang mit den von ihr zu beleuchtenden Feldern der Gesundheitswissenschaft den Anspruch auf politische Implikationen erhebt, da sie doch die Erforschung der Erscheinungsformen, Ursachen und Auswirkungen gesellschaftlicher Phänomene zum Gegenstand hat. Und in der Tat war und ist es Klaus Zapotoczky, der sich mit Inhalten von höchster gesundheitspolitischer Wichtigkeit befasst. Sein Spektrum ist dabei

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weit gespannt: Es reicht von der Gesundheitsförderung und der Prävention Ober den Drogen- und Medikamentenmissbrauch, den Umgang der Gesellschaft mit psychischen Erkrankungen, mit Pflegebedürftigkeit und Alter, Fragen der Multimorbidität versus Multimedikation, Krankheit, Schmerz und Tod sowie Ober Themen aus der Arbeitswelt, die Funktion der Krankenhäuser, die Schnittstellenproblematik bis hin zur kritischen Analyse der Kommunikation in der Medizin. Freilich scheint es, als wäre ihm die Auseinandersetzung mit diesen Themen gleichsam in die Wiege gelegt. Familiär geradezu von Ärzten umzingelt, ist es wohl eine Herausforderung, Grundlagen, Ausrichtung und Ziele der Gesundheitsversorgung in Österreich interdisziplinär zu durchleuchten. Sich dabei nicht in den Elfenbeinturm zurückzuziehen, entspricht meines Erachtens wohl ebenso seiner Grundintention wie das große Engagement, das all sein Tun prägt. Um dieser Beschreibung gerecht zu werden, muss man wohl auch ein sehr politischer Mensch sein, dessen Streben weniger in der Exploration der abstrakten Weltformel, als in der Durchleuchtung konkreter Gegebenheiten liegt. lnsofeme zeichnet sich das Schaffen Zapotoczkys durch ungewöhnliche Praxisverbundenheit aus. Wir Ärztinnen und Ärzte, die mit den täglichen Anforderungen der Patientenbetreuung konfrontiert sind,, wissen das sehr zu schätzen.

I. Grundlagen des Österreichischen Gesundheitswesens Grundlage und Ziel eines sozialen Gesundheitssystems ist die Gewährleistung einer zeitgemäßen medizinischen Versorgung ftlr alle, unabhängig von Alter, Geschlecht, Status und Einkommen. Dieses Faktum finden wir in der heimlichen Verfassung Österreichs- im Allgemeinen Sozialversicherungs-Gesetz (ASVG)festgeschrieben. Wir Ärzte stehen zum Grundsatz eines solidarischen Gesundheitswesens, das Chancengerechtigkeit und QualitätsansprUche verbindet. Gerade in letzter Zeit, da der Fiskalpolitik und den damit verbundenen Sparimperativen eine so hohe Priorität eingeräumt wird, sind ernsthafte Zweifel an der Nachhaltigkeit dieses Grundsatzes angebracht. Daher ist es wichtig, die Eckpfeiler unseres Gesundheitssystems in Erinnerung zu rufen. Die Finanzierung des Österreichischen Gesundheitssystems hat solidarisch zu erfolgen, das heißt nach dem Kriterium der finanziellen Leistungsfllhigkeit, womit ein Belastungsausgleich zwischen den verschiedenen Einkommenskategorien, zwischen alt und jung, gesund und krank erzielt wird. Eine zeitgemäße Behandlung darf niemals zu einem Privileg der Reichen werden, der Jugend dürfen nicht - wie zum Beispiel in England - selektive Operationen vorbehalten bleiben, eine kUnstliehe Verknappung des Angebotes darf nicht zu unzu-

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mutbaren Warteschlangen vor den Toren des Systems fUhren, Kranke sollen nicht durch die Errichtung zynischer Barrieren etwa in Form von unzumutbaren individuellen Zuzahlungen allein gelassen werden. Die Pflichtversicherung ist aufrecht zu erhalten, da Modelle der Versicherungspflicht zu Schikanen und Härten fUhren, unter denen vor allem alte und pflegebedürftige Menschen zu leiden haben. Selbstbehalte sind aus ärztlicher Sicht grundsätzlich unsolidarisch und nur dann zu akzeptieren, wenn Behandlungen durch sie nicht verhindert werden, sie zu keinen Diskriminierungen fUhren und positive Effizienzeffekte erzielen. Eine Ambulanzgebühr zur Entlastung der Spitäler, ohne sie durch Angebote im wohnortnahen, niedergelassenen Bereich zu substituieren, widerspricht sowohl dem Solidaritäts- als auch dem Subsidiaritäts-Gedanken.

II. Finanzierungsreform Obwohl Österreich im internationalen Vergleich mit einem Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von 8, l % über ein offensichtlich sehr effizientes System verfUgt, verlangt die langfristige Sicherung von Qualität und Umfang der Versorgung die ständige Anpassung der Finanzierung und der Strukturen. Gerade diesem Umstand wird meiner Meinung nach im Moment zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Gesundheitspolitik ist bedauerlicher Weise in den letzten Jahrzehnten auf Zuflllligkeiten aufgebaut, funktioniert größtenteils nach dem Hau-ruck-Verfahren, hat keine strategische Dimension und rangiert nach wie vor entgegen ihrer tatsächlichen Bedeutung filr die Bevölkerung unter ferner liefen. Diese historische Missachtung des fundamentalen Gesundheitsinteresses ist ein schwerer Fehler und bedarf einer unverzüglichen Korrektur. Einer Korrektur bedarf· vor allem der ideelle Zugang des Gesetzgebers, der den Gesundheitsbegriff zuerst auf die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit der Betroffenen abstellt. Hier ist wenig Platz filr palliative Behandlungen, ftlr Multimorbide, chronisch Kranke und Pflegebedürftige, ftlr ganzheitliche und zuwendende Ansätze zur Verbesserung der Befindlichkeit der Patienten und zur Linderung ihrer Schmerzen. Bei der zunehmenden Lebenserwartung der Menschen wird aber diesem Sachverhalt ganz besondere Bedeutung zukommen müssen, aus humanitärem und sozialem Selbstverständnis und das mit erheblichen fmanziellen Konsequenzen. Gesundheit wird also immer mehr kosten. Allerdings ist der Gesundheitssektor eine der großen Wachstumsbranchen, die immer mehr Menschen beschäftigen wird. Eine "staatliche" Investition in Gesundheit und Wohlbefmden

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signalisiert daher eine offensive Beschäftigungspolitik und dass soziale Bedürfnisse ernst genommen werden. Freilich gilt auch filr das Gesundheitswesen das Effizienzgebot, das die Allokation des Angebotes ebenso betrifft wie eine effektive und kostensparende Diagnose und Therapie von Gesundheitsstörungen. Über allen diskutierten und praktizierten Kontrollmethoden zur Steigerung der Effizienz medizinischer Interventionen steht die Notwendigkeit, den Patienten als mündigen Partner auf der einen und als Kunden der Sozialversicherung auf der anderen Seite verstärkt einzubinden. Es ist zum Nutzen aller, Kostenwahrheit und Transparenz filr den Patienten umzusetzen. Er ist letzte Instanz im Gesundheitswesen, er muss daher auch über die Kosten einer Behandlung, eines Medikamentes Bescheid wissen. Voraussetzung fUr einen effizienten Mitteleinsatz ist darüber hinaus die Beseitigung der konkurrierenden Systeme filr die Finanzierung der Spitäler und des wohnortnahen Versorgungsangebotes. Die Zusammenfilhrung in einer Hand, wie dies in geplanten Versuchen in einzelnen Bundesländern bereits in Angriff genommen wird, halte ich filr unabdingbar. Dabei sollte durch die bisherige Form der Mittelaufbringung eine kostengünstige Zuordnung auf Vorsorge, niedergelassene Ärzte, Rehabilitation und alle flankierenden Maßnahmen sicher gestellt werden, sodass die Effizienz bei definierter Qualität Ober die murale oder extramurale Art der Versorgung entscheidet.

111. Anspruch auf Qualität Die Beschränkung von Leistungen aus anderen als medizinischen Gründen ist aus Sicht der Ärzte und Patienten keine Grundlage ftlr ein vollwertiges Gesundheitssystem. Die Qualität der Versorgung defmiert sich aus dem Stand der medizinischen Wissenschaft. Die endgültige Entscheidungen über die Art der Behandlung sind nicht in Tintenburgen und an Konferenztischen zu flillen, sie sind individuell zwischen Arzt und Patient zu treffen. Dabei sind allerdings individuelle Wünsche und Bedürfnisse, die über einen definierten Standard hinausgehen und Mehraufwand etwa ftlr Komfort oder Kosmetik verursachen, gesondert zu honorieren. Keine geeigneten Mittel zur Sicherung des hohen Standards in der Österreichischen Gesundheitsbetreuung sind Tendenzen, ärztliche Tätigkeiten auch anderen - meistens nicht akademischen, unzulänglich ausgebildeten und mit keiner bis geringer Erfahrung ausgestatteten Gesundheitsberufen oder Gewerbetreibenden - zu ermöglichen. Das sind Auswüchse eines kontraproduktiven Wirtschaftsliberalismus und eines unreflektierten Deregulierungsrausches, die dem Patienten schaden und sich negativ auf die Volksgesundheit auswirken würden.

Gesundheitswissenschaft als Gradmesser einer sozialen Gesundheitspolitik

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IV. Adaptierung der Versorgungsstrukturen Eine patientennahe, bedürfnisorientierte, qualitätsgesicherte und flächendeckende Versorgung verlangt umgehend neue Strukturen, die von niedergelassenen Ärzten in organisierter Zusammenarbeit mit den nicht ärztlichen Gesundheitsberufen getragen werden. Dafilr sind endlich alle rechtlichen, organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen zu schaffen. Gruppenpraxen, Bereitschaftsdienste, Ausweitung der Ordinationszeiten, Intensivierung der Hauskrankenbehandlung, Verbesserung des Nahtstellen-Managements harren nach wie vor ihrer professionellen Umsetzung. Hingegen sind die Spitäler und Kliniken Träger der stationären Versorgung bei schweren Erkrankungen, der Notfall- und Intensivmedizin, der wissenschaftlichen Arbeit und der Ausbildung von Ärzten, die nur zu einem geringen Teil in den Praxen erfolgt. Die Kommunikation zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten ist durch den Einsatz moderner Technik und klare Regeln zu gewährleisten.

V. Wo stehen wir beute? Sicher, von Zuständen wie in Großbritannien sind wir Gott sei Dank noch weit entfernt. Doch gibt es erste Anzeichen filr Selektion - Patienten erhalten nicht mehr auf Kassenkosten Medikamente, die sie benötigen, Wartezeiten verhindem allenthalben notwendige und rasche Behandlungen. Schwere Defizite gibt es im Bereich der Hauskrankenbehandlung und -pflege. Die Einfilhrung der Sterbekarenz ist nur ein erster Ansatz, diese Mängel zu beseitigen. Sie ist ein Zeichen filr mehr Humanität und Subsidiarität, wobei auch dem Charakter einer würdevollen Sterbehilfe als Alternative zur Tötung aufVerlangen Rechnung getragen wird. Für die so genannte aktive Euthanasie wird die Österreichische Ärzteschaft nicht zur Verftlgung stehen, da sie Ausdruck der Hilflosigkeit im Umgang mit dem Sterben ist, die prinzipielle Achtung des Lebens in Frage stellt und in diesem Zusammenhang auch schon Überlegungen in Richtung ökonomischer Opportunität formuliert wurden. Ärzte stehen filr das Leben, heilen Krankheiten, lindern Schmerz und begleiten zuwendend ihre Patienten - Tötungswünsche, von wem sie auch immer kommen, sollten filr sie nicht disponierbar sein. Der Umgang mit alten multimorbiden Menschen ist sicherlich eine zentrale Herausforderung filr die Gesundheitspolitik der Zukunft. Bedenken wir doch, dass die Bevölkerung immer älter wird und die professionelle Pflege und Behandlung zu Hause dem Wunsche der überwiegenden Mehrheit entspricht.

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Hier schließt sich der Kreis: Zapotoczky, der in zahlreichen Arbeiten auf die Situation der alten Menschen in unserer Gesellschaft eingeht, positioniert damit zu diesem Thema wie zu vielen anderen die Gesundheitswissenschaft als Gradmesser und Orientierungspunkt ftir eine soziale Gesundheitspolitik. Und ftihrt uns vor Augen, dass man sich mit Erreichtem nicht zufrieden geben darf und ständig nach Verbesserungen streben muss. Es ist noch sehr viel zu tun.

Gesundheitswissenschaften als gesellschaftliche Herausforderung Von Gerhard Grossmann

I. Einleitung Unsere heutige Gesellschaft ist im Wesentlichen zwei großen Bedrohungen von Gesundheit und Wohlbefinden ausgesetzt. Zum einen bedroht uns nach wie vor der nukleare Holocaust, man denke nur an die aktuellen Krisenherde, beispielsweise der schwelende Konflikt zwischen Indien und Pakistan, und zum anderen die ökologische Katastrophe, die sich durch den globalen Klimawandel, Dürre und Überflutungen, Waldsterben, Versehrnutzung der Weltmeere, Luftverunreinigungen ungeahnten Ausmaßes etc. äußert. Die sozialmedizinisch orientierte Ökologie hat schon vor geraumer Zeit erkannt, dass Umweltveränderungen relativ rasch ihren Niederschlag im Gesundheitszustand des Individuums finden. 1 Obwohl in letzter Zeit vermehrte Anstrengungen zu orten sind, eine auf Prävention gestützte Gesundheitspolitik zu betreiben, bleiben die durchschlagenden Erfolge in Wirklichkeit aus. So ist es faktisch nicht gelungen, den Straßenverkehr, einen der HauptverursacheT von Umweltverschmutzung, in seinen Auswirkungen auf die Lebensqualität zu kontrollieren. Wenn man den Verkehrsprognosen Glauben schenken darf, so wird sich in den nächsten Jahren noch eine exorbitante Steigerung der Verkehrsfrequenz, insbesondere des Schwerverkehrs, zu erwarten sein. Die weiter fortschreitende Verbauung im urbanen Raum mit ihrem immensen Platzbedarf und der damit einhergehenden Vernichtungsoffensive von Grünraum sind ein weiteres ernstzunehmendes Bedrohungsszenario.2 1 V gl.

Rextrode 1998.

Gerhard Grossmann

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Die ökologischen und gesundheitlichen Folgen einer vorwiegend von ökonomischen Interessen getragenen Gesundheitspolitik zeitigen bereits fatale Auswirkungen auf die Lebens- und Wohnumfeldqualität Nun, mit reinen Absichtserklärungen von Seiten der Politik und der Wirtschaft werden die anstehenden Probleme nicht zu lösen sein, und die Zeit drängt. Weiters bedenklich scheint der Umstand, dass nach wie vor wenig Bemühungen zu konstatieren sind, fundierte sozialepidemiologische und medizinsoziologische Befundungen beizubringen, die dann als unabdingbare Entscheidungsgrundlage fUr die Ausrichtung einer problemorientierten Gesundheitspolitik fungieren sollten. Gerade dieses Manko an empirischen Entscheidungsgrundlagen wird auch von dem bedeutenden Österreichischen Soziologen und Gesundheitswissenschafter Universitätsprofessor Klaus Zapotoczky immer wieder moniert. Allerdings gehört Professor Zapotoczky, und davon konnte ich mich selbst schon mehrmals überzeugen, zu jenen mutigen und unkonventionellen Wissenschaftern, die grundsätzlich wenig von hypothetischen Kausalverläufen halten und sehr offensiv empirisch vorgehen. Die Gesundheitswissenschaft versteht sich daher als eine Disziplin, die sich vorwiegend der Theorien und Methoden der empirischen Sozialforschung und der Medizinsoziologie bedient, aber natürlich auch permanent in Verbindung mit allen anderen, dem Thema zuträglichen Fachbereichen steht. Disziplinärer Chauvinismus und fehlende Bereitschaft, Neues zu erschließen, nähren die Zweifel jener, die Gesundheitswissenschaften als eine Wissenschaft im Schatten von Medizin, Psychologie und Medizinsoziologie angesiedelt wissen. Der Fortgang gesundheitswissenschaftlicher Forschung wird in dem Maße erfolgreich sein, in dem ein verstärkter Kontakt zur Praxis die Ausgestaltung des eigenen Forschungsinteresses mitprägt und Anleihen von "Assistenzdisziplinen" das eigene Forschungsspektrum ausweiten. Nur der Zusammenschlussall jener Fachdisziplinen zu einem "Verbund der Gesundheitswissenschaften", die sich in irgendeiner Weise mit dem Wohlbefinden von Individuen auseinandersetzten, kann als Garant fUr die wissenschaftliche Kontrolle von Lebensraumsicherung verstanden werden.

2

Vgl. Grassmann 1998.

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221

II. Kriterien präventiver Strategien Die moderne Gesellschaft hat sich sehenden Auges in ein fast unentrinnbares Dilemma manövriert. Während allerorts von schon längst notwendigen Einsparungen im Gesundheitsbereich die Rede ist, weiß man nicht so recht, wo den eigentlich diese viel zitierten Einsparungen beginnen sollten, ohne nicht gleich das gesamte soziale Netzwerk in seinen Grundfesten zu erschüttern. Wahrlich wird es nicht einfach sein, die zumeist recht kostenintensiven Möglichkeiten der High-Tech-Medizin und die FUIIe der neuen Pharmaka mit den rigorosen Sparprogrammen aber auch nur ansatzweise kompatibel zu gestalten, ohne nicht einschneidende Zugangsbeschränkungen filr neue wirksamere Behandlungsmethoden in Kauf zu nehmen. Nun, die Quadratur des Kreises scheint unlösbar, außer man wendet sich neuer präventiver Strategien zu, die zugegebenermaßen eine extensive Weiterentwicklung des Health-Belief-Modells (HBM) von Rosenstock u.a. darstellen mUssen. 3 Das HBM geht von der Annahme aus, dass menschliches Verhalten als Produkt eines zumeist rationalen Entscheidungsprozesses verstanden werden kann, der von einer Vielzahl von Variablen getragen wird. Der Entscheidungsprozess selbst findet sich dann im Ausmaß der subjektiven Gefllhrdungseinschätzung fiir die Gesundheit des Individuums wieder. 4 Die maßgebliche Schwachstelle des vorgestellten Modells liegt in dem Umstand, dass es nahezu keine griffigen Indizien gibt, wie denn diese subjektive Wahrnehmung Uber eine potentielle Gefährdung zustande kommt. 5 Die maßlose Selbstüberschätzung des eigenen Reaktionsvermögens von Kraftfahrzeuglenkern wäre ein plakatives Beispiel. Aber auch das Health-Locus-of-Control-Konzept (HLC) kann nur fragmentarische Erklärungen darüber liefern, welche Auswirkungen auf das Vorsorgeverhalten von gesundheitsbezogenen Einstellungen ausgehen. 6 Noch zu erwähnen wären die verschiedenen soziologischen Krankheitstheorien, die natUrlieh auch wesentliche Erklärungsansätze filr das Entstehen von Krankheiten beibringen können.

Vgl. Maiman/Becker 1974; Rosenstock 1974. Kilian 1992. 5 Vgl. Schaefer/8/omke 1978. 6 Vgi.Kilian 1992, S. 81-82. 3

4

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Ohne nun näher auf die Spezifität der einzelnen Theorien eingehen zu wollen, kann festgehalten werden, dass sie nur in Verbindung mit naturwissenschaftlichen Modellen tatsächliche Aussagekraft besitzen. 7 Nachdem offensichtlich präventives Gesundheitsverhalten nicht so einfach über das Verhalten des Individuums zu steuern ist, erhebt sich die Frage, welche anderen wirksamen Ansatzmöglichkeiten schlussendlich zum Tragen kommen könnten. Genau dies erscheint mir als Ausgangspunkt filr den Forschungsbereich der Gesundheitswissenschaft, die so genannte Betroffenenurteile, also subjektive Beschwerdebilder, als Ausgangspunkt filr eine zielorientierte Primärprävention von beispielsweise umweltinduzierten Krankheitsbildern. 8 Obwohl die Erfolge primärpräventiver Interventionen fast auschließlich von empirisch abgesicherten medizinsoziologischen und sozialepidemiologischen Befunden über die Wohn- und Arbeitsumfeldqualität abhängig sind, existieren diesbezUglieh kaum aussagekräftige Untersuchungen. 9 Gerade die quantitativ gewichtete Verteilung umweltspezifischer Belastungsparameter {Lärm, Luft, Verbauungsdichte, urbanes Kleinklima etc.) erfordert ein Abrücken konventioneller Erklärungsmuster zur Krankheitsentstehung. Es mag schon zu rechtfertigen sein, dass bestimmte Krankheitssensationen bei bestimmten sozioökonomisch benachteiligten Personengruppen anzutreffen sind, nicht vergessen werden darf aber der Umstand, dass das gegenwärtige und künftige Umweltbelastungspotential überregionale Auswirkungen zeitigt. 10 Wenn man also den präventivmedizinischen Bemühungen in den Gesundheitswissenschaften oberste Priorität einräumen will, ist es unabdingbar, die Versäumnisse der Vergangenheit auf dem Gebiet der sozialökologischen Befundung so rasch als möglich nachzuholen. Denn es erscheint völlig absurd, einerseits die Selbstverantwortung des Individuums fiir die Ausgestaltung seines Gesundheitsverhaltens zu apostrophieren, andererseits aber zu ignorieren, dass der Mensch den räumlichen Umweltbelastungsintensitäten ausgeliefert ist. Es soll hier keineswegs der Eindruck entstehen, alle Anstrengungen der Prävention auf den Gebieten der Ernährung, des Freizeitverhaltens, der Konsumation von Genussmitteln etc. seien nicht bedeutsam, allerdings ist ihre Wirksam7

Vgl. Wesp 1981.

8

Vgl. Freisitzer/Maurer 1985; Schlipköter 1990.

9

V gl. Schwarz 1999; Mielck 2000.

10

Vgl. Schneider/Speilenberg 1999.

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keit besonders vom Blickwinkel der Langfristigkeit aus gesehen relativ wirkungslos, wenn nicht der Lebensumfeldqualitätsverbesserung besonderes Augenmerk zugestanden wird. Im Hinblick auf die Wechselwirkungen und Konfliktpotentiale von Umwelt und Gesundheit gilt das Hauptaugenmerk der quantitativen Risikoabschätzung der Gesundheit. Die Synergismen von toxischen Substanzen, sozialen und psychischen Stressoren (Arbeitsüberlastung, Degenrationserscheinungen des Bewegungsapparates, Drogen- und Alkoholkonsum, Ernährungsgewohnheiten, Lebensstil) stellen eigentlich die Entscheidungsgrundlage fllr zielorientierte präventivmedizinische Konzepte dar.'' Die Prävention von Wohlbefindlichkeitsstörungen bis hin zu ausgeprägten Krankheitssensationen ist eine wissenschaftliche Aufgabe, aber auch gleichzeitig eine politische Herausforderung in der Gestaltung des Gesundheitswesens, und im weitesten Sinne auch der Raumplanung mit präventiver Ausrichtung und in der gesellschaftspolitischen Dimension der Herstellung gesundheitsgerechter Lebensbedingungen. Dieser ausgesprochene interdisziplinäre Ansatz erfordert naturgemäß eine Art Koordinationszentrum; dieser Aufgabenbereich wäre eine nahezu klassische Herausforderung fllr die Gesundheitswissenschaft. Diese schon längst notwendige Zusammenfllhrung verschiedenster Forschungsaktivitäten und Präventionsprogramme ist deswegen notwendig geworden, weil die separierten Alleingänge auf dem Gebiet der Gesundheitsprävention eher kontraproduktiv anmuten. Man sollte sich also die durchaus berechtigte Frage stellen, was denn eigentlich der Appell zur "gesunden Ernährung" soll, wenn ein nicht zu unterschätzender Teil der angebotenen Nahrungsmittel umweltbedingt belastet sind, und ein ebenso nicht zu vernachlässigender Prozentsatz der Konsumenten dieser Lebensmittel in stark umweltbelasteten Regionen lebt. Im urbanen Raum wohnen und arbeiten ca. 40 % bis 60 % der Bevölkerung in stark belasteten Wohngebieten. 12 Das nachfolgende Beispiel soll das Spektrum der Multidimensionalität wirksamer primärmedizinischer Programme noch erweitern.

11

Vgl. Grassmann 1998, S. 197-203.

12

Vgl. ebd., S. 110-119.

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Durch die Konzentration der Supermarktketten im urbanen wie auch im ländlichen Raum existiert faktisch keine intakte Nahversorgung. Eigene Untersuchungen haben ergeben, dass im Süden von Graz, in einer Region, in der I 00 Jungfamilien leben, kein Nahversorger im Umkreis von ca. 4-5 km erreichbar ist. Aus diesem Umstand heraus resultiert ein zusätzliches Verkehrsautkommen nur zur Beschaffung von Lebensmittel fiir den täglichen Gebrauch in einer Größenordnung von 76.000 km pro Jahr und Familie. Wenn man nun nur den Indikator "zusätzliches Verkehrsaufkommen" einer Detailanalyse unterzieht, so wird damit die Dimension der zusätzlichen Belastung fiir die Lebensumfeldqualität in Form von Abgas-, Lärm- und Staubbelastung erst wahrnehmbar. Gesundheitswissenschaften haben sich demnach auch mit den Problemen der Infrastrukturgestaltung und der Stadtplanung auseinanderzusetzen. In der Realität hingegen beschäftigen sich mit dem Aufgabenbereich der Stadtplanung die verschiedensten Disziplinen, wohlgemerkt völlig unakkordiert und rein den sektoralen Interessen dienend. Wie könnte es sonst sein, dass in einem kürzlich erschienen Bericht eines Forschungsprojektes über die Stadtsoziologie in keinem Wort die Thematik der Sozialökologie, der Medizinsoziologie oder Sozialepidemiologie Erwähnung findet. Eine Bewertung menschlichen Wohlbefmdens ohne Berücksichtigung der morphologischen Besonderheiten einer Region (Kieinklimata, Belastungsindizes, Bebauungsdichten, Abstrahltemperaturen, Luftzirkulation, Verkehrsfrequenzen, biotrope Reizwetterlagen, Wasserverunreinigungen, Grünflächenanteil, Sonneneinstrahlung, Geländeformationen etc.) sind unzulässig und nach dem Stand der heutigen wissenschaftlichen Erkenntnis völlig inakzeptabel. 13 Es scheint daher auch wenig verwunderlich, dass die Rezidivrate bei einer Vielzahl von Krankheiten besorgniserregend hoch ist, denn wenn man einen Patienten nach einer durchaus erfolgreichen Behandlung in sein belastetes Wohnumfeld entlässt, wird er dem umweltinduzierten Belastungspotential neuerlich ausgeliefert.14 Besonders sensibel auf anthropogene Umweltnoxen reagieren Kleinkinder und ältere Menschen, also ein besonders schUtzenswerter Personenkreis. 15

13

Vgl. Fischer 2001, S. 59-67.

14

Vgl. Hailauer 2000, S. 540-541.

15

Vgl. Thompson 1981.

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111. Gesundheitswissenschaft als Mediator zwischen den Konfliktpotentialen Umwelt und Gesundheit Der Ruf nach einer problemorientierten Umweltforschung unter besonderer Bedachtnahme auf geographische und infrastrukturelle Besonderheiten ist an sich nicht neu und wurde schon im Jahre 1911 von Hellpach in seinem damals bahnbrechenden Werk die "Geopsyche" ausformuliert. 16 Die vermutliche Geburtsstunde der Sozialökologie im Jahre 1921 ist ebenfalls auf die ökologische Betrachtung des urbanen Lebensraumes zurückzufilhren, und seit 1940 setzt sich die Sozialökologie intensiv mit der Erforschung der menschlichen Gemeinde (Bodennutzungszonen ect.) auseinander. Obwohl der Bedarf an Umweltbelastungsbefunden so groß wie nie zuvor ist, scheint sich das Interesse humanwissenschaftliehen Agierens weit ab von der medizinsoziologischen und sozialepidemiologischen Lebensumfeldbewertung unter Zuhilfenahme von subjektiven (Betroffenenurteile) und objektiven (BeIastungsparametem) zu etablieren. Die gesellschaftlichen Werte von Primärprävention erfreuen sich zwar einer hohen gesellschaftlichen Akzeptanz, verlieren aber vom Gesichtspunkt der unmittelbaren Überprüfbarkeit aus gegenüber der kurativen Individualmedizin rasch an öffentlichen Interesse. Die Gesundheitswissenschaft muss sich nun der Herausforderung stellen, die Konfliktpotentiale zwischen Ökologie (Basis filr die Lebensraumsicherung des Individuums) und Ökonomie zu neutralisieren. Diese Aufgabe wird naturgemäß nicht einfach sein, aber gestützt durch ein systematisches Monitoring (medizinsoziologische und sozialepidemiologische Untersuchungen) der Lebensumfeldqualität lässt sich eine fundierte Krisenprävention bewerkstelligen. 17 Daraus ergibt sich zwangsläufig ein Paradigmenwechsel: Während bislang primärpräventive Anstrengungen weitestgehend auf das Individuum ausgerichtet waren, muss die aus systemischer Sicht erweiterte Prävention sich mehr auf Umgebungsparameter zentrieren. Damit könnte es der Gesundheitswissenschaft gelingen, den reduktionistischen Umweltbegriff der "technisch-defensiven Umweltberuhigung" sukzessive durch den Begriff der umweltinduzierten Risikofaktorenerkennung (Prävalenz- und Inzidenzraten bestimmter von Umweltnoxen begünstigter Erkrankungen, z.B. durch Lärmbelastung) zu ersetzen.

16 17

Vgl. Grassmann 1998, S. 206-207. Vgl. Kulmhafer 2002.

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In diesem Zusammenhang muss noch erwähnt werden, dass die objektive Bewertung von Umweltbelastungsfaktoren (mittels Messgrößen) nur teilweise einen Hinweis auf das tatsächliche subjektiv empfundene Belastungsmoment von Störgrößen zulässt. So beispielsweise konterkariert die Bandbreite der subjektiv empfundenen Lärmbelastung so genannte objektive Messergebnisse. Die Positionierung der Gesundheitswissenschaft zwischen den einzelnen Disziplinen scheint sinnvoller, als sie wiederum einer bestimmten beizuordnen. Dem Trend zwischen ökonomischen, sozialen, politischen und gesundheitspolitischen Belangen zu differenzieren muss vehement entgegengetreten werden. Die Prävention von Wohlbefindlichkeitsstörungen und Krankheiten ist eine interdisziplinäre Aufgabe mit sehr hohem moralischen Anspruch. Die Managementfunktion der Gesundheitswissenschaften beschränkt sich daher nicht nur auf die Zusammenfilhrung verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen, sondern auch auf die Politikberatung zur Ausgestaltung eines Gesundheitswesens mit maßgeblicher präventiver Ausrichtung. Der nach wie vor eklatante Mangel an präventiver Orientierung im Sinne einer ganzheitlichen Ausrichtung des Gesundheitswesens scheitert nicht zuletzt an dem Mangel an empirisch abgesicherten Lebensraumdiagnosen. Der Jubilar, der Linzer Gesundheitswissenschafter Universitätsprofessor Zapotoczky kann zweifelsohne als Vorreiter einer empirisch determinierten Gesundheitswissenschaft bezeichnet werden, und hat auch mit seiner Untersuchung über "das Wissen und die Einstellungen der Österreicherinnen zur Funktion und zum Krankheitsspektrum des Gehirns" einen wesentlichen Beitrag zur Ausgestaltung eines primärpräventiven Konzeptes beigetragen. Und wenn Rudolf Virchow anlässtich der im Jahre 1847 in Oberschlesien wütenden Hungertyphusepidemie konstatierte, dass "die Medizin eine soziale Wissenschaft ist, und die Politik weiter nichts als Medizin im Großen", so scheint diese Erkenntnis ein unwiderrufliches Postulat filr eine neue und zukunftsorientierte Gesundheitswissenschaft.

Literatur Fischer, G.: Quanten-Medizin- Wetterftlhligkeit: Neue Chancen der Heilung, wissenschaftliche Studie, 2000. Freisitzer, K./Maurer (Hrsg.): Das Wiener Modell - Erfahrungen mit innovativer Statdplanung, Empirische Befunde aus einem Großprojekt, 1985.

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Grossmann, G.: Das langsame Sterben. Eine medizinsoziologische Ökologiestudie über den Zusammenhang zwischen Wohnumfeldbelastung und Krankheit, Frankfurt/M. u.a. 1998. Ha/lauer, J.: Eigenverantwortung-Prävention, in: Das Gesundheitswesen. Sozialmedizin, Gesundheitssystem-Forschung, Public Health, Sonderheft 1, 2000, S. 540-541. Kilian, R.: Lebenslage und primärpräventives Gesundheitsverhalten, in: Soziale Probleme, I /2000, S. 79-84. Kulmhofer, A.: Probleme der Krisen- und Katastrophenvorbeugung. Seminararbeit an der Karl-Franzens-Universität-Graz, 2002. Maiman. L. A.; Becker, M. H.: The Health belief Model: Origins and Correlates in Psychological Theory. in: Health Education Monographs, 4/1974, S. 336-340. Rextrode, K. M. et al.: Abdominal adiposity and coronary heart disease in women, 1998. Rosenstock, I. M.: Historical Origins of the Health Belief Model, in: Health Education Monographs, 4/1974, S. 328-332. Schaefer, H.!Blomke, M.: Sozialmedizin. Einfiihrung in die Medizin-Soziologie und Sozialmedizin, 1978. Schlipköter, H. W.: Wechselwirkungen zwischen Luftverunreinigung und menschlicher Gesundheit, in: Kongressband YÖEST-Umweltschutzsymposium, 1990. Schneider, N.!Spellenberg, A.: Lebensstile, Wohnbedürfnisse und räumliche Mobilität, 1999. Thompson, S.: Epidemiology feasibility study. Effects ofNoise on the Cardio-vascularSystem, Techn. Rep. EPA 550/9-81-103, 1981.

Hochleistungsmedizin und christliche Ethik Hoher ethischer Orientierungsbedarf in unübersichtlicher Zeit Von Helmut Renöckl Den medizinischen Bereich sehe ich wie einen Seismographen, der hochsensibel die manifesten und die hintergründigen Vorgänge im persönlichen und gesellschaftlichen Leben anzeigt. Im medizinischen Bereich spitzen sich viele Entwicklungen zu, gesamtgesellschaftliche wie medizinspezifische. Nicht wenige Probleme, die man der Medizin zuweist, sind nicht oder nur teilweise medizinisch zu lösen. Es ist also zu überlegen, was in Medizin und Gesellschaft besonders beachtenswert ist, wo erfreuliche, wo problematische Trends, wo Umorientierungserfordemisse für Vorsorgen und Heilen wahrzunehmen sind. Wir leben in einer Zeirrascher und tiefgreifender Veränderungen in allen Lebensbereichen. Ohne Übertreibung ist festzustellen: Noch nie hat sich in so vielen Lebensbereichen so viel so schnell verändert wie derzeit. In Analogie zur "Industriellen Revolution" des 19. Jahrhunderts ist dieser Umbruch-Prozess als eine zweite, jetzt globale, wissenschaftlich-technische Revolution zu interpretieren. Sie wird von zwei Schlüsseltechnologien stimuliert, von Elektronischer Infonnationstechnikffelekommunikation einerseits und Bio-/Gentechnik andererseits (diese beiden Technologien spielen auch direkt in der modernen Medizin eine bedeutende Rolle). Viele sehen darin mehr als einen weiteren Schub innerhalb der neuzeitlichen Programmatik der wissenschaftlich-technischen Erforschung und Gestaltung der Welt, der Gesellschaft und des Menschen, sie deuten die Vorgänge als einen epochalen Paradigmenwechsel, als Ablösung der neuzeitlichen durch eine noch undeutliche nachneuzeitliche Orientierung.

I. Medizinische Herausforderungen heute Durch derartig gravierende Veränderungen nehmen die Orientierungs-, Wertungs- und Entscheidungsprobleme in allen Lebensbereichen zu, speziell

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auch am Anfang und am Ende des Lebens, vertraute Handlungsmuster und Sicherheiten geraten zumindest "ins Schwimmen". Das gilt generell ftlr unsere individuellen und gesellschaftlichen Lebensmuster und zugespitzt, "seismographisch", fiir die Medizin. Erinnern wir uns: Bis etwa in die Sechzigerjahre wurde das ärztliche Standesethos, im Wesentlichen von Ärzten fonnuliert, als angemessen und ausreichend empfunden. Trotz kleiner und großer Erschütterungen (hier ist an die NS-Medizin zu erinnern) war die ärztliche Autorität auch in ethischer Hinsicht unangefochten. Die stilisierten "Weisungen des Hippokratischen Eides": heilen, nicht schaden, nicht töten, weder am Anfang noch am Ende des Lebens, kein Missbrauch des ärztlichen Einflusses und Wissens, waren eine innennedizinische Fürsorgeethik. Gewaltige Zuwächse an medizinischem und technischem Wissen und Eingriffsmöglichkeiten veränderten die Lage seit den 50er-, 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts sehr gründlich: Künstliche Beatmung, Reanimation, medizintechnische Lebenserhaltungssysteme wurden in das Behandlungsprogramm eingeftlhrt und zur ständig leistungsflihiger werdenden Intensivmedizin weiterentwickelt. 1954 erfolgte die erste erfolgreiche Nierenverptlanzung, heute transplantiert man ganze Organpakete und auch schon Hirngewebe. 1978 wurde das erste Baby nach In-Vitro-Fertilisierung und Embryotransfer geboren. Jetzt ist das in hohen Zahlen medizinischer Alltag, man macht pränatales Genscreening, beginnt mit Präimplantations-Diagnosen, Forschungen, Behandlungsversuche an Embryonen, über prädiktive Gendiagnostik und gentechnisch hergestellte Medikamente stößt man zu Gentherapie, molekularer Medizin, zu Stammzellen-Experimenten und -Therapien vor. (Ich berichte damit die Fakten, ethisch gesehen ergeben sich viele offene Fragen, teils ernste Einwände, teils klare Ablehnung.) Die beeindruckend expandierende Leistungsflihigkeit der Medizin schafft zunehmend Folgeprobleme und Entscheidungssituationen, welche die bisherige Reichweite, Sichtweise, Bewertungs- und Bewältigungsmuster der Medizin übersteigen: Soziologen konstatieren Tendenzen zu einer überalterten Gesellschaft mit einer rasch zunehmenden Zahl hochbetagter, chronisch Kranker, die pennanent aufwendige medizinische und soziale Stützungen brauchen. Man fragt zunehmend: ist Lebensverlängerung um jeden Preis anzustreben, wird da mitunter nicht eher das Sterben als das Leben verlängert? Schwierige Fragen stellen sich zunehmend beim intensivmedizinischen Einsatz bei Frühgeburten. Die Grenzen werden immer weiter hinausgeschoben, man bringt "FrUhchen" durch mit minimalen Geburtsgewichten und noch unreifen lebenswichtigen Organen (z. B. Großhirnrinde, Lunge). Es entstehen ganz schwierige Beurteilungs- und Entscheidungssituationen. Ich beziehe mich damit nicht auf den nach meiner Überzeugung ftlr Ärzte fatalen Irrweg "aktive Euthanasie", sondern auf die schwierigen Entscheidungen, wann, unter welchen Kriterien, wel-

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ehe "außergewöhnlichen", intensivmedizinischen, lebenserhaltenden Maßnahmen einzusetzen bzw. aus guten Gründen zu Jassen sind. Wie ist umzugehen mit der verbreiteten Erwartungshaltung ständigen, uneingeschränkten "Wohlfiihlens"? Ist jede Befindlichkeitsstörung schon behandlungsbedürftige Krankheit? Besteht Anrecht auf hormonales, chirurgisches, psychotherapeutisches Lebens-Design, auf "Anti-Aging"? Gravierende Anspannungen wachsen im medizinischen System durch die aufklaffende Schere zwischen rasch zunehmenden, im Regelfall teuren medizinischen Möglichkeiten und bestenfalls langsam zunehmenden finanziellen Ressourcen. Stehen viele medizinische Möglichkeiten nur noch fiir hochversicherte Reiche zur Verfiigung? Werden Gesundheit der Gesamtbevölkerung und Gemeinwohl nachrangig? Darf man die ökonomisch rasant sich entwickelnde "Globalisierung" ohne parallele Ausweitung von Gemeinwohl und Volksgesundheit betreiben? Die Möglichkeiten moderner Hochleistungs-Medizin setzen ein komplexes medizinisches System voraus, sie vollziehen sich überwiegend nicht mehr im überschaubaren Arzt-Patient-Verhältnis samt Kenntnis des wichtigen LebensKontextes. Zusätzliche Akteure, Bedeutsamkeiten, Zusammenhänge, Mechanismen, Interessen schieben sich zwischen Ärzte, Pflegende und kranke Menschen. Man denke nur an die internen Eigengesetzlichkeiten und betriebswirtschaftlichen Erfordernisse von Großbetrieben wie Hochleistungsspitäler, Versicherungsorganisationen und Pharma- und Medizintechnik-Konzerne. Wenn das Medizinsystem in den entwickelten Ländern rund 10 % des Bruttoinlandsproduktes bewegt und beansprucht, so kommen unweigerlich starke politische Einflussfaktoren ins Spiel. Es stellt sich in nationaler und globaler Hinsicht, öffentlich und individuell die Frage nach angemessenen Prioritäten und Proportionen. Die ökonomischen Größenordnungen stimulieren entsprechende Verteilungskämpfe, offen oder noch öfter verschleiert. Es gibt starke Trends zu Entsolidarisierung, zu neuem "Sozialdarwinismus". Ein anderer Trend angesichts der Anspannung finanzieller Ressourcen sind technokratische Optimierungen!Limitierungen (Punktesysteme, Anreize, Sanktionen, entsprechende EDV-Programme). Die (fragwürdigen?) Wertungen werden ins System, in die Hardware und Software eingebaut, nach außen ergibt sich der Eindruck von Objektivität, man vermeidet konkreten Entscheidungsstress. Noch von einer ganz anderen Seite, vom Anspruch auf autonome Selbstbestimmung her, wurde die "hippokratische" ärztliche Fürsorge-Ethik in Frage gestellt. (Wurzeln daftlr gab es bereits in der klassischen Antike, in der sokratischen und stoischen Sicht des Menschen.) In der Bürgerrechtsbewegung in den USA der 60er-Jahren bündelten sich verschiedene Bewegungen zu einem kulturrevolutionären "Aufstand" sich ohnmächtig ftlhlender Bürger gegenüber der

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"Ordnung" einer wissenschaftlich-technisch-ökonomisch hoch entwickelten Gesellschaft, die man als "neofeudale" Machtpyramide empfand. Das medizinische System wird dabei ausdrücklich als Teil des kritisierten "MachtOhnmacht-Systems" gesehen. Auslöser dafilr waren bekannt gewordene sehr risikoträchtige unfreiwillige Humanexperimente im boomenden biomedizinischen Forschungsbetrieb. Auch davon unabhängig filhlte man sich als Patient in den Hochleistungsspitälern zunehmend als Objekt, vor allem in intensivmedizinischen Terminalphasen. lvan Illich formulierte spitz: "Man darf nicht mehr sterben, man erleidet den Medizid". Es kam zu einer "Patients Bill of Rights" mit dem neuen Primat der Patienten-Selbstbestimmung. Das bedeutet eine grundlegende Veränderung gegenüber dem hippokratischen FUrsorgeethos, wofllr jetzt die abwertende Bezeichnung "Paternalismus" geprägt wird. Die Regelungen zielen auf institutionelle Sicherung der freien Zustimmung nach vollständiger Aufklärung, auf "informed consent''. Um Missverständnis gar nicht erst aufkommen zu lassen: Die hippokratischen Weisungen reichen fllr die aufgeworfenen neuen Fragen nicht mehr aus, wir brauchen zusätzliche Klärungen, Orientierungen, Kriterien, Normen. Aber die "hippokratischen" Aufgaben und Haltungen, die helfende und sorgende Zuwendung im Arzt-Patient-Verhältnis bleiben trotz aller medizinischtechnischen und institutionellen Erweiterungen unersetzlich.

ß. Größe und Grenze der Neuzeit und der neuzeitlichen Medizin Wir haben eine neue Qualität von Wissen und Verfllgungsmöglichkeiten (man vergegenwärtige sich die Leistungen unserer Hochleistungsmedizin, die sich anbahnenden Entwicklungen in der Stammzellen- und Molekularmedizin), es gibt Trends zu technokratischen oder biologistisch-sozialdarwinistischen "Lösungen", zu "autonom" bezeichneten, aber nicht im Sinne Kants verallgemeinerungsfllhigen, sondern nicht selten individualistisch-willkUrliehen Einstellungen. Diese Lagen, Trends, neuen und ungeübten Fragen/Entscheidungen, bei denen es oft auf Leben und Tod geht, bedürfen eines grUndliehen Rückblicks und Ausblicks auf das dem Menschen Gemäße, auf das unverkUrzte Ganze des Lebens, inklusive der schwierigen Dimensionen der Krankheit, des Leidens und Sterbens. Es ist beachtenswert, wie sehr die Sichtweisen dieser grundlegenden Lebenserfahrungen von epochalen Paradigmen geprägt und orientiert sind. Vorneuzeitlich galt generell und im Hinblick auf Gesundheit und Krankheit das Gegebene/Überkommene im Wesentlichen als naturgemäß und gottgewoHt, mit dem man sich, einschließlich Leid, Not und oft frühem Tod, daher im Gro-

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ßen und Ganzen abzufinden hatte. Das medizinische Tun hatte den Schwerpunkt in der Unterstützung der natürlichen Heilkräfte und in oft bewundernswerter FUrsorge und Pflege. Größere Eingriffe, wie etwa Chirurgie, galten als Hybris. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts warnte ein Papst vor Schutzimpfungen: das bedeute, den strafenden Arm Gottes aufhalten zu wollen. Bis zum heutigen Tag gibt es problematische Gleichsetzungen von Krankheiten und Leiderfahrungen (z. B. Aids) mit Strafe Gottes. Aber auch in gegenwärtigen Alternativ- und Esoterik-Strömungen gilt "die Natur" (bzw. "der Kosmos") wiederum in oft unkritischer Weise als sakrosankt, als unantastbare norma normans. Dazu Zitate aus Thorwald Dethlefsen (aus: Das Leben nach dem Leben, 1986): "Woher holt sich ein Arzt die Berechtigung, zum Beispiel einen nicht-lebenswilligen (Umschreibung von "behindert") Säugling dazu zu zwingen, am Leben zu bleiben? Und sich nach dieser Tat nicht mehr um ihn zu kUmmern? Die Eltern können dem Arzt diese Vollmacht wohl kaum erteilen, da sie selbst es waren, die die Geburt eines lebensunflihigen Säuglings vorbereitet haben."(... ) "Ein Kind aus einer harmonischen und giUcklichen Ehe, das von beiden Elternteilen mit Freuden erwartet wird, ist nicht lebensunflihig (Umschreibung von "behindert")! Entsteht aber ein Kind aus einer unechten Verbindung, so muss es zu einem Zeitpunkt auf die Welt kommen, der bereits formal die Lebensunflihigkeit des Kindes im Horoskop widerspiegelt. Es ist daher ein natürlicher und gesunder Vorgang, dass die Natur dieses Geschöpf vom Leben wieder zurUckzieht!" ( ...) "Weicht ein Mensch trotz aller Korrekturmaßnahmen von seiner Lebensformel ab, so muss er von der Natur zwangsläufig eliminiert werden. Er wird durch eine tödliche Krankheit oder durch einen Unfall aus dem Verkehr gezogen. Denn im Kosmos gibt es nur einen begrenzten Spielraum fllr Abweichungen. Wird dieser Obertreten, so muss der Kosmos seine Ordnung gewaltsam wiederherstellen." Ganz anders die Neuzeit: sie interpretierte das Überkommene, "die Natur", als Ausgangslage, als Steinbruch menschlichen Gestaltens. Man betrieb daher aktiv die Erforschung der Wirklichkeit, um sie entsprechend den menschlichen Zielsetzungen, nämlich Beseitigung von Not und Leid bis hin zur umfassenden Befreiung, umzugestalten. Man wollte alle Gesetzmäßigkeiten begreifen, um sie zu beherrschen. Sicher auch wegen des Festhaltens der großen Mehrzahl der kirchlichen und theologischen Repräsentanten (es gab auch bemerkenswerte Ausnahmen) an den vormodernen (Macht-)Positionen waren dabei die Perspektive und Methoden der Naturwissenschaften leitend. So setzte man auch in der Medizirl auf Spezialisierung und Quantifizierung, auf Erforschen und Eingreifen, auf hochwirksame Medikamente und Behandlungen, bis herauf zur heutigen Hochleistungsmedizin. Dieses neuzeitliche Programm der Entgrenzung, der quantitativen und qualitativen Erweiterung der menschlichen Entfaltungs- und Gestaltungsräume

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brachte gewaltige Erfolge, allgemein und speziell medizinisch, man denke nur an die verdoppelte durchschnittliche Lebenserwartung und an die für viele bis ins hohe Alter beachtliche Lebensqualität Doch im Hinblick auf das Paradigma "unbegrenzter Fortschritt" und "umfassende Freiheit" (religiös gesprochen geht das in Richtung "Heil" und "Erlösung") haben mittlerweile gewichtige Zweifel die ursprUngliehe Zuversicht abgelöst: Die erstrebte Souveränität gegenüber der vorher unverfügbar festlegenden Natur ließ sich nicht durch das spontane Tun einzelner Menschen gewinnen. Dazu braucht man die effizient gebündelten Anstrengungen vieler, die diszipliniert-arbeitsteilige Kooperation in riesigen Forschungs-, Produktions-, Medizinsystemen, Ausbildungs- und Verwaltungsgebilden, die ihrerseits von Eigengesetzlichkeiten, Sachzwängen (und zusätzlich von problematischen Wucherungen) strotzen.

111. Full Wellness For Ever? Das neuzeitliche Programm zielt auf Leidfreiheit, man vergleiche die WHODefinition: "Gesundheit ist ein Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens und nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen." Dieses Programm stellt wichtige Leitlinien vor Augen und hat viel Wertvolles hervorgebracht. Aber jetzt erweist es sich bei genauerer Betrachtung als problematisch-einseitig. Es weckt grenzenlose Erwartungen und verschweigt schwierige Realitäten des Lebens wie unüberwindliche Behinderungen, Grenzen und Schwächen, Krisen, Altern und Sterben. Diese einseitige Programmatik blockiert das Unterscheiden zwischen beseitigbarem und unvermeidlichem Leid und lässt die Fähigkeit, unvermeidliche Belastungen und Leiden auszuhalten, verkümmern. In der FrUh- und Hochphase der Neuzeit war es ein höchst plausibles Ziel, für Lebenserweiterung, gegen das "Sterben vor der Zeit", gegen Not und Unfreiheit mit dem Einsatz aller Fähigkeiten und Kräfte zu kämpfen. Jetzt, in der Spätneuzeit, in unseren materiellen Wohlstands- und Konsumgesellschaften geraten die humanen und ethischen Zielsetzungen leicht aus den Augen: Höchst effektiv suggeriert man uns, fiir alles gäbe es "Instant"-Lösungen zu kaufen, alles wäre "instant" zu haben, d.h. einfach, pflegeleicht, auf Knopfdruck produzierbar, abrufbar, jederzeit wiederholbar. Unsere Leistungsgesellschaft mit ihren Instant-Glück-Versprechungen und -Erwartungen tendiert zur Verschleierung schwieriger Realitäten, zur Verwöhnung, zur Verdrängung und Ausgrenzung nicht nur des Leids, sondern auch der Leidenden, aller "Unpassenden", "Minderleister", zu Unbarmherzigkeit und Mitleidlosigkeit.

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Das Verdrängen der wesentlichen Lebensdimensionen des Pathischen, der Begrenztheit, der Ohnmacht, des Alterns und Sterbens führt zu krassen individuellen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen und entsprechenden Schäden. Illusionäre Versprechungen/Erwartungen verstärken die Gerechtigkeitsprobleme: die Durchsetzungsflihigeren beanspruchen im sinnlosen Übermaß auf Kosten anderer die gesellschaftlichen, auch die medizinischen Ressourcen. Deshalb ist zu bedenken: Krankheit und Leiden haben nicht nur einen bedrückend dunklen Charakter, sondern persönlich und gesellschaftlich auch eine enttäuschende, klärende, prophetische Funktion (daran erinnern so verschiedene Denker wie F. Nietzsche, Th. W. Adorno und J. B. Metz). Vielfach werden wir in unserer geflihrlich-einseitigen Zivilisation erst beim Kranksein zur "Entschleunigung" und Besinnung gezwungen. Da kann sich die Chance eröffnen, scheinbar Selbstverständliches und Forderbares wie Gesundheit und Leistungsflihigkeit als nicht selbstverständlich zu erkennen und die Unsicherheit, Begrenztheit, Zerbrechlichkeit unserer Existenz und aller unserer Hervorbringungen wahrzunehmen. Die neuzeitliche Vision der Beseitigung von Leid und Ohnmacht durch Erforschung und Beherrschung aller Gesetze und Mechanismen in Natur, Leib, Seele, Wirtschaft und Gesellschaft hat dankenswert viel erreicht, aber zu viel versprochen. Anstrebenswert ist die Unterscheidung zwischen vermeidbarem!beseitigbarem Leiden und unüberwindlicher Begrenztheit und Schwäche alles Menschlichen, die Integration des Pathischen in eine unverkürzt humane, nachneuzeitliche Lebenskultur. Diese Bewusstseins- und Lebensstilentwicklung ist die Aufgabe und Verantwortlichkeit jedes Menschen, sowie der Gesellschaft und ihrer Bildungseinrichtungen.

IV. Hoffnungsarme und orientierungsunsichere Postmoderne Wir wissen um die ungeheure Effizienz moderner Technologien, aber auch um deren Ambivalenz, wir kennen mittlerweile neben den wünschenswerten auch genug negative Wirkungen, Begleiterscheinungen, und Missbrauchmöglichkeiten, zumindest erhebliche Risiken. Vor allem wächst die Skepsis hinsichtlich der moralischen Fähigkeiten der Menschen: In unseren Jahrzehnten durchbrach man entscheidende "Schallmauern" und gewann wissenschaftlichtechnisch-ökonomische Einwirkungsmöglichkeiten auf wirklich weltbewegende Kräfte und Steuerungen, am deutlichsten in der Gentechnik. Lebenssteuerungen und Erbgut sind zunehmend in menschlicher, in industrieller Verfiigung. Nicht wenige zweifeln, ob die Menschen individuell und gesellschaftlichinstitutionell verantwortungsvoll genug mit diesen gigantischen Eingriffsmöglichkeiten umgehen (werden), wir haben mittlerweile genug Erfahrungen mit

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fatalen Entartungen ordnungsentbundener Menschen. Aber auch ganz alltäglich stellen wir fest: Einerseits brachte die Neuzeit und ihre Medizin eine markante Steigerungen der durchschnittlichen Lebensdauer und der Lebensqualität vieler. Andererseits registrieren wir einen hohen Anteil von zivilisationsbedingten Krankheiten und Todesursachen. Jetzt, spätneuzeitlich, wird die einseitige Akzentsetzung auf naturwissenschaftliche Spezialisierung und Quantifizierung immer effizienter auf immer mehr menschliche Lebensbereiche ausgeweitet: Unter den Stichworten "Rationalisierung", "Optimierung", "Effizienz-Steigerung", "Qualitätssicherung" ... werden Wirtschaft und Gesellschaft einschließlich der Freizeit, einschließlich Medizin und Pflege, zunehmend auf das Quantifizierbare, Digitalisierbare, auf "Effizienz" und "Kapitalerträge" ausgerichtet/reduziert. Das Nicht-Quantifizierbare, Unverzweckbare, Freie, Schöne, Geschenkhafte, Unkaufbare und Unverkäufliche ... finden zu wenig Raum und Aufmerksamkeit. Wenn diese "Rationalität" und "Effizienz" unser Leben, unsere Zivilisation, unser Medizinsystem immer stärker bestimmen, dann werden im gleichen Ausmaß die Menschen auf produzierende und konsumierende Rädchen in einer Sozialmaschinerie, auf das Sachhafte, auf Kostenfaktoren und Kalkulationsgrößen reduziert. Die Konsequenz sind zunehmende Beziehungs-Schwächen, eine "Hirn- und HerzLähmung", eine heillose Verarmung mitten im materiellen Wohlstand! Viele kundige Diagnostiker unserer Zeit sprechen vom "Ende der Neuzeit", von einer epochalen Umorientierungskrise hin zu einer "Nachneuzeit", "Postmodeme". Jedenfalls nimmt die Faszination!Piausibilität der neuzeitlichen Fortschrittshoffnungen ab, die Skepsis gegenüber ihren Hauptinstrumentarien: eindimensional-kausalrationale Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und auch gegenüber einer so geprägten Medizin nimmt zu. Diese Skepsis betrifft also die bestimmenden Muster unserer Zivilisation und unsere Lebensperspektiven insgesamt und das hat auf Gesundheit und Krankheit und auf Ärzte und Pflegende erhebliche Auswirkungen: Wir Menschen sind zu großen Anstrengungen fUr sinnvolle Ziele fähig und brauchen solche Ziele ftlr die Mobilisierung und Integration unserer Fähigkeiten und Kräfte. Wer Sinn in seinem Leben und Tun findet, ist ungeheuer belastbar, ohne Sinn ist schon geringe Belastung zuviel. Die Postmodeme ist hoffnungsarm und orientierungsunsicher. Viele fragen sich, mehr oder weniger ausdrücklich: Was gibt wirklich tragfähige Hoffnung, im Leben und über den Tod hinaus? An Sinn-Defiziten und OhnmachtsGefUhlen, an Bedeutungs- und Antriebslosigkeit, an Ziellosigkeit leiden viele Menschen, auch ganze Gesellschaften und Zivilisationen. Die psychosomatischen Folgen liegen auf der Hand. Hier stecken viele unterschätzte Wurzeln von Krankheit und wichtige Aspekte des Heilens.

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V. Koordinaten christlicher Anthropologie und Ethik Heilsam leben, Heilen und Heil Ärzte reagieren nicht selten allergisch auf kirchliche Mahnungen wie "Schutz des menschlichen Lebens vom natürlichen Anfang bis zum natürlichen Ende" und weisen darauf hin, dass sich die schwierigen Entscheidungen vielfach in "künstlichen" Erweiterungsbereichen stellen. Hier bräuchten sie tragfähige Kriterien, das Attribut "natürlich" wäre da keine Orientierungshilfe. Wie immer man solche Mahnungen und Appelle empfindet, sie sind jedenfalls noch keine ethische Argumentation. Durch das Fragwürdigwerden der neuzeitlichen Hoffnungen und Programme stellen sich wieder neu die alten Grundorientierungsfragen: Was ist der Mensch? Woher kommt er, wohin geht er? Was ist das "dem Menschen Gemäße"? Was also ist in medizinischen Erweiterungsbereichen mit stichhaltigen Argumenten als menschenwürdig, was als menschenunwürdig zu werten? Wo liegen Orientierungen filr Sollen und Dürfen, wo sind gegen Missbräuche und Unmenschlichkeiten verlässliche Grenzen zu ziehen? Können da christliche Perspektiven Überzeugendes und Hilfreiches einbringen? Im verfügbaren Rahmen kann ich nur auswählend und scherenschnittartig einige Thesen zu christlicher Identität und Koordinaten christlicher Anthropologie und Ethik vorlegen. Die notwendige Konkretisierung fiir verschiedene medizinische Themen bedarf detaillierter interdisziplinärer Arbeit.

VI. Christliche Identität Entscheidend filr die Identität biblischen Glaubens und fiir ein Leben aus diesem Glauben ist die Ausrichtung auf Jahwe, der Der-Ganz-Andere, nichts Innerweltliches ist, der Primat von Gottes schöpferischer Zuwendung. Am Anfang und immer wieder grundlegend ist nicht eine göttliche Dimension/Kraft der Natur oder des Kosmos, sind nicht Mechanismen, Energiefelder oder ein System, sondern Gottes freie, geistvolle Schöpfung, seine im Leben und in der Geschichte immer wieder erfahrbare belebende, orientierende Zuwendung. Im Mittelpunkt stehen also Beziehung und Begegnung. Die fundamentalen anthropologischen Aussagen der Bibel sind bekannt: Der Mensch ist als Mann und Frau nach Gottes Ebenbild geschaffen, also mit Geist, Sprach-, Liebes-, Entscheidungsfähigkeit und Kreativität ausgestattet, Menschen sind in biblischer Sicht "Söhne und Töchter'', ·nicht "Sklaven oder Marionetten", beauftragt, Leben und Welt zu gestalten. Damit ist nicht Willkür legitimiert, gottebenbildlich handelnde Menschen orientieren sich an Gottes Umgang mit seinen Geschöpfen. Weniger bekannt ist, dass mit "Schöpfung" nicht "alles fixfertig vom Himmel gefallen" vorgestellt werden sollte. "Para-

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dies" und "Sündenfall" sind Ätiologien. Im alten Orient, dem Entstehungskontext der Bibel, waren unsere Allgemeinbegriffe und Wesensaussagen noch nicht verftlgbar. Wenn man ausdrücken wollte, was immer gilt und immer wieder geschieht, woraus die Gemische und Geflechte der Geschichte und der konkreten Situationen entstehen, dann sagte man "von Anfang an und seit her", und unterstrich dies durch starke typologische Erzählungen und Bilder. Damit soll nicht eine Chronologie.vor Augen gestellt werden, sondern das, was ganz wichtig ist und immer wieder geschieht: gelingendes Leben in Beziehungen der Geschöpfe untereinander und mit ihrem göttlichen Schöpfer bzw. illusionäre oder destruktive Heilskonzepte, Verabsolutierungen, Rivalitäten. Fertig "vom Himmel gefallene" Menschen und "Paradiese" wären "vorprogrammiert", da bliebe keine echte Möglichkeit filr Kreativität und Freiheit. Vielmehr entspricht der biblischen Offenbarung eine werdende Schöpfung, das unüberspringbare schrittweise Lernen und Entwickeln des Menschenwürdigen auf langen Lebens- und Menschheitswegen. Für Christen zeigt sich in Jesus von Nazaret, in seinem Leben, Sterben und Auferstehen kurz, wie im Blitzlicht, aber unüberbietbar, wie Gott zu uns ist. Jesus lebte in intensiver Verbindung mit dem göttlichen Vater, immer wieder zog er sich zu langen Phasen des Betens und Sinnens zurück. Seine intensive Gottes-Wahrnehmung filhrte ihn nicht von der Welt weg, sondern trieb ihn zu den Menschen. Jesu Zeichen- noch vor dem Kreuz- ist die Sandale. Er ging in die Lebensorte der Menschen, nahm Anteil an ihrem Leben und erschloss ihnen - in ihrer Sprache - die Bedeutung ihres Lebens. Besondere, heilende Zuwendung widmete er den Beschädigten, den "Blinden, Lahmen, Tauben", den Bedrückten, den von allerlei Ungeist Besessenen, auch den Schuldigen und religiös Unattraktiven, um ihnen wieder Hoffnung und Lebensorientierung zu geben. Gegen alle Verniedlichung und Verharmlosung zeigen Kreuzweg und Kreuzestod Jesu die oft unverstehbar harte Wahrheit der Grenzen, der Ohnmacht, des Leidens, des Unrechts, der Gewalt und des Todes. Im Gekreuzigten zeigt sich die erlösende Haltung des Gottesknechts (vgl. Jes. 53,3-10), der Gewalt und Unrecht nicht wie üblich zurückschleudert und damit perpetuiert, sondern im Vertrauen in die Treue des lebendigen Gottes an sich auslaufen lässt, der mitleidende Gottessohn, der seine Arme bis zum Zerreißen auseinander spannen lässt zwischen der Welt wie sie ist und der himmlischen Hoffnung auf Versöhnung, Freude und Frieden, ohne das eine oder das andere loszulassen. Für Glaubende bestätigt die österliche Auferstehung dieses Vertrauen und diese Hoffnung. Wiederum-gegen alle "Naherwartung" paradiesisch-himmlischer Verhältnisse auf Erden - : dieses jesuanische "Blitzlicht'' ist kein Ersparen der Lebens- und Menschheitsgeschichte, der mühsamen, langen Wege des Ertastens und Erlernens des Menschenwürdigen, sondern die Zu-Mutung dieser Geschichte.

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1. Koordinaten christlicher Anthropologie und Ethik

Menschen sind in christlicher Sicht zur Gottebenbildlichkeit berufene Geschöpfe, Wesen mit endlicher Freiheit, denkfähig, kreativ, entscheidungsfähig, fehlbar, im Ausmaß ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten verantwortlich. Endgültige Befreiung, "Heil" gelingt nicht durch "Beherrschung" sondern in "Beziehung". Ganz wesentlich ist die Weg-Perspektive für einzelne Menschen, für Kirchen und andere Weggemeinschaften, ihre Institutionen und Lebensstile, für Völker und Kulturen, für die Menschheit. Am Anfang steht das Ungestaltete, das Wilde, der "Dschungel". Jeder darf und muss bei seiner Ausgangslage beginnen und das ihm Mögliche, schrittweise, in der voranführenden Richtung realisieren. Es geht um einen Reifungs- und Wandlungsprozess mit Phasen, Epochen, Spannungen, Rückschlägen, Umbruch-Krisen, weg von infantilen Abhängigkeiten und wilden, unreifen Dominanzen hin zu einer Kultur der Mitmenschlichkeit Die biblischen Aussagen sind klar (vgl. Mt. 25, 31-46; Mt. 23,23; Jo. 15,9-17; I. Jo. 4,7-24): Wo Menschen sich zuvorkommend zuwenden, wo Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue gelebt wird, geschieht Göttliches zwischen den Menschen. Die "Natur des Menschen", das "dem Menschen Gemäße" ist in christlicher Sicht also nichts Abgeschlossenes, nicht bloße Einfügung in eine statische, vorgegebene Ordnung. Die menschliche Natur ist aber auch nichts Beliebiges und Willkürliches, sondern sie ist kulturfähig und kulturbedürftig. Die kirchliche Glaubensgemeinschaft hat dabei wichtige inspirierende und orientierende Dienste zu leisten. Kulturen, Epochen (samt Einseitigkeiten, Krisen und Rückschlägen) sind Etappen der- fragmentarischen!- Realisierung.

2. Christliche Inspiration der "Nachneuzeit"? Den Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit hat die Christenheit nicht gut bewältigt. Die kirchliche Einheit zerbrach, man kämpfte um alte Machtpositionen und gegeneinander, eine christliche Inspiration der Neuzeit ist nur wenig gelungen. Ist der Christenheittrotz dieser Fehler und Versäumnisse eine Inspiration der Nachneuzeit, eine neue Bewährung der biblischen Berufung zur Kultivierung der Welt zuzutrauen und zuzumuten? Der große Theologe Nicolaus Cusanus hat mitten in der Umbruchskrise vom Spätmittelalter zur Neuzeit "Gottebenbildlichkeit" mutig als Berufung zum "Mitschöpfer-Sein" interpretiert. Akzent und Orientierung von "Befreiung" und "Heil" sind in der biblischen Vorstellung von "Gottebenbildlichkeit'' allerdings deutlich anders als beim neuzeitlich-prometheischen Beherrschungs-Modell, das sich nicht selten in Grenzenlosigkeits-und Allmachtsillusionen, in Verdrängungs- und Kompensations-Mechanismen verrennt und- davon getrieben- Rücksichtslosigkeiten

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und Ungerechtigkeiten hervorbringt. Glaubende Menschen orientieren sich an Gottes respektvoll-zuvorkommender Zuwendung zu seinen Geschöpfen. Kreativität soll sich in Beziehung zum göttlichen Urquell allen Lebens in mitgeschöptlicher Rücksicht und Verantwortlichkeit entwickeln. Die biblische Offenbarung ist allerdings kein Rezeptbuch des Menschenwürdigen, sondern Einweisung in eine Geschichte des mühsamen Suchens und Vorantastens. Epochen, Kulturen sind, so wurde oben formuliert, mehr oder weniger einseitige Etappen. Dies gilt auch filr die Neuzeit mit ihren Stärken und Schwächen. Keineswegs sollen generell beim menschlichen Forschen und Gestalten vorschnell Grenzen aufgerichtet werden. Unwissenheit und Zufall sind Gott gewiss nicht wohlgeflilliger als verantwortliches menschliches Forschen und Gestalten. "Entgrenzung" ist allerdings nicht an sich gut, sondern ambivalent. Wenn es nicht gelingt, die Erweiterungsräume zu kultivieren, dann kann sich "Entgrenzung" sogar destruktiv auswirken. Viel an humaner Unterscheidung und Gestaltung ist noch zu erdenken und mühsam gegen Widerstände und trotz aller Rückschläge zu realisieren. Nach der neuzeitlichen Entwicklung von Wissenschaften und effizienten Technologien könnte die Nachneuzeit die Epoche ihrer kultivierten Anwendung werden.

3. Stichwörter zu "nachneuzeitlichen" Orientierungen für die Medizin •

Eine stärkere Beachtung der Zusammenhänge in der Medizin, zwischen Lebenswelt und Medizin, sowie mit Vorsorge und Nachsorge anstelle des neuzeitlichen Vorrangs der Spezialisierung und Segmentierung, sowie punktueller "Reparatur-Medizin".



Verstärkte Beachtung der Dimension "Beziehungen", der Psychosomatik und der Sinn-Fragen im Sinne "heilsamen Lebens" und beim Heilen.



Nach der neuzeitlichen Priorität "Entgrenzung" allzu enger Lebensverhältnisse geht es jetzt um die Wahmehmung, dass alles auf Erden begrenzt ist. Das kann einen kultivierten, wertschätzenden Umgang mit dem Begrenzten stimulieren.



In den medizinischen Bereich übersetzt:"Optimale, nicht maximale Medizin!"



Heilsamer Lebensstil: Dialektik Leib - Geist, Welt - Transzendenz; Rhythmen, Balancen, Prioritäten, Proportionen; Überwindung defizienter, pathogener Spaltungen, Einseitigkeilen und falscher Verabsolutierungen.



Kultivierte Bewältigung der Ressourcen-Schere: vor Einschränkung sinnvoller Leistungen müssen Vergeudungen und sinnlose Überforderungen

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der Ressourcen minimiert werden. Limitierungen dürfen nicht gegen Gerechtigkeit und Gemeinwohl verstoßen! •

Keine eindimensionale "Life Science", sondern unverkürzte "Lebenskultur": Eine menschenwürdige Lebenskultur wächst aus der Integration der aktiv-gestaltenden und der pathischen Elemente des Lebens, braucht die Beachtung der wesentlichen Zusammenhänge und einen kultivierten Umgang mit dem Begrenzten, die entsprechenden Balancen und Rhythmen, Aktion und Kontemplation persönlich und öffentlich. In diesem Rahmen können auch Hochtechnologien wertvolle Beiträge liefern.

Wir Menschen haben als denk- und entscheidungsflihige "Sachwalter" beim Umgang mit Leben generell eine hohe Verantwortlichkeit, diese erhöht sich beim Einsatz von Hochleistungsmedizin und Gentechnik im Humanbereich ganz besonders. Wir müssen sehr aufpassen, dass wir nicht schleichend ("slippery slope") am Anfang, Ende und in der Mitte menschlichen Lebens unmenschliche Wertungen praktizieren: Haben nur vollleistungsflihige Menschen ohne Handikaps, ohne Ofenzen und Schwächen Geltung und Lebensrecht? Wer hat keine Schwächen, Handikaps und Grenzen? Wer definiert "normal"? Selektionen nach "lebenswert" und "nicht Iebenswert" hatten wir schon einmal, zur Zeit des Nationalsozialismus. Was ist mit uns, wenn wir älter und schwächer werden? Derartige Entscheidungen, die oft über Leben und Tod, oder wenigstens Ober Anerkennung oder Marginalisierung entscheiden, darf man nicht individualistischer Willkür, technokratisch-ökonomischen Maßstäben, utilitaristischen, sozialdarwinistischen Standards überlassen! Welche Kriterien und Vorgangsweisen sind hier wirklich menschenwürdig? Können solche dringenden Klärungen ohne transzendente Perspektive gelingen? Dazu nur wenige Hinweise: "Transzendenz" ist nicht "an sich gut'', es gibt Transzendenz-Konzepte, die Leben und Welt entwerten, Vertröstungen sind, statt Trost und Ermutigung zum Kultivieren, Bewältigen des Lebens. Die biblische Sicht der Welt ist eine Aufwertung der Erden-Realität: Was hier von Menschen wenigstens anfangshaft, fragmentarisch erlebt und oft erlitten wird, die Kultivierung des Lebens, das Miteinander- und Füreinander-Leben, wird in christlicher Sicht durch die radikale Ohnmachts-Erfahrung des Todes nicht entwertet und vernichtet, sondern wird sich jenseits des Todes durch Gottes Treue vollenden in der seligen Gemeinschaft der Geschöpfe mit ihrem Schöpfer. Das ist keine bloße LeerformeL Viele Christen in Vergangenheit und Gegenwart leisteten und leisten aus diesem Glauben heraus Großartiges auch in schwierigsten Lagen. Behutsam und glaubwürdig hat der tschechische Menschenrechte-Aktivist und derzeitige tschechische Präsident Vaclav Havel unlängst die Bedeutung transzendenter Hoffuung angesprochen: Ohne transzendenten Bezug hätte er

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(in Kerker und Folter) nicht durchzuhalten vermocht und er könnte es auch jetzt nicht (schwer krank, in der frustrierenden Dauerbelastung seines Amtes). Der transzendente Bezug gebe ihm aber auch die nötige Gelassenheit und schütze ihn vor Fanatismus.

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Medizinische Forschung im gesellschaftlichen Spannungsfeld Zur Bedeutung von Ethik-Kommissionen 1 Von Elmar Doppelfeld Medizinische Forschung am Menschen selbst, mit seinen Daten oder mit entnommenem körpereignem Gewebe dient, nach mehrheitlicher Auffassung jedenfalls, der Prävention und der Verbesserung der Erkennung oder der Behandlung von somatischen und psychischen Erkrankungen. Ihre Ergebnisse werden von der Öffentlichkeit und insbesondere von Betroffenen gemeinhin zustimmend aufgenommen, bei schwerwiegenden Krankheiten geradezu nachdrUcklieh eingefordert. Außer Betracht bleiben darf freilich nicht, dass zumal auf sensiblen Gebieten wie der Fortpflanzungsmedizin erzielte oder bei der Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen erhoffte Ergebnisse ebenso wie die Methoden der wissenschaftlichen Forschung selbst in einer pluralistischen Gesellschaft vielfacher, aus unterschiedlichen Quellen gespeister Kritik ausgesetzt sind. Dem Forscher werden, bei teilweiser Anerkennung seines Suchens nach Erkenntnis, nur zu gerne Ruhmsucht und Streben nach Gewinn der vielfältigsten Art als überwiegende, wenn nicht entscheidende Motivation unterstellt. Sponsoren aus dem Bereich der pharmazeutischen Industrie oder aus dem Gebiet der Medizintechnik sehen sich häufig dem Vorwurf des ausschließlichen Gewinnstrebens ausgesetzt. Implizit oder unmittelbar wird Forschern und industriellen Sponsoren, teilweise auch von Kritikern, die die Notwendigkeit medizinischer Forschung am Menschen durchaus anerkennen, vorgeworfen, dass sie sich bei der Verfolgung ihrer Ziele von Menschenrechten, Menschenwürde, ethischen Grenzen nicht einschränken lassen. Eine deutlich emotionale Färbung nehmen einschlägige Debatten an, wenn es um Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen - Kinder, Schwerverletzte, demente Menschen - geht, wie die jahre-

1 Klaus

Zapotoczky in Dankbarkeit und Freundschaft gewidmet.

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lange Diskussion um das "Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin" des Europarates jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland lehrt. Angesichts dieses Spannungsfeldes wird auch von Befiirwortem der medizinischen Forschung am Menschen eine öffentliche Begleitung, vielfach auch Kontrolle, solcher Projekte gefordert, die unter Wahrung der durch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland garantierten Forschungsfreiheit die Einhaltung rechtlicher und ethischer Grundsätze gewährleistet. Hierzu bietet sich das in vielen Ländern, übrigens in sehr unterschiedlicher Weise eingefilhrte System der Beratung durch medizinische Ethik-Kommissionen an, das am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland beschrieben werden soll. Zum besseren Verständnis ist zunächst eine Differenzierung des Begriffes "Ethik-Kommission" notwendig. Zur Beratung ethischer, rechtlicher, gesellschaftlicher, ökonomischer und weiterer Probleme, die im Zusammenhang mit der Anwendung medizinischer, zunehmend auch biologischer Methoden auftreten, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Ethik-Kommissionen in vielflUtiger Trägerschaft mit differenzierter Aufgabenzuweisung gebildet. 2 Gremien, die sich mit grundsätzlichen Fragen beschäftigen - beispielhaft seien erwähnt die wissenschaftliche Nutzung humaner embryonaler Stammzellen, die Zulässigkeil medizinischer Forschung mit nichteinwilligungsflihigen Personen oder die Ressourcenverteilung -, sind vielfach unter dem Namen "Nationale Ethik-Kommissionen" bekannt, um unter der Fülle verwendeter Bezeichnungen die geläufigste zu wählen. Solche Kommissionen sind bei Regierungen, Parlamenten, jedoch auch bei Dachverbänden wissenschaftlicher Fachgesellschaften oder Ärzteverbänden angesiedelt mit einer im Allgemeinen befriedigenden Unabhängigkeit der Entscheidungsfindung. Als Beispiele ftir die angesprochenen Varianten seien genannt das 1983 durch ein Dekret des französischen Staatspräsidenten, inzwischen gesetzlich ("Loi Huriet'') fundierte "Comite ConsultatifNational d'Ethique" der französischen Republik einerseits und andererseits die 1996 bei der deutschen Bundesärztekammer eingerichtete "Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten", bekannt unter dem Akronym ZEK0. 3 Krankenhausträger tendieren mehr und mehr dazu, zur Erörterung von Aspekten im Zusammenhang mit der Behandlung von Kranken eigene Gremien

2 E/mar Doppe/feld: "Stellung und Aufgaben der Medizinischen Ethik-Kommissionen", in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen, Band 20, Würzburg 2001, S. 442-452. 3 Statut: Statut der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission), Bundesärztekarnmer, Tätigkeitsbericht 1996, Köln 1996, S. 544-548.

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einzurichten, die vielfach unter der Bezeichnung "Krankenhaus-Ethik-Kommissionen" firmieren. Unter dem Begriff "Medizinische Ethik-Kommissionen", alleiniger Gegenstand der folgenden Abhandlung, schließlich versteht man jene Beratergruppen, die sich mit Projekten der medizinischen Forschung am Menschen, verstanden in einem sehr umfassenden Sinne, beschäftigen. Ihre Einrichtung kann als Teil einer geistes- und medizingeschichtlichen Entwicklung angesehen werden, die im 18. Jahrhundert mit der Einführung des medizinischen Experimentes am Menschen ihren Ausgang nahm und bekanntlich bis heute nicht abgeschlossen ist. 4 Die seither vergangene Zeit ist, insbesondere im 19. Jahrhundert, gekennzeichnet durch Bemühungen, ftir dieses Experiment eine wissenschaftliche Begründung zu finden und den Eingriff am Menschen ausschließlich zu Forschungszwecken, also die Abkehr von der erhofften Heilung als einzigem Rechtfertigungsgrund medizinischer Maßnahmen, ethisch und rechtlich zu begründen. Unter diesen Bemühungen seien filr Deutschland der Erlass des preußischen Kultusministers vom 29. Dezember 1900, die vermutlich erste Kodifizierung des "informed consent" 5 und die Richtlinien des Reichsministers des Inneren aus dem Jahre 1931 6 genannt. Maßgebend ftir die weitere Entwicklung waren vor dem Hintergrund verbrecherischer Experimente am Menschen zwischen den Jahren 1933 und 1945 die Festlegung von Grundsätzen filr die Forschung am Menschen im "Nürnberger Kodex" 7 und die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes 19648 • In der im Jahre 1975 in Tokio verabschiedeten Version dieser Deklaration, die bis hin zur Fassung aus dem Jahre 1996 die medizinische Forschung am Menschen ideenleitend bestimmt hat, wird erstmalig ein Ausschuss gefordert, dem der ärztliche Forscher sein Projekt vorlegen soll. 9

4 R. Toe/lner: Problemgeschichte: Entstehung der Ethik-Kommissionen, in: Die Ethik-Kommission in der Medizin, Medizin-Ethik, Band 1, Stuttgart, New York 1990. 5 Anweisung an die Vorsteher der Kliniken, Polikliniken und sonstigen Krankenanstalten, Zentralblatt filr die Gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen (1901), S. 188189. 6 Richtlinien filr neuartige Heilversuche und filr die Vomahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen. Erlass des Reichsministers des Inneren vom 28. Februar 1931, Reichsgesundheitsblatt 1931, S. 179 ff. 7

Nümberg Code, Dt. Ärztebl. 1996; 93: A 1453 [Heft 22].

Deklaration von Helsinki: Empfehlungen an die Ärzte filr die Durchfilhrung wissenschaftlicher Versuche am Menschen, Dt. Ärztebl. 1964; 61: 2533-2534 [Heft 48]. 8

9 Deklaration von Helsinki- revidiert in Tokio, Dt. Ärztebl. 1975; 72: 3162-3168 [Heft 46].

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Schon zwei Jahre früher waren auf Veranlassung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, offenbar unabhängig von der Deklaration von Helsinki, im Jahre 1973 solche Ausschüsse bei ihren Sonderforschungsbereichen in Göttingen, kurze Zeit später in Ulm eingerichtet worden. Auch die Medizinischen Fakultäten betrieben die Etablierung dieser Gremien, 1979 rief der Vorstand der Bundesärztekammer in einem Beschluss zur Bildung von Ethik-Kommissionen bei den Landesärztekammern auf. 10 Daneben bildeten sich diese Gruppe auch außerhalb der ärztlichen oder der akademischen Selbstverwaltung, z. B. bei Unternehmen der forschenden pharmazeutischen Industrie oder in sonstiger Trägerschaft. Sehr schnell erhob sich die Forderung, die Aufgabenfelder, die rechtliche Zuständigkeit und die Rechtsgrundlage der Tätigkeit der neuen Gremien mit hinreichender Genauigkeit zu beschreiben, damit alle Teilnehmer an der medizinischen Forschung sie einordnen und beachten konnten. Bei diesem nun schon über zwei Jahrzehnte währenden Prozess haben zum Teil Erfahrungen im eigenen Lande, aber auch im Ausland, insbesondere die "Institutional Review Boards" in den USA , die Entwicklung nachhaltig beeinflusst.

I. Aufgabenfelder Der im Titel der Deklaration von Helsinki 1964 enthaltene Begriff "Biomedizinische Forschung am Menschen" wurde allgemein als freilich zu konkretisierender Generalauftrag interpretiert. Unter "biomedizinisch" wurde dabei die Anwendung biologischer und medizinischer Verfahren im Rahmen eines Forschungsprojektes verstanden. Forschung am Menschen selbst wurde in einer Arbeitshypothese definiert als ,jede die somatische oder psychische Integrität des Menschen berührende Maßnahme mit dem Ziel, Uber den Einzelfall hinaus präventive, diagnostische, therapeutische oder pathophysiologische Erkenntnisse zu gewinnen". 11 Diese Beschreibung umfasst die nach einem in einem Protokoll festgelegten Studienplan durchgefilhrte Grundlagenforschung ebenso wie die Forschung im

10 J. Kühn: Ethik-Kommissionen aus der Sicht der Standesorganisation, Medizinische Ethik-Kommissionen- Aspekte und Aufgaben, Symposion 1980, Münster, Schriften der Vereinigung der Freunde der Medizinischen Fakultät der Westfälischen WilhelmsUniversität zu Münster, 73 (1981 ). 11 Elmar Doppe/feld: Bericht über die 7.Jahresversammlung des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommisionen, in: Künstliche Beatmung, Medizin-Ethik Band 2, Stuttgart/New York 1990.

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Zusammenhang mit der Krankenversorgung, die klinische Prüfung von Arzneimitteln- hier heißt das Protokoll "Prüfplan"- und von Medizinprodukten. Es gilt unverändert die Auffassung, dass der so genannte Heilversuch, also die Anwendung einer wissenschaftlich noch nicht ausreichend erforschten Methode zur Rettung von Leib und Leben im Einzelfall, ebenso wenig zum Tätigkeitsfeld medizinischer Ethik-Kommissionen gehört wie die Beratung in Fragen der Krankenversorgung jenseits wissenschaftlicher Aspekte. Gleichviel sollten sich Ethik-Kommissionen der Bitte um kollegiale Beratung nicht verschließen, wenn ein Heilversuch vorgenommen werden soll, gegebenenfalls auch mit der Nebenabsicht, eine im Rahmen eines Forschungsprojektes zu prüfende Hypothese zu generieren. Das Aufgabenfeld hat sich in den letzten Jahren im Zuge einer noch laufenden Entwicklung erweitert um die Bereiche "Daten" und "körpereigenes entnommenes Gewebe". Es wird weitgehend akzeptiert, dass Forschungsprojekte unter Verwendung personenbezogener Daten von einer Ethik-Kommission zu beraten sind. Vorhaben, die sich ausschließlich auf anonymisierte Daten stützen, gelten demgegenüber vielfach nicht als beratungspflichtig. Dem wird man zustimmen können unter der Voraussetzung, dass die Anonymisierung mit einem gegebenenfalls einer Ethik-Kommission oder einer Behörde dargelegten ausreichenden Verfahren erfolgte. In jüngster Zeit wird die Forderung erhoben, auch bei diesen Projekten sicherzustellen, dass bei der Gewinnung gesundheitsrelevanter Daten eine Reidentifizierung der betroffenen Person möglich wird, um ihr eine Unterrichtung, vorzugsweise unter ärztlicher Beratung, anbieten zu können. Forschung mit entnommenem Gewebe wird vielfach begründet mit der Notwendigkeit, im Lichte neuerer Erkenntnisse oder Fragestellungen wissenschaftliche Untersuchungen an asservierten Gewebeproben vorzunehmen, die Menschen ausschließlich oder überwiegend zu diagnostischen Zwecken entnommen wurden. Es gilt der Grundsatz, dass hierfUr das Einverständnis der betreffenden Person einzuholen ist. Die Erfilllung dieser Forderung scheitert insbesondere bei seit längerer Zeit aufbewahrten Gewebeproben ziemlich regelmäßig, da der Gewebsspender aus den unterschiedlichsten Gründen nicht gefragt werden kann. Die Ethik-Kommissionen empfehlen, bei Gewebsentnahmen prospektiv die Erlaubnis zu konkreten oder künftig möglichen wissenschaftlichen Untersuchungen mit dem Biopsiematerial einzuholen. Ein besonderes Problem bietet hier der Umgang mit den Resultaten genetischer Analysen an entnommenem Gewebe. An Lösungsmöglichkeiten wird derzeit auf nationaler und auf europäischer Ebene intensiv gearbeitet. Ethik-Kommissionen prüfen vorgelegte Projekte unter verschiedenen Gesichtspunkten.

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1. Wissenschaftliche Qualität Vor allem anderen ist die wissenschaftliche Dignität eines Vorhabens zu gewährleisten. Es kann wohl kaum einer Person zugemutet werden, sich filr Unternehmen zweifelhafter oder gar fehlender wissenschaftlicher Qualität zur VerfUgung zu stellen. Es ist den Ethik-Kommissionen selbst überlassen, wie sie sich Aufschluss über diese Qualität verschaffen: sei es durch das Urteil fachlich kompetenter Mitglieder des Gremiums, sei es durch fallweise Beteiligung externer Gutachter oder auch mit Hilfe externer Expertisen. Nach der wissenschaftlichen Prüfung, die die Berücksichtigung der einschlägigen Literatur, ausreichender Laboratoriums- und Tierversuche, die Angemessenheit der vorgesehenen Methoden im Hinblick auf das ebenfalls überprüfte Forschungsziel sowie eine Risiko-Notzen-Abwägung umfasst, sind persönliche Eignung des Forschers sowie die methodisch-apparativen lokalen Gegebenheiten zu untersuchen. Der Überprüfungspunkt "lokale persönliche und sachliche Voraussetzungen" als Aufgabe filr Ethik-Kommissionen war während vieler Jahre umstritten, wurde gelegentlich auch als unzulässig angesehen. Die Richtlinie "GCP" ( 2001/20/EG) 12 schreibt, jedenfalls filr die klinische Prüfung von Humanarzneimitteln, dieses sachlich wohl gerechtfertigte Vorgehen ausdrücklich vor. Zur erwähnten Risiko-Notzen-Abwägung ist anzumerken, dass feste Bezugspunkte nicht bestehen, vielfach der Grundsatz gilt, ein hinnehmbares Risiko sei je geringer zu bemessen desto weniger möglicher Nutzen filr die Versuchsperson begründet zu erwarten ist.

2. Rechtliche Gesichtspunkte Ein wissenschaftlich einwandfreies Projekt kann nur durchgeftlhrt werden, wenn die einschlägigen Rechtsvorschriften eingehalten werden. Daher befassen sich Ethik-Kommissionen auch mit rechtlichen Aspekten vorgelegter Protokolle und prüfen, ob straf- und zivilrechtliche Normen im Allgemeinen, andere Vorschriften wie z. 8. in der Bundesrepublik Deutschland das Arzneimittelgesetz (AMG), das Medizinproduktegesetz (MPG), das Bundesdatengesetz, die Strahlenschutzverordnung, die Röntgenverordnung usw. im Speziellen beachtet werden.

12 Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 4. April 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten Ober die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchfilhrung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, vom 1.5.2001, L 121/34-44.

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Besondere Aufinerksamkeit findet dabei die Frage der Versicherung der teilnehmenden Probanden/Patienten, die in den europäischen Ländern sehr unterschiedlich geregelt und in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig gesetzlich nur vorgeschrieben ist fUr Forschungen, die dem AMG, dem MPG oder dem Strahlenschutzrecht unterliegen. Seit Jahren vertreten die EthikKommissionen die Auffassung, dass auch ftlr Forschung, die nicht durch diese Bestimmungen geregelt wird, eine Versicherung angemessen ist. Dabei setzte sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass die Risiken dieser Art von Forschung nicht durch die Berufshaftpflicht des Forschers abgedeckt werden, da es sich eben nicht um die berufsübliche Tätigkeit mit bekanntem Risiko handelt. Als entscheidende Bedingung fUr die Zulässigkeil der DurchfUhrung eines wissenschaftlich, rechtlich und ethisch einwandfreien Vorhabens im Einzelfalle gilt weltweit die nach angemessener Unterrichtung freiwillig erteilte, jederzeit ohne Nachteil widerrufbare Zustimmung des Probanden/Patienten, der bekannte "informed consent". Es ist daher sicherzustellen, dass diese Einwilligung rechtswirksam erteilt wird. Hierzu gehört die Bereitstellung von lnformationsmaterial, das ftlr den Patienten ausreichend und verständlich ist, und die Darlegung der Bedingungen, unter denen die freiwillige Zustimmung eingeholt werden soll. Dabei sollten auch nur mögliche Abhängigkeitsverhältnisse zwischen forschendem Arzt und ftlr das Projekt zu gewinnendem Patienten/Probanden sorgfllltig ausgeschlossen werden. Die Erfahrungen der letzten Jahre lehren, dass in dem zentralen Punkte "informed consent" Ethik-Kommissionen in zahlreichen Fällen Forschungsprotokolle zu beanstanden hatten. Die geforderte freiwillige Zustimmung kann nur ein Mensch erteilen, der einwilligungsfllhig ist, wobei Einwilligungsfllhigkeit und Geschäftsfllhigkeit nach Zivilrecht nicht gleichgesetzt werden. Soll ein wissenschaftliches Vorhaben ausschließlich mit Einwilligungsfllhigen durchgeftlhrt werden, die nach sachgerechter Aufklärung rechtswirksam zustimmen können, ergeben sich zumindest in dieser Frage - keine Probleme. Erhebliche Schwierigkeiten treten regelmäßig jedoch dann auf, wenn die Forschung mit Menschen vorgenommen werden soll, die altersbedingt, z. B. Kinder und Jugendliche, oder krankheitsbedingt, z. B. demente Menschen oder Schwerstverletzte, zeitweilig oder dauernd nicht einwilligungsfllhig sind. Das deutsche AMG erlaubt hier klinische Prüfungen von Arzneimitteln, wenn ein Nutzen fUr den Betroffenen erwartet werden kann. Weitergehende Forschungsprojekte ohne möglichen Nutzen fUr den Betroffenen, die z. B. der Gewinnung von Grundlagenwissen als Basis fUr eine Verbesserung der Erkennung und Behandlung von Krankheiten dienen könnten, gelten in der Bundesrepublik Deutschland als gesetzlich nicht zulassig. Gleichviel verkennt man mehrheitlich kaum ihre Notwendigkeit, auch wenn sie im überwiegenden Interesse anderer als so genannte fremdnützige

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Forschung betrieben wird. Als Beleg fiir ihre Rechtfertigung sei die bekannte Tatsache angeftihrt, dass in Deutschland zwischen 60 % und 80 % der in der Pädiatrie verwendeten Arzneimittel nicht nach den für Erwachsene gelten Bedingungen und Sicherheitsstandards geprüft wurden. Die Ethik-Kommissionen haben frühzeitig nach Lösungsmöglichkeiten gesucht. Bei ihrer Entscheidungstindung stützen sie sich nahezu regelmäßig auf die Empfehlungen zur Forschung mit nichteinwilligungsflihigen Menschen, die die "Zentrale Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten" (ZEKO) bei der Bundesärztekammer vorgelegt hat. 13 Auch die Unterstützung zuständiger Behörden in einzelnen Fällen muss dankbar erwähnt werden. Zur Erlangung der unerlässlichen Rechtssicherheit haben die EthikKommissionen den deutschen Bundesgesetzgeber mehrfach, auch im Zusammenhang mit den Erörterungen über das "Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin" (Konvention von Oviedo) des Europarates, gebeten, eine gesetzliche Klarstellung vorzunehmen. Vermutlich wird der Prozess beschleunigt durch die in nationales Recht überzuleitende Richtlinie "GCP" (2001 /20/EG), die den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Einfiihrung von Regeln fiir die klinische Prüfung von Arzneimitteln bei Kindem und bei nichteinwilligungsflihigen Erwachsenen zur Pflicht macht. Hier könnten dann Impulse fiir die Regelung auch der übrigen Forschung mit dem betrachteten Personenkreis erwachsen.

II. Ethische Beurteilung Kernaufgabe der Ethik-Kommission ist die Entscheidung darüber, ob ein wissenschaftlich einwandfreies, rechtlich zulässiges Forschungsprojekt auch ethisch vertretbar dem Probanden zurnutbar ist. Bilden sich schon bei der wissenschaftlichen und rechtlichen Beurteilung eines Protokolls gelegentlich unterschiedliche Auffassungen, so dürfte gerade bei diesem Schritt des Verfahrens eine besondere Meinungsvielfalt zu gewärtigen sein. Dieser Herausforderung suchen die Ethik-Kommissionen durch einen interdisziplinären Dialog ihrer Mitglieder, insbesondere mit Theologen und Philosophen, gerecht zu werden. Normierende Vorgaben gibt es allerdings nicht. Es besteht immerhin die einheitliche Auffassung, dass die Autonomie des Probanden/Patienten hier sei erneut der Grundsatz des "informed consent" erwähnt -, seine Würde und seine Identität zu wahren sind. Auch gilt das Prinzip, dass eine Person in ihren Rechten nicht zum Nutzen anderer Personen eingeschränkt werden darf, 13 Stellungnahme der "Zentralen Ethikkommission" bei der Bundesärztekammer "Zum Schutz nicht-einwilligungstahiger Personen in der medizinischen Forschung", Dt. Ärztebl. 1997; 94 : A 1011-1012.

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dass die Interessen von Wissenschaft, Forschung und Gesellschaft alleine keinen Vorrang vor den Belangen des Individuums haben dürfen . Schließlich genießt der mögliche individuelle Nutzen eines Projektes weiterhin Priorität gegenüber dem mehr und mehr in die Diskussion eingeführten gesellschaftlichen Vorteil ("social benefit") als überwiegendem oder gar ausschließlichem Rechtfertigungsgrund für Forschung am Menschen. Die Beschreibung der Aufgabenfelder zeigt, dass die Ethik-Kommissionen sich in zunehmendem Masse Anforderungen der unterschiedlichsten Art zu stellen haben. Sie übernehmen diese Verpflichtung als Beitrag zur Gewährleistung einer hochstehenden biomedizinischen Forschung am Menschen, als Institution zum Schutz des Probanden/Patienten vor möglichem Schaden und als Gremium zur Beratung des Forschers, dem gegebenenfalls von der Durchführung eines fragwürdigen Forschungsprojektes abzuraten ist. In diesem Zusammenhang ist mit gebotenem Nachdruck daraufhin zuweisen, dass Ethik-Kommissionen nach der Deklaration von Helsinki, aber auch nach innerstaatlichem deutschem Recht die Aufgabe zur "Beratung, Stellungnahme und Orientierung" fllr den Forscher haben. Sie haben kein Recht, ein Forschungsprojekt zu genehmigen oder zu verbieten. Die Entscheidung über Durchführung eines Projektes oder Verzicht liegt ausschließlich bei dem Forscher. Erkennbare Tendenzen, partiell von diesem Grundsatz abzuweichen, werden an anderer Stelle dieses Beitrages angesprochen. Die Ethik-Kommissionen zählen zu ihren Aufgaben auch den Dialog mit der Öffentlichkeit. Zu diesem Zweck publizieren sie zunehmend Tätigkeitsberichte in den Mitteilungsorganen der Universitäten und der Landesärztekammern. Zur Herstellung der vielfach geforderten Transparenz dient auch die 1990 begonnene Schriftenreihe des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen (s.u.) "Medizin-Ethik", von der bisher 14 Jahresbände vorliegen. In den einzelnen Bänden werden einerseits aktuelle wissenschaftliche Themen durch Beiträge ausgewiesener Gelehrter der unterschiedlichsten Disziplinen abgehandelt, werden andrerseits die Verhandlungen und Entschließungen des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen dokumentiert.

111. Strukturen Die Erfüllung des in den letzten Jahrzehnten ständig erweiterten Aufgabenkatalogs erforderte und erfordert unverändert die Etablierung leistungsstarker Strukturen.

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l. Zusammensetzung von Ethik-Kommissionen

Vorrangig galt es insbesondere in der Gründungsphase, sich über die Besetzung der Ethik-Kommissionen zu verständigen. Unbestritten war von Anfang an die Schaffung interdisziplinär besetzter Kollegien, in denen Ärzte gegebenenfalls die Mehrheit haben, aber nicht als einzige Berufsgruppe vertreten sein sollten. Angesichts des Aufgabenfeldes lag es nahe, Philosophen mit dem Schwerpunkt Ethik, Theologen, Soziologen, Rechtswissenschaftler und Angehörige anderer akademischer Disziplinen aufzunehmen. Vielfach wurde, teils mit deutlichem Fachegoismus, eine obligate Berufung von Vertretern einzelner medizinischer Fachdisziplinen, z. B. der klinischen Pharmakologie gefordert. Hier gewann die Überlegung die Oberhand, dass Ethik-Kommissionen in ihrer Zusammensetzung keineswegs die Vielfalt medizinischer Disziplinen widerspiegeln, vielmehr eher unter Berücksichtigung lokaler Belange ausgerichtet werden sollten. Entsprechend dem auch in der medizinischen Wissenschaft tradierten Beurteilungsverfahren sollten bei Bedarf zur Abklärung wissenschaftlicher Fragen fallweise externe Sachverständige beigezogen werden. Damit bleiben die Ethik-Kommissionen frei in ihrer Entscheidung, wie sie bei der Beurteilung eines Projektes auftretende wissenschaftliche, rechtliche oder ethische Probleme abklären wollen. Diese Freiheit lässt ihnen auch die Richtlinie "GCP" (2001/20/EG). Unverändert wird die Beteiligung anderer Gruppen an der Besetzung von Ethik-Kommissionen erörtert. Einige Ethik-Kommissionen haben gute Erfahrungen mit der Mitarbeit von Medizinstudenten oder Angehörigen der Pflegeberufe gesammelt, andere Kommissionen verschließen sich einer solchen Öffnung. Eine generelle Beteiligung von Patientenvertretern wird nach gegenwärtigem Diskussionsstand nicht als sachgerecht betrachtet. Sie könnte als sinnvoll angesehen werden, wenn ein Betroffener, also ein wirklicher Patient, seine Erfahrungen bei der Beratung eines Projektes einbringen würde, das ihn selbst und seine Gruppe angeht. Schließlich gehört auch das Dauerthema "Beteiligung von Laien" zu diesen Betrachtungen. Die Angehörigen der Ethik-Kommissionen aus nicht-medizinischen Berufen betrachten sich vielfach als "medizinische Laien", sie reichem die Beratungen durch Überlegungen und Fragen aus ihrer Lebens- und Erfahrungswelt an und geben in vielen Fällen dadurch auch Anregungen zur Verbesserung der Forschungsprotokolle. Ob Laien anderer Definition, die vielfach erwähnten Menschen ohne akademische Ausbildung, hier ein zusätzliches R>rdemdes Element sein könnten, sei dahingestellt - sie müssten auf jeden Fall bereit und fähig sein, die zur Entscheidung vorgelegten Unterlagen im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu lesen und zu prüfen. Die gelegentlich geübte Herstellung eines Extraktes der wissenschaftlichen Unterlagen flir diesen Personenkreis erscheint nicht vereinbar mit der Forderung, Laien an der Entscheidungsfindung verantwortungsvoll zu beteiligen.

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Die über mehrere Jahre unter sorgfliltiger Beachtung der Autonomie der EthikKommissionen gefiihrte Diskussion über ihre Zusammensetzung fiihrte schließlich zu der Mindestforderung, sie solle aus mindestens 5 Mitgliedern, mindestens 4 Ärzten und I Juristen, bestehen. Zwei Ärzte sollen erfahrene Kliniker, ein Arzt soll auf dem Gebiet der theoretischen Medizin besonders erfahren sein, möglichst solle ein Rechtsmediziner mitwirken. Die Kommission könne, soweit erforderlich, Sachverständige beratend hinzuziehen. Diese in den Verfahrensgrundsätzen des Arbeitskreises Medizinischer Ethik-Kommissionen 14 verabschiedeten Überlegungen haben sich bewährt. Diese weitgehende Organisationsfreiheit haben auch die deutschen Landesgesetzgeber berücksichtigt durch die Festlegung von Rahmenbedingungen, die die Träger der Kommissionen - gleichrangig Medizinische Fakultäten und Landesärztekammern - auszufiillen haben. So heißt es im Heilberufsgesetz fiir das Bundesland Nordrhein-Westfalen (§7) in der Fassung vom 9. Mai 2000, dass die Ärztekammern durch Satzung Ethikkommissionen errichten und insbesondere deren Aufgaben und Zuständigkeiten regeln und hier u.a. Zusammensetzung, Verfahren usw. Das Gesetz bestimmt ferner, dass die an den Medizinischen Fachbereichen der Hochschulen errichteten Ethikkommissionen fiir den Hochschulbereich an die Stelle der Ethikkommissionen der Ärztekammern treten. 15 Die genannten, hier in Einzelheiten nicht vorzustellenden Verfahrensgrundsätze bildeten die Grundlage fiir die Verfahrensordnungen der einzelnen EthikKommissionen, die eine erfreuliche Homogenität aufweisen. 16

2. Administrative Lösungen Es blieb nicht aus, dass im Hinblick auf die steigende Zahl zur Beratung vorgelegter Projekte die Erledigung der administrativen Arbeit kaum noch "nebenamtlich" durch die Instituts- oder Kliniksekretariate der Vorsitzenden oder durch allgemeine Verwaltungsabteilungen der Ärztekammern vorgenommen werden konnte. Mehr und mehr wurden spezielle administrative Einrichtungen mit vielerorts mehreren Mitarbeitern geschaffen, meist Geschäftsstellen genannt, die auch unter Beachtung der Empfehlungen des Arbeitskreises die zur formalen und sach-

14 Verfahrensgrundsätze, Ethik-Kommissionen: Verfahrensgrundsätze, Dt. Ärztebl. 1991; 88: A 2656-2658 [Heft 31/32] u. Dt. Ärztebl. 1994; 91: A 2026 [Heft 30]. 15 Heilberufsgesetz (HeilBerG) vom 9.Mai 2000, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land NRW- Nr. 27 vom 16.Mai 2000, S. 403 ff. 16 H. Just: Die öffentlich-rechtlichen medizinischen Ethik-Kommissionen in Deutschland - derzeitige Struktur und Arbeitsweise sowie Perspektiven zur künftigen Entwicklung, in: Medizin-Ethik, Band 15 (im Druck).

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Iichen Abwicklung der Aufgaben notwendigen Fonnulare, z. B. Anforderungen an einen Antrag usw. schufen. Zur Bestreitung der hier entstehenden Personalund Sachkosten - die Mitglieder der Ethik-Kommissionen selbst arbeiten ehrenamtlich, erhalten in einzelnen Fällen die bei Landesärztekammern Ublichen Sitzungsgelder- sollten, vennutlich nach Auffassung der Aufsichtsbehörden, Mittel aus den regulären Kammerhaushalten nicht verwandt werden. Daher fiihrten die Landesärztekammern, von Antragstellern und auch von den Ethik-Kommissionen bei den Medizinischen Fakultäten teils heftig kritisiert, mit Genehmigung der Aufsichtsbehörden Gebühren fiir die Beratung durch Ethik-Kommissionen ein. Diese sind, inzwischen auch bei zahlreichen medizinischen Fakultäten, in jedem Falle dann zu zahlen, wenn ein von dritter Seite finanziertes Projekt vorgelegt wird. Ob dies auch bei einer Finanzierung durch öffentliche Förderer, z. B. die Deutsche Forschungsgemeinschaft, gilt, wird abzuklären sein. Ohne jede Gebtihr wird hingegen weiterhin ein Forscher beraten, der sein Vorhaben ohne "Sponsoring" durchfUhrt. Hier können die Ethik-Kommissionen ihrem "officium nobile", der Beratung eines forschenden Kollegen, in seiner originären Fonn gentigen.

3. Erfahrungsaustausch und Harmonisierung In einem Bundesstaat mit sehr weitreichender Zuständigkeit seiner Bundesländer fiir Gesundheit und Forschung und einer Autonomie lokaler EthikKommissionen besteht ein dringendes Bedtirfnis eines lnfonnationsaustausches unter allen Beteiligten über Grundsätze und Probleme der Tätigkeit dieser Gremien. Der Ordentliche Medizinische Fakultätentag 1981 in Mainz beriet die Tätigkeit von Ethik-Kommissionen als "Berater und Mittler bei der Feststellung einer vertretbaren Entscheidungsgrundlage" im Hinblick auf die Erfordernisse der klinischen Forschung und stellte die Notwendigkeit allgemeinverbindlicher Arbeits-und Beratungsgrundlagen fiir diese Gremien bei den medizinischen Fakultäten heraus. Dabei wurde betont, dass solche Beratungsgrundlagen Gesetze und Verordnungen zu herticksichtigen haben, im Übrigen aber von behördlichem Einfluss frei bleiben müssen. Entsprechend dieser Empfehlung wurde 1983 der "Arbeitskreis medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland" gegrtindet 17, dem alle Ethik-Kommissionen in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft angehören. 18 17 Elmar Doppe/feld: Arbeitskreis medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West), in: Die Ethik-Kommission in der Medizin, Medizin-Ethik Band I, Stuttgart/New York 1990. 18 Statut des Arbeitskreises medizinischer Ethik-Kommissionen, in: Die Ethik-Kommission in der Medizin, Medizin-Ethik, Band I, Stuttgart/New York, 1990, S. 165-166.

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Der Arbeitskreis tritt regelmäßig in Jahresversammlungen und Arbeitstagungen zusammen. Hauptziel dieser Versammlungen sind die Vorstellung neuer wissenschaftlicher Entwicklungen, z. B. Pharmakogenomik, und die Erörterung aktueller Probleme, wie Haftung von Mitgliedern der Ethik-Kommissionen, Forschung mit nichteinwilligungsfllhigen Personen oder klinische Prüfung von Arzneimitteln an Kindem und Jugendlichen. Auch Fragen der praktischen Arbeit wird ein großer Teil der Diskussion gewidmet. Der Arbeitskreis kann zu einzelnen Punkten Empfehlungen verabschieden, seine Mitglieder sind frei in der Entscheidung, ob und in welchem Maße sie diese Empfehlungen beachten wollen. Der Arbeitskreis ist in den fast 20 Jahren seines Bestehens zu einem akzeptierten, vielleicht nicht immer angenehmen oder willfllhrigen, Gesprächspartner von Parlamentariern, von Bundes- und Landesministerien, von Bundes- und Landesbehörden, von Institutionen der Forschungsförderung, von Gremien der akademischen oder der ärztlichen Selbstverwaltung und von Verbänden der Hersteller von Arzneimitteln und Medizinprodukten geworden. Der internationale Erfahrungs- und Gedankenaustausch wird ebenfalls gepflegt. Dem Interessierten sei die schon erwähnte Schriftenreihe "Medizin-Ethik" empfohlen.

IV. Rechtliche Einbindung Nach der zunehmenden Bildung von Ethik-Kommissionen war ihre rechtliche Stellung zu klären einschließlich der Festlegung des Kreises zulässiger Antragsteller. Für den Bereich der Universitäten konnten Bestimmungen auf der Grundlage des Hausrechtes oder des so genannten "intramuralen Rechtes" getroffen werden. Eine die gesamte Ärzteschaft erfassende Regelung wurde durch die 1985 vom Deutschen Ärztetag novellierte "Berufsordnung ftlr die deutschen Ärzte" 19 eingefilhrt, die in den folgenden Jahren von den Landesärztekammem, teils mit Modifikationen, übernommen und dadurch zur berufsrechtlich bindenden Vorschrift wurde. Danach muss sich der Arzt vor der Durchfillirung "klinischer Versuche" am Menschen oder der epidemiologischen Forschung mit personenbezogenen Daten durch eine bei der Ärztekammer oder einer medizinischen Fakultät gebildete Ethik-Kommission über die mit dem Vorhaben verbundenen berufsethischen und berufsrechtlichen Fragen beraten lassen. Diese Grundsätze blieben auch bei seither vorgenommenen Novellierungen erhalten und finden sich demgemäß in der "(Muster-)Berufsordnung ftlr die deutschen Ärztinnen und Ärzte" geltender Fassung.20 Berufsordnung filr die deutschen Ärzte, Dt. Ärztebl. 1985; 82: A 3371-3375 [Heft 45]. (Muster-)Berufsordnung filr die deutschen Ärztinnen und Ärzte, Dt. Ärztebl. 1997; 94: A 2354-2363 [Heft 37]. 19

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Mit dieser Bestimmung war vorgegeben, dass zu der berufsrechtlich geforderten Beratung nur Ethik-Kommissionen in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft, und zwar durch einen Arzt, wie dies auch die Verfahrensgrundsätze vorsehen, angerufen werden konnten. Die rechtlich einander gleichrangigen Fakultäts- und Kammerkommissionen grenzten ihre Zuständigkeit gegeneinander ab unter dem Gesichtspunkt Forschung im universitären Bereich oder außerhalb dieser Sphäre. Mit der persönlichen Verpflichtung des ärztlichen Forschers zur Anrufung der für ihn zuständigen Ethik-Kommission wurde erreicht, dass kein Projekt ohne die geforderte Beratung durchgeführt werden kann. Durch die 5. Novelle des AMG 1995 erfolgte eine bundesgesetzliche Regelung, nach der als Voraussetzung für die Durchführung einer Arzneimittelprüfung neben anderen Bedingungen das zustimmende Votum einer nach Landesrecht gebildeten Ethik-Kommission eingeführt wurde. Die Landesgesetzgeber haben im Gefolge dieser Novelle durch ihre Heilberufsgesetze und/oder die Hochschulgesetze festgelegt, dass darunter ausschließlich die bei den Landesärztekammern oder bei den Medizinischen Fakultäten gebildeten Kommissionen zu verstehen sind. Zu erwähnen ist allerdings, dass der Bundesgesetzgeber für Forschung nach dem MPG, der Strahlenschutzverordnung sowie nach der Röntgenverordnung ein anderes Verfahren eingeführt hat. Danach sind alle Ethik-Kommissionen, die sich unter Erfullung im Gesetz festgelegter Kriterien bei der zuständigen Bundesoberbehörde registrieren lassen, zur Beratung berechtigt. Auch die öffentlich-rechtlichen Kommissionen haben sich, nach anfänglichem Zögern, registrieren Jassen, um auf den genannten Gebieten forschende Kammermitglieder oder Universitätsangehörige beraten zu können.

V. Gegenwärtiger Zustand in Deutschland Abgesehen für den Bereich der Forschung gemäß MPG und den erwähnten Verordnungen sind derzeit für die Beurteilung aller biomedizinischen Forschungsvorhaben ausschließlich die bei Medizinischen Fakultäten und Landesärztekammern auf landesgesetzlicher Grundlage bestehenden EthikKommissionen zuständig. Der Arbeitskreis bemüht sich um ein einvernehmliches Vorgehen. Er ist allerdings keine Appellationsinstanz, die eine Entscheidung einer autonomen lokalen Ethik-Kommision ändern oder aufheben könnte. Einige Länder haben demgegenüber ein solches Appellationssystem. Neben der Harmonisierung durch Beratungen im Arbeitskreis kann grundsätzlich auch die mehrfach erwähnte "ZEKO" hilfreich sein. Sie steht nach ihrem Statut auf Wunsch der Ethik-Kommission einer Landesärztekammer oder

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einer Medizinischen Fakultät - bei Wahrung der Unabhängigkeit der anfragenden Kommission - filr eine ergänzende Beurteilung einer ethischen Frage von grundsätzlicher Bedeutung zur Verfilgung. Im Zusammenhang mit der Beurteilung von Forschungsvorhaben mit nichteinwilligungsflihigen Personen wurde bereits eine Empfehlung der ZEKO angefilhrt, die von den lokalen EthikKommissionen weitgehend beachtet wird. Für die Beurteilung von Studienprotokollen auf vergleichsweise neuen Forschungsgebieten mit einer naturgemäß zunächst noch begrenzten Zahl von Experten sind besondere Vorkehrungen zu treffen. Dies sei am Beispiel "Somatischer Gentransfer" dargelegt. Der ärztliche Forscher legt das Protokoll der filr ihn nach Berufsrecht oder Hochschulrecht zuständigen Ethik-Kommission vor. Dieses Gremium soll dann eine wissenschaftliche Beurteilung durch eine bei der Bundesärztekammer gebildete Expertenkommission veranlassen und unter Berücksichtigung dieser fachwissenschaftliehen Expertise ihr abschließendes Votum unter Beachtung rechtlicher und ethischer Aspekte erteilen. Das in den Richtlinien der Kommission "Somatischer Gentransfer" der Bundesärztekammer vorgegebene Verfahren hat sich bewährt; es soll im Rahmen der anstehenden Novellierung dieser Richtlinien vereinfacht werden.

VI. Europäische Entwicklungen In zahlreichen Staaten Europas, innerhalb wie außerhalb der Europäischen Union, bestehen seit vielen Jahren Ethik-Kommissionen oder ihnen vergleichbare Gremien mit teilweise sehr unterschiedlichen Zuständigkeiten und Befugnissen, wie sie die nationalen Gesetze oder Regelungen vorgeben. Immer wieder werden Forderungen nach Vereinheitlichung oder nach der Bildung einer zentralen Ethik-Kommission auf europäischer Ebene laut. Im Jahre 1992 scheiterte bei einer eigens nach Madrid einberufenen Konferenz der Versuch der damaligen Generalsekretärin des Europarates, filr seine Mitgliedstaaten eine solche zentrale Kommission einzurichten, insbesondere am Widerstand der föderalistisch verfassten Staaten. Man einigte sich stattdessen auf die Bildung einer europäischen Konferenz nationaler EthikKommissionen oder vergleichbarer Institutionen beim Europarat. Diese Konferenz tagt im Abstand von etwa 18 Monaten und widmet ihre Beratungen grundsätzlichen Fragen sowie der Entwicklung in den vertretenen Staaten. Das "Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin" des Europarates erwähnt mehrfach Ethik-Kommissionen oder, im Hinblick auf die angesprochene rechtliche Vielfalt, vergleichbare Gremien. In dem auf der Grundlage dieses Übereinkommens erarbeiteten Entwurf eines Protokolls filr die biomedizinische Forschung am Menschen, vom Ministerrat des Europarates am 18. Juli 2001

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zur öffentlichen Diskussion freigegeben, finden sich detaillierte Vorschläge filr die Tätigkeit von Ethik-Kommissionen. Beide Dokumente verfolgen das Ziel, die Bedingungen fiir die medizinische Forschung am Menschen auf gesetzlicher Grundlage fiir alle Bereiche dieser Forschung und fiir Forscher aller Disziplinen zu harmonisieren. Auf dieses Vorhaben sowie auf die mehrfach angesprochene Richtlinie "GCP" (2001/20/EG) soll im nächsten abschließenden Abschnitt eingegangen werden.

VII. Ausblick Die Richtlinie "GCP" (2001/20/EG) verlangt von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union fiir die klinische Prüfung von Humanarzneimitteln die Einrichtung von Ethik-Kommissionen. Nach der Richtlinie darf künftig eine Arzneimittelprüfung erst dann durchgefiihrt werden, wenn das Votum der EthikKommission und die Zustimmung der nationalen Behörde vorliegen. Damit erhalten die Voten der Ethik-Kommissionen die Bedeutung einer Genehmigung, was ihrer ursprUngliehen Intention widerspricht. Der Arbeitskreis hat aus diesem und anderen Grilnden das Bundesministerium fiir Gesundheit dringend gebeten, die Zuständigkeit der Richtlinie über das vorgesehene Anwendungsgebiet hinaus auf andere Bereiche der Forschung am Menschen zu verhindern. Schließlich muss erwähnt werden, dass, wie schon in der 5. Novelle des AMG vorgeschrieben, Ethik-Kommissionen sich mit schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen einschließlich Todesfälle im Rahmen einer Studie zu befassen haben und Eingriffsmöglichkeiten erhalten. Hierdurch wird die ursprünglich auf die Beratung vor Studienbeginn beschränkte Aufgabe auf eine Studienbegleitung erweitert, eine sachlich gerechtfertigte Regelung, die freilich den Kommissionen neben anderem auch weitere administrative Probleme bereiten dürfte. Weiterhin sieht die Richtlinie gegenüber geltendem deutschen Recht eine Erweiterung des Begriffes "Prüfer" über den Kreis der Ärzte hinaus vor. Hieraus ist zu schließen, dass künftig vermutlich nicht nur Ärzte von den Ethik-Kommissionen als Antragsteller zu akzeptieren sind. Bisher haben EthikKommissionen, vorwiegend bei Medizinischen Fakultäten, Forscher anderer Disziplinen im Rahmen kollegialer Unterstützung beraten. Naturgemäß können die Auswirkungen der Richtlinie "GCP" erst dann abgeschätzt werden, wenn der Entwurf eines Gesetzes zu ihrer Überleitung in deutsches Recht vorliegt. Mit dem schon erwähnten "Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin"21 und dem auf seiner Grundlage erarbeiteten Entwurf eines Protokolls

21 Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights

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"Biomedizinische Forschung am Menschen"22 versucht der Europarat für seine derzeit 44 Mitgliedstaaten für alle Arten der genannten Forschung alle Forscher, also nicht nur Ärzte, bindende Rahmenbedingungen vorzugeben. Durch Zeichnung und Ratifizierung dieser völkerrechtlichen Verträge verpflichten sich die beitretenden Staaten innerstaatliches Recht nach den Vorgaben des Europarates zu gestalten, deren Schutzniveau nicht unterschritten werden, aber jederzeit übertroffen werden darf. Die Übernahme solcher Regelungen wird auch die Tätigkeit von Ethik-Kommissionen berühren, die insbesondere Zuständigkeit und Verfahren betreffen. In dem Prozess der Meinungsbildung ist die Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig bemüht, eine Etablierung der Kommissionen als Organ für die Genehmigung von Forschungsvorhaben zu verhindem und ihren Status als Gremium zur Beratung zu erhalten. Das vom Europarat verfolgte Ziellässt sich einordnen in weltweit zu bemerkende Tendenzen, die Forschung am Menschen gesetzlich zu regeln und die vielfach auf der Grundlage der Deklaration von Helsinki erlassenen oder tolerierten Vorschriften zu ersetzen. Die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes hat in ihren verschiedenen Versionen über Jahrzehnte die Regelung der medizinischen Forschung am Menschen, teils als Berufsrecht, teils als von Gesetzgebern adoptierte Bestimmung in Theorie und Praxis nachhaltig geprägt.23 Diese Ära scheint im Hinblick auf die genannten gesetzgeberischen Tendenzen zahlreicher Staaten ihrem Ende zuzugehen. Diese Entwicklung wird gefbrdert durch die im Jahre 2000 verabschiedete Neufassung der Deklaration, die bei vielen annehmbaren Vorzügen in entscheidenden Punkten, insbesondere der Regelung der Forschung mit nichteinwilligungsfiihigen Personen 24 und dem vorgeschlagenen großzügigen Einsatz von Placebos25 , hinter staatlichen Normen zurückbleibt.

and Biomedicine, Oviedo, 4.1V.I997, European Treaty Series - No. 164, Counci1 of Europe, Strasbourg. 22 Draft additional Protocol to the Convention on Human Rights and Biomedicine, on Biomedica1 Research, 18 Ju1y 2001, CDBI /INF (2001) 5. 23 Elmar Doppe/feld: Funktion und Arbeitsweise der Ethik-Kommission, in: Erwin Deutsch und Jochen Taupitz (Hrsg.): Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin, Berlin 2000. 24 Jochen Taupitz: Die neue Deklaration von Helsinki - Vergleich mit der bisherigen Fassung, Dt. Ärztebl. 2001; 98: A 2413-2420 [Heft 38]. 25 Jochen Taupitz: Note of Clarification: Kaum zu verantworten, Dt. Ärztebl. 2002; 99: A 411 [Heft 7].

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Literatur Anweisung an die Vorsteher der Kliniken, Polikliniken und sonstigen Krankenanstalten, Zentralblatt flir die Gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen ( 190 I), S. 188-189. Berufsordnung flir die deutschen Ärzte, Dt. Ärztebl. 1985; 82: A 3371-3375 [Heft 45]. Convention for the Protection of Human Rights and Dignity of the Human Being with regard to the Application of Biology and Medicine: Convention on Human Rights and Biomedicine, Oviedo, 4.1V.1997, European Treaty Series- No. 164, Council of Europe, Strasbourg. Deklaration von Helsinki : Empfehlungen an die Ärzte flir die Durchflihrung wissenschaftlicher Versuche am Menschen, Dt. Ärztebl. 1964; 61: 2533-2534 [Heft 48]. Deklaration von Helsinki - revidiert in Tokio, Dt. Ärztebl. 1975; 72: 3162-3168 [Heft 46].

Doppe/feld, Elmar: "Stellung und Aufgaben der Medizinischen Ethik-Kommissionen", in : Würzburger medizinhistorische Mitteilungen, Band 20, Würzburg 2001, S. 442452. -

Funktion und Arbeitsweise der Ethik-Kommission, in: Deutsch, Erwin und Taupitz, Jochen (Hrsg.): Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin, Berlin 2000.

- Arbeitskreis medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West), in: Die Ethik-Kommission in der Medizin, MedizinEthik Band I, Stuttgart!New York 1990. -

Bericht über die 7.Jahresversammlung des Arbeitskreises Medizinischer EthikKommisionen, in: Künstliche Beatmung, Medizin-Ethik Band 2, Stuttgart!New York 1990.

Draft additional Protocol to the Convention on Human Rights and Biomedicine, on Biomedical Research, 18 July 2001, CDBI /INF (2001) 5. Heilberufsgesetz (HeiiBerG) vom 9.Mai 2000, Gesetz- und Verordnungsblatt ftir das Land NRW- Nr. 27 vom 16.Mai 2000, S. 403 ff.

Just, H.: Die öffentlich-rechtlichen medizinischen Ethik-Kommissionen in Deutschland - derzeitige Struktur und Arbeitsweise sowie Perspektiven zur künftigen Entwicklung, in: Medizin-Ethik, Band 15 (im Druck). Kühn, J: Ethik-Kommissionen aus der Sicht der Standesorganisation, Medizinische Ethik-Kommissionen- Aspekte und Aufgaben, Symposion 1980, Münster, Schriften der Vereinigung der Freunde der Medizinischen Fakultät der Westfälischen WHhelms-Universität zu Münster, 73 (1981 ).

Medizinische Forschung im gesellschaftlichen Spannungsfeld

261

(Muster-)Berufsordnung flir die deutschen Ärztinnen und Ärzte, Dt. Ärztebl. 1997; 94: A 2354-2363 [Heft 37]. Nürnberg Code, Dt. Ärztebl. 1996; 93 : A 1453 [Heft 22]. Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 4. April 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, vom 1.5.200 I, L 121 /34-44. Richtlinien für neuartige Heilversuche und flir die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen. Erlass des Reichsministers des Inneren vom 28. Februar 193 I, Reichsgesundheitsblatt 1931 , S. 179 ff. Statut: Statut der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission), Bundesärztekammer, Tätigkeitsbericht 1996, Köln 1996, S. 544-548. Statut des Arbeitskreises medizinischer Ethik-Kommissionen, in : Die EthikKommission in der Medizin, Medizin-Ethik. Band I, Stuttgart!New York, 1990, S. 165-166. Stellungnahme der "Zent~alen Ethikkommission'' bei der Bundesärztekammer "Zum Schutz nicht-einwilligungsfaltiger Personen in der medizinischen Forschung'·, Dt. Ärztebl. 1997; 94 : A 1011-1012.

Taupitz, Jochen : Die neue Deklaration von Helsinki - Vergleich mit der bisherigen Fassung, Dt. Ärztebl. 200 I; 98: A 2413-2420 [Heft 38]. - Note of Clarification: Kaum zu verantworten, Dt. Ärztebl. 2002 ; 99: A 411 [Heft 7] .

Toellner, R. : Problemgeschichte: Entstehung der Ethik-Kommissionen, in: Die EthikKommission in der Medizin, Medizin-Ethik, Band I, Stuttgart, New Y ork 1990. Verfahrensgrundsätze, Ethik-Kommissionen: Verfahrensgrundsätze, Dt. Ärztebl. 1991 ; 88: A 2656-2658 [Heft 31/32] u. Dt. Ärztebl. 1994; 91 : A 2026 [Heft 30).

Das Menschenbild vom Patienten als Herausforderun g für das Management im Gesundheitswesen Von Eugen Hauke und Elke Holzer-Möstl

I. Wandel des Patientenbildes Trotz einer allseits hochstehend anerkannten Gesundheitsversorgung in Österreich gibt es einen dringenden Handlungsbedarf ftlr eine Neuorientierung der Organisation unseres Gesundheitssystems. Denn die Qualität der Patientenversorgung darf nicht nur an professionellen Standards des medizinischen, pflegerischen und sonstigen Personals gemessen werden, sondern ob und inwieweit sie den Bedürfnissen des Patienten entspricht, wie sie mit der Betreuung und ihren Ergebnissen zufrieden sind. Galt lange Zeit die Beurteilung des Health Professionals, sie wüssten, was die Patienten brauchen als Maßstab, so ist die Herausforderung des 21. Jahrhunderts in der Gesundheitsbetreuung die, auf die individuellen, anfallenden Bedürfnisse der Patienten soweit wie möglich einzugehen. 1 Patientenorientierung beschreibt die "Fähigkeit von Unternehmen, auf Kunden individuell einzugehen, durch Erfahrungen rt1it Kunden zu lernen und Kundenzufriedenheit nachhaltig und vorausschauend gewährleisten zu können". 2 Diese Erkenntnis liegt auch dem ,Leitfaden Patientenorientierung' 3 zugrunde, der sich mit den Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Umsetzung eines verstärkten Einge1 Berwick200l, 2 &hütze

Rede.

1992, S. I; Selbstverständlich ist zu prüfen, inwieweit der Patient ein Kunde ieS ist und welchen Eigenschaften die Märkte, in denen die Gesundheitseinrichtungen agieren, unterliegen. Kundenzufriedenheit als Marketinginstrument ist Schlüsselfaktor ftlr den Erfolg insbesondere in Käufermärkten. 3 Eugen Hauke!BM for Arbeit, Gesundheit und Soziales (Hrsg.): Leitfaden Patientenorientierung - Anregungen zur Praxis der Qualitätssicherung im Krankenhaus, Wien 1997.

Eugen Hauke und Elke Holzer-Möstl

264

hens auf die Patientenbedürfuisse auseinandersetzt. Erste Schritte in die richtige Richtung etwa Messung von Patientenzufriedenheit durch Patientenbefragungen4 werden schon getan, jedoch Tatsache ist, dass derzeit noch immer die Interessen der Health Professionals und der Institutionen im Vordergrund stehen und nicht ausreichend die der Patienten. Beispielhaft aus Patientenbefragungen, Auskünften von Patientenanwälten und Beschwerdestellen ableitbar sind folgende Defizite immer wieder zu erkennen: Die Kommunikation zwischen den Health Professionals aber auch mit dem Patienten steht zu wenig im Vordergrund, Informationen und insbesondere die Patientenaufklärung kommt zu kurz. Die Ablauforganisation ist verbesserungswürdig, weil sich immer wieder Verschiebungen von Operationsterminen, Wartezeiten in Ambulanzen aber auch beim Patiententransfer innerhalb des Krankenhauses ergeben. Sparmaßnahmen gehen zulasten des Patienten statt im patientenfernen/-freien Bereich ftlr einen wirksamen Ressourceneinsatz zu sorgen. Auch die durchgehende Versorgung der Patienten über die einzelne Gesundheitseinrichtung hinaus, ist häufig nicht gewährleistet, da der Vorrang der Einzelinteressen der Institutionen zu Schnittstellenproblemen beim patientenorientierten Ablauf der Betreuung ftlhrt. 5 Die Beispiele ftlr derartige Defizite aus der Sicht des Patienten sind noch viel mannigfaltiger, doch genügen die angeftlhrten Exempel um das Problembewusstsein zu intensivieren.6

II. Neuorientierung in Richtung Patientenbeziehungsmanagement Die Aufgabe des Managements im Gesundheitswesen in Zukunft - und auch die große Herausforderung - ist sich dieser Neuorientierung anzunehmen. Diese Forderung wurde unter dem Begriff "Konsequente Patientenorientierung im Gesundheitswesen" 7 defmiert, worunter der Aufbau von Patienteninformations4 Strategien im Bereich des Patientenbeziehungsmanagements PRM (vgl. Badenhoop 2001, S. l3 ff.; vgl. Balz 2001, S. 29ff.) bzw. Kundenbeziehungsmanagements CRM setzen die Kenntnis relevanter Informationen zur Kundenzufriedenheit voraus. Zu Erhebungsverfahren der Patienten-/Kundenzufriedenheit vgl. Aust 1994, S. 94 ff.; vgl. Schütze 1992, S. 183 tf.; vgl. Homburg!Rudolph 1995, S. 42 ff. sowie Kotler/Blieme/1995, S. 56 ff.; zu Patientenbefragung vgl. Satzinger 1996, S. 62 ff. 5

Vgl. dazu Ryf2001, S. 41 ff.

Piehier 1991, S. 65 ff. Spezifikum dieser stark gesetzlich reglementierten Branche ist, dass solche Forderungen rechtliche Relevanz erlangen sollen. So wurde anlässtich der 72. Gesundheitsministerkonferenz im Rahmen ihrer Entschließung ,Ziele fllr eine einheitliche Qualitäts6 Vgl. 7

Das Menschenbild vom Patienten

265

systemen und -beratungsstellen, Durchführung von Patientenbefragungen sowie Einbeziehung von Patientenvertretungen und Verbraucherschutzverbänden zu verstehen ist8 . Es gilt viel mehr als in der Vergangenheit auf die subjektiv empfundenen persönlichen Erwartungen und Bedürfnisse des Patienten einzugehen und mit dem medizinisch-pflegerisch-therapeutischen Versorgungsbedarf in Einklang zu bringen. Die wichtige Erkenntnis, die mental auch von den Beteiligten mitgetragen werden muss ist, dass es die Patienten sind, deretwegen Gesundheitseinrichtungen betrieben werden! Die Fragestellung, die sich fiir die Health Professionals daraus ergibt lautet: ,Ist unsere Gesundheitseinrichtung, ist unser Handeln wirklich auf die Patienten mit ihren Erwartungen und Bedürfnissen ausgerichtet?' Die Patienten- als Kunden, als (wenn auch indirekte) Zahler des Gesundheitswesens9 - haben einen Anspruch auf Betreuungsleistungen und zwar in einer Weise, die ihren Bedürfnissen und Erwartungen bestmöglich entspricht. Die Konsequenz ist, dass das Management und die Mitarbeiter im Gesundheitswesen bereit sein müssen, die Patientenperspektive einzunehmen und danach aus dieser Erkenntnis das eigene Verhalten überprüfen und gegebenenfalls entsprechend - zumindest in einem zurnutbaren Ausmaß - darauf ausrichten. Denn wirklich professionell handelt nur der, der in jeder Situation sein Verhalten daran misst, welche Folgen es für den hat, fiir den er eine Leistung erbringt. 10 In anderen Bereichen haben Institutionen längst viel intensiver und nachhaltiger die Bedeutung von "Kundenorientierung" erkannt und sind sich die Manager und Mitarbeiter bewusst, dass ihr Erfolg von der Zufriedenheit ihrer Kunden abhängt. Der Fremdenverkehr, andere Dienstleistungs- aber auch Produktionsbetriebe haben diese intensive Kundenorientierung bereits umgesetzt. Dadurch, dass aber der Patient kein Kunde im vollen Sinne der Bedeutung mit deren Konsequenzen ist, da er selbst ja nicht die von ihm benötigten Leistungen defmieren kann und sich oft in einer Extremsituation seines Lebens - meist begleitet von strategie im Gesundheitswesen' dies als Ziel definiert. Vgl. Ollenschläger 2002, http://www.aqs.de/Wien.pdf; S. 12; vgl. Kolkmann 2001 , http://www.aqs.de/hauptvortraege.pdf. 8 Vgl. Tätigkeitsbericht AQS 2000, http://www.aqs.de/taetigkeitsbericht20 00.pdf, S. 5; vgl. ebenso I. nationale Qualitätskonferenz der AQS 2001, Arbeitsgruppe V, http:// www.aqs.de/AG%20V.pdf. 9 Ein weiterer Grund, warum der Patient nicht so einfach als Kunde (und damit "König") wahrgenommen wird, ist die auf den ersten Blick in der Sozialversicherung schwer zu erkennende Zahlereigenschaft Die direktere Zuordnung der Zahlungsfunktion zum Patienten in der Privatversicherung flihrte zur früheren Wahrnehmung des Patienten als Kunden und zur Kundenorientierung; Vgl. Schimetschek 1991, S. 145 f. 10 Vgl. Hauke 1997, S. 8.

266

Eugen Hauke und Elke Holzer-Möstl

Angst - befindet, lässt die Orientierung zu den Bedürfuissen des Patienten im Gesundheitswesen noch notwendiger erscheinen und Defizite erkennen. 11 Die finanziell begrenzten Mittel im Gesundheitswesen aber auch die nicht immer adäquaten Vorstellungen des Patienten (im Hinblick auf seine Einzahlungen in das Gesundheitssystem) lassen es sicher des öfteren nicht zu, alle Bedürfuisse zu erfüllen. Dennoch ist es die Aufgabe des Managements den Betreuungsprozess immer wieder zu durchleuchten und zu überprüfen, ob er den Bedürfuissen der Patienten ausreichend gerecht wird und die Versuchung hintanzuhalten (so natürlich die Bestrebung auch ist) den Patienten nach den Erwartungen und Intentionen der Health Professional zu formen. Mit dieser Neuorientierung ist ein anderes Menschenbild vom Patienten verbunden, die ihn zum individuellen Maßstab des professionellen Handeins macht. 12 Damit wird aber auch der heute gesellschaftlich geforderten menschlichen Würde des Patienten Rechnung getragen und der Forderung nach umfassender Qualität in der gesundheitlichen Betreuung. So forderte die ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung in Deutschland, dass der Patient in die Überlegungen und Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement unbedingt mit einzubeziehen sind. 13 Andererseits ergibt sich aus dieser Verhaltensänderung auch die Chance für die noch zufriedenstellendere Anerkennung der Leistungen der Mitarbeiter und auch Manager. 14 Pragmatisch betrachtet gibt es aber Hindernisse - angebliche und tatsächliche - bei dieser grundsätzlichen Neuorientierung. Argumente der Personalknappheit, zunehmende Bürokratisierung, irreale Bedürfuisse und Ängste der Patienten, einseitige Ausbildung und Motivationsmangel, Koordinationsprobleme, Informationsdefizite, Expertenturn und viele andere werden immer wieder vorgebracht werden. Diese sind vom Management im Einzelnen zu untersuchen, hinterfragen und unter dem Leitbild der Patientenorientierung konsequent abzuarbeiten. 11 Um sich als Kunde zu verhalten, müsste der Patient darüber entscheiden können, welchen Arzt oder welches Krankenhaus, evtl. welche Krankenkasse er wählen soll. Somit braucht es im Gesundheitswesen bessere Transparenz und eine kompetente Beratung, und damit eigentlich eine neue Art von Bildungsmöglichkeit über all das, was bisher dem Patienten einfach vorgesetzt worden ist. Vgl. Schöpf 2000, S. 172; vgl. Schöp/1998, s. 42 ff. 12 Vgl. Zapotoczky 1994: Arbeitskreis 2 ,Der mündige Patient', S. 131-220.

13 Vgl. ÄZQ 2000 http://www.aezq.de/azq/azq/content/stellungnahmen/2000/pdf/ stellungn3.pdf. 14 Vgl. Haulee 1992, S. 43 ff.

Das Menschenbild vom Patienten

267

Einen Erfolg werden Manager nur dann erzielen können, wenn sie als Vorbild mit eigener Verhaltensänderung vorangehen. Leitbilder, die partizipativ und mit pragmatischer Orientierung erarbeitet werden, sind ein hilfreiches Instrument bei dem Prozess des nötigen Verhaltenswandels. Ohne auf diese Neuorientierung ausgerichtete breit angelegte Schulungen und praktische Übungen wird der Wandel nicht umzusetzen sein. Zu sehr ist das traditionelle Verhalten in Fleisch und Blut der Health Professionals verankert. Ausdauer und Anleitung ist ebenso gefragt wie Geduld, bis das neue Verhalten auch wirklich im Alltag der Gesundheitsbetreuung gelebt wird.

m.

Patientenorientierung als Führungsaufgabe und Wettbewerbsstrategie

Dieser Wandel kann nicht von ,bottom up' erwartet werden, er muss überzeugend vom Management ausgehen und vorgelebt werden. Allerdings besteht nicht die Wahl, ob sich die Beteiligten neu ausrichten, orientieren wollen oder nicht. Die Ansprüche haben sich bereits in die neue Richtung entwickelt und diese Entwicklung ist nicht abgeschlossen. Zudem beginnt auch in unserem Land ein Wettbewerb verbunden mit erhöhter Transparenz im Gesundheitswesen, der Institutionen, die das neue Menschenbild vom Patienten auch leben werden. Patienten-/Kundenzufriedenheit und Patienten-/Kundenorientierung ist ein zentraler Faktor der Wettbewerbsstrategie. 15 Strategisch betrachtet, werden nur jene Einrichtungen des Gesundheitswesens den zukünftigen an sie gestellten Anforderungen gerecht werden und bestehen können, die sich dieser Neuorientierung unterziehen. Eine Führungsaufgabe - die Aufgabe des Managements im Gesundheitswesen ist es, dies zu erkennen und alle Anstrengungen zu unternehmen sich dieser Herausforderung zu stellen.

Literatur 1. nationale Qualitätskonferenz der AQS, 3.-4.12.2001, Bremen, http://www.aqs.de/ AGo/o20V.pdf.

Aust, 8.: Zufriedene Patienten? Eine kritische Diskussion von Zufriedenheitsuntersuchungen in der gesundheitlichen Versorgung, Wissenschaftszentrum Berlin, Berlin 1994.

15

Vgl. Nitsche 1996, S. 133 f. und die dort angegebene Literatur.

268

Eugen Hauke und Elke Holzer-Möstl

ÄZQ: Ärztliche ZentralsteHe Qualitätssicherung: SteHungnahme der ZentralsteHe der Deutschen Ärzteschaft zur Qualitätssicherung in der Medizin zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2000, http:// www.aezq.de/azq/azq/content/stellungnahmen/2000/pdf/ stellungn3.pdf. Badenhoop, Rolf: Patientenbeziehungsmanagement - Ein Paradigmenwechsel kündigt sich an; in: Badenhoop, Rolf/Ryf, Balz (Hrsg.): Patient Relationship ManagementCRM in der Life Seiences Industrie, Wiesbaden 2001, S. 13-25. Badura, Bernhard (Hrsg.): System Krankenhaus- Arbeit, Technik und Patientenorientierung, Weinheim 1993. Barthel, Erich: Krankenhausmanagement im Spannungsfeld zwischen Kundenorientierung und Mitarbeiterorientierung- Führungsaspekte des TQM; Hrsg. des Tagungsberichtes: Arbeitsgruppe "Betriebswirtschaft in Einrichtungen des Gesundheitswesens (BIG)"; Osnabrücker Studien: 15, Osnabrück 1996. Berwick, Donald: Vortrag anlässtich des 61h European Forum on Quality lmprovement in Health Care, Bologna 200 I. Dullinger, Florian: Krankenhaus-Management im Spannungsfeld zwischen Patientenorientierung und Rationalisierung - Probleme und Gestaltungsmöglichkeiten des business reengineering in der Krankenhaus-Praxis, Arbeitspapiere Nr.66 zur Schriftenreihe Schwerpunkt Marketing, Augsburg 1996. Hauke, Eugen: Die Qualität der Krankenhausleistungen aus der Sicht der Patienten, in: Krcza/, Albin (Hrsg.): Beiträge zur Praxis des Krankenhausmanagements, Wien 1992, S. 43-56. Hauke, Eugen!Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (Hrsg.): Leitfaden Patientenorientierung - Anregungen zur Praxis der Qualitätssicherung im Krankenhaus, Wien 1997. Homburg, Christian!Rudolph, Bettina: Theoretische Perspektiven der Kundenzufriedenheit, in: Simon, Herrnann!Homburg, Christian (Hrsg.): Kundenzufriedenheit, Wiesbaden 1995, S. 42-45. Hüttl, Dagmar: Patientenbild - Anbieterseitige Analyse der Patientenwahmehmung, Diplomarbeit an der Wirtschaftsuniversität Wien, Wien 200112002. Ko/kmann, F.-W.: Ist-DarsteHung der Qualitätssicherung in Deutschland, Hauptvortrag anlässtich I. nationale Qualitätskonferenz der AQS, 3.-4.12.2001, Bremen; http:// www .aqs.delhauptvortraege. pdf. Kot/er, Philip/B/ieme/, Friedhelm: Marketing-Management, Stuttgart 1995. Krcza/, Albin (Hrsg.): Gesundheitsmanagement-Beiträge aus der Praxis, Festschrift JosefDezsy, Wien 1998, S. 175-182.

Das Menschenbild vom Patienten

269

Nitsche, Michael: Aspekte der Kundenzufriedenheit in der Versicherungswirtschaft; in: Versicherung, Risiko und Internationalisierung - Herausforderungen filr Unternehmensfilhrung und Politik, Festschrift filr Heinrich Stremitzer zum 60. Geburtstag, Wien 1996, S. 131-145. 01/enschläger, Günther: AG zur Förderung der QS in der Medizin/AQS - ein berufsübergreifender Ansatz in Deutschland "Konferenz: Neue Aspekte zum Qualitätsverbesserungsprozess" in Wien 21 .1.2002, http://www.aqs.de/ Wien.pdf. Pich/er, Johannes W.: Der Wertewandel im Vorfeld der Patientenrechte, InnsbruckWien 1991. Ryf, Balz: Studie "Patient Relationship Management (PRM)" - Resultate und Herausforderungen filr die Zukunft, in: Badenhoop, Rolf!Ryf, Balz (Hrsg.): Patient Relationship Management: CRM in der Life Seiences Industrie, Wiesbaden 2001, S. 29-47. Satzinger, Walter: Patientenbefragung als Instrument des Qualitätsmanagements im Krankenhaus; in: Zapotoczky, Klaus!Grausgruber, Alfred/Mechtler, Reli (Hrsg.): Gesundheit im Brennpunkt, Wien I996, S. 62-74. Schimetschek, Herbert: Recht und Anspruch des Patienten; Rede im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach 1990, in: Die Versicherungsrundschau Heft April 1991, S. 145-146. Schmitz, Ralf-Michael: Patientenbezogene Steuerung im Krankenhaus - ein Konzept zur patientenbezogenen Steuerung im Primärleistungsbereich mit Hilfe fallgruppengegliederter Leistungskategorien, WIBERA-Fachschriften N.F.l2, Stuttgart I 993. Schöpf, Anton: Gesundheitsökonomie - Forschungsberichte und Arbeitshefte, Wien 1998. Gesundheitsökonomie- gestern-heute-morgen, in: Obermann, Gabriet (Hrsg.) Festschrift Anton Schöpf zum 70. Geburtstag; Schriften und Vorträge Gesundheitsökonomie; Wien 2000. Schütze, Roland: Kundenzufriedenheit After-Sales-Marketing auf industriellen Märkten, Wiesbaden 1992. Tätigkeitsbericht AQS 2000, http://www.aqs.de/taetigkeitsbericht2000.pdf. Thi/1, Klaus-Dieter: Kundenorientierung und Dienstleistungsmarketing filr Krankenhäuser-theoretischeGrundlagen und praktische Fallbeispiele, Stuttgart 1999.

Zapotoczky, Klaus (Hrsg.): Gesundheit im Brennpunkt- Anforderungen und Leistungen, Band 4: Ergebnisse des sechsten Internationalen Gesundheitssymposiums im April 1993, Linz 1994.

Systemtheoretische Aspekte zur Integration und Koordination im Gesundheitswesen Von Reli Mechtler Mit Herrn Professor Dr. Klaus Zapotoczky verbindet mich jahrzehntelange berufliche Zusammenarbeit sowie persönliche gegenseitige Wertschätzung. Daher ist es fllr mich eine besondere Freude, in dieser Festschrift unser gemeinsames Bemühen um eine ganzheitliche Sichtweise des Gesundheitswesens zum Ausdruck zu bringen. Für Professor Zapotoczky war es schon immer wichtig, auf die gesellschaftliche Verantwortung der Gesundheitspolitik hinzuweisen, wichtige Fragen des Gesundheitssystems aus multi- und interdisziplinärer Sicht darzustellen. Die Linzer Gesundheitssymposien, die im Jahre 1986 zum ersten Mal stattfanden und die Herr Professor Zapotoczky alle 2 Jahre mit unermüdlichem Engagement organisiert, sind eindeutige Beispiele dafllr. Vemetzung, Koordination und Kooperation im Gesundheitswesen waren bereits innerhalb dieser ersten Veranstaltungen in den späten 80er Jahren wichtige Themen fllr ihn. Besonderes Anliegen ist dem Jubilar das Zusammenwirken zwischen intramuralem und extramuralem Bereich in der Gesundheitsversorgung. Im folgenden Beitrag wird daher in einem Überblick aufgezeigt, dass eine Anpassung des Gesundheitswesens an die soziale Wirklichkeit nur möglich sein kann, wenn Maßnahmen im Hinblick auf das Gesamtsystem überlegt und getroffen werden. Davon ausgehend wird dann beispielhaft auf die Schnittstelle zwischen stationärem und ambulanten Sektor hingewiesen. Wenn man die öffentliche Diskussion verfolgt, dann wird man mitunter den Eindruck erhalten, dass nach wie vor Gesundheitswesen mit Spitalswesen gleichgesetzt wird und gleichzeitig Steuerungsmechanismen aus der Privatw.irtschaft gefordert werden. Was nun ftlr das Spitalswesen gilt, sollte erst recht ftlr das gesamte Gesundheitswesen Beachtung fmden, schon deshalb, weil Änderungen in der Krankenhauspolitik nur Erfolg haben können, wenn deren Auswirkungen auf alle anderen Ebenen des Gesundheitsbereiches berücksichtigt werden.

272

Reli Mechtler

Der nun auch von politischer Seite immer dringlicher gestellten Forderung, weitere Entwicklungen im Gesundheitswesen gesamtheitlieh zu sehen, wird bisher erst sehr halbherzig Rechnung getragen. Allen ist bewusst, dass es sich bei unserem Gesundheitswesen um historisch gewachsene Strukturen handelt, dass sich gleichzeitig die gesellschaftliche Nachfrage verändert hat und daß ein Umdenken erfolgen muss. Die folgende Auseinandersetzung beschäftigt sich daher mit der These, dass eine Anpassung unseres Gesundheitswesens an die soziale Wirklichkeit nur möglich sein kann, wenn Maßnahmen im Hinblick auf das Gesamtsystem überlegt und getroffen werden. Zunächst soll diese Thematik unter Berücksichtigung aller filr komplexe Systeme geltenden Gesetzmäßigkeiten diskutiert werden und anschließend im speziellen die Voraussetzungen fiir Integration und Koordination der einzelnen Leistungsbereiche skizziert werden. Eine wichtige Voraussetzung fiir das Funktionieren komplexer Systeme stellt ihre innere Vernetztheil und Interdependenz aller Funktionen und Ebenen dar. D.h. die Funktionsfahigkeit eines Systems wird wesentlich von seiner Struktur bestimmt. Nicht alleine medizinische und ökonomische Argumente können zu einer Umstrukturierung unseres Gesundheitswesens beitragen, sondern das Zusammenspiel von Organisation, Leistungsangeboten und Strukturmerkmalen auch unter sozialen und psychosozialen Gesichtspunkten bilden dafilr ganz entscheidende Größen. Das System muss jedoch auch in seiner komplexen und sich verändernden Umwelt begriffen werden. Dies bedeutet, daß die immer wieder in Angriff genommenen Reformen nur einen kleinen Teil des Systems erfassen können und somit das Zusammenspiel von Leistungsangeboten, Organisation und Strukturmerkmalen unberücksichtigt lässt. Wodurch unterscheidet sich nun ein komplexes System von einfacheren Systemen? I.

Nicht von ihrer Größe her, sondern in ihrer Vielfalt und Verschiedenartigkeil von einflussnehmenden Faktoren, die es auf Grund des hohen Vernetzungsgrades zu berücksichtigen gibt.

2.

Ihre innere Vernetztheil und Interdependenz aller Funktionen und Ebenen.

3.

Herausragendes Merkmal komplexer Systeme ist ihre Nichtlinearität, d.h. die in einem System wirksamen Faktoren sowie die von ihnen zu beeinflussenden Größen verändern sich nicht linear.

4.

Die Innen-/Außendifferenz stellt eine besondere Bedeutung fiir die Komplexität des Systems dar (unter Einbeziehung ihrer veränderlichen und komplexen Umwelt).

Systemtheoretische Aspekte zur Integration und Koordination

5.

273

Die Steuerungsmechanismen müssen in der Lage sein, sämtliche Zustände, die ein System entwickeln kann, zu absorbieren. Ist dies nicht der Fall, geraten solche Organisationen selbst bei vergleichsweise geringen Veränderungen ihrer Umwelt außer Kontrolle.

Diese Kriterien 1 ließen sich noch fortfUhren, zeigen jedoch sehr schön auf, dass ein Umdenken im Umgang mit unserem Gesundheitssystem erforderlich sein wird. Welche Rolle kommt dabei der Gesundheitssystemforschung sowie der Sozialforschung zu? Es können wirksame Instrumente filr die Umstrukturierung des Gesundheitswesens zur VerfUgung gestellt werden, wie: •

Die Evaluation als Instrument, im Gesundheitswesen gesetzte Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen und damit Fehlsteuerungen entgegenzuwirken (im Gesamtkontext gesehen).



Organisationsanalysen, die bspw. mithelfen könnten, dem immer vehementer gestellten Ziel der Vemetzung unterschiedlicher Leistungsbereiche zum Durchbruch zu verhelfen. Denn dies kann nur dann funktionieren, wenn die Organisationsstrukturen im stationären und ambulanten Bereich entsprechend koordinierbar gestaltet werden.



Epidemiologische Studien, die etwa Aufschluss geben können hinsichtlich Bedarf und Nachfrage - unter Berücksichtigung unterschiedlicher Sichtweisen (z.B. Arzt-Patient).



Qualitätssichemde Maßnahmen filr alle Einrichtungen des Gesundheitssektors. Hier soll es allerdings nicht um eine Kontrolle von außen gehen, sondern um Strategien, die zu einer Optimierung von Wirtschaftlichkeit und Qualität der Versorgung im Interesse des Patienten filhren.



Entwicklung von Qualitätsindikatoren zur Messung klinischer Versorgungsleistung. Diese werden in getesteter und valider Form erst zu einem kleinen Teil, vorwiegend im stationären Bereich, angewandt. 2



Health Technology Assessment - eine in Österreich noch in der Entwicklung stehende Methode, um Interventionen und neue Technologien auf ihre Effizienz hin zu überprüfen.

Diese Auflistung könnte sicherlich noch erweitert werden, doch wesentlich ist, dass die Wichtigkeit und der Nutzen derartiger Instrumente erkannt wird, 1 Reli Mechtler: Das Gesundheitswesen aus systemtheoretischer Sicht, in: P. Berner/K. Zapotoczky: Gesundheit im Brennpunkt, Linz 1989, S. 229. 2 Quality Indicator Project: http://www.intemationalqip.com.

274

Reli Mechtler

weil das Ausmaß des Funktionierens von komplexen Systemen sehr entscheidend davon bestimmt wird, wie weit es Informationen über sich selbst besitzt. Die Notwendigkeit qualitätssichernder Maßnahmen insbesondere in Bezug auf eine Verbesserung der Koordination im Gesundheitswesen ergibt sich aus der zunehmenden Komplexität des Systems selbst sowie seines mindestens ebenso komplexen Umfeldes. Welche Bedeutung dabei Integration und Koordination haben, wurde von Köck 3 innerhalb des behavioristischen Modells dargestellt. Er weist darauf hin, dass ein organisatorisches Umfeld in allen Dimensionen von einem großen Ausmaß an Unsicherheit und Unklarheit geprägt ist. Bedingt durch zunehmenden technischen und medizinischen Fortschritt, zunehmende Komplexität von Aufgabenstellungen und Anforderungen sowie des ökonomischen und institutionellen Umfeldes, wird das Gesundheitswesen gezwungen, sich immer schneller neuen Methoden anzupassen, neue, bedarfsgerechte "Institutionen" zu schaffen, Personal zu schulen und weiterzubilden. In dieser Situation zunehmender Unsicherheit reagiert das Gesundheitssystem mit zunehmender Spezialisierung und Differenzierung seiner organisatorischen Funktionen. So sind Einrichtungen (z.B. Krankenhäuser) beispielsweise gezwungen, um die zunehmende Komplexität zu bewältigen, einzelne Bereiche in immer kleinere Einheiten zu unterteilen. Diese groBteils unabhängig voneinander agierenden Einheiten brauchen vielfach weitestgehende Autonomie, um auf wechselnde Problemstellungen zu reagieren. Dies bedeutet wiederum, dass mit wachsender Spezialisierung und Differenzierung zunehmend das Problem organisatorischer Koordination zunimmt. Daraus resultieren groBteils die Koordinations- und Integrationsprobleme europäischer Gesundheitssysteme. Grobgesprochen lassen sich folgende Problemdimensionen unterscheiden: •

lntramuraler Bereich.



Extramuraler Bereich.



Intra-/extramuraler Bereich.

Innerhalb dieser einzelnen Bereiche stellen sich vielfach massive Koordinationsprobleme, die die Qualität der Patientenversorgung entscheidend beeinflussen. Qualitätssichemde Maßnahmen und systematische Schritte unter Berücksichtigung der Vemetzungen können als Instrumente genannt werden, um hier Verbesserungen einzuleiten (s. dazu Abb. I)

3 Christion Köck: Organisationstheoretische Grundlagen der Leistungsqualität, in: P. Berner/K. Zapotoczky: Gesundheit im Brennpunkt, Linz 1992.

Systemtheoretische Aspekte zur Integration und Koordination

275

(1) Bestimmen der Ziele und Modellieren der Problemsituation

(2) Analysieren der Wirkungsvertaufe

(6) Verwirklichender Problemlösung

Methodik des vernetzten Denkens (3) Erfassen und

Interpretieren der Veränderungsmöglichkeiten der Situation

(5) Planen von Strategien und Maßnahmen

(4) Abklären der Lenkungsmöglichkeiten

Abbildung I: Schritte der Methodik des vernetzen Denkens4

Abschließend soll auf die Schnittstelle zwischen stationärem und ambulantem Sektor hingewiesen werden. Die Erfahrung, vor allem im Betrieb der öffentlichen Krankenanstalten zei- · gen, dass viele Faktoren, die die Qualität beeinflussen, in der Koordination der Betreuung des Patienten im Krankenhaus und zu Hause zu suchen sind. Die Tätigkeit der extramuralen medizinischen sowie sozialen Dienste hat großen Einfluss auf die Möglichkeit des Krankenhauses, qualitativ hochwertige Leistungen zu erbringen. So kann z.B. die Kontinuität guter Betreuung zwischen Krankenhaus und Aufenthalt zu Hause nur dann sichergestellt werden, wenn der frei praktizierende Arzt oder die sozialen Dienste möglichst rasch die wesentlichen Informationen Ober den Krankenhausaufenthalt und Ober die fortfllhrende Therapie erhält. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, Pflegeaufenthalte vermieden werden etc. Weiters ist die Wahrscheinlichkeit einer Wiederaufnahme eines Patienten sowie sein Gesundheitszustand zu diesem Zeitpunkt zu einem guten Teil davon abhängig, wie gut er zu Hause mit sozialen Diensten

4

Gilbert Probst/Peter Gomez: Vemetztes Denken, Wiesbaden 1991.

276

Reli Mechtler

versorgt werden kann. Nachfolgende Abbildung 5 zeigt schematisch auf, welche grundlegenden Vernetzungsnotwendigkeiten im Interesse des Patienten und des Gesundheitssystems gegeben sein sollten.

Bezugspunkte der Vernetzung ambulant/stationär aus dem Blickwinkel Krankenhaus nachstationäre Krankenpflege

einweisender Arzt

Reaaourcenve~ag

mit Patienten

ambulanter Pflegedienst stationäre Pflegeeinrichtung

Laienpflege

teilstationäre

teilstationäre Krankenhauspflege

sonstige mobile Sozialdienste

Rehs-Einrichtungen

Operationen

Abbildung 2: Bezugspunkte der Vernetzung ambulant/stationär

Perspektiven In Zukunft wird jedem Mitglied im Gesundheitswesen eine aktivere Rolle zukommen müssen, um nicht nur aktuelle Methoden und Standards nachzufragen, sondern vor allem die notwendige Koordination zu ermöglichen. Die neuen Aufgaben erfordern jedoch auch moderne Hilfsmittel aus der Informationstechnologie6, um den gestellten Aufgaben gerecht zu werden. Dazu zählen insbesondere, die

Friedhelm Peil: Folgen der Vernetzung, in: Die Schwestern/der Pfleger, 3/1996. Jörg Sigle; Hans-Jürgen Wilhelm: Medizinisches Qualit!tsmanagement, in: Thomas Lehmann: Handbuch der Medizinischen Informatik, Carl Hanser Verlag 2002, S. 652. 5

6

Systemtheoretische Aspekte zur Integration und Koordination

277



Informationsbereitstellung, die den notwendigen Umfang, die inhaltliche Qualität und die Aktualität der verwendeten Informationen, Wissensquellen und Dokumentationen gewährleistet,



entsprechende Kommunikation, die den automatischen Datenaustausch der IT-Systeme untereinander ermöglichen und die notwendige Teamarbeit aller Mitarbeiter unterstützen, sowie



eine entsprechende Datenerhebung und Auswertung ermöglicht, um zu erkennen, ob die angestrebten Ziele erreicht werden oder ob weitere Maßnahmen notwendig sind.

Letztendlich soll durch eine verbesserte Koordination der unterschiedlichen Leistungserbringer im Gesundheitswesen die Integration der verschiedenen Bereiche vorangetrieben werden und Patienten dadurch auch stärker in den Behandlungsprozess eingebunden werden.

Literatur Köck, Christian: Organisationstheoretische Grundlagen der Leistungsqualität, in: Berner, P.; Zapotoczky, K.: Gesundheit im Brennpunkt, Linz 1992. Mechtler, Reli: Das Gesundheitswesen aus systemtheoretischer Sicht, in: Berner, P./Zapotoczky, K.: Gesundheit im Brennpunkt, 1989. Peil, Friedhelm: Folgen der Vernetzung, in: Die Schwestern/der Pfleger, 3/1996. Probst, Gilbert/Gomez, Peter: Vernetztes Denken, Wiesbaden 1991.

Quality Indicator Project: htpt://www.internationalqip.com. Sigle, Jörg/Wi/he/m, Hans-Jürgen: Medizinisches Qualitätsmanagement, in: Lehmann, Thomas: Handbuch der Medizinischen Informatik, München 2002.

Gesundheitsförderung im Wellness-Kontext Von Manfred Prisehing In der postindustriellen, globalisierten Gesellschaft 1, die ebenso ziemlich viel Spaß wie Belastung bietet, werden neue "Lebensbereiche" als "Wirtschaftsbereiche" wichtig. Es vermehren sich nicht nur die herkömmlichen Dienstleistungssparten, es tun sich auch neue Dienstleistungsmärkte auf, unter anderem im Bereich der Gesundheit, den manche bereits fiir den Träger des nächsten Kontradieff-Zyklus halten: Es steht die "Gesundheit im Brennpunkt", wie von Klaus Zapotoczky mitherausgegebene Bände2 titeln. 3 Die neuen Gesundheitsdienstleistungssparten entstehen zum Teil durch arbeitsteilige Aufspaltungen herkömmlicher Arbeitsbereiche, zum Teil durch ein Outsourcing von bislang institutionsintern vollbrachten Diensten, zum Teil werden aber auch neue Märkte erschlossen, etwa in den Bereichen Gesundheitsberatung, Gesundheitserziehung, Gesundheitsllirderung, Gesundheitsschulung, Gesundheitsvorsorge und Gesundheitstourismus. Viele dieser Bereiche werden oft unter dem Etikett der ,,Angewandten Gesundheitswissenschaften" zusammengefasst. 4 Der Gesundheitsbereich ist in jenen Teilen, die mit Krankheitsversorgung und fundamentalen Aspekten der Vorsorge zu tun haben, ein "alter" Markt, der in wohlfahrtsstaatliehen Systemen in beträchtlichem Maße durch öffentlich organisierte Angebote abgedeckt worden ist. Er entwickelt sich aber in eine Richtung, in der weite Bereiche der Gesundheitsberatung und Gesundheitsför-

1 Petra C. Gruber/Klaus Zapotoczky: Globalisierung versus Demokratie?, Frankfurt!M. 1999. 2 Klaus Zapotoczky/Alfred Grausgruber/Reli Mechtler: Gesundheit im Brennpunkt, 2 Bde, Linz 1999. 3 Natürlich steht die Gesundheit nicht nur aus dem angegebenen wirtschaftlichen Grund im Brennpunkt, sondern auch aus einer Reihe von anderen Gründen. Diese liegen teilweise in der Lebensweise in modernen Gesellschaften, teilweise in demographischen Veränderungen, teilweise auch in medizintechnischen Entwicklungen.

4 Vgl. auch Klaus Hurrelmann!Ulrich Laaser (Hrsg.): Handbuch Gesundheitswissenschaften, Weinheim/München 1998.

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derung5, Bereiche der Vorsorge und Therapie, Bereiche der Gesunderhaltung und der allgemeinen Förderung des Wohlgefiihls die klassischen Kernbereiche der Krankheitsbehandlung ergänzen. 6 Gesundheitsförderung in einem weiten Sinn zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu beflihigen. 7 Die für sich schon vernünftige Höherbewertung einer Gesundheitsförderung und Gesundheitsvorsorge - gegenüber einer nachträglichen "Reparatur" eingetretener Schädigungen - erhält durch den Umstand besonderes Gewicht, dass die demographische Entwicklung explodierende Kosten (fiir die gesundheitliche und pflegerische Betreuung älterer, oft chronisch kranker Menschen) erwarten lässt, dass aber neuerdings die staatlichen Budgets mit politisch, moralisch und sachlich begründeten Restriktionen zu operieren haben, so dass fiirderhin nicht beliebig hohe Ressourcen in diesen Bereich fließen können. Eine theoretische Schätzung ergibt, dass sich rund 25 bis 30 Prozent der heutigen Ausgaben fiir Krankenversorgung durch langfristige Prävention vermeiden lassen. 8 Auch wenn es empirisch nicht eindeutig ist, dass ein "gesundes Leben" in signifikanter Weise zur Lebensverlängerung beiträgt, lässt sich doch erwar-

5 Fritz Riege: Gesundheitsförderung - Ein gesundheitspolitisches Lesebuch, Frankfurt/M. 1999; Gabriefe Amann!Rudolf Wipplinger: Gesundheitsförderung, Tübingen 1998; Bernd Röhrle/Gert Sommer: Prävention und Gesundheitsförderung, Tübingen 1999; Aad Doorduijnllngrid Geiger/Horst Heinemann: Gesundheitsförderung - Vom alltäglichen Umgang mit der Utopie, Frankfurt/M. 1995, und viele andere. 6 AlfTrojan!B. Stumm: Gesundheit fördern statt kontrollieren, Frankfurt/M. 1991. 7 Ottawa-Charta, WHO, 1986. In dieser Charta werden auch politische und wirtschaftliche Strukturen angesprochen, welche die Handlungsflihigkeit des Einzelnen erst ermöglichen (so etwa Frieden, bessere Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles Öko-System); andererseits wird aber auch der Einzelne aufgerufen, selbstbestimmt seine Gesundheit zu stärken. Mit Blick auf die globalen Verhältnisse ist es besonders wichtig, erst einmal jene sozialen Voraussetzungen zu schaffen, dass gesundheitsbeeinträchtigende Lebensverhältnisse beseitigt werden. Aber auch im Blick auf die wohlhabenden Länder lassen sich empirisch deutliche Unterschiede zwischen oberen und unteren Einkommensgruppen feststellen. Insbesondere muss auch ein entsprechender Informationszugang gewährt und es muss fiir eine adäquate Informationsrezeption gesorgt werden, damit Menschen in die Lage versetzt werden, Einfluss auf jene Faktoren zu nehmen, die seine Gesundheit beeinflussen. Vgl. auch Andreas Mielck (Hrsg.): Krankheit und soziale Ungleichheit - Sozialepidemiologische Forschungen in Deutschland, Opladen 1994. 8 Sachverständigenrat filr die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (Rolf Rosenbrock u .a.): Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. Bd. 1: Zielbildung, Prävention, Nutzerorientierung und Partizipation, Gutachten 2000/01, Berlin 2000; zitiert in den WZB-Mitteilungen 91 vom März 2001.

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ten, dass laufend anfallende Krankheiten durch einen gestärkten Organismus vermieden und chronische Krankheiten vermindert werden. 9 Die Motivation für Aktivitäten zur Gesunderhaltung aber liegt neben der gesamtgesellschaftlichen Kostenersparnis auch in einem besseren Wohlbefinden im gesunden Zustand. Der überwiegende Teil der Möglichkeiten, eine derartige Prävention umzusetzen, ist mit der Veränderung von Lebensweisen und Verhaltensweisen der Menschen verbunden. Viele Menschen in den "reichen" Gesellschaften leben nicht sonderlich gesund. Das hat äußere Gründe: Stress, Umweltbelastung; aber auch innere Gründe: angesichts der vielen Optionen in dieser Gesellschaft kann man sich im Konsumgeschehen nicht "zurückhalten" und lebt "ungesund". 10 Langfristige Vorsorge kann deshalb nicht bei spezifischen Problemen- bei der Behandlung dieser oder jener "Anomalie" - allein ansetzen, es handelt sich vielmehr um eine "ganzheitliche" Betrachtung. Dies ist eine Entwicklung, die einerseits für den öffentlichen und halböffentlichen Bereich, also Krankenkassen und Versicherungen, bedenkenswert ist; andererseits ist dies auch ein Markt, der sich in privatwirtschaftlicher Nachfrage artikuliert und deshalb für private Gesundheitsanbieter 11 unterschiedlicher Art von Interesse ist. Es sind Schlagworte wie "Lifestyle" oder "Wellness", die denn auch viele Aspekte der neuen Akzentsetzungen komprimieren.

I. Gesundheit statt Krankheitsvermeidung Es wird im Zuge der neuen Entwicklungen Gesundheit thematisiert, nicht Krankheit: Gesundheit als Zustand, nicht Krankheit als Abweichung von der Normalität des gesunden Lebens; Gesundheit als eine eigenständige, graduell abstufbare Kategorie. 12 Es ist also nicht erst der Zustand eines Gesundheitsdefi9 Das wohlbekannte Gegenargument lautet, dass entsprechende schlechte Gesundheitszustände nicht vermieden, sondern nur zeitlich verschoben werden; die Menschen werden später hinfiillig und pflegebedürftig, aber dadurch erspart man sich k.eine Kosten. 10 Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt/M. 1994. 11 Nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus sprachästhetischen Gründen wird in der Folge jenen Konventionen, die dem männlichen Geschlecht in manchen Formulierungen den Vorzug einräumen, Folge geleistet; an den entsprechenden Stellen sind natürlich immer Personen beiderlei Geschlechts angesprochen, in diesem Falle also auch die "Gesundheitsanbieterinnen".

12 Nur an den Polen sind die Zustände "vollständiger" Gesundheit oder "vollständiger" Krankheit zu finden, das heißt: jeder ist de facto in unterschiedlichem Ausmaß "krank".

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zits, einer Abweichung von einer irgendwie vorgestellten biologischen Vorgabe, der die Befassung mit Gesundheit beziehungsweise Krankheit auslöst. Man nimmt Gesundheit nicht mehr als nicht reflexionsbedürftigen Normalzustand hin. Um Gesundheit kümmert man sich neuerdings nicht nur, wenn Bettlägrigkeit droht, sondern auch, wenn man "gesund" ist - irgendwo zwickt es ohnehin immer; oder es wächst zumindest das Bewusstsein einer Anflilligkeit, der es rechtzeitig vorzubeugen gilt. Gesundheit ist zu einem Thema für Gesunde geworden, und sie gewinnt einen umfassenden Charakter. Man "tut etwas" ftir seine Gesundheit, indem man joggt oder bikt, indem man sich massieren lässt oder an Shiazu-Übungen teilnimmt, indem man grünen Tee oder Kombucha trinkt, indem man im Supermarkt zum linksdrehenden Yoghurt oder zum besonderen Kömerbrot greift, indem man sich einige Tage im warmen Wasser einer Therme verwöhnen lässt, indem man einmal wöchentlich an der Wirbelsäulengymnastik teilnimmt oder morgens einige Dehnübungen einschiebt, indem man die Akupunktur-Übungen des Hausarztes als möglichen Beitrag zur generellen physiologischen Stärkung akzeptiert. Solche Aktivitäten sind aus der gesellschaftlichen Peripherie - aus gewissermaßen "esoterischen" Kreisen - im Laufe der Jahre beinahe schon in den gesellschaftlichen Mainstream eingewandert. Sie wurden zunächst eher in bessergestellten Sozialschichten rezipiert; aus den oberen Sozialschichten diffundieren diese Praktiken langsam auch in die allgemeinere Bevölkerung, ftlr welche die Gesundheit (bis zur jeweiligen Erkrankung des Einzelnen) eine der näheren Beachtung nicht bedürftigen Tatsache dargestellt hat. 13 "Gesundheit" ist ein aktuelles und universelles Thema geworden: Man spricht darüber ohne Peinlichkeit, selbst über Phänomene wie Brustkrebs und Prostata wird nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Es ist dem Sozialprestige durchaus nicht schädlich, über damit in Zusammenhang stehende Sachverhalte Bescheid zu wissen.

II. Gesundheit, Erholung, Spaß Die geschilderte Gesundheitsthematik wird in einen anderen Lebenskontext gestellt. Es handelt sich nicht mehr um unangenehme Verpflichtungen; gesundheitsfflrdemde Aktivität ist nicht einem hinauszuschiebenden Zahnarztbesuch oder einer lästigen Vorsorgeuntersuchung vergleichbar. Gesundheit wird in den Zusammenhang von Freizeit, Urlaub, Tourismus, Spaß und Erlebnis gestellt. 14 13 Th. Klein: "Soziale Determinanten der Lebenserwartung", Kölner Zeitschrift ftlr Soziologie und Sozialpsychologie 45 (1993), S. 712-730. 14 Vgl. etwa die positiv-aufmuntemden Titel von Ratgeber-Büchern, wie etwa Felicitas Holdau: Einfach gut drauf- Tolle Gute-Laune-Macher, Wellness-Tips und Psycho-Tricks, München 1999; Tania Konnerth: Montag ist erst übermorgen- Wohlftlhl-

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Die positive Darstellung löst natürlich zuweilen übertriebene Erwartungshaltungen und Verpflichtungsgefilhle aus. Es gibt auch ein verbissenes FitnessTraining, das in multifunktionaler Zeitnutzung in der Mittagspause abgearbeitet wird, zur gehörigen Erhaltung des biologischen Substrats karrierebewusster Arbeitskraft. Aber Wellness und Fitness haben im allgemeinen doch positive Konnotationen gewonnen. Die gesuhdheitsf6rderlichen Aktivitäten werden gebündelt, werden in touristischen Paketen angeboten und nachgefragt. Gesundheitshotels boomen. Thermenlandschaften verzeichnen Rekorde. Selbst andere Urlaube etwa Schiurlaube - werden durch Gesundheitsaktivitäten angereichert. Man flihrt auf eine "Gesundheitsfarm", um sich "aufmöbeln" zu lassen. Man bucht eine Woche im Thermenhotel, um angesichtskalter Außentemperaturen im warmen Wasser zu plantschen und eine Reihe von Gesundheitsdienstleistungen zu konsumieren. Man lässt sich massieren, weil es angenehm ist. Man geht in die Sauna, weil es kommunikativ ist. Man lässt sich Moorpackungen auflegen, weil sie wohl nicht schaden können. Man trinkt Kräutertee, weil er im Hotelfoyer angeboten wird. Eine solche Woche ist eine Abwechslung. Sie macht Spaß. Gesunderhaltung macht Spaß, sie ist nicht nur "vernünftig", und das ist in dieser starken Ausprägung ein neues soziales Phänomen. Einer Werbebeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Thema Wellness-Fitness-Gesundheit, die wir hier nicht als argumentative Quelle, sondern als Symptom filr eine sich verbreitende Befindlichkeit verstehen, entnehmen wir folgende Aussage: "Gesund leben möchte jeder. Und Spaß haben natürlich auch. Schließlich sind wir eine Spaßgesellschaft, heißt es allerorten. Aber was Spaß macht, ist leider oft nicht gesund. Und was gesund ist, bringt selten großen Spaß. Das Problem: Amerikanische Wissenschaftler haben bereits in den siebziger Jahren erkannt, daß Menschen nur dann wirklich etwas filr ihre Gesundheit tun, wenn es auch Spaß macht. Aus diesem Dilemma entstand Wellness: Gesundheit und Spaß in einer neuen Kombination - , well-being' und ,fitness'. Gesund leben und trotzdem Spaß haben. Viel bewegen, richtig entspannen, gesund essen, und dabei immer auch genießen - das sind die tragenden Säulen des Wohlbefindens. Zwischen diesen Polen bewegt sich Wellness, immer in der Balance, die auch der Mensch braucht." 15 Das ist Werbung, aber der Text kennzeichnet auf treffende Weise eine tatsächlich stattfmdende Veränderung; denn die Werbung muss ja Resonanz finden, also eine Befindlichkeit der Menschen ansprechen. Beide Veränderungen - eine neue Perspektive auf die Gesundheit selbst und ein neuer Kontext der tipps ftlrs Wochenende, Freiburg 2001; Mireil/e Jochum-Guillou/Werner Waldmann: Verwöhn Dich- Die besten Wellness-Tipps ftlr Zuhause, Köln 2001; Christine Kaufmann: Wellness Care- Der sinnliche Weg zu mehr Wohlbefinden, Harnburg 2000. 15

Wellness-Fitness-Gesundheit, Anzeigensonderveröffentlichung vom 29. März 2001.

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Gesundheit - mögen als Wertewandel, als Wandel sozialer Paradigmen, als Veränderungen der Relevanzstruktur der Menschen betrachtet werden, und es lässt sich über die Ursachen spekulieren. Sicher ist: Gesundheit ist im Wandel.

ßl. Neue personale Dienstleistungen im Gesundheitsbereich Wenn der Gesundheitsbereich boomt, so braucht er Personal. Nun gibt es ohnehin ein Überangebot an Ärzten, aber sie sind ftlr diese Aufgabe nicht immer ausreichend ausgebildet. Es gibt eine Reihe von Dienstleistungen, die in diesem Zusammenhang - allgemein im Bereich "health consulting" oder "health promotion", noch spezieller im Bereich touristischer Gesundheitsangebote - angesprochen und tätig sind: Alle touristischen Dienstleister sind natürlich Mitspieler im Ge$chehen, alle gesundheitsberatenden Berufe sind im Geschäft, Masseure und Animateure, Sportärzte und Gesundheitspraktiker, auch viele Gurus, Esoteriker und Managementtrainer tummeln sich auf dieser Szene. Manche sind in Teilbereichen hervorragend ausgebildet, manche haben sich selbst vieles beigebracht, manches oberflächliche Wissen ist zu verzeichnen, und viel Nichtwissen und Bluff natürlich auch. Es handelt sich um einen Teilbereich jenes Sektors, der in den Industriegesellschaften rasch wächst: um den Sektor personaler Dienstleistungen. Personale Dienstleistung bedeutet: an und mit Personen arbeiten; hierbei Prozesse der Beratung, Erziehung, Bildung, Förderung, Therapie durchftlhren; mit dem Ziel, den gesundheitlichen, psychosozialen Status der Klienten zu verändern. 16 Der Gesundheitsbereich wird als Bereich betrachtet, der besonders stark wachsen wird: nicht nur aus demographischen Gründen, weil "veralterte" Gesellschaften17 in diesem Bereich eine gewisse Nachfrage entfalten. Manche sprechen bereits davon, dass die Informationsgesellschaft (die e-world) bereits ihren Höhepunkt überschritten habe; und die nächste große Wachstumswelle in der wirtschaftlichen Entwicklung werde wohl vom gesundheitlichen und psychosozialen Sektor der Wirtschaft getragen werden.

16 Peter Gross: Die Verheißungen der Dienstleistungsgesellschaft. Soziale Befreiung oder Sozialherrschaft, Opladen 1983. 17 Ich spreche bewusst von "veralterten", nicht von .,überalterten" Gesellschaften; der letztere Begriff suggeriert gewissennaßen ein Problem, das darin besteht, dass es zu viele alte Menschen gibt. Aber es wllre angemessen, von dem Phllnomen der steigenden Lebenserwartung nicht in Kategorien des Krisenmanagements m reden oder so m tun, als gäbe es ein .,Normalmodell" der Gesellschaft (vielleicht die alte BevOlkerungspyramide), gemessen an dem man von einer .,Überdosis" an alten Menschen sprechen kOnnte.

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Es gibt Unterschiede zu anderen Dienstleistungen: Personale Dienstleistungen setzen eine Interaktion, eine personale Beziehung zwischen Produzent und Konsument voraus, und diese Interaktion muss über Formalismen des Austausches (Zahlung gegen Handanlegen) hinausgehen. Das Gelingen der Interaktionsbeziehung ist vielmehr und zudem abhängig von der Mitwirkungsbereitschaft und dem Vertrauen des Nachfragers oder Klienten. Zu den personalen Dienstleistungen, die fUr den Gesundheitsbereich relevant sind, gehört ein weites Umfeld von Berufen, Professionen und SemiProfessionen, etwa 18 der ärztlichen Profession zugeordnete Dienste: Krankenschwestern, medizinisch-technische Assistenten, Hebammen, Ernährungsberater, Logopäden etc.; im Bildungsbereich tätige Dienstleister: Kindergärtner, Sozialpädagogen, Erziehungsberater, Erwachsenenbildner etc.; im Sozialbereich tätige Akteure: vom Sozialarbeiter bis zum Altenpfleger; im psychischen bzw. psychosozialen Bereich tätige Betreuer: vom Psychologen bis zum Psychotherapeuten, vom Beschäftigungstherapeuten bis zum Kunsttherapeuten etc. Für die institutionalisierte Gesundheitsbetreuung stellen sich dennoch neue Aufgabenfelder, und es müssen Methoden entwickelt werden, um beispielsweise Krankenhäuser und extramurale Bereiche in dieser Aufgabe zu vernetzen. 19 Zwei Bereiche, denen im Folgenden die besondere Aufmerksamkeit gelten soll, kommen im beschriebenen Berufsfeld dazu; in der Gesundheitsberatung tätige Anbieter: zum einen persönliche Gesundheitsberater, betriebliche Gesundheitsberater etc., zum anderen im touristischen Sektor tätige Anbieter: Gestalter von Wellness-Programmen, Organisatoren von gesundheitsorientierten Urlauben, Veranstaltungen, Institutionen etc.

IV. Entwicklungen im gesundheitsrelevanten Bereich Alle diese Akteure haben in gewissem Sinne mit der "Gesundheit" der Menschen zu tun, gerade wenn man diesen Bereich weiter fasst. Es lohnt aber ein weiterer Blick auf die Entwicklungen der Gesundheitsmärkte. Organisationen zwischen Staat und Markt: Eine Zunahme der Bedeutung personaler Dienstleistungen ist im Wandel vom monetär akzentuierten Wohlfahrtsstaat zum "Soziale-Dienste-Staat" wahrnehmbar. Der Bereich jener Ge-

18 Ursula Rabe-Kleberg/He/ga Krüger!Maria Eleonora Karsten/T. Bals (Hrsg.): Pro Person - Dienstleistungsberufe in Krankenpflege, Altenpflege und Kindererziehung Ausbildung, Tätigkeitsfelder, Professionalisierung, Bietefeld 1991. 19 Klaus Zapotoczky/1/ona Schöppl: Vemetzung von Krankenhäusern und extramuralen Bereichen, Linz 2000.

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sundheitsdienstleistungen, die öffentlich angeboten werden, erhält neue Akzente, und die Grenzen von Markt und Staat beginnen sich zu verschieben. Der Staat bedient sich - durch contracting out - privater Anbieter, und vielfach geraten gemeinnützige und gewerbliche Anbieter in Wettbewerb. Es gibt Auslagerungen und Zukäufe, public private partnerships, andere "Mischungsverhältnisse" öffentlicher und privater Anbieter. Eine neue soziale Konstruktion von Gesundheit: Die Definition von "Gesundheit" erhält einen umfassenderen Charakter. Zwar wurde schon in der berühmten Definition der Weltgesundheitsorganisation ein Zustand umfassenden Wohlbefindens angepeilt, der folgerichtig wohl alle Menschen zu "Kranken" werden lässt; aber dieser weite Begriff ist auch entsprechend kritisiert worden. 2 Freilich ist der Krankheitsbegriff ebenso wie der Gesundheitsbegriff in gewissem Ausmaß Sache einer sozialen Konstruktion. 21 Seinerzeit wurde diskutiert, ob der Ärztestand die "Definitionsmacht" über Krankheiten besitze ("Medikalisierung" der Gesellschaft, Zerstörung menschlicher Leidens- und Handlungsfähigkeie 2), nunmehr ist die Diskussion über das Wesen der Gesundheit eröffnet. Denn offenbar gibt es fließende Übergänge zwischen Gesundheit und Krankheit.

°

Verhaltensdefizite und Übertreibungen: Gesundheitsbewusstes Verhalten ist, wie neuerdings weithin gesehen wird, eine Sache des allgemeinen Lebensstils; das Wissen darum, dass alltägliche Gewohnheiten - Rauchen, Alkoholgenuss, übermäßiges Essen, mangelnde Bewegung und dergleichen - als Risikofaktoren identifiziert worden sind, hat sich verbreitet, oft allerdings, ohne dass daraus Verhaltenskonsequenzen gezogen wurden. Gesundheitsberatung ist deshalb nicht allein auf bestimmte Verhaltensweisen fokussiert, sie ist LebenstiiBeratung; sie kann auch nicht auf "äußeres" Verhalten beschränkt bleiben und schließt Komponenten einer psychischen und psycho-sozialen Beratung mit ein: Es geht um die Einstellung zum Leben, zur Welt, zu den Menschen. Es geht um den "sense of coherence". 23 - Freilich kann man die Bedeutungszunahme von "Gesundheit" in gewisser Hinsicht kritisch sehen: Zum einen als Erstreckung der Arbeitnehmerpflichten auf die Aufrechterhaltung der ungeteilten Arbeitskraft in Zeiten, in denen die umfassenden Fähigkeiten der Mitarbei20

Talcolt Parsons: Action Theory and the Human Condition, New York 1978.

Das Argument von der "sozialen Konstruktion" soll nicht übertrieben werden: An einem unheilbaren Krebs stirbt man, ob man diesen nun als "sozial konstruiert" ansieht oder nicht, und ein gebrochenes Bein ist nicht mehr als ein gebrochenes Bein. Für verschiedene Typen von Krankheiten (insbesondere psychosomatische oder psychische Krankheiten) ist das sozialkonstruktive Element hingegen unleugbar vorhanden. 21

22 23

/van lllich: Limits to Medicine- The Expropriation ofHealth, London 1975. Aaron Antonovslcy: Health, Stress and Coping, San Francisco 1979.

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ter- in positivem und in negativem Sinne- zur Stärkung der Wettbewerbsposition auf strapazierten Märkten eingesetzt werden müssen. Zum anderen wird die ständige Sorge um persönliche Gesundheit, die in die dauernd vorzeigbare Fitness mündet, auch als "Healthismus" bezeichnet: 24 eine der Modetorheiten einer verunsicherten Epoche; möglicherweise auch Ausfluss einer überzogenen Machbarkeitsvorstellung in einer technisch-wissenschaftlich geprägten Gesellschaft, die Glück, Jugend und Gesundheit in quasi-naturalistischer und expertokratisch handhabbarer Weise versteht. Deshalb sind sozialethische Überlegungen in diesem Zusammenhang angebracht. Der Horizont der Medizin: Auch die etablierte Medizin öffnet sich in höherem Maße präventiven Aktivitäten und psychosomatischen Problemen. 25 "Was versteht man unter moderner Medizin? [... ] Eine positive Assoziation ist [... ] neuerdings mit Begriffen wie Gesundheitsförderung, Gesundheitswissenschaft, Verhaltensmedizin und Public Health verbunden [... ] Wenn es um den Zusammenhang von moderner Medizin und Lebensqualität geht, wird seit gut 10 Jahren die Notwendigkeit eines Paradigmawechsels in der Medizin intensiv diskutiert. Man müsse weg von der Pathogenese, der Lehre von der Krankheitsentstehung also, so wird gefordert und zur Bearbeitung von Fragestellungen der Salutogenese gelangen, die als Lehre von der Gesundheitsentwicklung begriffen wird." 26 Diese "offene" Medizin berücksichtigt stärker als früher die "Gesundheitspotentiale" von Menschen, also ihre Fähigkeit, ihre Gesundheit zu bewahren oder zu erlangen, und sie nimmt stärker wahr, dass Gesundheit eher eine geglückte Balance zwischen Belastungen und Ressourcen darstellt als eine bloße Infektion, AbnUtzung oder Entgleisung. Krankheiten haben ja oft ihre Geschichte, und viele Krankheiten zeigen einen langen Prozess der Deterioration, der zumindest hätte gebremst werden können, wenn ihm schon nicht Einhalt geboten werden kann. Gesunderhaltung über ein langes Lebensalter: Durch die Zunahme der Lebenserwartung27 wird Gesundheit zu einem Element der Lebensqualität, das einer rechtzeitigen "Pflege" bedarf, um ein aktives Leben filr die ,jungen Al-

24 Hagen Kühn: Healthismus- Eine Analyse der Präventionspolitik und GesundheitsfOrderung in den USA, Berlin 1993. 25 Rolf Rosenbrock/Hagen Kührv'Barbara M. Köhler (Hrsg.): Präventionspolitik Gesellschaftliche Strategien der Gesundheitssicherung, Berlin 1994.

26 Manfred Stosberg: "Lebensqualität als Ziel und Problem moderner Medizin", in: Alfred Bellebaum/Klaus Barheier (Hrsg.): Lebensqualität-EinKonzept filr Praxis und Forschung, Opladen 1994, S. 101-119, hierS. 102 f.

27 Herwig Birg: Trends der Bevölkerungsentwicklung, Frankfurt/M. 2000.

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ten" (in der dritten Phase des Lebens 28 ) zu gewährleisten. Es gibt eine deutliche Zunahme von chronischen Erkrankungen 29, und diese Erkrankungen in ihrem graduellen Verlauf bieten sich in präventiver Hinsicht, aber auch im Zuge der Behandlung für Maßnahmen der Beratung und Betreuung an. Zuweilen werden mit einer stärkeren Gesundheitsorientierung auch Hoffnungen verbunden, die Kostenexplosion bei den Gesundheitsausgaben zumindest bremsen zu können. Steigende Zahlungswilligkeit für Gesunderhaltung: Es gibt eine Vermarktlichung von Teilbereichen der Gesundheitsmärkte. Man mag diese Entwicklung kritisch unter dem Gesichtspunkt einer "Kolonialisierung der Lebenswelt" 30 , eines Vordringens des Marktprinzips in bislang anders regulierte Beziehungen, sehen, man mag sie aber auch als Rückkehr eines Körper- und Ichbewußtseins nach einer Phase entfremdeter, mechanistischer und gesundheitsferner Konzeptualisierungen von Gesundheit, Krankheit, Persönlichkeit und Identität betrachten, als Wiederbesinnung, die sich die Menschen sogar Geld kosten lassen: eine Heimkehr zu einer weniger entfremdeten Betrachtung von Körper und Lebensführung. 31 Immer mehr Menschen sind bereit, dafür zu bezahlen: Auch dies hebt Gesundheit aus der Normalitätsperspektive heraus, in der das Leben so abläuft, wie es eben abläuft, es lässt sie als "wertvolles Gut" eigener Art betrachten. Neue kollektive Nachfrager nach .,Gesundheitspaketen": Es gibt neue Konfigurationen im halböffentlichen und privatkollektiven Bereich, das heißt: Nicht nur zahlungswillige und zahlungskräftige Individuen treten auf den Plan, die sich ihre Gesundheit etwas "wert" sein lassen, sondern auch Organisationen, die auf kollektiver, gemeinschaftlicher Ebene neue Gesundheitspakete anbieten oder nachfragen. Damit sind beispielsweise Angebote von privaten Versicherungsorganisationen gemeint, die teilweise kostenlos, teilweise gegen Bezahlung ihren Versicherten gesundheitsfördernde Programme anbieten, in der Hoffnung, sich durch solche Maßnahmen erforderlich werdende Versiehe-

28 Peter Laslett: Das Dritte Alter - Historische Soziologie des Alterns, Weinheim!München 1995. 29 Dies hat was nicht nur mit Umwelt- und Lebensbelastungen der Individuen in den Industrieländern zu tun, sondern auch mit der gewandelten Altersstruktur: Sehr alte Menschen sterben in weit höherem Maße an chronischen Krankheiten als jüngere; und zudem war die Medizin bei der Bekämpfung akuter Erkrankungen so erfolgreich, dass an diesen Krankheiten weniger Personen sterben.

30

1981.

Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde, Frankfurt/M.

31 Vgl. lvan //lieh: Die Nemesis der Medizin- Die Kritik der Medikalisierung des Lebens, München 1995; Michel Foucault: Die Geburt der Klinik- Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/M. 1998.

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rungsleistungen zu ersparen. Damit sind aber auch "Gesundheitspakete" von Unternehmungen gemeint, die ihren Mitarbeitern als allgemeine Leistung derartige Pakete (vom Fitness-Programm bis zum Anti-Raucher-Kurs) anbieten, weil sie hoffen, die Krankenstände im Betrieb zu senken. Differenzierte soziale Zielrichtungen: Die betriebliche Präventionspolitik, so sehr sie auch auf Produktivitätsgewinne, Senkung von Krankenstandszeiten und Kostenersparnisse abzielen mag, ist deswegen wichtig, weil damit soziale Schichten erreicht werden, die möglicherweise nicht in der Lage, oft aber auch nicht willens sind, private Angebote nachzufragen. Dies entspricht sowohl einer sozialstaatliehen Verpflichtung als auch gesundheitsökonomischen Zielsetzungen; denn bei diesen Gruppen liegen die größten Einsparungspotentiale. Die betriebliche Gesundheitsförderung hat denn auch dort, wo sie versucht wurde, gute Ergebnisse gezeitigt. Der touristische Gesundheitsmarkt: Es finden sich neue privatwirtschaftliche Bereiche im Sinne der neuen Akzentsetzung von Gesundheitsaktivitäten als Freizeitbereich, als privater Beratungsbereich, als touristischer Bereich, als Wellness-Bereich, als "Spaßbereich". Es sind "aktive Konsumenten" 32 , die auch Gesundheitsberatungs-, -förderungs- und -pflegeleistungen konsumieren. Freilich sind die Märkte in diesen Bereichen besonders gefiihrdet. Auf der einen Seite könnte man meinen, dass mündige Konsumenten selbst wissen müssen, was ihnen frommt, und dass man ihnen das, was sie verlangen, auch bieten kann, wenn sie bereit sind, dafiir zu bezahlen. Wenn sie sich also einbilden, dass ihnen sonderbare Behandlungsmethoden gut tun, so kann sich ein blühendes Geschäft auch in Bereichen entwickeln, in denen die entsprechenden Methoden nachweislich nichts zur Besserung der gesundheitlichen Lage beitragen. Auf der anderen Seite stellt sich das Problem des Betruges, wenn man explizit Leistungen verkauft, von denen man weiß, dass sie nichts fruchten. Die Unterscheidung ist allerdings, was die Sachlage weiter kompliziert, aus zwei Grilnden nicht scharf zu treffen: Zum einen haben sich unsere Vorstellungen, wo die trennscharfe Grenze zwischen beweisbarem Nutzen oder Wirkungslosigkeit verläuft, in den letzten Jahren stark verändert, so dass Verunsicherung in weiten Bereichen herrscht. Zum anderen sind auch Placebo-Wirkungen in Rechnung zu stellen, die gerade in Bereichen, in denen es sich um harmlose Gesundheitsllirderungen handelt, durchaus eine gute Wirkung entfalten können.

32 A. Gartner/F. Riessmann: Der aktive Konsument in der Dienstleistungsgesellschaft -Zur politischen Ökonomie des tertiären Sektors, Frankfurt!M. 1978.

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V. Ein neues professionelles Feld Im Bereich der Gesundheitsprofessionen gibt es kaum Dienstleistungsanbieter, die sich mit relativ "normalen", das heißt "gesunden" Menschen beschäftigen, dafiir aber eine umfassende, viele Dimensionen gleichzeitig erfassende Beratungsleistung erbringen können. Die Problemarten im Gesundheitsbereich haben ihre jeweilig arbeitsteiligen Problembewältiger, nur mit der allgemeinen Frage: "Wie lebt man gesund?" tut man sich schwer. Das ist der Arbeitsbereich des "GesundheitsfOrderers", des "health consultant". Bei ihm geht es um Gesundheitsberatung fiir "Gesunde"; 33 um die Inanspruchnahme einer kompetenten Orientierungshilfe zur Analyse des allenfalls erforderlichen Expertenwissens; um Gesundheitsberatung in vielen Lebensbereichen, auch im öffentlichen Bereich (bei staatlichen Beratungs- und Hilfsorganisationen), im betrieblichen Bereich (bei Unternehmen, die ihren Mitarbeitern entsprechende Dienste anbieten) und im touristischen Bereich (beratende und organisierende Tätigkeiten im Gesundheits- und Wellness-Bereich, also in jenem Bereich, der im touristischen Sektor die höchsten Wachstumsraten aufweist). Der "health consultant" ist weniger ein Krisenbewältiger, sondern Berater im Rahmen einer "Normalbiographie". Er wird von Privatpersonen engagiert wie der private Tennistrainer oder der private Schilehrer. Er wird von Unternehmen engagiert, fiir die er einen Gesundheits-Check der betrieblichen Verhältnisse vornimmt. Er wird von Wellness-Betrieben engagiert, fiir die er ein Gesundheitsbetreuungsangebot aufbaut. Er ist der "Gesundheitsuniversalist", gewissermaßen der "niedergelassene Arzt" des nichtmedizinischen Bereichs, der wissen muss, wo seine spezielle Kompetenz endet und er an den Spezialisten weitergeben muss, so wie der Allgemeinmediziner entscheiden muss, wann er an den Facharzt überweist. Dennoch hat der Universalist oder Generalist (ob Arzt oder Gesundheitsberater) durch seine holistische Zugangsweise einen anderen Zugang zu seinen Patienten beziehungsweise Kunden als der jeweilige Spezialist (ob Facharzt oder Spezialberater), der die Sachlage oft allzu sehr durch die Brille seiner Spezialkenntnisse sieht. Bernhard Badura hat gesagt: "Politiker, Öffentlichkeit und Angehörige der medizinischen Profession neigen aus Gründen, die selbst noch einer genauen sozialwissenschaftlich/historischen Analyse bedürfen, mit großer Hartnäckigkeit zu einer erheblichen Überschätzung der Gesundheitsrelevanz biomedizinischer Forschung und ihrer Anwendung in der ambulanten und stationären Versorgung; sie neigen ebenso hartnäckig zu einer erheblichen Unterschätzung der

33 Natürlich stellen wir in Rechnung, dass es "gesunde" Menschen (im Sinne einschlägiger Definitionen) gar nicht gibt; es ist also mitgedacht, dass der Gesundheitsberater auch die gängigen Schädigungen mitbetrachten und mitberaten kann.

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Bedeutung, die der gesellschaftlichen Umwelt und dem Handeln potentieller oder aktueller Konsumenten medizinischer Dienste bei der Gesunderhaltung und Krankheitsbewältigung zukommt. " 34 Gesundheitsberatung wird sich gegen diese Trägheit der hergebrachten Routine durchsetzen: nicht nur, weil die Kostenrechnung letztlich für diese Tätigkeit spricht, sondern weil sie auch das aktuelle "Erleben des Lebens" fordert.

Literatur Amann, Gabriele!Wipplinger, Rudolf: Gesundheitsllirderung, Tübingen 1998. Antonovsky, Aaron: Health, Stress and Coping, San Francisco 1979. Badura, Bernhard: "Zur sozialepidemiologischen Bedeutung sozialer Bindung und Unterstützung", in: Badura, Bernhard (Hrsg.): Soziale Unterstützung und chronische Krankheit- Zum Stand sozialepidemiologischer Forschung, Frankfurt/M. 1981, S. 13-39. Birg, Herwig: Trends der Bevölkerungsentwicklung, Frankfurt!M. 2000. Doorduijn, Aad!Geiger, lngrid!Heinemann, Horst: Gesundheitsllirderung- Vom alltäglichen Umgang mit der Utopie, Frankfurt!M. 1995. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik - Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt!M. 1998. Gartner, A. /Riessmann F.: Der aktive Konsument in der DienstleistungsgesellschaftZur politischen Ökonomie des tertiären Sektors, Frankfurt!M. 1978. Grass, Peter: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt!M. 1994.

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Die Verheißungen der Dienstleistungsgesellschaft- Soziale Befreiung oder Sozial~ herrschaft, Opladen 1983.

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Empowerment- Ein Beitrag zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens? Von Alfred Grausgruber

I. Vorbemerkung Der Jubilar hat im Laufe seines langjährigen Wirkens als Wissenschaftler und akademischer Lehrer ein überaus breites Interessen- und Tätigkeitsfeld entwickelt und darin eine Vielzahl von wissenschaftlichen und praktischen Arbeiten durchgefilhrt. Davon zeugen u.a. die zahlreichen Publikationen, die vielen Funktionen, in denen er innerhalb und außerhalb der Universität tätig war und ist, die Häufigkeit, mit der er gerne als Referent eingeladen wird, und das nimmermüde Wirken im Rahmen von Lehrveranstaltungen an der Universität und anderen Bildungseinrichtungen. Dieses rege Wirken verdient besondere Beachtung und Wertschätzung. Verdienste, die sich der Jubilar damit erworben hat, sind umfassend, vielfliltig und herausragend. Es ist aber nicht nur sein enormes Forschungs- und Schaffensfeld, welches besondere Anerkennung erfordert. So wirkte der Jubilar nicht nur im Bereich der Politischen Soziologie, der Entwicklungsforschung, der Soziologie der Familie, der Militärsoziologie oder der Gesundheitssoziologie, um nur einige zu nennen. Sein Schaffen ist vielmehr auch durch eine besondere Haltung und ein spezifisches Interesse geprägt, die sich durch all die zahlreichen Bereiche und Wirkungsfelder wie ein roter Faden hindurch ziehen: Sein Bemühen, zu einer Weiterentwicklung der Gesellschaft, der Mitmenschen, Studierenden und Mitarbeiterinnen in ihren vielfliltigen Facetten beizutragen, indem er immer das Miteinbeziehen, die Beteiligung der jeweils betroffenen Menschen in den Mittelpunkt stellt. Möglichst weitgehende Selbstbestimmung, Hilfe zur Selbst- und Weiterentwicklung, Unterstützung, Anregung, Ermunterung usw. sind jene Maximen, welche seit jeher einen besonderen Stellenwert im Wirken des Jubilars einnehmen. Man kann diese besondere Grundhaltung durchaus mit der Formel "Prinzip: Empowerment'' umschreiben. Die Verwirklichung dieses Prinzips ist dem Geehrten ein so starkes Anliegen, dass nicht nur auf eigene Vorteile verzichtet wird, sondern bisweilen sogar eigene Nachteile in Kauf

Alfred Grausgrober

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genommen werden. Der nachfolgende Beitrag versucht im Sinne des Geehrten, die Bedeutung von Empowerment filr den gesellschaftlichen Teilbereich Gesundheit und Krankheit in aller Kürze etwas näher zu beleuchten.

II. Einleitung Im vorliegenden Beitrag wird die These vertreten, dass die vielfliltigen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens - zu denen Gesundheit im besonderen Maße zählt - nachhaltig verändert haben. Zusätzliche Veränderungen im Gesundheitssystem machen es erforderlich, das herkömmliche Verständnis der Rolle von Bürgerinnen im Gesundheitswesen neu zu überdenken und zu gestalten. Eine wesentliche Hilfe zur Weiterentwicklung kann dabei das Konzept des "Empowerment" spielen. Wichtig ist allerdings in diesem Zusammenhang, wie Empowerment verstanden und umgesetzt wird. Dazu werden einige Überlegungen angestellt.

ID. Wandlungsprozesse in Gesellschaft und Gesundheitssystem verändern die Position der Bürgerinnen Im dritten Jahr des neuen Jahrtausends können wir rückblickend in den letzten Jahrzehnten eine der gewaltigsten Veränderungen in der Menschheit und im Zusammenleben beobachten. Diese grundlegenden Wandlungsprozesse sind vielfiiltig, tiefgehend und mit lang anhaltender Wirkungsdauer. Im Wechselspiel mit Veränderungsprozessen im Bereich des Gesundheitssystems in den westlichen Industrieländern ergeben sich damit vielfaltige neue Anforderungen an die Bürgerinnen und Bürger, welche insbesondere ihre Rolle im herkömmlichen Gesundheitssystem nachhaltig verändern. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen einige dieser wesentlichsten Wandlungsprozesse kurz in Erinnerung gerufen werden. Wenngleich in unterschiedlicher Form, so ist doch innerhalb der Industrieländer fast eine unglaubliche Wohlstandsmehrung zu beobachten. Damit verbundene Verbesserungen der Lebensbedingungen haben in vielerlei Hinsicht auch Auswirkungen auf den Bereich Gesundheit - Krankheit und auf das Gesundheitssystem der einzelnen Länder. Obwohl nach wie vor zwischen einzelnen Lebenslagen bzw. Milieus relevante Ungleichheiten zu beobachten sind, besteht doch fUr die übergroße Mehrheit der Bevölkerung eine Vielzahl an Optionen zur Gestaltung der persönlichen Lebensumstände. 1 Viele unterschiedliche Lebenslagen mit diffe1 Gross

1994.

Empowerment- Ein Beitrag zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens? 297

renzierten Lebensstilen haben zur These der "Pluralisierung" der Lebenslagen geftlhrt. Die damit einher gehenden Veränderungen in den Lebensstilen wirken sich auch in vielfältigen Formen auf den Bereich Gesundheit und Krankheit aus. So zeigen Studien, dass Lebenslagen, Lebensgewohnheiten bzw. Lebensstile im besonderen Maße zu Gesundheit und Krankheit beitragen. Stichworte wie Freizeitverhalten, Emährungsgewohnheiten, Gesundheitsverhalten etc. sind in diesem Kontext zu nennen. Mit diesen besseren Lebensbedingungen gehen auch höhere Lebenserwartungen einher. Diese, auf eine Vielzahl von Faktoren zurückgehende höhere Lebenserwartung, bedingt aber zugleich auch, dass immer mehr Menschen in ein Alter gelangen, in dem Abnützungserscheinungen, Gebrechlichkeiten, Behinderungen und chronische Erkrankungen auftreten. Sicherlich ist es auch eine unmittelbare Folge der medizinischen Leistungen und Innovationen, dass viele Menschen heutzutage älter werden können. Es ist auch das bislang unbekannte Phänomen zu beobachten - Ulrich Beck spricht von den Folgen einer "reflexiven Modemisierung"2 -, dass die Medizin nun auch mit unbeabsichtigten Nebenfolgen ihrer Erfolge konfrontiert wird. Nicht zuletzt wegen der bedeutenden Innovationen im Bereich Medizin und Medizintechnik ist es viel mehr Menschen als früher möglich, ein hohes Lebensalter zu erreichen, auch wenn vielfach erhebliche gesundheitliche Einschränkungen und eine verminderte Lebensqualität die Folge sind. Die erhöhten Anteile von alten, pflegebedürftigen bzw. chronisch kranken Menschen fUhren natürlich auch zu einer Steigerung der Kosten im Gesundheitswesen. Bemerkenswerte Veränderungen sind auch im Bereich der Werthaltungen bzw. der Wertorientierungen zu beobachten. Unterschiedliche Studien zeigen, dass immer mehr Menschen nicht nur besonderen Wert auf materielle Sicherheit und Wohlstand legen, sondern dass auch Mitbeteiligung, Mit- und Selbstbestimmung besondere Anliegen sind. Selbstverständlich hat dies im besonderen Maße Einfluss auf das Gesundheitssystem. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger wollen im Kontakt mit Institutionen des Gesundheitssystems "zumindest mündige" Patienten bzw. Personen sein. Vielfach setzt sich auch infolge der Konsumerismusbewegung aus den USA die Haltung durch, Patienten und Bürger als "Kunden" im Gesundheitssystem zu betrachten. Wohlstandsmehrung, Differenzierung der Lebenslagen und Lebensstile sowie Wertwandel haben schließlich zum Phänomen der "lndividualisierung"3 gefilhrt. Im Kontext der Pluralisierung der Lebenslagen kann unter Individualisierung zunächst allgemein die Auflösung bisher prägender und vorgegebener 2 3

Beck 1996. Beck 1986.

Alfred Grausgruber

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sozialer Lebensformen und Leitbilder verstanden werden. Auf der einen Seite kann hierin ein Freiraum fur die Eigengestaltung des Lebens und der Lebensperspektive gesehen werden, auf der anderen Seite erfordert dies aber von den Individuen verstärkte Anstrengungen, einen eigenen Lebensentwurf zu entwickeln und zu realisieren. Das Stichwort "Bastelbiografie"4 charakterisiert situationstreffend. Dies fuhrt aber auch dazu, dass immer mehr Menschen Lebensformen wählen, in denen sie alleine leben oder mit vorübergehenden Lebensabschnittspartnem zusammen sind. Dies hat nicht zuletzt zur Folge, dass etwa im Fall von Krankheiten nicht auf die immer noch weit verbreiteten Hilfsressourcen innerhalb von Familienverbänden zurückgegriffen werden kann, sondern öffentliche und private Angebote und Einrichtungen des Gesundheitswesens genützt werden müssen. Keineswegs mit Individualisierung verwechselt werden sollte das Phänomen einer "schleichenden Entsolidarisierung" 5 in den westlichen Industrieländem. Beobachtet wird eine Verlagerung bzw. Konzentration einer Solidarität auf den Bereich der "Mikrosolidarität" im engeren Sozial- bzw. Verkehrskreis der Bürgerinnen und Bürger. Diese neue Haltung macht sich beispielsweise im Gesundheitssystem dahingehend bemerkbar, dass etwa vermehrt Kritik am Solidaritätsgedanken innerhalb der Sozialversicherungssysteme geübt wird. Forschungen aus dem Bereich der Medizin haben eindringlich darauf hin gewiesen, dass sich im Zuge der geänderten Lebensbedingungen und geänderten Lebenserwartungen auch die großen Krankheitsbilder verändert haben. Von den "Infektionskrankheiten" früherer Jahrhunderte über die "Abnützungserkrankungen" im Zeitalter der Industrialisierung treten jetzt neue sog. "Wohlstandserkrankungen" in den Vordergrund. Wie bereits angefuhrt, fuhren aber auch die vielfaltigen und weitreichenden Fortschritte in der medizinischen und pflegerischen Diagnostik, Therapie und Rehabilitation zu einer neuen Situation. Das Leben mit Behinderungen bzw. mit chronischen Krankheiten nimmt einen immer größeren Stellenwert ein. Die Differenzierung der Leistungsangebote innerhalb der Gesundheitssysteme führt weiters dazu, dass es immer schwieriger wird, die einzelnen Einrichtungen, Dienste und Leistungen aufeinander abzustimmen. Die vielfachen und ersichtlichen Fortschritte innerhalb der Medizin bzw. des Gesundheitssystems haben aber auch in der Bevölkerung zu einer Haltung geführt, die man mit "Anspruchsinflation" bezeichnen könnte. Nicht zuletzt auch durch vorschnelle Versprechungen entstehen in der Bevölkerung immer mehr Hofftlungen auf neue "wundersame" therapeutische Möglichkeiten, welche aber letztlich oft hinter den Erwartungen zurückbleiben. 4

Hitzier 1994.

5

Denz2000.

Empowerment- Ein Beitrag zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens? 299

Dass das Gesundheitssystem auch eine Reihe negativer Folgen produziert, ist nicht erst seit Illichs kritischem Konzept6 der "Iatrogenese" bekannt. Medizinische Fehlleistungen, überdimensionale Differenzierungen, Unübersichtlichkeiten und auch Fahrlässigkeiten im Bereich des Gesundheitswesens fUhren auch zu Unter-, Fehl- und Überversorgung. Qualitätsmanagement, Evaluierungen und Assessmentverfahren zur Überprüfung der Wirksamkeit und der Sparsamkeit von Diagnose-, Therapie- und Rehabilitationsverfahren gewinnen an besonderer Bedeutung. Gesundheitssysteme geraten aber nicht zuletzt auch wegen der "knappen Kassen" und der Kostenfrage in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Aufwändige und teure medizinisch-technische Verfahren, höhere Lebensalter und die damit verbundenen häufiger auftretenden schweren Behinderungen und chronischen Erkrankungen bzw. Pflegebedürftigkeiten und Forschungen aus dem Bereich der Gesundheitswissenschaften unterstreichen die Notwendigkeit, vom gegenwärtigen System einer Reparaturmedizin bzw. Versorgung abzugehen und präventive Ansätze und Gesundheitsförderung in den Mittelpunkt zu stellen. Diese hier nur ansatzweise angefUhrten Beispiele sollen ersichtlich machen, dass es aufgrund der Wandlungsprozesse in Gesellschaft, Medizin und in den Gesundheitssystemen zu einem neuen Verständnis und neuem Umgang mit Gesundheit und Krankheit kommen muss. Diese neue Situation erfordert im vermehrten Maße auch ein Überdenken der Rolle von Bürgerinnen und Bürgern im Gesundheitssystem westlicher Industrieländern.

IV. Neue Rollen der Bürgerlnnen: Nicht nur Patientinnen allein Die nur kursorisch angedeuteten gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungen im Gesundheitswesen haben dazu gefUhrt, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr ausschließlich die Rolle einer Patientin bzw. eines Patienten ausüben, sondern im Zuge der vielfältigen Differenzierungen auch weitere Positionen und Rollen im Gesundheitssystem einnehmen. 7 Als einer der ersten hat sich Parsons8 mit den Arzt-Patient-Beziehungen befasst und eine idealtypische Charakterisierung dieser Interaktionen vorgenommen. Ausgehend vom Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten weist er dem Patienten eine

6

Illich 1915.

7

Grausgruber 2002.

8

Parsons 1951.

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300

stark untergeordnete und passive Rolle zu, denen die Arzt- bzw. Expertenrolle gegenübergestellt wird. Die Patientenrolle wird durch Genesungswillen, dem Aufsuchen kompetenter Hilfe, dem Vertrauen zum Arzt und der Anerkennung dessen Kompetenzvorsprungs einerseits sowie durch eine Entbindung von normalen Rollenverpflichtungen und der Entbindung von der Verantwortung fiir die Krankheit andererseits charakterisiert. Die Arztrolle zeichnet sich dadurch aus, dass dieser sich an professionelle Verhaltensvorschriften orientieren muss, all seine Fähigkeiten und Kenntnisse zur Krankheitsbewältigung begleitet von Objektivität und emotionaler Neutralität zum Wohle des Patienten einsetzen muss. Diese Annahme einer stark asymmetrischen Verteilung von Autorität und Wissen wurde früh kritisiert und als Typus eines Sonderfalls fiir die Situation einer akuten, schweren Krankheit identifiziert. Eine wesentliche Veränderung erfllhrt dieses Rollenmodell weiters durch das von der amerikanischen Konsumentenbewegung ausgehenden "Konsumentenmodell". Insbesondere die medizinische Autorität in der Arzt-Patient-Beziehung erfllhrt eine besondere Kritik. Dieses Konsumentenmodell betont vielmehr die Rechte des Käufers einer Leistung (Patient) sowie die Verpflichtungen des Verkäufers (Arzt) und weniger die Rechte des Arztes (Anweisung) oder die Verpflichtung zur Befolgung des Rates durch den Patienten. Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Grundlagen filr dieses "patemalistische Modell" einer Arzt-Patient-Beziehung, filr die professionelle Dominanz und Autorität des Arztes stark ins Wanken geraten ist. Zusammengefasst konzentrieren sich die Kritikpunkte auf folgende Aspekte: Es gibt nicht mehr "eine" beste Behandlung, Ärzte wissen nicht immer die optimale Therapie zu entscheiden, weil die Auswirkungen gleicher Therapiemaßnahmen auf unterschiedliche Personen differenzierte Wirkungen zeigen. Neueste Untersuchungen haben ergeben, dass die Patienten immer mehr in den Entscheidungsprozess mit einbezogen werden. Die Entwicklung geht vom patemalistischen Modell Uber das "shared-model" zum "informed-model" Uber. 9 Je mehr sich die Arzt-Patient-Interaktion dem "informed-model" nähert, umso mehr werden bei den Stufen der Entscheidung über eine zu wählende Behandlung - also beim Informationsaustausch, in der Phase der Verhandlung und schließlich in der Phase der Entscheidung - die Patienten mit einbezogen. Dies kann so weit gehen, dass der Arzt in erster Linie die Rolle des Informanten einnimmt, und der Patient aufgrund aller zur Verfilgung stehenden relevanten Informationen letztlich die konkrete Entscheidung über die zu wählende Behandlung selber trifft. Insbesondere als Folge der Konsumerismusbewegung wird in letzter Zeit auch von einer Rolle als "Kunde" im Gesundheitssystem gesprochen. Allerdings wird 9

Ebner 2002.

Empowerment- Ein Beitrag zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens? 301

in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, dass im gegenwärtigen Gesundheitssystem nur in einem sehr eingeschränkten Sinn von "Kunde" gesprochen werden kann, da weder volle Information über das Produkt vorliegt, die entsprechende Leistung kaum selbst direkt bezahlt wird und selten die gleichen Wahl- bzw. Entscheidungsmöglichkeiten vorhanden sind wie in der Situation eines Kunden beim Kauf anderer Dienstleistungen oder Produkte. Mittlerweile werden in vielen Ländern die Wünsche und Anliegen der Bürgerinnen und Bürger im Gesundheitssystem durch Verbraucherorganisationen wahrgenommen und unterstützt. Dahinter steht der Gedanke, dass Patienten in der Rolle als "Leistungsbezieher" oder "Verbraucher" innerhalb des Gesundheitsmarktes ebenso wie auf anderen Märkten Anspruch auf zufriedenstellende, rasche und qualitativ hochstehende Leistungen haben. Insbesondere sollen Verbraucher das Recht haben, bei Minder- oder gar Fehlleistungen entsprechenden Ersatz bzw. Entschädigung zu bekommen. Die damit eng verbundene Sichtweise der Rolle eines "Leistungsbeziehers" geht davon aus, dass Bürgerinnen und Bürger an qualitativ hochstehenden Leistungen bei möglichst geringen Gegenleistungen (Beiträgen) interessiert sind. Dies weist auf die erst in letzter Zeit wieder diskutierte Rolle von Bürgerinnen und Bürgern als "Beitragszahler" hin. Obwohl die Höhe der zu leistenden Beiträge in erster Linie politisch verhandelt werden und Bürgerinnen und Bürger auf diese Höhe kaum Einfluss haben, entsteht jedoch bei vielen Bürgerinnen und Bürgern in letzter Zeit ein immer stärkeres Interesse, Informationen darüber zu bekommen, wofür die jeweiligen Beiträge verwendet werden, was das Ganze kostet und warum dafür derartige Kosten entstehen. Insbesondere im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen wuchs in letzter Zeit die Erkenntnis, dass betroffene Bürgerinnen und Bürger zu ausgesprochenen "Experten" heranreifen. Im Gegensatz zu den medizinischen Experten steht den Betroffenen durch einen sensitiven Umgang mit ihrer Behinderung oder ihrer Krankheit ein enormes Wissen im Umgang mit der Krankheit oder dem Leben mit der Behinderung zur Verftlgung, das anderen im Gesundheitswesen Tätigen erst durch sie vermittelt werden muss. Es ist leider zu beobachten, dass diese "Betroffenenkompetenz'' dieser neuen Experten im Gesundheitssystem noch viel zu wenig gewürdigt wird. Nicht übersehen werden darfauch die Rolle als "Angehöriger'' einer kranken oder behinderten Person oder eines Patienten. Immer häufiger wollen auch Angehörige- insbesondere von Kindern bzw. älteren betroffenen Menschenals solche innerhalb des Gesundheitssystems berücksichtigt werden. Mütter wollen ihre Kleinkinder im Spital nicht alleine lassen, Angehörige von Menschen mit psychosozialen Problemen wollen nicht die Last der Betreuung und Begleitung allein aufgebürdet bekommen usw.

Alfred Grausgrober

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Letztlich ist aber auch daraufhin zu weisen, dass infolge der vielfältigen Möglichkeiten Bürgerinnen und Bürger immer mehr auch die Rolle eines "Gestalters" der eigenen Gesundheit bewusst einnehmen. Dass allerdings unterschiedliche Lebensentwürfe, Gesundheits- und Krankheitsverhalten und die Einnahme anderer Rollen wesentlich von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen und den verftlgbaren sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen abhängen, darf nicht verschwiegen werden.

V. Empowerment: Mehr als Kundenorientierung und Partizipation Mit der Ausweitung der verschiedenen Rollen, welche Bürgerinnen und Bürger im Gesundheitssystem in den westlichen Industrienationen einnehmen können, gehen aber auch einige Probleme einher. So ist zunächst vielfach zu beobachten, dass die jeweiligen Rollen in vielen Fällen durchaus noch zahlreiche Unklarheiten enthalten, die - wie die Übernahme der Rollen selbst - als Belastungen empfunden werden können, dass aber diese neuen möglichen Rollen auch als Chancen zu einer eigenständigen Gestaltung genutzt werden können. Weiters ist festzustellen, dass die jeweiligen Erwartungen an die unterschiedlichen Rollen durchaus widersprüchlich und konflikthaft sein können. So werden Bürgerinnen und Bürger im Gesundheitssystem sowohl als mündige als auch als unmündige Interaktionspartner zugleich behandelt. Sie müssen aber auch mit dem Widerspruch fertig werden, dass z.B. in der Rolle eines Gestalters der eigenen Gesundheit ein wünschenswerter gesundheitsbezogener Lebensstil möglicherweise mit der traditionellen Lebensweise kollidiert. Und es ist auch zu bedenken, dass viele Patientinnen bei der Entscheidung über therapeutische Maßnahmen mitbestimmen wollen, die Verantwortung ftlr ihre Gesundheit aber nach wie vor auf die Ärzte abschieben. Es besteht kein Zweifel, dass viele durch die Möglichkeiten der neuen Rollen überfordert sind und daher einen "Beistand", Unterstützung in vielfältiger Form, brauchen. Es muss daftlr gesorgt werden, dass Betroffene aus ihrer Position der Unmündigkeit und Unwissenheit, aus Ihrer Rolle als bevormundete Patientlnnen, sich hin zu mündigen Patientlnnen, verantwortungsbezogenen Leistungsbeziehern, Fragen der Gesundheit selbst in die Hand nehmende Bürgerinnen und Bürgern entwickeln können. Dazu ist neben der Übertragung von Rechten, von vielfältigen Informationen, der Berücksichtigung ihrer Wünsche und Anliegen, der Möglichkeit zur Mitbestimmung auch ftlr das zur Verftlgungstellen der notwendigen Ressourcen und Rahmenbedingungen zu sorgen. 10 Aber wie können der-

10

Meggeneder/Heng/2002.

Empowerment- Ein Beitrag zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens? 303

artige Veränderungen bewirkt werden? Von welchen Grundprinzipien bzw. Leitgedanken sollen sie getragen werden? Welche Haltung erfordert dies fiir die konkrete Praxis? Vielfältige Beispiele zeigen, dass in diesem Zusammenhang das Konzept "Empowerment" eine wichtige Hilfe darstellen kann. Empowerment ist mittlerweile ein viel zitierter Begriff. UrsprUnglieh aus Bürgernetzwerken der Nachbarschaftshilfe entstanden, findet das Konzept unter unterschiedlichen Verständnishorizonten mittlerweile in der Praxis der psychosozialen Arbeit, des Gemeinwesens, der Entwicklungszusammenarbeit ebenso Anwendung wie im Bereich der Management- oder Organisationsforschung. Mit diesen breiten Anwendungsfeldern geht aber auch die Gefahr einher, dass das Konzept für beliebige Zwecke angepasst wird und somit an Konturen und Schärfe verliert und verwässert bzw. verfremdet werden kann. Im Folgenden soll daher zunächst das hinter dem Konzept stehende Menschenbild kurz skizziert werden und die Leitprinzipien dargelegt werden. Seit der Begriff "Empowerment" zum ersten mal im Rahmen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der schwarzen Bevölkerungsminderheit gegen Diskriminierung und Segregation von ethnischen Minderheiten aufgetreten ist, hat sich dieser Versuch der direkten Mitgestaltung und Kontrolle der unmittelbaren Lebensumstände in viele gesellschaftliche Teilbereiche hinein verbreitet. Die vielfliltige erfolgreiche Umsetzung und die reale Praxis haben aber auch dazu gefilhrt, dass die vielen verschiedenen Facetten nur schwer zu einer gemeinsamen Definition zusammengefasst werden können. Stichworte wie "Selbstbemächtigung", "Gewinnung oder Wiedergewinnung von Stärke", "Energie und Phantasie zur Gestaltung eigener Lebensverhältnisse" sind nur einige Stichworte dazu. Stark schlägt folgendes Verständnis filr Empowerment vor: "Empowerment lässt sich demnach als ein bewusster und andauernder Prozess bezeichnen, durch den Personen, die - meist im Rahmen lokaler Zusammenhänge - keinen ausreichenden Anteil an filr sie wichtigen Ressourcen haben, einen besseren Zugang zu diesen Ressourcen erreichen und deren Nutzung selbst bestimmen können. Dies geschieht auf der Basis gegenseitiger Achtung von Personen und Gruppen, kritischer Betrachtung der sozialen Rahmenbedingungen und aktiver Beteiligung und persönlichem Engagement filr die eigenen und gemeinsame Belange." 11 Empowerment ist damit weder Zielzustand noch besonderes Produkt, Empowerment muss vielmehr als Prozess oder Entwicklung begriffen werden, die je nach Lebensbereich und Problemfeld unterschiedliche Anwendungsformen braucht. Um Vereinfachungen, Verkürzungen und Vereinnahmungen zu vermeiden, erscheint es sinnvoll, die HintergrUnde filr Empowerment, die damit verbunde-

11

Stark 1996, S. 156.

Alfred Grausgrober

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nen Lernprozesse kurz in Erinnerung zu rufen. Ein wesentlicher Faktor ist zunächst in der Dominanz und Macht der Experten zu sehen. Die übermäßige Differenzierung der vielfilltigen Angebote hat zu einer Unübersichtlichkeit gefiihrt, welche die Anbieter von professioneller Hilfe zu Lasten der Hilfesuchenden in eine zu dominierende Position verhalf. Das Hinterfragen dieser Entwicklung ist eine wesentliche Aufgabe. Eine zentrale Basis fiir diese Expertendominanz ist weiters die "behauptete Knappheit sozialer Ressourcen und gegenseitiger Hilfe". 12 Insbesondere im gegenwärtigen Wirtschaftsverständnis geht man davon aus, dass der Wert einer Ressource durch den Grad seiner Knappheit bestimmt wird. Aus ökonomischen Überlegungen ist es dann nur folgerichtig, dass diese Knappheit aufrecht erhalten bleibt. Diese Überlegung gilt aber offenbar nicht nur fiir Güter wie Bodenschätze, sondern auch filr menschliche Ressourcen wie etwa soziale Hilfen. Zusammen mit einer Defizitannahme bei den Betroffenen verfestigen sich die ungleichen Beziehungen und verstärken gleichzeitig die Wahrnehmung sozialer Ressourcen als knappe Güter. Als Reaktion auf diese Interaktionsstrukturen und -muster haben einzelne Bürgerinnen und Bürger die Formen gegenseitiger Hilfe probiert und reflektiert, und zugleich persönliche und kollektive Ressourcen entdeckt. Die damit verbundenen Lernprozesse ließen auch erkennen, dass Gesundheit und psychosoziales Wohlbefinden ganz wesentlich vom Vorhandensein und der Zugänglichkeit sozialer Ressourcen, sozialer Netzwerke und anderer Unterstützungssysteme abhängt. Die Aktivitäten gegenseitiger Unterstützung haben auch zu einer Stärkung individueller und kollektiver Kompetenzen und Handlungspotentiale gefiihrt. Die Entwicklungen haben weiters gezeigt, wie wichtig selbstbestimmte und selbstorganisierte Aktivitäten sowohl zur individuellen Weiterentwicklung als auch zur kollektiven Entwicklung einer "civil society" notwendig sind. All diese unterschiedlichen Erfahrungen können zu einem EmpowermentProzessen zugrunde liegenden Menschenbild zusammengefasst werden, das mindestens folgende zentrale Aspekte umfasst. Das Menschenbild der Empowerment-Philosophie orientiert sich nicht an Schwächen, Defiziten, Inkompetenzen etc., sondern ist geprägt von der Erfahrung und einem tiefen Vertrauen in Stärken, Kompetenzen und der Lern- und Entwicklungsfiihigkeit der einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Damit verbunden ist die Überzeugung, dass die Menschen selbstbestimmungswillig und selbstbestimmungsfiihig sind, wobei Selbstbestimmung nicht mit zügellosem, antisozialem Individualismus verwechselt werden darf. Vielmehr kann diese Selbstbestimmung nur im Rahmen einer "sozialen-Umweltbezogenheit'' verstanden werden, welche immer nur im Zusammenleben mit anderen realisiert werden kann. Damit verbunden ist wei-

12

Ebd., S. 56.

Empowerment- Ein Beitrag zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens? 305 ters die Vorstellung von einer gerechten Verteilung von Ressourcen und Lasten einer Gesellschaft. Schließlich enthält Empowerment immer unterschiedliche Formen von Bürgerbeteiligung und zivilem Engagement. Theunissen 13 hebt hervor, " ... dass das Empowerment-Konzept auf einer Philosophie fußt, die die Kluft zwischen individuellen Interessen, sozialen Anforderungen und Systemzwängen zu überbrücken versucht, indem es zur Bewältigung von Problemlagen wie auch zur Förderung von Lebensautonomie auf menschliche Stärken und Fähigkeiten setzt, individuelle, soziale und ökologische Ressourcen so zu nutzen, dass akzeptable Lösungen filr den Einzelnen, filr die Gemeinschaft (Gesellschaft) und filr die, Welt als Ganzesrdem, eine Sensibilisierung hinsichtlich der jeweiligen Problemsituationen erreichen und vor allem eine effizientere Nutzung der in Österreich ohnehin geringen Ressourcen in diesem Bereich erzielen. Klaus Zapotoczky hat getreu seinem Motto "Wissenschaft um der Menschen willen" diesen Weg mit der Wissenschaftskommission erfolgreich beschritten, und man ist versucht, hinzuzuftlgen: Wissenschaft auch um der Soldaten willen!

Universitärer Weg der Landesverteidigungsakademie Von Rudolf Hecht

I. Gegensatz oder Ergänzung: Offiziersweiterbildung und Universitätsstudium Es war zumindest seit der Einfilhrung der allgemeinen Wehrpflicht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lange Zeit- vornehmlich in den Armeen der "großen Mächte" in Europa und in deren politisch-kulturellem Umfeld - keine Selbstverständlichkeit gewesen, unvoreingenommen die Frage zu debattieren, ob, in welchem Ausmaß und in welcher institutionellen Zuordnung das Ausbildungsoder Weiterbildungssystem fiir Offiziere durch ein universitäres Studium ergänzt werden sollte. Aus dieser Sicht bestand auch nicht die Notwendigkeit, als Prämisse filr weiterfUhrende Überlegungen die grundlegende Frage zur Diskussion zu stellen, welche qualitativen Anforderungen zusätzlich zu den militärischen, auf den Einsatz hin orientierten Erfordernissen an Offiziere herantreten könnten, deren Bewältigung allein durch jene Fähigkeiten zu erwarten ist, die durch universitäre Weiterbildung zu erreichen wäre. Die militärische Kompetenz war ausschließlich gefragt und fiir alle Überlegungen zur Aus- und Weiterbildung maßgebend, die zudem in jeweils unterschiedlicher Intensität in den wesentlichen Staaten vom "unpolitischen" Offizier begleitet gewesen sind. Der zugleich mit der erstmaligen Verwendung großer Streitkräfte in den Kriegen mit dem revolutionären und napoleonischen Frankreich, das heißt mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, selbstverständliche Primat der Politik, worauf alle Autoren jener Zeit verwiesen, die sich mit dem Thema Strategie und Politik beschäftigt haben, wie beispielsweise Clausewitz in Preußen und Erzherzog Carl in Österreich 1, wobei nur angemerkt werden sollte, daß Napoleon selbst Eh Carl als den einzigen wirk-

1 Carl v. Clausewitz: Vom Kriege, gen. Lizenzausgabe, Augsburg 1990; (Eh. Carl), Grundsätze der Strategie und Anwendung derselben auf einem angenommenen Kriegsschauplatz, Nümberg 1838; Erzherzog Carl: Grundsätze der höheren Kriegskunst fiir die Generäle der Österreichischen Armee, Wien 1806. Nachdruck: Bibliotheca Rerum Militarium, Osnabrück 1974.

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Rudolf Hecht

lieh bedeutsamen militärischen Gegner beurteilt hat, stand jedoch - im Widerspruch zu den Erwartungen dieser militärisch-politischen Autoren - dem Ideal des "unpolitischen" Offiziers gegenüber. Zu den Folgen des Auseinanderfallens der früheren Einheit des Politischen und des Militärischen gehört die Verselbständigung des Phänomens Krieg gegenüber der Politik zu Ende des 19. Jahrhunderts, dann letztlich das gerade im militärischen Umfeld verbreitete Verständnis von Politik als Dienerin des Krieges. Die Konsequenz war die Unfähigkeit sowohl der politischen als auch der militärischen Eliten, Konflikte politisch zu lösen zu versuchen und die Armee als tatsächliche ultima ratio zu verstehen, zu akzeptieren und auch einzusetzen. Es bedurfte des Druckes von außen, nämlich von Seiten der USA bereits im russisch-japanischen Krieg, entscheidend am Ausgang des ersten Weltkrieges und im Ansatz bei der Neuordnung Europas in Paris, um neue ordnungspolitische Prinzipien in Europa zu etablieren. Zur Bildung als Voraussetzung zum Verstehen politisch-militärischer Zusammenhänge und als Prämisse ftlr die Fähigkeit und Kompetenz, fUhren und Entscheidung treffen zu können, schrieb Eh Carl in seinem ersten Werk aus 1798: "Wissenschaftliches Streben und Erfahrung bilden den Feldherrn; nicht bloß eigene Erfahrung, - denn welches Menschenleben ist thatenreich genug, um sie in vollem Maße zu gewähren; und wer hatte je Übung in der schweren Kunst des Feldherrn, ehe er zu dieser erhabenen Stelle gelangte? - sondern Bereicherung des eigenen Wissens durch fremde Erfahrung, durch Kenntnis und Würdigung früherer Nachforschungen, durch Vergleichung berühmter Kriegstbaten und folgenreicher Ereignisse aus der Kriegsgeschichte. Wie weit wird es der Mann bringen, der mit solchen Vorkenntnissen dort anfllngt, wo andere stehen blieben, und mit gleicher Anstrengung den Pfad fortwandelt, auf welchem seine Vorgänger den Punkt erreichten, von dem er ausgeht?- Der in unseren Tagen so lange gepredigte Satz, dass der große Feldherr geboren werde, und zu seiner Vollendung keines Unterrichts bedürfe, ist einer der glänzenden Irrtümer des Zeitalters, einer der einseitigen Gemeinsprüche, womit sich die Anmaßenden oder Trägen und Muthlosen des mühsamen Strebens nach Vollkommenheit überheben wollen."2 Nach der zunehmenden Abwertung der Demokratie und ihrer Institutionen im Europa der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und der Führung des zweiten Weltkrieges durch die Westalliierten als "Kreuzzug ftlr die Demokratie" hat die rasche Entwicklung der Theorie und Praxis der Demokratie vor allem im westlichen Europa nach 1945 zur Wiederkehr der allgemeinen Ak-

2

(Eh Carl), Grundsätze der Strategie, op. cit.

Universitärer Weg der Landesverteidigungsakademie

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zeptanz des Primates der Politik gefilhrt. Für die sowjetische Führung war der universelle Führungsanspruch der Partei und hier jener der Berufsrevolutionäre der Avantgarde der Arbeiterklasse gegenüber den Streitkräften, verbunden mit der ständigen Angst der Spitzen der Nomenklatura vor Bonapartismus, ohnedies ideologisches Dogma. Unterstützt wurde diese Umkehr des Denkens vom Kriege von der unbedingten Notwendigkeit zur politischen Steuerung der Nutzung nuklearer Rüstung, um im Falle des - auch nur partiellen - Versagens von Abschreckung intra-war deterrence aufrecht erhalten zu können und die Eskalation zum all out nuc/ear war zu vermeiden. Damit im Zusammenhang stellte sich die Frage nach dem politischen Verständnis und der Grundsätzlichkeit von Verantwortung fllr den Beitrag der Streitkräfte zur Politik durch die als in die Gesellschaft integrierte und als ihr Teil verstandene soziale Gruppe des Offiziers. Es fehlte aber vorerst immer noch die Debatte, ob die als selbstverständlich vorausgesetzte militärische Kompetenz allein genüge, um den Offizier zu definieren oder ob nicht das Mitdenken und Mitleben in der Gesellschaft samt Einbringen einer speziellen Ethik des Offiziersberufes in politische Entscheidung zukunftsweisend sein könnte. Auf die hier nur demonstrativ aufgezeigten ungelösten Fragen suchte man letztendlich Antworten zu finden mit Hilfe universitärer Ausbildung des Offiziers, gleichgültig ob in der Offiziersausbildung wie in Deutschland mit dem Instrument der Universitäten der Bundeswehr oder wie in anderen Staaten, die diese universitäre Phase mit Maßnahmen der Weiterbildung ansetzten. Anstoß fllr den Weg zum universitären Studium als Ergänzung zur militärischen Offiziersaus- und -Weiterbildung waren jene gesellschaftspolitischen Veränderungen, die sich international aus der "Anti-Vietnam-Bewegung" und deren Umfeld sowie aus der verbreiteten Kritik an der Realität und den Zielen des westlichen Bündnissystems zu Ende der sechziger Jahre ergeben hatten. Diese Begründung ergänzte der damalige Vizepräsident der Universität der Bundeswehr, München, anläßlich eines Fachgespräches zur universitären Ausbildung der Offiziere im Juli 1998, indem er meinte, daß mit diesem Studium an der Universität der Bundeswehr ein "freier Offizier'' geschaffen wird, der in Entscheidungen anders denkt und versierter gegenüber der Technik sich verhält. Außerdem wurde hiebei auf den Umstand verwiesen, daß durch die gegenwärtige Internationalisierung das Vorhandensein eines akademischen Grades fllr Berufs- und Zeitoffiziere höchst aktuell wäre. 3 Jedenfalls waren es nicht in erster Linie die unmittelbar militärischen Herausforderungen, die die Notwendigkeit des universitären Studiums tllr Offiziere zur Diskussion stellten, sondern primär das Erfordernis, angesichts politischer,

3 .Bgdr Gernot

Albrecht (LVAk), Erfahrungsbericht vom 21.07.98.

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Rudolf Hecht

ideologischer, gesellschaftspolitischer und ethischer Herausforderungen auf der Basis erweiterter Bildung in der gesellschaftlichen und der politischen Umwelt mit dem militärischen Instrument reagieren und bestehen zu können.

ß. Aktuelle Debatte Auch in bezug zur Intention der Landesverteidigungsakademie, den angestrebten universitären Weg zu gehen, ist als erstes auf vier, fiir die Entscheidungstindung existentielle Fragen eine auch fiir die Betroffenen logische und zukunftsweisende Antwort zu finden: Es ist zu klären, warum, wie, wann und wo das universitäre Studium im Rahmen der Offiziersweiterbildung erfolgen sollte. Wir haben einleitend bereits die historische Genese, die zur Überzeugung von der Notwendigkeit gefiihrt hat, die Aus- und/oder Weiterbildung der Offiziere durch einen universitären Abschluß zu ergänzen, nachvollzogen. Für dieses universitäre Studium als Erweiterung hochrangiger militärischer Lehrgänge, wie des Generalstabslehrganges an der Landesverteidigungsakademie, wurden in den letzten Jahren international aus unterschiedlicher Erfahrung zahlreiche Argumente vorgebracht: •

Erhöhung der Effizienz militärischer Weiterbildung durch universitäres Studium;



Verbesserung der gesellschaftlichen Akzeptanz der Offiziere als gesellschaftliche Institution durch diese Ergänzung militärischer Weiterbildung auf dem Wege universitären Abschlusses;



Erweiterung des politischen Verstehens und der politischen Perzeption;



Akzeptanz der gesellschaftlichen und politischen Realität und Entwicklung und Einbeziehung der Offiziere als Teil der Gesellschaft;



selbstverständliche Akzeptanz des Primates der Politik im demokratischen System.



Letztlich muß das universitäre Studium als sinnvolle Ergänzung der Weiterbildung verstanden und akzeptiert werden, nämlich mit dem Ziel der Verbesserung der militärischen Kompetenz, wobei auf den Umstand verwiesen wird, daß schon bisherige militärische Kompetenz nicht in Frage gestellt werden darf. Das Ziel kann nur sein, jene Erweiterung der militärischen Weiterbildung anbieten zu können, die die Offiziere befähigen soll, aktuelle oder denkbare künftige Anforderungen gerade im Bereich des politisch-militärischen Umfeldes zu bewältigen.

Universitärer Weg der Landesverteidigungsakademie

391

Bereits seit Anfang der si~bziger Jahre wurde immer wieder die Frage gestellt, ob es notwendig sein könnte, die Offiziersweiterbildung an der Landesverteidigungsakademie mit zusätzlicher universitärer Ausbildung zu verbinden, ob es bei positiver Beurteilung erforderlich wäre, die selbstverständliche militärische Kompetenz, die insbesondere am Generalstabslehrgang erworben oder gefestigt werden sollte, durch universitäre Lehrinhalte zu ergänzen oder eigene universitäre Lehrgänge und im besten Fall Universitätslehrgänge anzubieten. Es stellt sich auch die Frage, wie weit die Phase universitärer Ausbildung entweder als Beitrag zur Grund- oder zur Weiterbildung definiert werden soll; soll die Form eigenständigen Studiums gewählt werden oder um den weiterhin militärischen Kern der an der Landesverteidigungsakademie angebotenen Lehrgängen eine universitäre Ergänzung eingerichtet werden. Die Motivation zur Absolvierung des universitären Anteils muß aus dem Gesamtcurriculum des Lehrganges logisch und deutlich erkennbar und nachvollziehbar zum Ausdruck kommen. Von diesen Prämissen abgeleitet, aber auch vom als künftige Herausforderungen definierten Anlaß zum militärischen Studium ist dann das Wann zu beantworten. Wenn die Entscheidung getroffen ist und umgesetzt wird, insbesondere den Generalstabslehrgang durch einen universitären Anteil zu ergänzen, wäre soweit man pro domo sprechen kann - diese universitäre Phase selbstverständlich an der Landesverteidigungsakademie zu absolvieren mit dem Ziel, daß die Absolventen des Generalstabslehrganges zugleich mit dem militärischen Abschluß auch den universitären Abschluß an der Landesverteidigungsakademie erreichen können.

111. Zum neuen Österreichischen Universitätsrecht Die Universität hat eine besondere Aufgabenstellung in der Gewährleistung der Einheit von Forschung und Lehre und deren Umsetzung im universitären Betrieb, und sie hat eine wesentliche gesellschaftliche Funktion insbesondere im Bereich der Bildung, ohne den Bereich der Forschung übersehen zu wollen, zu erfUllen. Das neue Österreichische Universitätsrecht verweist gerade in den "Erläuterungen zum Besonderen Teil" konkret auf diese beiden Faktoren aktuellen universitären Selbstverständnisses und universitären Erscheinungsbildes: •

Die Universität ist juristische Person öffentlichen Rechts und damit in ihrem Bestand vom Gesetz abgesichert;



aber als eigenständige Einheit konstruiert;



dabei orientiert sich das neue Österreichische Universitätsrecht nach eigenem Bekunden an der Durchfilhrung der Bologna-Erklärung der EU-

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392

Minister in 1999 in Fortfiihrung des Ministertreffens in Prag 200 I und des Universitätstreffens in Salamanca 2001 4 Mit dem Universitätsgesetz 2002 wurden die Österreichischen Universitäten voll rechtsfähig. Was bedeutet diese hier vorgestellte Position tatsächlich und welchen Rahmen und welche Voraussetzungen normiert sie fiir den angestrebten universitären Weg der Landesverteidigungsakademie. Nach neuem Recht sind die Universitäten •

nunmehr als juristische Personen öffentlichen Rechts voll rechts- und geschäftsfähig und



sie haben sich im Rahmen der staatliche Vorgaben selbst zu organisieren.



Die Finanzierung erfolgt weiterhin aus dem Bundesbudget



Die Konsequenz der Universitätsautonomie ist das Erfordernis, ein effizientes und eigenverantwortliches Universitätsmanagement zu etablieren. 5

Angesichts der zitierten Grundsätze des neuen Österreichischen Universitätsrechtes stellt sich die Frage, •

ob und in welchem Maße die Landesverteidigungsakademie als Institution den universitären Weg gehen soll, der zu den oben genannten Grundsätzen rechtlich kompatibel sein müsste, oder



ob allein Lehrgänge dem neuen Universitätsrecht angepasst werden sollten, damit deren Absolventen neben dem militärischen auch an der Landesverteidigungsakademie selbst den akademischen Abschluß erreichen könnten, ohne die Institution Landesverteidigungsakademie selbst als Ganzes zu betreffen.

IV. Schritte und Maßnahmen der Landesverteidigungsakademie zur universitären Kompetenz Ziel der gegenwärtig noch immer weitergehenden Gesprächszyklen mit der Universität Wien zur Einrichtung eines universitären Studiums an der Landesverteidigungsakademie seit Anfang der neunziger Jahre war unter dem Rektorat von Univ. Prof. Dr. Karl Wemhart und dem Kommando von General Erich

4

Universitätsgesetz 2002, Erläuterungen Allgemeiner Teil, Pkt. B.

5

lbid., Pkb C/b.

Universitärer Weg der Landesverteidigungsakademie

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Eder, filr den längsten Lehrgang an der Landesverteidigungsakademie, nämlich den sechssemestrigen Generalstabslehrgang, mit dem militärischen Abschluß zugleich auch den universitären an der Akademie zu erreichen. Es wurden bis dato unterschiedliche Modelle seitens der Universität, seitens von Funktionsträgern der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖA W), beispielsweise dem Obmann der Kommission der ÖA W filr die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Dienststellen des Bundesministeriums filr Landesverteidigung, Univ. Prof. Dr. Elisabeth Lichtenberger, seitens kommissioneller Befassung im BMLV selbst überlegt, um das vorgegebene Ziel zu erreichen. Als strategische Zielsetzung sollte ein durchlässiges Bildungssystem von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt (Offiziersausbildung) bis zur Landesverteidigungsakademie in Wien (Offiziersweiterbildung) gewährleistet werden, worauf der frühere Kommandant der Akademie, General Emest König, in einem Gespräch mit dem Rektor der Universität Wien, Univ. Prof. Dr. Wolfgang Greisenegger, im Dezember 1997 deutlich verwies. Dabei wurden alle zitierten Überlegungen selbstverständlich noch auf der Basis des damaligen Universitätsrechtes getroffen. Das nunmehr weitere Nachdenken und Vorgehen ist in merito mit Hilfe des neuen Universitätsgesetzes 2002 zu treffen. Es ist zu analysieren, welche Möglichkeiten filr den angestrebten universitären Weg der Landesverteidigungsakademie aufgrund der neuen Rechtslage sich ergeben, wie und wo diese notwendige Kooperation der Verteidigungsakademie mit der Universität Wien erfolgen kann. Ein anderes Problem ist die Ausstattung der Landesverteidigungsakademie mit jener Rechtskompetenz, durch die universitäres Handeln der Verteidigungsakademie erst institutionalisiert werden würde. Vor allem drei Diskussionspunkte sind es, die geklärt werden müßten, um den universitären Weg der Verteidigungsakademie vom wissenschaftlichen Selbstverständnis her gestalten zu können. Es geht hier l.

um die selbständige Durchfilhrung von militärwissenschaftlicher Forschung und Lehre zum Zwecke der Sicherheitspolitik Österreichs,

2.

um die Frage, in welcher Weise die Verteidigungsakademie gern. Art. 79 B-VG ausschließlich mit als "militärisch" definierten Aufgaben betraut sein wird und

3.

um die Realisierung der in der Bundesverfassung normierten Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre.

Ad 1 wurde bereits in früheren Debatten angemerkt, daß hiefilr die Kompetenzdeckung im Bundesministeriengesetz (BMG) 1986 problematisch sein könnte; zudem könnte der Verweis auf die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre das ministerielle Leitungs- und Weisungsrecht gegenüber der Verteidigungsakademie in Zweifel ziehen.

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Ad 2 wurde angemerkt, daß alles, was in Lehre und Forschung Uber die militärischen Aufgaben hinausginge, verfassungsrechtlich ebenfalls problematisch wäre. Ad 3 wurde das Individualrecht der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre mißverständlich interpretiert.

Überlegungen zu diesen Problemen Laut BMG 1986 sind dem BML V als Sachgebiet des eigenen Wirkungsbereiches (lt Art. 77 B-VG und § 2 BMG) "Militärische Angelegenheiten" zur Besorgung zugewiesen. Im BMG Anlage zu § 2, Teil 2, lit. J, werden diese Militärischen Angelegenheiten demonstrativ erläutert. Man könnte nun argumentieren, daß hier jeder Hinweis auf militärwissenschaftliche Forschung zum Zwecke der Sicherheitspolitik Österreichs fehle. Hiezu wurde bereits des öfteren der Einwand vorgebracht, daß eben die "Angelegenheiten der Wissenschaften, insbesondere der wissenschaftlichen Forschung und Lehre" gern. BMG Anlage zu § 2, Teil 2, lit. 0, generell dem Bundesministerium fiir Wissenschaft in seiner jeweils organisatorischen Gestaltung zugewiesen sind und somit filr selbständige Militärwissenschaftliche Forschung zum Zwecke der Sicherheitspolitik Österreichs an der Landesverteidigungsakademie die Deckung im BMG eben eine Frage aufwerfen wUrde. Man kann hiezu aber auch feststellen, daß dem BMLV lt. BMG als eigener Wirkungsbereich das Sachgebiet Militärische Angelegenheiten zugewiesen ist. Über den formalen und materiellen Umfang des Begriffes Militärische Angelegenheiten gibt jedoch die demonstrative Aufzählung von zu diesen Militärischen Angelegenheiten zählenden Teilbereichen im BMG wenig Auskunft. Man wird folglich aufgrund nationalen und internationalen Verständnisses dieses Begriffes auch zur Zeit der Beschlußfassung des BMG 1986 definieren müssen, welchen Umfang und welchen Inhalt der Begriff Militärische Angelegenheiten besitzt. Offensichtlich ist dieser Begriff nicht allein statisch auf den Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses bezogen, sondern dynamisch zu verstehen, wenn es beispielsweise im "Grundriß des Österreichischen Bundesverfassungsrechts" von Robert Walterund Heinz Mayer6 heißt, zu den Militärischen Angelegenheiten zählten gern. Art. 79 Abs. I B-VG die militärische Landesverteidigung, das heißt nicht, daß die Militärischen Angelegenheiten mit der militärischen Lan-

6 Robert Walter/Heinz Mayer: Grundriß des Österreichischen Bundesverfassungsrechts, Wien 1976, S. 186 ff.

Universitärer Weg der Landesverteidigungsakademie

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desverteidigung gleichzusetzen sind. Folglich ist der Begriff Militärische Angelegenheiten umfangreicher als der Begriffmilitärische Landesverteidigung. Zum Kompetenzbereich militärische Landesverteidigung wird grundsätzlich der Gesamtkomplex des militärischen Instrumentes der Landesverteidigung zu zählen sein, seine planerische, personelle und materielle Komponente, um nach bestimmter Vorbereitung jeder Zeit imstande zu sein, einen Einsatzauftrag zu erfüllen. Als Militärische Angelegenheiten werden darüber hinaus alle auf das Militärische bezogenen Maßnahmen und Mittel, deren Vorbereitung und Einsatz eingeschlossen, die der Realisierung der militärischen Landesverteidigung dienen, zu verstehen sein. Als Konsequenz dieses Diskurses kann der Schluß gezogen werden, daß auch Strategie und der militärische Aspekt der Sicherheitspolitik zum Bereich militärischer Angelegenheiten gehören, da ohne das intentionale Prozeßdenken der Strategie und ohne die Beachtung der sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen die militärische Landesverteidigung die zur Gewährleistung ihrer Funktionalität unerlässliche systematische Einordnung im nationalen und internationalen politischen System verliert. Zur Zeit und in Zukunft sind nicht einzelstaatliche militärische Fähigkeiten, sondern militärische Professionalität als Beitrag zur Sicherheit und Stabilität im internationalen Kontext gefragt. Die Schlußfolgerung kann nur heißen, daß militärwissenschaftliche Forschung zum Zwecke des militärischen Aspektes der Sicherheitspolitik Österreichs im Begriff "Militärische Angelegenheiten" eine hinreichende rechtliche Deckung findet. Sie ist ein Beitrag zur Erfüllung der gesamtstaatlichen Aufgabe Sicherheit, die nur vernetzt erfiUlbar ist. Zu weiteren, immer wieder vorgebrachten Fragen zum universitären Weg der Landesverteidigungsakademie kann nachstehender Diskurs gefilhrt werde: I.

gern. BMG 1986, Anlage zu § 2, Teil 2, lit. 0, gehört zum eigenen Wirkungsbereich des Bundesministeriums filr Wissenschaft in seiner jeweiligen Gestaltung auch das Sachgebiet "Angelegenheiten der Wissenschaften, insbesondere der wissenschaftlichen Forschung und Lehre". In der angeschlossenen demonstrativen Aufzählung was zu diesem Sachgebiet gehört, werden Angelegenheiten der Universitäten und Hochschulen, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der wissenschaftlichen Berufsausbildung, der Bibliotheken, der Studentenheime, der Studentenvertretungen und der wissenschaftlichen Sammlungen angefilhrt. Das heißt, der Begriff "Angelegenheiten der Wissenschaften, insbesondere der wissenschaftlichen Forschung und Lehre" bedeutet jenes Umfeld, dessen Bereitstellung und Erhaltung Forschung erst ermöglicht, und nicht die Forschungstätig-

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keit selbst, denn sie ist in diesem Zusammenhang die unmittelbare Angelegenheit der Träger der Forschung, beispielsweise Universitäten oder ÖA W. 7 Gern. BMG 1986, Anlage zu § 2, Teil I, Z. 14 gehören zu den Geschäften jedes Bundesministeriums auch die "Angelegenheiten ... der Forschung ... auf Sachgebieten, die ... dem Bundesministerium zur Besorgung zugewiesen sind". Infolgedessen besitzt auch das BMLV Forschungskompetenz in "militärischen Angelegenheiten". Im Rahmen dieses Auftrages besitzt demgemäß in hierarchischer Ordnung die Landesverteidigungsakademie Forschungskompetenz in ihrem Kompetenzbereich, was bedeutet auch flir militärwissenschaftliche Forschung zum Zwecke der Sicherheitspolitik Österreichs. 2.

Zum materiellen Inhalt der Forschungskompetenz der Landesverteidigungsakademie kann auch auf den Umstand verwiesen werden, daß im Aufstellungserlaß aus dem Jahr 1967 filr das damalige Institut filr militärstrategische Grundlagenforschung, nunmehr Institut filr Strategie und Sicherheitspolitik, als Auftrag formuliert ist: "Erforschung des modernen Kriegsbildes und seiner laufenden Entwicklung ... Vergleichung militärischer Strategien, Studium des Einflusses der modernen Kriegsfilhrung auf die Österreichische Landesverteidigung ... " Dieser Auftrag ex 1967 deckt zweifellos die Kompetenz im Bereich Strategie ab, womit auch filr diesen Fachbereich die Forschungskompetenz der Verteidigungsakademie gesichert sein sollte.

3.

Zur Interpretation von "Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre" gern. Art. 17 StGG 1867 und der entsprechenden Rezeption in der Österreichischen Bundesverfassung: das Grundrecht a)

Freiheit der Wissenschaft umfaßt im wesentlichen das Recht, auf einem bestimmten Wissensgebiet neue Erkenntnisse zu suchen und ältere Erkenntnisse zu festigen, das Recht, wegen Aufstellung eines wissenschaftlichen Lehrsatzes weder von einem Gericht noch von einer Behörde verfolgt zu werden, und das Recht, wissenschaftliche Untersuchungen vorzunehmen, ihre Ergebnisse aufzuzeichnen und zu veröffentlichen;

b)

Freiheit der Lehre bedeutet das Recht, ohne Behinderung durch einfaches Gesetz oder durch Organe der Verwaltung die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung in beliebiger Weise zu verkünden. 8

7 cf. Ernst Zaruba, Wolf Frühauf Österreichisches Forschungsrecht, Wien 1974, S. 103 ff; ein hiezu bemerkenswerter Hinweis auch in: Österreichische Forschungskonzeption 80, BMWF, o.O. o.J. S. 4 f. 8

cf. Österreichisches Forschungsrecht, op. cit., S. 4 f.

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Im Werk "Österreichisches Forschungsrecht"9 wird aufgrundder aktuellen Interpretation und der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zu diesem Thema festgestellt, "Das Grundrecht des Artikel 17 Absatz 2 Staatsgrundgesetz ,die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei' stellt ftlr Wissenschaft und Forschung, fiir die in der Wissenschaft und Forschung Tätigen ein zentrales Grundrecht dar. Das subjektive öffentliche Recht der Wissenschaftsfreiheit steht jedem Mann zu, der Wissenschaft betreibt, der forscht und wissenschaftliche Ergebnisse verkündet, einerlei wo und in welchem Zusammenhang auch immer". - Man kann somit zur Schlußfolgerung kommen, der Anspruch auf Freiheit der Wissenschaft und ihre Lehre bedeutet nicht, daß die in der Forschung Tätigen nach eigenem Gutdünken handeln könnten. Die Mitarbeiter der Landesverteidigung, die in der Forschung tätig sind, sind als Angehörige der öffentlich-rechtlichen Institution Landesverteidigungsakademie an den institutionellen Auftrag gebunden; innerhalb des Auftrages besteht jedoch bei der Durchftlhrung und im Ergebnis der Forschungstätigkeit das Recht der Freiheit der Forschung und ihrer Lehre. Dazu ist noch festzustellen, daß die Freiheit der Wissenschaft und ihre Lehre nicht ein Recht der Landesverteidigungsakademie als Institution ist, sondern ein verfassungsrechtlich abgesichertes Individualrecht der in der Forschung Tätigen ist. Die Folgerung zum oben dargestellten Diskurs kann somit nur heißen, daß die Durchfiihrung militärwissenschaftlicher Forschung an der Landesverteidigungsakademie einfach- und verfassungsrechtlich abgesichert ist. Auch die vorgestellte Definition von "Militärischen Angelegenheiten" hat erläutert, daß aus diesem Bereich keine Kompetenzbegrenzung der Landesverteidigungsakademie ableitbar wäre. Die Inanspruchnahme des Individualrechtes der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre bedeutet ebenfalls keine unmittelbare Emanzipation der Verteidigungsakademie aus dem Rahmen des BMLV, aber auch keinen unbeschränkten Anspruch der in der Forschung Tätigen.

V. Conclusio Wir haben versucht, zu grundlegenden Fragen, die sich fUr die Landesverteidigungsakademie bei der Realisierung ihres universitären Weges immer wieder stellen, eine Antwort zu finden oder Lösungen zu bieten, die in Übereinstimmung mit der Österreichischen Rechtsordnung jene Möglichkeiten aufzeigen, die der Landesverteidigungsakademie zur VerfUgung stehen, um die Intention des universitären Weges realisieren zu können. Es ist erkennbar, daß die grundsätzlichen

9

lbid., s. 33 f.

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Probleme durchaus im Interesse des Zieles der Landesverteidigungsakademie zu lösen sind. Die Entscheidung ist zu treffen, im Rahmen der durch das neue Österreichische Universitätsrecht geschaffenen universitären Landschaft den Platz der Landesverteidigungsakademie zu definieren, zu begründen und damit gesellschaftspolitische Akzeptanz und Rechtsilbereinstimmung zu erreichen. Zum Abschluß sei nochmals an Eh Carl erinnert, der geschrieben hat: "Das Genie wird geboren, der große Mann muß gebildet werden: Genie ist Anlage nicht Vollendung. Es Oberspringt wohl zuweilen den systematischen Gang der Lehre und eilt den Erfahrungen voraus; es ergreift nur instinktmäßig das Resultat, und weilt nicht bei dem Princip, das wie eine unbekannte Größe sich in seiner Seele Entwikkelt. Aber weit öfter schweift es in verderblichen Irrtümern umher; und wenn sein Flug einmal die Unsterblichkeit erreicht, so ist es seltener das Verdienst eigener Größe, als die Folge eines glücklichen Ungeflthrs. Das Genie muß also seine Richtung bekommen, es muß geläutert, bereichert, gebändigt werden, sey es durch Zufall, durch glückliche Verhältnisse, durch fremden Einfluss, durch Bedürfnis, durch Verkettung folgenreicher Ereignisse, durch Nachdenken oder durch Selbsterfahrung- mit einem Wort, es muß gebildet werden." 10

Literatur Albrecht, Gernot Bgdr (LV Ak), Erfahrungsbericht vom 21 .07.98. Clausewitz, Carl v.: Grundsätze der höheren Kriegskunst filr die Generäle der Osterreichischen Armee, Wien 1806. Nachdruck: Bibliotheca Rerum Militarium, Osnabrilck 1974.

- Vom Kriege, gen. Lizenzausgabe, Augsburg 1990 Erzherzog Carl: Grundsätze der Strategie und Anwendung derselben auf einem angenommenen Kriegsschauplatz, Nürnberg 1838.

- Grundsätze der höheren Kriegskunst filr die Generäle der Österreichischen Armee, Wien 1806. Nachdruck: Bibliotheca Rerum Militarium, Osnabrilck 1974. Österreichische Forschungskonzeption 80, BMWF, o.O. o.J. Universitätsgesetz 2002, Erläuterungen Allgemeiner Teil. Wa/ter, Robert/Mayer, Heinz: Grundriß des Österreichischen Bundesverfassungsrechts, Wien 1976. Zaruba, Ernst/Frühauf, Wolf: Österreichisches Forschungsrecht, Wien 1974. 10 Grundsätze der Strategie und Anwendung derselben auf einem angenommenen Kriegsschauplatz (Eh Carl). Nürnberg 1838, S. Vllf.

Vom Nuklearen Holocaust in Zentraleuropa zum Kampf der Kulturen Eine kleine Geschichte wehrpolitischer Kommunikation und der wissenschaftlichen Politikberatung des BMLV Von Rüdiger Stix Zapotoczky kennen wir aus dem kalten Krieg. Um nicht missverstanden zu werden: Ich selbst bin Offizier des kalten Krieges. Unser Denken war darauf fokussiert wie wir kämpfen werden, wenn die bis heute mit Abstand größte Militärkonzentration der Menschheitsgeschichte in einem Armaggedon losbricht, oder wenn ihnen Richard Wagner lieber ist, in einem Ragnarök, und ein paar hundert Kilometer links und rechts des eisernen Vorhanges Schlachtfelder und Massengräber zurücklässt. Etwa so, wie wir sie aus den Weltkriegen des 20sten Jahrhunderts kennen, nur diesmal ftlr ein paar tausend Jahre radioaktiv verstrahlt. Immerhin standen sich im kontinentaleuropäischen Zentralabschnitt seit dem NATO-Doppelbeschluss (von 1979 als Antwort auf die sowjetische SS 20) mit der US-Pershing Mittelstreckenrakete nukleare Trägersysteme gegenüber, die es zumindest möglich gemacht hätten, einen nuklearen Schlagabtausch auf Europa zu beschränken (ohne mit Interkontinentalraketen das Staatsgebiet von USA oder UdSSR angreifen zu müssen). Damals war ich Abteilungsleiter im BMLV, der Kriegsmaterialkontrollbehörde (zur Ein-, Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial) vorgesetzt, und administrativ verantwortlich fUr die GSK, die Geistes und Sozialwissenschaftliche Kommission als Beirat fUr den Bundesminister fUr Landesverteidigung. Natürlich waren wir als Juristen und Militärs aufgeschlossen fUr jede Wissenschaft. Zugeben muss man allerdings sehr starke anwendungsbezogene Interessen. Natürlich hätten wir gerne gewusst, ob Voodoo wirklich funktioniert, und wenn ja, ob die Ursachen transzendenter, sozialpsychologischer oder pharmakologischer Natur sind. Dennoch war ftlr uns primär wichtig, ob Österreichische UN-Kräfte fUr einen Einsatz in Haiti richtig ausgebildet sind, und wie sie mit den dortigen Voodoo Anhängern umgehen sollen. Immerhin war Österreich unter den europäischen Neutralen, also im Wesentlichen Schweiz, Schweden,

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Finnland und Irland (bei allen geopolitischen und verfassungsrechtlichen Unterschieden) hoch aktiv bei UN-Friedensmissionen. Der guten Ordnung halber sei an dieser Stelle angemerkt, dass wir später aus Haiti niemanden als Zombie zurückerhalten haben, zumindest bis heute nicht für uns erkennbar. Zapotoczky war Vorsitzender dieser GSK, die immerhin ganz konkret die Grundlagen für das militärische Einsatzrecht geschaffen hat, womit ihre Wirksamkeit sicher über jene von viel bekannteren wissenschaftlichen Gremien der Politikberatung hinausgeht. Diese Wirksamkeit war aber nur möglich, weil in der Person von Zapotoczky nicht nur der anerkannte Soziologe, sondern auch der unglaublich hartnäckige, mit einer liebenswürdigen Bescheidenheit aber äußerst nachdrückliche, und mit beiden Beinen in der politischen und administrativen Realität stehende Wissenschaftsmanager tätig war. Viele von uns, und ganz besonders auch ich, verdanken Zapotoczky einen Zugang zur politischen Soziologie, der weit über akademische Formalargumente hinausreicht, wie man sie im Kampf um Drittmittel, Budgets, Personal oder hierarchische Stellungen verwendet. Zapotoczky hat uns entscheidendes Rüstzeug mitgegeben, als sich die bipolare Blockkonfrontation in einen Kampf der Kulturen aufgelöst hat. Bekanntlich haben die Ungarn unter Premierminister Nemeth den eisernen Vorhang aufgeschnitten. Sie taten dies im wahrsten Sinne des Wortes, in dem Außenminister Gyula Horn gemeinsam mit seinem Österreichischen Amtskollegen Alois Mock die Drahtschere in die Hand genommen hat. Danach stimmten die Menschen der ehemaligen DDR mit den Füßen ab, und die Montagsdemonstrationen in Leipzig brachten mit dem Ruf" Wir sind ein Volk" den "Antifaschistischen Schutzwall", die Berliner Todesmauer, am 9. November 1989 zum Einsturz. Fairerweise wird man an dieser Stelle auch einräumen müssen, dass ein Militäreinsatz der sowjetischen Truppen in Deutschland nicht rumänische Verhältnisse der Sekuritate, sondern eine Situation wie in Nordkorea herbeigefUhrt hätte. Immerhin standen auf deutschem Boden 20 Sowjetdivisionen. während zum Vergleich die drei in Polen stationierten Divisionen nicht einmal während der Gewerkschaftsdemonstrationen in Danzig und nach Verhängung des Kriegsrechtes verstärkt worden sind, was einem streikenden Arbeiter vor den Kanonen sowjetischer Panzer natürlich nur ein schwacher Trost ist. Schließlich haben diese Panzer zwar nicht auf die Bau- und Holzarbeiter eines Franz Olah im Ostösterreich des Jahres 1950 geschossen. Aber der Aufstand in der sowjetischen Besatzungszone 1953 und die ungarische Revolution 1956 wurden blutig erstickt, und auch der Prager Frühling 1968 niedergewalzt Die ungarische Öffhung brachte aber auch für Politik und Militär eine klare Falsifikation bzw. Verifikationsmöglichkeit. Bekanntlich standen das Österreichische Bundesheer, und alle an Österreichs Wehr- und Sicherheitspolitik interessierten Menschen, einer breiten Front idealistischer und weniger idealisti-

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scher Heeresgegner gegenüber. Im Kern haben sich die Prognosen der beiden Lager diametral polarisiert, als das Heer in seiner wehrpolitischen Kommunikationsarbeit ein ziemlich klares Bedrohungsbild dargestellt hat. Selbstverständlich war dieses kommunizierte Bedrohungsbild auch Grundlage fiir die real getroffenen Einsatzvorbereitungen, die einen Angriff des Warschauer Paktes durch das Mühlviertel, entlang des Donautals, auf Wien sowie die Wienerwaldeingänge und gegen den Semmering (mit weiterem Ziel über Graz und Klagenfurt Richtung Italien) erwartet hat. Auf der anderen Seite stand ein breiter Fächer an Friedensaktivisten. Diese reichten von unmittelbaren Stasi-Agenten oder Mitarbeitern, deren bekanntestes Beispiel der ehemalige Brigadegeneral Gerd Bastian war, der vor seinem Selbstmord seine Geilihrtin Petra Kelly, ebenfalls eine Ikone der Friedensbewegung, ermordet hat. Daneben befanden sich Gutgläubige, die tatsächlich "lieber Rot als tot sein wollten", und die sich nicht wirklich mit den Opferzahlen des Leninismus-Stalinismus oder den aktuellen Schlachthäusern eines Pol Pot auseinandersetzen wollten. Auf jeden Fall wurde der Sowjetpropaganda breiter Raum gegeben, wonach derartige Angriffsszenarien lediglich "imperialistisch-faschistische Propaganda" seien. Ohne nun im Nachhinein zu behaupten, die ehemalige UdSSR wäre tatsächlich - etwa zwischen Koreakrieg und Kubakrise - bereit gewesen, ihre Angriffsbefehle umzusetzen, so ist doch eines klar. Die Angriffsplanungen haben fast auf ein paar hundert Meter genau so gestimmt, wie sie das Heer prognostiziert hat, selbst wenn man nur die ungarischen Quellen heranzieht. Dabei muss insbesondere fiir die Nuklearplanung auf die weitere Öffnung russischer Archive gewartet werden. Auch die Geistes- und Sozialwissenschaftliche Kommission, sowie in weiterer Folge die Wissenschaftskommission des BMLV unter ihrem Vorsitzenden Zapotoczky war rehabilitiert in ihren strategischen Bedrohungs- und Umfeldanalysen. Leider ging die Rehabilitierung danach munter weiter. Das Heer warnte in seiner wehrpolitischen Kommunikation nach dem Fall des eisernen Vorhanges 1990 ganz klar vor den Ereignissen am Balkan und affichierte Plakate mit der Botschaft "Unter Nachbarn herrscht Krieg." Wir wollen höflichkeitshalber nicht zu genau wiederholen, was auch Wissenschafterkollegen Uber die Warnungen des Heeres so von sich gegeben haben. Zumindest wurde solange gegen das Heer polemisiert, bis dann im Sommer I 991 der Krieg unter Nachbarn offen ausgetragen worden ist. Bekanntlich hat das Bundesheer das erste Mal seit seinem Bestehen unter der verfassungsmäßig vorgesehenen Rechtsgrundlage einer EinsatzverfUgung gekämpft (auch ein Erfolg der GSK), und die Österreichischen Abfangjäger wurden auch Uber der steirischen Grenze von jubelndem Applaus begrUBt. Als eine gewisse Schuldminderung sei den Anti-Heeres-Polemiken noch zugestanden, dass es große Strömungen im Zeitgeist gegeben hat, die eine Ein-

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haltung der eigentlich recht klaren Falsifikationskriterien zumindest nicht Karriere fördernd machten. Vor allem die Denk- und Argumentationsverbote der politica/ correctness, als eine nicht nur bundesdeutsche Trendwelle nach der deutschen Wiedervereinigung und in Widerspiegelung der amerikanischen Spitzen unter der Clinton-Administration, machten eine ehrliche Diskussion über wehr- und sicherheitspolitische Analysen und über sicherheitsökonomische Prognosen oft sehr schwer. Man muss daher der Führung der Wissenschaftskommission (als Nachfolgeorganisation der GSK) unter der Leitung von Zapotoczky ganz klar danken, dass es derartige Denkverbote in keiner Phase gegeben hat. Dies ist umso anerkennenswerter, als mehrere zeitgeistige Grundströmungen gegen eine realistische Prognostik wirkten. Zum einen waren radikal antiwestliche Pazifisten bestärkt durch den Alarmismus in der Art von Meadows "Grenzen des Wachstums". Tragisch war dabei, dass realistische Warnungen gemischt wurden mit Annahmen, die schlicht falsch waren. So ist es natürlich unmöglich, hochaktiven radioaktiven Abfall über mehrere tausend Jahre sicher zu verwahren. Andererseits haben wir stets darauf hingewiesen, dass die "Grenzen des Wachstums" glattweg übersehen, dass sämtlicher Aufwand fiir Mobilität vor dem Einsatz fossiler Brennstoffe schließlich nicht mit Null angenommen werden kann. Wir dürfen wohl vermuten, dass auch Ötzi Nahrung zu sich nehmen musste, um auf die Höhe des Similaungletschers zu gelangen. Es ist auch schwer vorstellbar, dass Thurn und Taxis ihr Postmonopol unter dem römisch-deutschen Kaiser Maximilian I mit Null veranschlagt haben - ohne die Kalkulation der Pferde, Kutschen, Relaisgasthäuser, Hufschmiede, Pferdezüchter oder Futterweiden genau beziffern zu können. Wir haben daher unserer wehrpolitischen Kommunikationsarbeit meist Prognosen zu Grunde gelegt, die sowohl das Wachstum von strategischen Schlüsselpotentialen, wie auch ihre gegenseitige Verdrängung und Substitution mit anderen Methoden berechnet haben. Meistens konnten wir Diffusionsgleichungssysteme heranziehen, wie sie in Laxenburg an der IIASA oder in St. Gallen üblich waren, ab 1990 übrigens auch in engster Zusammenarbeit mit den ungarischen Sicherheitsökonomen. Wir befanden uns also methodisch dort, wo nun auch der letzte Bericht an den Club of Rome angelangt ist. Mit dem programmatischen Titel "Wachstum ohne Grenzen" vertreten Fiala und Bekker-Boost mit der größten Selbstverständlichkeit in etwa das, wofUr wir unter Hinweis auf die Berichte an den Club of Rome seit Dennis Meadows geprügelt worden sind. Gefährlicher war aber eine andere Strömung, weil sie nicht zimperlich in der Verunglimpfung wissenschaftlicher Konkurrenz war, und in ihren Ausläufern noch ist. Man kann sich unschwer vorstellen, wie schwierig die öffentliche Diskussion einer realistischen Beurteilung von Risikobereitschaft nach Alter,

Vom Nuklearen Holocaust in Zentraleuropa zum Kampf der Kulturen

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Geschlecht, ethnischer und religiöser Einbindung sowie sozioökonomischem Status ist, wenn gleichzeitig dekretiert wird, dass etwa "Geschlecht" lediglich ein gesellschaftliches Konstrukt sei. Nun stimmt zwar, dass der männliche homo sapiens genetisch quantitativ dem Schimpansenmännchen näher steht als einer menschlichen Frau. Es wäre jedoch kühn daraus ableiten zu wollen, dass innerartliehe Unterschiede der Primaten, einschließlich des Sexus, zu vernachlässigen - weil dekonstruierbar - sind. Heute kann man auch schon in Mainstreammedien wie "Spiegel" oder "Focus" über die Konsequenzen diskutieren, die sich daraus ergeben, dass offensichtlich Intelligenz und Sozialverhalten auf beide Geschlechter nicht gleich verteilt sind, wobei es eine männliche Häufung im deliktischen Verhalten bei Gewaltverbrechen gibt, die durch eine winzige Spitze an genialen Begabungen wohl nicht aufzuwiegen ist. Ähnlich peinlich sind die Geständnisse von ranghohen US-Regierungsbeamten ein halbes Jahr nach dem Terroranschlag des 11. Septembers auf Washington und die World Trade Towers in Manhatten. So wird- wahrscheinlich zu Recht- ins Treffen geftlhrt, dass die Untersuchungen von Hinweisen aus den Flugschulen in Florida deshalb unterlassen worden sind, weil man dem FBI ein ethnisches, rassisches oder religiöses Profiling gegen amerikanische Muslime vorwerfen hätte können. Momentan gibt es noch Rückzugsgefechte gegen realistische oder neorealistische Analysen. Natürlich wird vor allem Samuel Huntington immer noch ungerechtfertigt attackiert. Meist deshalb, weil man seinen "Ciash of Civilisations", den "Kampf der Kulturen" als gruselige programmatische Absicht denunziert, anstatt sich damit auseinander zu setzen, dass Samuel Huntington fordert: Nicht die Unterschiede zu leugnen, sondern das zu suchen, was allen Kulturen gemeinsam ist. Samuel Huntingtons Theorie dominiert inzwischen die Diskussion über mögliche Konfliktmuster nach dem Ende der Bipolarität. Er geht dabei von sieben oder acht kulturellen Hegemonialräumen aus, die sich zumindest seit der frühen Neuzeit in ihren Wertemustern klar unterscheiden. Er sieht dabei den Westen mit seinen Tochterkulturen, den Kulturraum der Orthodoxie, die hinduistische Zivilisation und im konfuzianischen Bereich die sinische und die außersinischen Kulturen. Die aktuellste Bedeutung kommt jedoch dem muslimischen grünen Halbmond auf unserer Erde von Marokko bis Indonesien zu. Huntington stellt sich mit seiner Beurteilung naturgemäß gegen die political correctness und ihrer gleichheitswidrigsten Form, der affirmative action, wenn er die Konsequenzen aus einer Multikulturalität aufzeigt, wo neben einander lebende ethnische Gemeinschaften keine gemeinsamen Ziele und Werte in einer Zivilgesellschaft mehr vereinbaren können. Dabei denkt Huntington nicht nur an Srebrenica, sondern nimmt als ehemaliger Berater des (ftlr Europa linksliberalen) Präsidenten Jimmy Carter die Unmöglichkeit einer kohärenten US-Außen- und Verteidigungspolitik ins Auge, wenn er darauf hinweist, dass die jeweiligen ethnischen Lobbies versuchen, die gesamte US-

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Politik im Sinne ihrer angestammten Heimatstaaten zu instrumentalisieren was naturgemäß zu importierten Bürgerkriegen filhren kann. Der Todespilot des 11. September, Mohamed Atta, erhielt konsequenterweise durch die zuständige OS-Einwanderungsbehörde sein Visum anstandslos verlängert- ein halbes Jahr nach dem 11. September ... ! Samuel Huntington stellt sich aber auch gegen die andere PC, gegen die patriotica/ correctness, wenn er den Westen warnt, seine Machtinteressen unter dem heuchlerischen Vorwand der "westlichen Werte" durchzusetzen. Gleichzeitig vertritt er einen Standpunkt, den die meisten abendländischen Humanisten teilen werden, wenn er meint, der Westen sei zwar einzigartig, aber nicht universell. Wenn wir heute, ein Jahr nach den Anschlägen des 11. Septembers Kritik an Samuel Huntington üben, dann nicht, weil er falsifiziert worden wäre. Unserer Meinung nach müssten nur einige psychologische Bruchlinien in den von ihm genannten Kulturen stärker herausgearbeitet werden. So vertreten wir (aktuell im Buch "Gut gegen Böse" gemeinsam mit Friedrich Korkisch und Gyorgy Nogradi) die Meinung, dass vor allem die calvinistisch-puritanische Tradition von europäischen Eliten ähnlich unterschätzt wird, wie noch vor zwanzig Jahren die neue Wirksamkeit der konfuzianischen Kulturen unter den Bedingungen der liberalen Marktwirtschaft. Wir vermuten daher, dass nicht nur die Theorien Huntingtons, sondern auch die Erweiterungen seiner Bruchlinientheorie sowohl nach der Differenzierung in den Kulturkreisen, wie auch entlang der Zeitachse bis in die präantiken Kulturen nach der letzten Zwischeneiszeit, auf anthropologischen Konstanten beruhen. Einige davon können wir messen, wie Aufmerksamkeitsspannen, Mobilitäts- und Siedlungsverhalten oder die Ausbreitung von Makrophänomenen, wie Sprachen, Rechtsnormen, Technologien oder auch der Sichelzellenanämie. Da wir mit Zapotoczky jahrelang in Alpbach beim vielleicht wichtigsten geistigen Zentrum der Erde, wie Nobelpreisträger James Buchanan einmal in schmeichelhafter Weise angemerkt hat, nächtelang zusammengesessen sind, zollen wir ihm auch in einer Metatheorie Respekt. Vielleicht sind die Erklärungsmuster der "Vertriebenen Vernunft'' und der kriegsfreiwilligen Offiziere des ersten Krieges von der Statur eines Friedrich August von Hayek der richtige Ansatz. Wir haben einerseits die Kulturleistung des Marktes als eines erkenntnisgewinnenden Prozesses geschaffen, auf dem wir Erfahrungen weit über jedes menschliche Vorstellungsvermögen hinaus gesammelt haben und sammeln können. Gleichzeitig gibt es die kulturelle Evolution der Kunst, der Sprache, der Sitten, Gebräuche, Philosophien, Religionen und Rechtsnormen. Wir können den Prozess noch nicht verstehen. Wir können ihn aber schon gar nicht ersetzen. Folgen wir daher wenigstens Huntington soweit, als wir die bestehenden Unterschiede nicht leugnen, sondern das suchen, was alle Kulturen verbindet.

Weltraumgestützte Informationsübertragung, Navigation und Ortung für Sicherheitspolitik und Streitkräfte Von Alfred Vogel Es werden physikalische und technische Möglichkeiten der Monopolisierung ubiquitärer Ressourcen im Bereich globaler Ausbreitungsmedien elektromagnetischer Strahlung sowie daraus ableitbares Anwendungspotential ftlr strategische Dominanz in weltraumgestützter elektromagnetischer NachrichtenUbertragung, Navigation und Ortung beschrieben. Basierend auf naturwissenschaftlichen, sozio-ökomomischen und strategischen Grundlagen werden die Bedeutung ionaspbärischer Systeme und deren Abhängigkeiten von natürlichen Umfeldparametem betrachtet und technisch bereits realisierbare strategische Anwendungen beschrieben. Die sich rasant in Richtung uneingeschränkte Abhängigkeit einer ahnungslosen Mehrheit von der Benevalenz kenntnismäßig und technologisch Fortgeschrittener begriffene Entwicklung triffi unterschiedslos zivile wie militärische Systeme moderner Gesellschaften und erlaubt zusätzlich Maskierungen angewandter Dominanz hinter naturähnlichen Modifikationen materieller und energetischer Ausbreitungsgrundlagen elektromagnetischer InformationsUbertragung, Navigation und Ortung. Kenntnis von und Verständnis ftlr solche Fähigkeiten und Potentiale ist gewiß von größter Bedeutung ftlr jede moderne Gesellschaft, besonders ftlr kleine Staaten und deren sich weiter marginalisierende faktische Souveränität.

I. Einleitung Informationsaustausch und sichere NachrichtenUbertragung auf Basis elektromagnetischer Wellen beeinflussen gegenwärtig und zukUnftig entscheidend Fortgang und Weiterentwicklung der menschlichen Zivilisation. Heinrich Hertz setzte 1886 mit dem Nachweis niederfrequenter elektromagnetischer (Lang-)Wellen ("Radiowellen") eine zivilisatorische Entwicklung in

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Gang, welche in Verbindung mit neuen Erkenntnissen und Entdeckungen das Zusammenleben der modernen Menschheit ohne funktionierende elektromagnetische (EM-) Informationsübertragung und -Verarbeitung, Ortung und Navigation heute kaum mehr vorstellbar erscheinen läßt. Technische Anwendungen elektromagnetischer Nachrichtenübertragung basieren seit alters her auf Licht. Trägermedien heutiger EM-Informationsübertragungen sind technische Draht- und Kabelnetze auf Metall- oder Glasbasis sowie der freie Raum. Mit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts setzte die Nutzung des elektromagnetisch leitfähigen Anteils der Erdatmosphäre, der Ionosphäre, als Reflektor ftlr transkontinentale Nachrichtenverbindungen im Radio-Kurzwellen (MHz)Bereich ein. Der erfolgreiche Start des Weltraumsatelliten Sputnik I durch die damalige Sowjetunion im Oktober 1957 eröfthete der Menschheit schließlich auch den Zugang zum erdnahen Weltraum. Damit waren alle Voraussetzungen ftlr einen Quantensprung in der Fähigkeit der Menschheit, qualitativ und quantitativ neue Dimensionen elektromagnetischer Informationsübertragung, Ortung und Navigation filr das Zusammenleben in Konflikt- und Friedenszeiten zu erschließen, geschaffen. Eine neues Zeitalter weltraumgestützter technischer und kommerzieller Möglichkeiten ftlr Informationsübertragung, Ortung und Navigation, aber auch dramatisch angewachsener und immer weiter anwachsender Abhängigkeiten der Menschen von einander und vom ungestörten Funktionieren moderner Technik war angebrochen.

ß. Hintergrund Ursprünglich militärische und politische, heute zunehmend aber auch ökonomische Interessen bestimmen Zielsetzungen und Ausbau weltraumgestützter Infrastruktur filr elektromagnetische Nachrichtenübertragung, Ortung und Navigation. FUr viele Menschen dringt von dieserneuen Technik häufig nur ein tatsächlicher oder zumindest so empfundener Erleichterungs- beziehungsweise Vorteilsaspekt ins Bewußtsein. Die Anflilligkeit der ordnungsgemäßen Funktion dieser so sinnvollen und verbreiteten elektromagnetischen Vernetzung und ihrer technischen Grundlagen sowohl in Friedens- wie auch (besonders) in Konfliktzeiten filr absichtliche, dann wahrscheinlich weitgehend verschleiert

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ausgeführte funktionsverändernde künstliche Eingriffe, aber auch nicht vermeidbare natürliche Störeinflüsse bleibt vielfach unbewußt. Unzureichende Kenntnisse in diesem Bereich können aber Fehleinschätzungen bezüglich u. a. Fähigkeiten, Verläßlichkeit und Vertrauenswürdigkeit solcher Systeme mit potentiell gravierenden - bis hin zu katastrophalen - Konsequenzen für die rasch wachsende Zahl interessierter Anwender und Anwendungen nach sich ziehen. Ziel der vorliegenden Darstellung ist es, Interesse für derartige Zusammenhänge zu wecken und zur Beschäftigung mit essentiellen Fragen weltraumgestützter Informationsübertragung, Navigation und Ortung für Sicherheitspolitik und Streitkräfte anzuregen.

111. Sicherheitspolitik und Streitkräfte Staaten benützen Sicherheitspolitik wie auch Streitkräfte als Instrumente zur Stabilisierung ihres Gemeinwesens und zur Wahrung beziehungsweise Durchsetzung ihrer Interessen in der Staatengemeinschaft. Global betrachtet treten Sicherheitspolitik und Streitkräfte von Staaten in unterschiedlichsten Ausprägungen in Erscheinung, die hier nicht weiter erörtert werden sollen. Vom Zwergstaat bis zur Supermacht gemeinsam bleibt zumindest eine ganz beträchtlich angewachsene Abhängigkeit weiter Lebensbereiche, insbesondere auch jene der Sicherheitspolitik und der Streitkräfte, von global wirksamen satellitengestützten Nachrichtenübertragungs-, Ortungs- und Navigationssystemen, z. B. globale Positionierungssysteme (GPS) für zivile und militärische Anwendungen. GPS-Dienste werden heute noch als kostenfreie Serviceleistungen fremder Setreiber (US-Streitkräfte: GPS, Russische Streitkräfte: GLONASS) außerhalb jeglichen Nutzereinflusses auf den laufenden Betrieb angeboten. Dies erfordert gründliche und illusionsfreie Überlegungen für eine gute Wahl des eigenen Grades an Abhängigkeit von diesem Angebot. Spätestens mit Aufnahme der praktischen Nutzung elektromagnetischer Informationsübertragungs-, Ortungs- und Navigationssysteme durch die Öffentlichkeit für Lenkungs- (VerkehrsflUsse) und Führungseinrichtungen (Autopiloten), aber auch Besteuerung (Road Pricing), besonders aber durch die Wirtschaft (z. B. automatisierte Güterlogistik, Einsatz von Servicekräften) sowie im Sicherheitsbereich (beispielsweise im Österreichischen Bundesheer), erheben sich gewichtige Fragen hinsichtlich der grundsätzlichen Vertraubarkeit, Verläßlichkeit, Verfilgbarkeit und Störanfälligkeit der jeweils zugrunde liegenden

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technischen Systeme und Verfahren sowie zu den mit diesen Einrichtungen gewonnenen oder vermittelten Informationen und Daten. Bedenkt man, daß sich Europa entschlossen hat, ein rein europäisches globales Satellitennavigationssystem einer zweiten Generation (GALlLEO) bis 2010 zu errichten und danach zu einem globalen Beobachtungssystem für Umwelt und Sicherheit weiterzuentwickeln, und, wie viele kostspielige Einzelentscheidungen hin in Richtung weiter erhöhter Abhängigkeit von ungestörten, ununterbrochenen sowie integeren Nachrichten- und Datenflüssen zwischen Erdoberfläche und Weltraum getroffen wurden und laufend weiterhin getroffen werden, dann wird die Bedeutung dieses Themas auch für die Sicherheitspolitik und Streitkräfte durchaus anschaulich.

IV. Rahmenbedingungen Ein grober Vergleich zwischen den USA, Europa und der übrigen Welt in puncto Mittelautbringung für z. 8. zivile und militärische Weltraumaktivitäten reiht die USA mit rund 76 % weltweitem Aufwendungsanteil weit vor Europa (14 %). Die ökonomischen Erwartungen an den Weltmarkt weltraumbasierter elektromagnetischer Nachrichtenübertragung, Ortung und Navigation für das Jahr 2002 sind trotz des frühen Entwicklungsstadiums dieser Branchen beachtlich: Satellitenkommunikation einschließlich abgeleiteter Dienstleistungen in nachgeordneten Märkten soll 60-100 Milliarden Euro, Satellitennavigationsempflinger und Ortungsdienste sollen 5-l 0 Milliarden Euro, Satellitenaufnahmen 0,5-2 Milliarden Euro und, zum Vergleich, kommerzielle Starts sollen 2 Milliarden Euro Umsatz 2002 weltweit erwirtschaften. Charakteristisch für die modernen Systeme weltraumgestützter lnformationsübertragung, Navigation und Ortung ist die Nutzung von ubiquitären, weitgehend eigentümerlosen und kaum bis gar nicht regulierten Ressourcen wie zum Beispiel die Erdatmosphäre und den freien Raum ·als Medium filr elektromagnetische SignaiUbertragung. Unzureichende Kenntnisse naturwissenschaftlicher Grundlagen in diesen Bereichen können zur nicht gerechtfertigten Annahme quasi naturgesetzlich garantierter und damit praktisch stets gegebener Systemintegrität verfUhren. Forschung und Entwicklung auf dem Sektor weltraumbasierter elektromagnetischer Nachrichtenübertragung, Ortung und Navigation sind empfmdlich vom beschränkten Fachleuteangebot abhängig. Orchestrierung nationaler und internationaler ziviler und militärischer Forschungs- und Entwicklungskapazitäten ist daher die unvermeidliche Strategie der Wahl einschlägiger Großprojekte.

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V. Technische Grundlagen Technische Grundlage elektromagnetischer Nachrichtenübertragung, Ortung und Navigation ist die gezielte Anwendung der Physik des Spektrums elektromagnetischer Strahlung. Militärisch genutzt davon werden der Radiowellenbereich fUr Kommunikationszwecke, heute technisch erweitert in Richtung Mikrowellen bis hin zu Lichtwellen ("Laserkommunikation"), der optische Bereich besonders fUr Aufklärungszwecke, und radiometrische Abstrahlungen vor allem fUr Signaturerkennung. Unter einem technischen Nachrichtensystem wird ganz allgemein ein nachrichtentechnisch gekoppelter Geräteverbund aus Sendegerät, Nachrichtenkanal ("Übertragungsmedium") und Empfangsgerät verstanden. Sendegeräte werden von Nachrichtenquellen, z. B. Sensoren, gespeist, Empfangsgeräte geben die via Nachrichtenkanal eingegangenen Nachrichten an sogenannte Nachrichtensenken, z. B. Auswertungseinheiten oder Effektoren, weiter. Sollen Nachrichtenflüsse wirksam unterbunden werden, muß zumindest ein Element der Nachrichtenkette völlig blockiert oder ausgeschaltet werden. In der Praxis moderner militärischer Konflikte kommen zu Erzielung nachhaltiger Blockadewirkungen oft Attacken auf mehr als ein Element der Nachrichtenkette vor. Sollen die technischen Einrichtungen eines technischen Nachrichtensystems aus Opportunitätsgründen trotz Blockadeauftrag intakt bleiben und auch Nachrichtenquelle und -senke nicht offen angegriffen werden können, dann bietet sich immer noch die Beherrschung des Nachrichtenkanals oder Übertragungsmediums als Mittel der Wahl an. Auf den ersten Blick betrachtet scheint dies kein günstiger Ansatz im Falle technischer Nachrichtensysteme zu sein, die den freien Raum oder die Atmosphäre als Nachrichtenkanal nutzen. Es ist jedoch möglich, selbst in solchen Fällen die elektromagnetische Kontrolle über die Ausbreitungsmedien Atmosphäre beziehungsweise den freien Raum zu übernehmen und damit diese Kommunikationskanäle zu dominieren, gleichzeitig aber auch unerwünschte fremde Nachrichtenkanäle besonders über das Medium Atmosphäre wirksam und willkürlich lange andauernd zu blockieren.

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VI. Physikalische Grundlagen Die Erdatmosphäre, ein Gasgern isch der (Trockenzustands-)Zusammensetzung von ca. 78 % Stickstoff, 21 % Sauerstoff, rund 1 % Edelgase und ca. 0,03% Kohlendioxid verbindet die Erdoberfläche mit dem freien Weltraum. Die unterste, neutralgasdominierte Atmosphärenschicht, Neutrosphäre genannt, reicht von der Erdoberfläche bis in ca. 50-60 km Höhe und umfaßt die wärmere und feuchtere Troposphäre (von der Erdoberfläche bis in ca. 10-15 km Höhe) und die kältere und trockenere Stratosphäre (von ca. 15-60 km Höhe). In der Neutrosphäre, vor allem in der Troposphäre, läuft das allgemein bekannte Wettergeschehen ab. Im Kontrast zur Neutrosphäre wird die von ionisiertem Gas dominierte Atmosphärenschicht Ionosphäre genannt. Sie erstreckt sich von ca. 60 km bis in 1000 (km) Höhe und fUhrt in folge Absorption der kurzwelligen Sonnenstrahlung zur Ionisation der dissoziierten Gasteilchen. Radiowellen mit Frequenzen im Kilohertz- (kHz) bis Megahertz- (MHz) Bereich werden stark von der Ionosphäre beeinflußt. Wegen der ftlr Radiowellen brechenden und reflektierenden Eigenschaften der Ionosphäre war es auch erst mit diesen, die sich wie alle elektromagnetischen Wellen geradlinig ausbreiten, möglich, die Erdkrümmung zu überwinden. Während ftlr EM-Wellen bis zu 40 MHz die Ionosphäre als Reflektor dient und Radiowellenausbreitung über den Horizont hinaus ermöglicht, können Radiowellen im 100 MHzbis GHz-Bereich diese nahezu ungehindert durchdringen. Die Variabilität der Ionosphäre beeinflußt EM-Wellenausbreitung im Radiofrequenzbereich aufgrund von Tages- und Jahresgang, Geomagnetismus, geographischer und geomagnetischer Breite, Sonnenaktivität und Magnetstürmen ("Weltraumwetter" = "Space Weather"). Für strategische Zwecke, also auch Anwendungen von Sicherheitspolitik und ftlr militärische Zwecke, finden in erster Linie Radiowellen im Mega- und Gigahertzbereich ftlr Nachrichtenübermittlung, Ortung und Navigation Verwendung. Je nach eingesetzter technischer Plattform können sich dominante Signalveränderungen zufolge Radiowellenausbreitung innerhalb oder durch die Atmosphäre hindurch ergeben. Trotz der relativ hohen Frequenzen (Gigahertz), die in satellitengestützten Systemen Verwendung finden, ist der Ionosphäreneinfluß jedoch nicht vernachlässigbar, falls, wie ftlr globale Positionierungssysteme (GPS) unabdingbar, gute Signalerfassung bzw. hohe Entfernungsresolution unbedingt erforderlich sind.

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Einen wesentlichen Beitrag zu den Fehlerquellen eines EM-Systems fiir Nachrichtenübertragung, Ortung und Navigation liefert stets das Ausbreitungsmedium - in den vorliegenden Anwendungen also die Ionosphäre. Sonneninduzierte Phänomene in der irdischen Hochatmosphäre und Magnetosphäre werden in Analogie zum Wettergeschehen in der Troposphäre, welches durch das sichtbare Licht und Wärmestrahlung verursacht wird, als "Weltraumwetter" (= "space weather") bezeichnet. Viele der globalen Variationen der Ionosphäre sind zum Teil modellierbar, wenn auch nicht immer vorhersagbar - und damit auch der Einfluß der Ionosphäre auf die Ausbreitung von Radiowellen. Bis heute wenig erforscht sind kleinräumige, sogenannte "mesoskalige" Veränderungen der Ionosphäre, die im regionalen Bereich, also fiir Schauplätze von einigen tausend Quadratkilometer Ausdehnung und damit in fiir Sicherheitspolitik und Streitkräfte besonders interessierenden Skalenbereichen, von Bedeutung sein können. "Lokale" oder "mesoskalige" Veränderungen sind in der Vergangenheit bereits berichtet worden, aber als nicht mehr als eine Kuriosität anerkannt worden. Dazu gehören Ionosphärenstörungen über großen Wirbelstürmen (Hurricanes) mit einer Ausdehnung von einigen hundert Kilometern, "Löcher" in der Ionosphäre durch brennende Raketen oder durch Ausstoß von Wasser, sowie Ionosphärenstörungen durch Nuklearbombenversuche am Boden.

VII. Strategische Anwendungen ionosphärischer Systeme 1 Von besonderem Interesse fiir Sicherheitspolitik und Streitkräfte in den Bereichen weltraumgestützter Informationsübertragung, Navigation und Ortung sind jene zur Zeit wohl hauptsächlich strategischen Anwendungen, welche willkürliche Modifikationen natürlicher ionosphärischer Atmosphärenzustände realisieren. Operative technisch-ionosphärische Systeme, die auf Eigenschaften der natürlichen Erdionosphäre aufbauen, bieten mit trans- und interkontinentalen

1 Vgl. dazu auch S. J. Bauer: Die Abhängigkeit der Nachrichtenübertragung, Ortung und Navigation von der Ionosphäre 1-86, Interner Projektbericht, ÖA W-BMLVKommission 2002; S. J. Bauer; A. Vogel: Strategische Aspekte elektromagnetischer Informationsübertragung, Navigation und Ortung, in: Wissenschaftskommission beim BMLV: Symposium, Die Rolle der Streitkräfte in einer Informationsgesellschaft, Tagungsbericht 2000, S. 52-76.

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Radiowellen-Nachrichtenverbindungen, radarbasierten (Fern-)Ortungssystemen und speziellen Iangreichweitigen (Funkfeuer-)Navigationshilfen bereits Jahrzehnte hindurch gewachsene Hilfe bei der Bewältigung zahlreicher und recht komplex gewordener Anforderungen der sich zunehmend globalisierenden Gesellschaft. Modernste Systeme, z. B. satellitengestUtzte GPS-Systeme, kommen wiederum weitgehend ohne Nutzung der Erdionosphäre aus, diese wird filr das angestrebte Ergebnis höchstens als störendes Hindernis betrachtet. Eine solche Betrachtungsweise bietet aber auch einen wichtigen gedanklichen Ansatzpunkt filr weiterfUhrende Überlegungen: Lassen sich möglicherweise gerade die bloß als Störquellen und Hindernis fiir unbeeinträchtigte transionosphärische Informationsübertragung angesehenen Ionosphäreneigenschaften dahingehend kUnstlieh verändern, daß daraus monopolisierbare, lokal oder gar global wirksame Ventilfunktionen filr die Nutzung einer ubiquitären Ressource - in diesem Fall der niemandem alleine, sondern der ganzen Welt gemeinsam gehörende natUrliehe Erdionosphäre entwickelbar wären? Läßt sich die Integrität komplexer technisch-ionosphärischer EM-Systeme von mißgünstigen Personen, Organisationen oder Staaten, also gleichsam "von außen", wirksam und nachhaltig derart beeinflussen, daß schließlich eine sinnvolle Systemnutzung be-oder verhindert werden kann? Betrachtet man die Integrität von komplexen EM Systemen, besonders aus der Sicht von Sicherheitspolitik und Streitkräften, kritisch, so ergeben sich als strategische Schwächen - abgesehen von Sabotageeingriffen von innen - besonders die Beeinflussungen von außen. Ein kompletter Ausfall eines technisch-ionosphärischen Systems wäre bei dem heute als eher unwahrscheinlich eingeschätzten Szenario des sogenannten elektromagnetischen Pulses (Eiectromagnetic Pulse = EMP) erzeugt durch Kernwaffen-Explosionen in der Ionosphäre, oder, als trivialer Fall, die Abschaltung durch den Betreiber, zu erwarten. Da letzteres aber auch die Verwendung durch den Setreiber selbst unmöglich macht, ist ein weitaus wahrscheinlicheres Szenario die Qualitätsverminderung von Signalen durch den Setreiber selbst jedoch unter Beibehaltung der Systemintegrität KUnstliehe lokale Störungen, möglichst als naturähnliche Störflille getarnt, sind gewiß eine Möglichkeit, gegen die allerdings auch Gegenmaßnahmen und zwar teils sehr kostspielige - unternommen werden können. Solche wären in einer ersten Phase gezielte Aufklärung unter Verwendung von unbemannten Fluggeräten (Unmanned Aerial Vehicles = UAV's) und an-

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schließenden Folgeschritten bis hin zu Abwehr oder Neutralisierung solcher Störungen. Strategische Anwendungen künstlicher lokaler ionosphärischer Störungen benötigen weitaus bessere mesoskalige räumliche und auch zeitliche Auflösung des ionosphärischen Gesamtzustandes (TEC, Turbulenz). Der Ionosphärenzustand ist jedoch auf dieser Skala, offenen wissenschaftlichen Quellen gemäß, noch kaum erforscht. Hinzu kommt, daß wahrscheinlich auch Kopplungen zwischen Wetterphänomenen in der untersten Atmosphäre, der Troposphäre, und der Variabilität der Hochatmosphäre auftreten können. Die kleinräumige Variabilität der Ionosphäre ist einerseits auch von besonderer Wichtigkeit fllr die Verwendung von GPS, andererseits erlaubt die gute Beobachtungsüberdeckung der Ionosphäre durch eine Vielzahl von GPSBodenstationen ("Beobachtungsnetz") auch eine kleinräumigere Abdeckung der Ionosphärenbeobachtung und Vermessung. Mit Hilfe des "Österreichischen GPS-Referenznetzes" wurde im Rahmen eines eben abgeschlossenen Forschungsprojektes die kleinräumige Variabilität der Ionosphäre untersucht. Ausgewählte Ergebnisse werden demnächst an anderer Stelle veröffentlicht werden. Es erweist sich, daß die räumliche Auflösung der Ionosphärenstruktur auf einer Skala von ca. 100 km x l 00 km in den Bereich des Möglichen gerückt ist. Eine weitaus wichtigere Qualitätsminderung durch den Setreiber selbst ist die beim GPS in der Vergangenheit durchgefllhrte "selektive Verfilgbarkeit" (selective availability = SA). Diese ermöglicht nur dem (GPS-)Betreiber selbst uneingeschränkte Systemqualität Nach Abschaltung der selektiven Verfilgbarkeit von GPS durch die USA in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 2000 beispielsweise fllhrte dies zu einer Verbesserung der GPS-Distanzpräzision um das Zehnfache. Waren zuvor horizontale Abweichungen bis ca. 100 Meter möglich, so verbesserten sich die Positionsangaben danach meist auf maximal 10 Meter horizontale Abweichung. Kenntnisse der natürlichen Feinstruktur der Ionosphäre ("lonosphärenwetter'') sind von besonderem Interesse im Hinblick auf die Tatsache, daß willkürliche Modifikationen der Ionosphäre auf dieser Skala bereits im Bereich des technologisch Möglichen liegen. Allgemein bekannt sind "Aufheizungsexperimente" der Ionosphäre (z.B. das ,,High-frequency Active Auroral Research Program" = HAARPIUSA), die gewiß Grundlagen fllr künstliche Ionosphärenmodifikationen vom Boden aus liefern.

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VIII. Praktische Anwendungen ionosphärischer Atmosphären-Modifikation rür Sicherheitspolitik und Streitkräfte Die gegenwärtig weltweit vennutlich fortgeschrittenste HAARPIonosphärenautheizanlage befindet sich in Alaska/USA. Ihre fokussierbare Hochfrequenz-Energieabstrahlung soll im 100 Gigawattbereich liegen. Ein europäisches Forschungsprojekt der Max-Pianck-GesellschafuDeutschland mit Partnern in Troms0/Norwegen soll eine unfokussierte lonosphärenautheizanlagen-Abstrahlungsleistung von knapp über einem Gigawatt erreichen. Die Verwendung von Hochleistungs-Mikrowellensendern amBoden gestattet z. B. die Erzeugung von "künstlichen lonosphärenspiegeln" (Artificial /onospheric Mirrors = AIM's) auch weit unterhalb der natürlichen Ionosphäre, beispielsweise in etwa 30-70 km Höhe, im Wege stehender Mikrowelleninterferenzfelder. Mit künstlichen ionosphärischen Spiegeln (AIM's) ist es analog zur bisher bereits derart genutzten natürlichen Ionosphäre möglich, nonnalerweise auf geradlinige Wellenausbreitung beschränkte Radaranlagen willkürlich über den Horizont hinaus ("over the horizon-", OTH-Radar) zu erweitern. Für strategische Szenarien können mit Hilfe von künstlichen ionosphärischen Spiegeln (also "künstlichen lonosphärenwolken") auch spezifische, nur dem Setreiber bekannte und bei Bedarf von beispielsweise Satellitenverbindungen völlig unabhängige OTH-Radio-Kommunikationskanäle eingerichtet werden. Diese können sowohl zeitlich wie auch in ihrer räumlichen Ausbreitungswegftlhrung, zusätzlich aber auch frequenz- und codierungsmäßig willkürlich vorgehbar und variabel unter gleichzeitiger Ausschaltung von Freiraumverbindungen anderer Interessenträger gestaltet werden und z. B. von einer Bodenstation zu einer anderen Boden- bzw. Empfangsstation gezielt eingerichtet und betrieben werden. Die elektromagnetische Beherrschung ubiquitärer, eigentümerloser Ausbreitungsmedien wie Atmosphäre und freier Raum (in Analogie aber auch Ozeane und Erdmantel!) ftlr Mikro- und Radiowellenausbreitung, d. h. besonders der Ionosphäre und der elektromagnetischen Atmosphäreneigenschaften, kann daher gewiß von größter strategischer Bedeutung und von entscheidendem Vorteil sein.

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IX. Bedeutung f"ür Sicherheitspolitik und Streitkräfte Österreichs Friedrich Korkisch hat in einem jüngst erschienenen Buchbeitrag2 in kompakter Form Geschichte, aktuelle Situation und "Wie weiter?" zum Thema Österreichische Sicherheitspolitik - Neue Aufgaben für die militärische Landesverteidigung beschrieben und im Kapitel Die neuen Bedrohungen und das neue Bundesheer eine nachdenklich stimmende Liste dringender Beschaffungsvorhaben und Maßnahmen vorgelegt. Vor dem Hintergrund fortdauernder finanzieller Enge des Österreichischen Verteidigungshaushaltes fUhrt F. Korkisch weiters aus: "Große zukünftige Beschaffungsvorhaben ..... werden nur noch unter dem Aspekt internationaler Einsätze zu beurteilen sein." Verschärfend zu diesen Feststellungen von F. Korkisch kommt hinzu, daß Österreich als Vollmitglied der Europäischen Union (EU) und der Europäischen Weltraumbehörde (ESA) neben Beschaffungsfragen auch national bislang vollkommen unbeachtet gebliebene sicherheitspolitische und streitkräfterelevante Aspekte wie eben jene zum Fragenkreis weltraumgestützter Informationsübertragung, Navigation und Ortung fortan mitbedenken und in Zukunft wohl auch finanziell mitbedecken müssen wird. Österreich ist schließlich finanziell, forschungsmäßig wie auch industriell am europäischen Gemeinschafts-Satellitenprogramm GALILEO beteiligt. Zumindest der Aspekt internationaler Einsätze trifft auch fiir Österreichische Überlegungen zum Fragenkreis weltraumgestützter Informationsübertragung, Navigation und Ortung zu. Sollen zu diesem Themenkomplex sinnvolle Sichtweisen in einer breiteren Öffentlichkeit heute und in Zukunft Platz greifen können, dann bedarf es bereits heute eines entsprechenden Ausbildungsangebotes sowie einer systematischen Wissenspflege der Öffentlichkeit durch ein auch im naturwissenschaftlichen Bereich stark engagiertes Aus- und Weiterbildungssystem ftlr alle.

X. Zusammenfassung Der Hertz'sche Radiowellen-Existenznachweis vor 116 Jahren und in Folge weiterentwickelte Geräte zur elektromagnetischen Informationsübertragung, Ortung und Navigation haben die Menschen in Friedens- wie auch Konfliktzeiten seither zutiefst und dauerhaft beeinflußt. Eine gesellschaftliche Neubewertung der Dimensionen Information, Raum und Zeit war die Folge. Neue, 2 F. Kork.isch: Die Österreichische Sicherheitspolitik- Neue Aufgabe filr die militärische Landesverteidigung, in: Payrleitner, A. (Hrsg.): Die Fesseln der Republik, Wien 2002, s. 151-170.

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vorher nicht gekannte Abhängigkeiten im SozialgefUge und von moderner Technik kamen auf, aber auch nicht vorausgeahnte Gestaltungsmöglichkeiten menschlichen Zusammenlebens haben sich neu eröffnet. Globale Vernetzung entlang der Erdoberfläche, meist ortsfest eingerichtete materielle (Draht) oder rein energetische (Funk) EM-Nachrichtenkanäle, Navigations- und Ortungssysteme prägten die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Danach bot die Eroberung der dritten Raumdimension hinauf bis in den erdnahen Weltraum qualitativ und quantitativ neue Möglichkeiten an Flexibilität und Überblick. Zwei Großkonflikte, zahlreiche· weitere und ein jahrzehntelanger globaler Dauerspannungszustand haben im zwanzigsten Jahrhundert geradezu fieberhafte Entwicklungsanstrengungen im Bereich EM-Informationsübertragung, Navigation und Ortung begünstigt, deren Resultate offenbar eben erneut einen breitgreifenden gesellschaftlichen Veränderungsschub anstoßen. Selbst in der Kunst der kollektiven Konfliktaustragung verschieben sich Werte, Gewichtungen und Investitionen weg von materiellen immer stärker hin zu immateriellen und rein energetischen Komponenten. Dabei entstehen neue, mächtige Werkzeuge und Wissen über sehr effektive Möglichkeiten willkürlicher Modifikation materieller Grundlagen. Ziele wie höchstmögliche Beeinflussungs- oder Wirkungsgrade, weitestgehend intentionale Prozeßsteuerung und Kontrolle sowie willkürliche Beherrschung von Regelungen und Abläufen werden erreicht. Streitkräfte in einer modernen Informationsgesellschaft sollen durch laufende, nüchterne, allen Entwicklungen gegenüber offene Beobachtung, Analyse und Deduktion Schlüsselflihigkeiten und -fertigkeiten erkennen, entwickeln, aufwuchsflihig beherrschen und einsetzbar halten, um ein höchstmögliches Ausmaß an Überleben von Schutzbefohlenen zu ermöglichen. Weltraumgestützte Infonnationsübertragung, Navigation und Ortung werden hieftlr und fiir die konkrete Ausgestaltung künftiger Sicherheitspolitik und Streitkräfte Schlüsselflihigkeiten bilden.

Literatur Bauer, S. J.: Die Abhängigkeit der Nachrichtenübertragung, Ortung und Navigation von der Ionosphäre 1-86, Interner Projektbericht, ÖAW-BMLV-Kommission 2002. Bauer, S. 1./Vogel, A.: Strategische Aspekte elektromagnetischer lnformationsübertragung, Navigation und Ortung, in: Wissenschaftskommission beim BMLV: Symposi-

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um, Die Rolle der Streitkräfte in einer Informationsgesellschaft, Tagungsbericht 2000, S. 52-76. Korkisch, F.: Die Österreichische Sicherheitspolitik-NeueAufgabe filr die militärische Landesverteidigung, in: Payrleitner, A. (Hrsg.): Die Fesseln der Republik, Wien 2002, s. 151-170.

Siebter Teil

Politik und Gesellschaft

Politik und Gesellschaft Von JosefRatzenböck Die Entwicklung der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten ist gekennzeichnet durch zunehmende Komplexität und Differenzierung, durch einen beschleunigten Wandel, der sich der Steuerung bis zu einem gewissen Grad entzieht: und damit wird auch Politik komplizierter bzw. die Anforderungen, die an sie herangetragen werden, vielschichtiger. Eine zunehmend "individualisierte" Gesellschaft macht es ftlr die Politik immer schwieriger, Integrations- und Stabilisationsfunktionen einerseits, aber auch Gestaltungs- und Korrekturfunktionen andererseits wahrzunehmen. Um sich diesen Herausforderungen zu stellen, bedarf zukunftsorientierte und menschennahe Politik neben der vielzitierten BUrgernähe eines spezifischen Informations- und Kommunikationssystems, das es ermöglicht, nicht nur manifeste, sondern auch latente Fragestellungen zu erkennen, Trends zu deuten, neue Probleme und Problemgruppen zu identifizieren. Grundlage daftlr kann ein laufender Dialog zwischen Wissenschaft und Politik sein - eine Kooperation, in deren Rahmen nicht Theorie und Praxis oder "objektives Wissen" und "subjektive Ideologie" aufeinanderprallen, sondern ein gemeinsames Suchen nach Zielen und Wegen stattfindet. Als vor 36 Jahren die Linzer Hochschule, heute Johannes Kepler Universität, ihren Lehr- und Forschungsbetrieb aufnahm, war der Grundstein ftlr eine solche Kooperation längst gelegt: das Land Oberösterreich hat sich Uber Jahrzehnte um eine "Landesuniversität'' bemUht und sie geilirdert, und ftlhlt sich dazu auch nach wie vor verpflichtet. Und die Universität stellt ftlr Oberösterreich nicht nur eine akademische Bildungsstätte oder Kaderschmiede ftlr FUhrungskräfte dar, sondern auch einen Ideenpool im Hinblick auf die soziale, wirtschaftliche und technische Entwicklung in unserem Land - abgesehen von vielen gut ausgebildeten "Botschaftern", die als Absolventen unserer Landesuniversität in alle Welt gehen.

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Josef Ratzenböck

Oberösterreich ist bekannt fiir sein "spezifisches Klima" - in der Politik, aber auch zwischen der Politik und ihren Partnern. Partnerschaft mit einer Institution wie einer Universität kann man nun zwar rechtlich, vertraglich, finanziell regeln, aber zur effizienten Umsetzung, zu einem funktionierenden Wissenschaftstransfer gehören Personen, die diesen Prozess tragen, die bereit sind zum Dialog: Politker, die Fragen stellen und Wissenschafter, die Fragen beantworten; Politiker, die Antworten aufnehmen und Wissenschafter, die auch die Umsetzung begleiten. Für unser Bundesland ist nicht nur das "oberösterreichische Klima" kennzeichnend, sondern auch die Tatsache, dass es über seine Grenzen hinaus als ein "Land der sozialen Wärme" bekannt ist. Dazu hat vieles beigetragen - und ein wesentlicher Beitrag kann hier auch "personifiziert" werden: der Soziologe Klaus Zapotoczky kann- mit seinem über drei Jahrzehnte dauernden Wirken an der Linzer Universität - als soziales Gewissen unseres Landes bezeichnet werden. Er hat es verstanden, unseren Blick sowohl nach innen wie nach Außen zu schärfen und damit wesentlichen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen. In der Außensicht war es die Entwicklungspolitik, als deren Pionier er in Wissenschaft und Praxis und durch persönliches Engagement unser Augenmerk auf unterprivilegierte Teile der Welt gelenkt hat- und zwar schon zu einer Zeit, als das weder populär, noch durch ein Phänomen wie die Globalisierung unabdingbar war. In der Innensicht war es der einzelne Mensch in besonderen Problemsituationen, vor allem im Konnex Krankheit und Gesundheit. Die Initiativen Zapotoczkys haben nicht nur die Pflege- und Gesundheitsforschung an unserer Universität etabliert, sondern deren wesentliche Erkenntnisse auch in der Praxis -etwa in einschlägigen Universitätslehrgängen fiir Mitarbeiter im Gesundheitswesen- implementiert. Dazwischen liegen zahllose Forschungsarbeiten zu sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Fragen - und als Bindeglied zwischen Innen- und Außensicht die Auseinandersetzung mit den zentralen Werten, den religiös-weltanschaulichen und ethisch-politischen Grundpfeilern unserer Gesellschaft und Demokratie. Der Beitrag Zapotoczkys zum Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis bzw. Politik ist ein vielschichtiger - er wird nicht zuletzt dadurch verstärkt, dass es ihm gelingt, zahllose Studierende und Absolventen in diesen Dialog zu integrieren. Nicht wenige hat er aus dem Elfenbeinturm der Universität hinausgefUhrt in afrikanische Townships, an die Basis ebenso wie in die Managernentetagen von Non-Profit-Organisationen im Sozial- und Gesundheitsbereich,

Politik und Gesellschaft

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und manche seiner Schüler sind an Schaltstellen von Politik, Wirtschaft, Interessenvertretung und Verwaltung gelandet. Etliche auf einem "Umweg" über wissenschaftliche Qualifikation nicht nur im In-, sondern auch im Ausland, ihm Rahmen seiner zahlreichen Kontakte zu europäischen und außereuropäischen Universitätseinrichtungen. Die Universität in der Provinz lief dank dieser internationalen Ein- und Anbindungen nie Gefahr, zur provinziellen Hochschule zu verkommen; und auch der Politik war es damit möglich, einerseits die Probleme des Landes im internationalen und interdisziplinären Kontext zu sehen, andererseits aber auch Werte wie weltweite Solidarität nicht nur als Schlagwort, sondern in Form konkreter Projekte zu begreifen. Solidarität ist aber auch ein Grundprinzip filr die Gestaltung des Gemeinwesens, eine immer und heute mehr denn je gefllhrdete gesellschaftliche und politische Maxime. Unsere nicht zu Unrecht so bezeichnete "Risikogesellschaft" bedarf der wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit den persönlichen Bedürfnissen der Menschen - insbesondere in Problemsituationen. Und die Problemlösung erfordert eine partizipative Interpretation von Politik im Sinne der Einbindung von Betroffenen. Reflektierte und engagierte Sozialwissenschaft kann Werte aufzeigen, Strukturen schaffen und Funktionen vorzeichnen, die Wege zu einer solidarischen (Welt-)Gesellschaft eröffnen. Klaus Zapotoczky ist in diesem Sinne ein Wegbereiter.

Ehrenamt in Oberösterreich Von JosefPühringer Oberösterreich ist kein Land des kalten Egoismus, ganz im Gegenteil. Das spürt, wer durchs Land fährt, mit den Menschen spricht und das vielfältige ehrenamtliche Engagement sieht. Oberösterreich ist ein Land der sozialen Wärme, in dem sich die Menschen gut aufgehoben und daher wohl fühlen. Was leider oft spöttisch - aber völlig zu Unrecht - mit "Vereinsmeierei" umschrieben wird, ist ein in die juristische Form von Vereinen gegossenes hohes Maß an Ehrenamtlichkeit. Eine Österreich weite Erhebung hat ergeben, dass es in Oberösterreich 9,9 Vereine pro tausend Einwohner gibt. Eine beachtliche Zahl, die auch die Dichtheit des sozialen Netzwerks in unserem Land aufzeigt. Oberösterreich hat eine jahrzehntelang gewachsene Kultur der Ehrenamtlichkeit. Darüber, welch enorme Leistung eigentlich dahinter steckt, gab es aber immer nur Vermutungen. Erst einer Studie des Linzer Sozialwissenschafters o.Univ.-Prof. Dr. Klaus Zapotoczky am Institut für Pflege- und Gesundheitssystemforschung (IPG) der Johannes Kepler Universität ist es gelungen, das enorme ehrenamtliche Engagement in Oberösterreich und die gesellschaftliche Bedeutung des Ehrenamts in Zahlen zu fassen und damit begreitbar zu machen. Diese Studie, die das Land Oberösterreich 1996 in Auftrag gegeben hat, kam zu folgenden Ergebnissen: 230.000 Frauen und Männer, also immerhin jeder ftlnfte Oberösterreicher, sind bereit, sich in ihrer Freizeit und ohne Bezahlung für die Allgemeinheit zu engagieren. Sie leisten zusammen insgesamt 41 Millionen freiwillige Arbeitsstunden pro Jahr. Das bedeutet für den Einzelnen mehr als 180 Stunden an Engagement. Müssten diese ehrenamtlich Tätigen entlohnt werden, dann würde das mehr als € 600 Millionen (öS 8,2 Milliarden) kosten - eine Summe, die niemand aufwenden könnte, auch die öffentliche Hand nicht. Zum Vergleich: Das gesamte Budget des Landes Oberösterreich beträgt rund € 3,6 Milliarden. Das heißt, dass die Leistung der Ehrenamtlichen in Oberösterreich bereits zum Zeitpunkt der Erstellung der Studie immerhin ein Sechstel des Landesbudgets ausgemacht hätte.

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Josef Pühringer

In einer zweiten Auftragsarbeit des Landes im Jahr 1997 ("Jugendliche und Ehrenamt in Oberösterreich") untersuchte Prof. Zapotoczky einen speziellen Teilbereich von Ehrenamtlichkeit. Ein erfreuliches Detail aus dieser Arbeit: Ein Fünftel der 14- bis 24-jährigen in Oberösterreich wären für gesellschaftliches Engagement aktivierbar. Sie erwarten sich insbesondere Kompetenzgewinn, Entfaltungsmöglichkeit, Herausforderung und Gemeinschaftserlebnis. Wesentlich ist für sie auch die Wichtigkeit der Aufgabe. 65 % der Jugendlichen in unserem Land waren zum Untersuchungszeitpunkt bereits Mitglied eines Vereines. Die Politik kann und muss das Ehrenamt ganz wesentlich unterstützen. Zum einen durch geeignete Rahmenbedingungen - ich nenne nur die Gründung einer Vereinsakademie in Oberösterreich -, zum anderen durch das "Ins-richtigeLicht-Rücken". Denn Leistung, die im Verborgenen blüht, wird nicht wahrgenommen. Engagement, das öffentlich gewürdigt wird, steigt auch im gesellschaftlichen Ansehen. Das hat das Land Oberösterreich auch dazu bewogen, 1996 die Initiative "Ja zum Ehrenamt" ins Leben zu rufen. Prof. Klaus Zapotocky hat mit seiner wissenschaftlichen Arbeit eine wertvolle Grundlage dafür geschaffen, das Ehrenamt in all seiner Vielfalt darzustellen und die Leistungen der Ehrenamtlichen auch entsprechend hervor heben zu können. Andere Bundesländer wie Salzburg oder Vorartberg haben sich in den letzten Jahren Oberösterreichische Initiative zum Vorbild genommen und ebenfalls auf die wertvo Iien Ergebnisse des Linzer Soziologen zurück gegriffen. In Oberösterreich folgte auf das Jahr des Ehrenamtes eine große Informationskampagne mit dem Titel "Freiwillig helfen", in deren Rahmen das Rote Kreuz, der Samariterbund, die Freiwilligen Feuerwehren, der Bergrettungsdienst, die Wasserrettung und der Zivilschutzverband einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Mit dieser Initiative sollte bewusst gemacht werden, dass die Leistungen all dieser Organisationen nicht selbstverständlich sind, sondern erst durch den unentgeltlichen, freiwilligen Einsatz zahlreicher Oberösterreicherinnen und Oberösterreicher möglich werden. Die Menschen sind jedenfalls zu einem Großteil nach wie vor bereit, am Schicksal anderer Anteil zu nehmen und sich fllr ihre Mitmenschen zu engagieren. Zuletzt wurde in Oberösterreich im Jahr 2001 die Kampagne "Helfen macht Freu(n)de" durchgefllhrt, die sich speziell an junge Menschen gewandt hat, freiwilliges Helfen als Chance zu begreifen, sich fachlich und auch als Persönlichkeit weiter zu entwickeln, sich zu entfalten, als wichtiges Gegenstück zur zunehmenden Individualisierung in der Konsum- und Freizeitgesellschaft. Die im Oberösterreichischen Landessicherheitsrat vertretenen Organisationen Freiwillige Feuerwehr, Rotes Kreuz, Samariterbund, Wasser-Rettung und Bergret-

Ehrenamt in Oberösterreich

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tung sind dabei mit konkreten Angeboten an Jugendliche heran getreten. Auch hier war wie so oft eine Arbeit von Prof. Klaus Zapotoczky lmpulsgeber. Weitere Initiativen filr eine stärkere gesellschaftliche Anerkennung der Ehrenamtlichkeit werden folgen. Für die Politik in Oberösterreich waren und sind die Ergebnisse der sozialwissenschaftliehen Arbeiten von Prof. Klaus Zapotoczky gerade zum Themenkomplex Ehrenamt Bestätigung des Auftrages, noch stärker auf die Vereine und die vielen ehrenamtlich Engagierten zu setzen, im Sinne einer Gesellschaft, in der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung einerseits und soziales und bürgerschaftliches Engagement andererseits miteinander verbunden werden müssen. Prof. Klaus Zapotoczky versteht es nicht nur, den Studierenden der Johannes Kepler Universität die komplexen Zusammenhänge und Herausforderungen einer globalisierten Welt anschaulich zu vermitteln, er ist auch ein wesentlicher Motor des notwendigen Dialoges zwischen Politik, Wissenschaft und Gesellschaft, aus dem sich viel Positives filr unser Land und seine Menschen entwickelt hat und auch in Zukunft entwickeln kann.

Wieviel Entstaatlichung verträgt diese Gesellschaft? Von Gunther TrUbswasser Publikationen, Diskussionsbeiträge und Streitschriften zu den Themen "Oeregulierung" oder "Rückzug des Staates aus der Gesellschaft" fiillen seit Beginn der neunziger Jahre einstweilen Bibliotheken. Die Bedürfnisse an Thesen und Antithesen scheinen gedeckt, die Argumente längst ausgetauscht. "Weniger Staat, mehr privat" wurde zur Zauberformel, die selbst dem uninformiertesten StaatsbUrger so einleuchtend erschien, dass sie sich längst zur schlichten Headline in der Wahlwerbung von Parteien eignete. Und welcher Irrtum wäre es, würde man die Forderung nach Reduzierung der staatlichen Verantwortlichkeit nur in liberal-konservativen Parteiprogrammen vermuten. Längst haben links-liberale oder sozialdemokratische Regierungen begonnen, den Staat "schlanker" zu machen oder das Entstaatlichungsprogramm vorangegangener Regierungen fortzusetzen. Landauf, landab finden sich die gleichen Argumente fllr einen weiteren RUckzug des Staates, als wäre es ein folgerichtiges Naturgesetz und ebenso die wiederkehrenden Warnungen vor fatalen sozialpolitischen Irrungen. Der Richtungsstreit unter Befllrwortern und Gegnern des Entstaatlichungsprozesses - manche nennen ihn bereits "Deregulierungsexzess" - wird nie entschieden werden, weil keine Seite den Wahrheitsbeweis zu erbringen im Stand ist. Je nach Sichtweise, ob Gewinner oder Verlierer dieses Prozesses, wird es immer mehrere Erfolgs- oder Misserfolgsbeweise geben. Es macht wenig Sinn, sich in die Reihen der BefUrworter oder Gegner einzuordnen und weitere Beweise ftlr die Richtigkeit seiner eigenen Anschauung liefern zu wollen. Interessanter scheint es, den Prozess selbst von einer humanistisch-demokratischen Grundhaltung aus zu beobachten und unter Beachtung der (gemeinhin) anerkannten Grundrechte jedes und jeder Einzelnen zu kommentieren. Statt eines Entweder-oder mag ein Sowohl-als-auch der bessere Weg sein. Die Zeit der ,,reinen Theorien", der puristisch verwirklichten Ideologien sollte nach den Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts vorbei sein. Alles ist möglich, scheint die Devise zu sein.

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Gunther TrUbswasser

Und dennoch, die Wirklichkeit einer in Mode geratenen Praxis gehorcht anderen Gesetzen. Wer sich dagegen stellt, gibt sich leicht der Lächerlichkeit preis. Das bedeutet, dass das Durchsetzungspotential politischer Ideen wie die der Entstaatlichung nicht von Umstürzen und Revolutionen herrührt, sondern "gewaltfrei" die Strahlkraft aller Moden besitzt. Nichts belegt diese These deutlicher, als die über alle Zweifel erfolgreiche Deregulierungswoge samt ihren scheinbar chancenlosen Kritikern, die sich als ewig Gestrige wiederfinden.

I. Bewusste Unschärfe? Die Beurteilung, ob Deregulierung sinnvoll, unsinnig oder sogar negativ ist und wie die politische Diskussion um eine Maßnahme gefilhrt wird, ob es sich um einen Rückstufungsprozess von überschießenden gesetzlichen Regelungen handelt oder bloß um ein modisches Politspektakel oder gar um einen "Exzess", mögen daher Beobachtungen der Auseinandersetzungen und Analysen von Fall zu Fall erbringen. Beispiele sollen verdeutlichen, wie sehr die Diskussion um Entstaatlichung von modischen Begriffen geprägt ist, wie unscharf sie sind, wie sie kaum erklärt werden, aber immer etwas Positives suggerieren wollen. Kurt W. Rothschild hat bereits 1990 über den Begriff "Deregulierung" (in der Wirtschaft) polemisiert: "Mein Thema ist also ,Deregulierung', ein bekanntes und griffiges Schlagwort unserer Tage. Gestatten Sie mir einen etwas polemischen Einstieg. Können Sie sich ein Symposium oder ein Buch mit dem Thema oder gar mit der Forderung ,Deregulierung des Verkehrs' oder etwa ,Temperaturderegulierung' vorstellen? Wohl schwerlich. ,Regulierung des Verkehrs' oder ,Temperaturregulierung' hingegen ,macht Sinn', wie man heute so unschön sagt. ,Deregulierung der Wirtschaft' ist hingegen ein höchst seriöses Thema der ökonomischen Theorie und Praxis geworden." Rothschild vermeinte in einem Reglement filr bestimmte Bereiche noch keine Richtung erkennen zu können. Über das Wie sage das Vorhandensein eines Reglements noch nichts aus. Jede staatliche Intervention die Wirtschaft betreffend, so erkannte er, sei eine Form der Regulierung. Über Regulierungsvorschläge, die Art und das Ausmaß der Interventionen könne man unterschiedlicher Meinung sein. Aber die Regulierung selbst sei ein anerkannter und verständlicher Begriff. Und er stellte daher die auf der Hand liegende Frage: ., Was kann und soll dann Deregu/ierung als spezieller, zusätzlicher Terminus bedeuten? " 1 1 Zitat aus "Deregulierung - Anatomie eines Schlagworts", Univ. Prof. Dr. Kurt W. Rothschild, Walter Adolf Jöhr-Vorlesung an der Universität St. Gallen 1990.

Wieviel Entstaatlichung verträgt diese Gesellschaft?

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Die Suggestion, dass unscharfe Begriffe zwar nicht genau verstanden und erklärt sein müssen, aber von der Allgemeinheit dennoch emotional durchaus positiv interpretiert werden können und sich damit in die Werbelinie einer politischen Partei einbauen lassen, zeigt die Website der FPÖ vom Sommer 2002. Da heißt es unter dem Titel "Verwaltungsreform- 2. Reformdialog/Österreich- ein leistungsfiihiger Staat": "Regierungsprogramm- Leitlinien -umgesetzt: •

Verstärkte Bürgerorientierung, Beschleunigung der Verfahren



Konzentration staatlicher Leistungen auf Kernfunktionen



Deregulierung



Optimierung der Aufgabenverteilung, Abbau von Doppelgleisigkeiten, Nutzung von Synergien



Senkung der Verwaltungskosten

Einsparungen: Summe: 21 ,21 Milliarden Schilling. " 2

Abgesehen von der "Nutzung von Synergien" oder der "Optimierung der Aufgabenverteilungen", die zu jeder Zeit begrüßenswert und zweckmäßig erscheinen, bleibt die Auflistung der "umgesetzten" Leitlinien aus dem Regierungsprogramm, also die Liste der Erfolge jede Erläuterung schuldig: Was sind staatliche Kernfunktionen? Ist die Beschleunigung von Verfahren immer und in jedem Fall gut? Was bedeutet Bürgerorientierung? usw. Lässt sich der "Gewinn" nur monetär beziffern? "Der Staat" wird gerne im populistischen Sprachgebrauch als Wesen oder Organisation dargestellt, das außerhalb der Gesellschaft ein Eigenleben ftlhrt, die Menschen in der Gesellschaft bevormundet, ja sogar entmündigt, teuer ist und ineffizent wirtschaftet. So, als gäbe es kein demokratisches Staatswesen und keine Entscheidungs- und Kontrollkompetenz bei Bürgerinnen und Bürgern, Wählerinnen und Wählern. Der Staat solle sich auf die "Kernkompetenzen" beschränken und mich geflilligst in meinem Tun und Treiben unbehelligt Jassen, vermeint man zu vernehmen. "Deregulierung" wurde und wird von den Beftlrwortern mit einem vollkommenen "Jaissez faire" oder "absoluter Freiheit" gleichgesetzt, und "Rückzug des Staates" gilt gemeinhin als Synonym für "Reduzierung des Einflusses eines undefinierten, schwerfälligen und bevormundenden Wesens".

2

http://www.fpoe.at.

432

Gunther Trubswasser

In diesem Zusammenhang flillt einem unwillkürlich der Ausspruch von Rosa Luxemburg ein, die sinngemäß meinte, Freiheit bedeute immer die Freiheit des jeweils anderen (anders Denkenden) und damit ende das eigene Recht auf Freiheit beim Recht auf Freiheit der anderen.

II. Zauberwort "Deregulierung" Ein sehr anschauliches Beispiel bietet hierzu das Oö. Bautechnikgesetz, dessen Novelle 1998 unter dem Generalmotto "Deregulierung" stand. Von den Beftlrwortem der Entstaatlichung bis heute als großer Wurf gefeiert: "Neue Oö. Bauordnung: Ein Entbürokratisierungsschub Mit der vor drei Jahren in Kraft getretenen neuen Oö. Bauordnung wurde ein gewaltiger Entbürokratisierungsschub aufgelöst. Mehr als 30.000 Verhandlungstermine konnten bereits eingespart werden. Insgesamt wurden Einsparungen von bislang 21,8 Mio. Euro erzielt. Unser Bundesland verfilgt damit über die modernste Bauordnung in Österreich. Die neue Oö. Bauordnung brachte eine deutliche Reduzierung der Bauvorschriften und eine wesentliche Verkürzung der Verfahren. Die Eigenverantwortung filr Bauherrn, Planer und Baufilhrer wurde gestärkt, der Bauberatungsscheck garantiert eine intensive Beratung im Vorfeld. Dadurch wurden im Jahr 2001 nur mehr 14% der Verfahren als herkömmliche Baubewilligungsverfahren mit Bauverhandlung abgewickelt. 4 7 % wurden im vereinfachten Bewilligungsverfahren unter Wegfall der Bauverhandlung bei Einwendungsverzicht der Nachbarn erledigt." Und weiter: "Oberösterreich hat mit dieser Bauordnung völlig neue Maßstäbe gesetzt und zahlreiche Paragraphen und rigorose Kontrollen aus der Welt geschafft."3

Nicht reflektiert wurde in der Beurteilung der Entstaatlichung der Oö. Bauordnung, dass viele Anrainer in ihren Nachbarschaftsrechten eingeschränkt wurden, weil sie vielfach keine Parteienstellung mehr hatten oder bereits im Zuge des "Einwendungsverzichts" ihre Zustimmung zu einem Bauvorhaben gaben. Dies bedeutet allerdings in der Praxis nicht selten, dass Anrainer unter gesellschaftlichen Druck geraten, a priori einem Bauvorhaben ihre Zustimmung zu erteilen, um nicht als böse, querulante Nachbarn dazustehen.

3 Offizielle Website der Oö. Landesregierung, "www.besserschneller.at'', Sommer 2002.

Wieviel Entstaatlichung verträgt diese Gesellschaft?

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111. Fabelwesen ,,PPP" Dramatisch eingeschränkt sind die Anrainerrechte im Baurecht nach Ansicht vieler besonders dann, wenn Bauvorhaben wie Lärmschutzwände oder Mobilfunkantennen gänzlich aus der Regulierung durch die Bauordnung herausfielen. Hier kam und kommt es immer wieder zu Konflikten, in denen sich Anrainer um ihre Rechte betrogen fühlen. In geradezu klassischer Weise scheint ein Übermaß an Freiheit des Bauwerbers die Rechte der Anrainer einzuschränken: Entstaatlichung um den Preis verlorener Nachbarrechte? Privatisierungen von Dienstleistungen etwa bei Bahn und Post haben in Österreich lange vor der Mitte-Rechts-Koalition im Jahr 2000 begonnen und New-Labour bekennt sich in Großbritannien offen zur "Entstaatlichung" selbst im sozialen Sektor. Öffentlich-private Partnerschaften oder "PPP'' - Public Private Partnerships sind gängige Modelle ftlr Flugsicherungen, Bahnunternehmen, kommunale Versorgung, Arbeitsmarktverwaltung, Security Forces und vieles Anderes mehr. Beispiele gibt es von überall und von Regierungen aller gesellschaftlichen Richtungen. Wie vielschichtig, auf welchen unterschiedlichen Ebenen und mit welchen Zielen Entstaatlichungen heute stattfinden, beschreibt der Liberale Ralf Dahrendorf in seinem zu einem Stoßseufzer geratenen Beitrag "Die listigen Zentralisierer'': "Jüngst hat Brown (Großbritanniens Finanzminister Gordon Brown, Anm.) das PPPPrinzip so ausgedehnt, dass es auch einen freiwilligen oder karitativen Sektor umfasst. Ein Beschäftigungsprograrnm, mit dem Iangzeitarbeitslose Jugendliche in die Arbeitswelt integriert werden sollen, schließt den Einsatz von Freiwilligenorganisationen ein. In Großbritanniens staatlichem Gesundheitsdienst sind mittlerweile mehrere Hunderttausend Freiwillige in PVPs (Public Voluntary Partnerships) beschäftigt. Solche Entwicklungen sind nicht auf Großbritannien beschränkt; sie finden sich überall. Aber wie kann all das funktionieren? Es klingt, als wäre schwarze Magie im Spiel, wenn PPPs gegründet werden und plötzlich alles billiger und besser ist. Und wie bei der schwarzen Magie kann man sich der Sache nicht ganz sicher sein. Zwei Risiken fallen ins Auge. Zum einen könnten die vom Staat ,garantierten' Dienstleistungen dann doch mehr kosten als eitle Versprechungen von Ministern. Was ist, wenn die Partner- privat oder gemeinnützig- zusammenbrechen? Was in Großbritannien mit RaHtrack (Betreiberfirma des Schienennetzes, Anm.) passierte, ist eine Warnung. Ein 'insolventes Unternehmen muss mit Geld aus Steuern gerettet werden. Wenn dies geschieht, werden Fragen gestellt. Was ist mit den ,dicken Fischen', die mit den PPPs ein Vermögen gemacht haben? Und was ist mit ihren Aktionären, die lauthals Entschädigung vom Staat verlangen, der viel versprochen aber nichts gehalten hat?

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Gunther TrUbswasser

Das andere Risiko wird besonders bei den PVPs augenfiillig. Angelockt von Steuervergünstigungen verknüpfen Freiwilligenorganisationen ihr Schicksal mit den Regierungen und verlieren ihre Unabhängigkeit. So wird die Freiheit zerstört, durch die sich die Zivilgesellschaft definiert. Mehr als alles andere verleiht es den Regierungen neue Kraft; es ist Zentralisierung durch List. Man könnte behaupten, dass das gleiche für die PPPs gilt. Sie erzeugen Macht ohne Verantwortung. Regierungen heißen private oder gemeinnützige Vertreter willkommen, unterstützen sie und stehen für sie gerade. Auf diese Art und Weise wird der Staat zum alleinigen Hüter öffentlicher Aufgaben." 4

IV. "Entstaatlichung", ein Trojanisches Pferd? Dahrendorf, ein Liberaler, der in manchen Bestrebungen zur Entstaatlichung eine neue Form der Zentralisierung ortet? Der Staat, der sich nur scheinbar zurückzieht, um dann noch straffer die Zügel anzuziehen? Ein Paradox? Es macht wenig Sinn den Pro und Kontras noch weitere hinzuzufilgen. Vor allem, wenn parallel zum postulierten Rückzug des Staates aus der Gesellschaft derselbe Staat auf anderer Ebene ganz vehement in das Private einzelner Personen einzudringen versucht. Wir leben in einer von Medien bestimmten Welt, in der oft die Qualität der Vermittlung von beabsichtigten Vorhaben wichtiger ist, als die Qualität der Vorhaben selbst, in der dem Marketing von Regierungsbeschlüssen mehr Augenmerk geschenkt wird, als dem Inhalt der Beschlüsse. Daher kommt es, dass alle Augen auf der als wunderbar beschriebenen Welt der Entstaatlichung ruhen, während die Öffentlichkeit von der zunehmenden gemeinschaftlichen, sprich staatlichen Überwachung der Individuen durch Sammeln von Daten und digitalen Informationen kaum Notiz nimmt. Der Datenschutzkommission sei's geklagt! Vielleicht muss eine Betrachtung über den Rückzug des Staates aus unserer Gesellschaft zwangsläufig in eine Kritik an der stetig zunehmenden Kontrolle des Staates über seine Menschen münden, weil wir in einer Welt der Bewegungen und Gegenbewegungen leben. Weil sich Rückzug und Vordringen die Waage halten? Dann eher doch eine literarische Polemik, wie sie Daniela Strigl in ihrer Dankesrede anlässlich der Überreichung des Staatspreises ftlr Literaturkritik am 8. April 2002 formulierte: 4

Aus: Der Standard, 6. Juli 2002.

Wieviel Entstaatlichung verträgt diese Gesellschaft?

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"Noch ist der Preis, den ich bekommen habe, ein Staatspreis. Er wird weder von einer Ölfirma gestiftet noch von einem GIUcksspielkonzem. Mich stört das nicht. Im Gegenteil: Ich betrachte den modischen Kampfruf ,Mehr privat, weniger Staat' mit umso größerer Skepsis, seit mir aufgefallen ist, dass diejenigen, die ihn im Munde fiihren, dort, wo es um die Beschränkung von BUrgerrechten geht, um ,Rauschangriff' und ,Lasterfahndung', wie Andreas Okopenkos schöne Verwechslung lautet, dass sie also dort meist das Gegenteil verlangen: Da soll dann der viel geschmähte Staat noch viel mehr dürfen als bisher, und die Privatsphäre wird das schon aushalten, irgendwie."

Demokratie ist kein Zustand, sondern ein dynamischer Prozess, der äußerst sensibel und komplex ist. Und die Freiheit insgesamt ist das labile Gleichgewicht der Freiheitenjedes undjeder Einzelnen innerhalb einer Gemeinschaft. Politik in einer Demokratie ist somit das Geschick, die Freiheiten des oder der Einzelnen bei gleichzeitigem Schutz der Rechte des oder der Anderen zu sichern sowie fUr Mehrheitsentscheidungen bei gleichzeitigem Schutz von Minderheitenrechten zu sorgen. Eine schiere Unmöglichkeit! Und dennoch: Demokratie und die Achtung der Individualrechte können gelingen, wenn nicht nur an einer Schraube und nicht nur in eine Richtung gedreht wird. Auch wenn die Schraube noch so verlockend und die Richtung sich medial noch so gut zu vermarkten scheint. Wie etwa die mit der populären Aufschrift "Weniger Staat, ... "

Die Stadt Linz im Meinungsbild der Bevölkerung Von Reinhard J. Dyk

I. Vorbemerkungen Die ersten Kontakte zwischen Professor Zapotoczky und mir sind vor Aufnahme des Studienbeginns an der damaligen Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften im Sommer 1966 zu datieren. Es ging darum, in einem informellen Kreis gemeinsam mit anderen akademischen Lehrern, Studentinnen und Studenten die katholische Hochschulgemeinde in Linz aufzubauen. Professor Zapotoczky begleitete mich als Student während des ersten Studienabschnittes meines Studiums der Sozialwirtschaft im Bereich Soziologie. Dr. Zapotoczky war damals Assistent am Institut für Soziologie von meinem späteren Diplomvater Universitätsprofessor Dr. Erich Bozenta. Es gab sehr viele Fachgespräche, in denen immer wieder nicht nur Theorie vermittelt wurde, sondern auch aktuelle Themen der Sozialforschung behandelt wurden. So war es mir möglich, bei einigen Untersuchungen von Professor Zapotoczky mitzuarbeiten, auch als Student Praxis als Interviewer der empirischen Sozialforschung zu erlangen. Ihm verdanke ich daher sehr viele soziale Erfahrungen, was mir später in meiner politischen Tätigkeit zugute kam. Nach Absolvierung meines Grundstudiums 1970 trennten sich unsere Wege. Professor Zapotoczky habilitierte sich an der Johannes Kepler Universität und ich ging in die berufliche Praxis beim Amt der Oberösterreichischen Landesregierung, in dem ich mein Fachwissen im Bereich des sozialen Wohnbaus und später im Rahmen der Landesraumordnungspolitik einbringen konnte. 1988 wurde ich als Mitglied der Linzer Stadtregierung Berufspolitiker, zunächst ftlr verkehrspolitische Fragen und war ab 1991 ftlr die Kulturpolitik der Stadt zuständig. Ab 1997 wurde mein Aufgabengebiet noch erweitert durch Angelegenheiten der öffentlichen Grünanlagen in unserer Stadt. Auch während meiner Tätigkeit im Linzer Stadtsenat gab es zahlreiche Kontakte mit Professor Zapo-

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Reinhard J. Dyk

toczky, da er immer wieder die Kontakte mit der Stadt Linz zur Unterstützung seiner Projekte suchte und auch großes Interesse filr kommunalpolitische Fragestellungen bewies. Insoferne ist es filr mich eine große Ehre hier mit einem aus der Praxis beeinflussten Artikel einen Beitrag zu der Festschrift leisten zu können. Mir geht es dabei darum, anhand z. T. von mir in Auftrag gegebenen Umfragen Aspekte der Stadtkultur und des Grüns zu beleuchten und auch Ergebnisse einer von der Stadt Linz in Auftrag gegebenen Befragung der Bürger zu ihren wichtigsten Anliegen insgesamt und stadtteilbezogen zu referieren sowie die durch die letzten Volkszählungsergebnisse virulent gewordene Problematik der massiven Abwanderung aus städtischen Agglomerationen - wie in Linz - zu behandeln. Hier gibt es ebenfalls eine Umfrage über die Motive zur Ab- und Zuwanderung aus dem Jahre 2002.

II. Das Image von Linz im Trend Für die Kommunalpolitik ist es besonders interessant, wie die befragten Bürgerinnen und Bürger über ihre Stadt denken bzw. welches Bild sie von ihrer Stadt haben. Nachvollziehbar ist sicherlich, dass Linz nach wie vor als Industriestadt gilt, was sich in den Umfrageergebnissen von 1993 bis 2002 widerspiegelt. Die Industrie hat sich allerdings verändert. Sie wurde umweltfreundlicher und gesamt europäisch gesehen gehört sie zu den modernsten in der Stahlerzeugung und in der chemischen Industrie. Durch die Gründung der Johannes Kepler Universität ist Linz auch als Universitätsstadt im Bewusstsein sehr stark verankert, hinzukamen die Kunstuniversität und die Katholisch Theologische Privatuniversität Bemerkenswert ist auch der Aufstieg der Stadt zur Kulturstadt in den Augen der Bevölkerung. Waren es 1993 noch 22 %, so attestieren 1999 etwa 46% bzw. 2002 42 % Linz das Prädikat Kulturstadt Einher geht damit auch die Entwicklung im Tourismus. Möglicherweise ist die Stagnation des Kulturwertes durch die Diskussion um ein neues Musiktheater beeinträchtigt, da es auch sehr viele Enttäuschte über den oberösterreichweit negativen Entscheid gegeben haben mag. Die Entwicklung zur Kulturstadt ist das Ergebnis von langjährigen Bemühungen speziell Linz das Image einer modernen Kulturstadt im Bereich Ars Electronica zu geben und hier eine Nische zwischen den traditionellen Kulturstädten Wien und Salzburg zu finden. Linz ist daher in den Augen der Bevölkerung eine technologie-, kulturorientierte, umweltfreundliche Industriestadt, in der Wirtschaft und Bildung einen sehr hohen Stellenwert aufweisen.

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Die Stadt Linz im Meinungsbild der Bevölkerung Das Image von Linz im Trend

Frage: Hier sind Bezeichnungen aufgeschrieben, die zu Linz als Stadt passen. Welche dieser Bezeichnungen finden Sie passend für die Stadt Linz. Was verbinden Sie mit Linz?

E!'. vcrbuldt•n gedanklich

llnzer Bevölkerung

01"-

insgesamt

'01-'02

1993

rmtlm.t

2001 %

2002

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Industriestadt Oon1mstadt

+5

GI!

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·-~!.-

Altstadt {mit Lokalszene)

+0

Kulturstadt

-2

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Moderne, aufstrebende Stadt

Stadt mit Zukunft

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[!!]

••

Umweltfreundllc:he Stadt

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Provinzstadt Stadt der Patks und Gärten Nichts davon

% +2

')

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~2

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')

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422

594

535

626

*) nicht erhoben

Abbildung I: Das Image von Linz im Trend Linz "Kultur", Spectra, April 2002

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Die Einschätzung des Kulturangebotes

Das Kulturangebot in Linz wird von der Linzer Bevölkerung als sehr positiv eingeschätzt, lediglich 6 % der Bevölkerung sind mit dem Kulturangebot überhaupt nicht zufrieden. Interessant ist auch die Fragestellung, inwieweit die Linzer das Kulturangebot gegenüber anderen Landeshauptstädten einschätzen. 30 % der Befragten geben an, dass sie das Kulturangebot "sehr viel besser'' bzw. "etwas besser" gegenüber den anderen Landeshauptstädten einschätzen. 36 % bezeichnen es als "gleich gut" und 9 % als "etwas schlechter'' und "sehr viel schlechter''. Dieses Ergebnis ist insofeme bemerkenswert, als die Stadt Linz trotz großer Anstrengungen durch Imagekampagnen von außen noch immer ausschließlich als Industriestadt gesehen wird. Eine derartige Untersuchung sollte in nächster Zeit angestrebt werden. Trotzdem scheint, dass die Linzer Bevölkerung das Kulturprogramm ihrer Stadt im Vergleich mit anderen Städten als sehr gut einschätzt.

Reinhard J. Dyk

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Die Einschätzung des Kulturangebotes Frage: Wenn Sie jetzt das Angebot an Veranstaltungen in Linz auf dem Sektor Musik, Kultur, Ausstellungen und Unterhaltung mit den meisten anderen Landeshauptstädten in Osterreich vergleichen : Wie würden Sie das Linzer Angebot einschätzen? Alter ·

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Abbildung 2: Die Einschätzung des Kulturangebotes Linz "Kultur", Spectra, April 2002

Wird das Linzer Kulturleben neben den privaten Vereinsaktivitäten hauptsächlich von großen Ereignissen wie Klangwolke, Pflasterspektakel, Linz Fest und Brucknerfest dominiert, so gibt es, wie auch in einer Spektra-Umfrage 1999 festgehalten wurde, weiters das Bedürfnis nach kulturellen Stadtteilaktivitäten, die in Kulturhäusern bzw. Pfarren, aber auch in Vereinslokalen stattfinden sollen. Ein weiterer Bereich, der sehr stark als Merkmal ftlr Lebensqualität eingestuft wird und politisch mit dem Kulturressort verbunden ist, ist der Bereich des öffentlichen Grüns der Stadt. Hier hat 2002 eine jüngste Befragung ergeben, dass die Unzerinnen und Linzer mit den Linzer Parks zu 81 % "sehr zufrieden" und "zufrieden" sind und lediglich 2 % hier angeben, "weniger zufrieden" zu sein. Desgleichen wirkt sich das auch über die Pflege der Parks aus, wo Pflege, Bepflanzung und Blumengestaltung mit 73 % "sehr positiv" und "positiv" beurteilt werden, 18 % die mittlere Position einnehmen und 3 % eine negative Beurteilung abgeben. Gerade Kultur und Natur geben die Möglichkeit des optischen und gedanklichen BrUckenbaus. Kunst und Kultur kommen im öffentlichen Raum stark zum Tragen, auch wurden in den letzten Jahren verstärkt Skulpturenparks angelegt, um die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst zu fi>rdern. Ähnliches lässt sich auch über die Spielplatzgestaltung sagen. Diese soll vor allem im kreativen Bereich den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu Selbsttindung bringen.

Die Stadt Linz im Meinungsbild der Bevölkerung

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Zufriedenheit mit den Linzer Parks Frage: Wie zufrieden sind Sie insgesamt mit dem Angebot an größeren und kleineren Parks der Stadt Linz? Unzer

Cesc::h1echt

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lnsg.

Männer

Alter

Frauen

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1ß,.29 Jahre

30-49

Jahre

Ober 50

19

13

17

Jahre

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Der Eindruck von der Pflege, Bepflanzung und Blumengestaltung der kleineren Parks Frage: Welchen Eindruck haben Sie von der Pflege, der Bepflanzung und der Blumengestaltung der kleineren städtischen Parks, die Sie kennen?

Unzer Bev61kerung lnsg.

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44

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1 2

Abbildung 3: Zufriedeqheit mit den Linzer Parks Linz "Grün", Spectra, April2002

IV. Die Meinung der Bürger zu ihrer Stadtteilumgebung Im November 1999 erschien eine vom Amt ftlr Stadtforschung vorgenommene Analyse über die Zufriedenheit in den Stadtteilen. Es ist unmöglich, hier eine differenzierte Sichtweise vorzunehmen, sodass nur eine Zusammenschau aller Stadtteile gebracht werden kann. Von den 21.700 Befragten fllhrten 13 % Parkplatzprobleme, 9% Verkehrsprobleme allgemein, ebenso 9% den beste-

442

Reinhard J. Dyk

benden Verkehrslärm, 7 % die Infrastruktur, 6 % die Verkehrssituation fiir Autobenützer, in diesem Falle ist das Parkplatzproblem angesprochen, an. Es ist hier eine geringfiigige Verbesserung gegenüber einer Befragung aus dem Jahre 1995 gegeben. Themen wie Ausländerproblematik, Spielplätze, öffentliche Sicherheit, Infrastruktur, Einrichtungen filr ältere Menschen und Jugendliche sind mit 3% bzw. 4% als zwar bestehend, aber durchaus vernachlässigbar anzusehen. Es ist aber festzuhalten, dass hingegen bei einer stadtteilbezogenen Analyse unterschiedliche Profile vor allem, was die Frage der Verkehrssituation betrifft, der Belastung der Wohngebiete durch den überregionalen Verkehr, aber auch der Ausländerproblematik, festzustellen sind. Diese BUrgerbefragung 1999 war eine schriftliche Befragung von 39.684 Personen mit Hauptwohnsitz in Linz zwischen 18 und 75 Jahren mit österreichischer Staatsbürgerschaft. 21 707 Fragebögen wurden letztlich in die Bewertung einbezogen. 1995 wurden ähnliche Fragestellungen erhoben, allerdings mit einer höheren RUcklaufquote. Probleme, Beschwerden, Wünsche Frage: Gibt es Probleme in Ihrem Wohngebiet? Was stört Sie am meisten an Ihrer Wohngegend? Was müßte Ihrer Meinung nach verbessert werden? (Mehrfachnennungen mög-

lich)

Anmert(Ung: Diese Frage war eine offene Frage ohne vorgegebene Antwortvarianten im Fragebogen. Die Antworten wurden vom Amt fOr Stadtforschung den nachfolgenden Antwortkate orien zu eordnet.

Abbildung 4: Probleme, Beschwerden, Wünsche

Linz "Analyse Bürgerbefragung", Amt filr Stadtforschung, November 1999

Die Stadt Linz im Meinungsbild der Bevölkerung

443

V. Motive f'ür die Ab- und Zuwanderung Die Volkszählung 2001 brachte filr die Stadt Linz eine gravierende Veränderung in der Weise, dass letzten Endes der Bewohnerbestand um ca. 16.000 Einwohner abgenommen hat. Dies ist das Ergebnis einer Abwanderung in hohem Ausmaß und einer Zuwanderung in entsprechend geringerer Form, die als überraschend filr alle Beteiligten zu beziffern ist. Überraschend deshalb, weil wie im vorhergehenden Kapitel konstatiert wurde, es in den Stadtteilen eine hohe Ortsverbundenheit bzw. Wohnzufriedenheit (mit Ausnahme der Verkehrssituation) gegeben hat. Im April 2002 veröffentlichte das Amt filr Stadtforschung eine entsprechende Analyse der Umzugsgründe, die im Wesentlichen ergab, dass 50% bzw. 60% der Umzüge private, persönliche Gründe hatten und diese wiederum auch im Zusammenhang mit Beruf und Ausbildung standen. Das Thema Wohnen mit allen seinen Facetten, wie leistbares Eigentum, Wohnungs- und Wohnumfeldqualität, Umwelt und Infrastruktur ist ebenfalls ein wesentliches Hauptmotiv ftlr den jeweiligen Umzug. Folgende Tabelle soll dies zum Ausdruck bringen. Umzugsgründe - Hauptmotiv Frage: Und was war der wichtigste Grund für Ihren Umzug? (Bitte nur eine Antwort ankreuzen)

die Wohngegend (zu laut. zu dicht vetbaut usw.)

Sonstiges

weiß nicht. keine Angabe 0%

10%

20%

30%

CZuzQge •wegzDge

Wanderungsbefragung der Stadt Linz

Abbildung 5: Umzugsgründe- Hauptmotiv Linz "Motive ftlr die Ab- und Zuwanderung'', Amt fllr Stadtforschung, April2002

444

Reinhard J. Dyk

Die Politik ist daher gefordert, eine Stadtvision filr Linz aufzuzeigen, die im Wesentlichen die Negativsymptome einer Diskussion unterzieht, um letzten Endes die Stadt als lebenswerten, urbanen Raum zu erhalten. Das Ziel eines attraktiven Wirtschafts- und Arbeitsstandortes ist daher mit den Vorstellungen von qualitativ hochwertigem Wohnen in stärkeren Maße in Einklang zu bringen, als dies im letzten Jahrzehnt der Fall war, was die starke Randwanderung ausgelöst hat. Die Stadt Linz ist wie die Analyse ergab, ein attraktiver Arbeitsund Ausbildungsstandort, den es zu erhalten gilt, jedoch in der Phase der Jungfamilien als Wohnort zunehmend unattraktiv. Dieses Spannungsfeld ist vermehrt durch neue Strategien zu durchbrechen. Die Wohnungszufriedenheit ist daher als wichtiger Faktor auch in den Mittelpunkt zu stellen.

Literatur Analyse Bürgerbefragung, Amt filr Stadtforschung, November 1999. Die Bekanntheits- und Imageposition der Linzer Volkshäuser, Spektra, 1999. Die Landeshauptstadt Linz aus dem Blickwinkel der Oberösterreicher, market, August/September 19%. Fabriken in der Stadt, Archiv der Stadt Linz, 1990. Kulturstudie Linz, Imas, Februar/März 1993. Linz "Grün", Spectra, April2002. Linz "Kultur", Spectra, April 2002. Linzer Forschungen 2, Löwenfeld & Hofmann, 1993. Motive filr die Ab- und Zuwanderung, Amt filr Stadtforschung, April 2002.

Wahlhochrechnung und Wählerstromanalyse Von Kurt Holm Die einfachste Art und Weise, eine Wahlhochrechnung durchzufilhren, besteht darin, am Wahlabend zu beobachten, wie die Parteien A, B usw. prozentuell von einer Wahlgemeinde zur anderen gewinnen bzw. verlieren. Man beobachtet etwa, dass die Partei A in der Wahlgemeinde i, deren Wahlergebnisse- sagen wir- um 18:15 Uhr eintreffen, I ,8 % dazugewinnt In der Gemeinde j (einige wenige Minuten später) gewinnt sie 1,9% dazu. So kann man etwa im Verlaufeiner halben Stunde feststellen, dass die Partei A im Durchschnitt in den Gemeinden, deren Ergebnisse eingetroffen sind, 1,8% dazugewinnt Wenn man nun prognostiziert, dass die Partei A bei dieser Wahl 1,8% dazu gewinnen wird, dann wird man vermutlich nicht sehr weit vom tatsächlichen Wahlergebnis entfernt liegen. Diese intuitive, etwas schlicht anmutende Methode kann man aufwerten, wenn man sie als "einfache lineare Regression mit Konstante" durchfUhrt. Siehe dazu Bruckmann, 1966, Kapitel 3.3. Als Eingabe-Werte filr die Regressionsanalyse sind die Prozentergebnisse der Parteien in den Wahlgemeinden einzusetzen. Die Partei A aus der aktuellen Wahl wird als abhängige Variable in eine Regressionsanalyse mit Konstanten eingegeben. Als unabhängige Variable wird dieselbe Partei A aus der vergangenen Wahl verwendet. Es entsteht beispielsweise folgende Matrix der Regressionskoeffizienten. Wir nennen sie "Übergangsmatrix". A_Partei_l ist die Partei A aus der 1. Wahl (der vergangenen Wahl) und A_Partei_2 ist die Partei A aus der 2. Wahl. Die entsprechende Notation verwenden wir auch filr die anderen Parteien B und C. vergangene Wahl A_Partei_l

B_Partei_l

0.97

0

-0.0205

B_Partei_2

0

0.78

0.015

C_Partei_2

0

0

0.02

A_Partei_2 aktuelle Wahl

Konstante

Kurt Holm

446

An der Wahl nehmen die 3 Parteien A, B, C teil. Die Partei C ist eine neue Partei. Sie hat an der vergangeneo Wahl nicht teilgenommen. Die Partei A hat aus unserer Regressionsrechnung im Vergleich zur vergangeneo Wahl einen Regressionskoeffizienten von 0.97 und eine Konstante von -0.0205 erhalten. Es gilt also die Gleichung jetziges Ergebnis

=

0.97 * letztes Ergebnis - 0.0205

Wenn das letzte Ergebnis für die Partei A 24 %betrug, dann wird als jetziges Ergebnis für sie hochgerechnet jetziges Ergebnis = 0.97 * 24 - 0.0205 = 23.26 % Offenkundig ist, dass für die c_partei aus der aktuellen Wahl kein Pendant aus der vergangeneo Wahl vorhanden ist. Die C_Partei wird dadurch nur über die Konstante geschätzt. Im Prinzip bedeutet dies, dass der Prozentsatz, der sich für die C_Partei aus den schon ausgezählten Wahlgemeinden ergibt, als Prognosewert übernommen wird. Tatsächlich ist der Wert der Konstanten in diesem Fall gleich dem Anteilswert der C_partei. Das ist sicherlich keine gute Vorgehensweise, vor allem dann, wenn der Auszählungsgrad noch sehr niedrig ist. Das Verfahren der einfachen Regression mit Konstanter ist also für den Fall, dass bei der aktuellen Wahl neue Parteien antreten, eher nicht empfehlenswert. Auch werden Parteien, die bei der vergangenen Wahl angetreten sind, aber nicht bei der aktuellen, nicht berücksichtigt. Es wird nicht untersucht, wohin deren Wähler abgeströmt sind. Der Verfasser hat zusammen mit Johann Bacher und Helmut Gfrerer ein Computerprogramm, das "Aimo-Wahlhochrechnungs- und Wählerstromanalyse-System" entwickelt, das das soeben dargestellte einfache Regressionsverfahren und die im Folgenden beschriebenen Verfahren, insbesondere das moderne Verfahren der quadratischen Optimierung, enthält. Nun ist es natürlich naheliegend die einfache Regression zur multiplen Regression zu erweitern. Dieses Verfahren liefert Prognoseergebnisse, die nicht viel schlechter sind als die der modernen quadratischen Optimierung, die wir noch darstellen werden. Es ist sicher das zweitbeste Verfahren. In Almo ist das bei Bruckmann (1966) in Kapitel 2 beschriebene Verfahren programmiert. Jede Partei der aktuellen Wahl wird als abhängige Variable in eine Regressionsanalyse (ohne Konstante) eingegeben. Unabhängige Variable sind dann alle Parteien der vergangeneo Wahl. Als "Parteien" können selbstverständlich auch Nichtwähler usw. betrachtet werden. Es entsteht beispielsweise folgende Matrix von Regressionskoeffizienten. Wir bezeichnen sie wieder als "Übergangsmatrix".

447

Wahlhochrechnung und Wählerstromanalyse

aktuelle Wahl

A Partei 2 B Partei 2 C Partei 2

vergangene Wahl A Partei I B 1.272 -0.100 -0.179 0.993

Partei I 0.002 0.977 0.022 1.001

Betrachten wir wieder Partei A. Die Prognosegleichung für sie lautet: A2

=

1.272 * Al + 0.002 * B1

A1

Prozentergebnis für Partei A in der vergangenen Wahl

A2

Prozentergebnis für Partei in der aktuellen Wahl

Wenn Partei A in der vergangenen Wahl 30 % erhielt und B 70 %, dann können wir fllr A prognostizieren A2

=

1.272 * 30 + 0.002 * 70 = 38.4 %

Für die neue ParteiCergibt sich die Prognose in folgender Weise: C2

=

-0.179 * A, + 0. 022 * B,

Bemerkenswert ist, dass das Ergebnis fiir die Partei C auf den beiden anderen Parteien A und B beruht. Folgendes flillt auf: a)

Die Regressionskoeffizienten können negativ sein, aber auch größer als 1.0. D.h. sie dürfen nicht als Übergangswahrscheinlichkeiten interpretiert werden. Betrachten wir beispielsweise, das rechte obere Eck in der Übergangsmatrix (den Wert 0.002). Wir dürfen nicht interpretieren, die Wahrscheinlichkeit, dass Wähler derB-Parteizur A-Partei überlaufen sei 0.02 %.

b) Die Spaltensumme ist nicht gleich 1.0. Allerdings gibt es die Möglichkeit die Regressionskoeffizienten so zu transformieren, dass Spaltensummen von 1.0 entstehen. Im Airno-Hochrechnungsprogramm ist dies möglich. Diese Transformation sollte nur vorgenommen werden, wenn bei der vergangenen und der aktuellen Wahl die gleichen Parteien angetreten sind. c)

Was bei unserem Beispiel nicht sichtbar wird, ist, dass die Schätzung konsistent ist, d.h. bei vollständiger Auszählung werden die prozentuellen Anteile der Parteien richtig prognostiziert.

Das moderne Verfahren der Wahlhochrechnung verwendet die Methode der t::uadratischen Optimierung. Dies ist sicherlich die überlegene Hochrechnungs-

Kurt Holm

448

methode. In unseren Hochrechnungen und Simulationsstudien hat sie fast immer das beste Prognoseergebnis erbracht. Zentrales Konzept der Hochrechnung durch quadratische Optimierung ist die "Matrix der Übergangswahrscheinlichkeiten". Betrachten wir wieder ein Beispiel: Parteien der vergangeneo Wahl

Parteien der aktuellen Wahl

A Partei I

B Partei I

A Partei 2

88.0

B Partei 2 C Partei 2

00.0 12.0

00.0 96.0

100.0

04.0 100.0

Von den Wählern der A_Partei der vergangeneo Wahl sind 88% wieder zur A_Partei bei der aktuellen Wahl gegangen. 0 % sind zur B_Partei gegangen und 12% sind zu der neuen C_Partei übergewechselt etc. Die Stimmensumme der 3 Parteien bei der letzten Wahl sei folgende gewesen

Partei

Stimmensumme 240.000 A B

760.000

c Gesamt

1.000.000

Wird obige Übergangsmatrix multipliziert mit dem Vektor der Stimmsummen der Parteien der vergangeneo Wahl, dann entsteht das (prognostizierte) Wahlergebnis der aktuellen Wahl. Die Besonderheiten sind: a)

Alle Übergangswahrscheinlichkeiten liegen zwischen 0% und 100%.

b) Die Übergangswahrscheinlichkeit in einer Spalte addieren sich zu I 00 %. c)

Was in unserem Beispiel nicht sichtbar wird ist folgende Besonderheit: Das Verfahren ist konsistent. Sind alle Wahlgemeinden der aktuellen Wahl ausgezählt, dann "prognostiziert" das Verfahren der quadratischen Optimierung die tatsächliche Prozentverteilung.

449

Wahlhochrechnung und Wählerstromanalyse

Die quadratische Optimierung ist mathematisch etwas aufwendiger als die multiple Regression. Sie kann begriffen werden als ein Kleinste-QuadrateKalkül mit folgenden 3 Nebenbedingungen: P;i ~I

(1)

0~

(2)

LP;;=I

(3)

L P,i ·n, = r, ·n kennzeichnet eine Partei der aktuellen Wahl der vergangenen Wahl

Als "Partei" können selbstverständlich auch die Nichtwähler, Ungültigwähler, Zu- und Abwanderer usw. in die Analyse miteinbezogen werden. p1; = Übergangswahrscheinlichkeit der Partei i genen Wahl) zur Partei j (bei der aktuellen Wahl)

(bei der vergan-

n;

Stimmenzahl der Partei j bei der vergangenen Wahl

r1

Stimmenanteil der Partei i bei der aktuellen Wahl

n = Gesamtzahl der Stimmen aus den schon ausgezählten Wahlgemeinden bei der vergangenen Wahl

Die Nebenbedingung 1 erzeugt die Besonderheit a 2 erzeugt b und 3 erzeugt c. Die quadratische Optimierung ist auch bestens als Verfahren fUr die Wählerstromana/yse geeignet. Dabei kann zu jedem Hochrechnungszeitpunkt eine Wählerstromanalyse zusätzlich gerechnet werden. Wenn die oben dargestellte Übergangsmatrix bei einem Auszählungsgrad von 20% errechnet wurde, so kann z.B. zu diesem Zeitpunkt bereits gesagt werden, dass die Partei A 12 % ihrer Wähler an die neue Partei C verlieren wird. Dies ist deswegen möglich, weil die quadratische Optimierung nicht Regressionskoeffizienten (die auch negativ werden können) liefert, sondern echte Übergangswahrscheinlichkeiten, die zwischen 0 und 1 (bzw. 0% und 100 %) liegen und sich je Spalte zu 1 (bzw. 100 %) aufaddieren.

I. Wählerstromanalyse und Wahlhochrechnung Oft wird die Meinung vertreten, die Wählerstromanalyse, die man am Tag nach der Wahl in der Zeitung oder im Fernsehen vorgefUhrt bekommt, sei zweifelhaft. Schließlich kann man ja nicht überprüfen, ob die Wählerströme tatsächlich so geströmt sind, wie behauptet.

450

KurtHolm

Der Wahlhochrechnung am Wahlabend zollt man hingegen Respekt. Sie ist mit sehr wenigen Ausnahmen verblüffend präzise. Und schließlich kann man die Vorhersage der Wahlhochrechnung an den tatsächlichen Ergebnissen überprüfen. Nun sind jedoch Wählerstromanalyse und Wahlhochrechnung (gerechnet mit dem Verfahren der quadratischen Optimierung) identisch. In unserem Almo-Hochrechnungsprogramm werden sie mit ein und demselben Computerprogramm gerechnet. Die Wahlhochrechnung kann nur dann gut sein, wenn die in der Übergangsmatrix ausgedrückten Wählerströme stimmen. Die Folgerung daraus: Wer die Wahlhochrechnung akzeptiert, muss auch die Wählerstromanalyse akzeptieren.

II. Probleme Wir wollen nicht den Eindruck erwecken, es gebe keine Probleme. Natürlich gibt es die. Wir wollen sie im Folgenden betrachten.

1. Nichtwähler und Ungültigwähler Was geschieht mit den Nichtwählem? Das ist ein leicht lösbares Problem. Sie werden wie eine Partei betrachtet. In der Übergangsmatrix steht somit in einer der Spalten, die "Partei" der Nichtwähler aus der vergangenen Wahl und in einer der Zeilen die "Partei" der Nichtwähler der aktuellen Wahl. Dies ermöglicht auch Wählerströme von und zu der "Partei" der Nichtwähler zu erfassen. Nicht selten sind derartige Ergebnisse besonders interessant. So kann sich etwa ergeben, dass ein hoher Prozentsatz der Nichtwähler aus der vergangenen Wahl zur neuen Partei C geströmt sind. Man wird dann interpretieren, dass C eine typische Protestwähler-Partei sei. Die Zahl der Ungültigwähler wird in aller Regel sehr klein sein, so dass man sie aus der Analyse ausschließen kann. Es spricht jedoch nichts dagegen, sie auch, wie die Nichtwähler als eigene "Partei" einzubeziehen - insbesondere, wenn man vermutet, dass unter ihnen ein größerer Teil aus Protest eine ungültige Stimme abgibt.

2. Das Stadt-Land-Problem Alle dargestellten Wahlhochrechnungsverfahren setzen voraus, dass die Wählerbewegungen in allen Gemeinden annähernd prozentuell gleich groß sind. Wenn in der kleinen 1000-Personen-Gemeinde die Partei A 1,8 % ge-

Wahlhochrechnung und Wählerstromanalyse

451

winnt, dann wird unterstellt, dass in der Großstadt mit 500 000 Einwohnern der Gewinn in ungeflihr derselben Höhe liegt. Dies ist offenkundig häufig nicht der Fall. Es kann beachtliche Unterschiede in den Wählerbewegungen von Stadt zu Land und zwischen den Regionen bzw. Bundesländern geben. Dieses Problem versucht man dadurch zu lösen, dass man in einem l . Schritt mehrere getrennte Wahlhochrechnungen für möglichst homogene Gemeindegruppen durchfUhrt, und in einem 2. Schritt die prognostizierten Ergebnisse gewissermaßen zusammenzählt. So wird etwa in Österreich filr jedes der 9 Bundesländer eine getrennte Wahlhochrechnung gerechnet. In einem 2. Schritt werden dann die 9 Ergebnisse zusammengezählt. Eine weitere Möglichkeit, das "Stadt-Land-Problem" zu lösen, besteht darin, dass man die Gemeinden unterschiedlich gewichtet. Betrachten wir ein Beispiel: Zu einem frühen Zeitpunkt der Hochrechnung liegen üblicherweise die Ergebnisse aus den Städten nur sehr unvollständig vor. Nun liegt der Gedanke nahe, die wenigen Städte, deren Ergebnisse vorliegen, so zu gewichten, dass das Verhältnis von Einwohnerzahl der Städte zu den ländlichen Gemeinden stimmt. Gemeinden mit über 20000 Wahlberechtigten (also Städte) werden z.B. mit dem Faktor 1.25 gewichtet. Wenn beispielsweise 10 Städte vorhanden sind, dann gehen diese in die Hochrechnung so ein, wie wenn sie 12.5 Städte wären. Oder anders formuliert: Zu den 10 vorhandenen Städten werden 2.5 artifizielle Städte erzeugt, deren Partei-Stimmenzahl dem Durchschnitt der l 0 vorhandenen entspricht. Die Gewichtung gilt für alle "Parteien der aktuellen Wahl" und alle "Parteien der vergangenen Wahl", also auch filr Nicht- und Ungültigwähler und fiir Zu- und AbwandereT. Ein weiteres Beispiel filr eine Gewichtung ist Folgendes: Für die Hochrechnung bei der deutschen Bundestagswahl können nicht die rund 80000 Stimmbezirke in die Hochrechnung einbezogen werden. Üblicherweise wird man eine Stichprobe von rund 400 Stimmbezirken auswählen. Aus der amtlichen Statistik kennt man die Verteilung der Gemeinden auf Größenklassen. Nun kann es sein, dass in der Stichprobe beispielsweise Stimmbezirke aus der Größenklasse l 0000 bis 20000 Einwohner etwas unterrepräsentiert sind. Hier bietet es sich an, in die Datei der vergangenen Wahl eine zusätzliche Variable "Gewichtsfaktor'' aufzunehmen. Diese Variable enthält filr jeden Stimmbezirk eine solche Gewichtszahl, dass die Größenklassen-Verteilung exakt der tatsächlichen entspricht. Man kann auch filr weitere Merkmale (z.B. filr die "KatholikenProtestanten-Verteilung") Gewichtungen einfilhren - wobei es sich empfiehlt, die Gewichtszahlen aus verschiedenen Merkmalen zu multiplizieren und nur eine Variable "Gewichtsfaktor" zu bilden.

KurtHolm

452

3. Prozentwerte oder absolute Stimmenzahlen Was soll der "input" in einer Hochrechnung sein? Sollen die prozentuellen Ergebnisse der Parteien je Gemeinde oder die absoluten Stimmenzahlen als Eingabewerte verwendet werden. Dieses Problem steht in Verbindung mit dem bereits dargestellten "Stadt-Land-Problem". Werden die Prozentergebnisse als Eingabewerte verwendet, dann wird eine Großstadt so behandelt wie ein kleines Dorf. Wird mit absoluten Stimmenzahlen gerechnet, dann erhalten Städte ein überwältigendes Gewicht. Der Logik der Hochrechnung, dass die Stimmenverschiebungen in allen Wahlgemeinden prozentuell ungefähr gleich groß sind, würde die Eingabe von Prozentwerden entsprechen. Einen Kompromiss, der sich in der Praxis gut bewährt hat, schlägt Bruckmann (1966, S. 20) vor. Als Eingabedaten werden verwendet

Sik n,

=

Stimmenzahl der Partei i in der Gemeinde k

= Wahlberechtigte

in der Gemeinde k

Dieser Kompromiss hat auch eine statistische Begründung: die vorhandene "Heteroskedastizität" wird verringert.

4. Unterschiedliche Wahlbeteiligungen Wenn die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen in den Gemeinden zur aktuellen und zur vergangeneo Wahl verschieden groß sind, dann kann man die prozentuellen Gewinne bzw. Verluste der Parteien nicht richtig berechnen. Dieses Problem kann man, wie wir dies schon gezeigt haben, dadurch lösen, dass man die Nichtwähler als "Partei" in das Modell mit einbezieht. Wenn jedoch die Zahl der Wahlberechtigten bei den beiden Wahlen verschieden ist, dann ist das Problem dadurch noch nicht gelöst. Es ist durchaus möglich, dass es durch Zu- bzw. Abwanderung und durch ein Ungleichgewicht bei der Zahl der Erstwähler im Verhältnis zur Zahl der Verstorbenen in den Wahlgemeinden zu ungleichen Zahlen der Wahlberechtigten bei der vergangeneo und der aktuellen Wahl kommt. In diesem Fall besteht die Lösung des Problems darin, die Erstwähler je Gemeinde wie eine Partei als unabhängige Variable und die Gestorbenen je Gemeinde als abhängige Variable in das Modell aufzunehmen. Das ermöglicht dann Aussagen darüber, zu welchen Parteien die Erstwähler "geströmt" sind und skurrilerweise auch, in welchem Maße die Wähler der Parteien der vergangeneo Wahl in die Gruppe der Gestorbenen "geströmt" sind.

Wahlhochrechnung und Wählerstromanalyse

453

Damit erkennen wir, welche Parteien vorzugsweise von alten und umgekehrt von jungen Menschen gewählt werden. "Alte Parteien" sind jene, deren Wähler aus der vergangenen Wahl überproportional in die Gruppe der Gestorbenen geströmt sind. Und ,junge Parteien" sind jene, deren Wähler unterproportional zu den Gestorbenen geströmt sind. Da es mit einem gewissen Aufwand verknüpft ist, die Zahlen der Erstwähler und der Gestorbenen je Wahlgemeinde zu erheben und, in der Vorbereitung der Hochrechnung, in den Computer eirizugeben, ist es eher selten, dass diese beiden Gruppen berücksichtigt werden. Wir haben eine derartige Hochrechnung (als Wählerstromanalyse) bei einer Landtagswahl (mit einer kleineren Zahl von Wahlgemeinden) im Nachhinein gerechnet. Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, die unterschiedlichen Wahlbeteiligungen von der vergangenen zur aktuellen Wahl auszugleichen: Durch die Einfiihrung von zwei "neuen" Variablen kann man erreichen, dass die Wahlpopulation zu beiden Zeitpunkten identisch ist. Diese beiden Variablen sind "Zuwanderungsgewinn" und "Abwanderungsverlust". Sie werden wie folgt gebildet: Zuwanderungsgewinn:

Diese Variable ist gleich 0, wenn die Wahlpopulation in einer Gemeinde abgenommen hat, sonst ist sie gleich der Differenz aus den Wählern der 2. Wahl und der I. Wahl. Abwanderungsverlust:

Diese Variable ist- im Unterschied zur Variablen Zuwanderungsgewinn gleich 0, wenn die Wahlpopulation in einer Gemeinde zugenommen hat, sonst ist sie gleich der Differenz aus den Wählern der 1. Wahl und der 2. Wahl. Die Variable Zuwanderungsgewinn wird als unabhängige Variable in das zu schätzende Modell aufgenommen, die Variable Abwanderungsverlust als abhängige Variable. Beim Verfahren der quadratischen Optimierung gibt es (zusätzlich) die Möglichkeit, eine 4. Nebenbedingung einzufiihren, die bewirkt, dass die fiir die aktuelle Wahl prognostizierte Stimmensumme korrekt ist. Wir stellen sie hier nicht da.•

1 Siehe

dazu Holm, Almo-Handbuch, Teil4, 2002, S. 221.

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KurtHolm

5. Splitterparteien Bei nationalen Wahlen, aber auch bei Landtagswahlen treten oft "Splitterparteien" auf, die nur minimale Stimmenzahlen filr sich gewinnen können. Hier hat es sich bewährt, diese Parteien in einer Partei, mit dem Namen "Sonstige", zusammen zu fassen. Den Erfolg einer Hochrechnung kann man natUrlieh erst nach der Auszählung aller Stimmen beurteilen. Eine gewisse Überprüfung ist aber auch im Verlauf der Hochrechnung möglich. Ein Beispiel: Bei einer Landtagswahl, bei der 35 von 445 Gemeinden ausgezählt sind, korrelieren die Stimmenergebnisse dieser 35 Gemeinden ftlr die Partei i mit dem vom Hochrechnungs-Modell filr diese 35 Gemeinden prognostizierten Stimmergebnissen mit i=0.9997. Entsprechend sind die i-Werte ftlr alle Parteien. Anders ausgedrückt: Die vom Hochrechnungsverfahren errechnete Übergangsmatrix erzeugt ftlr die 35 Gemeinden ein Stimmenergebnis, das mit dem tatsächlichen hervorragend übereinstimmt. Im Prinzip wird mit dieser Berechnung überprüft, ob die Grundannahme der Hochrechnung, dass in allen Gemeinden die prozentuellen Stimmenverschiebungen ungefähr gleich sind, zutrifft.

6. Mandatsverteilung Bei einer Hochrechnung sollte auch die Mandatsverteilung prognostiziert werden. Die Berechnung der Mandate, die die Parteien erzielen ist relativ kompliziert. Im Airno-Hochrechnungsprogramm kann der Benutzer in einem speziellen Eingabefeld eine "I" oder eine "2" eingeben. Gibt der Benutzer "I" ein, dann wird die Mandatsverteilung nach dem System von Hare/Niemeyer ermittelt. Dabei gelten folgende Voraussetzungen: (I) Jeder Wähler hat nur I Stimme, (2) alle Mandate sind Listenmandate, (3) es werden nur Parteien berücksichtigt, die auf oder über x% (üblicherweise 5 %) liegen oder Direktmandate (vermutlich) erhalten, (4) wenn eine Partei mehr als 50 % besitzt aber nicht die Mandatsmehrheit erhalten würde, dann wird ihr ein Restmandat zugewiesen. Diese Art der Mandatsermittlung gilt filr das I. Zuteilungsverfahren der deutschen Bundestagswahl und ftlr einige Bundesländer. Wenn der Benutzer "2" eingibt, dann wird das Verfahren nach d'Hondt durchgefilhrt. Dabei gilt wie bei Hare/Niemeyer obiger Satz (I) bis (3). Satz (4) gilt beim d'Hondtschen Verfahren nicht. In Almo ist das mehrstufige Verfahren, das bei der deutschen Bundestagswahl angewendet wird, in einem seperaten Programmteil enthalten.

Wahlhochrechnung und Wählerstromanalyse

455

111. Hochrechnung durch Exit-Poll Die Vorgangsweise ist folgende. Aus den vielen tausend Wahllokalen des Bundesgebietes wird eine Zufallsstichprobe gezogen. Ihre Größe hängt ab von der Zahl der zur Verfügung stehenden Interviewer. Vor jedem Wahllokal steht ein Interviewer der jedem x-ten (vielleicht jeden 4.) herauskommenden Wähler bittet, in einer eigens aufgestellt Wahlkabine nochmals dieselbe Partei zu wählen und diesen 2. Stimmzettel in eine bereit gestellt Wahlurne zu werfen. Da die Wähler erkennen, dass absolute Anonymität besteht, funktioniert das sehr gut. Es besteht die Möglichkeit, den "Stimmzettel" durch Fragen zu ergänzen, z.B. Fragen nach Geschlecht, Alter, Beruf, vergangene Wahl etc. Allerdings gilt: Je weniger Fragen umso besser. Kurz vor Wahlschluss zählt der Interviewer die Stimmzettel aus und teilt das Ergebnis seiner Zentrale mit. Damit wird es möglich, bereits im Augenblick des Wahlschlusses, um 18 Uhr (im Fernsehen) eine Wahlprognose abzugeben. Bei den letzten Wahlen in Deutschland war diese Prognose erstaunlich gut. Die hier beschriebene Vorgehensweise des "prognostischen Exit-Polls" wird von den unterschiedlichen Institutien in diversen Varianten durchgeführt. Das Hauptproblem ist es, die Wahllokale auszuwählen. Hier gilt: Je mehr sich das Auswahlverfahren der Zufallsstichprobe annähert, umso besser wird die Prognose sein.

Literatur Bacher, 1./Gfrerer, H.!Holm, K.: Wählerstromanalyse, in: Handbuch zu AlmoStatistiksystem, Teil 4, 2002. Bruckmann, G. : Schätzung von Wahlresultaten aus Teilergebnissen, Wien/WUrzburg 1966. Holm, K.: Almo-Statistiksystem, Handbuch zur Wahlhochrechnung, Linz 1998. Neuwirth, E.: Prognoserechnung am Beispiel der Wahlhochrechnung, in: Mertens, P.: Prognoserechnung, Heidelberg, 1994. -

Schätzung von Wählerübergangswahrscheinlichkeiten, in: Holler, M. (Hrsg.): Wahlanalyse, München 1984.

Wilkinson, J. H.!Reinisch, C.: Lineare Algebra, Berlin/Heidelberg!New York 1971.

Leistungsausgleich als neuer Ansatz in Wohlfahrtskonzepten Eine Herausforderung an die Politik Von Helmuth Schattovits Die Diskussion zum letztlich beschlossenen und mit 1.1.2002 in Kraft getretenen Kinderbetreuungsgeld (KBG) hat auch die Frage des Leistungsausgleiches fllr gesellschaftlich relevante Leistung thematisiert. In den theoretischen Begründungen war das Konzept vom Leistungsausgleich ein wesentlicher Ansatz. In der praktischen Politik und im öffentlichen Bewusstsein hat dieses Konzept noch nicht den notwendigen Stellenwert gefunden. Der Leistungsausgleich stellt jedoch einen durch den gesellschaftlichen Wandel, insbesondere der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsystem und der Individualisierung persönlicher Lebenssituationen, erforderlich gewordenen neuen Lösungsansatz in einem Wohlfahrtskonzept dar. Mit diesem Beitrag soll das Thema Leistungsausgleich, insbesondere unter einem familienpolitischen Aspekt, mit dem Ziel aufgegriffen werden, der Bewusstseinsbildung Impulse zu geben. Der Beitrag wird in drei Abschnitte und einen Exkurs gegliedert: Der erste Abschnitt beschreibt in einer Art einfllhrenden Grundlegung die Entwicklungen in Familie und Gesellschaft. Im zweiten geht es um das Konzept eines Leistungsausgleichs, im dritten wird eine sinnvolle praktische Umsetzung vorgestellt. Den Abschluss bildet ein Exkurs über solidarisches Wohnen. Mit diesem wird auch darauf verwiesen, dass Familienpolitik nicht nur eine ökonomische Dimension hat, die im Leistungsausgleich hier im Vordergrund steht.

I. Entwicklungen in Familie und Gesellschaft Die in Familie und Gesellschaft eingetretenen Veränderungen sind so weitgehend, dass die daraus entstandenen Herausforderungen nicht mit einem einfachen Mehr an bisherigen Maßnahmen problemlösend geantwortet werden. Es bedarf vielmehr neuer Ansätze, die der neuen Problemstruktur entsprechen. In diesem Sinn wird relevanten Veränderungen bezüglich Familie und Gesellschaft nachgegangen, zuerst auf Mikro- und dann aufMakroebene.

Helmuth Schattovits

458

I. Wandel aus Mikroperspektive In horizontaler Betrachtung lässt sich die Entwicklung wie folgt kurz zusammenfassen: Aus Familie als Gruppe mit ausgeprägter Personenvielfalt in einem Großhaushalt entsteht ein familiales Netzwerk von mehreren, meist räumlich getrennten Haushalten mit geringer Personenzahl oder Einpersonenhaushalten. Diese Veränderung wird schematisch in Abbildung I dargestellt.

D ®6 D

0~

Gruppe 1n einem Großhaushalt Personen und Rollenvielfalt

Netzwerk von Familien· Paar· und Einzelhaushalten Mehr Intimitat und Gestaltungsfreiheit

Abbildung I : Der strukturelle Wandel von der Familie als Großgruppe in einem Haushalt zu einem Netzwerk von Familien und Einzelpersonen in mehreren Haushalten Dieser Wandel macht fiir die Einzelperson aber auch die einzelne Partnerschaft und Familie mehr Intimität und persönliche Gestaltungsfreiheit möglich. Dem steht als Kehrseite die Notwendigkeit zur individuellen Sinngebung und Existenzsicherung gegenüber, so z.B. fiir letzteres der Erwerb individuellen Einkommens und individueller Ansprüche im System der Sozialversicherung. Die wesentlich geringere Personen- und Rollenvielfalt im jeweiligen Haushalt bedeutet auch geringere personelle Ressourcen. Das heißt z.B. im Konfliktfall tendenziell immer wieder auf das kleine Beziehungssystem zurückverwiesen zu werden, also keine personalen Ableitungsmechanismen in der Situation zu haben. Oder im Falle der erforderlichen Hilfe kaum auf im Haushalt lebende Personen zurückgreifen zu können, was insbesondere fiir alleinerziehende Eltern oder pflegebedürftige Menschen zu schwer überwindbaren Problemen fuhren kann.

In vertikaler Betrachtung fuhrt die zunehmende Lebenserwartung und die sinkende Fertilität, wobei die Kinder eher in einem kurzen Zeitraum des Lebensver-

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Iaufes - wenn auch zunehmend später - geboren werden, zur so genannten Bohnenstangenfamilie: Lang und dünn. Einerseits hat sich die Familie auf meist vier Generationen erweitert, häufig in drei Haushalten, und andererseits in der jüngste Elterngeneration auf etwa ein bis zwei Kinder verringert. Damit gibt es weniger Geschwister und später weniger Tanten bzw. Onkel, daftlr mehr lebende Großund Urgroßeltern. Die Großeltern sind häufig noch im Erwerb oder knapp in der Pension und meist noch als Ressource vorhanden. Die Urgroßeltern werden mit zunehmendem Alter pflegebedürftiger. So entsteht neben dem Betreuungsbedarf filr Kinder zusätzlich ein solcher filr ältere Senioren, der nicht einfach so nebenbei mitlaufen kann. Denn die Ansprüche an die Betreuenden steigen und das unter der Bedingung reduzierter Personenvielfalt Die Zahl jener Frauen und Männer hat zugenommen, die selbst keine Kinder bekommen- ungewollt oder gewollt. Letzeres wird zunehmend gesellschaftlich anerkannt. Wenn das anhält, wird eine Bevölkerungsgruppe von etwa 20-30% im Alter keine eigenen Kinder haben. Eine relativ neue gesellschaftliche Situation. In dieser strukturellen und geistigen Situation der Gesellschaft und Familien kommt es zu systembedingten Überforderungen von Familien und Einzelpersonen. So kann z.B. im sozioökonomischen Bereich der generelle Ausgleich von Kosten und Nutzen zwischen den Generationen und Geschlechtern kaum in den einzelnen Haushalten erfolgen und selbst im Netzwerk nur beschränkt. Hinzu kommen Überlegungen von Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit. Darauf wird im nächsten Punkt eingegangen.

2. Wandel aus Makroperspektive Wie oben erwähnt, besteht ein Ergebnis des gesellschaftlichen Wandels darin, dass der Ausgleich von Kosten und Nutzen zwischen den Generationen und Geschlechtern nicht mehr innerhalb des Familiensystems erfolgen kann bzw. erfolgt. Die folgende schematische Darstellung in Abbildung 2 verdeutlicht diese Aussage. Die Graphik zeigt schematisch den Ausgleich von Kosten und Nutzen zwischen drei Generationen: Nicht-mehr-Erwerbstätige (NME), Erwerbsgeneration (EWG) und Noch-nicht-Erwerbstätige (NNE) im familienwirtschaftlichen und im individualwirtschaftlichen System. In ersterem gleichen sich Kosten und Nutzen innerhalb des Familiensystems im Laufe der Generationen aus. In der heutigen Zeit funktioniert das als eine Folge des oben beschriebenen Wandels nicht mehr. Es ist daher eine Systemerweiterung um den Staat erfolgt. Die jeweilige Erwerbsgeneration fUhrt aktuell etwa die Hälfte ihres Erwerbsein-

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kommens in Form von Steuern und Abgaben an den Staat ab. Dieser finanziert u.a. daraus nach dem Lebensstandardprinzip den Unterhalt für die nicht mehr erwerbstätige Generation (NME) in Form der Pensionen (22,8 %der Löhne). Zu den Unterhalts- und Betreuungskosten für Kinder, die noch nicht erwerbsflihige Generation (NNE), trägt der Staat relativ wenig bei (4,5 % der Lohnsumme), so dass der Erwerbsgeneration, wenn diese Mütter oder Väter sind, beachtliche Kosten verbleiben. Der Nutzen der erwachsenen Kinder kommt wesentlich der Gesellschaft, dem Staat zu Gute. Aus Kindem als potentielle Quelle des Reichtums wird eine solche der Annutsgeflihrdung .

.. Familienwlrtschaft..

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bezüglich Kosten-Nutzen ein geschlossenes System

Kinderkosten bleiben weitgehend der Familie: nutzen 1n Form von Abgaben und Steuern hat Gesellschaft/Staat

"Kin75-jährige in etwa gleich hoch lag. Bis 1992 stiegt der Anteil der armutsgefährdeten ?-jährigen auf rd. 70 pro mille, während jene der >75-jährigen unter 20 pro mille fiel. Armutsgefährdung erweist sich zunehmend als Phänomen bei Kindem (Nauck/Bertram).



Die Höher der Eigenpension der 1996 in Österreich in Pension gegangenen Mütter nahm mit der Zahl der Kinder deutlich ab: 1 I Kind rd. öS 12.000,-, 2 Kinder rd. öS 9.900,-, 3 Kinder rd. 8.300,- und vier Kinder rd. 6.700,-. Dies trotz der Einbeziehung von Kindererziehungszeiten, deren Anteil bei einem Kind 4% (rd. öS 500,-) und bei vier Kindem 21 % (rd. öS 1.500,-) betragen hat. Diese Zahlen bestätigen, dass das System der Pflichtversicherung an sich gegen die Solidarität verstößt und die Übernahme von Verantwortung für Kinder geradezu bestraft. Die partiell eingeführte Ersatzzeitenregelung wirkt dem entgegen und stellt eine grundsätzlich funktionale Maßnahme dar, ist aber quantitativ völlig unzureichend ausgestattet, um einen angemessenen Ausgleich sicherzustellen.

II. Leistungsausgleichsprinzip f"ür gesellschaftlich relevante Arbeit Eingeleitet wird mit einer Längsschnittbetrachtung, die noch deutlicher werden lässt, als die oben besprochenen Querschnittsbetrachtungen, dass grundlegende staatliche Maßnahmen im Sinne einer sekundären Einkommensvertei-

1 In dieser Betrachtung sind demnach jene Mütter nicht berücksichtigt, die keine Eigenpension erhalten.

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Jung erforderlich sind, gerade in einer gesellschaftlichen Situation vielfiiltiger Lebensformen und -verläufe. Dazu die folgende Skizze in Abbildung 3:

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Legende: ohne Ki = Haushalte ohne Kinder; mit KiAV = Haushalte mit Kindern, nach Geburt des ersten Kindes Alleinverdienersituation; mit Ki Wied = Haushalt mit Kindern, Wiedereinstieg beider Eltem in den Erwerb

Abbildung 3: Schematische Darstellung der Kaufkraftentwicklung eines Haushaltes mit und ohne Kinder im Lebensverlauf

Die Graphik skizziert den in der Lebenswirklichkeit anzutreffenden Zusammenhang der Kaufkraft in einem durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalt differenziert nach der Lebensform. Während ein kinderloser Haushalt im Wesentlichen bis zur Pension kontinuierlich ansteigende, verfilgbare Kaufkraft zu verzeichnen hat, sinkt diese nachhaltig sobald ein Kind im Haushalt persönlich versorgt wird oder Ausgaben filr die externe Betreuung das verfilgbare Einkommen verringern. Die grün punktierte Linie zeigt den Verlauf bei Wiedereinstieg, also Erwerbstätigkeit beider Eltern nach einem (Teii-)Ausstieg eines Elternteils aus dem Erwerb. Über die Tatsache des Problems besteht auch politisch kaum eine Differenz, sehr wohl jedoch über die Lösungsansätze und Maßnahmen.

Leistungsausgleich als neuer Ansatz in Wohlfahrtskonzepten

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Die aktuelle politische Diskussion sucht das oben dargestellte Problem im Wesentlichen nach dem Versicherungsprinzip und Fürsorgeprinzip zu lösen. Die neuen Situationen als Ergebnis des Wandels verlangen allerdings nach neuen Ansätzen. An Hand der folgenden Abbildung 4 wird näher darauf eingegangen.

Leistungsausgleichprinzip bei gesellschaftlieh relevanter Arbeit Transperententgelte Kinderbeihilfe, Kinderbetreuungsscheck, Bundespflegegeld u.a.

Versicherungsprinzip

Fürsorgeprinzip

bei E IWerbsarbeit

bei mangelnder Leistungsfähigkeit

Markteinkommen

Fürsorgezahlungen

Arbeitslosenentgelte, Kranken- und Pensionsversicherung u.a.

Sozialhilfe u.a.

Abbildung 4: Drei mögliche Ansätze für politische Maßnahmen im Wohlfahrtssystem



Die aktuelle Diskussion dominiert das Versicherungsprinzip in Verbindung mit Erwerbsarbeit - ja wird häufig sogar als geradezu einzige Möglichkeit angesehen, Entgelte und Ansprüche individuell zu erwerben und damit den Kaufkraftverlust ansatzweise auszugleichen. Wer am Erwerb teilnimmt, leiste in Geld Beiträge, die z.B. bei Schwangerschaft, der Betreuung von Kleinkindern, im Krankheitsfall und im Alter zu Ansprüchen in mehreren Bereichen fllhren. Letztere hängen bei idealtypischer Anwendung des Prinzips meist mit der Höhe der geleisteten Beiträge und damit des vorhergehenden Erwerbseinkommens zusammen. Diese Position verharrt im reduktionistischen Verständnis von Arbeit als Erwerbsarbeit und lässt andere, gesellschaftlich relevante Arbeit unberücksichtigt. Damit wird Mehrfachbelastung von Eltern gegenüber kinderlosen Frauen und Männern geilirdert. In diesem Ansatz wird mögliche Zeit fl1r wesentliche gesellschaftliche Tätigkeiten systematisch fllr den Erwerb gebunden.

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Wer daher am Erwerbsprozess nicht eine gewisse Mindestzeit teilgenommen hat, wird trotz erheblicher gesellschaftlich relevanter Leitungen bei z.B. gleicher Familiensituation bestenfalls auf die gesellschaftlichen Fürsorgesysteme verwiesen. Letztere dienen als Auffangnetz fiir Menschen, die zeit- oder teilweise nicht fiir sich selbst sorgen können. Die gewährten Ansprüche hängen meist von der eigenen (finanziellen) Situation oder jener des Partners ab. Es muss als grob unbillig angesehen werden, gesellschaftlich so relevante Leistungen wie Kinderbetreuung in den Bereich von Fürsorge zu positionieren. Denn Betreuungspersonen, wie z.B. Mütter und Väter, sind ja nicht in ihrer Leistungsflihigkeit beschränkt, sondern erbringen im Gegenteil beachtliche Leistungen fiir Mensch und Gesellschaft.



Das dritte Prinzip, Leistungsausgleich, setzt beim Betreuungsbedarf z.B. des Kindes, der behinderten Person u.ä. an. Demnach wird die zu erwartende Betreuung- meist in Abhängigkeit vom Alter des Kindes - als solche unterstützt. Eine Person, welche solche oder ähnliche gesellschaftlich relevante Leistungen erbringt, erwirbt dadurch Ansprüche, unabhängig von ihrer Erwerbstätigkeit oder finanziellen Situation. Das Leistungsausgleichsprinzip macht es damit möglich, gleichwertige Entgelt und soziale Sicherheit auch außerhalb des Erwerbsarbeitsmarktes zu verdienen. Diese so eingesetzte Zeit muss nicht zusätzlich zur Erwerbszeit erbracht werden. Die Teilnahme an der Erfiillung von z.B. Betreuungsarbeit vermittelt gewisse Ansprüche auf Entgelt und soziale Sicherheit. Es entsteht ein so genanntes participation income (Atkinson), das sich vom citizen's income (Grundeinkommen nach dem Fürsorgeprinzip) eben durch Anerkennung einer gesellschaftlich relevante Leistung unterscheidet. Abschließend wird auf die Diskussion der Existenzsicherung in der Landwirtschaft hingewiesen, da diese ebenfalls beim Leistungsausgleich ansetzt. Gewisse gesellschaftlich relevante Leistungen der Bauern sollen künftig durch die EU nicht wie bisher über gestützte Preise abgegolten werden. Vielmehr wird die Bedeutung der Arbeit der Bauern fiir den Umweltschutz (Landschaftsgärtner als gesellschaftlich relevante Leistung) anerkannt und daher zunehmend als Grund filr Ausgleichszahlungen herangezogen. Mit diesem dritten Ansatz wird der Vorrat an möglichen Lösungen qualitativ und quantitativ erweitert: Lösungen finden sich nicht nur jeweils in bzw. zwischen zwei Polen sondern auch in der Fläche des Modelldreiecks. Genau diese Erweiterung stellt eine Voraussetzung dar, um der Vielfalt von (familialen) Lebenssituationen besser gerecht werden zu können. Damit braucht individuelle Sinngebung und soziale Sicherheit nicht in jeder Lebenssituation primär über den Arbeitsmarkt gefunden zu werden, sondern auch im konkreten Leben sozialer Beziehungen.

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Abschließend wird noch kurz auf ein aUgemeines Missverständnis eingegangen, das darin besteht, insbesondere im tinanzieHen Aspekt des Leistungsausgleichs primär ein Instrument zu sehen, um den Kinderwunsch zu erhöhen. Dazu gilt es klarzustellen: Die Familienpolitik in Österreich hat traditionell nicht primär zum Ziel, den Kinderwunsch zu erhöhen. Es geht vielmehr einerseits um Gerechtigkeit zwischen den Generationen und Geschlechtern sowie andererseits um Rahmenbedingungen, die es Frauen und Männern ermöglichen, die erwünschte Kinderzahl zu realisieren. Familienpolitik beeinflusst in ihrer finanziellen Dimension demnach nicht primär den Kinderwunsch, sondern die Möglichkeit, den vorhandenen Kinderwunsch zu verwirklichen. Jedenfalls hätte in Österreich - grob gesagt -jede zweite Familie gerne ein Kind mehr als tatsächlich geboren werden. Demnach erfordern die gemachten Rahmenbedingungen eine (hohe) Zusatzmotivation um überhaupt Verantwortung fiir Kinder zu übernehmen, jedenfalls filr mehr als eines. 2

III. Konzept eines Familienleistungsausgleichsfonds (FLAF) Die praktische Umsetzung des Leistungsausgleichsprinzip kann in einem Familienleistungsausgleichsfonds erfolgen. Günstig dafilr ist, dass es in Österreich bereits seit 1954 den Familienlastenausgleichsfonds (FLAF) gibt, dessen erste Ansätze auf das Jahr 1948 zurückgehen und ein Werk der Sozialpartner sind, das seitens der Kirchen nachhaltig unterstützt worden ist. Die damalige Initiative hat aber an Dynamik verloren, ja der FLAF wurde zeitweise sogar in Frage gesteHt und zunehmend als Instrument zu Finanzierung möglichst aller familienrelevanten Maßnahmen herangezogen aber auch zur Entlastung des Budgets direkt oder durch Querfinanzierungen. Mit dem FLAF wird also etwas gemacht, was bei den Pensionskassen geradezu undenkbar ist, obwohl sie die gleiche Funktion haben wie der FLAF fllr die Kinder. Oder kann sich jemand vorstellen, dass die Pensionsversicherungsanstalten die Altenheime, Spitalsaufenthalte von oder Tarifermäßigungen filr Pensionisten u.ä. finanzieren oder statt der Zuschüsse aus dem Bundesbudget die Versicherung an das Budget Zahlungen leisten. Diese Hinweise zeigen, dass der Leistungsausgleich als notwendiges Konzept zur Sicherung von Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit zwar im Ansatz auch praktisch vorhanden ist, aber im Bewusstsein der Öffentlichkeit

2 Bezüglich Kinderzahl deutet sich folgendes Muster an: Zunehmend mehr Männer und Frauen haben bzw. wollen keine Kinder, was gesellschaftlich anerkannt ist und sich zunehmend realisiert. Bei vielen Eltern besteht der Wunsch auf zwei und mehr Kinder, was gesellschaftlich nicht genügend unterstützt wird.

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und der Entscheidungsträger nicht den erforderlichen Stellenwert hat, ja eher versandet ist. Dazu passt, dass das geltende Familienleistungsausgleichsgesetz seit nun 35 Jahren besteht und mehrfach novelliert worden ist. Unter Bedachtnahme auf die eingetretenen Entwicklungen reichen Novellierungen einfach nicht mehr aus. Eine grundlegende Reform ist erforderlich. Dabei wäre an der Finanzierung über einen Fonds festzuhalten, allerdings in einer verbesserten Institutionalisierung als derzeit in Form einer zweckgebundenen Gebarung im Budget. Eine Finanzierung über das allgemeine Budget lässt wenig Kontinuität und Nachhaltigkeit erwarten. Eine Alternative zum Fonds wäre eine entsprechend qualitativ und quantitativ gestaltete Statszielbestimmung in der Verfassung. Bei der im Rahmen der Reform zu diskutierenden Form der Finanzierung des FLAF wird es auch darum gehen müssen, ob die MUtter, Väter und Kinder aus der Solidarität der Pflichtversicherung herausgenommen werden sollen. Das geschieht jedenfalls dann, wenn der FLAF Querzahlungen z.B. an die Pensionsversicherung oder Krankenkasse leistet, was derzeit verstärkt der Fall. Was nun die Aufgaben des Familienleistungsausgleichsfonds betrifft, ist es im Sinne eines Ergebnisses einer Funktionsanalyse naheliegend, zwischen generell präventiven und individuell helfenden Aufgaben des FLAF sowie unterstützenden Dienstleistungen zu unterscheiden.3



Generell präventive Maßnahmen: Diese Maßnahmen dienen dem sozialen Ziel des Ausgleichs zwischen jenen, die aktuell Kosten ftlr den Unterhalt, Pflege und Erziehung von Kindem zu tragen haben und jenen, ftlr die das aktuell nicht zutrifft (so genannter horizontaler Ausgleich). Es handelt sich demnach um generelle und präventive Maßnahmen: Generell weil sie allen Kindem in gleicher Weise zu Gute kommen und präventiv, weil sie sozialer Ungerechtigkeit vorausschauend vorbeugen. Die Finanzierung erfolgt nach wirtschaftlicher Leistungsfllhigkeit der verptlichteten Person anteilsmäßig oder progressiv, die Verteilung an alle Kinder in gleicher Höhe. Das bewirkt eine Umverteilung derart, dass die oberen Einkommensbezieherlinnen mehr zahlen als sie zurückbekommen, während ftlr die unteren und Mehrkinderfamilien das Gegenteil gilt: es

3 Die Bedeutung der Differenzierung bestätigt die Diskussion zwischen den Verfassern des Deutschen Kinderberichtes und der damaligen Farnilienministerin: Erstere verwiesen auf die zunehmende Armutsgefährdung von Kindem zufolge der zunehmenden Zahl an Kindem als Sozialhilfeempflingem. Die Ministerin hielt dem entgegen, dass die Sozialhilfe ja Armut verhindert und diese Kinder daher nicht als arm bezeichnet werden dürfen.

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wird weniger eingezahlt als herausbekommen. Neben dem primären Ziel des horizontalen Ausgleichs erfolgt demnach ein beachtliche vertikale Umverteilung. Auf der Verteilungsseite ebenfalls nach Einkommen zu staffeln, würde Kinder zufolge von Merkmalen der Eltern vom Ausgleich ausschließen. Damit würde das soziale Ziel Ausgleich verfehlt und soziale Treffsicherheit nicht gegeben. Den Kern solcher generell präventiven Maßnahmen bilden: •

Familienbeihilfe Die Familienbeihilfe dient dem primären Ziel, Unterhaltskosten für Kinder zwischen jenen die aktuelle solche zu tragen haben und jene filr die das nicht zutrifft ansatzweise auszugleichen.



Kinderbetreuungsscheck - aktuelle Vorstufe ist das Kinderbetreuungsgeld Der Betreuungsscheck dient dem primären Ziel, Betreuungsleistungen filr Kinder zwischen jenen, die solche aktuell sicherzustellen haben und jenen, filr die das nicht zutrifft, auszugleichen. Hiezu gehören auch: Gutscheinsysteme, Pensionsansprüche, Krankenversicherung u.ä.



Spezifische Maßnahmen - individuell helfend



Diese Maßnahmen dienen der Unterstützung Uber den generell präventiven Ausgleich hinaus, wenn zufolge persönlicher Umstände eine Unterstützung der Familie notwendig wird. Dabei handelt es sich um ergänzende Maßnahmen, die auch in die Kompetenz von Regionen, Bundesländern fällt. Es wäre zu prüfen, ob in einer Vereinbarung der Bund sich auf generell präventive Maßnahmen konzentriert und die Länder individuell helfende weitgehend übernehmen. •

Direkte Armutsbekämpfung im Einzelfall Die Familienzuschüsse mit einer Einkommensgrenze nach dem ProKopf-Einkommen mit dem direkten Ziel der Minderung von- trotz der generellen Maßnahmen - noch bestehender Familienarmut im konkreten Einzelfall. Die Einkommensgrenzen sind grundsätzlich auf das Pro-KopfEinkommen abzustellen und nicht auf das Haushaltseinkommen.



Akute Krisenintervention Dieser dient der Härteausgleich mit dem primären Ziel der Verminderung der Folgen von aktuellen Krisensituationen.



Vorschusszahlungen- Kreditgewährung Diese dienen der Entlastung der anspruchsberechtigten Person von der Einbringung der zustehenden Mittel (Unterhaltsvorschuss). Eine ähn~

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liehe Funktion erftlllt der Zuschlag zum Karenzgeld!Betreuungsgeld: Wenn z.B. der Kindesvater seiner Unterhaltsverpflichtung wegen zu geringen Einkommens nicht nachkommen kann.



Strukturell abstützende Dienstleistungen: Neben den direkten sind auch indirekte Maßnahmen erforderlich, die als strukturell abstützende Dienstleistungen angesehen werden können. Sie liegen im Bereich der Bildung, Beratung, Forschung und Interessenvertretung •

Beratung Familienberatungsförderung



Elternbildung Aus- und Aufbau der vorbereitenden und begleitenden Elternbildung



Evaluierung und Familienforschung Aus- und Aufbau der Generationen- und Geschlechterforschung sowie der Evaluierung von Maßnahmen der Familienpolitik



F ami/ienorganisationen, Interessenvertretung Förderung der Basisarbeit und Selbstorganisation

Abschließend noch eine Anmerkung zur Weiterentwicklung des KBG. In den generell präventiven Maßnahmen wurde der Kinderbetreuungsscheck (KBS) genannt und das Kinderbetreuungsgeld als Vorstufe dazu bezeichnet. Tatsächlich hat mit dem seit 01.01.2002 geltenden Kinderbetreuungsgeldgesetz (KBGG) die Familienpolitik die Herausforderung des Wandels im Sinne des KBS konstruktiv aufgegriffen. 4 So wurde mit dem KBG das Kind mit seinem Betreuungsbedarf und -bedürfnis in den Mittelpunkt gestellt und die gesellschaftliche relevante Leistung der Kinderbetreuung auch konkret generell anerkannt und ansatzweise abgegolten. Damit wird auf die Vielfalt der Lebenssituation von Familien angemessen reagiert und Wahlfreiheit bezüglich Betreuung vom Ansatz her ermöglicht. Es wäre nun wichtig, diese Maßnahme nicht als Abschluss sondern als Anfang einer Neuorientierung zu sehen. In diesem Sinn könnte das in der Machbarkeitsstudie vom ÖIF entwickelte Konzept des KBS schrittweise verwirklicht und in einem Reformwerk FLAF eingebunden werden. Der KBS sieht über das KBG hinaus ein finanzielle Unterstützung bis Ende 1. Klasse Volksschule vor. Dabei wird bis vollendetem 4. Lebensjahr ein Geldbetrag ausbezahlt. In der anschließenden "Kindergartenphase" wird der Geldbetrag gesplittet: Ein Gutschein (GS) im Wert einer halbtägigen externen Betreuung und ein Geldbetrag. 4

Eine Parallele kann zum 1993 eingeftlhrten Bundespflegegeld hergestellt werden.

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Der Gutschein ist in Geld nicht ablösbar, sondern kann nur von anerkannten externen Betreuungspersonen bzw. -institutionen in Zahlung genommen werden. Hier sind die Bundesländer in besonderer Weise einzubinden und auch gefordert. Mit dem GS wird nämlich die bisherige Förderungspraxis geändert: Nicht Objektförderung sondern Subjektförderung wird als Gestaltungsprinzip wirksam. Das bedeutet bei den Eltern wird Kaufkraft fiir Kinderbetreuung geschaffen und nicht Träger werden subventioniert. Das ändert die Position der Eltern: Sie können als Kunden und nicht als Bittsteller auftreten. Im ersten Volksschuljahr wird der halbe Geldbetrag zur VerfUgung gestellt.

IV. Exkurs: Solidarische Wohnformen 5 Die Verringerung der Personenvielfalt in den einzelnen Haushalten und der Rückgang der Kinderzahl je Familie, wirft auch die Frage der sozialen Verwandtschaft auf. Damit ist gemeint, dass im familialen Netzwerk nicht nur blutsverwandte Personen sondern auch durch wechselseitiges Annehmen soziale Verwandtschaft entsteht. Darin könnte eine künftige Entwicklung hingehen und Netzwerke der Kommunikation und Kooperation entstehen. Eine mögliche Form gelebter sozialer und familiärer Verwandtschaft stellt die Gemeinschaft B.R.O.T. (Beten-Reden-Offensein-Teilen) dar. Es handelt sich um einen gemeinnützigen Verein, der in Wien 17 ., Gebiergasse 78, also zwischen Gürtel und Vorortelinie sowie Hernalser Hauptstraße und Ottakringerstraße, mit Hilfe der Wohnbau~rderung ein Wohnheim errichtet hat. Der Verein hielt im Jänner 1987 die konstituierende Sitzung ab. Interessenten wurden mittels Flugblättern, Inseraten und Weitersagen ab Herbst 1985 gefunden. Dem Verein können nur erwachsene Personen angehören, damit wird filr Kinder eine Zwangsmitgliedschaft vermieden. Selbstverständlich können die Kinder im Haushalt der Eltern mitwohnen. Jede Familie hat filr ihre Kinder insgesamt eine zusätzlich Stimme. Das Wohnheim wurde im Mai 1990 besiedelt. Diese Gemeinschaft verfolgt das Ziel, auf der Basis christlicher Spiritualität, gemeinschaftliches Wohnen zu ermöglichen und dadurch auch soziale Dienste erbringen zu helfen. Dabei werden keine spezialisierten Leistungen, wie z. B. Therapie u. ä. angeboten, sondern durch die Art und Weise des konkreten Alltagslebens soll einander geholfen werden. Dabei wird filr Menschen mit

s Informationen: Mag. Marie-Theres Schramm und Renate Schattovits, beide: A1170 Wien, Gebiergasse 78.

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schwieriger Lebenserfahrung und -Situation auch eine Brückenfunktion ftlr den vollen Wiedereintritt in ein eigenständiges Leben erftlllt. Diese Dienste werden persönlich erbracht und nicht durch dafür angestellte Personen. Das in spezialisierten Einrichtungen praktizierte Modell von Betreuern und Betreuten soll durch Integration bewusst vermieden und überwunden werden. Im Haus wohnen Menschen unterschiedlicher Altersstufen, geistiger, kultureller und körperlicher Verfassung sowie Familien und Einzelpersonen auf Dauer und auf Zeit. Alte und Junge, Gesunde und Kranke, Arme und Wohlhabende wollen Freude und Leid miteinander teilen und tragen, unter vollem Respekt vor der Intimsphäre der Person, der Ehe sowie der Familie. Die Rechtsform Wohnheim wurde gewählt, weil dieses dem zugrundeliegenden Anliegen am angemessensten erschien. Kein/e Bewohner/in erwirbt Eigentum oder übliche Mietrechte, sondern jede/r erhält einen Nutzungsvertrag für einen Heimplatz. Jede/r lebt somit unter gleichen formalen Nutzungsbedingungen. Damit wird auch einerseits der Begriff Heim aus einem eher negativen Verständnis herausgenommen und andererseits die desintegrierende Typenbildung nach Kategorien überwunden. Beim Wohnheim Gebiergasse 78 handelt es sich nicht nur soziologisch um eine Innovation, sondern auch architektonisch. Es wurde die Säulenbauweise gewählt, um Flexibilität auch bezüglich der Wohnungsgrundrisse zu erleichtern. Tatsächlich wurden bereits in fünf Fällen, die Wohnungsgrößen geändert. Die Wohnnutzfläche beträgt rd. 1.770 m2 mit 25 Wohnungen, 18 ftlr Mitglieder und 7 ftlr Gäste, zwischen 22 und130m2 aufftlnfEtagen. Hinzu kommen etwa 600 m2 Gemeinschaftsräume und zusätzlich mehrere Terrassen. Zur Zeit besteht die Gemeinschaft aus neun Familien, davon eine alleinerziehende ledige Mutter, ein alleinerziehender verwitweter Vater und eine ebensolche Mutter, einem Ehepaar und sieben Einzelpersonen, alle Frauen. Von den Frauen sind ftlnfUber 60 Jahre, die älteste ist 90 Jahre. Das jüngste Mitglied ist 30 Jahre. Ein Mitglied gilt als geistig behindert. Mit diesen 25 erwachsenen Mitgliedern wohnen 22 Kinder zwischen einem und zwanzig Jahren im gemeinsamen Haushalt mit den Eltern. Seit der Besiedlung 1990 wurden acht Kinder geboren und ein Kind in Pflege genommen. Ein Mitglied ist 90jährig, eines 45jährig und eines 40jährig gestorben, ein Mitglied nach vier Jahren aus der Gemeinschaft ausgetreten. Zwei junge Paare sind als Mitglieder hinzugekommen. Die aktuell sechs Gästewohnungen, die als Übergangswohnungen ftlr Menschen, die aus einer schwierigen Lebenssituation kommend, in ein eigenständiges Leben finden wollen, gewidmet sind, wurden häufig frequentiert und noch häufiger angefragt. So haben seit 1990 bis heute 73 Personen (verschiedenster

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Nationen) - davon 24 Kinder - unterschiedlich lang im B.R.O.T-Haus gewohnt. Als sich 1992 die erste große Flüchtlingswelle aus dem Kriegsgebiet im ehemaligen Jugoslawien in Bewegung setzte, konnten 17 Bosnier aufgenommen werden, fürs erste in einem rasch eingerichteten Lager im Turnsaal. Inzwischen haben alle bereits eigene Wohnungen gefunden. Mit Ausnahme eines älteren Ehepaares, das inzwischen nach Bosnien zurückgekehrt ist, gehen alle einer geregelten Erwerbsarbeit in Österreich nach. Alle im Haus Wohnenden müssen den kostendeckenden Nutzungsbeitrag für die Wohnung bezahlen. Jene, die das nicht können, werden aus dem Solidaritätsfonds unterstützt. Dieser Fonds wird durch Selbstbesteuerung der Mitglieder der Gemeinschaft und auch durch Spenden von außen genährt - Verwandte, Freunde, Nachbarn etc. Damit konnten z. B. die Flüchtlinge aus Bosnien bis jetzt mit rund € 75.000,- (öS I Mio.) gefördert werden. Die bisherige Entwicklung kann als Prozess des Gelingens, Dahinwursteins und Misstingens bezeichnet werden. Insgesamt dUrften die Erwartung weitgehend erfüllt worden sein. Im Folgenden sollen einige Erfahrungen qualitativ herausgegriffen werden: •

Wichtig für die positive Entwicklung ist eine gemeinsame, von allen grundsätzlich anerkannte Basis als Bezugspunkt für Ansätze zur Lösung von Konflikten. In der Gemeinschaft ist es der Glaube an Gott, vornehmlich aus einer christlichen Spiritualität.



B.R.O.T. hat bewusst keinen Punkt als Norm zwischen Polen wie z. B. Individualität und Verbindlichkeit definiert, sondern lässt Bandbreiten zu. Diese sind für die einzelnen Mitglieder zumindest zeitweilig und teilweise unterschiedlich groß. Es geht darum, wie viel an Spannung möglich und zuträglich ist. Dieses Offensein ist bisher jedem und der Gemeinschaft zugute gekommen.



Kinder von Gemeinschaftsmitgliedern nehmen ältere Frauen als neue Großmütter an. Generell haben sich die Freundeskreise der Kinder erweitert. Die mögliche Enge der klein gewordenen Kernfamilie kann überwunden werden. Die Unterstützung beispielsweise durch gegenseitige Kinderbetreuung (Babysitten) entlastet insbesondere MUtter und schaffi: für sie Freiraum.



Auch wenn nicht jede Einsamkeit überwunden werden kann, finden Kontakte zwischen den Mitgliedern und mit Gästen statt, die erleben lassen, dass keiner allein gelassen wird. Durch erfahrbares Wohlwollen entsteht auch ein Schonraum, der Freiheit ilirdert.

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Für die Gäste, die im Haus eingezogen sind, um aus der Betreuung den Schritt in das eigenständige Leben erproben zu können, hat sich die Brückenfunktion fiir zumindest 90 % eingestellt.



Die Aufnahme und mehrere Jahre Betreuung und Integration von bosnischen Flüchtlingen wäre ohne die Gemeinschaft nicht möglich gewesen.



Bisher ist lediglich ein Mitglied ausgeschieden, während mehrere sich um die Mitgliedschaft bewerben.

Selbst wenn eine positive Grundstimmung für eine Idee, ein Anliegen bei mehreren Menschen vorhanden ist und auch vom sozialen Umfeld gestützt wird, besteht das Problem des ersten Schrittes. Gelingt dieser nicht, bleibt es weiter beim Wollten, Sollten, Müssten etc. Im Falle der Gemeinschaft B.R.O.T. hat wesentlich zu diesem entscheidenden ersten Schritt das Forschungsprojekt "Integratives Wohnen als soziales Dienstangebot" (Klar/Schattovits), gefordert von der Wohnbauforschung, beigetragen.

Literaturhinweise Atkinson, A. B.: The Case for a Participation Income, in: The Political Quarterly, Vol. 67, Iss.1, p. 67-70, 1996. Radelt, Ch. (Hrsg.): Handbuch der Nonprofit Organisationen, Stuttgart 1997. Klar, S./Schattovits, H.: Integratives Wohnen als soziales Dienstangebot und Integratives Wohnen- Umsetzung einer sozialen Innovation, Forschungsbericht Band I und 2, Wien 1987 u. 1992. Nauck, B./Bertram, H. (Hrsg.): Kinder in Deutschland- Lebensverhältnisse von Kindern im Regionalvergleich, Opladen 1995. Schattovits, H.: Familienprogramm filr Österreich- ein Solidarpakt, Bundesministerium ftir Jugend und Familie, Wien 1995. - Familienpolitik - als eigenständiger Politikbereich begründet, in: Bundesministerium ftir Umwelt, Jugend und Familie (Hrsg.): 4. Österreichischer Familienbericht 1999Familie zwischen Anspruch und Alltag, Wien 1999, S. 414-589. - (Hrsg.): Kinderbetreuungsscheck- Modellentwicklung und Analysen, Schriftenreihe des Österreichischen Institutes filr Familienforschung (ÖIF), Heft 9, Wien 2000.

Achter Teil

Recht und Gerechtigkeit zwischen Ordnung und Moral

Soziale Gerechtigkeit als Rechtsbegriff Von Theo Mayer-Maly Alt- und Neoliberale sind untereinander offenbar darüber einig, daß soziale Gerechtigkeit keine sinnvolle Kategorie, kein justiziabler Begriff sei. So lesen wir bei Österreichs leider letztem Nobelpreisträger, Friedrich August von Hayek 1: "We shall see later thatjustice in this connection can mean only such wages and prices as have been determined in a free market without deception, fraud or violence ..."

Hans Kelsen bringt in seiner "Reinen Rechtslehre"2 ein bewegendes Kapitel über "Die neuen Normen der Gerechtigkeit". An diesem fiillt besonders die Fülle der vor allem auf das Neue Testament bezogenen Bibelzitate auf, über die sich bisher niemand in der neueren Theologie ernstliche Gedanken gemacht hat. Kelsen weist die Aussage zurück, eine positivistische Rechtslehre behaupte, daß es keine Gerechtigkeit gebe (S. 403). In einem in Wien (in der Urania) gehaltenen Vortrag "Was ist Gerechtigkeit?" gab er seine Antwort: "Gerechtigkeit ist Toleranz".3 Damit war ein rechtsphilosophischer Grundstein filr jenen Multikulturalismus gelegt, dessen Chancen Charles Taylor4 in Erinnerung gerufen hat. Über die von Niklas Luhmann 5 mit der Begründung, das Thema sei filr einen rationalen Diskurs ungeeignet, verweigerte Antwort auf die Gerechtigkeitsfrage ist man damit hinausgekommen. Zeuge daftlr ist vor allem die "Theory of Justice" ( 1971) von John Rawls. Mit Recht konnte Johann Braun seinem Werk "Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert" (2001) den Untertitel "Die Rückkehr der Gerechtigkeit" geben. Für einen der Auslegung und Anwendung von geltendem Recht zugewandten Juristen ist die Frage nach dem, was Gerechtigkeit bedeuten soll, unentrinn-

1 Hayek:

Law, Legislation and Liberty, Vol. I, 1973, S. 141.

Ke/sen: Reine Rechtslehre 1976, S. 357 ff. 3 Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?, 1975. 4 Tay/or: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 1993. 5 Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 216 ff. 2

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bar. Zwei Bereiche, an deren existentieller Relevanz ftlr viele Menschen nicht gezweifelt werden kann, stellen die Frage nach dem, was als gerecht zu gelten hat, nicht aus Zufall in den Mittelpunkt, das Arbeitsrecht und das Mietrecht Nach § 1 Abs. 1 des deutschen Kündigungsschutzgesetzes ist die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses gegenüber einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat, rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. Der deutsche Gesetzgeber geht somit unbestreitbar davon aus, daß Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nicht Blankette, sondern justiziab/e Rechtsbegriffe sind. Daß es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe und nicht etwa um Ermächtigungen zum Ennessensgebrauch 6 handelt, verschlägt dabei nichts. Für die Konkretisierung des unbestimmten Gesetzesbegriffs "sozial ungerechtfertigt" gibt der deutsche Gesetzgeber der rechtsanwendenden Arbeitsgerichtsbarkeit wichtige Richtlinien an die Hand, allerdings in negativer Formulierung. Nach dem 2. Absatz von § 1 KSchG ist eine Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder im Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse 7, die einer Weiterbeschäftigung entgegenstehen, bedingt ist. Mit dem 2. Satz von § 1 Abs. 2 geht das deutsche KSchG noch einen Schritt weiter. Diese nicht allzu glücklich verfaßte Bestimmung erklärt - unter weiteren Voraussetzungen - auch eine Kündigung filr sozial ungerechtfertigt, wenn in Betrieben des privaten Rechts eine Kündigung gegen eine Richtlinie nach § 95 des deutschen Betriebsverfassungsgesetzes verstößt und der Arbeitnehmer an einem anderen Arbeitsplatz in demselben Betrieb oder in einem anderen Betrieb desselben Unternehmens weiterbeschäftigt werden kann. Diese Regelung mag nicht besonders glücklich ausgefallen sein. Rational nachvollziehbar und damit justiziabel ist sie allemal. Der Österreichische Gesetzgeber hat die Regelung des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzes im Arbeitsverfassungsgesetz (besonders dessen § I 05) angesiedelt. Der Grund dafilr liegt darin, daß der Österreichische Kündigungsschutz leider immer noch kollektivrechtlich ausgestaltet ist und in vielen Fällen vom Verhalten des Betriebsrates abhängt. Der juristische Zentralbegriff, auf den aber auch in Österreich abgestellt wird, ist jedoch der gleiche wie in Deutschland: die soziale Rechtfertigung einer Kündigung. Sie fehlt nach § 105 Abs. 3 Z 2 des Österreichischen Gesetzes bei bereits sechs Monate hindurch Beschäftigten, wenn "wesentliche Interessen des Arbeitnehmers beeinträchtigt" werden und die Kündigung nicht durch betriebliche Erfordernisse oder durch Umstände in der Person des Arbeitnehmers begründet ist. Über der InteressensZur Unterscheidung Antontoi/i/Koja : Allgemeines Verwaltungsrecht, 1996, S. 264 ff. Zum Begriff der betrieblichen Erfordernisse Mayer-Maly, in: Zeitschrift fili Arbeitsrecht 1988, S. 209 ff. 6

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Soziale Gerechtigkeit als Rechtsbegriff

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abwägung zur Sozialwidrigkeit sind weitwendige Diskussionen 8 gefilhrt worden. An der Eindeutigkeit des Rechtscharakters der Kategorie der sozialen Rechtfertigung haben sie nichts geändert. Interessensahwägung steht auch im Zentrum der sozialen Kontrolle der Wohnraumvermietung seit der Neufassung des BGB (§ 556a) im Jahr 1960. Die Kategorie der sozialen Rechtfertigung wird nicht sogleich sichtbar. Sie gerät aber voll ins Blickfeld, wenn man mit Sonnenschein 9 sagt: "Die Beendigung des Mietverhältnisses muß filr den Mieter oder filr seine Familie eine ungerechtfertigte Härte bedeuten." Das Österreichische Recht der Wohnungsmiete 10 läßt die Frage nach der Gerechtigkeit leider stärker zurücktreten. Unausgesetzte Rechtsänderungen, die zumeist wirkungslos geblieben sind, haben die filr dieses sensible Rechtsgebiet zentralen Prinzipien verdunkelt. Eine mißglückte Kombination einer Generalklausel ("aus widrigen Gründen" in § 30 Abs. 1 Mietrechtsgesetz) mit einer nur demonstrativen Enumeration von 16 (!) Kündigungsgründen tut ein übriges. Die Entscheidungsbefugnisse der Zivilgerichte nach § 37 Mietrechtsgesetz orientieren sich weithin an der Kategorie der Angemessenheit. Damit ist filr Rechtsklarheit kaum mehr gewonnen als mit sozialer Gerechtigkeit. Die Scheu vor einem vermeintlich zu unscharfen Begriff wie dem der sozialen Gerechtigkeit filhrt nicht zu mehr Präzision, sondern zum Versinken in Kasuistik.

Literatur Antontoili/Koja: Allgemeines Verwaltungsrecht, 1996. Hayek: Law, Legislation and Liberty, Vol. 1, 1973. Kelsen: Reine Rechtslehre, 1976. -

Was ist Gerechtigkeit?, 1975.

Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, 1993. Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 1993.

8 Vgl. bloß Floretta, Festschrift filr R. Strasser, 1983, S. 335 ff.; Wirtschaftsrechtliche Blätter 1991, S. 14 ff. 9

Staudingers Komm. zum BGB, 12. Aufl., Rz. 20 zu§ 556a.

Zu ihm besonders Böhm, in: Der Gerechtigkeitsanspruch des Rechts {Hrsg. Mannagetta u.a. 1996), S. 329 ff. 10

Kommunikation und Meinungsäußerungsfreiheit Eine kanonistische Problemskizze Von Helmuth Pree In respektvoller Anerkennung des wissenschaftlichen Wirkens von Klaus Zapotoczky und in dankbarer Erinnerung an mehrere Jahre gemeinsamen Weges an der Johannes-Kepler-Universität Linz sei dem Jubilar der folgende Beitrag gewidmet, der eine Thematik aufgreift, welche aus dem Blickwinkel der (Religions-)Soziologie von ebenso großem Interesse sein dürfte wie aus jenem des kanonischen Rechts (um den allein es im Folgenden geht). Damit soll unterstrichen und gewürdigt werden, dass sich das wissenschaftliche Interesse Zapotoczkys auch auf die Sozialgestalt von Religion und Kirche bezog und bezieht. 1 Im gegebenen Rahmen muss sich die Darstellung darauf beschränken, die Meinungsäußerungsfreiheit (M.) in ihrem Wesen und in ihrer Begründung, in der geltenden rechtlichen Verankerung und in ihrem Regelungskontext vorzustellen. Allerdings kommt es der Darstellung darauf an, über die positivrechtliche Ebene hinaus die mitunter komplexen theologischen Problemzusammenhänge andeutungsweise aufzureißen. Die Anknüpfungspunkte ftlr eine sozialwissenschaftliche Betrachtung, speziell ftlr das Gespräch mit der Soziologie, ergeben sich daraus von selbst.

I. Wesen und Begründung der Meinungsäußerungsfreiheit Das Recht, sich - im Rahmen der sittlichen Ordnung und des Gemeinwohls -über Vorgänge des öffentlichen Lebens aus allgemein zugänglichen Quellen

1 Vgl. fllr viele: H. Bogensberger!T. M Gannon!K. Zapotoczky (Hrsg.): Religion und sozialer Wandel, Linz/Passau 1986. Es ist dies zugleich ein Beispiel konkreter wissenschaftlicher Zusammenarbeit des Jubilars mit dem Verfasser dieses Beitrages (vgl. ebd. S. 140-177); K. Zapotoczky/A. Grausgruber/G. Hofmann!W. Schöny: Was Pfarrer von psychiseh Kranken halten. Eine soziologisch-psychiatrische Untersuchung, in: ThPQ 134 (1986) s. 170-178.

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zu informieren, frei nach der Wahrheit forschen zu können und sich eine eigene Meinung zu bilden und diese äußern und (auch öffentlich) verbreiten zu können, kommt nach der Lehre der katholischen Kirche dem Menschen von Natur aus zu. 2 Die M. ist insofern ein Menschenrecht. Dass es auch innerkirchlich als spezifisches Christenrecht Geltung beansprucht, spricht erstmals Vat II LG 37 aus, wo allen Christgläubigen verbürgt wird: "Entsprechend dem Wissen, der Zuständigkeit und hervorragenden Stellung, die sie einnehmen, haben sie die Möglichkeit, bisweilen auch die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, zu erklären. Gegebenenfalls soll das durch die dazu von der Kirche festgesetzten Einrichtungen geschehen, immer in Wahrhaftigkeit, Mut und Klugheit, mit Ehrfurcht und Liebe gegenüber denen, die auf Grund ihres geweihten Amtes die Stelle Christi vertreten." Als den christifideles zugesprochenes Recht gründet die M. in der Taufe, welche die Menschen Christus eingliedert, zum Volke Gottes macht und sie so am priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Christi auf je eigene Weise teilhaftig ("suo modo participes") macht; sie sind gemäß ihrer je eigenen Stellung in der Kirche zur Ausübung der Sendung berufen, welche Gott der Kirche zur Erfüllung in der Welt anvertraut hat (c. 204 § 1 CIC). Teilhabe ist somit kirchenrechtlich nicht egalitär: Die Ausdrücke ,,suo modo participes" sowie ,,secundum propriam cuiusque conditionem"3 geben zu erkennen, dass

2 Erstmals begegnet diese Lehre in der Enzyklika Johannes' XXIII. "Pacem in terris", Nr. 12: "Von Natur aus hat der Mensch außerdem das Recht, ... dass er frei nach der Wahrheit suchen und unter Wahrung der moralischen Ordnung und des Allgemeinwohls seine Meinung äußern, verbreiten ... darf; dass er schließlich der Wahrheit entsprechend über die öffentlichen Ereignisse in Kenntnis gesetzt wird": AAS 55 (1963) S. 257-304,260.

Vat II GS 59 greift das Argument unmittelbar im Anschluss an die explizite Anerkennung der Eigengesetzlichkeit der Kultur und vor allem der Wissenschaften auf und lehrt: "Damit ist auch gefordert, dass der Mensch unter Wahrung der sittlichen Ordnung und des Gemeinnutzes frei nach der Wahrheit forschen, seine Meinung äußern und verbreiten ... kann; schließlich, dass er wahrheitsgemäß über öffentliche Vorgänge unterrichtet werde." Beide Quellen wenden sich an die nichtkirchliche Sozialordnung, haben also nicht die M. als innerkirchliches Fundamentalrecht vor Augen. Zur Vorgeschichte der innerkirchlichen Anerkennung der M. vgl. N. Colaianni: La libertA di manifestazione del pensiero nella Chiesa- spunti metodologici, in: E. Corecco u. a. (Hrsg.), Die Grundrechte des Christen in Kirche und Gesellschaft- Akten des IV. Internationalen Kongresses ftlr kanonisches Recht, Freiburg/Schweiz 6.-1 1. Oktober 1980, Freiburg 1981, s. 501-510, 501-503. 3 Entsprechend formuliert c. 208 CIC, der im Gewande eines kirchlichen Gleichheitssatzes eine grundsätzliche Differenzierung der Rechtsstellung der Gläubigen an die Spitze des Kataloges der allen Christen aus der Taufe gemeinsamen Pflichten und Rechten stellt: Auf Grund der Taufe besteht zwar eine wahre Gleichheit in Würde (als Christ) und Tätigkeit zwischen allen Gläubigen; aber Kraft dieser Gleichheit wirken

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einerseits die Art und Weise der Teilhabe selbst verschieden ist4, andererseits sich aus der conditio (darunter fallen insbesondere die in den cc. 97-112 und 1024 CIC näher geregelten Faktoren wie Alter, Vernunftgebrauch, Wohnsitz, Geschlecht im Hinblick auf den Weiheempfang u. a.) und aus der jeweiligen Berufung (Charisma)5 ergibt. Die M. gehört in den Zusammenhang der in der Taufe gründenden Teilhaberechte. Damit unterscheidet sie sich von der menschenrechtliehen M. des Bürgers im staatlichen Gemeinwesen nicht nur im Träger (Getaufte) und in der Grundlage (Taufe), sondern auch in der rechtlichen Struktur. Denn die grundrechtliche M. in den Staaten ist durchwegs als reines Abwehrrecht ausgestaltet. 6 Innerkirchlich ist die M. nicht durch inhaltliche Beliebigkeit gekennzeichnet, sondern ist durch den Sinn und Zweck, dem alle in der Taufe gründenden Pflichten und Rechte dienen (freie Entfaltung des Christseins)7, inhaltlich geprägt, wenn auch nicht vordeterminiert. Die innerkirchliche M. ist grundlegend Teilhaberecht (im Sinne der angedeuteten differenzierten Teilhabe), teilt aber gleichzeitig mit dem Menschenrecht der M. den Charakter als Abwehrrecht (Schutz gegen unrechtmäßige Eingriffe in die M. durch die kirchliche Autorität). Wegen dieses Doppelcharakters gestaltet sich die innerkirchliche Formalisierung dieses Rechts und die Sicherung durch einen adäquaten innerkirchlichen Rechtsschutz erheblich schwieriger als im staatlichen Recht. 8 Damit hängt das ebenfalls offene Problem des Verhältnisses zwischen der M. als Christengrundrecht und als Menschenrecht beim einzelnen Christen zusammen, mit anderen Worten: Weil der Mensch mit dem Eintritt in die Kirche seine natürliche Rechtssubjektivität als Mensch nicht ablegt, ist fraglich, ob und inwiefern das von der Kirche jedem Menschen zugesprochene Recht auf doch alle je nach ihrer eigenen Stellung und Aufgabe am Werk der Kirche mit: ,,secundum propriam cuiusque conditionem et munus". 4 So ist insbesondere die Teilhabe des Klerikers, d. h. des Geweihten als solchen am dreifachen Amt Christi ,.in persona Christi capitis" dessen Definitionsmerkmal, das ihn von der Rechtsstellung des Laien unterscheidet: c. 1008 CIC.

5 Dazu grundlegend H. Schürmann, Die geistlichen Gnadengaben, in: G. Barauna (Hrsg.): Oe Ecclesia- Beiträge zur Konstitution ,.über die Kirche" des Zweiten Vatikanischen Konzils" II, Freiburg u.a. 1966, S. 494-519. 6 ,.Meinungs- und Informationsfreiheit sind in den demokratischen Verfassungsstaaten westlicher Prägung reine Abwehrrechte, denen keine Pflichten entnommen werden können, die Freiheit in einem bestimmten Sinne zu gebrauchen": C. Starck: Art. Meinungs- und Informationsfreiheit, in: StLex7 III (1987) Sp. 1089-1093, 1090. 7 Vgl. H. Pree: Esercizio della potesta e diritti dei fedeli, in: Ius Ecclesiae 11 ( 1999) S. 7-39, insbesondere S. 22-32.

8 Auf die Probleme des Rechtsschutzes und seine derzeitige Ausgestaltung im kanonischen Recht kann im vorgegebenen Umfang nicht näher eingegangen werden.

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M. innerkirchlich zum Tragen kommen kann und in welchem Verhältnis dieser Menschenrechtsaspekt der M. zum Christenrecht der M. steht. 9 Auch der nähere Rechtscharakter der M. als Teilhaberecht (und die Umsetzung dieses Rechts in den verschiedenen Regelungsmaterien des kanonischen Rechts) bedarf weiterer Differenzierung und Vertiefung. In der kanonistischen Literatur wird häufig von Teilhabe gesprochen, kaum einmal wird jedoch der Begriff der Partizipation selbst problematisiert und differenzierend erfasst. Die Präzisierung und Konkretisierung seines näheren rechtlichen Gehalts im Unterschied zu philosophischen und zu möglichen theologischen Bedeutungsvarianten bedarf näherer Untersuchung. Der theologische, besonders ekklesiologische Bedeutungsgehalt des Begriffs der Teilhabe kann ftlr die kirchenrechtliche Aufarbeitung Fundament und Ausgangspunkt sein. Ausgehend von der Theologie des Volkes Gottes kann gesagt werden: "Das ganze Gottesvolk ist Mitsubjekt beim Heilswerk Jesu Christi ftlr die Welt." 10 Daraus ergibt sich das Erfordernis der entsprechenden Schaffung und Absicherung partizipatorischer Strukturen fllr das kanonische Recht. Bei alledem ist ein rechtlicher Partizipationsbegriff zugrunde zu legen im Sinne einer unmittelbaren Teilnahme des Individuums bzw. einer Teilgemeinschaft an Sachentscheidungen. 11 Dabei ist zu differenzieren, aufwelcher Ebene (Gesamtkirche, Ecclesia sui iuris, Teilkirche, Pfarrei) Partizipation verwirklicht werden soll, ob im Bereich der hierarchischen oder der charismatischen Strukturen wie der Orden oder der privaten Vereinigungen, und weiters, auf welchen "Gegenstand" sich die Partizipation beziehen soll (etwa auf die Teilhabe an den Heilsmitteln des Wortes Gottes und der Sakramente, auf Fragen der Kirchenverfassung, auf Fragen praktischer Durchftlhrung kirchlicher Aufgaben usf.). 12 Demgemäß ist Partizipation in den einzelnen Regelungsmaterien differenziert zu ermöglichen: Sie kann ausgestaltet sein als Anhörungs- und Mitberatungsrecht, als Zustimmungsrecht, als Beteiligungsrecht an Verfahren, als Recht der Mitentscheidung bis hin zum

9 Vgl. H. Pree: Die Meinungsäußerungsfreiheit als Grundrecht des Christen, in: W Schulz (Hrsg.), Recht als Heilsdienst (FS M. Kaiser) Paderborn 1989, S. 42-85, 51-53. 10 E. Spichtig: Art. Partizipation lll. Praktisch-theologisch, in: LThK3 VII ( 1998) Sp. 1399 f., 1399. 11 Vgl. W Mant/: Die Partizipation in der Verwaltung, in: F. Ermacora u. a. (Hrsg.): Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1979, S. 485-510,485 f. 12 Dementsprechend verschieden muss die Teilhabe ausgestaltet sein: Während hinsichtlich des Zugangs zu den Heilsmitteln und der Teilhabe an diesen von einer egalitären Gleichheit auszugehen ist (gleiche Berufung aller Getauften zum Heil), wirkt sich in den Bereichen der Mitwirkung an der Sendung der Kirche (c. 204 CIC) durch die Betätigung der fundamentalen Pflichten und Rechte das ,,suo modo participes" und ,,secundum propriam cuiusque conditionem" aus.

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Recht der Alleinentscheidung durch die betroffenen Partizipanten. 13 Dementsprechend differenziert ausgestaltete rechtliche Teilhabe wäre keine Huldigung an den demokratischen Zeitgeist, sondern genuin ekklesiologisch bedingte Grundlage ftir die Ermöglichung von Konsens und Rezeption in der Kirche, ftlr das Wirksamwerden der Charismen auf allen Ebenen, filr die Verlebendigung der Kirche als communio. "Von einer communio wird man nur dann reden können, wenn es auch Kommunikation gibt, und zwar möglichst vielseitig und ungeschmälert." 14 Auch fiir die Entfaltung und Vertiefung des Begriffes der Kommunikation in seiner Relevanz filr die Rechtsgestalt der Kirche tut sich ein neues Feld au( Es bedarf einer sorgfältigen Differenzierung zwischen den nichtjuristischen, besonders theologischen und sozialwissenschaftliehen Bedeutungsvarianten und einer kanonistischen Verwendung des Begriffs. 15 Die Dringlichkeit der Bearbeitung dieses Problemfeldes ist gegeben, seit Kommunikation eine fundamentaltheologische Leitkategorie geworden ist, die es ermöglicht, das Offenbarungsgeschehen, den Vollzug des Glaubens, selbst die Tradition und die Praxis der Kirche "als von Grund auf kommunikative Wirklichkeiten"16 verstehbar und beschreibbar zu machen.

13 "Partizipation" ist kein klassifikatorischer Begriff, sondern ein Typusbegriff, der Abstufungen zulässt: W. Mant/: Die Partizipation in der Verwaltung (Anm. 11) S. 485f. Die Vielzahl möglicher Synonyme in der deutschen Sprache (Mitbestimmung, Mitwirkung, Mitentscheidung, Beteiligung, Teilhabe, Teilnahme usf.) führt häufig zu Missverständnissen, z. B. wenn aus jedweder Form der Teilnahme oder Mitverantwortung bereits auf ein Mitbestimmungsrecht geschlossen wird.

14 S. Ochmann: Kirchliches Recht in und aus dem Leben der communio - Zur "Rezeption" aus kanonistischer Sicht, in: W. Beinert (Hrsg.): Glaube als Zustimmung- Zur Interpretation kirchlicher Rezeptionsvorgänge, Freiburg/Basel/Wien 1991, S. 123-163, 155. Zur Kommunikation als Gegenstand des kanonischen Rechts und als wesentliche Anforderung an dieses richtungweisend: H. Heimerl: Kommunikation in Kirche und Kirchenrecht, in: ThPQ 130 ( 1982) S. 32-42; B. Primetshofer: Die sozialen Kommunikationsmittel, in: Ars boni et aequi. J. Kremsmair/H. Pree (Hrsg.): Gesammelte Schriften von Bruno Primetshofer, Berlin 1997, S. 231-248.

15 Bereits die Verwendung des lateinischen Äquivalenz communicare bzw. communicatio im CIC/1983 spiegelt die Bedeutungsvielfalt wieder: communicare bedeutet einerseits "mitteilen" (cc. 189 § 3; 377 § 3; 382 § 3; 413 § 1; 467; 830 § 3; 1524 § 3; 1603 § 1; u.a. CIC), "kommunizieren" im Sinne der eucharistischen Kommunion (cc. 916; 921 § 2 CIC), Sakramentengemeinschaft (communicatio in sacris: c. 1365; vgl. c. 844 CIC) und schließlich soziale Kommunikation oder Massenkommunikation: cc. 761; 779; 804 §I; 822; 823 §I; 1063; 1369CIC. 16 J. Werbick: Art. Kommunikation II. Fundamental-theologisch, in: LThK3 VI (1997) Sp. 214 f., 214; vgl. H. Vorgrimler: Neues theologisches Wörterbuch, Freiburg i. Br. 22000, S. 356 f.

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Bezogen auf die innerkirchliche M. Jassen sich die Konsequenzen des soeben Erläuterten andeutungsweise so umschreiben: Als im Charisma und in der Teilhabe an der Sendung der Kirche begründetes Recht besteht seine vornehmste und theologisch tiefste Funktion darin, die Bildung und Feststellung des sensus fidelium gemäß LG 12 zu ermöglichen. 17 Denn immer dann, wenn Offenbarungswahrheit nicht im Sinne eines rein ahistorischen, statischen depositumfidei verstanden wird, sondern als Selbstmitteilung Gottes, der Wahrheit in Person ist, wobei diese Wahrheit sich auch in der gelebten Erfahrung der heutigen Menschen in der Begegnung mit der Welt und mit dem Anderen (als loci theologici) entbirgt und in anderer Weise zur Sprache gebracht werden kann, dann muss der Bildung einer öffentlichen Meinung in der Kirche auch im Bereich ihrer ureigensten Sendung hohes theologisches Gewicht beigemessen werden. Diese Begegnung mit der Welt geschieht durch die Gläubigen, denen das Erkennen und Deuten der Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums aufgetragen ist (GS 4). Ob und wie der sensus fidelium heute in der Kirche erhoben und berücksichtigt wird, ist ein offenes Problem, welches in diesem Zusammenhang nicht weiter vertieft werden kann. 18 Die Bedeutung der M. unter dem Aspekt der Partizipation und der Kommunikation im Volke Gottes beschränkt sich indes nicht auf dieses Ziel (sensus fidelium), sondern dient zunächst schon folgenden unmittelbaren Zwecken: individueller Entfaltung; Dialog; Ermöglichung von Gemeinschaft in der Kirche: ",Um Bruder und Schwester zu werden, ist es notwendig, sich zu kennen. Um sich kennen zu Jemen, ist jedoch ein umfassenderer und tieferer Austausch untereinander erforderlich'(... ) Kommunikation, die echter Gemeinschaft dient, ist ,mehr als nur Äußerung von Gedanken oder Ausdruck von Gefilhlen; im Tiefsten ist sie Mitteilung seiner selbst in Liebe' (Communio et Progressio, 11)". 19 Darüber hinaus dient die M. einer konstruktiven (d. h. zur Auferbauung der Kirche vorgetragenen und objektiv brauchbaren) innerkirchlichen Kritik

17 "Der Sinn der öffentlichen Meinung ist nicht zuerst die Information der Amtsträger, die dann allein entscheiden. Mit der Forderung nach umfassendem und allseitigem Dialog geht das Konzil einen Schritt weiter und fordert gemeinsame Wahrheits- und Entscheidungsfindung": W. Seibel: Das freie Wort in der Kirche, in: Stimmen der Zeit 214 (1996) s. 217 f., 218. 18 Vgl. W. Beinert: Der Glaubenssinn der Gläubigen in der systematischen Theologie, in: G. Koch (Hrsg.), Mitsprache im Glauben? Vom Glaubenssinn der Gläubigen, Würzburg 1993, S. 51-78, hier S. 69-74.

19 Päpstlicher Ratfor die sozialen Kommunikationsmittel: Ethik in der sozialen Kommunikation, 4. Juni 2000, Nr. 12. Zur unersetzlichen Bedeutung des Dialoges in der Kirche: Paul VI., Enzyklika "Ecclesiam Suam" vom 6.8.1964, in: AAS 56 (1964) S. 609-659.

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sowie der Bildung einer öffentlichen Meinung (publica opinio) in der Kirche. 20 Damit ist das Erfordernis verbunden, die jeweils adäquate Repräsentativität in der Meinungsbildung sicher zu stellen. "Ein wechselseitiger Fluss von Informationen und Meinungen zwischen Hirten und Gläubigen, die Freiheit der Meinungsäußerung mit Gespür fiir das Wohl der Gemeinschaft und ftlr die Rolle des Lehramts bei dessen Förderung und eine verantwortungsvolle öffentliche Meinung - das alles sind wichtige Äußerungen des ,Grundrechtes auf Dialog und auf Information innerhalb der Kirche' (Aetatis novae, 10, vgl. Communio et progressio, 120)". 21 Dabei ist besonders die explizite Nennung des Grundrechts auf Dialog und Information als innerkirchliches Grundrecht mehr als bemerkenswert. Hier öffnet sich ftlr das Kirchenrecht ein weiteres Feld neuer Fragen, und zwar nach der Notwendigkeit und nach dem Vorhandensein und der rechtlichen Erfassung eines intermediären Bereiches - entsprechend der Ebene der "Gesellschaft" in den weltlichen Gemeinwesen. Dieses Problem kann hier nur angedeutet werden. Der demokratische Rechtsstaat ist unter anderem dadurch gekennzeichnet - und wird besonders deshalb als "freiheitlich" bezeichnet -, dass er zwischen Individuum und Staat einen intermediären Raum freier, d. h. von staatlichen ·Beschränkungen freien Raum grundrechtlicher Betätigung (auch in gemeinschaftlicher und öffentlicher Form) kennt, den Bereich der Gesellschaft, welcher die gesellschaftliche "Öffentlichkeit" - im Unterschied zur staatlichen und zur faktischen "Öffentlichkeit" - zugeordnet ist. 22 Einen derartigen intermediären Bereich gibt es auch in der Kirche. Es ist der Raum der Ausübung der dem Christen eigenen fundamentalen Pflichten und Rechte, welche zwar nicht primär Abwehrrechte gegen die legitime kirchliche Autorität sind, wohl aber einen unverzichtbaren Raum christlicher Freiheit und Eigenverantwortung sichern. Mit Ratzinger könnte man sprechen von einer "Freiheit der kirchlichen ,Gesellschaft' in der Verwirklichung der dem Evangelium gemäßen Initiativen"23 • Damit ist ein weiteres, grundlegend unbearbeitetes innerkirchliches Problem angesprochen, das Verhältnis von "öffentlich" und "privat" in der Kirche und in ihrer Rechtsordnung. Traditionell war in diesem Bereich das sog. Laienapostolat angesiedelt; in neuerer Zeit greift hier eine Vielfalt neuerer intermediärer, "privater" christlicher Formen Platz, unter denen die Pius XII., Ansprache vom 17.2.1950, in: AAS 42 (1950) S. 256. Päpstlicher Rat for die sozialen Kommunikationsmittel: Ethik in der sozialen Kommunikation, 4. Juni 2000, Nr. 26/5. 22 Davon strikt zu unterscheiden ist die Zuordnung der Kirche als ganzer zur so genannten "Gesellschaft" aus dem Blickwinkel des Staates bzw. des staatlichen Rechts. 23 J. Ratzinger: Demokratisierung der Kirche?, in: J. Ratzinger!H. Maier: Demokratie in der Kirche- Möglichkeiten und Grenzen, Limburg-Kevelaer 2000, S. 35. 20

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geistlichen Bewegungen (charismatische Gruppierungen, movimentz) einen beachtlichen Raum einnehmen. "Öffentlich" und "Privat" stehen in der Kirche auf Grund der differenzierten Teilhabe aller in einem qualitativ anders gelagerten Zusammenhang als im staatlichen Gemeinwesen. Wie weit das "private" Element der Partizipation aller Gläubigen an der Verwirklichung der Sendung der Kirche in Abgrenzung gegenüber den legitimen Rechten der hierarchischen Autorität gehen kann, und inwieweit genuin christliche Initiativen als in einem hierarchiefreien Raum agierend legitim sind, das ist hier die Frage. Zu bedenken ist dabei, dass zwar im staatlichen Gemeinwesen die Freiheit (zur Selbstverwirklichung) eine Art Selbstzweck darstellt, dass in der Kirche hingegen die fundamentalen Freiheiten zweckgerichtet sind, da sie dem Heil des Einzelnen durch die Verwirklichung der Sendung der Kirche dienen wollen und deshalb Mittel zum Zweck sind.

II. Die positiv-rechtliche Ausgestaltung und ihr Kontext Die M. als subjektives Rechtjedes Gläubigen als solchen ist im kanonischen Recht nach folgender Maßgabe verbürgt: "Entsprechend ihrem Wissen, ihrer Zuständigkeit und ihrer hervorragenden Stellung haben sie das Recht und bisweilen sogar die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, den geistlichen Hirten mitzuteilen und sie unter Wahrung der Unversehrtheil des Glaubens und der Sitten und der Ehrfurcht gegenüber den Hirten und unter Beachtung des allgemeinen Nutzens und der Würde der Personen den übrigen Gläubigen kundzutun" (c. 212 § 3 CIC; c. 15 § 3 CCEO, vgl. LG 37; GS 59 und 73).

1. Träger der Meinungsäußerungsfreiheit Träger der M. ist jeder Getaufte, jedoch steht die volle Ausübung der in der Taufe wurzelnden Rechte in der katholischen Kirche nur Katholiken zu. 24 Allen Katholiken, gleich welchen kirchlichen Standes, steht die M. in gleicher Weise zu, jedoch bei allen nach Maßgabe ihres Wissens (scientia), ihrer Zuständigkeit (competentia) und ihrer moralischen Autorität (praestantia): Diese Anforderungen sind relativ zu verstehen, d. h. bezogen auf die jeweilige Angelegenheit, um die es in der Meinungsäußerung geht. Außerdem setzen sie das erforderliche Ausmaß an kontinuierlicher Bildung voraus. Minderes Wissen freilich beseitigt nicht das Recht auf M., verringert aber den inhaltlichen Wert der Äu24

Vgl. H. Pree, c. 96, in: MKCIC.

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ßerung. 25 Der Formulierung nach scheint das Recht selbst vom Vorliegen dieser Anforderungen (wenigstens alternativ) abzuhängen, jedoch würde dies seinem Charakter als in der Taufe wurzelndem Recht zuwiderlaufen und die Anwendung mit erheblichen Unsicherheiten belasten. Gleichwohl ist bei diesen drei Elementen davon auszugehen, dass es sich bei ihnen um die Konkretisierung der differenzierten Teilhabe ("suo modo", ,,secundum propriam cuiusque conditionem ") fllr die M. handelt. Diese Tatbestandselemente judiziabel zu fassen ist Aufgabe eines künftigen Gesetzgebers.26

2. Inhalt der Meinungsäußerungsfreiheit Der Inhalt der M. ist durch das Wort sententia, durch das Äußern bzw. Mitteilen (manifestare, notam facere) und die Bezogenheit der Äußerung auf das Wohl der Kirche (bonum Ecclesiae) definiert. Vom Schutzbereich sind demnach Äußerungen wertenden Inhalts (Meinungen, Ansichten, Einschätzungen, Beurteilungen) erfasst. Tatsachenmitteilungen müssen jedoch insofern als miterfasst gelten, als sie auf die Bildung einer Meinung im Adressaten gerichtet sind und schon die Auswahl der geäußerten Tatsache eine Wertung impliziert. Auch aus einem Größenschluss kann man folgern: Wenn schon die Mitteilung einer Bewertung geschützt ist, muss dies umso mehr die Mitteilung eines Faktums sein. Außerdem ist mit der Mitteilung eines Faktums häufig schon allein auf Grund des Kontextes eine Wertung verbunden. Nicht klar ist aus c. 212 § 3 CIC, ob bewusst und offensichtlich falsche Tatsachenmitteilungen vom Schutzbereich mitumfasst sind. Dem Tenor der Norm, vor allem aber ihrer sittlichen Grundlage in dem Erfordernis der "veracitas" (Vat II LG 37) zufolge ist dies meines Erachtens zu verneinen. Was den Inhalt der Äußerung anbelangt, so muss er sich auf das bonum Ecclesiae beziehen, was gewiss in weitem Sinne zu verstehen ist. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einerseits Inhalten, die nicht der M. unterliegen (z. B.

25 "Der evidente Sinn der Norm liegt darin, Äußerungsbefugnis und -pflicht an eine fllr das Wohl der Kirche erkennbare Relevanz zu binden": H Schnizer: Überlegungen zum normativen Gehalt von c. 212 CIC/1983, in: W Aymans!K.T Geringer (Hrsg.): Juri Canonico Promovendo (Schmitz-FS), Regensburg 1994, S. 75-95, 86.

26 Dazu nur ein Beispiel: Um in katholischen Massenmedien erscheinende Berichte und Kommentare nach der Qualität des Schreibers gewichten zu können, könnten die katholischen Medien verpflichtet werden, "diese Qualitäten irgendwie kenntlich zu machen, um Manipulation durch Überbewertung von Seiten des Empflingers zu vermeiden": H. Heimerl: Kommunikation (Anm. 14) S. 41.

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Dogmen, vgl. cc. 749, 750 CIC), und andererseits quaestiones opinabiles (Gegenständen, die der freien Meinungsbildung unterliegen, vgl. c. 227 CIC). Jedoch gibt es zahlreiche Abstufungen hinsichtlich des Gewichtes und des Verbindlichkeitsgrades (vgl. cc. 749 und 750 § 1 CIC im Vergleich zu cc. 750 § 2 und 752 CIC) sowie hinsichtlich der Nähe zum Zentrum des Heilsmysteriums (vgl. Hierarchie der Wahrheiten: Vat II UR 11). Stets muss es sich um Äußerungen handeln, die dem forum externum zugehören und die äußerlich, sozial für die Gemeinschaft der Kirche relevant sind. Inhaltlich hängt die M. mit dem Petitionsrecht gemäß c. 212 § 2 CIC zusammen und überschneidet sich teilweise mit ihm. Was die Ä·ußerung der Meinung betrifft, so umschließt die M. innerhalb der allgemeinen Schranken dieses Rechts jedwede Form: gesprochenes und geschriebenes Wort, Bild, Film, elektronische Datenübermittlung usf. Das Recht zur Äußerung der Meinung umschließt auch jenes zu ihrer Verbreitung, z. 8. durch Massenmedien (vgl. soziale Kommunikation, cc. 822 f. CIC 27 ). Neben der Äußerung und Verbreitung ist auch die Freiheit auf Meinungsbildung-eine notwendige Voraussetzung der M. - implizit in der Garantie enthalten. Die Meinungsbildungsfreiheit setzt ihrerseits die Informationsfreiheit aus allgemein zugänglichen Quellen, also vorbehaltlich rechtmäßig bestehender Geheimhaltungs- bzw. Verschwiegenheitspflichten 28 , voraus. Diese beiden Garantien sind Ausdruck des kommunikativen Charakters der M. und haben im CIC, auch wenn sie nicht explizit genannt werden, neben ihrem sachlichen Zusammenhang mit der M. mehrere rechtliche Anhaltspunkte: cc. 217, 229, 231 § 1 CIC (Recht auf christliche Erziehung und fachliche Bildung einschließlich der theologischen). Inhaltlich berührt sich die M. mit dem spezielleren Recht der Freiheit der theologischen Wissenschaft in Forschung, Lehre und Publikation ( c. 218 CIC).

3. Schranken der Meinungsäußerungsfreiheit Immanente, sich aus dem Gegenstand und Schutzbereich der M. selbst ergebende Schranken sind: die verbindliche Glaubens- und Sittenlehre; die Pflicht zur Vermeidung von Ärgernis auf Seite der Rezipienten; das bonum commune der Kirche. Auch der Hinweis des Gesetzgebers, dass die Meinungsäußerung ggf. zur Pflicht werden kann, stellt eine immanente Schranke dar. Dies ergibt

27

Vgl. B. Primetshofer: Die sozialen Kommunikationsmitteln (Anm. 14).

Vgl. cc. 127 § 3; 269,2°; 413 §I; 471,2°; 983; 1388; 1455 §§ 1-3; 1457 § I; 1546 § I; 1548 § 2; 1602 § 2; 1609 § 2 CIC. 28

Kommunikation und Meinungsäußerungsfreiheit

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sich aus dem Charakter und der Funktion der innerkirchlichen M. als Teilhaberecht, hingeordnet auf das Wohl der Kirche?9 Äußere Schranken sind namentlich die folgenden: die Rechtspflichten dessen, der die M. beansprucht; die subjektiven Rechte der anderen (z. B. c. 220 CIC); Schutzvorschriften zugunsten höherer Güter, wie sie sich z. B. aus Geheimhaltungs- und Amtsverschwiegenheitspflichten (vgl. Anm. 28) und aus allgemeinen Schutznormen wie z. B. dem Strafrecht ergeben. 30

4. Adressaten Im Adressaten der Meinungsäußerung unterscheidet c. 212 § 3 CIC deutlich zwischen jener gegenüber den pastores, welche primär garantiert wird, und jener gegenüber den übrigen Gläubigen, bei der als zusätzliche Schranken die Beachtung des allgemeinen Nutzens und der Würde der Personen berücksichtigt werden müssen (Schranken, die bei Meinungsäußerung gegenüber einzelnen Hirten nicht ähnlich stark ins Gewicht fallen). Nicht unter den Schutzbereich fällt die M. vor der nichtkirchlichen Öffentlichkeit: Diesbezüglich reklamiert die Kirche filr die Gläubigen vom Staat die seihe Freiheit wie sie andere Bürger genießen, allerdings unter dem Vorbehalt, dass sich die Gläubigen beim Gebrauch solcher Freiheiten vom Geist des Evangeliums und nach der vom Lehramt der Kirche vorgelegten Lehre zu richten haben und dabei sich davor hüten müssen, in Fragen, die der freien Meinungsbildung unterliegen, ihre eigene Ansicht als Lehre der Kirche auszugeben (c. 227 CIC). 29 Die im Detail problematische Verquickung von subjektivem Recht und Pflicht in ein und derselben Sache bei ein und derselben Person fUhrt zu einer Reihe von Fragen, u. a.: Handelt es sich bei dieser Pflicht um eine nur moralische Pflicht (ähnlich wie in cc. 210 und 211 CIC) oder auch um eine Rechtspflicht? Die Frage stellt sich auch deshalb, weil die Formulierung des c. 212 nahezu wortgleich aus dem primär nicht rechtlich gefassten Konzilstext Vat II LG 37 entnommen ist. Außerdem ist auf folgenden rechtslogischen Zusammenhang hinzuweisen: Die Pflicht inkludiert zwingend die Berechtigung; die gesetzlich verbürgte Berechtigung (subjektives Recht) hingegen ist nur solange subjektives Recht, solange der Inhalt nicht zur Pflicht gemacht wird. Wird der Inhalt nämlich zur Pflicht, so hört er auf, subjektives Recht zu sein - andernfalls die Gegenüberstellung von Recht und Pflicht ihren Sinn verlöre. 30 Nicht klar ist, ob bzw. inwieweit die in der konziliaren Quelle LG 37/1 genannten Elemente (in veracitate, fortitudine et prudentia, cum reverentia et caritate gegenüber den geistlichen Hirten) wenigstens unter bestimmten Umständen rechtlich relevant werden können oder ob diese auf rein moralischer Ebene bedeutsam sind. Jedenfalls handelt es sich bei ihnen um sittliche Grundlagen der M. und um Voraussetzungen dafilr, dass die geäußerte Meinung ihrem Zweck dienlich zu sein vermag, der Auferbauung des Reiches Gottes.

490

Helmuth Pree

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Kommunikation und Meinungsäußerungsfreiheit

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Die Demokratie als Grundlage der Österreichischen Verfassungsordnung Von Peter Oberndorfer Demokratie als Staats- und Regierungsform 1 ist getragen von der staatsrechtlichen Idee der Volkssouveränität und kann sich in Formen direkter oder repräsentativer Demokratie vollziehen. Volkssouveränität bedeutet, dass letztlich alle staatliche Macht der Legitimation durch das Volk bedarfbzw. in diese mündet. Ihre Denkprämisse lautet: Das Volk ist und bleibt im demokratischen Staat Inhaber und Träger der verfassunggebenden Gewalt, die - gleichsam als verfassungsfester Kern- auch auf verfassungsrechtlichem Weg nicht beseitigt werden kann.

I. Das normative Bekenntnis Österreichs zur Demokratie "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus." Dieses Bekenntnis Österreichs zur Demokratie ist in Art I B-VG festgelegt und wurde von dessen erstem Kommentator als programmatische Aussage ohne relevanten Rechtsinhalt2 verstanden, weil es - wie nicht bezweifelt werden soll -erst durch andere Vorschriften des B-VG näher ausgefilhrt wird. Die präambelhafte Festlegung Österreichs auf die demokratische Staatsform erfllhrt aber ungeachtet näherer Detailbestimmungen auch eine normative Verbindlichkeit insofern, als schon die kurze, aber prägnante Formulierung des Art I B-VG eine vom Volkswillen abgeleitete Legitimation aller Staatsorgane (auch was ihre Funktion anlangt) als wesentlichen und tragenden Systemgedanken des Bundesverfassungsrechts deutlich zum Ausdruck bringt. Art I B-VG ist somit nicht nur eine bloße Auslegungsregel ftlr eine "baugesetzkonforme Verfassungsinterpretation"3, sondern vielmehr auch eine normative Schranke, die der 1 Ke/sen,

Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1920 (Nachdruck 1963), S. 14. Kelsen/Fröhlich/Merkl, Die Bundesverfassung vom I. Oktober 192, 1922, S. 65. 3 Vgl. VfSig. 11.829/1988.

2

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Peter Oberndorfer

Bundes- und die Landesverfassungsgesetzgeber im Fall von Änderungen konkreter Einzelvorschriften der Verfassung mit Demokratiebezug verbindlich zu beachten haben. So gesehen besitzt Art 1 B-VG die Funktion einer Staatsfundamentalnorm, welche als übergreifende Ordnung des Staatswesens die Einheit der Verfassung garantiert und aus gutem Grund an der Spitze des B-VG ihren Platz gefunden hat.

II. Das Demokratiekonzept der Österreichischen Bundesverfassung Das in Art 1 B-VG verankerte demokratische Prinzip zählt unbestritten zu den leitenden Grundsätzen des Bundesverfassungsrechts4 • Dessen wesenhafte Veränderung ist als Gesamtänderung der Bundesverfassung im Sinne des Art 44 Abs 3 B-VG zu verstehen und bedarf zusätzlich zum Verfassungsgesetzgebungsverfahren einer obligatorischen Volksabstimmung. Als Volksabstimmungen erfordernde Gesamtänderungen werden tiefgreifende, die Individualität und die spezifische Wesenheit der Österreichischen Demokratie betreffende Verfassungsänderungen verstanden 5, wobei die Grenze zwischen Gesamtänderung und bloßer Teiländerung oft nur schwer auszumachen ist. Nach ganz allgemeiner herrschender Ansicht6 orientiert sich das Demokratiekonzept der Österreichischen Bundesverfassung am Leitbild der repräsentativen (mittelbaren, parlamentarischen) Demokratie, das mit einzelnen direktdemokratischen Einrichtungen verfassungsrechtlich angereichert ist. Wesentliches Merkmal der repräsentativen Demokratie ist, dass das Volk die ihm nach Art 1 zweiter Satz B-VG ("Ihr Recht geht vom Volk aus") obliegende Rechtserzeugung regelmäßig nicht unmittelbar, sondern durch von ihm frei gewählte allgemeine Vertretungskörper, wie Nationalrat und Landtage, ausübt. Eine Beteiligung des Volkes an der Setzung staatlicher Rechtsakte, etwa im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens, ist in der Österreichischen Bundesverfassung lediglich in Form des Volksbegehrens und der Volksabstimmung vorgesehen.'

4 Vgl.

Vf'Sig. 2455/1952. s Oberndorfer, Art 1 B-VG, in: Korinek!Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Rz 13,2000. 6 Adamovich!Funk!Holzinger, Österreichisches Staatsrecht, Bd I, 1997, Rz 11.012; Mayer, B-VG3, 2002, S. 2f; Oh/inger, Verfassungsrecht, 1999, Rz 342fT.; Walter/Mayer, Grundriß des Österreichischen Bundesverfassungsrechts, 2000, Rz 149; Ri/1, Möglichkeiten und Grenzen des Ausbaus direkt-demokratischer Elemente in der Österreichischen Bundesverfassung, 1987, S. 7. 7 Auf die Volksbefragung wird nicht weiter eingegangen, da sie lediglich ein Instrument im Vorfeld parlamentarischer Rechtserzeugung darstellt.

Die Demokratie als Grundlage der Österreichischen Verfassungsordnung

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Während ein Volksbegehren bei Vorliegen der Voraussetzungen gemäß Art 41 Abs 2 B-VG ein Gesetzgebungsverfahren vor dem Nationalrat einleitet, hat eine Volksabstimmung erst nach Fassung eines Gesetzesbeschlusses im Nationalrat und nach Beteiligung des Bundesrates stattzufinden, und überdies nur dann, wenn dies der Nationalrat oder ein Drittel seiner Mitglieder bei einfachen Gesetzesbeschlüssen beschließt sowie bei Bundesverfassungsgesetzesbeschlüssen, wenn dies ein Drittel der Mitglieder des Nationalrates oder des Bundesrates beschließt oder eine Gesamtänderung der Bundesverfassung vorliegt. Diese Regelungen lassen insgesamt erkennen, dass das Österreichische Demokratiekonzept eine repräsentativ-parlamentarische Rechtserzeugung vorsieht und der Verfassungsgesetzgeber nur "ausnahmehaft'' 8 mit der Verwendung ausdrUcklieh vorgesehener direkt-demokratischer Elemente rechnet. Gemäß dieser Verfassungslage ist daher die Möglichkeit einer Rechtserzeugung ohne vorherigen Gesetzesbeschluss des Parlaments (Nationalrat und Landtage) ausgeschlossen, weil es ein wesentlicher Systemgedanke der repräsentativen Demokratie ist, eine Gesetzgebung unter Ausschaltung der Parlamente von Bund und Ländern zu vermeiden. Ein Ausbau direkt-demokratischer Einrichtungen, welcher diesem Systemgedanken widerspricht, droht an die Grenze einer Gesamtänderung der Bundesverfassung zu stoßen. Sie bedarf daher selbst nach Art 44 Abs 3 B-VG einer Volksabstimmung im Anschluss an das parlamentarische Verfassungsgesetzgebungsverfahren. Um von einer Gesamtänderung und einem Wandel vom repräsentativdemokratischen zum plebiszitär-demokratischen System (Referendumsdemokratie) sprechen zu können, müssen zwei Voraussetzungen 9 kumulativ vorliegen: Erstens bedeuten bundesverfassungsrechtliche Regelungen, die eine Gesetzeserzeugung unter Ausschluss oder sogar gegen den (Mehrheits-)Willen des Parlaments ermöglichen, maßgebliche Schritte zur Verankerung der direkten unter Preisgabe der repräsentativen Demokratie. Zweitens müssten diese Regelungen es zulassen, dass ein derartiger Weg der plebiszitären Rechtserzeugung als Normalfall an die Stelle der oder zumindest neben die Rechtserzeugung durch das Parlament tritt. Solange daher umgekehrt Modelle der direkten Demokratie verfassungsrechtlich verwirklicht werden, bei denen ein vorliegender Gesetzesbeschluss des Nationalrates lediglich durch eine- sei es auch verpflichtend auf Grund eines Volksbegehrens vorgesehene- Volksabstimmung verworfen oder bestätigt werden kann, und/oder ein Gesetzesbeschluss ohne Befassung oder gegen den Willen des Nationalrates durch Volksabstimmung nur unter besonderen, ausnahmehaft formulierten und eng umschriebenen ver-

1 Vgl.

9

VfSig. 13.500/1993; 15.302/1998. Oberndorfer, (FN 5), Rz 15.

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fassungsrechtlichen Voraussetzungen vorgesehen ist, liegt noch keine Gesamtänderung der Bundesverfassung vor.

111. Die Grenzen der repräsentativen Demokratie Der Frage, in welchem Ausmaß das Bundes- oder ein jeweiliges Landesvolk an der Gesetzgebung des Bundes und der Länder mitwirken darf, kommt im Hinblick auf das dem B-VG zu Grunde liegende repräsentativ-demokratische Prinzip verfassungsrechtlich eine besondere Bedeutung zu. Insbesonders stellt sich dabei die Frage nach der verfassungsmäßigen Zulässigkeit einer "Referendumsgesetzgebung", bei der eine von der Mehrheit der Stimmberechtigten unterstützte Gesetzesinitiative auch gegen den Willen (der Mehrheit) des Parlaments zum Gesetz werden kann. Dem soll im Folgenden nun näher nachgegangen werden.

1. Die Verfassungsautonomie der Länder

Während nach den Bestimmungen des B-VG die Gesetzgebung auf Bundesebene dem Nationalrat gemeinsam mit dem Bundesrat obliegt, wird gemäß Art 95 Abs 1 B-VG die Gesetzgebung der Länder von den Landtagen ausgeübt. Wird damit auf Landesebene ftlr die Gesetzgebung das Einkammersystem festgelegt, so ist doch die Möglichkeit einer Mitwirkung des (Landes-)Volkes am Gesetzgebungsverfahren nicht von vornherein ausgeschlossen. Nach Art 99 Abs 1 B-VG haben die Länder durch Landesverfassungsgesetze eigene Landesverfassungen zu erlassen, welche die Bundesverfassung nicht "berühren", das heißt ihr nicht widersprechen dürfen. Die Bundesverfassung stellt somit den Rahmen ftlr die - deshalb relative - Verfassungsautonomie der Länder dar, die als integraler Bestandteil des bundesstaatliehen Grundprinzips dadurch gekennzeichnet ist, dass der Landesverfassungsgesetzgeber an die im B-VG festgelegten Vorschriften gebunden ist, den dadurch eingeräumten, aber auch den darüber hinaus gehenden Spielraum jedoch nach politischem Belieben durch eigenständige Regelungen nUtzen kann 10 • Die Verfassungsautonomie der Länder wird jedoch in beträchtlichem Maße durch jene Regelungen beschränkt, die sich kraft Homogenitätsprinzip auf Bund und Länder in gleicher Weise beziehen. Dazu zählen vor allem die Grundprinzipien der Bundesverfassung, also 10 Vgl. Ringhofer, Die Österreichische Bundesverfassung, 1977, S. 308; Koja, Das Verfassungsrecht der Österreichischen Bundesländer, 1988, S. 23ff.; Pernthaler, Der Osterreichische Bundesstaat im Spannungsfeld von Föderalismus und formalem Rechtspositivismus, ÖZÖR XIX (1969), S. 365 u. 375 f.

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auch das Prinzip der repräsentativen Demokratie mit seinen eingangs schon erwähnten Strukturmerkmalen. Die Beteiligung des Volkesam Landesgesetzgebungsverfahren durch direktdemokratische Einrichtungen ist in den einzelnen Landesverfassungen vorgesehen. Diese Instrumente ermöglichen es, Mängel der Repräsentation gegenzusteuern oder solche auszubalancieren 11 • Grundsätzlich ist daher der Landesverfassungsgesetzgeber in der Ausgestaltung direkt-demokratischer Elemente der Landesgesetzgebung keinesfalls auf die vorgezeichneten Modelle des Bundes beschränkt, sodass auch Weiterentwicklungen der einschlägigen Institute des Volksbegehrens und der Volksabstimmung durchaus zulässig erscheinen. Entscheidend dabei ist aber, dass dadurch das System der repräsentativen Demokratie, das den Schwerpunkt der Gesetzgebung den gewählten Parlamenten zuordnet und eben deshalb Ausnahmen hiervon nur in begrenztem Umfang zulässt, nicht gesprengt wird. Dieses System ist verfassungsrechtlich vorgegeben, insofern als die Bundesverfassung ein Gesetzgebungsverfahren in Bund und Ländern voraussetzt, das ungeachtet einer möglichen (direktdemokratischen) Beteiligung des Volkes ein verfassungsmäßiges Gesetz ohne Parlamentsbeschluss nicht zu Stande kommen lässt. Die Verfassungsautonomie der Länder und damit notwendig verbunden das bundesstaatliche Grundprinzip der Verfassung finden daher ihre Grenze im Kernbereich des repräsentativdemokratischen Grundprinzips, das nur im Verfahren gemäß Art 44 Abs 3 B-VG geändert werden kann 12 •

2. Das Erkenntnis des VfGH zur" Volksgesetzgebung" in Vorartberg Mit dem Kernbereich des repräsentativ-demokratischen Grundprinzips hatte sich der VfGH aus Anlass einer Beschwerde gegen einen Bescheid der Vorarlberger Landeswahlbehörde im Rahmen seines Gesetzesprüfungsverfahrens zu G I 03/00 auseinander zu setzen. Nach Art 33 Abs 5 der Vorarlberger Landesverfassung 13 war ein von wenigstens 20 Prozent der Stimmberechtigten gestelltes Volksbegehren einer Volksabstimmung zu unterziehen, sofern der Landtag es abgelehnt hat, diesem Volksbegehren Rechnung zu tragen. Hat in der Folge das Landesvolk entschieden, dass dem Volksbegehren Rechnung zu tragen ist, so hat- gemäß Art 33

11 Böclrenforde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, in: FS Eichenberger, 1982, S. 316. 12 13

VfSig. 2455/1952. Im Folgenden abgekürzt als LV.

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Abs 6 LV - der Landtag einen dem Volksbegehren inhaltlich entsprechenden Gesetzesbeschluss zu fassen. Der VfGH hob in einem amtswegig eingeleiteten Verfahren gemäß Art 140 Abs 1 B-VG Art 33 Abs 6 LV auf und begrUndete die Bundesverfassungswidrigkeit dieser Bestimmung damit, dass die in Prüfung gezogene Bestimmung letztlich mit dem Grundgedanken der repräsentativen Demokratie nicht mehr vereinbar sei, weil sie einen Gesetzesbeschluss gegen den (Mehrheits-)Willen des Parlaments ermögliche. Nach Auffassung des VfGH widerspricht eine solche- wie der Gerichtshof sie nennt- "Volksgesetzgebung" dem der Bundesverfassung insgesamt zu Grunde liegenden Konzept der repräsentativen Demokratie mit bloß ausnahmehaft vom Verfassungsgesetzgeber vorgesehenen direkt-demokratischen Elementen. Schon der historische Verfassungsgesetzgeber 14 hatte zwar dem Instrument der Volksabstimmung große Bedeutung beigemessen, wollte sie jedoch im Gesetzgebungsverfahren nur in sehr eingeschränktem Umfang zulassen. Auch die Ablehnung des "Vetoreferendums", also die Erzwingung einer Volksabstimmung über einen Gesetzesbeschluss (bzw. ein bereits kundgemachtes Gesetz) durch eine Volksinitiative wird bereits aus der Entstehungsgeschichte des B-VG deutlich. Die daftlr maßgeblichen Erwägungen müssen aber umso mehr auf eine Regelung zutreffen, derzufolge das Parlament (gegen seinen Willen) auf Grund eines vom Volk initiierten Referendums zur Fassung eines der Volksinitiative inhaltlich entsprechenden Gesetzesbeschlusses verpflichtet wird. Aus der Entstehungsgeschichte des B-VG ergibt sich fUr den VfGH somit, dass die bewusste Einschränkung bzw. ZurUckdrängung des Referendums bundesverfassungsrechtlich nicht bloß fUr die Ebene des Bundes gilt, sondern dass es sich dabei um ein wesentliches Element des repräsentativ-demokratischen Prinzips handelt, das auch den Landesverfassungsgesetzgeber bindet. 15 Die Regelung des Art 33 Abs 6 LV überschritt somit jenen Spielraum, der dem Landesverfassungsgesetzgeber im Rahmen seiner Verfassungsautonomie bei der Ausgestaltung direkt-demokratischer Einrichtungen eingeräumt wird. Weil anders als im Fall des Art 43 B-VG bei der Regelung des Art 33 Abs 6 LV die Entscheidung im Landtag ohne die Möglichkeit einer eigenen Willensbildung der Abgeordneten erfolgt, war es dem Landtag auch verwehrt, unter der nachprüfenden Kontrolle des VfGH die Frage der Bundesverfassungsmäßigkeit der begehrten Regelung zu beurteilen und im Fall ihrer Verfassungswidrigkeit von einer Beschlussfassung Abstand zu nehmen. Der Inhalt des Art 33 Abs 6 LG war im Sinne der erwähnten beiden Elemente ftlr einen Wandel vom Repräsentativ- zum Direkt-demokratischen Sys-

14 15

Vgl. dazu die vom VfGH zitierten Quellen in G 103/00 vom 28.6.2001. Vgl. VfSlg. 3134/1956.

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tem als Gesamtänderung der Bundesverfassung zu qualifizieren. Zum einen handelte es sich, wie auch Öhlinger 16 zugesteht, um eine Regelung, die eine Gesetzeserzeugung unter Ausschluss oder sogar gegen den Willen des Parlamentes ermöglicht. Zum anderen wurde durch diese Form des plebiszitären Verfahrens ein Rechtserzeugungsmodell konstituiert, das - wenn schon nicht als Normalfall - zumindest als Konkurrenzmodell neben das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren trat, mag auch in der Praxis des Gesetzgebungsverfahrens davon noch kein Gebrauch gemacht worden sein. Es genügt nämlich, dass potentiell jedes beliebige Gesetz im Wege einer derartigen "Volksgesetzgebung" erlassen werden könnte, weshalb der VfGH in Bezug auf die Qualifikation als "Normalfall" eine quantitative Betrachtung17 fiir verfehlt hält. Wenn Pemthaler 18 die eigentliche Verfassungsfrage bezüglich des Art 33 Abs 6 der Vorarlberger Landesverfassung lediglich in der Zulässigkeit einer Umkehr der Reihenfolge von Volksabstimmung und Parlamentsbeschluss über ein Landesgesetz sieht, so verkennt er zum einen den Gehalt des der Bundesverfassung insgesamt zu Grunde liegenden Prinzips der repräsentativen Demokratie und dessen Bindungswirkung fiir die Länder. Zum anderen scheint er den jeweils unterschiedlichen Schwerpunkt der Regelungen im parlamentarischen Verfahren des Bundes und der Länder zu übersehen, weil die politische Entscheidung im Gegensatz zu Art 43 B-VG im Fall des Art 33 Abs 6 LV auch ohne die Möglichkeit einer eigenen Willensbildung durch den Landtag also in Wahrheit unter dessen faktisch-politischem Ausschluss getroffen werden konnte. Aber auch das von Perntha/er19 ins Treffen geftlhrte historische Argument, wonach bereits die Vorarlberger Landesverfassung von 191920 vor dem Inkrafttreten der Bundesverfassung das heute geltende System enthalten habe, geht ins Leere. Zwar musste schon nach der Vorarlberger Landesverfassung von 191921 ein Volksbegehren zur Abstimmung gebracht werden, wenn es ausreichend unterstützt war, dem Landtag stand aber weiterhin das Recht zu, eigene Anträge auf Verwerfung des Vorschlages oder auf eine abgeänderte

16

406.

Bundesverfassungsrechtliche Grenzen der Volksgesetzgebung, Montfort 2000, S.

17 Wie sie Öhlinger, Bundesverfassungsrechtliche Grenzen der Volksgesetzgebung, Montfort 2000, S. 406 fordert. 18 Demokratische Identität oder bundesstaatliche Homogenität der Demokratiesysteme in Bund und Ländern, in: JBI 2000, S. 809.

19 Demokratische Identität oder bundesstaatliche Homogenität der Demokratiesysteme in Bund und Ländern, in: JBI 2000, S. 809. 20 Vgl. LGBI. 1919/22. 21

Vgl. § 6leg cit.

500

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Fassung desselben zu stellen. Eine materiell dem Art 33 Abs 6 LV entsprechende Regelung, derzufolge der Landtag unter bestimmten Voraussetzungen einen einem Volksbegehren inhaltlich entsprechenden Gesetzesbeschluss zu fassen hat, ist daraus nicht abzuleiten, weshalb sich somit auch versteinerungstheoretisch nicht ein Verständnis des repräsentativ-parlamentarischen Systems erschließen lässt, das eine Gesetzgebung am Landtag vorbei und gegen dessen Mehrheitswillen durch Landesvolksabstimmung ermöglichen würde. Eine "Volksgesetzgebung", wie sie die vom VfGH aufgehobene landesverfassungsrechtliche Vorschrift des Art 33 Abs 6 LV vorsah, erweist sich daher in Übereinstimmung mit hiezu geäußerten Lehrmeinungen 22 - wegen Widerspruchs zum repräsentativ-demokratischen Grundprinzip der Bundesverfassung als verfassungswidrig.

IV. Schlussbemerkungen Die konkrete politische Gestalt einer Demokratie hängt von vielen gesellschaftlichen Faktoren ab. Normativ besonderes Gewicht besitzt aber die verfassungsrechtliche Grundentscheidung filr die repräsentative Struktur des demokratischen Staatswesens. Erst durch und in der Wahl seiner Repräsentanten, der Abgeordneten zu den Parlamenten, und durch die Mehrzahl der in dieser Wahl bei der Kandidatenauswahl und -aufstellung tätigen politischen Parteien gewinnt ein Staatsvolk den ihm zukommenden politischen Freiheitsraum. Die davon abgehobene direktdemokratische Entscheidungsbefugnis des Staatsvolkes trägt ohne vorangehende Repräsentationsleistungen des politischen Systems einen mehr oder minder amorphen Charakter. Zwar ist die direktdemokratische Entscheidungsbefugnis des Volkes durchaus geeignet, auf repräsentativem Weg gewonnene Beschlüsse zu korrigieren oder durch Zustimmung zusätzlich zu legitimieren. Geht die Mitwirkung des Volkes durch eine das Parlament bindende Volksgesetzgebung aber über jenes Korrektur- oder Zustimmungsrecht hinaus, so läuft das demokratische System Gefahr, der Demagogie einzelner und in weiterer Folge dem Populismus von Rechts oder Links zu dienen. Der Missbrauch der demokratischen Idee ist nie so groß als wenn auf plebiszitärem Weg im Ergebnis die Grundrechte einzelner oder von Randgruppen (z.B. Minoritäten) missachtende totalitäre Entscheidungen getroffen werden. Es bildet daher eine besonders bedeutsame, grundsätzliche Festlegung der Osterreichischen Verfassungsordnung 22 ldS. statt vieler Adamovick!Funk/H olzinger, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 2, 1998, S. 62 ff; Koja, Das Verfassungsrecht der Österreichischen Bundesländer, 1988, S. 201; Mayer, Verfahrensfragen der direkten Demokratie, in: FS &hambeck, 1994, S. 511 f. Vgl. dazu ferner die zitierten Nachweise des VfGH in G 103/00 vom 28.6.200 1.

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in Bund und Ländern, eine Referendumsgesetzgebung ohne Parlament oder unter bloßer Scheinbeteiligung eines Parlaments nicht zuzulassen.

Literatur Adamovich/Funk!Holzinger, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1, 1997. - Österreichisches Staatsrecht, Bd. 2, 1998. Böckenforde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, in: FS Eichenberger, 1982. Bundesverfassungsrechtliche Grenzen der Volksgesetzgebung, Montfort 2000. Demokratische Identität oder bundesstaatliche Homogenität der Demokratiesysteme in Bund und Ländern, in: JBI2000, S. 809. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1920 (Nachdruck 1963). Kelsen/Fröhlich!Merkl, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, 1922. Koja, Das Verfassungsrecht der Österreichischen Bundesländer, 1988. LGBI. 1919/22. Mayer, B-VG3, 2002, S. 2f. -

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Verfassungsrecht, 1999.

Pernthaler, Der Österreichische Bundesstaat im Spannungsfeld von Föderalismus und formalem Rechtspositivismus, ÖZÖR XIX (1969).

Rill, Möglichkeiten und Grenzen des Ausbaus direkt-demokratischer Elemente in der Österreichischen Bundesverfassung, 1987. Ringhofer, Die Österreichische Bundesverfassung, 1977. VtGH in G 103/00 vom 28.6.2001. VfSig. 11.829/1988. VfSJg. 13.500/1993; 15.302/1998. VfSig. 2455/1952. VfSJg. 3134/1956. Walter/Mayer, Grundriß des Österreichischen Bundesverfassungsrechts, 2000.

Summum ins summa iniuria Zum Begriff Gerechtigkeit 1 Von JosefMenner Es ist bezeichnend, dass die Sentenz summum ius summa iniuria nicht aus der Rechtswissenschaft, sondern aus der antiken Rhetorik hervorging. 2 Sie ist keine Rechtsregel und findet sich bei keinem antiken Juristen. 3 Cicero verwendet die Sentenz als Argument gegen am Buchstaben klebende Auslegung von Rechtsnormen. Im weiteren Sinne bedeutet die Sentenz heute wie vordem die Erfahrung, dass durch unbeirrbar objektive und am Buchstaben klebende Gesetzesanwendung zugleich auch höchste Ungerechtigkeit geschehen kann. 4 Gerechtigkeit gilt aber den Menschen unseres Kulturkreises zu allen Zeiten als

1 Zum Einfluss der Gerechtigkeitsauffassungen auf das geltende Privatrecht s. H. Honse/1: Iustitia distributiva - iustitia commutatica, Festschrift fiir Th. Mayer-Maly (Hrsg. M. J. Schermaier u.a.), Köln 2002, S. 287 ff. Umfassende Darstellung v. a. fiir das geltende Recht: Der Gerechtigkeitsanspruch des Rechts, Festschrift filr Th. MayerMaly zum 65. Geburtstag (Hrsg. M. Beck-Managetta u.a.), Berlin I996; Historisches Wörterbuch der Philosophie Vol. 3 Sp. 329 ff.; U. Manthe: Beiträge zur Entwicklung

des antiken Gerechtigkeitsbegriffes I und II. ZSST I 13 (1996), S. 1 ff. und ZSST 114 (1997), S. I ff.; D. Nörr: Rechtskritik in der römischen Antike, Abh. d. Bayer. Akademie d. Wiss. I974; F. Hoffmann: Das Recht im Denken der Sophistik, Wiesbaden 1997; A. Dihle: Gerechtigkeit- Reallexikon filr Antike und Christentum, Bd. 10, Sp. 233-360. 2 Cic: off. 1, 33. 3 Zutreffend Mayer-Maly: Reflexionen über ius II. ZSST 119 (2002), S. 119 ff. gegen Carcaterra: St. Volterra IV, 1971, 627, 622 ff. Auch Romtext bietet keine Fundstelle dieser Sequenz. 4 Von zunehmender Bedeutung im Licht der Bestrebungen, Rechtsentscheidungen mit Methoden der Datenverarbeiteungen zu Fällen. Zum Positivismusvorwurf der EDVAnwendung im Recht s. W. Kilian: Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung, Darmstadt 1973, S. 22 f. und 216 f. Zum Verhältnis UngerechtigkeitUnrecht zutreffend D. Nörr: Rechtskritik, S. 35: "Die getreue Erfllllung ungerechter Gesetze erzeugt Ungerechtigkeit, nicht aber Unrecht."

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erstrebenswertes Gut. Nicht von ungefllhr wird sie daher im Neuen Testament als eine der acht Seligkeiten gepriesen.5 Mit der WUrde des Menschen und einem humanistischen Weltbild ist eine Einengung der Eigenverantwortlichkeit und Entfaltungsmöglichkeit nicht vereinbar. Daher besteht aus dieser Sicht Gerechtigkeit im Wesen darin, die Integrität der Persönlichkeitssphare des Mitmenschen zu respektieren So ist Gerechtigkeit schon von der Antike her ein typischer Bestandteil bekannter Staatstheorien und -utopien, nach denen der vollkommene Zustand dann erreicht ist, wenn alle den ihnen zugewiesenen Platz in der Gesellschaft innehaben6 und ohne Klassenunterschied als gleiche unter gleichen bedürfnislos dahinleben. Die Gerechtigkeit erschöpft sich dabei darin, dass jeder den ihm von der Gesellschaft zugewiesenen Platz einnimmt. Für Systemkritiker oder Individualisten bleibt da kein Raum, ihre AnsprUche können nicht als gerecht gelten, wo die absolute Gesellschaftsordnung Richtschnur allen Handeins ist. Soziale Gerechtigkeit wiederum ist Ausfluss eines ganz anderen Gesellschaftsbildes, das zwar auch gewisse utopische ZUge trägt, wo aber der Idealzustand das konfliktlose Zusammenleben möglichst eigenverantwortlicher Individuen sein soll. Hier versteht man Gerechtigkeit als Inbegriff der dem Individuum in Eigenverantwortung offenstehenden und gebührenden Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen eines sozialen Gesellschaftsbildes.7 Im Bereich des Rechtes und der Ethik besteht Gerechtigkeit im untadeligen Handeln gegenüber dem Mitmenschen, wobei als Richtschnur entweder eine Rechtsnorm oder eine ethische Norm anzunehmen ist. Schon der römische Jurist Ulpian vertritt in seiner Definition der Gerechtigkeit diesen Standpunkt. 8 Trotz aller Vielfalt des Begriffes Gerechtigkeit ist doch allen diesen Erscheinungsformen eine bestimmte Struktur gemeinsam: Selbst wenn Gerechtigkeit unkritisch als Argument verwendet werden sollte, hat man unter diesem Begriff immer den Ausdruck eines Resultates zu verstehen, das sich aus dem Vergleich eines bestimmten Seinszustandes mit einem bestimmten Sollenszustand ergibt,

5 Mt. 5,6. Zum altägyptischen Gerechtigkeitsdenk en zuletzt J. Assman: Gerechtigkeit, Vergänglichkeit und Gedächtnis im Alten Ägypten, ZSST 118 (2001), S. 30 ff. Zu altorientalischem Gerechtigkeitsdenken s. W. Waldstein: Zur juristischen Relevanz der Gerechtigkeit, in: Der Gerechtigkeitsanspruch des Rechts, FS Mayer-Maly (1996), S. 17. 6 Schon vor Platon und Aristoteles die Vorsokratiker Trasymachos und Protagoras, FVS 80 B 1 und 85. Während Protogoras einen extremen Subjektivismus vertritt (Piaton: Prot. 322 b, d) ist filr Trasymachos die Gerechtigkeit nur sozial zu verstehen. 7 Zur aristotelischen Dichotomie der verteilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit s. H. Honse/1, S. 287 f, vgl. 11 1, 2, 10. 8 D. I, 1, 10 pr.... suum cuique tribuere, alterum non loedere, honesie vivere.

Summum ius summa iniuria

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wobei der Sollenszustand ein nur im Idealfall erreichbares absolut vollkommenes Handeln, entsprechend einer dem Beurteilenden, vorschwebenden Verhaltensnorm darstellt. Je nach Art des vom Beurteilenden angenommenen Sollenszustandes handelt es sich um Gerechtigkeit im objektiven Sinne, wenn der Sollenszustand nicht der Willkür des Beurteilenden unterliegt, andernfalls kann Gerechtigkeit nur als höchst subjektives Gefllhl eines Individuums verstanden werden, das den Sollenszustand als Inbegriff eigener höchstpersönlicher und zumeist auch materieller Interessen definiert und damit als Sollensnorm entwertet. Als objektive Sollenszustände treten dagegen jene Normen hervor, die aus religiöser oder philosophischer Weltanschauung, aus Naturrecht oder höherer Vernunft, im modernen Ordnungsstaat mit seiner durchkonstruierten Rechtsstruktur9, vor allem aber aus positivem (d. h. auf verfassungsmäßige Weise zustande gekommenem geltendem) Recht geschöpft werden. Dieses positive Recht steht im Spannungsfeld einer problemreichen Wechselwirkung, indem es einerseits den Sollenszustand bedeutet, andererseits aber auch im Verhältnis zu einer übergeordneten Norm den Seinszustand darstellen kann. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt das Problem des Verhältnisses von Recht und Macht an Bedeutung, wenn der ideale Zustand der Gerechtigkeit darin bestehen soll, dass Recht niemals zum Instrument der Macht verkommt. Sobald der zur Beurteilung herangezogene Sollenszustand von persönlichen oder machtpolitischen Interessen beeinflussbar oder sonst wie manipulierbar wird, wird Gerechtigkeit zu einem vordergründigen Schlagwort zweifelhaften Wertes. Gültige Aussagen über das Wesen der Gerechtigkeit sind nur dann möglich, wenn konkretes Handeln an einem Sollenszustand gemessen wird, der Bestandteil einer autonomen Sollenskategorie ist. Die Position, nur solches Handeln oder Sein als gerecht zu bezeichnen, das einer kritischen Beurteilung im Lichte einer übergeordneten, zumindest aber autonomen Norm als Sollenszustand standhält, findet sich in allen Epochen europäischer Geschichte. Bei Betrachtung der Quellströme der abendländischen Kultur stehen fllr den griechisch-römischen als hervorragende Figuren Platon und Aristoteles an vorderster Stelle. 10 Aristoteles hat denn auch bis zum heutigen Tag auf die gesamte Entwicklung nachhaltend Einfluss genommen. Schon Platon 11 und die Vorsokratiker hatten zuvor das archaische Prinzip der Gerechtigkeit überwunden, das darin bestand, nur das Verhältnis Volk- Gottheit zu umfassen und das 9

Z. B. Stufenaufbau der Rechtsordnung.

Umfassend dargestellt zuletzt U. Manthe: Beiträge zur Entwicklung des antiken Gerechtigkeitsbegriffes I und II, ZSST 113 (1996), S. 1 ff. und ZSST 114 (1997), S. 1 ff. 10

11

Dialog, 18 b, Def. 411 e.

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Individuum gänzlich auszuklammern. Aristoteles übernimmt den Begriff Platons von Gerechtigkeit als einem Bündel von vier Haupttugenden 12 , fUgtjedoch hinzu, Gerechtigkeit sei der Inbegriff der Tugenden nur insofern, als sie sich am Mitmenschen, an den einzelnen Individuen der Gesellschaft und ihrem konfliktlosen Zusammenleben orientiere. 13 Für Aristoteles ist die Gerechtigkeit somit eine Funktion des Rechtes, das darin besteht, das Zusammenleben in der Gesellschaft zu regeln. Nach Aristoteles ist Gerechtigkeit "eine Tugend, durch die jeder das ihm entsprechend seiner Würdigkeit Zustehende erhalten soll, Ungerechtigkeit dagegen liege vor wo jemand entgegen dem Gesetz ihm nicht Zustehendes erhält". 14 Aus der Entwicklungsgeschichte des Gerechtigkeitsbegriffes im Alten Testament kann festgestellt werden, dass sich auch hier vielfache Schichtungen abzeichnen. Zur Zeit des Exodus und der Landnahme war wie in der alten griechischen Entwicklung ein archaischer Gerechtigkeitsbegriff maßgebend, der sich im Verhältnis des Bundes zwischen Gott und seinem Volk erschöpfte. Der Bund war dominierende Sollenskategorie, neben der die Bestandsnormen einer sozialen Gemeinschaft zwar allmählich erkennbar wurden, aber eine untergeordnete Rolle spielten. 15 Das sind deutliche Parallelen zum vorplatonischen Griechentum. Eine wesentliche Wende brachte der Übergang zum orientalischen Königtum. In der Königsmacht eines Saul, David und Salomo finden wir eine der göttlichen Sollensnorm vorgeschaltete Norm, welche jene interpretiert, repräsentiert und konkretisiert. 16 Nach wie vor aber besteht die Sanktion des Verstoßes gegen die Sollensnorm in Bestrafung und Vergeltung 17 , die durch die Königsmacht verwirklicht wird. Diese Auffassung begegnet uns fast ein Jahrtausend später wieder in der konstantinischen Ära. Mit dem Übergang des Judentums zur Gesetzestradition der pharisäisch-rabbinischen Position wird das geschriebene Gesetz fundamentale Sollensnorm zur Beurteilung der Gerechtigkeit. In äußerster Überspitzung stellt sich schließlich die Gerechtigkeit als eine nach dem Buchstaben des Gesetzes formale Fehlerlosigkeit dar. 18

12

Ar. NE 5. 3, 5. 14, 6. 3. 1139 b 15-18; virt. 2. 1250 a 12 u. v. a.

13

Platon, Gorg, 463 e/466 a.

14 Ar. rhet. I 9, 1365 b 9 ff.; II 24, 1402 a; Politeia 342 c, d. Auf die Untergliederungen der Gerechtigkeit bei Aristoteles kann hier nicht eingegangen werden. 15

Josua24.

16

Ps. 46; 76, 8/11, 98, 9.

17

Lev. 24, 19 f. Dtn. 19, 21.

18

Vgl. Dih/e, Sp. 301.

Summum ius summa iniuria

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Bekanntlich haben die Römer die griechische Philosophie und Begriffswelt vor allem der Stoa und des Aristoteles übernommen und in ihrem Denken dahingehend fortgefilhrt, dass sie durch Verwendung römischer Begriffe wiefides und pietas die griechischen Positionen römisch einfiirbten. Die platonischaristotelische Sollensnorm wird in Rom durch fides, aequitas und pietas konkretisiert. Die griechischen Tugendauffassungen werden durch die konkreten römischen Begriffe fides, aequitas, pielas und Jas als sakraler Begriff ersetzt. Dadurch bekommt der Begriff der Gerechtigkeit den Inhalt der Rechtschaffenheit und Vertrauenswürdigkeit. In Fortfilhrung der aristotelischen Ansicht finden wir bei allen römischen Definitionsversuchen Gerechtigkeit als das zuteilende Element. 19 Im Gegensatz zur griechischen Auffassung ist für die Römer Zuteilungskriterium aber nicht mehr nur gesellschaftliche Stellung oder Würdigkeit, sondern die Rechtsordnung. 20 In diesem Licht haben wir auch die Aussagen römischer Quellen zu sehen, die vornehmlich den Begriff aequitas filr Gerechtigkeit verwenden.21 Beispielgebend für die römischen Juristen stehen die Definitionen von Ulpian iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendP2 und Celsus ius est ars boni et aequi23 und ebenso die Aussage des Juristen Paulus. 24 Die Rechtsordnung, die in ihrer Idealform eine ars boni et aequi des Inhalts honeste vivere, alterum non iaedere, suum cuique tribueri 5 darstellt, wird damit zum eigenständigen Faktor und zur Grundlage des menschlichen Zusammenlebens. In diesem Sinne bedeutet aequitas aber schon den Verweis auf eine der Rechtsordnung immanente Grundnorm, die wiederum zur Beurteilung einzelner konkreter Rechtsnormen herangezogen werden kann. Die schon bei Platon ausgebildete Theorie des Naturrechtes wird zur Erkenntnis der Grundnormen des Rechtes herangezogen und bildet die Basis für die Beurtei-

19 Manifestiert bei Ulpian in D. 1, I, 10 pr. + l.

°

2 Cic. leg. I, 42 ff.; fin 3, 73. Deutlich sind die Verbindungen zur griechischen Philosophie erkennbar.

21 Ulp. D. 3, 5, 3, 9: quae sententia habet aequitatem, oder Ulp. D. 2, 2, 1 pr: hoc edictum summam habet aequitatem, oder Ulp. D. 2, 14, Ipr.: huius edicti aequitas naturaUs est, oder Marcell, D. 4, 1, 7, 1: ut et ratio et aequitas postulabit, oder Paul, D. 50, 17, 90: in omnibus quidem, maxime tarnen in iure aequitas specianda. Romtext verzeichnet fiir das Kaiserrecht zehn Belege für den Ausdruck iustitia bzw. ius et aequitas. Von den literarischen Quellen ist vor allem Cicero und Plautus zu nennen. Näheres insbes. zum Gebrauch bei den Juristen: Kipp, RE I, 1, Sp. 598 ff. 22

D. I, 1, 10 pr; Tryph, D. 16, 3, 31, l.

23

D. I, 1, 1, l.

24

D. I, 1, 11.

25

IJ, I, 1 pr. + 3.

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lung nach rechtlichen aber auch sittlichen Grundsätzen. Eine Rechtsnorm z. B., die sich der Machtträger zu seinem eigenen Nutzen schafft, hält diesem Vergleich nicht stand und wird deshalb zutreffend als ungerecht bezeichnet. 26 Das Neue Testament übernimmt verständlicherweise den überlieferten Begriff, moderiert aber die Sanktion aus der Verletzung der Gerechtigkeit und interpretiert sie im Hinblick auf das Endgericht 27 Früh ist ein Abrücken vom alttestamentarischen Gerechtigkeitsbegriff feststellbar.28 Mit dieser Position wird die vom Buchstaben des Gesetzes verkörperte Sollensnorm als nicht mehr ausreichend angesehen. Dar Sinn des Gesetzes tritt als Korrektiv hinzu und die Norm wird dadurch an den göttlichen Willen geknüpft. Diese neue Auslegung des alten, im Ansatz auch im Heidentum vorhandenen Nächstenliebegebotes sprengt den Rahmen bisheriger Gerechtigkeitsauffassungen und erweitert sie über den Kreis bloßer Gruppensolidarität und Gruppenexklusivität hinaus. Hier finden sich die Wurzeln einer nach heutigem Verständnis völkerumfassenden sozialen Gerechtigkeit. Auch Paulus geht von der endzeitliehen Gerichtssituation aus, in welcher der Mensch entsprechend seinen Taten als gerecht oder ungerecht befunden wird. Messbar ist diese Gerechtigkeit am Gesetz, das die Juden als Tora haben, den Nichtjuden aber "ins Herz geschrieben" ist. 29 Darin liegt das Verbindungsglied zur heidnischen Position der normengebundenen natürlichen Vernunft, die wir schon bei Platon und Aristoteles finden. War aber bisher Gerechtigkeit Resultat menschlicher Leistung im Willen zur Erfllllung der Sollensnorm, so wird nun bei Paulus deutlich, dass ohne Mitwirkung Gottes das Gesetz nur dem Buchstaben nach erfllllt werden könne, was aber als nicht ausreichend angesehen wird. Die aus dem Gesetz entspringende menschliche Gerechtigkeit könne im Vergleich zur göttlichen Gerechtigkeit nur unvollkommen sein. Von elementarer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Paulinische Rechtfertigungslehre. Sie überwindet den überkommenen Vergeltungsmechanismus sowohl des alten Testaments als auch der griechischen Antike: Durch den Tod Christi werde die ganze Menschheit aus der Vergeltung gegenüber Gott gelöst und erst dadurch beflihigt, einer göttlichen Sollensnorm gemäß zu handeln. Was die Fortfllhrung der christlichen Positionen anlangt, so ist festzustellen, dass mit Origenes die Verbindung christlich-jüdischer Tradition mit der aristo-

26

27

Cic. Verr. I 136 ff., off. I 30. So z. B. Mt. 5, 5, 10, 13, 43; Lc. 14, 14.

28

Bereits in Mt. 7, 13 und Lc. 13, 24.

29

Röm. 2, 13; 4, 5; 2 Kor. 5, 21.

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telisch-heidnischen vorgenommen wird. Ausgehend von Origenes30 hat vor allem Tertullian31 , Cyprian32 und Lactanz33 die griechische Lehre von den Kardinaltugenden übernommen und sie im christlichen Sinn gedeutet. Christliche Gerechtigkeit ist fUr ihn die durch die neue Gotteserkenntnis ermöglichte Vervollkommnung der bisherigen, von den Philosophen gelehrten Gerechtigkeit. 34 Mit der Herrschaft Konstantins tritt ein Wandel ein, der das Christentum als allem übergeordneten Sollenszustand deutet. Geblendet vom Erfolg haben Theologen dem Kaiser willig bescheinigt, dass er die göttliche Gerechtigkeit zu verwirklichen legitimiert sei. So stellt Ambrosius fest, dass der Kaiser sich über das suum cuique hinwegsetzen könne, da er als Kaiser im Besitze des Rechtes und der jides sei. 35 Für das Mittelalter36 steht die zentrale Figur des Thomas von Aquin, der die bisherigen Positionen zusammenfasst und abschließt. 37 Hatte vor ihm Anse Im v. Canterbury den Begriff der Gerechtigkeit in eher ungewöhnlicher Weise gebraucht, indem er unter Außerachtlassen der bisherigen Entwicklung Gerechtigkeit als Rechtheit im Sinne von Geradlinigkeit um seiner selbst Willen auffasse 8, so stellt sich Thomas wieder voll in die antike Tradition. 39 Der irdischen Gerechtigkeit antiker Tugendlehre stellt er die göttliche Gerechtigkeit gegenüber und stellt fest, dass die Barmherzigkeit durch die Gerechtigkeit vorausgesetzt sei. In Bezug auf die antiken Kardinaltugenden hält er fest, dass diese in Bezug auf den anderen, das Gleiche und das Rechtmäßige ihren Sinn gewinnen. Auch bei Luther findet sich als bekannte Dichotomie die überlieferte Lehre.40 Er gliedert sie in eine iustitia evange/ica und in eine iustitia civi/is. Diese ist eine äußere Gerechtigkeit nach Normen weltlichen Wohlverhaltens, jene in Fortsetzung der Rechtfertigungslehre Paulus eine göttliche Gerechtigkeit als 30

s. eingehend Dihle, Sp. 328 ff.

31 Apol, 4, 10 f., 13; adv, lud, 2. 32

Ep. 5.-63, 4.

33

Inst. 5, I 2. 5, I 7. 22.

34 lnst. 6, 18. 35 Ep. I7, I2; off. I, 131. 36 Zur scholastischen Gerechtigkeitslehre s. M. Beck-Managetta: Mittelalterliche Ge-

rechtigkeitslehre, FS Mayer-Ma/y, S. 74 f. 37 Secunda Secundae art. I qu. 58. 38

Oe veritae I 2.

39

Zu den antiken Quellen, die Thomas verwendet, s. M. Beck-Managetta, S. 78 f. Sermo de duplici iustitia (I 5 I 9).

40

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Resultat gnadenhafteT Zuwendung. Während noch F. Bacon und die Cambridger Schule natürliche Vernunft und gesellschaftliches Sein als Sollensnorm annehmen41 , findet sich bei Hobbes mit aller Deutlichkeit die Macht als alleinige Sollensnorm. 42 Pufendorf hingegen bezieht den Begriff der Gerechtigkeit wieder stärker auf das Recht, da er gerechtes Handeln mehr im Lichte gesetzestreuen als tugendhaften Handeins erkennt. 43 Dem folgt Kant44 , wenn er feststellt, Gerechtigkeit sei als Eigenschaft der Gesellschaft im bürgerlichen Zustand zu sehen. Sie sei das formale Prinzip der Möglichkeit des rechtlichen Zustandes unter Menschen und werde durch den kategorischen Imperativ bestimmt: Dieser rechtliche Zustand sei jenes Verhältnis der Menschen untereinander, welche alle Bedingungen enthält, unter denen jeder seines Rechtes teilhaftig werden kann. Kelsen versteht schließlich Gerechtigkeit in erster Linie als mögliche, aber nicht notwendige Eigenschaft einer Gesellschaftsordnung. 45 "Absolute Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal." Die angeblich rationalen Definitionen der Gerechtigkeit sind filr ihn "völlig leere Formeln", er hält sie weder zur Rechtfertigung noch zur Kritik einer tatsächlich bestehenden rechtlichen Ordnung geeignet. Kelsen bekennt sich zur Toleranz als dem materialen Prinzip einer relativistischen Wertlehre, mit der er Freiheit, Frieden und Demokratie verbunden sieht. Für die frühen Sozialisten verbindet sich mit dem Begriff Gerechtigkeit eine Verteilungsgleichheit, die sich schließlich zur Marxistischen Auffassung weiterentwickelt.46 Engisch nennt den Begriff der Gerechtigkeit relativ formal, wenn auch nicht völlig leer, aber ergänzungsbedürftig. Als formales Prinzip gebietet Gerechtigkeit, das "wesentlich" Gleiche gleich zu behandeln. Daher wird Gerechtigkeit erst praktikabel, wenn sie durch andere Wertgesichtspunkte moralischer oder politischer Art, die eine Unterscheidung von wesentlich Gleichem und Ungleichem erlauben, ergänzt und konkretisiert wird. 47 Welzel hält nur sinndeutende Entwürfe einer gerechten Sozialordnung unter den wechselnden Bedingungen geschichtlicher Existenz ohne Sicherung gegen Irrtum durch einen Vorgriff ins Absolute filr möglich. Das positive Recht hat dafilr zu sorgen, "dass der Kampf um die richtige Gestaltung der Sozialverhält-

41

F. Bacon, de augm. VI, 3.

42

Th. Hobbes, Leviathan cap. 26.

43

Dejure naturae et gentium (1672) 7, 13.

44

Met. Sitten. Akad. A. 6, 305 f.

45

Kelsen: Was ist Gerechtigkeit (1953) 40, 2; Reine Rechtslehre, S. 360 f.

46

Lit dazu in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Sp. 338.

47

K. Engisch: Aufder Suche nach Gerechtigkeit, 1971, S. 178, 184.

Summum ius summa iniuria

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nisse eine geistige Auseinandersetzung bleibt und nicht durch die Vergewaltigung oder gar die Vernichtung von Menschen durch Menschen beendet wird". Nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurde im Zuge einer Analyse der vorgefallenen Ereignisse auch ein neuerliches Überdenken der bisherigen Gerechtigkeitsanschauungen notwendig. Es hatte sich herausgestellt, dass gesellschaftliche Nützlichkeit und staatliche Rechtsordnungen fUr sich allein nicht als SolIensnormen im Sinne gerechten Handeins ausreichend sind und ebenso wenig die natürliche Vernunft. Sobald diese Normen einer zweckorientierten Interpretation ausgesetzt sind, verlieren sie die fUr eine Sollensnorm erforderlichen Eigenschaften, auch wenn sie verallgemeinerungsflthig i. S. von Kant wären. Hatte der Rechtspositivismus vor allem der Zwischenkriegszeit allein die staatliche Rechtsordnung als Sollensnorm anerkannt, so war nach dem Kriege diese Position kompromittiert. Vor allem in Deutschland und Österreich gelangte man nach ernsthaften Überlegungen zur Überzeugung, dass ein auf Beständigkeit gerichtetes demokratisches Staatswesen vor allem auf Gerechtigkeit aufgebaut sein muss. Für die heutige Wertegemeinschaft liegt gerechtes Handeln dann vor, wenn es sich in Einklang mit den Prinzipien der Menschenwürde und den Menschenrechten befindet, wie sie in den jeweiligen demokratischen Grundnormen festgelegt sind. In dieser Hinsicht, also im Hinblick auf die Würde des Menschen, ergibt sich fUr den Christen wie fllr den Nichtchristen der Beurteilungsmaßstab des individuellen Handeins oder auch der rechtlichen Maßnahmen. Im Alltagsleben wird der Mensch die Prinzipien der Menschenwürde entweder aus einer verantwortungsbewussten christlichen Haltung schöpfen, oder er beruft sich in nähe liegender Weise auf sein pflichtgemäßes gesetzmäßiges Handeln. Dieses gesetzmäßige Handeln wird sein Handeln in aller Regel dann als gerecht legitimieren, wenn dieses im Einklang mit einer Verfassung steht, welche die Menschenwürde und die Menschenrechte als fundamentale Prinzipien anerkennt. Dies war schließlich auch der Gegenstand zahlreicher Gespräche und Diskussionen, die gemeinsam mit dem Jubilar im Rahmen der Katholischen Hochschulgemeinde gefllhrt wurden.

Literatur Assman, 1.: Gerechtigkeit, Vergänglichkeit und Gedächtnis im Alten Ägypten, ZSST 118 (2001).

Beck-Managetta, M. et al. (Hrsg.): Der Gerechtigkeitsanspruch des Rechts, Festschrift ftlr Mayer-Maly, Th. zum 65. Geburtstag, Berlin 1996.

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JosefMenner

- Mittelalterliche Gerechtigkeitslehre, in: Beck-Managetta, M. et al. (Hrsg.): Der Gerechtigkeitsanspruch des Rechts, Festschrift fllr Mayer-Maly, Th. zum 65. Geburtstag, Berlin 1996. Carcaterra, A.: St. Volterra IV, Milano 1971. Dihle, A.: Gerechtigkeit, in: Dassmann, E. et al. (Hrsg.): Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. I 0, Stuttgart 1978, Sp. 233-360. Engisch, K.: Aufder Suche nach Gerechtigkeit, München 1971. Hoffmann, F.: Das Recht im Denken der Sophistik, Wiesbaden 1997. Honse/1, H.: Iustitia distributiva - iustitia commutatica, in: lurisprudentia universalis, Festschrift f. Th. Mayer-Maly zum 70. Geburtstag, Köln 2002. Kelsen, H.: Was ist Gerechtigkeit, Stuttgart 2000.

- Reine Rechtslehre, Wien 2000. Kilian, W.: Juristische Entscheidung und elektronische Datenverarbeitung, Darmstadt 1973. Manthe, U.: Beiträge zur Entwicklung des antiken Gerechtigkeitsbegriffes I und II. ZSST 113 (1996) und ZSST 114 (1997). Mayer-Maly, Th.: Reflexionen über ius II. ZSST 119 (2002). Nörr, D.: Rechtskritik in der römischen Antike, Abh. d. Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1974. Waldstein, W.: Zur juristischen Relevanz der Gerechtigkeit, in: Der Gerechtigkeitsanspruch des Rechts, in: Beck-Managetta, M. et al. (Hrsg.): Der Gerechtigkeitsanspruch des Rechts, Festschrift fllr Mayer-Maly, Th. zum 65. Geburtstag, Berlin 1996.

Die "Wertschätzung" familiärer Dienstleistungen im Österreichischen und deutschen Schadenersatzrecht• Von Christian Huber

I. Das tatsächliche Problem Tagtäglich werden in Deutschland und Österreich bei Straßenverkehrsunfällen Menschen verletzt. 2 Wegen der höheren Sicherheitsstandards der Kraftfahrzeuge ist die Anzahl der Getöteten erfreulicherweise rückläufig, während dies ftlr die Verletzten nicht gilt. Wird eine Person schwer verletzt oder getötet, wird das durch die Verletzung ausgelöste Defizit häufig durch Familienangehörige ausgeglichen. Zwei charakteristische Fallkonstellationen sollen dabei herausgegriffen werden:

1. Die verletzte Person ist zum Pflegefall geworden

Nach einer schweren Verletzung erfolgt die akutmedizinische Versorgung im Krankenhaus. Bei vielen Patienten wird aber dann ein Zeitpunkt erreicht, ab dem ein Heilungsfortschritt nicht oder nur in marginalem Ausmaß sich erzielen lässt. Die Alternative ftlr den Schwerverletzten ist häufig die, in ein Pflegeheim "abgeschoben" zu werden oder in den eigenen vier Wänden von Familienangehörigen betreut zu werden.

1 Für die Hilfe bei der Ergänzung der Fußnoten danke ich meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Mag. Alexander Wittwer.

2 Dies waren im Jahr 2001 in Deutschland 375.345 (2000: 382.949) Straßenverkehrsunfllle mit Personenschaden mit 494.775 (2000: 504.074) Verletzten und 6.977 (2000: 7503) Toten; http://dip.bundestag.de/btd/14/097/l409730.pdf, S. 6. In Österreich waren dies 43.073 (2000: 42.126) Straßenverkehrsunfllle mit Personenschaden mit 56.265 (2000: 54.929) Verletzten und 958 (2000: 976) Toten; http://www.kfv.or.at/statistikl unfstatOl.pdf, S. 10.

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Christian Huber

2. Der Haushaltsführer kann seine Aufgaben für die Familie nicht mehr wahrnehmen Die berufliche Erwerbsarbeit lässt sich auf Euro und Cent genau messen. Wenn hingegen ein Haushaltsfilhrer von heute auf morgen ausflillt, hängt die Präzision der Messung der wirtschaftlichen Einbuße davon ab, wie die jeweils davon Betroffenen reagieren. Ehe die in Betracht kommenden Möglichkeiten umschrieben werden, soll die konkrete Fallkonstellationen an einem prototypischen Beispiel näher dargestellt werden. Die Ehefrau und Mutter hatte sich bisher um den Haushalt der 5-köpfigen Familie gekümmert. Neben dem Ehemann waren auch noch 3 Kinder im Alter von 2, 5 und 7 Jahren zu versorgen. Und nun passiert es: Aufgrund eines von einem Lenker eines Kfz verschuldeten Verkehrsunfalls wird die Ehefrau und Mutter entweder getötet oder so schwer verletzt, dass sie zur Führung des Haushalts nicht mehr in der Lage ist. Transparenter wird das Problem im Tötungsfall, weil der bisherige Haushaltsfilhrer dann nicht einmal mehr filr Koordinationsaufgaben zur Verfilgung steht. Stellt der Ehemann und Vater eine Ersatzkraft ein, diealldie Tätigkeiten verrichtet, die die getötete Ehefrau und Mutter bis dahin erbracht hat bzw. wozu sie kraft des gesetzlichen Unterhaltsrechts verpflichtet war, dann schlägt sich das in seiner Kasse als Vermögensminus nieder, das messbar ist. In aller Regel wird der Aufwand dafilr so hoch sein, dass dies selbst einen mittelständischen Haushalt krass überfordern würde. Was daher bleibt, das ist meist die notdürftige Abhilfe durch das Einspringen von Familienangehörigen, Nachbarn, Freunden, Bekannten udgl., die dafilr nichts oder nur einen Anerkennungsbetrag in Rechnung stellen. Und trotz all dieser helfenden Hände bleibt ein Defizit zurück, weil - anders als bei Rank Xerox - die Kopie nie auch nur annähernd so gut ist wie das Original. Was beim Vater bzw. den Kindern - ohne weiteres - messbar ist, das ist nur ein Bruchteil des durch den Schädiger verursachten Schadens.

ß. Die Reaktion der Rechtsordnung Stehen die Anspruchsvoraussetzungen eines Schädigers filr den eingetretenen Schaden fest, so geht es "nur'' noch um die Frage nach dem Ausmaß des Ersatzes. In beiden Fällen scheint die Antwort - rein juristisch betrachtet - nicht allzu schwierig. Im deutschen wie im Österreichischen Recht steht dem Geschädigten bei Straßenverkehrsunflillen, bei denen ein Lenker oder Halter eines Fahrzeugs

Die "Wertschätzung" familiärer Dienstleistungen im Schadenersatzrecht

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einstandspflichtig ist, ihn ein Verschulden triffi: oder er filr die verwirklichte Gefahr die Haftung zu tragen hat, ein Anspruch gegen die gegnerische Haftpflichtversicherung. Die Deckungssumme, also der Betrag, bis zu dem die Haftpflichtversicherung maximal einstandspflichtig ist, wird in den seltensten Fällen ausgeschöpft. Es geht somit kaum jemals darum, dass der Lenker oder der Halter filr das von ihm angerichtete Unheil persönlich in seinem Vermögen bluten muss. Dieses Risiko ist gerade durch die obligatorische Haftpflichtversicherung auf ein Kollektiv abgewälzt. Wie hoch ist nun der Ersatz, der von der schwerstverletzten Person einerseits bzw. den hinterbliebeneo Unterhaltsgläubigem andererseits verlangt werden kann? Eine juristische Standardantwort, die so gut wie immer richtig ist, lautet: Das kommt darauf an, nämlich darauf, wie hoch die jeweilige Einbuße im Vermögen ist. Es handelt sich somit um eine Frage des Zählens, Wiegens und Messens. Nach ganz überwiegender Meinung kommt es im Haftpflichtrecht darauf an, dass der beim Geschädigten eingetretene Nachteil ausgeglichen werden muss. Man sollte bei unvoreingenommener Betrachtung meinen, dass durch den Vermögensschaden zwar immer noch ein Unlustgefilhl zurückbleibt, dass eine verletzte Person nicht mehr so agil wie früher ist (Fallkonstellation I )3 oder der Witwer und die Halbwaisen trauern, dass sie einen ihnen nahestehenden Menschen verloren haben (Fallkonstellation 2), 4 dass aber ansonsten eben der Zustand hergestellt wird, als ob das Unfallereignis nicht passiert wäre. Ein näherer Befund ergibt indes, dass dies - entgegen dem Gesetzeswortlaut - nicht der Fall ist.

3 Im Verletzungsfall ist dieses durch ein Schmerzensgeld bzw. im Österreichischen Recht zusätzlich durch eine Verunstaltungsentschädigung auszugleichen. 4 In einem solchen Fall gibt es filr den ideellen Schaden grundsätzlich keinen Ersatz, wobei der OGH in drei jüngeren Entscheidungen (JBI 2001, 659; JBI 2001, 660; ZVR 2001/72) eine Kehrtwendung vollzogen hat und zumindest bei grober Fahrlässigkeit Schmerzensgeld zubilligt, während die deutsche Rechtsprechung Schmerzensgeld nur bei Trauer mit Krankheitswert zuerkennt. So zuletzt BGH VersR 1996, 990 = NZV 1996, 353; OLG Nürnberg NJW 1998, 2293; grundlegend BGHZ 56, 163. Dazu auch Küppersbusch, Probleme der Regulierung von Personenschäden, in: ARGE Versicherungsrecht im DAV (Hg), Der Haftpflichtprozess (2002), 31, 36.

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111. Warum könnte an einer solchen Fragestellung die Soziologie im Allgemeinen und der Jubilar im Besonderen interessiert sein 1. Die Soziologie im Allgemeinen

Im Titel wurde der Begriff "Wertschätzung" deshalb unter Anfilhrungszeichen gesetzt, weil damit die Doppeldeutigkeit des Begriffs zum Ausdruck gebracht werden soll: Zum einen geht es im Schadenersatzrecht häufig um die Ermittlung eines Wertes, weil die vom Schädiger bzw. seiner Haftpflichtversicherung zu erbringenden Leistungen auf Geld lauten. Das bedeutet aber, dass eine Bewertung der vereitelten bzw. erforderlichen Dienstleistungen in Geld zu erfolgen hat. Juristen sind sich des Umstands wohl bewusst, vielleicht auch, weil sie die Soziologie in besonderer Weise dafilr sensibilisiert hat, dass es bei der Anwendung von Gesetzen um mehr geht als um saubere Subsumtion, also das ZurDeckung-Bringen von Sachverhalt und Tatbestand. Vielmehr ist das letztendlich in einem Gerichtsurteil zum Ausdruck kommende Ergebnis juristischer Feinarbeit auch abhängig von vorgelagerten Wertungen, die auf einer "Wert"oder "Geringschätzung" eines bestimmten Phänomens beruhen.

2. Der Jubilar im Besonderen Das in diesem Festschriftbeitrag abgehandelte Problem könnte filr den Jubilar aus mehreren Gründen von Interesse sein: Er wurde in jungen Jahren zum Juristen ausgebildet, hat sich aber von den formalen Paragraphen alsbald abgewendet, um sich mit grundlegenderen Fragen zu beschäftigen, nämlich der Soziologie. Der Beitrag eines Juristen, der bei der Stange geblieben ist, der aber die Querbeziehungen zur Soziologie oder jedenfalls zu den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften stets im Hinterkopf behalten hat, mag filr diesen Anlass angemessen sein. Aber auch die Themenfelder der Gesundheit, des pflegebedürftigen Menschen und der familiären Arbeit haben im wissenschaftlichen Leben des Jubilars immer wieder eine große Rolle gespielt. Und schließlich hat der Jubilar in seinem Leben immer wieder über den Tellerrand der Alpenrepublik geblickt. Sein Engagement beim Forum Alpbach hat ihn mit der ganzen Welt vemetzt. Die Juristerei ist dem gegenüber eine Zunft, die häufig an die Scholle des jeweiligen Heimatstaates gebunden ist.

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Wenn es in diesem Zusammenhang auch nicht gelingt, in die ganze Welt hinauszuschauen, so wird doch der Versuch unternommen, gegenüberzustellen, wie die Probleme in Deutschland und Österreich in ähnlicher, im Detail aber doch unterschiedlicher Weise "gelöst" werden.

IV. Überlegenheit der Beseitigung des durch Schadensfall entstandenen Defizits durch familiäre Dienstleistungen gegenüber der Abdeckung durch Marktleistungen

Sowohl durch alte Bauernregeln als auch die moderne Botanik kann der Satz belegt werden, dass man einen alten Baum im Zweifel nicht verpflanzen soll, weil ihm das nicht gut tut. Menschliche Geschöpfe unterscheiden sich insoweit vom Bruder Baum nicht. Wird eine schwer verletzte Person nach der Akutbehandlung in einem Pflegeheim untergebracht, erhält sie gewiss so viel, dass sie nicht sogleich (ab-)stirbt. Aber nicht nur in der Bibel gilt der Satz: Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein. Es geht bei der Regeneration - ohne romantische Verklärung - um die Einbettung in die gewohnte Umgebung, die vertraute An- und Aussprache, kurzum die emotionale Komponente, die Seele des Menschen. Sogar bei manchen Blumen wird behauptet, dass es ihnen gut tue, wenn man mit ihnen rede. Um wie viel mehr gilt dies filr den Menschen, bei dem filr sein Wohlergehen nicht bloß mechanische Verrichtungen bedeutsam sind, sondern die Akzeptanz als Mensch, wobei es eben häufig - auch von Medizinern bestätigt - filr die weitere Gesundung forderlich ist, dass eine Rückfilhrung in die gewohnte Atmosphäre mit der Ansprache des vertrauten Personenkreises erfolgt. Nicht nur die schwer verletzte Person hat ein besonderes Bedürfnis nach Kontinuität; auch filr den Witwer und die Halbwaisen gilt Entsprechendes. Wenn sie schon einen vertrauten Menschen verloren haben, so ist es häufig nur die ultima ratio, dass den Kindem dann auch noch ihr Zuhause weggenommen und sie anderswo, in einer Pflegefamilie oder einem Pflegeheim, untergebracht werden. In all diesen Fällen ist eine bestmögliche Betreuung aber nur möglich, wenn Familienangehörige einspringen und Betreuungsdienstleitungen erbringen.

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V. Unterschiedliche Zielsetzung von Sozialversicherungs- und Schadenersatzrecht So mancher wird nun einwenden, dass sich dieses Problem doch eigentlich gar nicht stellen dürfe, weil die Pflegeversicherung einerseits und die Waisenrenten andererseits dieses Defizit abdecken müssten. Darauf ist zu entgegnen, dass Sozialleistungen auf diesem Gebiet nützlich und wertvoll sind, aber gewiss nicht mehr sind als der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein. Diese Sozialleistungen bewirken eine Basisversorgung, dass die Betreffenden nicht verelenden bzw. die Familienangehörigen, die sich zur VerfUgung stellen, einen Anerkennungstaler erhalten; aber eben nicht mehr. Das Schadenersatzrecht hätte von seiner Ausgangsposition eine ganz andere Zielsetzung zu erfilllen, nämlich durch die Ersatzleistung in Geld einen Zustand zu bewirken, der so weit wie möglich dem entspricht, als ob das schädigende Ereignis nicht stattgefunden hätte. In der Praxis sind in Deutschland und Österreich die tatsächlich zuerkannten Beträge meilenweit davon entfernt. Aufschlussreich - auch unter rechtssoziologischen Gesichtspunkten - ist gewiss, dass die deutschen Gerichte andere "Ausreden" finden als die österreichischen, um den Schadenersatzgläubigem den ihnen zustehenden vollen Ausgleich der Einbuße vorzuenthalten. Der Verfasser dieses Beitrags hat dazu vor ca. 10 Jahren ein dickes Buch 5 geschrieben, in dem viele Einzelheiten aufgezählt und dogmatische Ansatzpunkte filr einen Wandel auf diesem Gebiet vorgeschlagen worden sind. Bewegt wurde dadurch nicht allzu viel. Einige markante Ansatzpunkte sollten deshalb im Lichte der Entwicklung der letzten 10 Jahre nun abermals aufgegriffen werden.

VI. Verbalradikalismus deutscher und österreichischer Gerichte im Gegensatz zur tatsächlichen Höhe Ein in deutschen und Österreichischen Urteilen des Höchstgerichts vorkommenden Stehsatz lautet mit geringftlgigen Abwandlungen wie folgt: "Der Geschädigte ist in die Lage zu versetzen, sich in der im Leben üblichen Weise, ohne sich Einschränkungen auferlegen zu müssen oder auf die Mildtätigkeit Dritter angewiesen zu sein, wirtschaftlich gleichwertige Dienste zu verschaffen."6

5

Ch. Huber: Fragen der Schadensberechnung (1993)

Nachweise bei Ch. Huber: Schadensberechnung 65 FN 113. Jüngst etwa OLG Linz ZVR 2001/27 unter Hinweis aufOGH ZVR 1998/128, ZVR 1999/109, ecolex 2000/120 und OGH 22.3.2001, 2 Ob 322/99p (unveröff.). 6

Die" Wertschätzung" familiärer Dienstleistungen im Schadenersatzrecht

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WUrde man diesen Satz ernst nehmen, wäre dem schadensersatzrechtlichen Ausgleichsgebot in der Tat Rechnung getragen. Unabhängig davon, ob der durch das schädigende Ereignis ausgelöste Bedarf durch Marktleistungen oder einspringende Familienangehörige gedeckt wird, der Schädiger bzw. die hinter ihm stehende Haftpflichtversicherung mUsste in jedem Fall in vollem Umfang daftlr aufkommen. Vergleicht man die Rechtswirklichkeit der tatsächlich zuerkannten Schadenersatzbeträge mit dem hier formulierten Maßstab, so vermag man kaum zu glauben, dass jeweils vom identen Fall die Rede ist.

VII. Ansatzpunkte einer Geringschätzung familiärer Dienstleistungen 1. Nicht ausgesprochene Argumente

a) Die verletzte Person ist kein Aktivposten- mehrfür die Gesellschaft

Wer nach einem Straßenverkehrsunfall zum KrUppel geworden ist, der ist bei rein ökonomischer Betrachtung kein Aktivposten filr die Gesellschaft mehr; im Gegenteil, er fällt dieser zur Last. Die Humanität sowie der abzulehnende Umgang im 3. Reich mit dem unwerten Leben gebieten aber eine andere Sichtweise. Der Schädiger hat diesen Umstand zu verantworten. Er hat daftlr nicht nur die moralische, sondern auch die rechtliche Verpflichtung, dass alle zurnutbaren mit einer Schadenersatzleistung in Geld bewirkbaren Anstrengungen unternommen werden, damit die schwerverletzte Person wieder ein menschenwürdiges Leben ftlhren kann. b) Die Familienangehörigen sollen sich nicht am Schicksalsschlag des Verletzten oder der Getöteten bereichern

Wird der Verletzte oder die Unterhaltsgläubiger so entschädigt, als wUrden ftlr die von ihnen verrichteten Dienstleistungen Arbeitskräfte zu Marktbedingungen eingestellt, und reichen diese die Beträge an die Angehörigen weiter, so erhalten letztere Beträge, die eine beträchtliche Größenordnung erreichen. Zum Teil macht das mehr aus, als sie in ihrem bisherigen Zivilberufverdient haben. Zu verweisen ist indes darauf, dass diese Einkunftsquelle nur solange gegeben ist, als der Verletzte oder die Unterhaltsgläubiger SchadenersatzansprUche haben. Vor allem bei einer verletzten Person ist das häufig ganz ungewiss. Dazu kommt, dass dies eine Tätigkeit ist, die das gesamte Leben der Betreuungspersonen von heute auf morgen von Grund auf verändert. Der Umstand,

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dass für eine marktmäßige Betreuung so hohe Kosten entstünden, ist eben ein Indikator der Beschwerlichkeit der jeweiligen Verrichtungen bzw. der besonderen zeitlichen Inanspruchnahme.

2. In Gerichtsurteilen explizit ausgesprochene Argumente a) Gefahr des Ansleigens der Kfz-Haftpflichtversicherungsprämien

Hüben wie drüben der weiß-blauen Grenzpfahle hört man das Argument, eine allzu großzügige Bewertung von familiären Dienstleistungen im Schadenersatzrecht würde zu einem beträchtlichen Anstieg der Haftpflichtprämien führen, was volkswirtschaftlich nicht wünschenswert wäre. 7 An dieser Behauptung ist im mehrfacher Hinsicht Kritik zu üben. Zunächst einmal gilt in Deutschland wie in Österreich das so genannte Trennungsprinzip. Das bedeutet, dass zunächst einmal die Höhe der Ersatzpflicht zu ermitteln ist, unabhängig davon, ob der Schädiger diese selbst zu tragen hat oder er von seiner Haftpflichtversicherung von dieser Verpflichtung freigestellt wird. Ausschließliche Determinante der Höhe des zu leistenden Geldbetrags ist die Einbuße beim Geschädigten. Diese ist auszugleichen, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Für ein richterliches Ermessen, filr Großzügigkeit oder Knausrigkeit, ist von der gesetzgeberischen Zielsetzung gar kein Raum. Warum höhere Kfz-Haftpflichtprämien volkswirtschaftlich nicht opportun sein sollen, ist ebenfalls nicht ohne weiteres einleuchtend. Durch die Haftpflichtversicherung sollen die vom Schädiger zu verantwortenden Schäden abgedeckt werden. Und selbst wenn man dem Präventionsprinzip neben dem Ausgleichszweck eine eigenständige Funktion einräumen wollte, dass nämlich nach den Prämissen der ökonomischen Analyse des Rechts eine Verhaltenssteuerung in der Weise erfolgen soll, dass dies zu einem gesamtwirtschaftlichen Optimum führt, 8 dann ist ebenfalls nicht einzusehen, warum ausgerechnet bei familiären Dienstleistungen nicht voller Ersatz zu leisten sein sollte. Weiters ist darauf zu verweisen, dass die Höhe der Kfz-Haftpflichtprämien nur im theoretischen volkswirtschaftlichen Modell vom Schadensbedarf abhängig sind. Viel bedeutsamere Komponenten sind jedoch das Ausmaß an Wettbewerb, dem die Kfz-Haftpflichtversicherer ausgesetzt sind, sowie die Erzielung von Wertsteigerungsgewinnen bei der Veranlagung von Aktien. Diese Behauptung ließe sichjedenfalls filr die letzten Jahre durchaus empirisch belegen. 7

Steffen, Der normative Verkehrsunfallschaden, NJW 1995, 2057, 2058 f.

Ott/Schäfer, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Rechts3 (2000) 114 ff.; Kötz!Wagner, Deliktsrecht9 (2001) Rz 40 f., 119 ff., 133. 8

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Und schlussendlich spielen die hier untersuchten Fälle bezogen auf den Gesamtschadensbedarf eine eher untergeordnete Rolle, dass selbst bei einer Weiterwälzung der Mehrkosten auf das Kollektiv der Prämienzahler sich nur ganz marginal auswirken würde. b) Dienstleistungen werden nebenbei erbracht, keine Abge/tung von Bereitschaftszeiten

Der deutsche Bundesgerichtshof hatte in einem Urteil aus dem Jahr 1973 10 ausgesprochen, dass familiäre Dienstleistungen von der Mutter eines schwerverletzten erwachsenen Sohnes, der erst unter Anleitung seiner Mutter wieder reden lernen musste, ohnehin nebenbei - zu ihrem eigenen Haushalt - erbracht werden könnten, weshalb ein sehr geringer Betrag 11 zugesprochen wurde. Solche Formulierungen würde sich ein Höchstgericht heute verkneifen. Nach wie vor erhält der Geschädigte aber bloß eine Abgeltung filr konkrete Verrichtungen und nicht auch fiir Bereitschaftszeiten. 12 Wenn eine Person so schwer verletzt ist, dass sie ihren Stoffwechsel nicht mehr kontrollieren kann, so gebührt m.E. eine Entschädigung auf der Basis einer Betreuung rund um die Uhr. Entsprechendes gilt filr die Betreuung von Kleinkindern. Die Rechtsprechung entschädigt demgegenüber bloß die jeweils konkrete Verrichtung und nimmt es - schadenersatzrechtlich - in Kauf, dass die jeweiligen Personen stundenlang von ihren Fäkalien nicht befreit werden. Um sich an einem Marktbeispiel zu vergegenwärtigen, wie engherzig hier die Regulierung ist, sei auf folgende Parallele verwiesen: Es würde kaum jemanden einfallen, die Verkäuferin einer Boutique nur ftlr die Zeiträume zu entlohnen, in denen sie tatsächlich Textilien an den Mann oder an die Frau bringt; oder Feuerwehrmänner nur flir solche Zeitabschnitte, in denen es tat9 Zum einen überwiegt der Sachschaden gegenüber dem Personenschaden, zum anderen sind Fälle der Tötung des Haushaltsfilhrers sowie von Schwerstverletzten nicht so häufig. Von den in Deutschland im Jahre 2001 polizeilich erfassten ca. 2,3 Mio. VerkehrsunflUien, waren etwa 2 Mio. mit Sachschaden, die restlichen mit Personenschaden (vgl. FN 1). Von 501.752 Verunglückten erlitten knapp 20 % (95.040) schwere, die restlichen 399.735 Personen leichte Verletzungen. Vergleichbare Zahlen finden sich auch filr Österreich (bedauerlicherweise wurde 1995 das Erfassen der VerkehrsunflUie mit Sachschaden eingestellt): Von 57.223 Verunglückten im Jahre 2001 waren 8.207 schwer und 41.4891eicht verletzt; Nachweise in FN I. 10 VersR 1973, 1067. 11 8.- DM pro Tag, somit ca. 4.- Euro. Das war auch damals erschreckend wenig! 12 OLG Linz ZVR 2001/27; OGH ZVR 1999/109 und ZVR 1998/128; filr Deutschland BGH NJW-RR 1990, 34; BGH NJW 1997, 256 f.

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sächlich brennt - erfreulicherweise ist das bei diesen nämlich bloß die Ausnahme und nicht die Regel. Der Oberste Gerichtshof bescheinigt etwa den Eltern eines rund um die Uhr betreuungsbedürftigen Kindes, das alle 4 Stunden und gelegentlich auch dazwischen in der Nacht beruhigt werden müsse, dass der Schlaf dazwischen schadenersatzrechtlich entschädigungslos bleibe. 13 Das muss wohl daran liegen, dass die betreffenden Damen und Herren der jeweiligen Senate sich bereits in einem so fortgeschrittenen Alter befinden, dass sie es nicht mehr in Erinnerung haben, wie "erquicklich" ein Schlaf in einer Nacht ist, der in unregelmäßigen Abständen durch ein schreiendes Kind unterbrochen wird. Und während gesunde Kleinkinder an manchen Tagen dann auch wieder durchschlafen, das aber jedenfalls ab einem gewissen Alter -jedenfalls immer öfter - tun, ist dies bei schwerstverletzten Kindem anders. c) Abschlagsposten beim Stundenlohn, weil Familienangehörige nicht als Arbeitnehmer beschäftigt werden

In ganz krassen Fällen gibt mitunter eine Betreuungsperson ihren bisherigen Beruf auf, um sich der Pflege und Betreuung von Angehörigen zu widmen. Im Regelfall ist das aber anders. In der Zeit, die nicht durch berufliche Erwerbsarbeit ausgefilllt ist, wird die Betreuungsperson-im Verhältnis zum Schadenersatzgläubiger, also zum Verletzten oder zum Halbwaisen - unentgeltlich tätig. Dass diese Freigiebigkeit nicht den Schädiger entlasten soll, darüber besteht unter Juristen kein Streit. Anders verhält es sich freilich in Bezug auf die Höhe des Ersatzes im Verhältnis zwischen Schadenersatzgläubiger und Ersatzpflichtigem: Vertreten wird, dass lediglich der Nettolohn und nicht der Bruttolohn gebühre. 14 In Abzug gebracht werden dabei folgende Posten: die Lohnsteuer, die Arbeitgeber- und Arbeitsnehmerbeiträge zur Sozialversicherung, Zuschläge wegen Überstunden sowie Nacht- oder Wochenendtätigkeiten und auch weitere BezUge, wie sie in Deutschland (13 BezUge) oder Österreich (14 BezUge) üblich sind bzw. der jeweilige Kollektivvertrag vorsieht.

13 OGH ZVR 1999/47 und OLG Linz ZVR 2001/27: "Die Zeit, die die Pflegeperson aber jedenfalls beim Verletzten anwesend wllre (insb. während der Nacht und wahrend der Hausarbeit), sei hingegen nicht zu ersetzen, weil sie keinen konkreten Schaden darstelle."

14 OGH ZVR 1998/21. Siehe auch OGH ffil 1998, 312 (verst Senat). FUr Deutschland gelangt der BGH zum Ergebnis, dass vom Bruttolohn - ohne Lohnnebenkosten ein Abschlag von 30% zu erfolgen habe, so BGHZ 86,372, 378; VersR 1992, 618.

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Summiert man all diese Abschläge, kommt man allein deshalb auf weniger als die Hälfte des eigentlich gebührenden Ersatzbetrags. Zusätzlich wäre zu berücksichtigen, dass sich der Stundenlohn einer Marktkraft wegen Urlaub, Krankheiten, AbfertigungsrOckstellung udgl. weiter verteuert. Der einer am Markt tätigen Arbeitskraft gebührende Bruttolohn incl. der dabei anfallenden Lohnnebenkosten ist dem Grunde nach deshalb die passende Bezugsgröße, weil nur auf diese Weise ein voller Ausgleich erfolgt, der den Geschädigten in die Lage versetzt, sich in der im Leben üblichen Weise wirtschaftlich gleichwertige Dienste zu verschaffen, ohne auf die Mildtätigkeit Dritter angewiesen zu sein. Der Abzug der Lohnsteuer ist schon deshalb nicht berechtigt, weil der Schadenersatzgläubiger jede Rente auch selbst der Einkommenssteuer unterwerfen muss. 15 Und beim Abzug von Sozialversicherungsbeiträgen leuchtet ein Abzug jedenfalls insoweit nicht ein, als filr die betreffende Person dadurch ein Vermögensvorteil in Form einer geldweTten Gegenleistung oder einer Anwartschaft bewirkt w0rde. 16 Ob einem Arbeitnehmer ein Geldbetrag ausbezahlt wird, damit er sich selbst kranken- oder rentenversichern kann oder dies filr ihn besorgt wird, kann unter dem Gesichtspunkt der Vermögensqualität der Gegenleistung keinen Unterschied machen.

d) Die maßgebliche Referenzperson Wenn eine Person schwerstverletzt wird, sind häufig therapeutische Maßnahmen Ober die reine Pflege hinaus erforderlich. Am Markt wäre dafilr eine ausgebildete Krankenschwester oder zumindest Pflegekraft erforderlich. Wenn der Haushaltsfilhrer getötet wird, ist eigentlich stets eine ausgebildete Hauswirtschafterin geboten, weil eine ungelernte Kraft nicht in der Lage ist, den Erfordernissen einer eigenverantwortlichen Haushaltsfilhrung zu genügen. Wenn Familienangehörige einspringen, zieht die Rechtsprechung typischerweise - zu Unrecht - minderqualifizierte Kräfte als Bemessungsgröße heran. 17 15 Für Deutschland § 22 Z I EStG und dazu Schmidt!Heinicke, EstG 18 ( 1999) § 22 Rz 27 und ftlr Österreich § 29 Z I EStG. 16 Dazu Ch. Huber, Schadensberechnung 378 ff. 17 BGH NJW-RR I990, 34. Dazu jUngst Pardey/Schulz-Borck, Entschädigung ftlr Arbeit im Haushalt, DAR 2002, 289, 290 ff. Zur neueren, entgegengesetzten Tendenz im Österreichischen Recht Harrer in Schwimann2 (I997), Rz 14 f. zu§ 1325: Kosten ftlr professionelle Hilfskräfte sind auch dann zu bezahlen, wenn diese in concreto nicht eingesetzt werden. In OGH 25.11.1992, 2 Ob 60/92 (unveröff.) wurden beispielsweise jene Kosten zugesprochen, die bei einer Betreuung durch vier Krankenschwestern anfallen wUrden. Nunmehr etwas modifziert OGH ZVR 1998/I28, ZVR 1999/47, ZVR 1999/109 und ZVR 2001127: Zunächst ist der tatsächliche Pflegeaufwand zu ermitteln

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Zum Teil wird dies damit begründet, dass die entsprechenden Familienangehörigen bloß angelernt seien und sich ein Geschädigter auch dann keine qualifizierte Ersatzkraft leiste, wenn er den Schaden selbst zu tragen habe. Beiden Argumenten ist entgegenzutreten: Was den Familienangehörigen an Formalqualifikation gegenüber einer diplomierten Krankenschwester oder Hauswirtschaftsmeisterin abgeht, das machen sie durch ihr Herzblut mehr als wett. Zu verweisen ist etwa darauf, dass so mancher Heimwerker bei sich zu Hause wesentlich bessere Leistungen erbringt als bei Beschäftigung eines fremden Professionisten, weil er eben mit Engagement bei der Sache ist. Im hier untersuchten Bereich gilt dies in besonderer Weise. Das Argument, dass sich der Schadenersatzgläubiger den Luxus der Einstellung einer qualifizierten Ersatzkraft nicht geleistet hätte, wenn er den Schaden selbst tragen hätte müssen, ist von vomeherein verfehlt. Denn es macht nicht nur häufig einen Unterschied, ob der Geschädigte den Schaden selbst zu tragen hat oder ob für die Beseitigung ein Schädiger verantwortlich ist; es darf auch einen Unterschied machen. Während der Verletzte sich in der Not so gut es eben geht behilft oder soweit es seine finanziellen Mittel zulassen, ist die Zielsetzung des Schadenersatzrechts von vomeherein, den Zustand herzustellen, als ob das schädigende Ereignis nicht passiert wäre. e) Heranziehung statistischer Erhebungen

Bei den Pflegedienstleistungen einer schwerstverletzten Person gibt es offenbar keine Zeitbedarfswerte; m.E. ist dies auch entbehrlich, weil grundsätzlich eine rund-um-Betreuung geschuldet ist. Demgegenüber wird bei den Haushaltsfiihrerschäden in Deutschland auf statistische Untersuchungen zurückgegriffen, 13 mögen diese auch unzureichend sein und von falschen Prämissen ausgehen, während der Zeitaufwand in Österreich bei solchen Fällen über den Daumen gepeilt wird. Die Folge ist, dass der Zeitaufwand für die Bewälti-

und dann festzustellen, welche Kosten die Befriedigung dieser Bedürfnisse durch professionelle Kräfte erfordern würde. 18 So namentlich auf die von Schulz-Borck/Hofmann, Schadenersatz bei Ausfall von Hausfrauen und Müttern im Haushalt5 (1997). Großzügiger in den Bewertungsansätzen Ecke/mann/Neh/s, Schadensersatz bei Verletzung und Tötung ( 1987); aus jüngerer Zeit vgl. weiters Pardey, Berechnung von Personenschäden (2000) 234 ff. sowie Pardey/ Schulz-Borck, DAR 2002, 289 ff. z.B. unter Hinweis auf das Hohenheimer-Verfahren (7 verschiedene Haushaltstypen) oder das Münchener Modell (Typisierung von Verletzungsfolgen) sowie zur Eingruppierung in den Bundesangestelltentarif

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gung eines Haushalts viel geringer eingeschätzt wird als in Deutschland, 19 was nur zum Teil mit der größeren Anzahl der m2 der Wohnsitze und der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit bei der Reinigung des Wohnsitzes zusammenhängen dürfte. Schlampen und Putzteufel dürften im Gegensatz dazu in Deutschland und Österreich in etwa gleich verteilt sein.

j) Statische anstelle dynamischer Rente Der Zuspruch von Schadenersatz ftlr den hier untersuchten Bedarf erfolgt zumeist in Form einer Rente. In so manchem Urteil fmdet sich der Satz, dass bei der Zuerkennung einer Rente auch auf Umstände in der Zukunft Rücksicht zu nehmen sei, soweit sie zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz mit einer gewissen Verlässlichkeit abschätzbar sind. 20 Die Praxis sieht so aus, dass ein Zuspruch auch filr die Zukunft auf der Basis des Zeitpunkts der Einbringung der Klage erfolgt. Je länger der Prozess dauert, um so mehr ist der zugesprochene monatliche Betrag bereits in diesem Zeitpunkt entwertet. Eine Bindung an einen Index erfolgt in der Regel nicht, weil Richter ja weder Kaffeesuddeuter noch Wetterfrösche seien, die sich zutrauten, die Zukunft vorherzusagen. Das mag ehrbar, jedenfalls verständlich sein. Was dabei herauskommt, ist aber eine typische weitere Verkürzung des Geschädigten. In den letzten 50 Jahren gab es stets eine gewisse Inflation, mag sie derzeit auch nur mäßig sein. Der Verbraucherpreisindex ist ein Durchschnitt, in den Waren und Dienstleistungen eingehen, bei denen es zu einer starken Geldentwertung kommt und solchen, die sich sogar verbilligen, weil das Rationalisierungspotenzial des technischen Fortschritts so etwas zulässt. Die Betreuungsdienstleistungen von Schwerstverletzten oder Halbwaisen erfahren typischerweise einen höheren Anstieg, weil das Rationalisierungspotenzial auf diesem Gebiet gering ist. Auch im high-tech-Zeitalter wird das Wechseln der Windeln und der Zuspruch von Trost nicht einem Roboter überantwortet werden können. Es wäre deshalb sachgerecht, die Rente von vomeherein

19 Der BGH nimmt den Arbeitsaufwand einer Hausfrau in einem durchschnittlichen Vier-Personen-Haushalt mit etwa 48 Stunden pro Woche an, bei zwei noch nicht schulpflichtigen Kindem mit ca. 60 Stunden; BGH NJW 1982, 2866; NJW 1979, 1501. Bei Pardey/Schulz-Borck, DAR 2002, 294 finden sich neuere Zahlen: Ein Vier-PersonenHaushalt mit 2 Kindem unter 6 Jahren nimmt 90 Wochenstunden in Anspruch. Zu den Werten in Österreich Ch. Huber, Schadensberechnung 508 ff., 588 ff.; zuletzt OGH 22.3.2001, 2 Ob 322/99p (unveröff.). 20 Etwa OGH JBI 1998, 454; für Deutschland BGHZ 27, 181, 188 und BGH NJW 1996,2654.

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zu dynamisieren, sie etwa an den Lohn einer diplomierten Krankenschwester zu binden, wogegen im Österreichischen Recht keine Bedenken bestehen/' oder Staffelbeträge festzusetzen, was im deutschen Recht erfolgen muss, weil die Rechtsordnung dort die Zuerkennung einer an einen bestimmten Index gebundenen dynamischen Rente nicht zulässt. 22 Die derzeitige Rechtspraxis verkürzt den Schadenersatzgläubiger auch auf diesem Gebiet, weil er vor einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse keine Anpassung verlangen kann; und hat diese stattgefunden, kann eine Erhöhung höchstens filr die letzten 3 Jahre verlangt werden. Der weiter zurückliegende Zeitraum fitllt hingegen der Verjährung anheim, ohne dass man in einem solchen Fall dem Gläubiger Saumsal vorwerfen kann.

VIII. Resümee Die abrissartige Darstellung lässt erahnen, dass in solchen Fällen, die filr die Betroffenen im Regelfall existentiell sind, die Gerichte im Regelfall bloß einen ins Gewicht fallenden Kostenbeitrag leisten, nicht aber vollen Ausgleich, wie dies sowohl vom Wortlaut als auch vom Geist der maßgeblichen Normen indiziert ist. Es wird damit deutlich, dass das Ergebnis eines Gerichtsurteils nicht allein von der Anwendung der passenden Norm auf den zu beurteilenden Sachverhalt abhängig ist, sondern vom jeweiligen Vorverständnis. Eine korrekte Schätzung des Wertes der vereitelten bzw. erforderlichen familiären Betreuungsdienstleistungen durch die zur Entscheidung berufenen Gerichte wird aber erst dann erfolgen, wenn sich die Wertschätzung in der Gesellschaft verändert, somit das Bewusstsein, dass es sich insoweit um eine einer Marktleistung voll äquivalente Bedarfsdeckung handelt.

21 Die EO-Novelle 1991 (BGBl 1991/628) brachte die entscheidende Neuerung: Während § 8 Abs 2 EO die Exekution von Wertsicherungsklauseln unter zwei näher bezeichneten Voraussetzungen zulässt, enthält § 8 Abs 3 EO eine Auslegungsregel, wonach bei wertgesicherten Ansprüchen der vom Österreichischen Statistischen Zentralamt verlautbarte, fiir den Monat der Schaffung des Exekutionstitels gültige Verbraucherpreisindex zu Grunde zu legen ist; dazu Jakusch in Angst, Kommentar zur Exekutionsordnung (2000), Rz 16 ff. zu§ 8. 22 Dazu Stein in MOnebener Kommentar zum BGB3 (1997), Rz 10, 61 zu § 843 mwN. Bei einer Änderung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Verletzten oder der allgemeinen Wirtschaftslage - etwa die Steigerung der Lebenshaltungskosten oder des Lohnniveaus - muss ansonsten jeweils mittels einer Abänderungsklage nach § 323 ZPO eine Neufestsetzung beantragt werden.

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Dieses Bewusstsein zu schärfen, aufzurütteln und zu einem solchen Bewusstseinswandel beizutragen ist aber auch die Soziologie aufgerufen, womit sich der Bogen spannen lässt von der rechtsdogmatischen Untersuchung zur Profession und den Forschungsschwerpunkten des Jubilars. Auch wenn sich Juristen - aus gutem Grund - davor hüten sollten, unvorsichtige Prognosen zu stellen, so wage ich die Vorhersage, dass ich mich insoweit eins weiß mit dem Anliegen, das auch dem Jubilar am Herzen liegt, nämlich der voll angemessenen Entschädigung solcher Verkehrsopfer.

Aktuelle Probleme des "Kultusrechts" oder wie geht der Staat mit Religionsgesellschaften um Einige Anmerkungen zur Anerkennung von Religionsgesellschaften Von Herbert Kalb

I. Einrührung Anachronistischen Systemen von Staat und Kirche ist heute ein modernes, einem zeitgebundenen leistungsorientierten Freiheits- und Staatsverständnis verpflichtetes Modell, das aktive und pluralistische Hereinnahme von Religion, Weltanschauung, Kultur in die staatliche Öffentlichkeit präsentiert und damit freiheitsverbürgend fiir den Einzelnen wirkt, gegenüberzustellen. Es ist der moderne freiheitliche und soziale Staat des 20. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen, ein Staat, der eine immer engere Verbindung mit gesellschaftlichen Kräften einging und zum umfassenden Leistungs-, Sozial- und Wirtschafts-(verwaltungs-) staat mutierte. Dieser "service-orientierte" Staat der Gegenwart geht als Kulturund Sozialstaat neue Beziehungen mitbestimmungsorientierter Planung, Regulierung und Förderung mit einer nicht mehr- im paläo-liberalen Sinn - als staatsfrei verstandenen Gesellschaft ein. Es ist filr die heutige Gesellschaft zwar charakteristisch, dass mehrere verselbstständigte, intern durchaus kommunikativ strukturierte Lebensbereiche nebeneinander bestehen. Zugleich sind sie jedoch im gesellschaftlichen und politischen Raum formal organisierten Handlungssystemen unterworfen (Jürgen Habermas), wodurch sie in ebenso einschneidender wie diffuser Weise vom Staat und dessen Vermittlungsleistungen abhängig bleiben. Ein Befund, der etwa filr den Bildungsbereich (Schulen, Universitäten) und die Massenmedien genauso gilt wie ftlr den Bereich der Forschung (hier vor allem die Entwicklung neuer Großtechnologien). Die sich daraus ergebende Regelungsverantwortung des Staates besteht darin, die Kommunikation zwischen den ausdifferenzierten Lebensbereichen aufrechtzuerhalten. Sie umfasst im Besonderen den öffentlichen Diskurs über die Ziele rechtlicher Regulierung sowie die Sicherung der Partizipation der Betroffenen.

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In dieser Perspektive sind auch die religiösen Interessen in den Gewährleistungszusammenhang des allgemeinen staatlichen Kulturverfassungsrechts eingebettet und als Teil der gesellschaftlich legitimierbaren Zwecke angemessen zu berücksichtigen. Eine mit der staatlichen Nichtidentifikation begründete Zurückdrängung von Religion bedeutet im Hinblick auf die quantitative und qualitative Aufgabenfülle des modernen Rechts- und Sozialstaates und die damit verbundene staatliche Mitorganisation umfassender gesellschaftlicher Interessen eine massive Benachteiligung und damit letztlich eine Verkürzung der Freiheit des Bürgers. Das dem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat angemessene Modell darf daher nicht mehr einem überkommenen, vornehmlich institutionell ausgerichteten Verständnis von Staat und Kirche verhaftet sein, sondern hat sich am Einzelnen und der Effektuierung seiner Freiheit zu orientieren. Systematischer Ausgangspunkt sind die religiösen und weltanschaulichen Interessen des Bürgers, woraus auch die Respektierung der Kirchen als religiöse Korporationen folgt. Die gewachsene grundrechtlich abgesicherte Kirchenfreiheit erhält solcherart eine neue systematische Begründung. Der Staat llirdert die pluralen Interessen seiner Bürger um deren Freiheit und Selbstverwirklichung willen, und er hat die religiösen Interessen seiner Bürger auch und gerade im Hinblick auf eine umfassende (positive) Religionsfreiheit zu unterstützen. Durch deren Förderung stellt der Staat erst die Bedingung fiir eine adäquate Grundrechtsverwirklichung her. 1 Zentrales Eckdatum jeglichen staatskirchenrechtlichen Systems ist die Organisationsmöglichkeit von Kirchen und Religionsgesellschaften im staatlichen Recht. Das Österreichische staatskirchenrechtliche System bekennt sich dabei grundsätzlich zu einer paritätischen Anerkennung gesellschaftlich relevanter Religionen nach allgemeinen Kriterien und einer positiven Berücksichtigung der Sachbezüglichkeiten von Religion und Weltanschauung in der Rechtsordnung. Der tragende Gedanke dieses Systems besteht darin - wie ausgeftlhrt Religion und Weltanschauung nicht im Sinne einer gleichsam paläoliberalen Staatstradition auszugrenzen, sondern den entsprechenden Rahmen ftlr die pluralistische Hereinnahme von Religion in die gesellschaftliche - nicht mit staatlichen Institutionen identifizierte - Öffentlichkeit bereitzustellen. Dieses System stellt in seiner idealtypischen Variante ein modernes, einem zeitgemäßen leistungsorientierten Freiheits- und Staatsverständnis verpflichtetes Modell von Religions- und Weltanschauungsfreiheit und konfessioneller Neutralität eingebunden in ein umfassendes Kulturverfassungsrecht dar, das

1 Dazu ausftlhrlich Kalb!Potz/Schinlcele, Das Kreuz in Klassenzimmer und Gerichtssaal, 1996.

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nicht Ausgrenzung, sondern aktive pluralistische Hereinnahme von Religion in die staatliche Öffentlichkeit fordert. In einem derartigen System ist die rechtsstaatlich einwandfreie Verwirklichung von Parität von essentieller Bedeutung. Paritätsverwirklichung erfolgt im Österreichischen System immer noch unter der Prämisse einer Differenzierung in anerkannte2 und nicht anerkannte KuR, ein Raster, das spätestens seit der 1998 eingefilhrten Möglichkeit einer Konstituierung einer Religionsgesellschaft als sog. "eingetragene Bekenntnisgemeinschaft"3 zu hinterfragen ist. Dessen ungeachtet: die Bedeutung, die einem legistisch einwandfreien "Anerkennungsrecht" zukommt, liegt auf der Hand. Bedauerlicherweise war und ist aber gerade dieser so zentrale Regelungsgegenstand des Österreichischen Religions- und Weltanschauungsrechtes Jegistisch wie rechtspolitisch suboptimal gelöst. Im Folgenden seien einige zentrale Schwierigkeiten des "Anerkennungsrechts" im Hinblick auf Anerkennungswerber präsentiert.

II. Probleme des Anerkennungsrechtes Die Entwicklung des "Anerkennungsrechtes" und dabei insbesondere auch dessen mögliche Plausibilität ist nur in einer historischen Entwicklungsperspektive vermittelbar, wobei zuerst die Entwicklung vom 19. Jh. bis zum Jahr 1997 - in diesem Jahr ergingen ein zentrales Erkenntnis des VfGH und dann des VwGH- skizziert werden soll. Die Regelungen des "Anerkennungsrechts" in Österreich reichen in das 19. Jh., und sind mit dem damaligen staatskirchenhoheitlichen Verständnis von Staat und Kirche verknüpft. Durch Art 15 Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (StGG) wurde das Selbstbestimmungsrecht der

2 Anerkannt sind derzeit die Katholische Kirche, die Evangelische Kirche A u HB (die beiden evanglischen Kirchen sind gern. § I Abs I ProtestantenG auch einzeln anerkannt), die Griechisch-orientalische Kirche, die Israelitische Religionsgesellschaft, die Altkatholische Kirche, die Herrnhuter Brtlderkirche (derzeit keine Gemeinde in Österreich), die Islamische Glaubensgemeinschaft, die Methodistenkirche, die Mormonen (Kirche der Heiligen der letzten Tage), die Armenisch-Apostolische Kirche, die Neuapostolische Kirche, die Buddhistische Religionsgemeinschaft und die Syrischorthodoxe Kirche. 3 Bundesgesetz Ober die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften, BGBli 1998/19.

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gesetzlich anerkannten KuR anerkannt und ihnen u. a. eine Säkularisationsgarantie und Parität verbürgt. "Glaubens- und Gewissensfreiheit" verbürgte Art 14 StGG, die "öffentliche Religionsausübung" wurde jedoch als korporatives Grundrecht auf anerkannte KuR beschränkt (Art 15 StGG), den Anhängern eines gesetzlich nicht anerkannten Bekenntnisses war nur die häusliche Religionsübung gestattet (Art 16 StGG). Eine diesbezügliche Änderung brachte erst der Staatsvertrag von St. Gennain 1919, dessen Art 63 allen Österreichern das Recht einräumte, "öffentlich oder privat jede Art von Glauben, Religion oder Bekenntnis frei zu üben". Die Berücksichtigung religiöser Interessen knüpfte an den Status der anerkannten KuR an, nicht anerkannte Bekenntnisse blendete der Gesetzgeber weitestgehend aus der staatlichen Öffentlichkeit aus. Ihnen wurde auch die Möglichkeit der Korporation und Erlangung privater Rechtsflihigkeit genommen, da das Vereinsgesetz vom 15. November 1867 in seinem § 3 lit a "Religionsgesellschaften überhaupt" von der Anwendung ausnahm. Konsequenterweise galten Mitglieder von nicht anerkannten KuR aus der Sicht der staatlichen Verwaltungspraxis als "konfessionslos". Die Anerkennung bzw. der dadurch vennittelte Status diente nach diesem Verständnis "dem kirchlichen Leben gegenüber die staatlichen Interessen zu wahren". Die anerkannten KuR galten als "privilegierte Corporation(en) des öffentlichen Rechts" - so die Materialien -, eine Stellung, die dem Staat die dazu korrespondierende Einflussnahme und Kontrolle ennöglichte. Konsequent wird deshalb im Motivenbericht zum "Katholikengesetz" (RGBl 1874/50) diese Materialien werden in der Österreichischen Staatskirchenrechtslehre generell zur Charakterisierung staatskirchenrechtlicher Grundanschauungen des 19. Jh. herangezogen - festgestellt: "Nun ist aber die öffentliche Stellung der Kirchen das vorzüglichste Medium, durch welches der staatliche Einfluss auf die kirchlichen Verhältnisse vennittelt wird. Die ZurUckdrängung der Kirchen in das Privatrecht würde daher praktisch nicht als Reducierung der kirchlichen Macht, sondern nur als Schwächung der staatlichen Aufsicht empfunden"4 • Welche KuR als "anerkannt" galten, war in der damaligen Verwaltungslehre eindeutig. Neben der katholischen Kirche, alle jene KuR, die in der bisherigen Gesetzgebung "toleriert" wurden, d. h. die durch das josephinische Toleranzpatent 1781 tolerierte evangelische Kirche A und HB sowie die griechischorthodoxe Kirche, weiters die durch sog. "Judenpatente" tolerierte israelitische Religionsgesellschaft.

4 Gautsch v. Frankenthurn: Die confessionellen Gesetze vom 7. und 20. Mai 1874, 1874.

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Notwendig wurde jedoch, eine Vorgangsweise festzulegen, wie eine nicht anerkannte KuR den Status einer anerkannten KuR erwerben konnte. Konkreter Anlassfall war die Bildung der altkatholischen Kirche. Als Ausftlhrungsgesetz zu Art 15 StGG erging daher am 20. Mai 1874 das "Gesetz ... betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften " (AnerkennungsG), das allgemein die Voraussetzungen filr eine Anerkennung nonniert. 5 Die angefilhrten religionsrechtlichen Regelungen wurden im Rahmen der Rechtsüberleitung 1945 in den Rechtsbestand der 2. Republik Ubergeftlhrt. Sowohl die grundrechtliehen Verbürgungen - Religionsfreiheit und Kirchenautonomie - wie die dazu korrespondierenden einfachgesetzlichen Bestimmungen (Anerkennungsgesetz, Vereinsgesetz) entstammen- wie ausgeftlhrt- dem Staatskirchenhoheitlichen Verständnis des 19. Jh. Eine verfassuTJgskonfonne Interpretation dieser Bestimmungen verlangt besondere Anforderungen an die juristische Auslegung, denn es sind diese überkommenen Nonnen an die gewandelte VerfassungsJage anzupassen. Dieser unumgänglich notwendige interpretative Moditikationsvorgang lässt neue Sinngebung überkommener Regelungen zu, soweit sie lege artis im Wege juristischer Auslegungsmethoden gewonnen werden. Auf Grundrechtsebene wurde zum Motor einer dynamischen Entwicklung die Europäische Menschenrechtskonven tion (EMRK), der in Österreich rückwirkend durch BVG BGBI 1964/59 Verfassungsrang zugesprochen wurde. Im vorliegenden Zusammenhang gestaltete Art 9 EMRK die Glaubens- und Gewissensfreiheit zu einer umfassenden Religions- und Weltanschauungsfreihe it und ftlhrte insbesondere durch die Rechtsprechung der Straßburger Instanzen zu differenzierteren Abwägungsprozessen und einem vertieften materiellen Verständnis. 6

5 Im sorgfältig abgefassten Bericht des konfessionellen Ausschusses des Angeordnetenhauses wurde die Notwendigkeit und Zielsetzung des AnerkennungsG aufgezeigt: "Die bisherige Gesetzgebung stellt nämlich die anerkannten KuR einerseits, die ,Anhänger eines gesetzlich nicht anerkannten ReligionsbekeMtnisses' andererseits ohne alle Vermittlung einander gegenüber. Jene sind privilegierte Corporationen mit einem reichen Maß von öffentlichen Rechten und Ehren, diese hingegen bloß Individuen ohne jeden corporativen Verband und ohne gesetzliche Möglichkeit, irgendwie einen solchen zu bilden. Es ist ihnen zwar filr ihre Person die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit, der unbekümmerte Genuss der bürgerlichen und politischen Rechte sowie die Befugniss der häuslichen Religionsübung grundgesetzlich verbürgt; aber es ist ihnen doch kein gesetzlicher Weg aufgethan, um ihrer Confession die öffentliche AnerkeMung und dadurch die genossenschaftlichen Rechte zu gewiMen. Hier also liegt die Stelle, wo die Gesetzgebung ergänzend einzutreten und eine empfmdliche principielle Lücke auszufllllen berufen ist." 6 Vgl &hinkele: Überlegungen zum Phänomen neuer religiöser Bewegungen unter dem Gesichtspunkt der Glaubenswerbung und staatlicher Schutzpflichten, Festgabe Rodopoulos, 1999, S. 253.

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Rechtsgrundlage filr die Anerkennung ist, wie ausgefilhrt, das sog. Anerkennungsgesetz des Jahres 1874. Gemäߧ I AnerkennungsG "wird ... den Anhängern eines bisher gesetzlich nicht anerkannten Religionsbekenntnisses ... die Anerkennung als Religionsgesellschaft ... erteilt" sofern "ihre Religionslehre, ihr Gottesdienst, ihre Verfassung sowie die gewählte Benennung nichts Gesetzwidriges oder sittlich Anstößiges enthält" (Z I) und sofern "die Errichtung und der Bestand wenigstens einer nach den Anforderungen dieses Gesetzes eingerichteten Kultusgemeinde gesichert ist" (Z 2). Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, "so wird die Anerkennung von dem Kultusminister ausgesprochen" (§ 2). Daraus sind die Konstituanten filr eine (anerkennungsfllhige) KoR abzuleiten- Mehrzahl physischer Personen, Religionslehre, Gottesdienst und Verfassung. Zum Zwecke der eindeutigen Unterscheidbarkeit von den anderen anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften wird eine eigene Bezeichnung der um Anerkennung ansuchenden religiösen Gemeinschaft verlangt. Unübersehbar ist der "eurozentrisch-christliche Verstehenshorizont", der im Rahmen verfassungskonformer Interpretation zu durchbrechen ist. Zwingend sind in der Verfassung die "Erfordernisse der Zugehörigkeit und die Art des Beitritts" zu regeln. Mit der Prüfung des (Nicht)Vorliegens von "sittlich Anstößigem" und "Gesetzwidrigkeiten" sind die Grenzen säkularer, religiös- und weltanschauungsneutraler Staatlichkeit erreicht. Eine Prüfung von Religion (Religionslehre etc) ist nicht bzw nur innerhalb sehr enger Grenzen möglich. Eine Bewertung sakraler Schriften und Lehren scheidet weitgehend aus, abzustellen ist primär auf allfllllige Handlungsanweisungen der Religionslehre, die von den Anhängern ein gesetzwidriges bzw sittenwidriges Verhalten verlangen. Da mit der Anerkennung die Erlangung öffentlich-rechtlicher Rechtspersönlichkeit verbunden ist, wird mit der Notwendigkeit einer Verfassung ein Mindestmaß an organisatorischer Struktur verlangt. In der Praxis erwies sich filr den Anerkennungswerber die Voraussetzung von § I Z 2 AnerkennungsG als eine besondere Hürde. Danach ist der "gesicherte Bestand einer Kultusgemeinde" gefordert, die - so § 5 AnerkennungsG - "durch den Nachweis bedingt (ist), dass dieselbe hinreichende Mittel besitzt, oder auf gesetzlich gestattete Weise aufzubringen vermag, um die nötigen gottesdienstlichen Anstalten, die Erhaltung des ordentlichen Seelsorgers und die Erteilung eines geregelten Religionsunterrichts zu sichern". Im Rahmen der verwaltungsrechtlichen Prüfung wird von der Kultusbehörde ein "qualitativer Gesamtzustand" verlangt, der eine entsprechende prognostische Entscheidung zulässt. Dabei räumen die angeftlhrten gesetzlichen Kriterien als unbestimmte Gesetzesbegriffe der Behörde einen weiten Ermessensspielraum ein, der von der Behörde oftmals geradezu provokant zu Lasten der Anerkennungswerber ausgeschöpft wurde.

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Ungeachtet dieser und anderer Probleme der Gesetzesauslegung: das zentrale Problem der Anerkennung in der 2. Republik betraf die Durchsetzbarkeit der Anerkennung, die eng mit der Frage, mit welchem Verwaltungsakt anzuerkennen ist, verknüpft war. Das BMUK als Kultusbehörde sowie der VwGH bis zu seinem Erk. vom 28. 4. 1997, 96110/0049, vertraten die Auffassung, dass die Anerkennung im Verordnungsweg auszusprechen sei. Im Falle der Nichtanerkennung ergehe kein anfechtbarer Verwaltungsakt, vielmehr handle es sich bei einer Ablehnung eines Anerkennungsansuchens nur um eine behördliche Erklärung, dass sie keinen Anerkennungsakt setzen wolle ("Verordnungsthese"). Dieser Rechtsauffassung entsprechend sind auch die bisherigen Anerkennungen gern AnerkG mittels Verordnung erledigt worden. Allerdings hatte diese Vorgangsweise fatale Konsequenzen filr den Anerkennungswerber, da de lege lata ein Rechtsschutz gegen untätige Verwaltungsbehörden auf dem Boden traditioneller Verwaltungsrechtsdogmatik im Bereich der Verordnung nicht existiert. Um dem Anerkennungswerber zieltuhrende Rechtsschutz- und Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten zu eröffnen, vertrat ein Teil der Lehre die Auffassung, die Anerkennung müsse mittels (Rechtsgestaltungs-)Bescheid erfolgen ("Bescheidthese"). Bewegung in die festgefahrenen Fronten von "Verordnungs- und Bescheidthese", zwischen denen die Anerkennungswerber "aufgerieben" wurden, brachte die Rechtsprechung des VfGH. Auf den nun folgenden "Judikaturkrimi"7 sei nicht näher eingegangen, wohl aber das Ergebnis, die sog. "Bescheideinbauthese" des VfGH skizziert: Der VfGH geht von einem durchsetzbaren Rechtsanspruch auf Anerkennung ab. Die Anerkennung sei im Verordnungsweg auszusprechen, im Falle der Nichtanerkennung habe ein entsprechender Bescheid zu ergehen. "Der zuständige Bundesminister (,Cultusminister') hat, wenn er das Vorliegen der Anerkennungsvoraussetzungen verneint, über den Antrag bescheidmäßig negativ abzusprechen; wenn er hingegen zum Ergebnis gelangt, es seien alle Anerkennungsvoraussetzungen gegeben, muss er ... entweder ,die Anerkennung- sogleich - durch Verordnung' aussprechen, oder aber vorerst einen an den (die) Antragsteller adressierten positiven Bescheid und zusätzlich eine an die Allgemeinheit gerichtete Verordnung erlassen. Die Anerkennungswerber haben nämlich - sofern ihrem Antrag nicht ohnedies in der eben beschriebenen Weise durch Erlassung einer Verordnung Rechnung

7 V gl Ka/b!Potz/Schinkele: Religionsgemeinschaftenrecht Anerkennung und Eintragung, 1998.

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getragen wird - einen individuellen Anspruch auf eine der Rechtskraft flihige und nachprüfbare Erledigung." Damit war auch aus der Sicht des VfGH eine Säumnisbeschwerde gern Art 132 B-VG - im vorliegenden Fall an den VwGH - möglich. Wohl sei der VwGH nicht ermächtigt, Verordnungen zu erlassen, was ihn aber nicht daran hindere, "über den ... gestellten Antrag - positiv oder negativ -- abzusprechen und damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen (insbesondere jenen der EMRK) zu entsprechen. Im Fall einer positiven Erledigung wird der ,Cultusminister' ... sodann eine entsprechende Verordnung zu erlassen haben" 8 • In seinem Erk. 28.04.1997, 96/10/0049, hat der VwGH die Rechtsansicht des VfGH zur Anerkennung in lapidarer Kürze übernommen. Damit schien es, als ob die Zentrale Problematik des Anerkennungsrechts, die Durchsetzbarkeit der Anerkennung zum Abschluss gekommen sei. Es war jedoch nur ein vorläufiger Abschluss, denn die ab 1997 initiierte Entwicklung durch den Gesetzgeber konterkarierten dieses Ergebnis. Bedauerlicherweise hat dann der VfGH diese Iegistischen Maßnahmen in einer mir nur schwer nachzuvollziehenden Judikatur weitgehend sanktioniert, sodass sich heute das Anerkennungsrecht in einem rechtspolitisch desaströsen Zustand präsentiert. Was ist passiert? Die Durchsetzbarkeit der Anerkennung sowie eine medienwirksame und teilweise undifferenzierte Diskussion über neue religiöse Bewegungen und Weltanschauungsgruppierungen veranlassten den Gesetzgeber, legistisch tätig zu werden. Um nicht missverstanden zu werden: Gegen Iegistische Maßnahmen ist nichts einzuwenden, denn eine Anpassung und Heranführung des Anerkennungsrechts des 19. Jh. an die aktuellen Rahmenbedingungen war (und ist leider noch immer) ein dringendes, von der Lehre immer wieder eingemahntes Desiderat. Der Gesetzgeber begnügte sich mit einer "systemkonformen Reparatur", anspruchsvollere Möglichkeiten, die ein grundsätzliches Überdenken des österreichische, Kultur(verfassungs)rechts impliziert hätten, wurden nicht versucht. Zurückgegriffen wurde dabei auf das in der Literatur diskutierte Zwei-Stufen Modell - 1. Stufe die Erlangung der privaten Rechtsflihigkeit mittels Schaffung eines "Sondervereinsrechtes" fUr Religionsgemeinschaften; daran knüpft eine 2. Stufe mit der Anerkennung unter gleichzeitiger Novellierung der Anerkennnungsvoraussetzungen.

8

VfSig 13.134/1992.

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Entsprechend diesem zweigliedrigen Konzept wurde am 9. 1. 1998 das Gesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften in Kraft gesetzt, das einen weiteren Status fiir Religionsgemeinschaften in Form eines "Sondervereinsrechts", als "eingetragene Bekenntnisgemeinschaften" mit dem Status einer juristischen Person privaten Rechts vorsieht. Die Bestimmungen über den Erwerb der privatrechtliehen Rechtspersönlichkeit sind in vieler Hinsicht dem Vereinsrecht nachgebildet, welches unter Bedachtnahme auf die "Vereinsfreiheit" das Anmeldeprinzip mit Untersagungsmöglichkeit vorsieht. Bedauerlicherweise bedingte das plötzlich vorhandene politische Interesse an "Sekten"9 , dass das an sich vernünftige Gesetzgebungsvorhaben Züge einer "Anlassgesetzgebung" annahm. Ein dafür typisches Beispiel: Im Gesetz werden 300 Mitglieder fiir die Eintragung als Bekenntnisgemeinschaft gefordert. Im Hinblick darauf, dass es um die Konkretisierung des sich aus der Religionsfreiheit ergebenden Grundstatus geht, ist die Zahl von 300 zweifellos überhöht. Pikanterie gewinnt diese Regelung, wenn man weiß, dass im Entwurfnur 100 erforderliche Mitglieder vorgesehen waren. Es wurde jedoch in der Zwischenzeit recherchiert und erkannt, dass zahlreiche kleinere Religionsgesellschaften zwischen I 00 und 300 Mitglieder aufweisen. Pikanterie gewinnt diese Regelung aber auch, wenn man weiß, dass bei einer Vereinsanmeldung gern VereinsG nur drei Personen notwendig sind. Ein Eingehen auf die einzelnen Bestimmungen ist entbehrlich, da - was die Erlangung des Rechtsstatus als eingetragene Bekenntnisgemeinschaft anlangt die Kritikpunkte nicht so gravierend sind. Insbesondere ist mit der Übernahme der Schrankenregelung des Art 9 EMRK im Kontext der Untersagungstatbestände grundsätzlich ein adäquater Weg beschritten worden, wenn auch die Iegistische Konkretisierung durchaus auch verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegt. Gravierenden Einwänden unterliegt jedoch die im BekenntnisgemeinschaftenG vorgesehene Verbindung zur Anerkennung. In § II des BekenntnisgemeinschaftenG wurde das AnerkennungG novelliert, indem zusätzliche Anerkennungsvoraussetzungen normiert werden.

9 Dazu näher Kalb/Potz/Schinkele: Das Bundesgesetz über die Einrichtung einer Dokumentations- und Informationsstelle ftlr Sektenfragen (EDISG), in: ÖARR 1999, S. 353.

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§ II Abs. I lautet: "Zusätzliche Voraussetzungen .... sind: I.

Bestand als Religionsgemeinschaft durch mindestens 20 Jahre, davon mindestens I 0 Jahre als religiöse Bekenntnisgemeinschaft mit Rechtspersönlichkeit im Sinne dieses Bundesgesetzes,

2.

Anzahl der Angehörigen in der Höhe von mindestens 2vT der Bevölkerung Österreichs nach der letzten Volkszählung,

3.

Verwendung der Einnahmen und des Vermögens für religiöse Zwecke (wozu auch in der religiösen Zielsetzung begründete gemeinnützige und mildtätige Zwecke zählen),

4.

positive Grundeinstellung gegenüber Gesellschaft und Staat,

5.

keine gesetzwidrige Störung des Verhältnisses zu den bestehenden gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften sowie sonstigen Religionsgemeinschaften.

Vorab ist anzumerken, dass jede dieser zusätzlichen Anerkennungsvoraussetzungen juristische Bedenken evoziert. Fragt man sich jedoch, was diese Anerkennungsvoraussetzungen fUr zukünftige Anerkennungswerber bedeuten, so erkennt man bald, dass ein Kriterium in seinen Konsequenzen die anderen weit übertrifft, nämlich die geforderte MitgliederzahL Die nunmehr geforderte Zahl von mindestens 2vT der Bevölkerung Österreichs nach der letzten Volkszählung wären nach der Volkszählung 2001 ca 16.000. Diese Mitgliederzahl weist in Österreich, sieht man von den Zeugen Jehovas ab, keine Religionsgesellschaft auf. Damit ist im Ergebnis eine Anerkennung von Religionsgesellschaften nicht mehr möglich. Die Anerkennung wurde zwar durchsetzbar, der Gesetzgeber hat die Durchsetzbarkeit jedoch ad absurdum geruhrt. Der Kreis der beati possidentes der anerkannten KuR wurde bewahrt, eine Erweiterung verunmöglicht. Dieser "Anerkennungsverunmöglichung" kommt auch insofeme Bedeutung zu, als die an den Status des Anerkanntseins geknüpften Rechtsfolgen in die Grundrechtssphäre hineinreichen. Die Ausformung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes als allgemeines Sachlichkeitsgebot kann heute als fester Bestandteil der Österreichischen Grundrechtsdogmatik angesehen werden. Dieses Sachgesetzlichkeitsprinzip verlangt - bei Wahrung eines rechtspolitischen Spielraums des Gesetzgebers - ein gewisses Maß an Zweckmäßigkeit und Vertretbarkeit einer Regelung sowie an Zumutbarkeit im Verhältnis zu den Betroffenen und den Sachgegebenheiten. Dabei ist wohl auch die Diskrepanz zwischen den nunmehr geforderten und den von den bereits anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften tatsächlich erfüllten Voraussetzungen zu beachten.

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Die nunmehr geforderte Mitgliederzahl von 16.000 entspricht einer Verachtfachung der von der Praxis bisher angenommenen Zahl von 2.000, die noch dazu in einigen Fällen deutlich unterschritten wurde, wie beispielsweise die Anerkennung der Herrnhuter-Brüderkirche - sie umfasste nach der Volkszählung 1890 268 Mitglieder -, aber auch der Buddhistischen Religionsgesellschaft im Jahre 1983 zeigt. Dass die nunmehrige Zahl deutlich zu hoch gegriffen ist, verdeutlicht auch der Umstand, dass bezogen auf die letzte Volkszählung nur fiinf der derzeit anerkannten Religionsgemeinschaften (Katholische Kirche, Evangelische Kirche, Griechisch-orientalische Kirche, Islamische Glaubensgemeinschaft und ganz knapp die Altkatholische Kirche) diese Voraussetzungen erfiillen würden. Da derzeit nur eine der die Anerkennung begehrenden Gruppen, nämlich die Zeugen Jehovas, die geforderte Anhängerzahl aufweist, wäre eine positive Erledigung aller übrigen Anträge von vomherein ausgeschlossen. Wie man unter solchen Bedingungen den Status einer Bekenntnisgemeinschaft als "Vorstufe der Anerkennung" bezeichnen kann, ist unerfmdlich. Besonders deutlich wird die Problematik dieser Bestimmung auch in Zusammenhang mit den altorientalischen Kirchen. Während die Armenischapostolische Kirche und die Syrisch-orthodoxe Kirche anerkannt sind, könnte die Koptisch-orthodoxe Kirche nicht mehr anerkannt werden, obwohl sie die gleiche Glaubenstradition hat und eine vergleichbare Bekennerzahl aufweist. Im Hinblick auf diese Anerkennungsverhinderung durch die geforderte Mitgliederzahl ist ein Eingehen auf die anderen zusätzlichen Voraussetzungen entbehrlich, sie sind bereits jetzt totes Recht. Allerdings, mit einer Ausnahme: das Erfordernis des Bestandes als Religionsgemeinschaft durch mindestens 20 Jahre, davon mindestens 10 Jahre als eingetragene Bekenntnisgemeinschaft, entfaltet fatale Konsequenzen fiir Altanerkennungsanträge, denn § 11 Abs 2 des BekenntnisgemeinschaftenG sieht eine ex lege Umdeutung bisher gestellter Anträge auf Anerkennung auf Eintragung als Bekenntnisgemeinschaft vor. 10 Das materielle Erfordernis eines 20jährigen Bestandes, davon 10 Jahre in der Rechtsform einer eingetragenen Rechtsform einer staatlich eingetragenen Bekenntnisgemeinschaft, ist in dieser Apodiktik schon per se abstrus. So wird z.B. von einer KoR mit einer viele hundert Jahre währenden Tradition noch zwingend eine 1Ojährige "Bewährungsprobe" als Bekenntnisgemeinschaft gefordert. Im Ergebnis wird in einer dem aus dem Gleichheitssatz abgeleiteten Sachlich-

10 § II Abs 2: Dieses Bundesgesetz findet auf laufende Verwaltungsverfahren auf Grund des Gesetzes betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften Anwendung. Anträge auf Anerkennung als Religionsgemeinschaften sind als Anträge gemäß § 3 zu werten, wobei der Tag des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes als Tag der Einbringung gilt.

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keitsgebot zuwiderlautenden Weise die Verleihung der Anerkennung von einer inhaltlichen auf die formelle Ebene verschoben - es ist eine passende Ergänzung zum Erfordernis der MitgliederzahL Geradezu skandalös ist jedoch die Wirkung auf die "Altanerkennungsanträge". Diese, verschiedentlich vor vielen Jahren gestellten Anerkennungsanträge wurden nach der damaligen kultuspolitischen Verfahrensweise "schubladisiert" und werden nun ex lege als Anträge auf Eintragung als Bekenntnisgemeinschaft umgedeutet, mit der Konsequenz, dass sie sich jetzt jedenfalls 10 Jahre als Bekenntnisgemeinschaft bewähren dürfen, um sich dann mit den "Nichtanerkennungsvoraussetzungen'' auseinanderzusetzen. Unübersehbar ist, dass eine derart gravierende und unerwartete Rechtsänderung mit dem Grundrecht der umfassenden Religions- und Weltanschauungsfreiheit und dem Gleichheitssatz sowie einem daraus abgeleiteten Vertrauensschutz nicht vereinbar ist. So formulierte der VfGH in VfSlg 12.186/1989: "Rechtsnormen zielen auf die Steuerung menschlichen Verhaltens. Diese Funktion können Rechtsvorschriften freilich nur erfilllen, wenn sich die Normunterworfenen bei ihren Dispositionen grundsätzlich an der geltenden Rechtslage orientieren können. Daher können gesetzliche Vorschriften mit dem Gleichheitssatz in Konflikt geraten, weil und insoweit sie die im Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage handelnden Normunterworfenen nachträglich belasten. Das kann bei schwerwiegenden und plötzlich eintretenden Eingriffen in erworbene Rechtspositionen, auf deren Bestand die Normunterworfenen mit guten Gründen vertrauen konnten, zur Gleichheitswidrigkeit des belastenden Eingriffs filhren". Bedauerlicherweise setzte der VfGH seine engagierte Judikatur der Jahre 1988-1997 nicht weiter fort. Ausfilhrlich begrUndet hat er seinen Standpunkt in seiner "Leitentscheidung" bezUglieh der Beschwerde der "Christengemeinschaft".11 In seiner BegrUndung konzediert der VfGH zwar, dass die ex lege Umdeutung der Anträge "zu einer gewissen Härte fUhrt'', um dann aber "sophisticated" hinzuzufllgen, dass "dieser potentiellen Verschlechterung . . . ein Rechtsvorteil gegenüberstehe". Welcher Rechtsvorteil? Dazu der VfGH: Der Rechtsvorteilliege darin, dass bei eingetragenen Bekenntnisgemeinschaften bei Prüfung des Anerkennungsantrages die Voraussetzungen, die § l Z l AnerkennungsG aufstellt, nicht mehr geprüft werden und die Anerkennung bei eingetragenen Bekenntnisgemein11 VfGH v 3. 3. 2001, B 1713/98; hiezu ausführlich Schinke/e, Zum verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz. Überlegungen im Zusammenhang mit dem Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften BGBI 1/1998/19, JB12002.

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schaften "präziser vorherbestimmt sei, was auch ftlr die Rechtmäßigkeitskontrolle der Kultusbehörde relevant sei". Einfacher formuliert: der VfGH sieht den Vorteil darin, dass nach 10 Jahren Bewährung als Bekenntnisgemeinschaft, vom VfGH als ein Zeitraum der "Beobachtung" (!) definiert, bei einem allflilligen Anerkennungsantrag nicht mehr geprüft werden muss, ob überhaupt eine Religionsgemeinschaft vorliege. Mit diesen an Rabulistik gemahnenden Ausruhrungen ist das "Anerkennungsrecht" oder besser "Anerkennungsverhinderungsrecht'' vorerst juristisch abgesichert, Veränderungen müssen im Weg der Strassburger Instanzen initiiert werden.

111. Schluss Ausgehend von dem in der Einleitung kurz skizzierten Modell eines zeitgemäßen Religions- und Weltanschauungsrechts, einbettet in ein modernes "Kultur(verfassungs)recht" ist eine Anpassung - bzw. besser Neuordnung" unter Beachtung der Prämissen rechtstaatlicher und demokratischer Verfassungsrechtsordnung unabdingbar. Bedauerlicherweise zeigt die Adaptierung des Anerkennungsrechts in die Vergangenheit, verschließt sich vor den aktuellen Herausforderungen. Es müsste doch unbestritten sein, dass Fragen der Zuordnung religiös-weltanschaulicher Verbände zum staatlichen Rechtsbereich ein Prüfstein ftlr ein dem Grundrecht auf Religionsfreiheit und damit den Grundsätzen der religiösen und weltanschaulichen Neutralität, Parität und Toleranz verpflichtetes Religionsrecht sind. Analysiert man die Österreichischen religionsrechtlich relevanten Grundrechtsgarantien, mUsste ebenfalls einleuchten, dass der letztlich aus der Religionsfreiheit abgeleitete konstitutionelle Grundstatus einen Unterschied zwischen anerkannten Kirchen und staatlich eingetragenen Bekenntnisgemeinschaften kaum zulässt, mit der Konsequenz, dass die zahlreichen AnknUpfungen des einfachen Gesetzgebers an das Anerkanntsein zu hinterfragen sind. Gesetzgebung und - überraschend - auch der VfGH sind noch nicht so weit. Einem im Kontext des Europarechts diskutierten aus der Religionsfreiheit abgeleiteten konfessionellen Grund- und Autonomiestatus ftlr Religionsgemeinschaften wird mit großer Reservation begegnet, es bleibt bei der Bevorzugung der "happy few" der anerkannten KuR.

Literatur Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften, BGBI I 1998/19.

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Gautsch v. Frankenthurn : Die confessioneBen Gesetze vom 7. und 20. Mai 1874, 1874. Kalb!Potz!Schinkele: Das Bundesgesetz über die Einrichtung einer Dokumentationsund Informationsstelle für Sektenfragen (EDISG), in: ÖARR 1999.

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Das Kreuz in Klassenzimmer und Gerichtssaal, 1996.

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Religionsgemeinschaftenrecht- Anerkennung und Eintragung, 1998.

Schinkele: Überlegungen zum Phänomen neuer religiöser Bewegungen unter dem Gesichtspunkt der Glaubenswerbung und staatlicher Schutzpflichten, Festgabe Rodopoulos, 1999.

- Zum verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz. Überlegungen im Zusammenhang mit dem Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften BGBI 1/1998/19, JBI2002. VfGH

V

3. 3. 2001, B 1713/98

VfSig 13.134/1992.

Neunter Teil

Gesellschaft und Wirtschaft

Gesellschaftspolitische Aspekte einer europäischen Währungspolitik Von Maria Schaumayer Seit nunmehr zehn Jahren stellt Herr o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky sein umfangreiches Wissen sowie seine akademischen und menschlichen Qualitäten uneigennützig auch dem wissenschaftlichen Beirat meiner Stiftung zur Förderung von Frauenkarrieren in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zur Verfilgung. Ich konnte somit aus regelmäßigen Kontakten über Alpbach hinaus erfahren, wie sehr ihm "Wissenschaft um der Menschen willen" am Herzen liegt. Es ist mir daher Freude und Auszeichnung, einige Gedanken zu einem Thema, das mir am Herzen liegt, zur Festschrift aus Anlass des 65. Geburtstages von o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky beizusteuern. Die gesellschaftspolitische Entwicklung und Veränderung läuft auf vielen Schienen. Globalisierung und Europäische Integration sind nur zwei der markanten Überschriften. Ausgelöst wurden sie von durchaus unterschiedlichen Anlässen und Motiven. War die Gründung der Gemeinschaft filr Kohle und Stahl im Jahr 1952, also sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, dominant von dem Ziel bestimmt, nach den Schreckenzweier Weltkriege dauerhaft Frieden in Europa zu schaffen, so blieb auch die weitere europäische Integration diesem Friedensziel verpflichtet. Die Globalisierung wiederum wäre ohne die rasante Entwicklung der Kommunikationstechnologie nicht so rasch und umfassend in Gang gekommen. Sie hat naturgemäß eine überwiegend wirtschaftliche Zielsetzung. Es wäre ein Irrtum, Globalisierung und Integration mit Uniformierung gleichzuhalten, auch wenn alle T-Shirts primavistaaus der gleichen Billigproduktion zu stammen scheinen. Beiden Entwicklungen, Globalisierung und Europäischer Integration, ist der Friedensgedanke immanent. Im Fall der Globalisierung spricht die wirtschaftliche Verflechtung der Märkte - ausgenommen die Rüstungsindustrie - filr Interesse an dauerhaft friedlichen Beziehungen. Bei der Europäischen Integration ist die Schaffung von Frieden, Sicherheit und Wohlstand filr immer mehr Bürger das von Anbeginn an deklarierte große Ziel. Dennoch reagieren viele Bürger in vielen Ländern verunsichert und sind sich der Größe des bisher in ihrem Interesse Erreichten nicht wirklich bewusst. Da

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Maria Schaumayer

der Nonnalbürger weder Rennfahrer noch Rennläufer ist, scheint es wohl das Tempo der Veränderungen zu sein, das ein Gefühl der Unsicherheit auslöst. Daher ist die Politik permanent gefordert, Ziel und Inhalt der Veränderungen zu erklären und dem BUrger erfahrbar zu machen. Das ist nicht einfach in einer Zeit, in der das hohe Gut Frieden, dessen sich Europa noch nie in seiner Geschichte Uber eine so lange Zeitspanne erfreute wie die heute lebende Generation, von allen, die jUnger als 60 sind, quasi als Selbstverständlichkeit genommen wird. Dass die dauerhafte Sicherung des Friedens auch Gesinnung und Haltung - Maßhalten und Toleranz, sowie wenigstens ein Minimum an Altruismus- erfordert, diese Botschaft erreicht den BUrger nicht allzu oft. Es gibt Populäreres! Gerade in der europäischen Währungspolitik wird es jedoch erlebbar, dass Stabilität und Sicherheit überhaupt nur unter Friedensbedingungen machbar und haltbar sind. Die BUrger konnten und können sich am praktischen Beispiel allzu vieler Länder überzeugen, dass von Inflation und kriegerischen Zeiten keineswegs die Empfänger niedrigerer Einkommen profitieren. Ganz im Gegenteil: diese triffi es am härtesten. Sie können auch beobachten, dass nur geordnete Staatsfinanzen im Bedarfsfall wirksamen konjunkturpolitischen Spielraum geben. Ich bin davon überzeugt, dass eine auf Stabilität ausgerichtete Währungspolitik als Wirtschafts- und gesellschaftspolitischer "Anker'' an Bedeutung noch zunehmen wird. Ja, ich bin Optimistin genug, um zu hoffen, dass die Bürger diese Haltung von der Politik fordern und populistischer Misswirtschaft eine Absage erteilen werden. Bei der Kernfrage rationaler Stabilitätspolitik geht es nicht um Sozialutopien. Solche sind regelmäßig gescheitert, wenn sie versuchten, Stabilität zum Selbstzweck zu erheben, dadurch zur Starrheit tendierten und schließlich an der Realität zerbrachen. Der Weg zu mehr Sicherheit und Systemstabilität, nach denen bei den Menschen Sehnsucht und Bedürfnis herrscht, führt über ein Regelwerk, das den Wandel nicht ausschließt, sondern ihn integriert. Ein solches Regelwerk schließt Lern- und Reaktionspotenziale zum flexiblen Umgang mit Schocks und Unsicherheiten, die es in vielfältiger Fonn immer geben wird, mit ein und ermöglicht dadurch flexible Strategien und den jeweils der Stabilität verpflichteten adäquaten Policy Mix. Diesen Weg hat die Europäische Union mit der Schaffung der Wirtschaftsund Währungsunion, sowie mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt eingeschlagen. Der Euro als gemeinsame stabile Währung ist für die Bürger im wörtlichen Sinn begreifbar geworden. Dass ein auf Preisstabilität verpflichteter Euro das Ergebnis einer gemeinsamen Währungspolitik mit akkordierten Prinzipien der Wirtschaftspolitik in allen an der Währungsunion teilnehmenden Ländern ist, sollte immer wieder erklärt werden. Die Botschaft ist noch nicht

Gesellschaftspolitische Aspekte einer europäischen Währungspolitik

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überall angekommen, dass es sich bei der Wirtschafts- und Währungsunion um kein Oktroy von außen, sondern um ein gemeinsam errichtetes Gebäude handelt, das auch gemeinsam instandgehalten und gepflegt werden muss. Daher können Kandidatenländer auch nicht automatisch am Euro teilnehmen, sobald sie der Europäischen Union beitreten, sondern es gelten fiir sie genau dieselben Unabhängigkeits- und Stabilitätskriterien, die Voraussetzung zur Bildung der Währungsunion waren. Wenn bei den politischen Verantwortungsträgem der Wille fehlt, diese Fakten zu transportieren, dann sollten die Notenbanken als Verantwortungsträger gegenüber den Bürgern auftreten. Zuweilen ist ihre unabhängige Stimme auch glaubwürdiger als die der reinen Politik. Der Normalbürger hat ein gesundes Empfinden - common sense -, dass öffentliche und private Misswirtschaft mit Stabilität nicht vereinbar sind. Er wird auch kaum dem Irrtum erliegen, dass mit der Einfiihrung einer neuen stabilen Gemeinschaftswährung altbekannter Schlendrian fortgesetzt oder gar kaschiert werden könnte. Gesellschaftspolitisch relevant ist auch, dass die Stabilität der gemeinsamen Währung in den von den nationalen Parlamenten ratifizierten supranationalen Verträgen auf Dauer angelegt ist und nicht bloß auf einen Stichtag hin. Unsere Zeit bietet den Menschen enorme Freiheitspotenziale in allen Lebensbereichen. Dennoch ist das Sicherheitsbedürfnis der Menschen nicht geringer, sondern eher größer geworden. Der Nationalstaat allein kann den Sicherheitsbedarf kaum noch decken, denn auch die Bedrohungspotenziale fiir die Sicherheit wurden gewissermaßen global. Daher sind die politischen Verantwortungsträger geradezu verpflichtet, das wirtschafts- und währungspolitische Gefiige supranational nach dem Regelwerk filr Stabilität zu gestalten, wenn sie im wohlverstandenen Interesse ihrer Bürger handeln wollen. Anders kann der Sicherheitsbedarf der Menschen kaum noch gedeckt werden. Das ist auch ein Schutz der Bürger vor punktualistischem Populismus, wobei ich davon ausgehe, dass kritische Bürger den Populismus wohl durchschauen. Eine der populistischen Fragen lautet: Wozu braucht man in einer Europäischen Währungsunion überhaupt noch nationale Notenbanken? Darauf gibt es natürlich technische Antworten, die sich auf Herstellung und Verteilung des Geldes, auf das Bank- und Kreditwesen, seine Beaufsichtigung, auf die Erwirtschaftung von Beiträgen filr das nationale Budget und dgl. beziehen. Ich habe auch keinen Zweifel, dass in der Währungsunion mehr Köpfe als Hände nötig sind. Die wahre Antwort aber sehe ich im Subsidiaritätsprinzip und in der gesellschaftspolitischen Relevanz der nationalen Notenbanken, die ja Schöpfer und Träger, aber zugleich auch Umsetzer der gemeinsamen auf Stabilität verptlichteten Währungspolitik sind. Sie sind keine Befehlsempflinger eines fernen, anonymen Systems, sondern verantwortlich filr dessen Gestaltung, Haltbarkeit und Funktionieren. Unter

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diesem Aspekt haben sie Wirksamkeit in beide Richtungen: von der nationalen auf die supranationale Ebene und umgekehrt. In verstärktem Masse ist es ihre Aufgabe, bei Politik und BUrgern die aus Empirie gewonnene Erkenntnis zu verankern, dass hohe Schuldenstände und Budgetdefizite die konjunkturpolitische Beweglichkeit des öffentlichen Sektors stark behindern. Wobei in einer Demokratie die budgetpolitischen Prioritäten nicht konstant sein können. Es ist Aufgabe der nationalen Notenbanken, sich filr die Verringerung von wirtschaftlich nicht motiviertem Einfluss der öffentlichen Hände einzusetzen. Sie sollten die Leitlinien filr einen adäquaten Policy Mix zugunsten von Stabilität und Wachstum in der wirtschaftspolitischen Diskussion präsent halten. Und es ist wohl auch ihre Aufgabe, den BUrgern immer wieder zu bestätigen, dass die Freiheit zu Sparen, zu Konsumieren oder zu Investieren auf dem Fundament einer stabilen Währung am größten ist. Auf der Basis von Frieden und Stabilität haben die Lebenschancen von hunderten Millionen Menschen ein Ausmaß erreicht wie nie zuvor in der europäischen Geschichte. Lebenschancen filr viele sind keine Utopie mehr, sondern wurden real - nicht zuletzt dank Marktwirtschaft, europäischer Wirtschafts- und Währungspolitik, Globalisierung und des Zusammenbruchs des kommunistischen Imperiums. Selbst wenn man seinen optimistischen Prognosen filr das Jahr 2030 mit Skepsis begegnet, so weist der dänische Statistiker Bjöm Lomborg filr die letzten dreißig Jahre überzeugend nach, dass die Zahl der hungernden Menschen in den Entwicklungsländern von 35 auf 18 Prozent gefallen ist. Die These, dass mehr Menschen als je zuvor größere Lebenschancen haben, ist also belegbar und es wäre wohl verfehlt, diese positive Entwicklung ohne Zusammenhang mit Marktwirtschaft und Globalisierung zu sehen. Lord Dahrendorf meint zu recht: "Eine Weltdemokratie ist Utopie, eine Welt der Demokratien ist es nicht". Ohne Demokratie aber gibt es keine Marktwirtschaft. Ein Blick aufdiejüngere Vergangenheit stUtzt wohl auch die Annahme. dass die Asienkrise der späten Neunzigerjahre, der II. September 2001, die bedauerlichen, ja unfassbaren Missbräuche des Börsenkapitalismus etc. Europa und seine BUrger weit mehr geschädigt hätten, wenn es die Europäische Währungsunion und den Euro nicht gegeben hätte. Gerade in Zeiten von Unsicherheiten muss und kann sich die europäische Währungspolitik mit ihren nationalen Trägem als stabilisierendes Element beweisen und immer wieder im Interesse der BUrger den Willen zu wirtschaftlicher Vernunft und Stabilität animieren. Darin sehe ich eine ihrer Aufgaben und ihre gesellschaftspolitische Relevanz.

Globalisierung Konflikt zwischen Wirtschaft und Gesellschaft? Von Peter Mitterbauer Globalisierung ist zum einflussreichen und umstrittenen Modewort geworden. In Wirtschaft, Politik aber auch im alltäglichen Sprachgebrauch. Dieser Artikel greift die Globalisierungsthematik aber nicht aus Gründen des Zeitgeists auf, sondern will einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. In Verantwortung fiir die Anliegen der Unternehmer ebenso wie fiir die Gesellschaft insgesamt.

I. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Wahrheiten Nach den Ereignissen des II. September 2001 in New York und deren Folgen in Afghanistan hat auch die Globalisierungsdebatte neue Facetten bekommen. Dem von den Globalisierungskritikern seit Seattle und Genua etablierten Antiamerikanismus wird genauso eine Absage erteilt wie dem naiven Glauben, nur aus den USA komme das Heil der Welt. In der Ablehnung des Terrors rückte die Welt näher zusammen, gleichzeitig wird immer klarer, dass einer von vielen Hintergründen der Tragödie von "ground zero" in den weltwirtschaftliehen Unausgewogenheiten zu suchen ist. Wer meint, man könne dem Terror auch ohne Waffengewalt Einhalt gebieten, irrt also ebenso wie jene, die denken, eine globale Friedenssicherung käme ohne wirtschaftliche Initiativen zugunsten der Entwicklungsländer aus. Die pluralistische Welt kennt keine einfachen Antworten. Auch in der Debatte um die Globalisierung ist sie von einer Gleichzeitigkeit verschiedener Wahrheiten geprägt.

ß. Globalisierung: Pro & Contra Die Entwicklung neuer Mobilitäten ist der treibende Motor fllr die globalen Umbrüche unseres Wirtschaftslebens. Den Kern aller globalisierten Wirt-

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Schaftsprozesse bildet eine bisher unvorstellbare Mobilität des Kapitals, des Handels von GUtem und von Arbeitskräften. Entscheidende Triebfeder ist wohl die gleichzeitige Verftlgbarkeit von Informationen ftlr einen großen Teil der Weltbevölkerung. Zu den positiven Seiten der Globalisierung zählen der offene Markt, von dem kleinere Länder mehr profitieren als große und das riesige Angebot rur den Einzelnen, der nie zuvor derart kostengünstig so viel Auswahl hatte. Ein weiterer Vorteil ist das Wohlstandswachstum und die damit verbundenen positiven Phänomene wie eine Verbesserung der Gesundheitssituation, die höhere Lebenserwartung und verbesserte Bildungsstandards. Parallel zur technischen und wirtschaftlichen Globalisierung erleben wir auch eine Globalisierung von Ideen. So hat sich zwischen 1974 und 1999 die Zahl der Demokratien weltweit von 39 auf 117 erhöht und erstmals in der Geschichte der Menschheit lebt heute mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Demokratien. Die Europäische Union ist ein Paradebeispiel daftlr, wie Globalisierungsprozesse zum Erstarken supranationaler Staatskörper und subnationaler Regionalismen fUhren können. Gedacht als Antwort auf die ökonomischen Herausforderungen durch Japan und die USA ist die EU heute weit mehr als nur ein europäischer Binnenmarkt - sie ist wohl die politische Jahrhundertchance ftlr den Kontinent. Im Gegenzug zu diesen positiven Entwicklungen zeigen die Kritiker der Globalisierung auf, dass die Internationalisierung der Weltwirtschaft auch eine Fülle von Problemen schafft. Sie sehen nur wenige Akteure als Sieger dieser dramatischen Veränderungen und rechnen vor, dass die Schere zwischen Arm und Reich in den letzten zehn Jahren größer geworden ist. Ihrer Ansicht nach stagnieren lokale Kulturen und Märkte, die ökologische Krise verschärfe sich. Kritisiert werden auch die politische Macht der multinationalen Konzerne und die Zunahme fragwürdiger Finanzspekulationen. Der von den Vereinten Nationen veröffentlichte "Bericht über die menschliche Entwicklung" gibt den Kritikern auf den ersten Blick recht. Die reichsten 20% der Weltbevölkerung haben einen Anteil von 80% am WeltBruttoinlandsprodukt, während die Ärmsten gerade 1% erreichen. Vergleicht manjedoch das kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-Einkommen ergibt sich immerhin eine Verringerung der Einkommensdifferenz von 15: 1 (1970) auf 13: 1 (1997). In den Entwicklungsländern sinkt zwischen 1970 und 2000 der Anteil der Hungernden von 30% der Gesamtbevölkerung auf 17%. Die Weltbank hat zudem erhoben, dass in der Zeit von 1990 bis 1998 zusätzliche 627 Millionen Menschen nicht mehr unter der Armutsgrenze leben müssen. Dieser Erfolg ist in seinem Ausmaß einmalig in der Geschichte, weil es im gleichen Zeitraum das höchste Bevölkerungswachstum seit jeher gab.

Globalisierung- Konflikt zwischen Wirtschaft und Gesellschaft?

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111. Globalisierung und Marktwirtschaft Die Frage, ob die globalisierte Marktwirtschaft zu mehr Chancen filr einzelne und Gesellschaften oder zu mehr Ungleichheit und damit zur Zweidrittelgesellschaft fuhrt, ist noch nicht entschieden. Fest steht jedenfalls, dass die Globalisierung das System der real existierenden sozialen Marktwirtschaft ganz wesentlich verändert. Aber nicht in Richtung ohne .,wenn" und .,aber", sondern in Richtung des eigentlichen Modells der Sozialen Marktwirtschaft, wie es im Deutschland der Nachkriegszeit von Röpke, Erhard, Eucken und anderen konzipiert wurde. Dieses Konzept sieht nicht vor, dass der Staatsanteil und die Steuer- und Abgabenquote stetig bis zur Hälfte des Sozialprodukts ansteigen und sich der Staat zu einer gigantischen Umverteilungsmaschine entwickelt. Es sieht auch nicht vor, dass der wirtschaftliche Leistungswille des Einzelnen und der Unternehmen durch bürokratische Regulierungen eingeschnürt wird. Eigenverantwortung und Selbstvorsorge haben in diesem Modell Vorrang und der Staat hat sich auf seine Kernaufgaben zu beschränken. In den letzten Jahren wurde ein Trend zu wachsender Ungleichheit im nationalen Bereich und auch zwischen den Staaten festgestellt. In dieser heiklen Frage, die viel mit dem Begriff .,Gerechtigkeit" zu tun hat, gibt es keine definitiven Antworten. Eines aber ist klar: Ziel der Sozialen Marktwirtschaft ist es nicht, größtmögliche Gleichheit im Ergebnis der wirtschaftlichen Prozesse herzustellen, sondern weitgehende Chancengleichheit zu schaffen. Wichtiger als die Entwicklung von Ungleichheitsmaßnahmen zu beklagen ist es, die Ursachen solcher Entwicklungen zu analysieren und das Problem bei der Wurzel anzugehen, etwa durch Maßnahmen hin zu mehr Chancen- und Leistungsgerechtigkeit

IV. Windows of opportunity Die Globalisierung ist in erster Linie eine Herausforderung aber auch eine Chance ftlr die Politik. Denn zweifellos hängt die schlechte Lage manches Entwicklungslandes mit dem nationalen Missmanagement, der wuchernden Bürokratie und Korruption zusammen. Katastrophale Bildungsstandards verwehren den Zugang zu höherwertigen Technologien und damit zum profitablen Markt. Mangelhaft ausgeprägtes Demokratiebewusstsein und bürgerkriegsartige Zustände verlangen nach internationaler politischer Initiative und Solidarität. Und wer Bildung fördert, fördert auch die Demokratie und damit die Verbesserung der Menschenrechte.

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Peter Mitterbauer

Aus der Sicht der Wirtschaft und Industrie ist daher eine umfassende neue WTO-Verhandlungsrunde zu befilrworten, wie sie im Rahmen des WTOMinistertreffens in Doha!Qatar Anfang November 2001 eingeleitet wurde. Die Ziele dieser neuen Runde sind klar: Mehr Transparenz fiir alle, Reduktion protektionistischer Tendenzen auf ein Minimum und Abschaffung aller nicht absolut notwendigen Handelsbeschränkungen. Entscheidend ist auch eine bessere Integration der Entwicklungsländer, die laut WTO-Bericht filr das Jahr 2000 ihre Ein- und Ausfuhren um 20 Prozent steigern und somit ihren Anteil am Welthandel auf das höchste Niveau seit 50 Jahren anheben konnten. Generell ist eine enge Korrelation von Wirtschaftswachstum und Pro-Kopf-Einkommen filr die untersten Einkommensgruppen in den Entwicklungsländern festzustellen. Globalisierungsprozesse bieten den Entwicklungsländern die Möglichkeit, durch aktive Partizipation am Weltmarkt das Bruttoinlandsprodukt zu erhöhen und dadurch die Armut zu senken. Globalisierung ist aber auch eine Herausforderung filr die einzelnen Bürgerinnen der so genannten "ersten Welt". Mehr aktives Interesse an den Entwicklungen in den Ländern der südlichen Hemisphäre würde die Politik in Zugzwang bringen, beispielsweise in der europaweit stagnierenden Entwicklungspolitik und -ZUsammenarbeit. Koordinierte Investitionen in den Entwicklungsländern können die globale Zweiteilung als eine geflihrliche Lücke unseres Jahrhunderts verringern. In mehrfacher Weise ist die Globalisierung eine Herausforderung filr die Wirtschaft: Zum einen verlangt sie den Unternehmen alles ab, damit diese am globalen Markt bestehen können. Gleichzeitig mehren sich die Forderungen, die Konzerne mögen ihre Macht einsetzen um jenen, denen sie ihre Profite verdanken, auch einen adäquaten Lebensstandard zu sichern. Nach Ansicht vieler ist diese Anfrage an die soziale Verantwortung von Unternehmen mehr als ein weltfremder moralischer Appell. Chrysler-Daimler-Chef Schrempp etwa ist der Ansicht, dass sich der Wert eines Unternehmens sogar steigern lasse, "wenn man bereit sei, auch soziale Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen."

V. Globalisierung: "Win-Win Situation" für Wirtschaft und Gesellschaft In einem Punkt sind sich Befilrworter und Kritiker einig: Globalisierung braucht geeignete, das heißt sach-, menschen- und gesellschaftsgerechte Rahmenbedingungen (J. Schasching), filr Umweltprobleme ebenso wie filr Fragen der Arbeitsbeziehungen oder die Stabilität der internationalen Finanzmärkte. Am effektivsten verwirklicht würden solche Rahmenbedingungen dann, wenn

Globalisierung- Konflikt zwischen Wirtschaft und Gesellschaft?

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sich die beteiligten Institutionen (Staaten, Unternehmen, NGOs) freiwillig darauf verpflichten. In der Globalisierung stecken zweifellos Gefahren, aber noch mehr Chancen. Die Diskussion darüber darf allerdings nicht zur Glaubensfrage werden, sondern soll die Chancen verstärken, die Gefahren aber aufdecken und mindern helfen. Eine "Win-Win Situation" ist angesagt und möglich. Die Frage ist, ob die Förderer und Kritiker der Globalisierung entgegen üblichen politischen Mustern zu gemeinsamen Zukunftslösungen bereit sind. Den Exponenten beider Seiten muss endlich klar werden, dass Wirtschaft und Gesellschaft korrespondierende Systeme sind. Nachhaltiges und erfolgreiches Wirtschaften braucht eine möglichst konfliktfreie und solidarische Gesellschaft ohne Verlierer. Gleichzeitig verlangt die Realisierung unserer persönlichen wie gesellschaftlichen Anforderungen und Wünsche nach einer gut funktionierenden Wirtschaft auf dem Globus. Es ist an der Zeit, solche Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Gesellschaft als richtungsweisende Chance anzuerkennen und für zukunftsorientierte Handlungsoptionen einzutreten. Neben dem Globalisierungsthema gilt das auch filr die Chance der EU-Erweiterung, die Herausforderungen Bildung oder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die großen gesellschaftlichen Themen, die Megathemen der Zukunft, lassen sich durch ein produktives Miteinander von Wirtschaft und Gesellschaft positiv bewältigen.

Aufstrebende Märkte (Emerging Markets) Neue Perspektiven für Marketingstrategien Von Gerhard A. Wührer und Zeynep Bilgin

I. Einleitung Die Globalisierungsdebatte entwickelt nicht nur neue Perspektiven in der Betrachtung des weltumspannenden Marktgeschehens mit ihren gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen, sie führt auch zu einer anderen, neuen begrifflichen Fassung der Sachverhalte. Beherrschte noch vor zwanzig Jahren der Begriff "Entwicklungsländer" oder "Unterentwickelte Länder", wenn es um die wirtschaftliche Situation einzelner Staaten Afrikas, Asiens oder Südamerikas ging, die Diskussion, so scheint dieser Bezeichnung heute etwas Antiquiertes anzuhaften. Entwicklungsländer - diesen ließ man staatlicherseits oder durch nationale oder übernationale Privatorganisationen aus Ländern der Ersten Welt Entwicklungshilfe zukommen. Daraus finanzierte Projekte sollten zur Verbesserung der Infrastruktur und zur Besserstellung der makroökonomischen Situation führen, was insgesamt positive Effekte auf die politische, soziale und wirtschaftliche Lage dieser Länder bewirken sollte. Bezeichnungen wie "Entwicklungsland" oder "Unterentwickelte Länder'' riefen auch starke negative Emotionen und Stellungnahmen hervor. Geht es doch hierbei um die Frage: In welcher Hinsicht entwickelt oder unterentwikkelt? Stehen dabei nicht ausschließlich wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund? Die meisten der in Frage kommenden Länder konnten auf ein jahrtausend altes Kulturerbe zurückblicken, das nicht selten die Basis für den kulturellen Aufstieg der sogenannten entwickelten Länder bildete. Faktum ist, daß in den letzten Jahren neue Begriffe in dieser Diskussion verwendet werden. In diesem Beitrag soll auf neue Ansatzpunkte im Marketing von Unternehmen in aufstrebenden Märkten hingewiesen werden. Im einleitenden Teil werden zunächst begriffliche Abgrenzungen vorgestellt. Im daran anschließenden Abschnitt werden einige Besonderheiten heraus gearbeitet, die aufstrebenden Märkte bezUglieh ihrer Umweltfaktoren aufweisen. Diese Größen bilden den Datenkranz,

Gerhard A. Wührer und Zeynep Bilgin

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an dem sich viele Unternehmen zu orientieren versuchen. Daran anschließend soll exemplarisch aus einem aufstrebenden Markt berichtet werden, welche Besonderheiten dort das Marketing zur Zeit aufweist. Im letzten Abschnitt werden diese Umweltfaktoren kritisch diskutiert und neue Perspektiven entwickelt, die für Unternehmen in aufstrebenden Märkten von Wichtigkeit sein können.

II. Aufstrebende Märkte - Begriffe und Beschreibungen In den folgenden Zeilen sollen zunächst einige Besonderheiten herausgestellt werden, die zum besseren Verständnis der Thematik "aufstrebende Märkte" behilflich sind.

1. Neue Ausgangssituation -neue Termini

Ein kurzer Blick auf die jüngsten Entwicklungen im Welthandel zeigt, daß die Globalisierung den weltweiten Wettbewerb zwischen Standorten und Märkten verschärft. Verschiedene Arenen der Globalisierung lassen sich identifizieren: als Märkte der Triade, die bis zur letzten Dekade des 20. Jahrhunderts den Welthandel beherrscht haben, werden Nordamerika, Westeuropa und Japan bezeichnet\ d.h. der sogenannte "first curve world trade" hat zwischen den wirtschaftlich höher entwickelten Nationen stattgefunden. 2 Die entwickelten Märkte - im Englischen auch als "developed markets" bezeichnet - sind häufig durch einen hohen Sättigungsgrad bei KonsumgUtem gekennzeichnet. 3 Hinzu kommt, daß die demographische Entwicklungaufgrund der Überalterung zu einer Dämpfung der Nachfrage bei nicht wenigen Gütern und Dienstleistungen ftlhrt 4• Insbesondere die Märkte in Westeuropa und Japan werden in den folgenden zwei Dekaden im Vergleich zu anderen Märkten auf der Welt langsamer wachsen. 5 Das Augenmerk sowohl der wissenschaftlichen Diskussion6 als auch der weltweit Handel treibenden, investierenden und Geld anlegenden Praxis1 richtet 1 Vgl.

Ohmae 1990, S. 57.

2

Vgl. Morrison 1996, S. 20, 99.

3

Vgl. Morrison 1996, S. 18; Egan/Shipley 1996, S. 102.

Vgl. Nakata/Sivakumar 1997, S. 461; Ohmae 1990, S. 57; Bi/gin 2001, S. 96. s Vgl. Garten 1996, S. 7.

4

6 Vgl. hierzu beispielhaft Millar/Grand/Ju Choi 2000; Bi/gin 2001 und http://globaledge.msu.edu/ibrd/marketpot.asp.

Aufstrebende Märkte (Emerging Markets)

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sich nun verstärkt auf die neuen, aufstrebenden Märkte. Der Begriff "aufstrebende Märkte" wurde 1981 zum ersten Mal von einem Angestellten der Weltbank8 geprägt. Im weitesten Sinne versteht man darunter Länder, die bestrebt sind, ihre wirtschaftliche Situation so zu verbessern, damit sie der jener wirtschaftlich hoch entwickelter Länder (brutto Pro-Kopfeinkommen mehr als US$ 9.266) vergleichbar ist. Diese Märkte beeinflussen die Ausdehnung und Intensivierung der internationalen Geschäftstätigkeit der multinationalen Unternehmen von den entwikkelten hin zu den entstehenden Märkten. Die Entwicklung wird durch die Wirtschaftspolitik der einzelnen Länder vorangetrieben, die die ausländischen Direktinvestitionen fOrdert.

Tabelle I

Gegenüberstellung "Entwicklungsländer" vs. "Aufstrebende MArkte" Entwicklungsländer (vor 2000) • hohes Risiko fiir fremde Investoren und Geschäfte • wirtschaftlich und technologisch rückständig • Konsumenten verfUgen über nur geringe Kaufkraft • wenig Möglichkeiten der Geschäftstätigkeit fiir ausländische Untemehmen

Aufstrebende Märkte (ab 2000) • Risiken werden zunehmend beherrschbar • technologisch auf Aufholjagd und wettbewerbsfähiger höhere Wachstumsraten beim Ein• kommen als entwickelte Länder und Zunahme der Kaufkraft • Absatz- und Beschaffungsmärkte bieten vielfllltige Chancen filr die Geschäftstätigkeit ausländischer Unternehmen • Beschaffungsmärkte zeichnen sich vor allem durch geringe Kosten und hohe Qualität aus

Quelle: in Anlehnung an Cavusgil, Ghauri und Agarwal (2002), S. 3 Eine Gegenüberstellung (vgl. Tabelle 1) der Auffassungen "Entwicklungsländer'' vs. "Aufstrebende Märkte" zeigt die wesentlichen Unterschiede in den Betrachtungsweisen auf. Im englischen Sprachgebrauch wird das Wort "market" häufig "economy" gleichgesetzt und um den Unterschied zwischen "developing" und "emerging" deutlicher zu machen, festgehalten 9 : "We have tobe

7

1 9

Vgl. hierzu beispielhaft Marber 1998 oder Le Gras 2002. Vgl. http://www.emdirectory.com/definition.html. Cavusgi//Ghauri/Agarwa/2002, S. 8.

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careful in using tenns ernerging and developing - all ernerging economies are developing, but the reverse is not true (i.e. not all developing economies are emerging)". "Aufstrebende Märkte" scheint deshalb in der deutschen Bezeichnung fiir diese Art von Volkswirtschaften passend zu sein, um sie von denen der Entwicklungsländer oder unterentwickelten Länder abzugrenzen - wobei dieser Begriff jedoch ausschließlich im Sinne der o.a. Diskussion in wirtschaftlicher Hinsicht zu verstehen ist und nicht wertend betrachtet werden soll. Ein anderer, nicht zu übersehender Punkt ist, daß die Entwicklungsländer, die noch nicht als aufstrebende Märkte gelten, in der Zukunft auch Merkmale der heutigen aufstrebenden Märkte aufweisen können. Nicht unbestritten, kontrovers und kritisch diskutiert 10 wird die Aufholjagd dieser Länder von Wirtschaftswissenschaft, Soziologie und Umweltwissenschaft. Eine dieser Stimmen, Sachs scheint die Auseinandersetzungen bezUglieh des Werts einer solchen Verbesserung der Wettbewerbssituation auf den Punkt zu bringen, wenn er fonnuliert 11 : "Von Malaysia bis Brasilien, von China bis Südafrika halten sie am alten Konzept der ,nachholenden Entwicklung' fest - und bekräftigen damit die ökonomischen Beharrungsinteressen der Industrieländer. So werden deren Produktions- und Konsummuster bei der Nachhaltigkeitskonferenz noch weniger als beim Erdgipfel in Rio de Janeiro infrage gestellt". Von den Beftlrwortem 12 dieser Globalisierung der Produktions- und Konsummuster wird gerne Krugman mit den Worten zitiert: " ... for many children in developing countries, sweatshop Iabor is a positive alternative to the other dismal options that await them, such as malnutrition, poverty, and starvation, or perhaps beeing sold for slave Iabor or into prostitution." Für die einen mag die "nachholende Entwicklung" die einzige wichtige Alternative der Verbesserung der Wettbewerbssitutation der Gruppe der Länder mit aufstrebenden Märkten sein, von anderen wiederum 13 wird ftlr dieses Ziel ein grundsätzlich anderer Ansatz gefordert. Diese Diskussion hat ftlr Manager und Wirtschaftsakademiker den Weg gebahnt, diese Länder nicht nur mit bestimmten westlichen Klischees zu betrachten, sondern auch sich mit neuen Perspektiven auseinander zu setzen, um diese Länder besser zu verstehen.

10

Vgl. hierzu http://www.joburgmemo.org.

Sachs 2002, S. 23. 12 Beispielhaft Marber 1998, S. 97.

11

13

Vgl. hierzu beispielhaft im Detail http://www.joburgmemo.org.

Aufstrebende Märkte ( Ernerging Markets)

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2. Generelle Kennzeichen und Gruppen aufstrebender Märkte Die aufstrebenden Märkte zeichnen sich durch hohe Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts 14, starkes Bevölkerungswachstum und Zunahme der Kaufkraft aus (vgl. hierzu nochmals Tabelle 1). Aufstrebende Märkte sind nicht notwendigerweise klein oder arm, China z.B. wird als "emerging market" bezeichnet. Technologisch ist das Land in der Lage, Satelliten in das All zu schießen und ein großes, stehendes Heer zu unterhalten. Bangladesch ist ebenfalls ein Land, das zu den aufstrebenden Märkten zählt. Beiden ist gemeinsam, daß sie in den letzten Jahren umfangreiche Anstrengungen unternommen haben, ihre Volkswirtschaft zu stärken, sie ftlr internationale Direktinvestitionen zu öffnen und global wettbewerbsfilhiger zu gestalten. Innerhalb der Länder, die zu jenen mit aufstrebenden Märkten zählen, lassen sich zwei Subgruppen bilden. Die eine Gruppe ist dadurch charakterisiert, daß sie gerade am Anfang ihrer Entwicklung als EM stehen. Sie werden auch als SEMs ("starting ernerging markets") bezeichnet. 15 Sie haben den Aufschwung noch vor sich, können aber auf ein großes Wachstumspotential verweisen. Neben wirtschaftlichen und politischen Instabilitäten scheinen Kommunikationsinfrastruktur, Distributionsnetzwerke und auf der Unternehmerischen Ebene ein Deftzit an Marktorientierung im speziellen und an Managementtechniken im allgemeinen vorzuliegen. Die zweite, wohl gegenwärtig interessantere Gruppe bilden die großen, entstehenden Märkte ("big ernerging markets", BEMs). Zu ihnen zählen laut Yale-University 16, und laut einem Verzeichnis auf der Leitseite des US Department of Commerce 17 die folgenden Länder: Argentinien, Brasilien, Mexiko, China, Indien, Taiwan, Süd-Korea, Polen, die Türkei und Süd-Afrika. 18 Für diese hier angeftlhrten Länder trifft typischerweise 19 folgendes zu, mag auch die gegenwärtige Diskussion Ober sie - wie z.B. Argentinien, Brasilien oder die Türkei - durch finanzpolitische Schlagzeilen geprägt sein: Sie sind Flächenstaaten mit einer großen Bevölkerungszahl; sie gelten in ihrem Umfeld als einflußreiche, politische Macht, und ihre wirtschaftliche

1.

Vgl. o. V. 2001, S. 2. Vgl. beispielhaft Bi/gin 2001, S. 97. 16 Vgl. http://www.library.yale.edu/emergelbigten.htm. 17 Http://www.ita.doc.gov/MACFrameset.html, http://www/ita.doc.gov/bems. 18 Vgl. hierzu Balfourllhlwan!Smith 2002, S. 66. 19 Vgl. Bi/gin 2001, S. 99 tf. und Cavusgii/Ghauri/Agarwa/2002, S. 18.

14

15

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Gerhard A. WOhrer und Zeynep Bilgin

Entwicklung Ubt große Ausstrahlungseffekte im relevanten geographischen Raum aus. 20 2.

In allen diesen aufstrebenden Märkten gibt es ein hohes Potential filr Konsum- und IndustriegUter, filr Infrastruktur, filr Hochtechnologie und Dienstleistungen21 , und sie stellen so filr kleinere aufstrebende Märkte in ihrer Umgebung ein positives Beispiel des Wachstums dar. 22

3.

Viele dieser Länder investieren in den Ausbau der Verkehrsmittel, in die regionale und Oberregionale Energieversorgung und Kommunikationsstrukturen. Dies verbunden mit neuen Managementtechniken und enger Zusammenarbeit mit ausländischen Distributoren und Agenten (wie UPS, DHL und ähnlichen) hilft, die Verkaufskosten in entstehenden Märkten in den Griff zu bekommen.

4.

Obwohl aufstrebende Märkte zum Teil höchst unterschiedliche Strukturen aufweisen, kann die Nachfrageschätzung durch die Tätigkeit von professionellen Marktforschem, Beratern und Werbeagenturen aus dem Lande selber genauer und treffender durchgeftlhrt werden.

5.

Nicht wenige der aufstrebenden Märkte aus dieser Gruppe haben selber wettbewerbsflihige Technologien (weiter)entwickelt oder Zugang zu diesen. Dadurch werden sie in globaler Hinsicht noch wettbewerbsflihiger. Dieser Effekt wird durch die Tatsache verstärkt, daß mehr und mehr Manager aus diesen Ländern selber mit modernen Managementtechniken und -denkansätzen23 vertraut gemacht werden oder sich selber damit vertraut machen. Ein Markt ftlr diese Weiterbildungsdienstleistungen ist bereits entstanden und wächst. Dadurch findet u.a. eine Vereinfachung der Produktionsplanung und -abstimmung statt mit den Produktionssystemen von Unternehmen aus der Ersten Welt statt.

6.

Die nationalen Regierungen stellen sich verstärkt auf die Interessen ausländischer Investoren ein, der Abschluß von Geschäftsvereinbarungen sowohl auf staatlicher als auch privater Basis ist im Gegensatz zu früher kein langwieriger Prozeß mehr.

7.

Obwohl interkulturelle Unterschiede und Auffassungen weiterhin eine mehr oder weniger bedeutende Rolle spielen, wird der Wert der Schaffung

20 Vgl. hierzu auch Cateora/Graham 1999, S. 242; Garten 1996, S. II; Morrison 1996, s. 97. 21 Vgl. Morrison 1996, S. 10.

22

Garten 1996, S. II.

23

Vgl. hierzu Gross/Hartley/Beracs/Gaspar 1999, S. 21 tf.

Aufstrebende Märkte (Emerging Markets)

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von "Win-win-Beziehungen und -allianzen" von den handelnden Managern auf beiden Seiten erkannt. Viele der Manager internationalisierender Unternehmen aus entwickelten Märkten verfUgen über ausreichende Kultur- und Sprachkenntnisse, die zu einem umfassenden· und besseren Verständnis der gegenseitigen Situation beitragen. Wie Bayramov24 hierzu bewiesen hat, flillt diese Markteintrittsbarriere weg. 8.

Die Entwicklung der Informationstechnologie hat zu einer allgemeinen Verbesserung der Informationssituation über entstehende Märkte gefilhrt, die Formulierung von internationalen Geschäftsstrategien wird dadurch um einiges erleichtert.

3. Indikatormodell zur Auswahl aufstrebender Märkte Wer als Manager in diesen Märkten tätig werden möchte, steht oft vor der Frage, welche der Märkte zuerst zu bearbeiten sind. Hier helfen alleine qualitative Beschreibungen sowie statistische Daten mit allgemeine Angaben wenig. Eine große Hilfe ist die Aggregierung und Verknüpfung verschiedener Einzelkennziffern. Nach dem Indikatormodell 25 läßt sich der Gesamtindex des Marktpotentials (OMP) als die Summe von sieben gewichteten Einzelfaktoren auffassen. MS ist dabei die Marktgröße, MGR das durchschnittliche Marktwachstum, MI die Marktintensität; MCC die Konsumptionskapazität, CI die Wirtschaftsinfrastruktur, EF die Wirtschaftsfreiheit; MR Marktaufuahmeflihigkeit und CR das Länderrisiko. I OMP = - X [I 0 50

X

MS + 6 X MGR + 7

X

MI + 5 X MCC + 7

X

Cl + 5 X EF + 6

X

MR + 4 X CR]

Die Teilindizes, ihre Konstruktion und ihre Dimensionen26 werden filr jedes Jahr berechnet, damit läßt sich auch die Dynamik der entstehenden Märkte über die Zeit hinweg verfolgen. Nach dem Stand der letzten, verfilgbaren Indexberechnung ergibt sich folgendes Gesamtbild (vgl. Abbildung 1).

24

Vgl. Bayramov 2002.

Vgl. Cavusgi/ 1997; Cavusgi//Ghauri/Agarwal 2002, S. 268 ff.; http://globaledge.msu.edu/ibrd/marketpot.asp. 25

26 Im einzelnen vergleiche Cavusgil 1997 und Cavusgii/Ghauri/Agarwa/ 2002, S. 268 ff.

562

Gerhard A. Wührer und Zeynep Bilgin

Nicht unerwähnt soll bleiben, daß dieser Attraktivitätsindex lediglich in den Anfangsphasen der Marktauswahl und bei der Reihung von Branchen verwendet werden sollte. Für den Markteintritts- und Marktbearbeitungsphase ist es empfehlenswert, Projektstudien durchzuführen, in denen dann detaillierte Analysen und darauf aufbauend Empfehlungen abgegeben werden können. Darüber hinaus sei darauf hingewiesen, daß in der deutschsprachigen Literatur27 quantitative Modelle der Marktselektion vorgelegt wurden, die ein detailliertes Bild der Prioritätenreihung liefern können. Außerdem scheint dieser Index eher eine Hilfestellung für erst-exportierende Unternehmen zu bieten, die sich in entstehenden Märkten betätigen wollen und zu diesem Zweck eine Abschätzung der Marktattraktivität beabsichtigen. Zu den interessantesten entstehenden Märkten zählt Hong Kong, gefolgt von Singapur. Eine zweite Gruppe, die sich aufgrund dieses Gesamtindexes bildet, umfaßt die Länder Süd-Korea, Israel, VR China, Ungarn und die Tschechische Republik. SUd-Korea scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt ebenso wie Rußland die Gunst der Investoren auf seiner Seite zu haben, so Balfour/Ihlwan!Smith28: "Don't tell investors in Seoul, Moscow or Jakarta that we're in a global bear market: They're too busy making money to Iisten. While the big-cap bourses of North America and Europe continue to get buffeted by bad news, ernerging markets have been on a tear since October." Die dritte Gruppe wird angeführt von Polen, Chile, Indien, Mexiko, Thailand, Rußland, Türkei, Argentinien, Malaysia und Brasilien. Peru, Süd-Afrika, Philippinen, Ägypten, Indonesien, Venezuela und Kolumbien bilden die vierte Ländergruppe. Diese einzelnen aufstrebenden Märkte bilden auch untereinander Verknüpfungen durch die Investitionstätigkeit der entwickelten Märkte. und solchen aus wenigen Ländern der Ersten Welt sind unübersehbar. 29 Die Direktinvestitionen in der VR China wurden in erster Linie mit 20.630 Millionen US$ alleine im Jahre 1997 von Hong Kong aus dominiert. An zweiter Stelle folgte Japan mit 4.330 Mill. US $, an dritter Taiwan (3.290 Mill. US$) und an vierter Stelle die USA mit 3.240 Mill. US$. Hong Kong selber wiederum ist in erster Linie das Zielgebiet japanischer Direktinvestitionen. An zweiter Stelle folgen Großbritannien, die VR China und die USA. Damit wird auch klar, das die aufstrebenden Märkte in den Portfolios der Investmentbanker ein System darstellen, die einzelne Länder präferieren, wie dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt offensichtlich mit der VR China der Fall ist. 27

28

29

Vgl. hierzu z.B. Schneider/Müller 1989. Ba/four/lhlwan/Smith 2002, S. 66. Vgl. hierzu Cavusgi//Ghauri/Agarwa/2002, S. 12 und 13.

Aufstrebende Märkte (Emerging Markets)

563

HongKong

100

Singapur

8

Süd Korea

75

lsraeI

66

VRChina

62

Ungarn

8

Tschechische Republik

50

Polen

42

Chi!e

41

Indien

9

Mexik0

351 34

Thai! and Russlan d

I

Türkei "I Argenlinien

I I

Malaysi a

129 27 26 26

Brasilien 8

Peru

Süd Afiika

331

II I

I

I

Philippinen ~=:::J Agypten

~ 10

i

lndonesien

8

I

Venezuela

7

!

I

L___KO~- ~~----4+0---s+o-----a~-----~!o I

,

Quelle: http://globaledge.msu.edu/ibrd/marketpot.asp, eigene graphische Darstellung Abbildung I: OMP einzelner Länder

111. Aufstrebende Märkte ausgewählte Befunde zu Marketingstrategien Zur Betrachtung der Marketingstrategien in aufstrebenden Märkten können verschiedene Standpunkte eingenommen werden. Zum einen können die Marketingstrategien einheimischer Unternehmen analysiert werden, die schon seit längerem in diesen Märkten tätig sind. Darunter solche, die aufgrund wirtschaftlicher oder politischer Umstellungen von Staatseigentum in Privateigen-

564

Gerhard A. Wührer und Zeynep Bilgin

turn überfUhrt wurden. Zum anderen könnten jene Unternehmen bezüglich ihrer weltweiten Marketingstrategien untersucht werden, die als multinationale Unternehmen ihre Geschäftstätigkeit in einen aufstrebenden Markt verlagern, etwa IBM, oder Procter & Gamble, die sich die VR China als Zielgebiet zukünftiger, zusätzlicher Geschäftstätigkeit ausgewählt haben. Diese traditionelle Betrachtungsweise30 betont üblicherweise die Richtung "Unternehmen aus entwickeltem Markt geht in aufstrebenden Markt", von manchen wird sie auch als downstream-Internationalisierung bezeichnet. 31 Weiters könnten die internationalen Marketingstrategien heimischer Unternehmen analysiert werden, die nun auf neuen Märkten tätig werden.

1. Marketingstrategien von einheimischen Unternehmen in aufstrebenden MArkten das Beispiel ungarischer Unternehmen Bei der Betrachtung der Marketingstrategien von Unternehmen in aufstrebenden Märkten wird häufigerweise die Beschreibung der Unternehmensumwelt in detaillierter Form ftlr ein spezifisches Land durchgefilhrt. Das Wirkungsbündel der Umgebungseintlüsse, das zu spezifischen Ausprägungen der strategischen Muster ftlhrt, besteht aus den folgenden Faktoren: der verstärkte Wettbewerbsdruck, die wirtschaftliche Rezession, der technologische Wandel, der Verfall der traditionellen in- und ausländischen Märkte, der Kostendruck, der steigenden Anspruchsniveau und der Marktdruck Diese Größen wirken sich direkt und indirekt auf die Konzeption und die Entscheidung bezüglich spezifischer strategischer Alternativen aus. In einer beispielhaften empirischen Untersuchung wurde ftlr den aufstrebenden ungarischen Markt unmittelbar nach Fall des Eisernen Vorhangs erhoben, welche Muster von Marketingstrategien existieren und wie die Marktgegebenheiten von einer repräsentativen Auswahl (n = 537) ungarischer Unternehmen wahrgenommen werden. 32 Basierend auf deren theoretischem Konzepe3 , das sich an den Besonderheiten aufstrebender Märkte orientiert, lassen die Ergebnisse der Studie folgende Aussagen zu: •

Fast die überwiegende Mehrheit der Unternehmen bezeichnet die Gegebenheiten in ihrem wichtigsten Absatzmarkt als "äußerst problematisch". 30 Vgl. hierzu Albaum/Strandskov/Duerr 1998. 31 Kuada/Serensen 2000. 32 33

211.

Vgl. Hoo/ey/Beracs/Ko/os 1999, S. 211. Vgl. hierzu zur Methodik und im Ergebnisdetail Hoo/ey/Beracs/Kolos 1999, S.

Aufstrebende Märkte (Emerging Markets)

565



Die Dynamik in den Veränderungen der Anspruchsniveaus der Kunden wird von einer knappen Mehrheit als "langsam" bezeichnet, etwas weniger als die Hälfte stuft sie als "schnell" ein.



Der Technologiewandel wird generell als "langsam" bezeichnet, oder überhaupt als "nicht existent".



Der Wettbewerb wird mehrheitlich als "intensiv" eingestuft, wobei die Dynamik heterogen ist.



Sowohl Markteintritt als auch -austritt wird mehrheitlich als sehr leicht eingestuft.

Das Gesamtbild beschreibt den aufstrebenden Markt Ungarn im Jahre 1992 als "... for many companies, an extremely challenging one where increased competitive pressures make the need for marketing skills and techniques highly relevant. Levels of competition, both domestic and from an ingress of international firms, have increased dramatically in the recent past and are expected to continue torisein the foreseeable future." 34 Im Kommentar der Verfasser der Studie kommt deutlich zum Ausdruck, daß vor allem die Notwendigkeit filr eine Verbesserung der Marketingkompetenz des Managements der Unternehmen als sehr wichtig eingestuft wird. Eine Tatsache, auf die schon Cavusgil, Ghauri und Agarwae 5 hinweisen. Diese schwierigen Bedingungen bewirken, daß die einzelnen Komponenten der Marketingstrategien36 folgenden Gehalt aufweisen: •

Die bedeutendste Rolle in den Marketingzielen spielt hier die Auffassung "Einnahme einer Verteidigungsposition" - was einen Gegensatz zu den Ergebnissen einer parallelen Studie in Großbritannien darstellte. Dort möchte eine Mehrheit der Unternehmen in Zukunft aggressiv auf dem Markt aufzutreten.



In Übereinstimmung mit den Marketingzielen steht der Befund, das strategische Augenmerk auf Kostenreduktion und Produktivitätssteigerungen zu

legen. Grundsätzlich wird damit eine Betrachtungsweise favorisiert, die sich im wesentlichen auf Prozeßverbesserungen im Unternehmen und Verbesserungen in der Produktion richtet, nicht selten geht da der Blick auf die Kunden- und Marktorientierung verloren. Bei britischen Unternehmen dominiert die Absicht, den Mitbewerbern Marktanteile abzunehmen.

34

Hooley/Beracs!Ko/os 1999, S. 211.

35

Vgl. hierzu Cavusgi//Ghauri/Agarwa/2002, S. 19.

36

Vgl. hierzu wiederum in Ausftlhrlichkeit Hooley!Beracs/Kolos 1999, S. 213.

566

Gerhard A. Wührer und Zeynep Bilgin



Das Herangehen an den Markt wird bei etwas mehr als einem Fünftel als branchenweite Attacke verstanden. In Großbritannien ist die Selektionsstrategie vorherrschend, was sich auch durch die dort vorliegende Marktentwicklung und -Segmentierung erklären läßt.



Die relative Qualitätspositionierung wird mehrheitlich mit dem der Mitbewerber als vergleichbar angesehen.



Der strategische Wettbewerbsvortei/: die Schlüsselfaktoren scheinen sich auf Preis, Serviceorientierung und Qualität zu konzentrieren.



Der Stellenwert der strategischen Planung wird in ihrer Ausrichtung durch das Überlebensziel dominiert, zumindest war das in den zwei Jahren seit dem Fall des Eisernen Vorhangs so. In den britischen Unternehmen dominiert im Gegensatz dazu die Orientierung der strategischen Planung am kurzfristigen Gewinninteresse.

Die in ihrem Detail interessanten Ergebnisse, die hier nur ausschnittsweise wiedergegeben werden konnten, verweisen zumindest auf zwei wichtige Erkenntnisse. Zum einen wirken sich die Marktbedingungen, die in entstehenden Märkten ganz spezifisch sind, auf die Auswahl und Zusammensetzung einer Marketingstrategie wesentlich aus. Diese Signifikanz der Muster ist über ftlnf verschieden strategische Grundhaltungen erkennbar.37 Zum andere lassen diese Befunde unter der Annahme "Ungarn= entstehender Markt" und "Großbritannien = entwickelter Markt" den begründeten Schluß zu, daß sich die Strategiemuster von Unternehmen in entstehenden und entwickelten Märkten deutlich voneinander unterscheiden, bzw. zu unterscheiden haben. Möglicherweise trifft dies nicht nur ftlr die Marketingstrategie zu, die auf den Binnenmarkt gerichtet ist, ebenso könnten dies ftlr die internationale Marketingstrategie der Fall sein.

2. Internationale Marketingstrategien von Unternehmen aus aufstrebenden MArkten Untersuchungen zu den Internationalisierungsmustern von Unternehmen aus aufstrebenden Märkten sind eher selten. Aus den wenigen Beispielen sei hier aus einer Studie38 berichtet. In der Frage der Erfolgsfaktoren und deren Wirksamkeit bei der Internationalisierungsrichtung "Aufstrebender Markt - Entwickelter Markt" kommen

37 38

Vgl. Hooley/Beracs/Kolos 1999, S. 217 ff. Vgl. Kuada/Serensen 2000.

Aufstrebende Märkte (Emerging Markets)

567

Kuada und S0rensen39 zu einigen interessanten Ergebnissen. Ihre Grundhypothese lautet, daß die in der Internationalisierungstheorie dargestellten Modelle wie Phasen-, Kontingenz- und Interaktionsansatz nur eine beschränkte Erklärungskraft filr die up-stream Internationalisierung, d.h. filr die Internationalisierungsstrategien von Unternehmen aus aufstrebenden Märkten anbieten. Trotz einiger methodischer Einschränkungen in ihrer empirischer Untersuchung, etwa die geringe Anzahl der untersuchten Unternehmen und die Konzentration auf den Standort Accra/Ghana, scheint ihre Grundannahme zutreffend zu sein. Durch die eingeschränkten Markterfahrungen auf dem Heimatmarkt versuchen diese Unternehmen vor allem nationale und internationale Markteintritts- und -bearbeitungsstrategien, die kooperativen Formen aufweisen. Eine Verstärkung der Wettbewerbsposition in der internationalen Marktarena wird dadurch angepeilt, daß sowohl die Marketing- als auch die Beschaffungsstrategien zu lokalen und internationalen Kunden und Zulieferem durch systematisches Beziehungsmanagement gestärkt werden. Zur Unterstützung der Technologiekomponenten in der Wettbewerbsposition werden gezielte, strategische Allianzen mit Know-how-Gebem von außerhalb, d.h. mit internationalen Partnern in den relevanten Feldern eingegangen. Die Bedeutung des Netzwerkens zur Unterstützung in der Internationalisierung des Unternehmens geht konform mit einer anderen Studie40 , die zu den Chancen, Risiken und Erfolgsfaktoren des deutschen Mittelstandes durchgefilhrt wurde. Diese Erkenntnis würde zunächst der unterstellten Unterschiedlichkeil der internationalen Marketingstrategien von Unternehmen aus aufstrebenden Märkten vs. solchen aus entwickelten Märkten widersprechen. Allerdings kann durch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen begründet ausgenommen werden, daß sowohl im Prozeß der Beziehungsanbahnung, des -ausbaus, des -managements und in der Entwicklung der Netzwerkbeziehungen unterschiedliche Ausprägungen vorliegen und zwar solche, die typisch fllr Unternehmen aus auftrebenden Märkten bzw. solchen aus entwickelten Märkten sind.

IV. Zusammenfassung und Ausblick Die aufstrebenden Märkte zeichnen sich durch bestimmte Strukturen und Besonderheiten aus, die sie sowohl filr die Praxis als auch für die Wissenschaft interessant machen, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Die großen

39 40

Vgl. Kuada!S6rensen 2000. Vgl. Gerum 2000, S. 282 f.

568

Gerhard A. Wührer und Zeynep Bilgin

entstehenden Märkte sind darüber hinaus in der Globalisierungsarena von hoher geopolitischer Bedeutung. Unternehmen, die in aufstrebenden Märkten als heimische Firmen tätig sind, müssen sich Herausforderungen stellen, die zu speziellen Marketingstrategien filhren. Ihre Ressourcen- und Marktprobleme stellen sich anders dar. Im wissenschaftlichen Bereich sind die Befunde aus empirischen Untersuchungen noch nicht so zahlreich, dies läßt aber hoffen, daß in Zukunft wesentliche Beiträge filr die Weiterentwicklung der verschiedenen theoretischen Ansätze zu Marketingstrategien sowohl fUr den heimischen Markt als auch den internationalen Markt zu erwarten sind. Wir müssen unsere Marketingprogramme filr entstehende Märkte neu überdenken und gestalten. Auf diesen Umstand weisen auch Dawar und Chattopadhyay 41 hin. Ihre Überlegungen betonen ein anderes Vorgehen sowohl in den Konzepten der Strategieelemente Segmentierung, Zielmarktauswahl und Positionierung als auch in den übrigen Marketinginstrumenten wie Marktkommunikation, Preispolitik, Distribution und Produktpolitik. Es muß betont werden, daß eine unreflektierte Anwendung von "Rezepten" filr die internationale Marktbearbeitung höchst bedenklich ist. Unser theoretisches und empirisches Wissen, das meist auf den Erfahrungen der multimuionalen Unternehmen basiert und sich auf die Internationalisierungsrichtung "entwickelter - aufstrebender Markt" bezieht, ist damit kritisch zu hinterfragen und auf die neue Ausgangssituation hin weiter zu entwickeln. Auch damit kann dem Motto dieser Festschrift "Wissenschaft um der Menschen willen" Rechnung getragen werden.

Literatunreneichnis Albaum, G./Strandskov, 1./Duerr, E.: Internationales Marketing und Exportmanagement, München 1998. Balfour, F.llhlwan, M./Smith, G.: Ernerging Markets: What Recession?, in: Business Week, European Edition, July 15, 2002, S. 66. Bayramov, N.: A Study on Barriers Experienced by Turkish Firms Operating in Russian Federation, Master of Arts Thesis, Marmara University, Institute for Social Sciences, Istanbul 2002.

41

Vgl. Dawar/Chattopadhyay 2000.

Aufstrebende Märkte ( Ernerging Markets)

569

Bi/gin, Z.: The Changing Market Structure in Starting Ernerging Markets (SEMs) of Transition Economies- Marketing and Customer Perspectives, in: Grabner-Kräuter, S./Wührer, G. A. (Hrsg.): Trends im internationalen Management. Strategien, Instrumente und Methoden, Festschrift flir Dieter J. G. Schneider, Marketing Reihe des Instituts fiir Handel, Absatz und Marketing der Johannes Kepler Universität Linz, Linz 2001, S. 95-115. Cateora, P.R./Graham, J.L.: International Marketing, New York 1999. Cavusgil, T.S.: Measuring the Potential of Ernerging Markets: An Indexing Approach, in: Business Horizons, 1/1997, S. 87-91. Cavusgil, T.S./Ghauri, N.P./Agarwal, M.R.: Doing Business in Ernerging Markets. Entry and Negotiation Strategies, Thousand Oaks!London!New Delhi 2002. Dawar, N./Chattopadhyay, A.: Rethinking Marketing Programs for Ernerging Markets, Working Paper William Davidson Institute, Number 320, June 2000. Egan, C./Shipley, D.: Strategie Grientation Toward Countertrade Opportunities in Ernerging Markets, in: International Marketing Review, 4/1996, S. 102-120. Garten, J.E.: The Big Ernerging Markets, The Colombia Journal of World Business, 31 (Summer) 1996, S. 7-31. Gerum, E.: Internationalisierung mittelständischer Unternehmen durch Netzwerke, in: Gutmann, J.!Kabst, R. (Hrsg.): Internationalisierung im Mittelstand. Chancen- Risiken- Erfolgsfaktoren, Wiesbaden 2000, S. 274-285. Grass, A./Hartley, R./Beracs, J./Gaspar, P.P.: Business Education and Management Traininig in the Old and New East Central Europe, in: Beracs, J./Chikan, A. (Eds.): Managing Business in Hungary, An International Perspective, Budapest 1999, S. 401-422. Hooley, G. J./Beracs, J./Kolos, K.: Marketing Strategy Typologies in Hungary, in: Beracs, J./Chikan, A. (Eds.): Managing Business in Hungary, An International Perspective, Budapest 1999, S. 202-227. Kuada, J./Serensen, O.J.: Internationalisation ofCompanies from Developing Countries, New York!London 2000. Le Gras, G.; The New New World - The re-emerging markets in South America, London u. a 2002 Marber, P.: From Third World to World Class- The Future of Ernerging Markets in the Global Economy, Reading, Mass. 1998. Miliar, C. C. J. M./Grant, R. M./Choi, Ch. J. (Eds.): International Business- Ernerging Issues and Ernerging Markets, Chippenham, Wilshire 2000.

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Zunehmende Schattenwirtschaft in Deutschland Eine wirtschafts- und staatspolitische Herausforderung Von Friedrich Schneider

I. Einleitung In der Öffentlichkeit wird die Schattenwirtschaft und dessen rapides Anwachsen seit einigen Jahren intensiv diskutiert und es werden unterschiedliche Standpunkte zu den damit verbundenen Herausforderungen eingenommen: Einerseits wird die Meinung vertreten, dass die Schattenwirtschaft zumindest teilweise fiir eine Reihe von wirtschaftspolitischen Problemen (z.B. die Zunahme der Arbeitslosigkeit, der steigenden Staatsverschuldung und der wachsenden Defizite der Sozialversicherungsträger) verantwortlich ist. Andererseits gibt es auch die Auffassung, dass die Schattenwirtschaft einen von Individuen geschaffenen Freiraum darstellt, indem man sich den unberechtigten sowie übermäßig hohen staatlichen Zwängen entziehen kann. Andere Wissenschaftler fUhren das Argument ins Feld, dass zumindest ein Teil des wirtschaftlichen Wohlstandes der Schattenwirtschaft zu verdanken sei, insbesondere in Ländern wie z.B. Italien, in denen die Schattenwirtschaft ein Ausmaß von weit über 25 % vom amtlich erfassten Bruttoinlandsprodukt (BIP) erreicht hat. In diesem Beitrag soll daher die Frage diskutiert werden, ob die Schattenwirtschaft per se fiir einen Staat bzw. ftir die Wohlfahrt der Bürger ausschließlich negative Folgen hat, ob man ihr auch gute Seiten abgewinnen kann und wie auf die Herausforderungen zu reagieren ist.

II. Entwicklung und Umfang der Schattenwirtschaft Bevor das Ausmaß der Entwicklung der Schattenwirtschaft (auch Schwarzarbeit genannt) in Deutschland, und im Vergleich dazu auch in Österreich und der Schweiz dargestellt wird, sei zunächst kurz darauf eingegangen, was Schattenwirtschaft überhaupt ist. Die meisten Sozial- und Wirtschaftswissen-

572

Friedrich Schneider

schaftler verwenden folgende Arbeitsdefinition von Schattenwirtschaft, der sich auch in diesem Beitrag angeschlossen wird: Schwarzarbeit sind zum einen "schwarz" geleistete Stunden, bei denen weder Sozialversicherungsabgaben noch Steuern abgefiihrt und häufig Arbeitsmarkt- und andere Gesetze verletzt werden. Der Schattenwirtschaft werden auch jene Tätigkeiten zugerechnet, die in dem Sinne der Konvention der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung eine Wertschöpfung darstellen, in den bestehenden amtlichen Statistiken aber nicht (oder nur zum Teil) ausgewiesen werden. Nach dieser Definition wird die gesamte in privaten Haushalten geleisteten Produktion und/oder Eigenarbeit (Doit-yourselt) und die freiwillige Arbeit fiir wohltätige Zwecke ausgeschlossen. Ebenso werden rein finanzielle Transaktionen, die keine Wertschöpfung darstellen, nicht zur Schattenwirtschaft gezählt. Wie in Tabelle I aufgefilhrt ist, wird die Schattenwirtschaft in Deutschland voraussichtlich auch 2002 weiter zunehmen. Während man fiir das offizielle BIP einen Zuwachs von etwa I ,0 % erwartet, wird die informelle Wirtschaft um 3,5 % zunehmen. Die Schattenwirtschaft wird damit voraussichtlich 3-4mal schneller wachsen als die offizielle Wirtschaft. Das Volumen der Schattenwirtschaft wird im Jahr 2002 in Deutschland auf 350,4 Mrd. Euro geschätzt, das entspricht einem "Rekordanteil" von I6,49 % des offiziellen BIP. Betrug die Schattenwirtschaft im Jahr I975 noch 5,75% des BIP, so hat sie sich bis zum Jahr 2002 nahezu verdreifacht. Dies zeigt, dass im langfristigen Trend die Schattenwirtschaft sicherlich der am stärksten wachsende "Wirtschaftszweig" in Deutschland ist. Ähnliche Ergebnisse erzielt man fiir Österreich und die Schweiz. Betrug die Schwarzarbeit in Österreich im Jahr I975 2,04 % des offiziellen BIP, so wird sich dieser Wert im Jahr 2002 auf 10,69% erhöhen und in der Schweiz betrug sie im Jahr I975 3,20 % in des offiziellen BIP und dieser Wert wird bis zum Jahr 2002 auf9,48% ansteigen.

111. Die Größe der Schattenwirtschaft nach Branchen In Tabelle 2 ist die Aufteilung der Schattenwirtschaft nach Wirtschafts- und Dienstleistungssektoren dargestellt. Hierbei erkennt man, dass das Baugewerbe und Handwerksbetriebe (inkl. Reparaturen) mit 38% vom Gesamtvolumen der Schattenwirtschaft oder I33,2 Mrd. € mit Abstand die größte "Schattenwirtschafts-" Branche darstellt. Danach folgen andere Gewerbe und Industriebetriebe, sowie Dienstleistungsbetriebe mit je I7 % oder 59,6 Mrd. €. Die Unterhaltungs- und Vergnügungsbranche erreicht eine Größenordnung von I3 % vom gesamten Schattenwirtschaftsvolumen oder 45,6 Mrd. €. Die sonstigen Gewerbebetriebe und Dienstleistungen (und dies ist die Schattenwirtschaft, die sich hauptsächlich in den Haushalten abspielt) erreicht I5 % vom Gesamtvolumen

Zunehmende Schattenwirtschaft in Deutschland

573

der Schattenwirtschaft oder 52,4 Mrd. €. Aus diesem Ergebnis kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass im Baugewerbe und in den Handwerksbetrieben sowie in den Haushalten und sonstigen Dienstleistungsbetrieben der größte Anteil der Schattenwirtschaft in Deutschland zu finden ist.

IV. Internationaler Vergleich Auch im internationalen Vergleich steigt die Schattenwirtschaft in nahezu allen OECD-Staaten stark an. In der Tabelle 3 ist die Größe der Schattenwirtschaft in Prozenten des offiziellen BIP von 21 OECD-Staaten über die Jahre 1989/90-200 I /02 dargestellt. Die Spitzengruppe bilden hier die südeuropäischen Länder Griechenland, Italien und Spanien, bei denen die Schattenwirtschaft ein Ausmaß zwischen 23 und 29 % des offiziellen BIP erreicht hat. Es folgen dann die skandinavischen Länder mit einem Schattenwirtschaftsausmaß von knapp unter 20 %. Deutschland befindet sich in diesem internationalen Vergleich im unteren Drittel neben Australien, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Die Berechnungen des Umfangs der Schattenwirtschaft sind mit dem so genannten Bargeldansatz durchgefiihrt worden. Der Bargeldansatz basiert auf der Idee, dass die in der Schattenwirtschaft erbrachten Leistungen bar entlohnt werden, und dass es mit Hilfe einer theoretisch zu bildenden Bargeldnachfragefunktion gelingt, diese bar-entlohnten Leistungen zu schätzen und das Volumen an Schwarzarbeit zu berechnen. 1

V. Ursachen für das Ansteigen der Schattenwirtschaft Die wesentlichen Ursachen filr dieses weitere Ansteigen der Schwarzarbeit liegen nach Auffassung vieler Experten in der hohen Steuer- und Abgabenbelastung, der sich verschlechtemden Steuermoral, der Verunsicherung in der Steuer- und Sozialversicherungsgesetzgebung (z.B. bei den "630-DM-Jobs"), der Verkürzung der Arbeitszeit ("Rente mit 60") und der zunehmenden Regulierung des Arbeitsmarktes. Die wichtigste Ursache filr die starke Zunahme der Schattenwirtschaft ist ein partielles Versagen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Über die Hälfte der BUrger meint, aufgrund der hohen Steuer- und Abgabenbelastung teilweise auf die Schwarzarbeit angewiesen zu sein. Die Untersu-

1 Diese Methode wird in Schneider ( 1994) und &hneider/Enste (2000a, 2000b), im Detail dargestellt. Darüber hinaus wird in diesen Studien ausführlich sowohl auf die Vor- und Nachteile des Bargeldansatzes als auch auf die anderen Schätzverfahren zur Ermittlung des Ausmaßes der Schwarzarbeit eingegangen.

574

Friedrich Schneider

chung von SchneiderlEnsie (2000 a,bi zeigt z.B., dass alle Versuche der Umverteilung von Arbeit über staatliche geförderte Arbeitszeitverkürzungen (wie z.B. "Rente ab 60") unter Einbeziehung des Wirtschaftszweiges "Schattenwirtschaft" scheitern müssen, insbesondere wenn sie nicht den Wünschen der Arbeitnehmer entsprechen. Neuere Untersuchungen, z.B. des DIW in Berlin3 belegen, dass viele Beschäftigte gerne länger arbeiten wollen. Und wer dies im Licht (offiziell) nicht mehr darf, wandert "in den Schatten" ab und arbeitet schwarz. Erstmals überschreitet deshalb die geschätzte Zahl der "Vollzeitschwarzarbeiter" im Jahr 2000 die Fünf-Millionen-Grenze. Diese auf Basis der Prognose über die Wertschöpfung in der Schattenwirtschaft errechnete Zahl der "Vollzeitschwarzarbeiter" ist natürlich eine fiktive Größe, da die Schwarzarbeiter tatsächlich überwiegend einen offiziellen Beruf ausüben {über zwei Drittel) und deshalb von wesentlich mehr Bürgern ausgeübt wird. Zu der Ziffer kommt man aufgrund der in der Schattenwirtschaft geleisteten Stunden, wenn man diese dann wie in der offiziellen Wirtschaft auf Ganztags-Beschäftigte umrechnet. Aber sie veranschaulicht drastisch, wie wichtig strukturelle Reformen und eine rationale Wirtschaftspolitik sind, die zu einer Verringerung der Steuer- und Abgabenlast und damit zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit und einem Anstieg der Leistungen in der offiziellen Wirtschaft fUhrt. Es gibt in Deutschland nicht zu wenig Arbeit, sondern unter den offiziellen Bedingungen ist die Arbeitskraft "nur" nicht bezahlbar.

VI. Positive Auswirkungen der Schattenwirtschaft Grundsätzlich muss die Frage erlaubt sein, ob es wirklich so ist, dass Schattenwirtschaft nur negative Konsequenzen hat. Sieht man einmal davon ab, dass es sehr umstritten und unklar ist, ob die geforderten härteren Strafen und strengere Kontrollen die Schwarzarbeit tatsächlich wesentlich eindämmen können, so ist ebenso fraglich, ob bei einer erfolgreichen Verminderung der Schwarzarbeit tatsächlich zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Zum einen ist zu bedenken, inwieweit die heute in der Schwarzarbeit Tätigen ihr Arbeitsangebot auch unter den Bedingungen der offiziellen Wirtschaft (z.B. hohe Steuerbelastung, insbesondere auf Überstunden und Zusatztätigkeiten) aufrecht erhalten würden. Zum anderen kann auch bezweifelt werden, ob ein ähnlicher Umfang an Nachfrage nach diesen Leistungen auch zu den dann geltenden Preisen (zwei bis dreimal so teuer wie in der Schwarzarbeit) noch bestünde. Weitere positive Aspekte 2

Vgl. SchneiderlEnsie (2000a, b).

3

Vgl. SchneiderlEnsie (2000a) und die dort genannten Quellen!

Zunehmende Schattenwirtschaft in Deutschland

575

der Schattenwirtschaft liegen darin, dass sich filr die in ihr Arbeitenden ein zusätzlicher Nutzen ergibt, der immerhin größer ist als der Erwartungswert der angedrohten Strafen, da sonst diese Tätigkeiten nicht ausgefilhrt würden. Aber auch gesamtwirtschaftlich sind positive Auswirkungen feststellbar. Für Österreich z.B. hat der Verfasser in mehreren Studien4 gezeigt, dass rund 70 % des in der Schattenwirtschaft erzielten Einkommens wieder in die "offizielle" Österreichische Wirtschaft zurückfließt und dieses zusätzliche Einkommen somit einen sehr bedeutenden Nachfragefaktor darstellt. Des weiteren kann man argumentieren, dass sich die Schattenwirtschaft belebend auf die offizielle Wirtschaft auswirkt, indem sie zu mehr Wettbewerb anregt und Effizienzsteigerungen bewirkt. Auch kann Schwarzarbeit und damit einhergehende Steuerhinterziehung wie eine Steuersenkung auf die "offizielle" Wirtschaft wirken, die zur Stabilisierung oder gar zur Förderung des Wirtschaftswachstums beitragen kann. Die niedrigen Preise schwarz erbrachter Leistungen im Vergleich zu denen in der offiziellen Wirtschaft fUhren zu einer Reduktion des Preisniveaus, und die niedrigen Preise fUhren dazu, dass viele sich einen Lebensstandard leisten können, den sie sich mit dem Einkommen aus der offiziellen Wirtschaft nicht hätten.

VII. Negative Auswirkungen der Schattenwirtschaft All dies bedeutet jedoch indessen nicht, dass ein Anwachsen der Schattenwirtschaft insgesamt positiv zu beurteilen ist. Selbst wenn die behaupteten negativen Auswirkungen nicht in diesem Ausmaß auftreten und die angeftlhrten positiven Effekte tatsächlich bestehen, so gibt es eine Reihe eindeutig negativer Auswirkungen der Schattenwirtschaft. Vor allem zu nennen sind hier die hohen Ausfälle an Steuer- und Sozialversicherungsabgaben. Ob jedoch das rapide Anwachsen der Schwarzarbeit seit Beginn der 70iger Jahre in dem Maße ftlr die wirtschaftspolitischen Probleme wie die steigende Arbeitslosigkeit, die zunehmende Staatsverschuldung oder die Finanzierungskrise der Sozialversicherungssysteme verantwortlich gemacht werden kann, wie es die Aussagen von Politikern, Journalisten und Verbandsvertretern Glauben machen wollen, sei dahingestellt. Neben den Ausfällen an Steuer- und Sozialversicherungsbeiträgen treten jedoch durch das Anwachsen der Schwarzarbeit noch weitere Probleme auf: so werden die amtlichen Statistiken verfälscht (z.B. Überschätzung der Arbeitslosenquote), so dass dadurch die Wirtschaftspolitik, die sich an den amtlichen Statistiken orientiert, unter Umständen fehlgeleitet werden kann. Auch hat die

4

Vgl. Schneider (2001).

576

Friedrich Schneider

Schwarzarbeit unerwünschte Umverteilungseffekte zur Folge: So fließen Transfers von jenen, die offiziell arbeiten, zu denen, die in der Schattenwirtschaft tätig sind, selbst wenn letztere über ein höheres Einkommen als jene in der offiziellen Wirtschaft verfUgen. Auch muss der Staat erhebliche Ressourcen aufwenden, um durch Kontrollen und andere Aktivitäten die Schwarzarbeit einzudämmen, während die in der Schattenwirtschaft Tätigen auch erhebliche Kosten auf sich nehmen, zumindest einen Teil ihrer Aktivitäten zu verbergen. Volkswirtschaftlich gesehen sind jedoch beide Aktivitäten unproduktiv, da die erforderlichen Ressourcen nicht fiir die Produktion von Gütern und Dienstleistungen zur Verftlgung stehen. Die vielleicht wichtigste negative Auswirkung, insbesondere bei einer stark steigenden Schattenwirtschaft, besteht jedoch darin, dass hier in zunehmendem Maße das "bonum comune" in Frage gestellt wird. Das einzelne Individuum scheint um so eher bereit zu sein, schwarz zu arbeiten, je mehr Menschen ihm persönlich als Schwarzarbeiter bekannt sind. Die wachsende Bereitschaft kann zum einen damit zusammenhängen, dass der Einzelne vermehrt über die entsprechenden Möglichkeiten informiert wird, zum anderen auch damit, dass er zunehmend das Gefiihl erhält, es sei unfair, wenn er sein Einkommen (und seine Arbeitsleistung) dem Fiskus gegenüber korrekt angibt, während sich andere ihrer Verpflichtung entziehen. Je mehr sich die Bürger aber über die Steuergesetze hinwegsetzen, desto eher werden sie auch ihre gesetzlichen Vorschriften missachten. Es handelt sich dabei um einen kumulativen Prozess, der im Extremfall bis zur Funktionsuntüchtigkeit der Demokratie und der staatlichen Einrichtungen ftlhren kann, was wesentlich schlimmer als alle oben angesprochenen ökonomischen Schäden durch die unzureichende Nutzung von Wachstums- und Beschäftigungspotentialen wäre.

VDI. Maßnahmen zur Bekämpfung- einmal anders Kontrovers sind natürlich die Ansichten auch darüber, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen richtig sind, um dem Phänomen der ansteigenden Schattenwirtschaft zu begegnen. Grundsätzlich verursacht eine Bekämpfung der Symptome über höhere Strafen und intensivere Strafverfolgung auf beiden Seiten nur mehr Kosten - einerseits höhere Verwaltungskosten ft1r den Staat und andererseits mehr Aufwand und Tricks bei der Verheimlichung bei den Personen, die schwarz arbeiten wollen. Dadurch wird die Wertschöpfung reduziert, da die Leistungen aufgrund der höheren Lohn- und Lohnnebenkosten in der offiziellen Wirtschaft nicht erbracht würden. Notwendig ist daher eine systematische Ursachenbekämpfung.

Zunehmende Schattenwirtschaft in Deutschland

577

Im Folgenden werden einige Vorschläge unterbreitet, wie die ökonomischen Anreize so verändert werden könnten, dass Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft wesentlich weniger attraktiv sind und es sich somit verstärkt lohnt, in der offiziellen Wirtschaft Aufträge zu vergeben bzw. dort nachzufragen.

1. Einführung einer "Schattenwirtschaftspauschale" Die Idee dieser Pauschale ist, das jeder, der eine volle Stelle hat, d. h. bereits einmal daftlr die gesamte Sozialversicherungs- und Steuerlast trägt, in einem bestimmten Ausmaß pro Monat zwischen 300 und 400 Euro zusätzlich Kleinaufträge ausftlhren kann bzw. dazuverdienen darf und hierbei nur mit einem Pauschalsteuersatz von 20 % belastet wird. Dies hätte den Effekt, dass viele, die sich durch Schwarzarbeit zwischen 300 und 400 Euro pro Monat dazu verdienen, wesentlich weniger Anreiz hätten, diese schwarz zu "erledigen", sondern fast die gleiche Summe in der offiziellen Wirtschaft und nun ganz legal verdienen könnten.

2. Staatliche Förderung im Wohnbau nur noch auf den Faktor Arbeit In Deutschland und auch in Österreich werden zur Zeit Wohnbauförderungen vergeben, die ganz bestimmten Förderkriterien unterliegen (Einkommenshöhe, Art des Wohnbaus, etc.). Hier lautet der Vorschlag, diese Förderung nur noch auf den Faktor Arbeit zu gewähren, und zwar hier auf die Differenz zwischen ausbezahlten Arbeitskosten und den Arbeitskosten (brutto, brutto), die der Bauherr auf der Rechnung vorfindet. Dies bedeutet, dass im Ausmaß der Förderung die gesamten Lohnnebenkosten (inkl. Steuerabgaben) mit der Förderung dem Bauherrn rückvergütet würden. Dies hätte den Effekt, dass der Schwarzarbeiter den Bauherren nicht mehr billiger käme, da bei dieser Regelung die Differenz zwischen den Arbeitskosten ftlr den offiziellen Bauarbeiter und dem ausbezahlten Lohn nicht mehr bestünde und der Bauherr damit schon aufgrund der Gewährleistungspflicht eine offizielle Firma mit dieser Leistung beauftragen würde. Damit könnte ein Teil des bisher schwarz erarbeiteten Volumens am Bau ganz legal in die offizielle Wirtschaft überftlhrt werden. Außerdem würde diese Maßnahme dem Finanzminister keinen zusätzlichen Euro an Steuermitteln kosten, im Gegenteil, er könnte durch das gestiegene (offizielle) Auftragsvolumen mit zusätzlichen Steuereinnahmen (indirekte und direkte Natur) rechnen.

578

Friedrich Schneider

3. Befristete Mehrwertsteuervergütung bei arbeitsintensiven Dienstleistungen Ein weiterer Vorschlag wäre, die hohe Mehrwertsteuer von 16 % in Deutschland auf arbeitsintensive Leistungen rückzuvergüten (sog. Luxemburger Modell), um so zumindest einen Anreiz zu schaffen, diese Leistungen verstärkt in der offiziellen Wirtschaft nachzufragen. Hier kann natürlich das Problem von beträchtlichen Steuerausflillen entstehen. Wenn es aber gelingt, zwischen einem Viertel und einem Drittel der bisher schwarz erbrachten Leistungen in die offizielle Wirtschaft zu überftlhren, würden sich die Steuerverluste großenteils wieder ausgleichen. Diese Idee könnte auf bestimmte Bereiche, z. B. Altbausanierung oder im Gaststätten- oder Tourismusgewerbe eingeftihrt werden, also Branchen, die besonders betroffen sind.

4. Kombilohn für Arbeitslose und aus dem Arbeitsleben unfreiwillig Ausgeschiedene Ein weiterer Vorschlag wäre, den Einstieg von Arbeitslosen und aus dem Arbeitsleben (unfreiwillig) Ausgeschiedenen (z.B. früher berufstätige Frauen) in das Arbeitsleben durch einen Kombilohn zu erleichtern. Die Idee ist hierbei, dass, wenn ein Betrieb beispielsweise filnf zusätzliche Beschäftigte einstellt, die eine bestimmte Zeit arbeitslos gemeldet waren, filr diese filr zwei bis drei Jahre die gesamten Sozialkosten vom Staat getragen werden. Hierdurch entstehen keine Mehrbelastungen filr die öffentliche Hand, da diese Sozialversicherungsbeiträge filr Arbeitslose auch vom Staat bezahlt werden müssen. Dieser Kombilohn würde die Arbeitskosten wesentlich reduzieren und würde einen starken Anreiz für Unternehmen bilden, Arbeitslose oder aus dem Berufsleben Ausgeschiedene wieder einzustellen. Damit seitens der Firmen kein Anreiz filr strategisches Verhalten besteht, wäre die Maßnahme damit zu koppeln, dass die Förderung durch den Staat sofort eingestellt würde, wenn eine Firma Beschäftigte entlässt.

IX. Einige politisch-ökonomische Überlegungen Neben den unterschiedlichen inhaltlichen Auffassungen bezüglich Ursachen und Maßnahmen bleibt die Frage bestehen, warum die Politiker außer Symptombekämpfungen - wie z.B. öffentlichkeitswirksame Razzien auf Großbaustellen - keine substantiellen Refonnen zur Verringerung der Anreize zur Schwarzarbeit umsetzen. Einige Antworten versuchen Schneider!Enste zu ge-

Zunehmende Schattenwirtschaft in Deutschland

579

ben5 , indem sie die Interessenlage von Politikern und Vertretern von Verbänden betrachten. Vor dem Hintergrund der Stimmenmaximierung für die Wiederwahl ist es für Politiker sinnvoll, eine Bekämpfung der Schwarzarbeit möglichst glaubwürdig zu suggerieren, ohne jedoch tatsächlich die Chancen zur Einkommenserzielung für ihre potentiellen Wähler zu verringern. Dies ist rational, zumal bei den Bürgern nach neuestenrepräsentativen Umfrageergebnissen aus dem Jahr 1999 das Ausweichen in die Schattenwirtschaft weiter um über II ,4 % (im Vergleich 1997) an Popularität gewonnen hat. Die Steuerzahler meinen, dass über 32,5 % (29 % im Jahr 1997) selber schwarz arbeiten und über 27,7% (25% im Jahr 1997) Schwarzarbeit in Anspruch nehmen. Dies ist ein Zuwachs von über 11 %, wie die neuestenrepräsentativen Umfrageergebnisse (November 1999) zeigen. 6 Eine andere Studie aus diesem Jahr belegt, dass die Bereitschaft zur Schwarzarbeit sogar bei über 50% vorhanden ist. 7 Die (sich verringernde) Steuermoral ist somit eine wichtige Erklärungsvariable für die Zunahme der Schwarzarbeit.

X. Einige Schlussfolgerungen Es ist somit offensichtlich, dass die Schwarzarbeit eine bedeutende wirtschafts- aber auch staatspolitische Herausforderung darstellt. Eine erfolgversprechende Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung der Schwarzarbeit wird, wie dargelegt, an den Ursachen ansetzen müssen: dies sind der zunehmende Druck von Steuern und Abgaben auf den Faktor Arbeit und die zunehmende Regulierung in der offiziellen Arbeitswelt. Höhere Strafen allein bekämpfen nur die Symptome der Schattenwirtschaft, sind unter Umständen teuer und aufwendig und fUhren nicht zum gewünschten Erfolg. Gelingt es mittel- bis langfristig nicht, die hohen Nebenkosten des Faktors Arbeit wieder wesentlich zu verringern, und gelingt es nicht, viele kleine Zusatzarbeiten pauschaliert steuerlich und sozialversicherungsmäßig abzugelten und hierfür hohe Freigrenzen für die schon offiziell in der Wirtschaft Beschäftigten zu schaffen, wird man die Schattenwirtschaft nicht effizient bekämpfen können. Darüber hinaus sollten die vielen Regulierungen und Vorschriften, die sich oft lähmend auf das Wirtschaftssystem auswirken, durchforstet und reduziert werden sowie konsequent reduzierte Sätze der Mehrwertsteuer auf arbeitsintensive Dienstleistungen eingeführt sowie kurzfristig die staatliche Bauförderung nicht mehr auf Sachleistungen angewendet werden.

5

Vgl. hierzu SchneiderlEnsie (2000a, b).

6

Vgl. hierzu Schneider/Ensle (2000a).

7

Vgl. hierzu SchneiderlEnsie (2000a).

580

Friedrich Schneider

All diese Maßnahmen versprechen in der Summe kurzfristig sicherlich keine bedeutende Reduktion der Schattenwirtschaft, insbesondere da das "Abgleiten" in die Schattenwirtschaft viel leichter geschieht als das Zurückziehen aus der Schattenwirtschaft und da in der offiziellen Wirtschaft nicht so schnell Alternativen tur den Einkommensverlust geboten werden. Langfristig gesehen sind aber die vorgeschlagenen Maßnahmen sicherlich erfolgversprechend, die Schattenwirtschaft zu stabilisieren oder gar einzudämmen. Es besteht also nicht ein Mangel an Instrumenten oder Maßnahmen, sondern es fehlt der Wille der verantwortlichen politischen Entscheidungsträger, diese Herausforderungen aufzugreifen und die entsprechenden Maßnahmen gegen zu erwartende Widerstände durch- und umzusetzen. Tabelle 1 Die Größe der Schattenwirtschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz über den Zeitraum 1975 bis 2002- berechnet mit Hilfe des Bargeldansatzes8

Jahr

Größe der Schattenwirtschaft (in %des .. offiziellen" BIP) Deutschland Österreich Schweiz in% in% Mrd.€ in% Mrd. € Mrd.€

29,6 5,75 1975 2,04 0,9 3,20 12 1980 80,2 10,80 2,0 2,69 4,90 14 1985 102,3 11,20 3,9 3,92 4,60 17 1990 147,9 12,20 7,2 5,47 6,20 22 1995 13,90 241,1* 12,4 7,32 6,89 25 14,50 1996 257,6* 8,32 14,6 7,51 27 15,00 1997 274,7* 8,93 8,04 16,0 29 14,80 1998 280,7* 9,09 16,9 7,98 30 301,8* 15,51 9,56 18,2 8,34 1999 32 2000 322,3* 16,03 19,8 10,07 8,87 35 (2001)•• 16,00 329,8* 10,52 21,1 9,28 37,5 (2002)•• 16,49 350,4* 21,8 10,69 9,48 38,7 • An dem Jahr 1995 Werte filr Gesamtdeutschland. •• Prognose bzw. Schätzwert, da die offiziellen Statistiken noch nicht vorliegen. Quelle: Eigene Berechnungen

8 Erläuterungen: Die Größe der Schattenwirtschaft ist zwischen den drei Ländern nur bedingt vergleichbar, da die Bargeldnachfragefunktionen unterschiedlich spezifiziert wurden und nicht die gleiche Anzahl von Ursachen, die filr die Schwarzarbeit verantwortlich sind, enthalten.

Zunehmende Schattenwirtschaft in Deutschland

581

Tabelle 2

Aufteilung der Schattenwirtschaft in Wirtschafts- und Dienstleistungssektoren in Deutschland

Sektor Baugewerbe und Handwerksbetrieb (inkl. Reparaturen) Andere Gewerbe- und Industriebetriebe (Kfz, Maschinen, etc.) Dienstleistungsbetriebe (Hotels, Gaststätten, etc.) Unterhaltungs- und Vergnügungsbranche Sonstige Gewerbebetriebe und Dienstleistungen (Nachhilfe, Friseur, Babysitten) Summe

Aufteilung der Schwarzarbeit in Deutschland Jahr 2002 in% Mrd.€ 38% 133,2

17%

59,6

17%

59,6

13% 15%

45,6 52,4

100%

350,4

Quelle: Eigene Berechnungen

Tabelle 3

Die Größe der Schattenwirtschaft in 21 OECD-Ländern

OECD-Länder l. Australien 2. Belgien 3. Kanada 4. Dänemark 5. Deutschland 6. Finnland 7. Frankreich 8. Griechenland 9. Großbritannien 10. Irland

Die Größe der Schattenwirtschaft (in %des offiziellen BIP) unter Verwendung des Bargeldnachfrageansatzes DurchDurchDurchDurchDurchDurchschnitt schnitt schnitt schnitt schnitt schnitt 1989190 1990193 1994195 1997198 /9991 200// 2000 2002* 10.1 13.0 14.0 13.5 14.3 14.1 19.3 22.5 20.8 21.5 22.2 22.0 12.8 14.8 16.2 13.5 16.0 15.8 10.8 15.0 17.8 18.3 18.0 17.9 11.8 12.5 14.9 13.5 16.0 16.3 13.4 16.1 18.2 18.9 18.1 18.0 9.0 14.5 14.9 13.8 15.2 15.0 22.6 24.9 28.6 29.0 28.7 28.5 9.6 11.2 12.5 13.0 12.7 12.5 11.0 14.2 15.4 16.2 15.9 15.7 Fortsetzung nlichste Seite

582

Friedrich Schneider

Fortsetzung Tabelle 3

22.8 24.0 26.0 11. Italien 10.6 9.5 8.8 12. Japan 13.7 13. Niederlande 11.9 12.7 9.2 9.0 11.3 14. Neuseeland 15. Norwegen 14.8 16.7 18.2 16. Österreich 6.9 7.1 8.6 17.2 22.1 17. Portugal 15.9 17.0 19.5 18. Schweden 15.8 19. Schweiz 6.7 6.9 7.8 22.4 16.1 17.3 20. Spanien 8.2 8.8 21. USA 6.7 Ungewichteter Durch14.3 15.7 13.2 schnitt über 21 OECD Länder • Vorläufige Werte nach eigenen Berechnungen

27.3 11.1 13.5 11.9 19.6 9.0 23.1 19.9 8.1 23.1 8.9

27.1 11.2 13.1 12.8 19.1 9.8 22.7 19.2 8.6 22.7 8.7

27.0 11.1 13.0 12.6 19.0 10.6 22.5 19.1 9.4 22.5 8.7

16.7

16.8

16.7

Quelle: Eigene Berechnungen

Literatur Schneider, Friedrich: Arbeit im Schatten: Einige theoretische und empirische Überlegungen über die Schattenwirtschaft, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Band 2, Heft 4, 2001. -

Determinanten der Steuerhinterziehung der Schwarzarbeit im internationalen Vergleich, in: Smekal, Ch./Theurl, E. (Hrsg.), Stand und Entwicklung der Finanzpsychologie, Baden-Baden 1994, S. 247-288.

Schneider, Friedrich/Enste, Dominik: Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit: Umfang, Ursachen, Wirkungen und wirtschaftspolitische Empfehlungen, München 2000a. -

Shadow Economies: Size, Causes and Consequences, Journal of Economic Literature 38/1, März2000b, S. 77-114.

Die Rolle des Menschen in dezentralen PPS-Systemen Von Hubert Missbauer

I. Persönliche Bemerkungen Mein hauptsächliches Arbeitsgebiet sind die Planungskonzepte und -methoden der operativen Produktionsplanung und -Steuerung (PPS). Die diesbezügliche Forschungstradition ist stark formal orientiert, und diese aus dem Operations Research kommenden Arbeiten nehmen vordergründig wenig Bezug auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse. Auf Initiative des Jubilars hatte ich, zunächst während meines Doktoratsstudiums und im Weiteren durch mehrmalige Teilnahme am Europäischen Forum Alpbach, die Gelegenheit zu einer interdisziplinären, stärker sozialwissenschaftliehen Sicht auf dieses Thema. Dies hat mir wesentlich geholfen, die lmplikationen von Produktionsstrukturen fiir die arbeitenden Menschen, vor allem aber auch die Notwendigkeit der Integration des Fachwissens der Beschäftigten in die Planungs- und Steuerungssysteme, besser zu verstehen. Dieses Bemühen zu einer umfassenderen Sichtweise und auch die Erfahrungen aus Praxisprojekten haben mich davon überzeugt, dass Planungsund Steuerungssysteme im Fertigungsbereich nur dann zufrieden stellende Ergebnisse bringen, wenn sowohl die formale Planungslogik als auch die Einbindung der Beschäftigten in die Entwicklung und Gestaltung dieser Systeme funktioniert. In diesem Beitrag werden einige wichtige Erkenntnisse über PPSSysteme unter diesem Aspekt dargestellt. Widmen möchte ich diesen Beitrag in Dankbarkeit dem Jubilar, Herrn Kollegen Zapotoczky, durch den ich zahlreiche Anregungen ftlr meine wissenschaftliche und auch persönliche Entwicklung erhalten habe. Im Zuge meines Doktoratsstudiums und des Europäischen Forum Alpbach konnte ich ihn persönlich kennen lernen und bin beeindruckt von seinem umfassenden Wissen sowie vom Engagement, mit dem er dieses Wissen weitergibt, sowohl direkt als akademischer Lehrer als auch durch die Eröffuung von Kontakten zu Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Institutionen. Akademische Ausbildung ist mehr als die Vorbereitung auf eine berufliche Tätigkeit. Sie soll eine umfassen-

Hubert Missbauer

584

de Sichtweise vermitteln, auch und gerade auf die Fragen unseres Zusammenlebens. Der Jubilar hat mir diese Perspektive immer wieder vermittelt und jungen Menschen einen tiefen Einblick in die faszinierende wissenschaftliche Welt ermöglicht. Ich möchte ihm herzlich gratulieren und die besten Wünsche filr die Zukunft damit verbinden.

II. Einführung Die industrielle Produktion ist nicht nur ein wichtiger Sektor der Wirtschaft und damit entscheidend für unseren Lebensstandard, sondern auch ein wesentlicher Lebensbereich filr die dort Beschäftigten 1• Nachdem die Gestaltung der Arbeitsplätze und Arbeitsinhalte bekanntermaßen die Leistungsfiihigkeit und -bereitschaft der Beschäftigten beeinflusst, müssen diese beiden Aspekte der Produktion als interdependent betrachtet werden. Produktionssysteme sind unterschiedlich gestaltbar, sowohl was ihre (taktische) Auslegung betrifft (Kapazität, Fertigungsstruktur usw.) als auch bezüglich der Konzepte und Methoden zur kurzfristigen Lenkung der Material- und Warenströme in diesen Systemen (Produktionsplanung und-Steuerung-im Folgenden mit PPS abgekürzt). Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem letztgenannten Bereich und geht davon aus, dass eine Dezentralisierung von PPSAufgaben, also eine Verlagerung planender und steuernder Aufgaben in die Fertigung bei gleichzeitig effizienter Koordination durch eine zentrale, den gesamten logistischen Prozess übergreifende Planung, auch in Zukunft ein häufiges und tragfiihiges Konzept sein wird. Auf dieser Basis wird die Frage untersucht, welche Implikationen dieses Konzept filr den arbeitenden Menschen in seiner Rolle als dispositiv Tätigen hat. Nachdem die operative PPS weitgehend durch mathematische Entscheidungsmodelle unterstützt werden kann, geht es auch um die Frage, wo sich diese Rolle des Menschen in den Modellen und der entsprechenden Planungssoftware wiederfindet und wie ein besseres Zusammenwirken zwischen mathematischen Entscheidungsmodellen und menschlichen Entscheidungsträgem bzw. Disponenten erreichbar ist.

m.

Aufbau dezentraler PPS-Systeme

Im Folgenden betrachten wir primär die Fertigungsindustrie, in der mehrteilige Produkte in einem mehrstufigen Produktionsprozess erzeugt werden, wobei unterschiedliche Produkte bzw. Komponenten wechselweise auf den gleichen

1

Dazu Zapotoczky 1996.

Die Rolle des Menschen in dezentralen PPS-Systemen

585

Kapazitätseinheiten gefertigt werden. Dieser Fertigungstyp ist sehr häufig (z.B. Autoindustrie, Maschinenbau, Elektroindustrie usw.). Die Anzahl der Fertigungsstufen ist mindestens zwei (Teilefertigung und Montage, wobei jede Stufe wiederum eine Reihe von Arbeitsoperationen umfasst), oft auch höher (z.B. verformende Rohteilefertigung, wie etwa das Pressen von Karosserieteilen, oder Aggregatemontagen vor der eigentlichen Endmontage). Die Festlegung der Fertigungsstruktur kann gemäß unterschiedlicher Prinzipien erfolgen, wobei als Bewertungskriterien für Strukturkonzepte nicht nur rechenbare Größen heranzuziehen sind (Kosten, Durchlaufzeiten, Bestände usw.), sondern auch die Wirkungen alternativer Strukturen auf das Personal (arbeitsorganisatorische Spielräume, Möglichkeit zur Festlegung durchgängiger Verantwortungsbereiche usw.)2 • Die Komplexität des Systems ist oft erheblich; als Mengengerüst seien etwa eine unüberblickbare Anzahl an unterschiedlichen Endproduktvarianten, einige zehntausend Komponenten, einige hunderttausend Arbeitsvorgänge und einige hundert Betriebsmittel als Größenordnung genannt. Dabei können bereits bei einzelnen Anlagen oder Anlagengruppen die Arbeitsabläufe eine hohe Komplexität annehmen und deren Beherrschung sehr spezifisches Wissen erfordern (z.B. flexible Fertigungssysteme in der Fertigungsindustrie, Stranggießanlagen in Stahlwerken). Die operative (kurzfristige) PPS, also die Lenkung der Materialströme bei gegebenem Aufbau des Fertigungssystems, kann im Prinzip zentral oder dezentral erfolgen.3 Dabei bieten sich als Mittel zur Komplexitätshandhabung bzw. -reduktion dezentrale PPS-Systeme an. Diese sind dadurch charakterisiert, dass die detaillierte Planung des Fertigungsablaufs in den Fertigungsbereichen dezentral in diesen Bereichen (auf Meister- bzw. Disponentenebene) durchgefilhrt wird. In einem solchen dezentralen PPS-System werden die unterschiedlichen Bereiche der Fertigung (Montage, Teilefertigung, aber auch vorbereitende Bereiche wie etwa die Konstruktion) als eigenverantwortliche Einheiten gesehen, von denen gewisse Leistungen gefordert werden (z. B. die Fertigstellung bestimmter Aufträge zu bestimmten Terminen), jedoch ist es der autonomen Entscheidung z. B. der Meister bzw. Disponenten in diesen Bereichen überlassen, wie der Arbeitsablauf im Detail geplant wird. Wir verwenden im Weiteren den Terminus Fertigungseinheit, um den Aspekt der Erbringung abgegrenzter Leistungen ("self-containedness") sowie der relativen Autonomie wiederzugeben. Diese Konzeption des Planungssystems filhrt damit zu einer Aufteilung des gesamten Planungsproblems in zwei hierarchisch angeordnete Planungsebenen, nämlich

2 3

Zu Strukturierungsprinzipien und Bewertungskriterien vgl. Henn/Kühn/e 1996. Vgl. Zäpfe/IMissbauer 1987.

586

Hubert Missbauer



zentrale (logistische) Planung des gesamten Materialflusses (bereichsübergreifend) auf aggregierter Basis, d.h. ohne Betrachtung des genauen Fertigungsablaufs in den Fertigungseinheiten,



dezentrale Planung des Fertigungsablaufs in den Fertigungseinheiten entsprechend den Vorgaben der übergeordneten logistischen Planung.

Aufgabe der zentralen Planungsstelle ist die Beaufiragung der Fertigungseinheiten, d.h. die Festlegung, •

welche Aufträge (nach Produktart und Menge),



bis zu welchem Termin von den Fertigungseinheiten fertigzustellen sind, und



zu welchem Zeitpunkt die Steuerung des Materialflusses fiir die einzelnen Aufträge von der zentralen Planungsstelle an die dezentralen Planungsstellen übergeht (Aufiragsfreigabe). Die Struktur eines solchen Systems ist in Abb. I dargestellt.

Zentrale Planungsstelle

RohmaterialIager

Rohleifelager

Teilelager

Baugruppenlager

EnderzeugnisIager

Beschaffung

_,..

Materialfluß

~

StellgrOßen

--+

Regelgrößen

Abbildung I: Struktur eines dezentralen PPS-Systems

Ein solches Planungssystem ist nur dann funktionsflihig, wenn die von der zentralen Planungsstelle vorgegebenen Stellgrößen bzw. Produktionsvorgaben vorweg aufihre Realisierbarkeit geprüft werden, d. h. die Wirkungen dieser Vorgaben auf die Fertigungseinheiten bzw. auf die Regelgrößen, die die Systemzustände in den Fertigungseinheiten ausdrücken (Durchlaufzeiten, Bestände usw.),

Die Rolle des Menschen in dezentralen PPS-Systemen

587

sind zu antizipieren. Die zentrale Planungsstelle muss daher über entsprechende Modelle der Fertigungseinheiten verfUgen, die eine solche Antizipation erlauben, und mit diesen Modellen befassen wir uns im Weiteren.

IV. Modelle von Fertigungseinheiten in dezentralen PPS-Systemen Die Beauftragung bzw. Auftragsfreigabe ist so durchzufilhren, dass die Systemzustände in den Fertigungseinheiten (bzw. die diese ausdrückenden Regelgrößen) innerhalb der Sollwerte bleiben. Dabei ist zunächst die Fertigungsdurchlaufzeit (Zeit zwischen Freigabe und Fertigstellung eines Auftrages) relevant: Wenn vorweg bekannt ist, innerhalb welcher Zeitspanne die Fertigstellung eines freigegebenen Auftrags erwartet werden kann bzw. gewährleistet werden muss, ist eine einwandfreie Koordination der beiden Planungsebenen möglich. Damit haben wir der Frage nachzugehen, wie und innerhalb welcher Grenzen die Fertigungsdurchlaufzeiten zuverlässig antizipiert werden können. Der genaue Fertigungsablauf innerhalb der Fertigungseinheit ist zum Zeitpunkt der Auftragsfreigabe noch unbekannt. Damit ist die Fertigungseinheit sinnvollerweise als stochastisches System zu modellieren, womit die Theorie der Warteschlangennetzwerke die relevante Basis filr die Modeliierung bildet. Warteschlangentheoretische Modelle erlauben die Berechnung der wichtigsten Kenngrößen von Warteschlangensystemen bzw. -netzwerken (und damit auch von Fertigungssystemen, die als solche modelliert werden), wie etwa mittlere Bestände, Durchlaufzeiten, Produktionsraten usw. Dabei beschränkt man sich meist auf stationäre Systemzustände, filr die bereits umfangreiche Forschungsergebnisse vorliegen. Trotz großer Fortschritte auf diesem Gebiet sind exakte Resultate oder ausreichend genaue Näherungen nur bei Einhaltung bestimmter, häufig restriktiver Annahmen zu erhalten. Erscheinen die Annahmen nicht vertretbar, so greift man häufig auf die Simulation zurück. Für die uns interessierende Frage der Planung von Beauftragung bzw. Auftragsfreigabe ergibt sich aus diesen Modellen folgende wesentliche Erkenntnis: Im stationären (eingeschwungenen) Zustand stehen die drei wichtigsten Leistungskenngrößen des Systems, nämlich mittlerer Bestand, mittlere Durchlaufzeit und mittlere Leistung, in einer funktionalen Beziehung. Betrachtet man den mittleren Bestand an unfertiger Arbeit in der Fertigungseinheit als unabhängige Variable (er ist durch Freigabe von Aufträgen direkt beeinflussbar), so ergeben sich die in Abb. 2 dargestellten Funktionen (Betriebskennlinien). Simulationsstudien bestätigen diese Zusammenhänge filr reale Fertigungssysteme. 4 4

Vgl. Wiendah/1997.

588

Hubert Missbauer

rnitt l. DLZ 5

Auslastun g 1 0.8 0.6 0.4 0.2

4

3 2 1

2

3

4

5

6 7

rn. Bestand

1

2

3

4

5

6

7

rn. Bestand

Abbildung 2: Mittlere Durchlaufzeit und Auslastung als Funktion des mittleren Bestandes filr ein M/M/s Wartesystem mit s=2 Bedienungskanälen

Höhere Bestände bedeuten längere Warteschlangen und -zeiten an den Arbeitssystemen und damit längere Durchlaufzeiten. Gleichzeitig sind diese Warteschlangen Arbeitspuffer, die die Gefahr reduzieren, dass an Arbeitssystemen zeitweilig keine Arbeit verfllgbar ist. Darauf beruht das Konzept der Bestandsregelung: Aufträge sind so freizugeben, dass der Bestand an unfertiger Arbeit in der Fertigungseinheit eine hohe Auslastung gewährleistet, jedoch nicht höher ist als nötig, da sonst hohe Durchlaufzeiten auftreten. Verfahren zur Auftragsfreigabe gemäß dieser Logik gibt es mittlerweile in größerer Zahl. 5 Wird dieser Logik konsequent gefolgt, so ist die oben angesprochene Koordinierungsaufgabe erfllllt: Die zentrale Planung gibt Aufträge in solchem Umfang frei, dass das angestrebte Bestandniveau eingehalten wird. Dafllr ist die Fertigungseinheit angehalten, die zugesagten Werte filr Leistung und mittlere Durchlaufzeit einzuhalten. Eine Erweiterung dieses Gedankens auf zeitlich schwankende Nachfrageverläufe und damit zeitabhängige Bestände und Durchlaufzeiten erhöht die Komplexität beachtlich und steht erst am Anfang.6 Diese Art der Abstimmung setzt voraus, dass das relevante Verhalten der Fertigungseinheit mit hinreichender Genauigkeit bekannt ist (also etwa die Kennlinien von Abb. 2 ermittelbar sind). Diese Kennlinien bilden jedoch nicht nur die technischen Charakteristika der Fertigung ab, sondern auch das menschliche Verhalten, und hier ist filr uns speziell die Rolle des Menschen als Träger einer großen Zahl von Detailentscheidungen relevant: Die Effizienz der Fertigung, in Abb. 2 ausgedrückt etwa als erreichbare Leistung bei gegebenem Bestand, hängt ab von der Qualität der Maschinenbelegungsplanung, dem kurzfristigen Reagieren auf Störungen, der Fähigkeit zur schrittweisen Verbesserung der Arbeitsabläufe usw. Diese Punkte sind durchaus auch bei hochautomatisierten Fertigungssystemen relevant (z.B. Erhöhung der Produktivzeit durch das dezentrale Management kleiner Störungen, geschickte Reihen5

Zum Überblick vgl. Bergomaschiet al. 1997.

6

Missbauer 2002.

Die Rolle des Menschen in dezentralen PPS-Systemen

589

folgeplanung zur Verlagerung lang laufender Aufträge in mannarme Schichten). Auch in der Stahlerzeugung ist es interessant, das Reagieren bzw. Improvisieren der Disponenten zu beobachten, mit dem dieser hochempfindliche, durch eine große Zahl technischer Restriktionen gekennzeichnete Fertigungsprozess trotz Störungen (Verzögerungen, Temperaturprobleme, Auftragsänderungen) am Laufen gehalten wird. Hier ist das Reagieren und damit das Fachwissen der Mitarbeiter vor Ort unverzichtbar, was auch eine entsprechende Flexibilität des Planungssystems erfordert, beispielsweise durch umfangreiche Eingriffsmöglichkeiten der Disponenten in den Planungsprozess im Rahmen eines Mensch-Maschine-Dialogs. 7 Ein zu rigides Planungssystem kann erhebliche negative Effekte verursachen. 1 Die daraus resultierende Erkenntnis ist die starke Verschränkung von ausführender und dispositiver Arbeit, was erhebliche Implikationen auf das bei der Gestaltung des Planungssystems unterstellte Menschenbild hat. 9 Diese große Bedeutung des Entscheidungsverhaltens der Fertigungsdisponenten sowie generell der Mitarbeiter in der Fertigung fUhrt zu drei Fragen: I.

Mit Hilfe welcher Methoden können die Leistungskenngrößen antizipiert bzw. sinnvolle Vorgaben gesetzt werden? (z.B. ein "richtiges" Bestandniveau- häufig eine umstrittene Frage)

2.

Inwieweit eignen sich mathematische Modelle unter diesem Aspekt zur Modeliierung von Fertigungseinheiten?

3.

Mit Hilfe welcher Anreizsysteme kann eine effiziente Detailplanung in den Fertigungseinheiten am besten erreicht werden?

Obwohl eine umfassende Antwort auf diese Fragen noch umfangreicher Forschungen bedarf, kristallisieren sich doch einige Grundzüge bezüglich der beiden erstgenannten Punkte (auf die wir uns hier beschränken) heraus. Zunächst ist zu akzeptieren, dass man die Abläufe in Fertigungssystemen, die komplexe soziotechnische Systeme darstellen, im Regelfall nicht vollständig versteht und damit jede Modeliierung an Grenzen stößt. Die analytischen oder Simulationsmodelle, welche die Kennlinien gemäß Abb. 2 liefern, unterstellen Prämissen, die nur in begrenztem Umfang ermittelt und getestet werden können. Um diese Problematik zu umgehen, ist auch eine Ermittlung der Kennlinien durch regressionsanalytische Auswertung empirischer Daten mög-

7 Beschreibung eines derartigen Planungssystems filr ein Stahlwerk in Diaz et al. 1991.

1 9

Vgl. dazu den "Misserfolgsbericht" von Paul 1915. Dazu Zapotoczky 19%.

590

Hubert Missbauer

lieh, wobei auf eine Kenntnis der Charakteristika von Ankunfts- und Abfertigungsprozess, die hinter diesen Kennlinien stehen, verzichtet werden kann. Abgesehen von den möglicherweise stark "verrauschten" empirischen Daten 10 bleibt dann jedoch unklar, ob die so ermittelten Kennlinien nur den realen oder auch einen zufriedenstellenden Zustand der Fertigung wiederspiegeln. Es handelt sich hier um ein typisches Problem beim Umgang mit komplexen Systemen: Eine zuverlässige Prognose der Konsequenzen eines Eingriffs (z.B. Bestandssenkung) ist nicht möglich; das Management verfUgt nicht über ausreichendes Wissen. 11 Eine Möglichkeit zur Handhabung dieses Problems ist ein inkrementales Vorgehen: Die Bestände werden gesenkt, bis Probleme erkennbar werden (Gefahr des Einbruchs der Auslastung als Folge der Unterschreitung des kritischen Bestandsniveaus). Diese Probleme treten an bestimmten Schwachpunkten auf, die damit sichtbar werden (störanfllllige Prozesse, unabgestimmte Kapazitäten usw.; "Bestände verdecken Fehler''). Sofern die Beseitigung dieser Ursachen gelingt, hat sich die Lage der Kennlinie verändert (geringerer Bestand bei gegebener Auslastung). Dieser schrittweise Prozess wurde in der Literatur zum Just-in-Time-Konzept vielfach beschrieben. Gerade der kontinuierlichen Verbesserung ("kaizen") unter starker Betonung der Lösungskapazität der Mitarbeiter vor Ort wird heute große Bedeutung beigemessen.

V. Schlussfolgerungen Wir haben bisher die große Bedeutung dezentraler Entscheidungen beschrieben sowie die daraus resultierenden Modellierungsprobleme und die daraus folgende Interdependenz zwischen Gestaltung bzw. Verbesserung und ModelIierung der Fertigung. Für die operative PPS ergeben sich daraus zwei wesentliche Folgerungen: I.

Mathematische Planungsmodelle dürfen nicht unkritisch einen (möglicherweise mangelhaften) Ist-Zustand abbilden, sondern sollen von einem erreichbaren Soll-Zustand ausgehen.

2.

Die Ermittlung dieses Soll-Zustands setzt eine Interaktion des Managements mit den Fertigungseinheiten voraus. Obwohl Grundzüge dieser Abstimmungsprozesse einer mathematischen Modeliierung durchaus zugänglich sind, handelt es sich in der Realität doch um komplexe Abstimmungsprozesse, die häufig eine Kenntnis und Berücksichtigung auch der sozialen

10

Vgl. Fine!Graves 1989.

11

V gl. Malik 1992, S. 36 ff. und 63 ff.

Die Rolle des Menschen in dezentralen PPS-Systemen

591

Struktur innerhalb der Fertigungseinheiten erfordern sowie eine realistische Einschätzung, welche Qualität des Fertigungsablaufs durch die Mitarbeiter vor Ort erreichbar ist und wo die Grenzen liegen. 12 Auch die Verschränkung mit dem betrieblichen Anreizsystem wird hier deutlich. Die genannten Faktoren filhren somit dazu, dass die filr die Erstellung von Produktionsvorgaben entscheidende Modeliierung der Fertigungseinheiten in einen komplexen Abstimmungsprozess eingebunden sein muss, an dessen Ende gemeinsam getragenen Normen filr die Leistungskenngrößen der Fertigungund damit filr die Leistung der Mitarbeiter, auch in deren Rolle als Entscheidungsträger - stehen. Der erfolgreiche Praxiseinsatz mathematischer Entscheidungsmodelle in fertigungsnahen Bereichen der PPS erfordert daher die Integration der relevanten sozialwissenschaftliehen Erkenntnisse zur Festlegung und Implementierung dieser Nonnen. Nachdem durch die aktuellen Entwicklungen am Softwaremarkt mathematische Planungsmodelle im PPS-Bereich filr Unternehmen immer leichter zugänglich werden 13 , kommt Forschungsarbeiten zur Integration formaler Planungsmodelle in die komplexen Problemlösungsprozesse innerhalb des soziotechnischen Systems Fertigung eine hohe Priorität zu.

Literatur Bergamaschi, D./Cigolini, R./Perona, M./Portoli, A.: Order review and release strategies in ajob shop environment: A review and a classification. In: International Journal ofProduction Research, Vol. 35, 1997, S. 399-420. Diaz, A./Sancho, L./Garcia, R./Larraneta, J.: A dynamic scheduling and control system in an ENSIDESA steel plant, in: Interfaces, Vol. 21, 1991, S. 53-62. Fine, C. H./Graves, S. C.: A tactical planning model for manufacturing subcomponents of mainframe computers. In: Journal of Manufacturing and Operations Management, Vol. 2, 1989, S. 4-34.

12 Diese Erkenntnis rückt die Bedeutung produktionsnaher Führungskräfte (z.B. Meister) in den Vordergrund, mit denen die Produktionsvorgaben vereinbart werden und die diese Vorgaben gegenüber der Mannschaft vertreten. Dem Tätigkeitsprofil solcher Führungskräfte, ihren Karrieremöglichkeiten sowie den Kriterien für ihre Akzeptanz durch die verschiedenen Hierarchieebenen kommt daher erhebliche Bedeutung zu (vgl. ausfilhrlicher Fuchs-FrohnhoferlHenning 1997). 13 Hier ist vor allem an die modernen Advanced Planning Systems zu denken; vgl. Stadtler/Kilger 2000.

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Hubert Missbauer

Fuchs-Frohnhofen, P./Henning, K. (Hrsg.): Die Zukunft des Meisters in modernen Arbeits- und Produktionskonzepten, Band I, München/Mering 1997. Henn, G./Kühnle, H.: Strukturplanung, in: C. Eversheim/G. Schuh (Hrsg.): Betriebshütte -Produktion und Management, Berlin/Heidelberg/New York 1996, S. 9-57. Malik, F.: Strategie des Managements komplexer Systeme, Bern/Stuttgart/Wien 1992. Missbauer, H.: Aggregateorderrelease planning for time-varying demand, in: International Journal ofProduction Research, Vol. 40, 2002, S. 699-718. Paul, R. L.: An exercise in finite loading, in: Journal of Systems Management, March 1975, s. 7-9. Stadtler/Kilger, C. (eds.): Supply Chain Management and Advanced Planning, Berlin et al. 2002. Wiendahl, H.-P.: Fertigungsregelung, Milnchen/Wien 1997. Zäpfe/, G./Missbauer, H.: Produktionsplanung und -Steuerung filr die Fertigungsindustrie - ein Systemvergleich, in: Zeitschrift filr Betriebswirtschaft Jg. 57, H.9, 1987, s. 882-900. Zapotoczky, K.: Menschengerechte Arbeitswelt- Herausforderung eines permanenten Projekts, in: Bogensberger, H.; Zapotoczky, K. (Hrsg.): Menschengerechte Arbeitswelt, Berlin 1996.

Standards für Feasibilitystudien Von Karl Greyer

I. Vorwort Angesichts der Vielzahl und der Größe von Investitionen in der Europäischen Union und den neuen Beitrittsländern - im privaten, Unternehmerischen und auch öffentlichen Bereich - und der damit verbundenen, ebenfalls immer größer werdenden Problematik von Fehlinvestitionen oder nicht ausreichend optimierten Projekten, gewinnt die Systematik der Ausarbeitung von Feasibilitystudien immer mehr an Interesse, Aktualität und Bedeutung. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Qualität der Investitionsstudien oft nicht mit den Anforderungen fiir eine sorgfliltige Vorbereitung von Investitions-, Finanzierungsund Förderungsentscheidungen Schritt gehalten haben. Es scheint daher an der Zeit, darüber nachzudenken, ob nicht insgesamt eine Strategie zieltllhrender wäre, Standards tllr Investitionsstudien zu formulieren, zu veröffentlichen und anzuwenden, mit dem Ziel, dadurch einen Beitrag zu leisten und ein Vehikel zu schaffen, um einer oftmals unnotwendigen Vernichtung von Kapital und Ressourcen vorzubeugen. "EUSIS", das Europäische Institut tllr Standards von Investitionsstudien mit Sitz in Wien hat diese Aufgabe wahrscheinlich als erstes Institut auf der Welt in Angriff genommen. Herr Univ.-Prof. Dr. Klaus Zapototzky beschäftigt sich in seiner Tätigkeit auch mit Gesundenvorsorge und Entwicklung. Hier sehe ich unter Bezugnahme auf viele mit ihm geftlhrte persönliche Gespräche - eine besonders starke Brücke und Verbindung zum Thema "Standards tllr Feasibilitystudien", da diese Standards - als eine Art zukunftsorientiertes Radar besonderer Art - im Rahmen einer ganzheitlichen Gesundenvorsorge tllr Projekte und Unternehmen etc. große Bedeutung und Wirkungsgrad haben. Mit dieser von bereits vielen Institutionen, Praktikern, Wissenschaftlern, u.a. auch von Herrn Univ. Prof. Dr. Klaus Zapototzky unterstützten Initiative soll ein neuer Diskussionsprozess in die richtige Richtung - auch im Hinblick auf Basel II - in Gang gesetzt werden und auch das nachgefragte notwendige,

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Karl Greyer

streng zweckorientierte Werkzeug (mit Inhalt und Umsetzung) geschaffen werden.

II. Standards Die Problematik von Feasibilitystudien wird in Europa bereits vielfach diskutiert. Es macht wenig ökonomischen Sinn, wenn jede Institution ihren eigenen Aufbau der Feasibilitystudien fixiert, denkt man hiebei auch an die beträchtlichen Kosten und möglichen Informationslücken, die damit insbesondere in der Zukunft verbunden sind. Für gute Standards besteht ein hoher Bedarf Sie sind notwendig, um auf effiziente Weise und breiter Basis Feasibilitystudien mit hoher Qualität zu garantieren. Sie erleichtern den Entscheidungsprozess fllr das Investment, geben mehr Sicherheit, Ideen und Potenziale, können rascher erfolgreich umgesetzt werden; sie ilirdern damit das Wirtschaftswachstum. Internationale Standards fllr Feasibilitystudien sind zukunftsorientiert besonders wertvoll nicht nur innerhalb der Europäischen Union, sondern auch fllr Investitionen in den neuen Beitrittsländern zur Europäischen Union und in den Entwicklungsländern. Feasibilitystudien verlieren an Bedeutung und Glaubwürdigkeit, wenn z.B. die Informationen und Daten (Datenpool) ungenügend oder oberflächlich erhoben sind oder in den einzelnen Ländern auf unterschiedlichen betriebs- und volkswirtschaftlichen Begriffen (wie Gewinn, Cashflow, Gesamtinvestitionskosten, Betriebskosten, Workingcapital, direkte und indirekte Effekte auf Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen, Schatteneffekte etc.) aufsetzen. Mit der Erstellung von Standards von Feasibilitystudien sind im Hinblick auf die hohen Investitionsquoten und den damit verbundenen fmanziellen Risken verhältnismäßig geringe Kosten verbunden, da bereits auf beträchtliche Ressourcen und vorhandenes know-how zurückgegriffen werden kann; abgesehen von einer Uniformität wäre es unökonomisch, wenn jedes Land bzw. sogar Institution ein eigenes Verfahren entwickelt bzw. favorisiert. Auch haben Cross-Border Transaktionen eine beträchtliche Höhe erreicht; diese werden im Zusammenhang mit der laufenden Globalisierung weiterhin rasch zunehmen. Es besteht daher dringlicher und hoher Bedarf zur Messung und Evaluierung der Vor- und Nachteile einzelner Investments und Engagements und deren Alternativen. Im Rahmen der Erarbeitung der Standards soll insbesondere auch auf große Konvergenz Wert gelegt werden; ein wechselseitiger Austausch von Erfahrungen, Anregungen und bereits Bestehendem sowie besondere Anstrengungen bei

Standards flir Feasibilitystudien

595

der Zusammenarbeit sind gefragt. Jedenfalls sind die Erfahrungen der nationalen und branchenmäßigen Standardsetter mit heranzuziehen. Der jeweils beste Standard (auch Teilstandard) muß in Abstimmung auf das Gesamtkonzept übernommen werden. Falls zu Problemen kein hinreichender Standard vorhanden ist, soll rasch ein qualitativ hochwertiger Standard entwickelt werden. Kasuistische Lösungen werden in diesem Zusammenhang zu vermeiden sein. Es soll ein prinzipienorientierter Ansatz gefunden werden, wobei auch tragflihige Kompromisslösungen eingebunden werden müssen. Neben der inhaltlichen Verbesserung bestehender Grundsätze ist formale Durchsetzung und Kontrolle der Anwendung ein wesentlicher Erfolgsfaktor auf dem Weg zu international anerkannten Standards fUr Feasibilitystudien. Standards können noch so gut sein, wenn ihre Anwendung nicht gesichert ist, scheitert die Vereinheitlichung. Die notwendige Diskussion muß sich daher sowohl um Inhalte als auch um Durchsetzungsmechanismen kümmern. Die zukünftigen Anwender und Interessierten müssen Werkzeuge an die Hand bekommen und auch Neues lernen. Einerseits eine Herausforderung, solche Schulungsmöglichkeiten anzubieten, andererseits eine große Herausforderung an die verantwortlichen Ersteller-Institution(en) und Mitwirkenden, qualitativ hohe Standards zu schaffen und diese durch Überarbeitungen dynamisch anzupassen. Diese Standards sowie das dahinterliegende Denken und know-how werden/sollen auch fUr KMU's und deren Projekte von zunehmender Bedeutung sein; alleine der Hinweis auf Basel II genügt. Die sich hieraus insgesamt mögliche abreifende Balance aus Kapitalerhaltungs- und Informationsfunktion der Projekt- und Unternehmensplanungen ist wohl klar erkennbar. Detaillierte Einsichtmöglichkeiten in Bezug auf Kapitalverwendung und die zukünftige Geschäftstätigk,eit des Projekts auf Grund einer qualitativ hochwertigen Feasibilitystudie bietet die Möglichkeit zu günstigeren Finanzierungskonditionen bzw. sind oft Voraussetzung, dass Kapital überhaupt erst aufgebracht werden kann.

m.

Ziele

Die Ziele des durch "EUSIS" eingeleiteten Prozesses sind: •

Die Formulierung und Veröffentlichung - im privaten und öffentlichen Interesse- von Standards, welche bei der Ausarbeitung von Feasibilitystudien beachtet werden und deren Akzeptanz und Anwendung in der Europäischen Union und in den neuen Beitrittsländern zu ilirdern.



Ständiges Arbeiten an der Verbesserung der Standards unter Beachtung der betriebswirtschaftlich und volkswirtschaftlich komplexen Anforderungen und auch insbesondere deren Veränderungen (Dynamisierung).

596

Kar! Greyer



Die Vergleichbarmachung von mehreren Alternativen einerseits und mehreren Studien zu einem Projekt andererseits.



Die Erarbeitung von "Core Standards" als Meilensteine filr die Feasibilitystudien. (erster Umsetzungsschritt)



Schließung der oft bestehenden Lücke zwischen strategischer Ausrichtung und Investitionsplanung einerseits zur Führung des Unternehmens bzw. Projektes andererseits durch Weichenstellung filr Umsetzung.



Die Überzeugung der Standardsetter (Unternehmen, Investoren, Banken, Garantiegeber, Berater) und staatlichen (öffentlichen) Stellen, dass Feasibilitystudien filr Investitionen und Projekte in Übereinstimmung mit den "Standards" erstellt und abgenommen werden sollen (Qualitätssiegel).

Das Ziel der Standards besteht darin, dem Interessierten die Abgabe eines Urteiles darüber zu ermöglichen, ob in der vorgelegten Feasibililty-Studie alle wesentlichen Punkte in ausreichender Form filr seine Entscheidung dargestellt wurden, sodass er sich ein nach den tatsächlichen bzw. geplanten Verhältnissen möglichst entsprechendes (getreues) Bild filr seine Entscheidung machen kann.

IV. Bedeutung von Standards für Feasibilitystudien Standards sollen ein geschlossenes, zweckorientiertes System auf hohem qualitativen Niveau mit großer Anwendungsbreite darstellen; sie müssen praxisnah und verständlich sein. Standards richten sich insbesondere an Entscheidungsträger und den dahinterstehenden Interessenten, selbstverständlich oft auch mit unterschiedlicher lnteressenslage. Standards sind ein geeignetes Vehikel filr eine Harmonisierung der Feasibility-Studien innerhalb der Europäischen Union und auch in den neuen Beitrittstaaten. Der Bedarf nach Standards zeigt sich auch dadurch, dass viele Organisationen, Kreditinstitute, Förderstellen, Beratungsfirmen etc. jeweils filr ihren Eigengebrauch bereits mehr oder weniger ähnliche Systeme zur Evaluierung von Investitionen erstellt haben. Gerade auf Grund der Verschiedenheiten und der Breite der erforderlichen Informationen sowie deren Grad der Aufbereitung und gegenseitigen Abstimmung wird jedoch das Bild ftlr die einzelnen Beteiligten nicht immer ausreichend scharf und klar; es bleibt insbesondere vielfach offen, ob wohl alle entscheidenden Parameter berücksichtigt wurden. Oft werden in Studien lediglich Bildausschnitte ohne die maßgeblichen bzw. oft komplexen Interdependenzen behandelt und fllr den Entscheidungsprozess aufgezeigt. Nicht nur Aussagen aus vielen Insolvenzstatistiken, sonstige tägliche Informationen, sondern auch die Realität der laufenden Entscheidungsprozesse zei-

Standards für Feasibilitystudien

597

gen sehr deutlich, dass seitens der Wirtschaft und Öffentlichkeit ein konkret georteter Bedarf nach Standardisierung von Informationen in diesem meist sehr kapitalintensiven Bereich eindeutig vorliegt. Was für große und global agierende Unternehmen gilt, ist grundsätzlich auch für kleine und mittelständische Betriebe richtig, da auch bei diesen laufend neuerliche Investitions- und Finanzierungsentscheidungen zu treffen sind. Die Folgen nicht ausreichender Planungen sind meist erst später zu sehen. Die Tendenz zu generellen Standards gegenüber der derzeitigen angewandten Methode der eher jeweiligen Einzelbetrachtung kann wissenschaftlich nicht von vornherein zu einer allgemeinen Aussage über eine Überlegenheit führen. Jedes System, wie immer es gestaltet ist, besitzt Vor- und Nachteile, je nachdem welchen Zweck es erfüllen soll und wie die individuelle Entscheidungssituation aussieht. Obwohl die Anwendungsgebiete für Feasibilitystudien eine gewisse Projektoder Unternehmensgröße voraussetzen, erweisen sich die Überlegungen grundsätzlich für alle Projekte und Unternehmen als fruchtbar, die durch hohen Innovationsgehalt und hohe Unsicherheit bezUglieh Höhe und Zeitpunkt der RUckflüsse gekennzeichnet sind. Als Gründe filr internationale Standards von Feasibilitystudien sprechen jedenfalls: •

Finanzierung der Projekte und Unternehmen mit Eigen- und Fremdkapital,



Transparenz,



Vergleichbarkeit,



Verlässlichkeit/Integrität und Sensibilitäten,



Vollständigkeit,



Verbesserung des Beziehungsgefüges zwischen Interessenten (RiskSharing),



Neutralität,



Abwägung von Nutzen und Kosten,



Alternativen,



Verständlichkeit (allgemein).

Es ist erforderlich, alle "player" wie z.B. Investoren, Financiers, Lieferanten, Garantiegeber, Förderstellen, Berater, etc. über die Chancen und Risken des Projektes zu unterrichten. Dies ist mit Informationen hoher Qualität (geprüf-

598

Karl Greyer

ten/glaubhaften Daten und Zahlen), die in einem zusammenhängenden System erarbeitet und vernetzt wurden, objektiver, mit höherer Transparenz und Sicherheit sowie weniger Erklärungsaufwand möglich. Im Mittelpunkt steht auch die Verbesserung des Beziehungsgefüges bis hin zur Problemidentität aller "player" unter Rücksichtnahme auf ihre Multifunktionalität. Die zu Beginn des Projektes auf Grund der Standards erarbeiteten Informationen und Ergebnisse sind auch nach der Errichtungsphase in der späteren start-up- und Betriebsphase wertvoll zur laufenden Steuerung (controlling) des Projektes bzw. Unternehmens. Die Gewährleistung der Einhaltung (compliance) der Standards bei Erstellung der Studien ist für den (die) Adressaten von großer Bedeutung. Es besteht großer Gleichklang der Informationsbedürfnisse zwischen Investoren, Projekt-, Unternehmens-, Finanzierungs- und Fördermanagment; sie umfassen sowohl "hard facts" als auch "soft facts" (z.B. das sozio-kulturelle Umfeld). Solche Standards können aber auch dem Druck verschiedenster Lobbies ausgesetzt sein. Es soll keine hohe Regelungsdichte vorgegeben werden, sondern ein zusammenhängendes System unter Beachtung von Bedürfnissen und Besonderheiten der einzelnen Länder, Branchen, Betriebsgrößen etc. Die Standards dürfen nicht wettbewerbsbeeinflussend sein.

V. Akzeptanz und Vorgangweise Entwicklung der Standards unter Mithilfe der interessierten Öffentlichkeit, Wissenschaft und Praxis, die durch Stellungnahmen in den verschiedenen Stadien der Entwicklung Einfluß auf den Standard nehmen können. Folgende Vorgangsweise ist unter Anlehnung an die erfolgreiche Entwicklung und Verbreitung (teilweise Aufnahme in internationale Empfehlungen und gesetzlichen Regelungen) der lAS International Accounting Standards geplant und in Vorbereitung: l.

Ausarbeitung der Grundlagenpapiere (project proposal) seitens Mitarbeiter,

2.

Draft Statement of Standards (Principles) wird an Mitgliedsorganisationen (Öffentlichkeit) versandt,

3.

Statement of Standards geht an das Board zur Beratung und Verabschiedung,

4.

Statement of Standards wird an Mitgliederorganisationen (Öffentlichkeit) versandt,

Standards fiir Feasibilitystudien

599

5.

Stellungnahmen der Mitgliederorganisationen (Öffentlichkeit) werden beraten; eine breite Mehrheit der Zustimmung wird angestrebt,

6.

Standards werden im Board beschlossen.

7.

Erstellung der Interpretationen zu den Standards.

Den vier finanzwirtschaftliehen Entscheidungskriterien Liquidität, Rentabilität, Sicherheit und Unabhängigkeit wird hoher Stellenwert einzuräumen sein. Der Entscheidungsprozess, der der Projektrealisierung oder -ablehnung vorausgeht, zeigt sich als ein aus mehreren Phasen zusammengesetzter und phasenUberlagemder, multipersonaler (kaufinännisch und technisch) Vorgang. Im Rahmen der Projektfinanzierung spielen off balance sheet Finanzierung (die Bilanzstrukturen des Investors sollen nur wenig belastet werden, keine Minderung der Kreditflihigkeit), Risksharing (Garantien, Abnahmeverträge, Informationsfluss, etc.) und Cash Flow Finanzierung (operating Cash-Fiow größer als Annuität und Dividendenauszahlung) eine wesentliche Rolle. Durch die breite Diskussion sollen auch die unterschiedliche Traditionen, Interessen und Vorschläge geprUft werden und Berücksichtigung finden. Die Entwicklung steht und wird auch im Zusammenhang mit der zunehmenden Globalisierung der Wirtschaft gesehen. Vordenker und Interessierte in Sachen Standards fUr Feasibilitystudien werden zu Beiträgen, Diskussionen und Mitarbeit eingeladen. Es werden hiefUr mehrere Ansprech- und Diskussionsforen geschaffen.

VI. Inhaltliche Ausgestaltung der Standards Der von Investitionsvorhaben zu durchschreitende Projektzyklus umfasst die •

Vorinvestitionsphase,



Investitionsphase,



Betriebs- und ex-post-Bewertungsphase,

die alle wiederum in verschiedene Abschnitte unterteilt werden; demnach sind während der Vorinvestitionsphase die •

Opportunitätsstudie,



Pre-Feasibilitystudie,



Feasibilitystudien sowie



der entscheidende Bewertungsbericht

600

Karl Greyer

zu erstellen. Dem entsprechend soll auch die phasenorientierte Risiko/Chancen Identifikation vorgenommen werden und zwar in der Errichtungsphase, der Start-up Phase sowie in der Betriebs- und Umsatzphase. Die Aussagekraft und Verlässlichkeit dieser Studien steigtjeweils von einem zum nächsten Studienabschnitt, und dem entsprechend erhöht sich auf der Aufwand an Zeit und Kosten fiir die Studie. Dieser wird allerdings von vielen Investoren aus Unkenntnis der Zusammenhänge gescheut, und genau hier liegt eine der Fehlerquellen herkömmlicher Projektfindung. Mangelnde Projektplanung und falsche Sparsamkeit während der Studienphase rächen sich nicht nur während der Investionsphase, sondern auch sie sind häufig mit verantwortlich fiir schlechten Unternehmenserfolg sowie Ursprung vieler Sanierungstalle und Insolvenzen. Empfehlenswert ist ein schrittweiser Projektplanungsprozess der Rückkoppelungen zu den einzelnen Studienkapiteln impliziert. Er soll die Phasen des Projektzyklusses verknüpfen, die Cashflow Analyse betonen und der Qualitätsverbeserung dienen. Bei der Planung sind drei wesentliche Konsistenzanforderungen zu beachten: •

Kompatibilität der Teilpläne,



Berücksichtigung externer und interner Entwicklungsgrenzen (Realistik),



Übereinstimmung mit der gegebenen Zielsetzung.

Ausgangsbasis filr die Entwicklung der Standards ist derzeit die weltweit anerkannte und in verschiedenen Sprachen erschienene Publikation von W. Behrens und P. M. Hawranek "Manual for the Preparation of Feasibility Studies", welche u.a. auf die langjährige Erfahrung der United Nations Industrial Development Organisation (UNIDO) mit Projektentwicklung und Projektbewertung aufbaut. Die Standards sollen folgende Kapitel umfassen:



• • • • • •

Kapitel I

Zusammenfassung und Empfehlungen,

Kapitel II

Vision, Strategie, Umfeld und Vorgeschichte des Projektes,

Kapitel III

Markt und Marketing Konzept,

Kapitel IV

Standort, Umwelt und Grundstück,

Kapitel V

Projekt-Engineering und Technologie,

Kapitel VI

Materialbedarf, Materialverftlgbarkeit und Logistik,

Kapitel VII Betriebsorganisation, Information, Gemeinkosten,

Standards fiir Feasibilitystudien

601



Kapitel VIII Management, Controlling und Mitarbeiter,



Kapitel IX

Zeitplan und Budgetierung der Projektdurchfilhrung,



Kapitel X

Finanzanalyse und betriebswirtschaftliche Projektbewertung, Alternativen,



Kapitel XI

Volkswirtschaftliche Kasten/Nutzenanalyse (filr Großprojekte).

Die einzelnen Kapitel enthalten Grundsätze, zusammen mit entsprechenden Erläuterungen und sonstigen Materialien.

VII. Resümee Die Standards fiir Feasibilitystudien können- eine entsprechende Flexibilität vorausgesetzt - eine Revolution im Investitionsbereich darstellen: •

sie binden sich zu einem guten Teil in das Gedankengut von Basel II ein und sind somit Basel II konform,



es wird hiemit aber auch eine lange dauernde Tradition und Entwicklung der Vorgehensweise der Vorbereitung von Investitionen im privaten und öffentlichen Sektor zur Diskussion und in Frage gestellt,



sie dienen dem Ziel, allgemein das Bemühen um die entscheidende Verbesserung der Vorbereitung der Entscheidungsgrundlagen fiir Projekte/Investionen!Unternehmen zur bestmöglichen Vermeidung von Fehlschlägen und unnotwendigen Folgekosten filr alle Interessenten und Partner,



damit werden schlüssig sowohl die privatwirtschaftliehen als auch gemeinwirtschaftlichen Interessen richtungsweisend positiv beeinflusst und tragen zur Stärkung der Wirtschaft und Haushalte bei.

Der Beitrag der Betriebswirtschaftslehre zur effizienten und effektiven Erstellung sozialer Dienste Von Christian Pracher 1997/98 konnte ich mit dem Jubilar und Dr. Claudia Pass ein Projekt über soziale Dienste und Projekte in Oberösterreich durchfUhren. Dieses eher sozialwissenschaftlich orientierte Projekt regte mich an, Überlegungen anzustellen, welchen Beitrag mein eigenes Arbeitsgebiet - das Public Management - zur effizienteren und effektiveren ErfiUiung sozialer Aufgaben zu leisten vermag. Nachfolgende Ausruhrungen basieren auf einer Studie, die wir vergangenes Jahr durchgefiihrt haben. 1 Vorab wäre erst einmal festzuhalten, dass die Begrifflichkeilen -bezüglich soziale Projekte, soziale Dienste - bei unterschiedlichen Quellen und Autoren rticht immer deckungsgleich sind, weshalb ist die Vergleichbarkeit der sozialen Systeme zwischen den Staaten der Europäischen Gemeinschaft nicht ganz einfach ist. Für die Bundesrepublik Deutschland ist der - aus der Sozial-Gesetzgebung stammende - zentrale Begriff die soziale Sicherheit. In Deutschland werden darunter alle Maßnahmen subsumiert, die dem Einzelnen eine sichere Grundlage filr ein menschenwürdiges Leben verschaffen.2 Wie diese sichere Grundlage fi1r ein menschenwürdiges Leben jeweils auszusehen hat, ist allerdings nicht abschließend geregelt. Die Verfassung regelt inhaltlich den Begriff "sozial" nicht weiter, verlangt auch nicht, dass ein Gesetz Näheres regelt. Es gibt also in der Bundesrepublik im strengen Sinne keine sozialen Grundrechte. Versuche, aus der Verfassung soziale Grundrechte herauszuinterpretieren, sind fehlgeschlagen. Aus der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland lassen sich soziale Grundrechte

1 Christion Pracher!Wolfgang Strehl (2002): Gestione dei servizi sociali nella Repubblica federale tedesca, in: Kurt Promberger/Karl Tragust/Josef Bernhart (Ed.), Management sociale, Quademo dell' Accademia Europea di Bolzano n. 35, Bolzano 2000, s. 215-236. 2 Jürgen Winkler: Sozialrecht von A- Z, München 2001.

604

Christian Pracher

nach übereinstimmender Feststellung nicht ableiten. Der europäische Rechtsgeber hat derartige Rechte normiert in der Europäischen Sozialcharta und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. Soziale Leistungen und Dienste werden in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich als staatliche Aufgaben gesehen. Dabei gilt es, das institutionelle Subsidiaritätsprinzip zu beachten (§ I 0 BSHG): Öffentliche, speziell kommunale Einrichtungen sollen nur dann geschaffen werden, wenn keine freien Träger vorhanden sind. Demnach werden soziale Leistungen von nachfolgenden Akteuren erbracht: Öffentliche Träger, Wohlfahrtsverbände, privat-gewerbliche Träger, organisierte Selbsthilfe und ehrenamtliche Hilfe (außerhalb der Wohlfahrtsverbände ). Zunehmende Bedeutung gewinnen dabei die privaten-gewerblichen Träger. Von diesen werden vorrangig solche Leistungen erbracht, die auch unter Marktbedingungen bestehen können. Hierzu gehören insbesondere ambulante und stationäre Pflegedienste. In einigen Großstädten haben die privaten gewerblichen Dienste bereits einen Anteil von ca. 50 Prozent erreicht.3 Die Finanzierung sozialer Leistungen erfolgt üblicherweise über die traditionellen Finanzierungsformen wie Bruttoveranschlagung in öffentlichen Haushalten, Zuwendung, und Kostenübernahmen sowie durch leistungsgerechte Entgelte, Pflegevergütungen und Leistungsverträge auf der einen Seite sowie im geringeren Ausmaß - durch eigene Einnahmen wie Spenden, Mitgliedsbeiträge, Sammlungen, Schenkungen, Erbschaften, Stiftungen und Vermögenserträge. Während die traditionellen Finanzierungsformen eher institutionell orientiert sind, knüpfen die neueren Finanzierungsformen an der Leistung der Einrichtung an. Die Steuerung sozialer Dienste über die Finanzierung ist das nach wie vor dominierende Prinzip in der Praxis. Die Steuerung richtete sich eindeutig nach den fiskalischen Gegebenheiten der jeweiligen öffentlichen Kostenträger. Welchen Beitrag können aber jetzt betriebswirtschaftliche Management- und Steuerungskonzepte zu Erneuerung der Erstellung sozialer Leistungen bringen? Als Hauptziel der Implementierung der sog. neuen Steuerungskonzepte ist neben mehr Kundenorientierung zweifellos die Steigerung der Effizienz und der Effektivität zu sehen. Konzeptionell ist die Reform des Sozialwesens geprägt durch die allgemeine Diskussion um das so genannte Neue Steuerungsmodell mit - wenngleich auch 3 Dietrich Kühn: Jugendamt - Sozialamt - Gesundheitsamt. Entwicklungslinien der Sozialverwaltung in Deutschland. Neuwied 1994, S. 121.

Der Beitrag der BWL zur effizienten und effektiven Erstellung sozialer Dienste 605

in sehr unterschiedlicher Entwicklung und Ausprägung - all seinen Elementen: Leitbildentwicklung, dezentrale Fach-, Ressourcen- und Ergebnisverantwortung, Zielvereinbarungen, Produktbeschreibungen, Qualitätsmanagement, Berichtswesen und Controlling. Dem Reformziel der Haushaltskonsolidierung wird man durch die Einfilhrung neuer Steuerungskonzepte in die Sozialverwaltung allerdings nur beschränkt nachkommen können. Nach Untersuchungen der KGSt4 betragen die reinen Vollzugskosten der öffentlichen Sozialverwaltung weniger als zehn Prozent der Transferzahlungen. Demnach müsse der Schwerpunkt einer Reform eher bei der Verringerung (Verkürzung) der Fallzahlen durch verstärkte Hilfe zur Selbsthilfe und durch Vermeidung von Missbrauch liegen. Dementsprechend zielen auch viele Reformansätze u.a. auch in diese Richtung. Als Beispiel filr diesen Weg wäre das sog. Bremer Modell zu nennen. Hier werden neben präventiven Maßnahmen (z. 8. Vermeidung von Schulabgängern ohne Abschluss) in den neugeschaffenen Sozialzentren (statt der bisherigen Ämter ftlr soziale Dienste) durch ein sog. Fallmanagement (Fall-Manager) die sozialen Leistungen erbracht mit dem Ziel eines nachhaltigen Ausstiegs aus der Sozialhilfe. Leitbild dieses Versuchs ist "Aktivieren, Fördern und Fordern". Ein weiterer Grund filr die Schwierigkeiten und ftlr die etwas zurückhaltende Implementierung Neuer Steuerungskonzepte ist wohl in der Multidimensionalität der Erftlllung sozialer Leistungen zu sehen. 5 Bei der Ausstellung eines Reisepasses oder einer Erteilung einer Baugenehmigung mag eine eindimensionale Betrachtungsweise - nach Schnelligkeit, Kostengünstigkeil - möglicherweise durchaus ausreichend sein. Im Bereich der sozialen Dienste sind jedoch darüber hinaus Ziei(Wirkungs)dimensionen wie "Psychosoziale Effekte", "Soziale Integration", "Arbeitsmarktintegration" usw. zu beachten. Am weitesten fortgeschritten scheint die Entwicklung von Leitbildern bei den Akteuren des Sozialwesens zu sein. Fast alle - insbesondere die Großen (Öffentliche Träger, Wohlfahrtsverbände)- haben ftlr sich in den letzten Jahren ein Leitbild entwickelt. Dies ist allerdings auch nicht weiter verwunderlich, da dies sinnvoller Weise der erste Reformschritt ist und zum anderen, weil darin im Allgemeinen das geringste Konfliktpotenzial liegt. Als das zentrales Element der neuen Steuerungsphilosophie sind wohl die Produkte (Leistungen) zu nennen.

4

KOSt-Bericht 11/97, S. 17f.

Ingo Klatt: IT-Einsatz im Sozialamt zur Unterstützung der Verwaltungsreform. Frankfurt/M. 1999, S. 18. 5

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Bei der Produktbildung im Bereich der sozialen Dienste herrschte lange Zeit eine gewisse ZurOckhaltung. Mögliche Ursachen dafilr könnten darin zu sehen sein, dass das Verwaltungshandeln in diesem Tätigkeitsbereich in weiten Teilen durch Ermessensausübung geprägt ist und/oder dass die Kunden in vielen Bereichen einem monopolistischem Anbieter gegenüber stehen und/oder schließlich, dass die Zielausrichtungen nur schwer bestimmbar und operationalisierbar sind. 6 Festzustellen ist, dass die Produktbildung in öffentlichen Bereichen weiter fortgeschritten ist, als in privaten; was aber nicht weiter verwunderlich ist, da die Diskussion um und über das neue Steuerungsmodell aus der Verwaltung und nicht aus den freien Trägem kommt. Im KGSt-Bericht 1111995 sind bereits Produktbeschreibungen filr den sozialen Bereich als Vorschläge aufgefilhrt. Bei diesen fiillt jedoch auf, dass sie sich noch sehr stark an der internen Organisationsstruktur und der daraus resultierenden Aufgabenzuordnung orientieren. Von einer echten lebenslagenorientierten Produktbildung war man damals noch weit entfernt. Infolge des allgemeinen gesellschaftlichen Wertewandels, des steigenden Selbstbewusstseins der Bürger und des zunehmenden Wettbewerbs- insbesondere zwischen den freien Trägem - kommt einem Qualitätsmanagement in vielen sozialen Einrichtungen (wie obiges Beispiel des Leitbildes belegt) besonders große Bedeutung zu. In zahlreichen Normen und Vorschriften hat dies bereits seinen Niederschlag gefunden. Anzufilhren wären hier der Wirksamkeitsdialog gemäß NRWLandesjugendplan, der Qualitätsentwicklungsprozesse gemäß §§ 77 a ff. SGB VIII (statt Pflegesatzvereinbarungen seit 1999 Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen bei Heimerziehung und Erziehungshilfen). Auf der instrumentellen Ebene können in diesem Zusammenhang Qualitätsziele, Qualitätsindikatoren (im Zusammenhang mit der Produktbildung), Qualitätszirkel, Kundenmonitore, Beschwerdemanagement, Ideenmanagement und Zertifizierungen nach ISO 9000/2000 zur Anwendung kommen Die organisatorische Neugestaltung der sozialen Dienste erfolgt entsprechend den Leitlinien der Organisation sozialer Dienste nach Kunze 7 mit dem Ziel, durch eine strikte Outputorientierung mehr Effektivität und Effizienz sicherzustellen, indem Leitungsebenen verkleinert, Teams statt Abteilungen gebildet, klientenorientierte Zusammenarbeit zwischen Sozialdienst und Ver6 Achim Trube: Sozialhilfe und neue Steuerungsmodelle, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins (NDV), Hefte 4 und 5/1996, S. 127. 7 Udo Kunze: Einfilhrung von Controlling-Instrumenten im Sozialamt - Ein Praxisbeispiel, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins (NDV), Heft 6/95, S. 248.

Der Beitrag der BWL zur effizienten und effektiven Erstellung sozialer Dienste 607

waltungsfachkräften gefördert werden und eine ganzheitliche Beratung und Betreuung der Kunden durch allzuständige Teams erfolgt. Das neue (alte) Zauberwort in diesem Zusammenhang ist das sog. "Fall-Mangement" oder fiir die Anglophilen das "Case-Management". Besonders hervorgehoben wird eine präventive Beratung vor Ort. Beispiele aus der Verwaltungspraxis wären - wie oben schon erwähnt - die zielgruppenorientierte Bearbeitung im Team (z.B. "Arbeitslose", "Alleinerziehende") in Trier, Neuwied, Bremen und Hamburg-Aitona. Einen ähnlicher Weg wurde auch in Oberhausen und Wiesbaden eingeschlagen. Statt der bisherigen organisatorischen Gliederung nach der Systematik der einschlägigen Gesetze, wurde ein einheitliches "Amt fiir Soziale Arbeit" geschaffen, das nach dem Prinzip der Regional- und Stadtteilzugehörigkeit organisiert ist. Dem einzelnen Sachbearbeiter ist dabei eine verstärkte Entscheidungsbefugnis zugeteilt. Zur besseren Koordination der verschiedenen Träger sozialer Dienste werden sog. Stadtteilkonferenzen institutionalisiert. Dies kann wohl als Abkehr von dem in der Bürgeramtsdiskussion propagierten allzuständigen Einzelfallsachbearbeiter angesehen werden. Der soziale Bereich galt in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit als wettbewerbsresistent Der zunehmende Druck in den öffentlichen Haushalten, die damit verbundene verstärkte Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, mit der Folge zunehmender privater Durchführung bisher öffentlich bereitgestellter Leistungen, fiihren aber zwangsläufig zu direktem, echten Wettbewerbssituationen. Diese zunehmende Orientierung am und im Wettbewerb geht in der Regel dann meist auch mit der Änderung der Rechtsform (z.B. GmbH, Stiftung, Verein usw.) einher. Wettbewerb entsteht durch die zunehmende Verlagerung- auch im Bereich der sozialen Dienste- der Erfiillung (ursprünglich) öffentlicher Aufgaben von den öffentlichen Trägem zu freien oder privaten Trägem. Bisher ist man von einem "relativen Vorrang" der Wohlfahrtsverbände ausgegangen, der u.a. auch vom Bundesverfassungsgericht gestützt wurde (1967). Zwei Strömungen weichen diesen Wettbewerbsvorteil der großen Wohlfahrtsverbände zugunsten einer stärkeren Einbeziehung der privaten gewerblichen Träger sowie der organisierten Selbsthilfe auf. Zum einen treten bei den Wohlfahrtsverbänden die weltanschauliche (z.B. "Arbeiter"wohlfahrt) oder religiöse (z.B. Caritas oder Diakonie) Fundierung- zugunsten einer verstärkt zweck-/ökonomisch rationalen Orientierung - in den Hintergrund. Zum anderen wird durch die strikte Wettbewerbsorientierung der EU-Kommission auch im Bereich der Sozialleistungen jegliche Bevorzugung bestimmter Träger zunehmend erschwert. Dies findet auch bereits in der Sozialgesetzgebung ihren Niederschlag. Vereinbarungen Uber die Höhe der Kosten sind nicht mehr primär mit den Wohlfahrtsver-

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bänden abzuschließen, sondern mit den Anbietern, die bei gleicher Leistung am kostengünstigsten sind. 8 Als Beispiel ist zu nennen, dass bei (öffentlich oder privat finanzierten) Wohngemeinschaften von Demenzkranken die Pflegeleistungen nicht mehr zugeteilt werden, sondern am Pflegedienstleistungsmarkt frei ausgewählt werden und bei Bedarf auch gewechselt werden können. Die Erfahrungen zeigen, dass dies sowohl zur Kostensenkung als auch der Qualitätssteigerung dienlich ist. Neben diesem direktem Wettbewerb haben sich aber auch Wettbewerbssurrogate, wie z.B. Benchmarksysteme, herausgebildet. Zur Überwachung der Realisierung der gesteckten Ziele aber auch als Grundlage fiir eine outputorientierte Budgetierung dienen die Kosten- und Leistungsrechnung, das Berichtswesen sowie generell das Controlling. Die Situation der Kosten- und Leistungsrechnung stellt sich in den Verbänden sehr unterschiedlich dar. Während die großen Verbände weitgehend über funktionierende Kosten- und Leistungsrechnungen verfUgen, ist die Situation bei den kleineren bis hin zu den kleinsten Einrichtungen differenzierter zu sehen. Dies ist bei den kleineren Einrichtungen allein schon darin zu sehen, dass die manpower fiir derartige Aufgaben nicht vorhanden und vermutlich auch gar nicht finanzierbar ist. Gleichwohl ist aber auch bei den größeren Einrichtungen festzuhalten, dass die Kosten- und Leistungsrechnungen nur sehr eingeschränkt fiir echte Managementaufgaben genutzt wird. Der Weg zu einem effektiven und effizientem Controlling scheint in den meisten Einrichtungen noch sehr weit zu sein. Die Vorteile eines integrierten Berichtswesen werden noch viel zu selten genutzt. Einzig in SchleswigHolstein ist ein Berichtswesen generell in der Gemeindeverordnung verankert. 9 Und zu guter Ietzt zu den Mitarbeitern, an die im Sozialbereich ganz besondere Anforderungen gestellt werden. Die Situation des Personals ist gekennzeichnet durch hohe Arbeitsbelastung, relativ niedrige Bezahlung, relativ geringes Ansehen, wenig Aufstiegsmöglichkeiten, hohe Fluktuationsraten usw. Wie in den meisten anderen Bereichen der Verwaltungsreform muss insbesondere auch im Sozialwesen ein Defizit im Personalmanagement festgestellt werden. Soll eine leistungsfllhige, leistungsorientierte, kundenfreundliche Leistungserbringung gewährleistet werden, so ist dem Personalmanagement verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken. 8 Johannes Münder: Von der Subsidiarität über den Korporatismus zum Markt, in: neue praxis 1/1998, S. 10. 9 Meinolf Fischer: Berichtswesen, in: Wolfgang Genert: Handwörterbuch fllr Jugendhilfe und Sozialarbeit, Stuttgart!München!Hannover u.a. 2001, S. 74.

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Fazit So vielfliltig das Erscheinungsbild der Einrichtungen des Sozialwesens ist, so vielfaltig ist das Erscheinungsbild in Bezug auf die Ausprägung und Realisierung von Elementen des Neuen Steuerungsmodells in diesen Einrichtungen. Über die negativen Auswirkungen und Erscheinungsformen des neuen Steuerungsmodells wird viel diskutiert. Die Sensibilität und die Komplexität sozialer Leistungen- immer verbunden mit der Forderung nach Menschenwürde - erfordert aber eine besonders sorgfliltige, intelligente und leistungsspezifische Übernahme der Elemente der neuen Steuerungsmode He. Die Diskussion um das neue Steuerungsmodell knüpft zunächst primär an die öffentliche Verwaltung an. Wegen der (zunehmend) engen Verflechtung der Akteure des Sozialwesens müssen die Elemente der neuen Steuerung koordiniert mit der öffentlichen Verwaltung - auch verstärkt auf die freien Träger übertragen und implementiert werden. Vorherrschend ist nach wie vor die Steuerung über Zuwendungsbescheide (lnputsteuerung), was aus der Dominanz der staatlichen Finanzierung vieler Einrichtungen des sozialen Bereichs resultiert. Auch wenn bei staatlichen Einrichtungen das Neue Steuerungsmodell noch am ehesten in Ansätzen umgesetzt erscheint, folgt aus der Not der öffentlichen Haushalte doch eine Finanzierung nahezu ausschließlich nach dem Finanzierungsbedarf, orientiert an der Knappheit der finanziellen Mittel der öffentlichen Haushalte. In diesem Zusammenhang treten alle anderen Instrumente des Neuen Steuerungsmodells eindeutig in den Hintergrund. Auch bei den freien Trägem ist eine zunehmende betriebswirtschaftliche Ausrichtung der Steuerung der Leistungserbringung zu beobachten. Wobei allerdings auch hier die Knappheit der finanziellen Mittel Auslöser dieser Bewegung ist. Während auf der konzeptionellen Ebene des neuen Steuerungsmodells in der Sozialverwaltung einiges vorhanden ist, sind die praktischen Erfahrungen noch eher dürftig. Am ehesten sind noch die Elemente Leitbilder, Produktbeschreibungen und Qualitätsmanagement angegangen, respektive umgesetzt worden, wobei insbesondere die zunehmende Wettbewerbssituation dazu führt, dass die privaten Einrichtungen über Leitbilder und Produktbeschreibungen ein Qualitätsmanagement implementieren, um sich am Markt zu behaupten. Von allen öffentlich sicherzustellenden Leistungen ist im Bereich Sozialwesen der Konkurrenzdruck derartig stark, dass davon ausgegangen werden kann, dass sich die Elemente des Neuen Steuerungsmodells hier beträchtlich ausweiten werden, vielleicht auch ausweiten müssen.

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In der aktuellen Diskussion wird im Zeichen knapper Kassen das Subsidiaritätsprinzip immer wieder als Argumentationshilfe für die Forderung nach einem Rückzug des Staates aus ordnungs- und sozialpolitischen Aufgaben herangezogen. Demgegenüber ist klar zu stellen, dass die Leitidee der Subsidiarität von ihrem sozialethischen Anspruch untrennbar mit der Solidarität verbunden ist: die Eigenverantwortung des Individuums bzw. der kleineren Einheiten findet demnach ihre Grenzen dort, wo diese nicht in der Lage sind, sich selbst zu helfen. In solchen Fällen fordert das Subsidiaritätsprinzip unmissverständlich die solidarische Hilfe der übergeordneten Gemeinschaft ein. 10

Literatur Fischer, Meinolf: Berichtswesen, in: Wolfgang Genert: Handwörterbuch für Jugendhilfe und Sozialarbeit, Stuttgart/München/Hannover u.a. 2001, S. 74. Flösser, Gaby/Otto, Hans-Uwe: Neue Steuerungsmodelle für die Jugendhilfe, Neuwied 1996. Genert, Wolfgang: Handwörterbuch für Jugendhilfe und Sozialarbeit, Stuttgart/München/Hannover u.a. 2001. Hinte, Wolfgang!Litges, Jürgen!Springer, Werner: Soziale Dienste: Vom Fall zum Feld, Berlin 1999 KOSt-Bericht 9/1994: Outputorientierte Steuerung der Jugendhilfe. KOSt-Bericht 11/1995: Aufgaben und Produkte der Gemeinden und Kreise in den Bereichen Soziales, Jugend, Sport, Gesundheit und Lastenausgleich. KOSt-Bericht 3/1996: Integrierte Fach- und Ressourcenplanung in der Jugendhilfe. KOSt-Bericht 11/1997: Steuerung der Sozialhilfe. KOSt-Bericht 1111998: Ziele, Leistungen und Steuerung des kommunalen Gesundheitsdienstes. KOSt-Bericht 12/1998: Kontraktmanagement zwischen öffentlichen und freien Trägern in der Jugendhilfe. KOSt Neuwied: Das Sozialamt - Wege zu einer neuen Selbstverwaltung, KOSt-Info 1997.

10 Markus Köster, in: Wolfgang Genert: Handwörterbuch für Jugendhilfe und Sozialarbeit, Stuttgart/München/Harmover u.a. 2001, S. 466f.

Der Beitrag der BWL zur effizienten und effektiven Erstellung sozialer Dienste 611 KGSt Tri er: Strategien und Instrumente filr eine verbesserte Effektivität und Effizienz in der Sozialhilfe, KGSt-lnfo 1998. Klatt, lngo: IT-Einsatz im Sozialamt zur Unterstützung der Verwaltungsreform, Frankfurt/M. 1999. Kuh/bach, Roderich, Wohlfahrt, Norbert: Modemisierung der öffentlichen Verwaltung? Konsequenzen für die freie Wohlfahrtspflege, Freiburg i. B. 1996. Kühn, Dietrich: Jugendamt - Sozialamt - Gesundheitsamt, Entwicklungslinien der Sozialverwaltung in Deutschland, Neuwied 1994.

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Betriebswirtschaftslehre und Gemeinwohl Von Herbert Strunz Hauptmaxime staatlichen Handeins ist es, fiir die Wohlfahrt aller zu sorgen. Daraus erwächst dem Staat seine Legitimität. Keine menschliche Gesellschaft kann ohne eine gemeinsam bewußte und gemeinsam angestrebte Wohlfahrt aller auf Dauer bestehen. Dies leitet sich aus dem schon in der Antike gehegten Ideal ab, daß Gemeinwohl den Vorrang vor dem Einzelwohl hat, die Gemeinschaft vor dem Einzelnen - so wie das Ganze vor dem Teil. Der Staat ist der Sachwalter dieses Gemeinwohls, des bonum commune. Allerdings gibt es zwischen den Interessen der Gesellschaft und des Individuums ein Spannungsverhältnis. Aufgrund dessen ist es auch Aufgabe des Staates, Gruppeninteressen im Dienst des Gemeinwohls auszugleichen. Diesbezüglich sehr unterschiedliche Auffassungen verlangen, zu bestimmen, was Gemeinwohl - ein zentraler Begriff der Gesellschafts- und Wirtschaftsphilosophie - beinhaltet und wie die Beziehungen zwischen Individuum und Kollektiv gestaltet sein sollen. Seit Iangern bemüht sich die Wissenschaft um prinzipielle Antworten, seitens der Politik werden konkrete Handlungen gefordert. Aufgrund des gewissermaßen diffusen Charakters von "Gemeinwohl" gelangte man bisher- wenig verwunderlich - auch zu verschiedenen Inhalten. In politischer Hinsicht stehen einander zwei Grundtypen der Gemeinwohlilirderung (von aktueller und gravierender Bedeutung) gegenüber. Gemeint sind der dirigistische und der liberale Staat. Ersterer zielt darauf ab, das gesamte Leben einer Gemeinschaft möglichst weitgehend zu durchdringen und zu formen und sich dadurch dem "Wohl" seiner Bürger anzunehmen. Der Preis derartiger Staatstätigkeit ist die Beschränkung der individuellen Entfaltung und Existenz. Der liberale Staat verfolgt demgegenüber das Ziel der Gewährung eines möglichst weiten individuellen Handlungsspielraums. Dabei verwirklichen die Mitglieder der Gesellschaft selbständig und eigenverantwortlich allerdings in den Grenzen des Sittlichen- ihre persönliche Wohlfahrt. In dieser Konzeption resultiert das Gemeinwohl somit konsequenterweise aus dem Eigeninteresse.

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Die Erfahrungen zeigen, daß jedoch weder der dirigistische noch der liberale Staat Garant fiir Gemeinwohl ist, da übertriebene Bindungen wie unregulierte Freiheiten gleichermaßen die allgemeine Wohlfahrt beeinträchtigen. Die moderne Staatsform steht letztlich im Spannungsfeld zwischen der Tendenz zur Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips und jener zur Ausweitung des freien Marktes; beide Tendenzen gleichermaßen berücksichtigend soll die Wohlfahrt durch die Marktwirtschaft- mit gerade in jüngster Zeit sich zunehmend verringemden sozialen Komponenten- maximiert werden. Dennoch bleibt Gemeinwohl eine nicht exakt zu definierende Maxime. Der jeweilige Begriff entsteht aus der Vielfältigkeit der Interessen innerhalb einer Gesellschaft, die wiederum in die politischen Entscheidungsprozesse einfließen. Als Determinanten treten Staatstypus und Wirtschaftsordnung hinzu. Die ökonomische Theorie nennt Bedingungen, deren Erftlllung ein Maximum an Wohlfahrt gewährleistet. Dieser sogenannte pareto-optimale Zustand wäre dann gegeben, wenn kein Mitglied der Gesellschaft besser gestellt werden kann, ohne daß zumindest ein anderes schlechter gestellt werden müßte. Leistungen (Güter und Dienstleistungen) sollen somit dann erstellt werden, wenn sich dadurch die Position keines anderen Wirtschaftssubjektes verschlechtert. Was filr ein Wirtschaftssubjekt besser bzw. schlechter ist, bestimmt sich nach dessen Präferenzen. Dieses Modell vollkommener Gegebenheiten korreliert mit der wirtschaftlichen Realität allerdings nicht. Die tatsächliche Unvollkommenheit des Marktes fiihrt nämlich insbesondere zu Wirkungen betrieblicher Aktivitäten, die sich außerhalb des Marktes vollziehen (externe Effekte). Dies fUhrt zu einer nicht optimalen Allokation von Ressourcen. Davon ausgehend stellt sich die Forderung, Wohlfahrt jedenfalls nicht nur auf die rein ökonomische Dimension zu beschränken, sondern Gemeinwohl als gesamtgesellschaftliche Kategorie - im Sinne umfassender Wohlfahrt filr alle- zu betrachten. Diese erweiterte Sichtweise bedingt zunächst, sowohl ethische Urteile einzubeziehen wie soziale Kosten und Nutzen zu erfassen. Im Zusammenhang damit sind in die Kalküle der einzelnen Wirtschaftssubjekte unmittelbar derartige gemeinwohlrelevante Komponenten zu integrieren. Damit hat s.ich die Betriebswirtschaftslehre - als die ftlr das individuelle Wirtschaften hauptsächlich "zuständige" Disziplin - bisher nur sehr rudimentär befaßt, obwohl sich umfassendere diesbezügliche Überlegungen durchaus realisieren ließen. Entgegen üblicher Polarisierungen schließt Gemeinwohl entsprechend seinem ganzheitlichen Charakter das Wohl des Einzelnen ein, das somit notwendigerweise zum Wohl des Ganzen gehört. Eine Wirtschaftsordnung, wie sie etwa die soziale Marktwirtschaft repräsentiert, bietet durch relativ ausgewogene Freiheiten und Bindungen ftlr Individuum und Gemeinwesen auch eine derarti-

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ge Synthese auf relativ hohem Niveau. Der Einzelne sollte und dürfte dabei seine Bedürfnisse nur im Rahmen des Ganzen befriedigen, was in weiten Bereichen über den Markt gewährleistet sein sollte. Die Betrachtungsweise ist allerdings verkürzt, wenn sie lediglich auf die Marktbeziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern, Produzenten und Konsumenten abzielt. Die Anteilnahme der Wirtschaftssubjekte am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben und ihr jeweiliger Beitrag zum Wohl des Gemeinwesens ist nämlich weitaus vielfliltiger und komplexer. Dies läßt sich tatsächlich jedoch erst erkennen, wenn man die Wirtschaftssubjekte sowie ihre Interessen differenziert und ihre jeweiligen Spezifika analysiert. Als Wirtschaftssubjekte werden in den Wirtschaftswissenschaften Einheiten (also etwa Betriebe, Organisationen, Institutionen, Einzelwirtschaften, Personen) verstanden, die nach autonomen Wirtschaftsplänen und eigenen Erwägungen bzw. Zielsetzungen Entscheidungen über wirtschaftliche - d. h. knappe, geeignete und zugängliche - GUter treffen (können). Damit werden auch Wirtschaftssubjekte erfaßt, die nicht oder nicht nur erwerbswirtschaftlichen Zielen folgen. Aufgrund bestimmter Abgrenzungskriteren, nämlich der Art der Bedarfsdeckung, der Eingebundenheit in den Markt sowie nach Gesichtspunkten des nonnativen Rahmens, lassen sich - freilich idealtypisch - folgende Wirtschaftssubjekte als Organisationstypen unterscheiden: Naheliegend und der geschichtlichen Entwicklung entsprechend ist es, zunächst Personen (Individuen) als Wirtschaftssubjekte zu charakterisieren. Als Ein- und Mehrpersonenhaushalte streben sie nach Deckung ihrer Bedürfnisse bis hin zur Selbstverwirklichung, letztlich eine qualifizierte Form der Selbsterhaltung. Dabei sichern sie ihre ökonomische Selbständigkeit durch Einkommenserzielung, i. d. R. über den Weg von Arbeit. Ihre Bedarfsdeckung erfolgt durch Konsum unter Verwendung des erzielten Einkommens. Im Gegensatz zum Haushalt betriebswirtschaftlich eingehend untersucht ist der zweite Typ von Wirtschaftssubjekten: Die privaten Unternehmen, die sich gewinnstrebend über Umsatzerlöse fmanzieren. Die erstellten Leistungen werden auf dem Markt nach Angebot und Nachfrage entgeltlich abgesetzt. Genossenschaften sind wiederum auf die wirtschaftliche Förderung ihrer Mitglieder ausgerichtet. Die Bedarfsdeckung erfolgt nach dem Identitätsprinzip. Das bedeutet, daß die Mitglieder in erster Linie von der Bereitstellung günstiger Leistungen durch die Genossenschaft profitieren. Ihre Finanzierung erfolgt durch Beiträge der Mitglieder aufgrund der erbrachten Leistungen der Genossenschaft. Öffentliche und gemeinwirtschaftlich orientierte Unternehmen verfolgen ähnlich privaten Unternehmen - überwiegend individuelle Bedarfsdeckung.

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Allerdings handeln sie im öffentlichen Interesse und werden demgemäß häufig auch als Instrument zur Erfilllung staatlicher Ziele eingesetzt. Ihre Finanzierung erfolgt durch Umsatzerlöse, aber auch durch Abgaben und teilweise durch öffentliche Subventionen. Verbände und Vereine decken den Bedarf eines klar umrissenen Adressatenkreises. Sie erbringen dabei i. d. R. nicht marktflihige, meist kollektive Leistungen, die üblicherweise unentgeltlich abgesetzt werden. Die Aufrechterhaltung des Verbandes/Vereines und seiner Autonomie erfolgt durch materielle sowie immaterielle Leistungen (Umlagen) seiner Mitglieder. Schließlich bilden öffentliche Verwaltungen einen Typ von Wirtschaftssubjekten, deren Existenz sich auf die Erbringung von Leistungen zur Bedarfsdekkung fiir die Allgemeinheit und auf Abgaben der Gemeinschaft (Steuern, Gebühren) gründet. Diese idealtypisch differenzierten Wirtschaftssubjekte tragen auf unterschiedliche Weise zum Gemeinwohl bei. Anders ausgedrückt, sie können entweder das Gemeinwohl fOrdern, oder sich auf dessen Kosten betätigen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht steuern die Wirtschaftssubjekte zum Gemeinwohl wie folgt bei: Entweder mittelbar, indem sie ihre eigen- oder erwerbswirtschaftlichen Ziele innerhalb extern vorgegebener oder selbst gewählter Gemeinwohlbindungen verfolgen; oder unmittelbar, durch gezielte gemein- oder bedarfswirtschaftliche Aktivitäten. Private Haushalte, Unternehmen und Genossenschaften sind demgemäß überwiegend der ersten Kategorie zuzuzählen, öffentliche Unternehmen, Verbände/Vereine und öffentliche Verwaltungen vornehmlich der zweiten. Für die gegenständlichen Zwecke ist es naheliegend, die (gemeinwohlrelevanten) Aktivitäten der Wirtschaftssubjekte danach einzuordnen, ob sie eigenoder gemeinwirtschaftlich ausgerichtet sind. Wenn die Tätigkeit etwa eines privaten Unternehmens- z. B. der Industrie- überwiegend eigenwirtschaftlich orientiert ist, bedeutet dies eine Dominanz des Unternehmensinteresses. Vom Unternehmen profitieren also zilnächst Kapitaleigner und Unternehmensangehörige. Mittelbar kommen die Leistungen des Unternehmens aber auch etwa Kunden, Lieferanten, Banken und dem Staat, schließlich also ebenfalls Mitgliedern des Gemeinwesens zugute. Gemeinwirtschaftliche Unternehmen z. B. Nahverkehrsunternehmen - dienen demgegenüber einer übergeordneten Gesamtheit ausschließlich und unmittelbar. Dieses Beispiel verdeutlicht aber auch einen weiteren wesentlichen Aspekt; gemeinwirtschaftlich ausgerichtete Wirtschaftssubjekte können auf der Grundlage sowohl öffentlichen wie privaten Eigentums tätig sein. Einerseits können private Eigentümer also gemeinwirtschaftliche Unternehmen betreiben; andererseits können gemeinwirtschaftliche Wirtschaftssubjekte, wie etwa öffentli-

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ehe Verwaltungen, EigentUrner von eigenwirtschaftlichen Zielen verpflichteten Beteiligungen sein. Vielfach ist heute eine duale Zielsetzung, nämlich Eigenwirtschaftlichkeit und Gemeinwirtschaftlichkeit, üblich. Dadurch soll das Gemeinwohl durch funktionsfahige Unternehmen unmittelbar und marktkonform gefördert werden. Diese Konzeption ist allerdings mit zahlreichen Problemen verbunden. Insbesondere ist die Frage bedeutend, welcher Zielkomponente Priorität eingeräumt werden soll. Die Abwägung des eigenwirtschaftlichen Formalziels- also Substanz- und/oder Kapitalerhaltung - mit dem gemeinwirtschaftliehen Formalziel - unmittelbare Nutzenstiftung - stellt sich letztlich allerdings als schwer vereinbare Aufgabe dar. Die entsprechenden Grenzen werden, gerade in Zeiten deutlicher Privatisierungstendenzen, anband einer Vielzahl von Beispielen nur allzu oft deutlich. Die Kategorie der Zielsetzung wird durch ihre Ausprägungen "Eigenwirtschaftlichkeit" und "Gemeinwirtschaftlichkeit" erfaßt. Hinzu tritt - ähnlich aber nicht identisch - jene des Zielinhalts. Dieser kann mit dem Begriffspaar "Erwerbswirtschaftlichkeit" und "Bedarfswirtschaftlichkeit" umrissen werden. Dabei stellt sich Erwerbswirtschaftlichkeit im Streben nach Gewinn bzw. Rentabilität dar. Erwerbsstreben geht dabei über das Ziel der Eigenwirtschaftlichkeit weit hinaus. Erwerbswirtschaftlichkeit heißt vielmehr, eingesetztes Kapital in Hinblick auf (maximalen) Zuwachs zu bewirtschaften. Bedarfswirtschaftlichkeit zielt hingegen auf Bedarfsdeckung ab. Dabei geht es um die Hervorbringung von Leistungen, um gemeinschaftliche Bedürfnisse zu decken, die sonst überhaupt nicht oder nicht entsprechend befriedigt würden. Das setzt voraus, daß geeignete Wirtschaftssubjekte im Sinne dessen und in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen. Analysiert man die Kompatibilität der beiden Begriffspaare, zeigt sich folgendes: Ein Vorherrschen der Bedarfsdeckung gegenüber dem Erwerbsstreben kommt - etwa bei gemeinwirtschaftlich orientierten Unternehmen - dadurch zum Ausdruck, daß diese von vornherein auf Gewinnerzielung verzichten, oder eventuelle Gewinne für Investitionen in die Deckung weiterer Bedarfsziele heranziehen. Gemeinwirtschaftliche Unternehmen können über die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Ziele hinaus allerdings durchaus auch auf Märkten erwerbswirtschaftlich auftreten. Schließlich sind auch Eigen- und Bedarfswirtschaftlichkeit etwa dann kompatibel, wenn der öffentliche Träger ein Unternehmen für den Eigenbedarf unterhält. In diesem Kontext werden allerdings die dadurch gewissermaßen vorprogrammierten Zielkonflikte verschärft: Nicht nur Bedarfsdeckungs- und Erwerbsziel stehen einander - nur schwer vereinbar, wie die Praxis zeigt - gegenüber. Auch die ursprünglichen, "klassischen" Begriffe im gemeinwirtschaftliehen

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Kontext in ihrer an sich schon gegebenen Konfliktträchtigkeit stellen sich im Zusammenwirken stets als nicht unproblematisch dar; etwa Gemeinwohl versus Wirtschaftlichkeit, Selbständigkeit, Instrumentalfunktion, um nur die wichtigsten konfligierenden Kategorien zu nennen, alle möglichen Kombinationen eingeschlossen. Stellt man eigen- und erwerbswirtschaftlich ausgerichtete Organisationen jene gegenüber, die gemein- oder bedarfswirtschaftlich orientiert sind, zeigt sich, daß erstere operationale Formalziele anstreben. Diese sind deutlich leichter zu erfassen bzw. meßbar, als die im anderen Fall wesentlich schwerer formulierbaren und nachprüfbaren Sachziele, die meist zuletzt deswegen zunehmend auch als weniger wünschenswert und finanzierbar erscheinen mögen. Der Erfolg von ersteren manifestiert sich - relativ eindeutig- im kaufmännischen Gewinn, der von letzteren im Erreichen öffentlicher Ziele und Aufgaben. Dieses läßt sich ausdrücken im gestifteten sozialen Nettonutzen (als Differenz sozialen Nutzens und sozialer Kosten), den nachzuweisen Sozialbilanzen und ähnliche gemeinwirtschaftliche bzw. gesellschafts- und umweltbezogene Rechnungslegungsansätze sich (seit langem und mit nicht gerade allgemein akzeptiertem Erfolg) bemühen. Ein in diesem Zusammenhang wichtiger Aspekt liegt darin, daß die Möglichkeit unmittelbarer GemeinwohlfOrderung - betriebswirtschaftlich betrachtet - dauerhaft nur dann gegeben ist, wenn die Erhaltung des entsprechenden Beitrages der jeweiligen Organisation gewährleistet ist. Dies führt zur Frage, ob versucht werden soll, (sozial)nutzenstiftende Leistungen unter der Nebenbedingung der Kostendeckung - entgegen derzeit vorherrschenden Tendenzen verstärkt zu forcieren. Problematisch ist dabei, daß in jedem Fallletzlieh immer Märkte mitbestimmen, was als nutzenstiftend gilt, bzw. was nicht. Nach einer anderen Zielvorstellung sollen gemeinwirtschaftliche Organisationen versuchen, ihre nutzenstiftenden Leistungen kostenminimal zu erstellen. Dabei kommt der Gestaltung von Leistungen und der Festlegung ihres Preises eine wesentliche Bedeutung zu, wobei Beiträge der Leistungsempflinger - in zu überlegenden Grenzen - durchaus mit einzubeziehen sind. Worin letztlich gemein- und bedarfswirtschaftliche Leistungen bestehen, stellt eine weitere wesentliche Frage dar. Aufgrund der Vielzahl und Vielfalt der Möglichkeiten derartiger Leistungen erweist sich folgende Kategorisierung als nützlich: Es gilt, fOrderungsbedürftige Bereiche des Gemeinwesens zu stimulieren, kontrollbedürftige Bereiche zu regulieren und ergänzungsbedürftige Bereiche zu komplettieren. Grundsätzlich scheint dies unbezweifelt, an konkreten Inhalten und Fragen der Finanzierung unterscheidet man sich i. d. R. allerdings erheblich.

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In engem Zusammenhang damit steht die Problematik des Trägers von Organisationen. Ausgangspunkt ist dabei die Frage, ob und inwieweit öffentliche Aufgaben vorliegen, die den Einsatz gerneinwirtschaftlichen Wirtschaftens verlangen und rechtfertigen. Hier kommt es zur Notwendigkeit einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem Begriff der sogenannten "lnstrumentalfunktion". Leitend ist dabei der Gedanke, daß die Erfilllung öffentlicher Aufgaben zunächst jedenfalls eine Angelegenheit öffentlicher Verwaltungen ist. Davon ausgehend kann eine entsprechende Erfüllung in nicht wenigen Zusammenhängen auch durch andere Organisationen in Betracht gezogen werden. Die Betriebswirtschaftslehre könnte in den angesprochenen Problemen und Fragen durchaus weiterfUhrende und befriedigende Antworten geben, hat diese bisher aber kaum gegeben. Ein Grund dafilr ist sicherlich die eindeutige Unternehmens- bzw. Kapitalorientierung der meisten Fachvertreter. Der gegenständliche Themenkreis ist demgegenüber letztlich fokussiert auf die Problematik der Aufgaben wirtschaftlichen Handeins im Dienst der Allgemeinheit. Daraus resultiert auch die betriebswirtschaftliche Frage nach der Art und Weise der Aufgabenerfilllung. Zahlreiche Typen von {öffentlichen und privaten) Organisationen leisten diesbezüglich auf einzelwirtschaftlicher Ebene unmittelbar und mittelbar Beiträge zum Gemeinwohl. Ausgehend von ihren {üblicherweise bestehenden) Zielsystemen bzw. den Anforderungen, die die Problematik des Gemeinwohls an diese Zielsysteme stellt, stehen die konkreten Beiträge dieser Organisationen als einzelne Wirtschaftssubjekte und diesbezüglich weitergehende Möglichkeiten sowie deren Operationalisierbarkeit bzw. Messung im Zentrum des Interesses und hoffentlich künftig auch mehr zur Diskussion als derzeit. Angesichts gegenwärtig stark neoliberaler Tendenzen, die nicht primär im Dienste des Menschen stehen und auch von Seiten der Wirtschaftswissenschaften nur allzu oft unterstützt werden, bleibt die Hoffnung, daß das vielzitierte "Pendel" wieder zurückschwingt Reale (Fehl-)Entwicklungen - insbesondere auch im internationalen Kontext - verlangen geradezu nach einer verstärkten Suche nach Alternativen, sowohl ordnungspolitischer, wirtschaftspolitischer wie einzelwirtschaftlicher Art. Wichtig scheint diesbezüglich jedenfalls bewußtes Gegensteuern seitens des Einzelnen und insbesondere auch der Wissenschaft als Ganzes im Sinne steter Kritik an herkömmlichen- in diesem Zusammenhang ökonomischen- Formen und Modellen. Paradigmenwechsel haben, gerade aus meist antizyklischem Denken geboren, selten geschadet. In diesem Sinne: Gemeinwohl vor Eigennutzen, verbunden mit der Hoffnung, nicht aufzugeben, ein Motto, daß auch unserem lieben Jubilar stets zu eigen ist!

Zehnter Teil

Entwicklungszusammenarbeit als globale Herausforderung

Wissenschaft und Entwicklungszusammenarbeit Globale Herausforderungen Von Heinz Löffler Die extrem ungleiche Verteilung der materiellen Lebensgrundlagen auf der Erde und deren Folgen sind zweifellos auch zu Beginn des dritten Jahrtausends - trotzmancher Fortschritte in den vergangeneo Jahrzehnten- auch weiterhin das schwerwiegendste Problem, das einer allgemeinen demokratischen und sozialen Entwicklung der Menschheit im Wege steht. Der Weltentwicklungsbericht 2000/2001 stellt fest, dass von den derzeit lebenden etwa 6 Mrd. Menschen auf der Welt ca. 2,8 Mrd. von weniger als 2 US-$ am Tag und 1,2 Mrd. sogar von weniger als 1$ am Tag leben müssen. Von letzteren leben 24 % Afrika, südlich der Sahara, wobei der Trend weiterhin ansteigt, 44 % in Südasien (dort nimmt der Trend ab), 23 % in Ostasien und im Pazifik-Raum und 7 % in Lateinamerika und der Karibik. Während mehr als 40 % der globalen Bevölkerung in Ländern mit einem Bruttosozialprodukt von rd. 410 US-$ pro Kopf leben, verfUgen etwa 14% der gesamten Menschheit in den wohlhabenden Ländern über ein Bruttosozialprodukt von rd. 21.760 US $ pro Kopf. Die aus der ungleichen Verteilung des Wohlstandes resultierende gravierende Benachteiligung der Armen und Ärmsten hat verheerende Folgen: während unter den 40% der ärmsten Bevölkerung der Erde 10,7% der Kinder vor dem 5. Lebensjahr sterben, beträgt der Anteil in den wohlhabenden Ländern 0,6 %. Die Analphabetenquote bei Erwachsenen über 15 Jahre beträgt bei Männern im Durchschnitt 30 %, bei Frauen gar 49 %, während sie in den einkommensstärksten Ländern gegen null tendiert. Soziale Grundrechte, wie jenes auf Sicherung der Existenz, auf menschenwürdiges Wohnen, auf Bildung, existieren ftlr den Großteil der Bevölkerung in den Ländern des Südens nicht. Die überwiegende Mehrheit hat keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und zu einer ausreichenden medizinischen Grundversorgung. Die Lebensverhältnisse sind - insbesondere in den übervölkerten Metropolen - vielfach katastrophal, in den ländlichen Gebieten durch Umweltzerstörung und fortschreitende Desertifikation schwer beeinträchtigt.

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Die wissenschaftlich-technische Entwicklung in den Ländern des Nordens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Ungleichheit weiter verstärkt und die Voraussetzungen filr ein wirtschaftliches Aufholen der armen Länder erheblich erschwert. Die Vereinten Nationen waren daher bereits 1979 in einer in Wien abgehaltenen Weltkonferenz über Wissenschaft und Technik im Dienste der Entwicklung bemüht, diese Entwicklung zu korrigieren und die Länder des Südens beim Aufbau eigener wissenschaftlich-technischer Kapazitäten zu unterstützen. Ein eigener Aktionsplan des Beratungssystems filr Wissenschaft und Technologie der Vereinten Nationen sah vor, dass filnf Prozent der Forschungsausgaben der wohlhabenden Industrieländer filr die Lösung von Problemen der armen Länder eingesetzt werden sollten. Mangels entsprechender Bereitschaft der Industrieländer, diese Investitionen filr die Zusammenarbeit mit den Ländern des Südens in Ausbildung und Forschung zu tragen, sind jedoch die Erfolge dieser Bemühungen weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Seit der Wiener UN-Konferenz 1979 sind fundamentale weltpolitische und weltwirtschaftliche Veränderungen eingetreten. Das Ende der bipolaren Welt, die dynamische Entwicklung der Europäischen Union und ihre Auswirkungen auf nationale Politik, die rasanten technologischen Entwicklungen, insbesondere der Informations- und Kommunikationstechnologien und wachsende internationale Arbeitsteilung und Vernetzung haben die Rahmenbedingungen ftlr die Entwicklungszusammenarbeit verändert: Wissenschaftlicher Fortschritt und technologische Innovationen, die in den letzten Jahrzehnten exponentiell zugenommen haben, sind die treibende Kraft jener komplexen weltweiten Transformationen, die derzeit vor sich gehen. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung und der technischen Innovation sind zunehmend so in alle Aspekte menschlicher Aktivitäten eingebettet, dass nur auf Wissenschaft basierende Gesellschaften die Aussicht auf weiteren Fortschritt und wirtschaftlichen Erfolg haben. Die Kluft an verfilg- und anwendbarem Wissen und technologischen Fertigkeiten zwischen Nord und Süd ist zu einer zunehmenden Gefahr ftlr die internationale Entwicklung geworden. Es ist erkannt worden, dass die "traditionelle" Entwicklungszusammenarbeit, die vor allem zur Herstellung und Sicherung der primären Lebensgrundlagen betragen soll, ftlr die dauerhafte und nachhaltige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung allein nicht ausreicht. Eigenständige und dauerhafte Entwicklung bedarf des komplementären Auf- und Ausbaus endogener Kapazitäten in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Forschung, ohne welche die fundamentale Abhängigkeit von den Industrieländern nicht zu reduzieren ist. Aufgrund der Annut der Entwicklungsländer sind jedoch die Ressourcen ftlr die notwendigen Investitionen nicht oder nur in sehr geringem Umfang vorhanden. Es ist daher eine vornehme Aufgabe der Wissenschafts- wie der Entwicklungspolitik in den Industrielllndem, durch materielle und immaterielle

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Förderung der Zusammenarbeit und des so genannten "capacity building" in Wissenschaft und Forschung die bestehenden Defizite partnerschaftlieh abzubauen. Mehr als je zuvor stehen die Länder des Südens im Kampf gegen die Probleme und Herausforderungen wie die zunehmend akute Bedrohung der Gesundheit ihrer Bevölkerungen, ökologische Katastrophen und soziale Spannungen aufgrund demographischer Trends und der durch Verarmung oder durch kriegerische Ereignisse bewirkten Migrationsströme, nicht zu vergessen die wirtschaftlichen Probleme, die durch ökonomische Liberalisierung und Globalisierung entstanden sind. Die Entwicklungspolitik steht daher in Theorie und Praxis vor neuen Paradigmen mit bisher ungekannter Komplexität und Interaktion von Wissenssystemen, Lebenshaltungsproblemen, sektoralen Zugängen und sektorübergreifenden Ansätzen. Es bestehen allerdings begrUndete Zweifel, ob die Anstrengungen und die Effizienz, mit welcher die Geberländer die wissensproduzierenden Kapazitäten der Länder des Südens unterstützen, ausreichen, damit diese eigenständige und dauerhafte Anworten auf ihre Probleme finden können. Vielfach sind diese Bemühungen fragmentiert, wenig nachhaltig in der Verbindung zwischen der Unterstützung der Wissenschaft einerseits und den problemlösenden Entwicklungsansätzen auf politischer und innovativer Ebene andererseits, und zu sehr auf Projekte hin orientiert, als in Richtung kohärenter und koordinierter umfassender Politik. Dabei ist auch die Wissenschaft in den Industrieländern spätestens seit den 90er Jahren selbst von neuen Entwicklungen und veränderten Bedingungen betroffen: es findet ein verschärfter Wettbewerb um knappe Förderungsmittel statt, und zwar sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene; die Universitäten gewinnen einerseits an Autonomie, sind aber gehalten, sich stärker dem Wettbewerb mit anderen Institutionen auszusetzen und sich mit kurzfristigen Interessen und Bedürfnissen der Industrie zu arrangieren, um zusätzliche Mittel einzuwerben, weil die benötigten Ausstattungen der Institute nicht nur größer und teurer werden, sondern aufgrunddes wissenschaftlichen Fortschrittes auch wesentlich rascher veraltern. Der Forschungs-Output der Institutionen gewinnt dabei einen besonderen Stellenwert, weil ein Markt fllr Forschungsleistungen entstanden ist. Dieser Markt wird gerne "global" genannt, ohne es zu sein: er erstreckt sich - von Australien und Neuseeland abgesehen - lediglich über die Nordhemisphäre. Die armen Länder des Südens haben dazu nur einen sehr eingeschränkten Zutritt; als Anbieter von Forschungsleistungen können sie aufgrundder benötigten Investitionen zur Ausstattung von Instituten und Forschungseinrichtungen und der geringen Anzahl der beschäftigten Forscher nicht konkurrieren; als Nach-

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frager nach Problemlösungen stehen sie vielfach vor der filr sie unfinanzierbaren Abgeltung von geistigen Eigentumsrechten in Form von Patenten und Lizenzen. Die eingangs dargestellte Teilung der Welt in arm und reich erstreckt sich unter den Bedingungen des Weltmarktes eben auch auf den Bereich der Wissenschaft und Technologie und deren Anwendung, ja sie ist dort noch um vieles stärker: Auf die OECD-Mitgliedsländer entfallen rund 85 % der weltweiten Forschungsausgaben, auf China, Indien und Südostasien weitere zehn Prozent, was bedeutet, dass zwei Kontinente, nämlich Lateinamerika und Afrika filr lediglich filnf Prozent der Forschungsausgaben aufkommen. Die durchschnittlichen Forschungsausgaben der 24 reichsten Länder sind rund 250 mal so hoch wie die der filnfzig ärmsten Länder. Vier Fünftel des wissenschaftlichen Outputs der Welt wird von neun hochentwickelten Industriestaaten und Indien produziert, 96 % der weltweiten Patente sind in den USA, in Europa und Japan registriert. In weiten Teilen der scientific community des Nordens wird die Forschungskooperation mit Wissenschaftlerinnen des Südens eher abwertend als bloße "Entwicklungshilfe" betrachtet, die auf der akademischen Ebene zwar hohe moralische Anerkennung genießt, aber keinen sehr hohen Marktwert erzielt, es sei denn, dass aus der Zusammenarbeit patentierbare Erkenntnisse fllr die Partner aus dem Norden zu gewinnen sind. Es ist auch angesichts der zumeist bestehenden Qualitätsunterschiede der Ausstattung der Institute mit Geräten und Instrumenten nicht immer einfach zu kooperieren, ganz abgesehen von den klimatischen Bedingungen und den in tropischen Regionen endemischen Krankheiten. Andererseits haben die FQrtschritte in der Mikroelektronik und der Telekommunikation es inzwischen ermöglicht, dass auch die armen Regionen der Welt in gewissen Forschungsbereichen an der wissenschaftlichen Entwicklung leichter partizipieren können, da Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Literatur über das Internet schnell verbreitet und zugänglich gemacht werden können und eine Arbeitsteilung mit Instituten in den Industrieländern ohne die entsprechenden Reisebewegungen möglich geworden ist. Zweifellos kann die Zusammenarbeit der Industrieländer mit den Ländern des Südens in Wissenschaft und technologischer Entwicklung trotz der skizzierten Unzulänglichkeiten und trotz unzureichenden Mitteln in den vergangenen runfundzwanzig oder dreißig Jahren einige Erfolge verzeichnen. Es ist gelungen, durch gezielte Ausbildungsmaßnahmen ein wissenschaftliches Potenzial zu fi>rdern, Institute auf- und auszubauen und wissenschaftliches knowhow zu transferieren. In einigen Bereichen sind trotz aller vorhandenen Be-

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nachteiligungen endogene Kapazitäten geschaffen worden, die zur Lösung von Problemen in ihren Ländern maßgeblich beitragen können. Dennoch bedürfen diese immer wieder der Förderung durch die "Geberländer", da die öffentlichen Budgets (nicht zuletzt aufgrund der Auflagen internationaler Finanzorganisationen) starken Einschränkungen unterliegen und private Financiers, wie etwa eine an Forschungsergebnissen interessierte Industrie, kaum vorhanden sind. Kritische Massen sind auf diese Weise nicht herzustellen. Daher ist der Aufbau eines nationalen Innovationssystems in ähnlicher Komplexität wie in den Industrieländern massiv behindert. Die wesentlichen Impulse zur Veränderung können nur im globalen Maßstab erfolgen und von großen Entitäten und Organisationen mit entsprechenden wirtschaftlichen und politischen Einflussmöglichkeiten kommen. Sie müssen eingebettet in und angepasst an die komplexen globalen wirtschaftlichen Strategien - langfristig angelegt und aufeinander abgestimmt sein. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass lokale und nationale Initiativen der Bildungs- und Forschungskooperation überflüssig sein werden. Sie stellen im Gegenteil ein komplementäres Set von Maßnahmen dar, welches auf individueller und institutioneller Ebene die langfristigen Strategien der großen Organisationen ergänzen kann und soll, weil sie eher nachhaltig angelegt sind als große Programme. Persönliche Verbindungen zwischen Forscherinnen und Forschern in den Industrieländern mit ihren Partnern im Süden sind tragfähiger, in der Regel dauerhafter und in ihrer Wirksamkeit nicht zu unterschätzen. Forscherinnen und Forscher, die trotz aller Schwierigkeiten mit Partnern in Ländern des Südens im Sinne der Universalität der Wissenschaft kooperieren wollen, die gemeinsam an Lösungen filr soziale, wirtschaftliche, ökologische Probleme arbeiten, finden in Österreich eine Anlaufstelle: Die Kommission filr Entwicklungsfragen bei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist eine Einrichtung, welche Forschungsffirderungen ausschließlich filr kooperative Projekte mit einem angemessenen erwartbaren Nutzen für das Entwicklungsland vergibt. Diese 1981 als Österreichische Folgemaßnahme der eingangs erwähnten UNKonferenz in Wien gegründete Einrichtung hat in den letzten 20 Jahren zahlreiche gemeinsame, anwendungsorientierte Forschungsprojekte aus verschiedenen Disziplinen mit Partnern im Süden - in Afrika, in Lateinamerika und in Südund Südostasien - gefOrdert. Thematische Schwerpunkte lagen in den Bereichen der Umweltforschung, der Landwirtschaft, der Veterinärmedizin und der sozialwissenschaftliehen Begleitforschung. Professor Zapotoczky hat als langjähriges, stets aktives und konstruktives Mitglied dieser Kommission an den Beratungen über die Förderungswürdigkeit dieser Projekte mitgewirkt. Er konnte dabei seine reichen Erfahrungen in der

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Entwicklungsforschung, wie sie an seinem Institut der Johannes Kepler Universität Linz betrieben wird, zur Verftlgung stellen und hat sich als weiser Mentor des wissenschaftlichen Nachwuchses außerordentlich verdient gemacht. Als Kommissionsvorsitzender rufe ich ihm deshalb ein "ad multos annos" zu.

Von Armut und Reichtum in unsicheren Zeiten Von Andreas J. Ohrecht Der Jubilar Klaus Zapotoczky hat meine soziologische Perspektive, meinen wissenschaftlichen Werdegang und mein persönliches Leben stark geprägt war er es doch, der mir viele Jahre lang eine intensive Forschungstätigkeit an dem durch ihn 1989 gegründeten Interdisziplinären Forschungsinstitut fllr Entwicklungszusammenarbeit (IEZ) ermöglicht hat. Von der kulturanthropologischen Grundlagenforschung kommend, die mich insbesondere im südlichen Afrika und in Papua Neuguinea (Südpazitik) den Fragen nach den strukturellen, durch Modemisierung bedingten Veränderungsprozessen in ehemals segmentären, ethnischen Gesellschaften auf so unterschiedlichen Dimensionen wie Geschlechtsrollenverhältnisse, Monetarisierung, Subsistenzökonomie, Magie und Religion etc. nachspüren ließ, bedeutete mein Einstieg in das IEZ vor allem eines: Die "akademische" Analyse selbst zur Basis von Interventionen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) zu machen. Dieser Praxisbezug, die Anhindung der wissenschaftlichen Fragestellungen an zentrale soziale Probleme der untersuchten Populationen und Sozietäten, das Ausarbeiten von Szenarien zur Hebung von oft in Verelendung begriffenen Lebensbedingungen und deren Umsetzung im Rahmen entwicklungspolitischer Maßnahmen waren fllr mich lehrreiche Etappen auf dem Weg zu einer engagierten gesellschaftsrelevanten Sozialwissenschaft. Ausgehend von konkreten Problemstellungen in zumeist ländlichen, marginalisierten und nicht-elektrifizierten Gebieten stehen bei unseren FeasibilityStudien, Monitorings und Evaluationen die betroffenen Menschen stets im Mittelpunkt. In den partizipativen Forschungsansätzen sind wir bestrebt, Raum fllr Reflexion und Artikulation zu schaffen, Lösungsansätze nicht zu "verordnen", sondern Anregungen aus der Bevölkerung aufzugreifen und in eine "Sprache" zu übersetzen, die auch in unserer Welt verständlich ist. Ob dies nun im ländlichen Tansania, in Zimbabwe, im Senegal, in Ruanda, Südafrika oder an den steilen Hängen des Solu Khumbu am Fuße des Himalaya in Ostnepal ist, ob es dabei um sauberes Wasser, medizinische Versorgung, Senkung der Kindersterblichkeit, Agroökonomie, Migration oder um den Einsatz selbstbaubarer

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Dorftechnologien und erneuerbarer Energien geht - die wissenschaftliche Expertise richtet sich an dem Problembewusstsein und den kulturellen Konstruktionen der Betroffenen aus. Ein Ansatz, der auch dazu geftlhrt hat, dass alle Erhebungen mittlerweile durch gut geschulte lokale Forschungsteams in den indigenen Sprachen durchgeftlhrt werden, weil in all diesen Gebieten gerade die ärmsten Menschen zumeist nicht alphabetisiert sind und deshalb auch die jeweiligen Verkehrssprachen kaum sprechen. In diesen Studien geht es vor allem um Armut, bzw. um das, was wir darunter verstehen, und um Strategien der Linderung derselben unter Berücksichtigung relevanter Aspekte sozialer, ökologischer und kultureller Nachhaltigkeit. FUr uns, die wir im "reichen Westen" aufgewachsen sind, mag die Beschäftigung mit diesem Feld zuweilen schwierig sein- denn es geht dabei nicht nur um die Akzeptanz völlig unterschiedlicher kultureller Welten, sondern auch oft um die Akzeptanz unserer eigenen Ohnmacht im Umgang mit dem, was wir "Armut" nennen! Nicht nur politische, ökonomische, soziale, sondern vor allem auch ethische Fragen treten dabei auf: Denn zwischen sich distanzierendem Zynismus und naiven, sich in verschiedenen Formen des "Helfer-Syndroms" manifestierenden Patemalismen sind oft nur schmale Grate, auf denen zu balancieren und auch die richtigen Entscheidungen zu treffen nicht immer leicht ist! Noch schwieriger scheint es, die "positiven" Aspekte "armer'' Gesellschaften sehen, erleben und auch benennen zu können - ohne Rousseauschen Romantisierungen auf den Leim zu gehen: Vitalität, Religiosität, Gemeinschaftsorientierung, Kinderfreundlichkeit, Zeitreichtum etc. All diese "positiven" Aspekte existieren auch in den ärmsten Gesellschaften, und es ist wichtig sie wahrzunehmen, um sie nicht aus unserer Sicht - der Sicht der "Reichen" - zu Ubersehen und damit zu entwerten. Ja manchmal scheint es sogar, als wären Pessimismus und das Geftlhl der Zukunftslosigkeit, des Egoismus und der Vereinzelung direkt proportional zu dem materiellen Reichtum, den eine Gesellschaft- die dann allmählich verlernt zu teilen - produziert! Klaus Zapotoczky hat weder als politischer Mensch noch als Wissenschaftler die Fragen nach der Legitimität des Reichtums angesichts drastischer Armut, nach der globalen Ungleichheitsverteilung und nach etwaigen Korrekturen derselben aus der Verantwortung des ethischen KalkUis entlassen. Humanitäre Gesinnung, die Bereitschaft, Uber den eigenen Tellerrand zu blicken, engagierte Positionen zu beziehen, zu helfen, ftlr andere da zu sein, zu teilen lässt sich eben nicht "rational", nach reinen VemUnftigkeitskriterien begründen, geschweige denn einfordern! Diese Bereitschaft ist zutiefst verankert in einem humanistischen Weltbild, das den Menschen nicht als des anderen Menschen Wolf, sondern als dessen potentiellen Begleiter, Beschützer auch in der Not interpretiert. Und letztlich berührt diese ethische Gesinnung- die im Christentum so weitreichend mit "Nächstenliebe" umschrieben ist - auch implizit reli-

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giöse Dimensionen. Denn nur in einer säkularisierten Welt glauben die Menschen, dass der Umgang mit sich selbst und den jeweils anderen allein durch sich selbst, durch das "eigene" Denken, durch die "eigene" Erfahrung", durch die "eigenen" kulturellen und ökonomischen Konstruktionen begründbar und auch legitimierbar ist. Faszinierend sind die Variabilität und kulturellen Unterschiedlichkeiten, denen wir im Zuge unserer Forschungen in armen ländlichen, teilweise noch subsistenzwirtschaftenden Gebieten begegnen konnten. So unterschiedlich diese kulturellen Systeme sein mögen - ein zentrales Faktum verbindet sie miteinander und unterscheidet sie auch fundamental von der so genannten industrialisierten Welt: "Anne" Gesellschaften sind zeitreiche Gesellschaften, "reiche" Gesellschaften sind zeitanne Gesellschaften! Der Umgang mit der "Ressource" Zeit stellt sich in schwach monetarisierten Gesellschaften vollkommen anders dar, als in dynamischen Mobilitätskulturen - in denen die Zeit eben schon lange zu Geld geworden ist. In einer nutzen- und zeitmaximierenden Erwerbsgesellschaft gilt für die große Mehrheit ihrer Bewohner die einfache Fonnel: Entweder man hat Geld, dann hat man keine Zeit, oder man hat Zeit, dann aber kein Geld. Diese einfache Gleichung- von der natürlich reiche Erben, gelassene Investoren und andere privilegierte Bürger ausgenommen sind - gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Regionen, ganze Länder und Kulturkreise: "Reichtum" ist eine Folge der "Zeitverknappung" und "Annut" eine Folge des "Zeitreichtums"! "Anne" Gesellschaften sind jene, in denen die Zeit noch nicht in einem für ökonomische Produktivität und die Akkumulation von gesellschaftlichem Reichtum erforderlichen Ausmaß "verknappt" ist. In "annen" Gesellschaften gibt es zuviel Zeit, um in einem westlichen Sinne fortzu-schreiten, in "reichen" Gesellschaften zuwenig, um in der Gegenwart etwas anderes zu sehen und zu leben als eine "hypothetische" Zukunft. In einer "armen" Gesellschaft freilich sind Zeit und seltsamer Weise auch Zukunft im Überfluss vorhanden. Zeit wird genutzt ohne Zeit sparen zu müssen. Es gibt keinen ökonomischen und sozialen Druck, die Bewegung, die Organisation, die Produktion und die Kommunikation etc. fortwährend zu beschleunigen. Diese erstaunliche Tatsache hat mich bei meinen Arbeiten in "annen", aber zeitreichen Gesellschaften immer wieder fasziniert, weshalb ich anschließend einige mir für die Forschungsansätze des IEZ, für das Verhältnis von Entwicklungspolitik und der Praxis der Entwicklungszusammenarbeit und damit filr die Relation zwischen Erster und so genannter Dritter Welt wichtig erscheinende Überlegungen darlegen will. Die Bewohner der "reichen" Welt verbringen ein Gutteil ihrer Zeit damit, Zeit zu sparen, um filr jeweils Anderes als das, was gerade jetzt ist, Zeit zu haben. Trifft dieses Andere dann ein, wird also das Zukünftige zur Gegenwart, dann gibt es wiederum keine Zeit, denn diese muss wiederum gespart werden

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fiir ein Anderes, das im Jetzt niemals existieren kann. So wird vor der Zeit "davon gerannt" indem man sie ununterbrochen "einzuholen" und wohl auch zu überlisten trachtet. Mit der kulturbestimmenden Vorstellung, Zeit - und damit Geld - zu sparen, entzieht sich die Gegenwart dem "modernen" mobilen Menschen. Da Geld prinzipiell unbegrenzt akkumulierbar ist, braucht man selbst auch nie in der Gegenwart anzukommen. Jeder Schritt, jede Investition ist ein Durchgangsstadium zu weiteren Schritten, zu weiteren Investitionen das Jetzt ein flüchtiger Augenblick, in den die Zukunft gelegt ist: Für den "modernen" Menschen beginnt diese Zukunft immer in der Gegenwart, womit die Gegenwart selbst immer schon vergangen ist - noch bevor man ihrer gewahr wird! Anteilnahme, Verständnis, Gemeinschaftsorientierung freilich bedürfen des Jetzt. Auch jene Abbildung von sozialer "Realität", die durch die Sozialwissenschaft erhoben und dargestellt wird, bedarf der ungeteilten Aufmerksamkeit in der Gegenwart. Letztlich beschreibt sich diese Abbildung durch Geschichten - erzählt von Menschen ftlr Menschen. Man muss zuhören, um diesen Geschichten folgen zu können, und zwar jetzt! Und man muss geduldig sein, da nicht der Zuhörer, sondern der Erzähler die Struktur der Geschichten bestimmt! In der Struktur der Abbildung, in der Struktur der Erzählung lässt sich nicht auf die letzte Seite nach vorne blättern. Nichts lässt sich in der Erzählung vorwegnehmen. Sie verlangt einfach - Zeit! Die Gegenwart ist die Zeit, die weder "geborgt'', "getauscht" noch "verschenkt" werden kann. Und diese Gegenwart erfahren wir durch Bilder, ftlr deren Dekodierung wir uns Zeit, viel Zeit nehmen müssen. Wenn wir uns diese Zeit nicht nehmen, dann haben wir nichts von dem verstanden, was hinter den Bildern gewartet hat, von uns erkannt zu sein. Mit dem Geduld evozierenden und verlangenden Zeitreichtum waren wir währendallunse rer Reisen und Forschungen im subsaharischen Afrika ständig konfrontiert. Der gelassene Umgang mit der Gegenwart und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind in der Logik der westlichen "Zeit- und Nutzenmaximierung" ftlr viele weder verständlich noch "rational". In der Wahrnehmung des Mobilitätsmenschen reiht sich dieser scheinbar "irrationale" Umgang mit Zeit an eine ganze Kette von "Bedrohungsszenarien", die mit der Ohnmacht, die angesichts von Armut empfunden wird, verbunden sind. Denn die Länder des subsaharischen Afrika sind nicht nur "arm", sondern in der Perspektive der Industriestaaten auch bestraft durch scheinbar unabwendbare, immer wiederkehrende Desaster: Ethnische Kriege, Dürre, Hungersnöte, Bevölkerungsexplosion, Kindersterblichkeit, Epidemien, Aids! Bestraft wofllr? Daftlr, dass diese Länder, entgegen den "Entwicklungs-Bemnhungen'' der westlichen Welt, "arm" geblieben sind und sich nicht in einem entscheidenden Ausmaß der "Modernisierung" und damit der systematischen und systemischen Verknappung von Zeit, die zu einer höheren ökonomischen Produktivität fUhrt, angeschlossen haben! Lebensverlängerung ist ebenso ein Produkt des Reich-

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tums wie Friede ein Produkt jener ökonomischen Vemetzung ist, die Krieg verunmöglicht. Und so projizieren die Menschen der "reichen" Länder ein ganzes Arsenal an Bedrohungspotentialen in die scheinbar so "unvernünftige", zeitreiche "Armut". Gesellschaftlicher "Reichtum" gestaltet sich wesentlich durch ..rationale" Planung, durch Prognostik und Investitionen in die Zukunft: Künftige Unsicherheiten sollen so weit wie möglich minimiert werden. "Armut" hingegen ist gegenwartsbezogen, lebt "von einem Tag zum anderen", stellt sich im Jetzt den Risken eines weder versicherten noch - nach westlichen Kriterien - institutionell geschützten Lebens. In "reichen" Gesellschaften tinden wir mehrheitlich demokratische Strukturen, die Einhaltung der Menschenrechte, Sozialversicherung und Gesundheitsversorgung sowie die erstaunliche Tatsache, dass die Menschen immer länger leben und in dieser Lebensverlängerung - bis jetzt - auch versorgt sind. In "armen" Gesellschaften finden wir zumeist autokratische Strukturen, Kinderarbeit und wenig Rechtssicherheit, Korruption und institutionelle Willkür, wobei Sozialversicherung und ausreichende Gesundheitsversorgung faktisch unbekannt sind. In "armen" Gesellschaften leben Menschen durchschnittlich um 20 bis 30 Jahre kürzer als in "reichen" Gesellschaften. Aus der Perspektive der "Reichen" müssen die Konsequenzen der "Armut" wesentlich "hausgemacht" erscheinen. Das Leben, die Gegenwart entziehen sich einer "vernünftigen" Prognose! Wo bleibt da die "Sicherheit", auf die wir so stolz sind? Es scheint, als hätte gesellschaftlicher Reichtum Sicherheit produziert und Armut zwangsläufig Unsicherheit. Riskieren wir aber einen zweiten Blick auf die Verteilung der "Bedrohungen" in dieser Welt, so dreht sich das Verhältnis um: denn niemals zuvor ist soviel Unsicherheit durch Reichtum produziert worden wie heute - von der globalen ökologischen Krise, über die Massenvernichtungsarsenale bis hin zu riskanten "wissenschaftlichen" Experimenten wie gentechnologische Manipulationen, die schon jetzt zu neuen "Industriezweigen" gefilhrt haben, die letztlich ad infmitum ausbau- und ausheutbar sind. Im Vergleich zu den aus Reichtum resultierenden Desasterszenarien nehmen sich die Unsicherheiten und Risken von "armen" Gesellschaften geradezu harmlos aus - wie "Kinderkrankheiten" einer Menschheit, die sich einer extrem bedrohlichen "Entwicklungsideologie" verschrieben hat. Vermeintliche Sicherheit aufgrund von Reichtum setzt die Verknappung von Zeit voraus um in Konkurrenz zu den jeweils anderen Profite zu erzielen, die in Summe die Gesellschaft wohlhabend machen. Der Weg zum Reichtum, ob nun individuell oder gesellschaftlich, folgt der "Logik" ununterbrochener Expansion: Seit Beginn der Industriellen Revolution hat kapitalistische Produktion und Exploitation nicht nur die Räume zusammenrücken lassen, sondern auch die Zeiten zwischen den Räumen. Heute kommunizieren wir in "Echtzeit'', das Prinzip überproportionaler Beschleunigung stößt nicht nur im individuellen Bereich, sondern auch in der Ökonomie z.B. in den sich ständig verkürzenden Produktlebenszyklen - an seine ,,natürli-

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chen" Grenzen. Während sich in der reichen Welt Zeitmanagement-Seminare großer Beliebtheit erfreuen, sind Hunderte MiJJionen Menschen auf diesem Planeten von der systemischen Zeitverknappung ausgeschlossen. Das "global village" entpuppt sich als Ideologie. Denn größer könnte der Kontrast zwischen marginalisierten und ökonomisch isolierten Gebieten - die riesige Landmassen umfassen wie z.B. die Länder des subsaharischen Afrika ohne die Republik Südafrika- und der industrialisierten Welt gar nicht sein. Wir haben Maschinen gebaut um Zeit zu sparen und haben dann doch wieder keine Zeit gehabt, diese "Zeitersparnis" zu nützen. Wir haben Unsicherheiten minimiert und Leben verlängert und trotz oder gerade wegen dieses gesellschaftlichen Reichtums Risken heraufbeschworen, die nicht nur schwer zu kontrollieren sind, sondern einer - in der Struktur von dieser "Entwicklung" angelegten - Eigendynamik verhaftet sind: In einer dynamischen Mobilitätsgesellschaft müssen Wirtschaft, Produktivität aber auch wir selbst "wachsen". Nullwachstum oder - individuell-emotional gesprochen - Zufriedenheit, mit dem was da ist, bedeutet Stagnation. Dieser dynamische, auf stetem Wachstum basierende Fortschrittsgedanke, der die Gegenwart als Durchgangsstadium fiir Zukünftiges definiert, stellt erstaunlich hohe Anforderungen an den Einzelnen. Er befindet sich ständig in jenem Wettbewerb, der Voraussetzung filr ökonomische Prosperität ist. Durch tiefgreifende Individualisierungsprozesse werden traditionale Bindungen, Familienstrukturen und Loyalitäten zwangsläufig desavouiert. Kapitalistische Produktivität verlangt individuelle Kaufkraft, "sprengt" die Einheit von Produktion und Konsumption, die die Strukturen der "alten" Großfamilie, insbesondere in subsistenzwirtschaftenden Agrargesellschaften, wesentlich bestimmt hat. Die "extended family" freilich ist auch heute noch die dominante Familien- und damit Lebensform in den marginalisierten Gebieten des ländlichen Afrika. In "armen" Gesellschaften findet kein Wirtschaftswachstum statt - sie sind "Nullwachstumsgesellschaften" oder - an ökonomischen Maßzahlen gemessen -oft auch "Minuswachstumsgesellschaften"! Das, was in der westlichen Welt zum Zusammenbruch des gesamten ökonomischen Systems fUhren würde, garantiert in der "armen" Welt teilweise das Überleben. Denn rasches Wachstum der Geldökonomie auf der einen Seite fUhrt nicht selten zu fortschreitender Verelendung auf der anderen Seite. Verelendung ist dann gegeben, wenn die Familien nicht mehr - gemessen am vorhandenen kulturellen Standard - "normal" leben können, oder komplizierter ausgedrückt, wenn ihre "materielle Reproduktion" geflihrdet ist. So hat z.B. die Monetarisierung von afrikanischen Gesellschaften durch die Plantagenökonomie zur Verelendung von großen Bevölkerungsgruppen gefilhrt: Der Verlust von Land und damit der subsistenten Produktionsbasis kann durch die "Bezahlung" der Plantagenarbeit nicht kompensiert werden - die Folgen sind Hunger und das Entstehen einer landlo-

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sen Klasse von Entrechteten, die unter dem Existenzminimum leben und das obwohl - bei guter Exportlage von Agrarprodukten - das Bruttosozialprodukt mitunter steigt. In einer "armen" Nullwachstumsgesellschaft wird vornehmlich subsistent produziert - auf der Basis großfamilialer Strukturen. Dies hat weitreichende Konsequenzen: Es ist die Familie, die den Menschen "absichert", ihm "Rechtssicherheit" gewährt, ihn in Würde altem lässt. Nicht der Staat oder das Wirtschaftswachstum - beides im Grunde recht fragile, anonyme und schwer beeinflussbare Konstrukte, von denen "reiche" Menschen aber zutiefst abhängen. So entpuppen sich die Lebensbedingungen in so manch "armer" Gesellschaft oft als durchaus sicherer als jene in "reichen" Gesellschaften, in denen ununterbrochen produziert, konsumiert und investiert werden muss, um Sicherheit aufrechtzuerhalten und Wachstum zu erzielen, dabei aber enorme Risken geschaffen und- im wahrsten Sinn des Wortes- in Kauf genommen werden. Bei unseren Reisen und Forschungen in Ländern des subsaharischen Afrika sind wir auch auf Dürre, die Greuel des Krieges, auf Verelendung und auf Aids getroffen. Auf die Schatten alljener desaströsen Bilder, die medial und alltagssprachlich nicht nur auf diesen Kontinent, sondern generell auf "Armut" projiziert werden. Aber wir haben vor allem auch die andere Seite der Medaille kennengelernt - jene der friedlich koexistierenden ethnischen Gruppen, der religiösen und kulturellen Vielfalt, der funktionierenden Subsistenzökonomien, der intakten, Sicherheit garantierenden Familienstrukturen, der Freundlichkeit und Gelassenheit im Umgang mit Menschen, der Fülle an Zeit, die für das Leben der Menschen da zu sein scheint ... Die Bilder des zeitreichen, friedlichen und kinderliebenden Afrikas sind in uns stärker haften geblieben als die Bilder des Elends. Und das mit gutem Grund: Denn alle Desaster stellen auch in der Welt der Armen die Ausnahmesituation, nicht die Regel dar. Und jenseits der Ausnahmen regelt nicht nationalstaatliches Recht, sondern eine Fülle normativer ethnischer Prinzipien das gemeinschaftliche Zusammenleben, seit Hunderten, ja Tausenden von Jahren. Die wichtigste Voraussetzung für subsistentes Wirtschaften freilich ist, dass die Menschen nicht verlernt haben, zu teilen. Das ist eine heikle Angelegenheit und führt in raschen Modemisierungsprozessen zu einer schnellen und bislang ungekannten Hierarchisierung innerhalb der Gesellschaft. Denn Geldwirtschaft individualisiert Menschen zu "Konsumenten". Es ist das Ego des Einzelnen, das durch Marketingsstrategien angesprochen werden soll, bestenfalls noch das Ego der Kleinfamilie- aber dies mit abnehmender Bedeutung. Die Folge davon ist die Verkleinerung, die "Intimisierung" der Familien, die Entstehung dünner, aber kauffähiger Mittelschichten in den Städten der armen Länder, die als Peripherie stärker mit den Zentren der westlichen Welt verbunden sind als mit ihrem eigenen "Hinterland". Die Kluft zwischen Stadt und Land wird enorm und die Migration bedeutet für viele

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keine neuen Zugänge - zu Einkommen und Konsum -, sondern lediglich Verelendung in den urbanen "Squatter-Settlements". Das Wetteifern, Leisten, Konsumieren und zur Schau-Stellen in der "reichen" Welt der Güter und Dienstleistungen hat den simplen Zweck, mehr "Prestige" zu erwerben als der jeweils andere. Diese egozentrische Ökonomie wird in die entlegensten Winkel dieser Welt als Marketingstrategie und Anreiz fiir wirtschaftliches Wachstum exportiert. Nicht immer freilich mit großem Erfolg. Neoliberale Ökonomen argumentieren mit der Notwendigkeit, gerade schwache Volkswirtschaften stärker in das Weltwirtschaftssystem einbinden zu wollen. Dies freilich bleibt ein vorwiegend theoretischer Diskurs, denn - entgegen der ökonomischen Logik des Kolonialismus - bedarf die "reiche" Welt der "armen" nicht mehr um reich zu bleiben und noch reicher zu werden. Waren die Länder des subsaharischen Afrika vor zehn Jahren am Welthandelsvolumen noch etwa zu 2,7% beteiligt so ist dieser Anteil unter 0,6% gesunken. Die 47 ärmsten Länder dieser Welt sind am Welthandelsvolumen überhaupt nur zu 0,04 % beteiligt. Das kumulierte Bruttosozialprodukt der Länder des subsaharischen Afrika - die Republik Südafrika ausgenommen - entspricht etwa jenem Belgiens. Diese Entwicklung hat viele Gründe. Einer davon ist die Tatsache, dass marktorientiertes Produzieren und individualisiertes Konsumieren aufgrund fehlenden Kapitals und fehlender Kaufkraft verunmöglicht ist. Oder anders ausgedrückt: der Konstruktion einer marktgängigen, sich durch individuellen Konsum, durch symbolische Lebensstile etc. manifestierenden Identität sind enge Grenzen gesetzt. In "armen" Gesellschaften konstruiert sich Identität anders: nicht über Leistung, Wettbewerb und Konsum, sondern über den Bezug zu anderen Menschen, die soziale Rolle, die man innerhalb jener Gemeinschaft einnimmt, von der man nach wie vor stark abhängt. Die Kohäsion solcher Überlebens-Gemeinschaften wird durch ethnische Regeln und Verpflichtungen, wesentlich auch durch "Rituale des Teilens" garantiert. Teilen als notwendig menschliches Aufeinander-Bezogensein, das so alt ist wie die Menschheit selbst, in der "reichen" Welt freilich zusehends in Vergessenheit geraten ist. Denn in dieser braucht man nicht in direkter sozialer Interaktion mit anderen Menschen zu teilen um Sicherheit zu erfahren. In der "reichen" Welt "garantiert" das medizinische System die Gesundheit, der Staat die Rechtssicherheit, das Wirtschaftswachstum den individuellen Wohlstand und die Pensionsversicherung ein gesichertes Leben im Alter. Die Delegation der Erfiillung grundsätzlicher menschlicher Bedilrfuisse an Institutionen und Systeme ist ein zentrales Merkmal des Reichtums, der beschleunigten Produktivität und der aus ihr gewachsenen Modeme. Damit schwindet auch die Bedeutung, die Kinder und Kindeskinder filr das Leben und Überleben der Menschen haben. Sie werden bestenfalls als emotionale Bereicherung angesehen, aber nicht mehr als existentielle Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

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Wenn Menschen oder Gesellschaften- aus der Perspektive der "Reichen"als "arm" etikettiert werden, so bedeutet dies oft eine systematische Entwertung. Denn Industrialisierung und Individualisierung haben der Armut ihre Würde und auch ihre gesellschaftliche Funktion genommen. Wer arm ist hat versagt, keine Strategien gefunden, an dem gesellschaftlichen Reichtum zu partizipieren. Orientierung an Geld und individuellem Konsum, im Sinne der Erfilllung von "Bedürfnissen" schwächt in einem entscheidenden Ausmaß die Bedeutung der jeweiligen Religion in einer Gesellschaft. In den meisten Religionen wird "Armut" nicht als Stigma, sondern als eine Form, oft auch als eine spezielle "heilige" Art des Lebens gesehen. Keine religiöse Gesellschaft spricht den "Armen" ihre Existenzberechtigung ab. Sie werden selbstverständlich mitversorgt, auch wenn sie ein geringeres Sozialprestige haben sollten. In Hochreligionen wie Hinduismus, Buddhismus, Islam oder nicht-säkularisiertem und nicht-reformiertem Christentum bedarf der "Reiche" der "Armen" um sich durch Mildtätigkeit, Almosen und gute Werke von der Last des "Reichtums" reinzuwaschen. In der religiösen Praxis wird ein Leben in Armut oft spirituell überhöht - von den Bettelorden des christlichen Mittelalters, über die pilgernden, bettelnden heiligen Männer auf dem indischen Subkontinent bis hin zu den Koran-Suren singenden Bettlern in den ostafrikanischen Küstenstädten, an denen fromme Muslime auf ihrem Weg zur Moschee nicht vorbeigehen können ohne Almosen zu geben. Dafiir werden sie mit heiligen Sprüchen oder einem Schutzgebet aus dem Munde des Bettlers beschenkt. Armut hat in nichtsäkularisierten Gesellschaften nicht nur eine spirituelle, zuweilen auch eine magische Bedeutung: Denn Armut greift in das Leben der Reichen insofern ein, als sie ihnen die Vergänglichkeit und Oberflächlichkeit des materiellen Besitzes vor Augen filhrt und den Reichen dadurch vor Hoffahrt und Selbstherrlichkeit bewahren will. Unzählige Religionsgründer, heilige Männer und Frauen begannen ihre spirituellen Karrieren von privilegierten Positionen aus. Sie schwelgten in Reichtum und Überfluss bevor sie die Nichtigkeit des Reichtums, nicht selten durch direkte Konfrontation mit der Armut, erkannten und schließlich in selbstgewählter heiterer Entsagung von allen irdischen Besitztümern jene Lebensweise entdeckten, die sie zu tieferen Einsichten und spirituellen Dimensionen filhrte. Der moderne mobile Mensch nimmt sich zumeist die Chance, in der Armut etwas anderes zu erkennen, als das Negative, das Manko, das er in ihr vorzufinden meint: Das Fehlen von Geld, Gütern und durch Geld bezahlten Dienstleistungen! Menschen aus "reichen" Ländern eilen schnell an Bettlern vorüber, denn sie assoziieren "Armut" mit Schmutz, Versagen und Krankheit. Man will den Armen nicht in die Augen sehen, könnte man darin doch seine eigene Verletzharkeil und auch Sterblichkeit entdecken. Will man an ihnen schnell vorübereilen, so darf man Bettlern nicht in die Augen sehen! In subsistenzwirtschaftenden Gesellschaften mit vorwiegend animistischen Religionen gibt es

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"Armut" in unserem Sinn schließlich überhaupt nicht, sofern die Lebensbasis in der Gemeinschaft filr jeden - also auch filr die uns "arm" Erscheinenden garantiert ist. Da sich "Wohlhabenheit" in diesen Gesellschaften primär durch die Größe des Landes, die Stückzahl der Tiere, die Anzahl der Frauen und Kinder ausdrückt, haben jene ein niedriges Sozialprestige, die an diesen Segnungen wenig oder gar nicht partizipieren. Ihre materieBe Existenzberechtigung freilich aufgrund von "Unproduktivität" in Frage zu steHen wäre gleichennassen absurd wie die Vorste11ung, dass sie eine Bedrohung filr Wohlhabende sein könnten. In diesen Gese11schaften hat sich als Grundprinzip der Ökonomie das "Teilen" erhalten, auch deshalb, weil durch die ethnischen Strukturen der Grad an Individualität, der sich durch "Nicht-Teilen" definiert, zwangsläufig gering ist. In der modernen Welt beruht Teilen immer auf "Freiwilligkeit" womit die Caritas selbst zur Privatangelegenheit wird. In subsistenzwirtschaftenden Gese11schaften steHt Teilen eine Lebensnotwendigkeit dar, eine Vereinzelung ihrer Mitglieder entzöge einer solchen Gese11schaft nicht nur die ökonomische Grundlage. In modernen Gesellschaften wiederum ist "Nicht-Teilen" Voraussetzung filr die Akkumulation individuellen und gesellschaftlichen Reichtums. Ein Bruchteil dieses Reichtums wird in den meisten westlichen Demokratien zwar "nach unten" umverteilt, doch der Einzelne ist aus seiner Verantwortung des "Teilen-Müssens" definitiv entlassen. In der Rhetorik der "offizie11en Politik", die das Verhältnis zwischen "armen" und "reichen" Staaten regeln sollte, hat sich das "Prinzip des Teilens" lediglich in der Absichtserklärung erhalten, dass OECD-Länder 0, 7 % des BSPs filr Leistungen der bilateralen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit zur VerfUgung stellen so11ten (ODA- Official Development Assistance). Entgegen der Rhetorik freilich hat sich zwischen 1961 und 1999 die gesamte ODA der reichen Länder drastisch reduziert - nämlich von 0,53 % auf etwa 0,3 % des BSP. Österreich unterbietet diesen Durchschnittswert nach wie vor, und nur wenige Musterländer wie Dänemark, Schweden, Norwegen, Holland oder die Schweiz kommen mit ihren Bemühungen dem Sollwert nahe. Der weltweite traumatische Schock vom II. September 200 I hat diese seit Jahren in den Hintergrund gedrängte Tatsache wieder stärker in den Mittelpunkt des "westlichen" Interesses rücken Jassen: Globale Stabilität und globale Sicherheit sind ohne geo-ökonomischen Interessensausgleich zwischen den ärmsten und den reichsten Ländern dieser Welt nicht verwirklichbar; Armutsbekämpfung als globale Friedenssicherung muss über humanitäre (Sofort-)Hilfe hinausgehen, sie muss in die Strukturen zunehmender Verelendung eingreifen, sich an den sozialen und kulturellen Grundbedürfuissen orientieren und alle Potentiale der partizipativen "Hilfe zur Selbsthilfe" ausnutzen. Bilaterale staatliche Entwicklungshilfe darf kein "Geschäft'' sein, und es bleibt abzuwarten ob die EU- und die OECD-Länder jener Verantwortung gerecht werden, die sie rhetorisch zu tragen bereit sind: Denn ein stärkeres Engagement in der Entwicklungspolitik

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als Strategie globaler Friedenssicherung muss wesentlich andere Prioritäten in der Verwendung der ODA setzen! Derzeit nämlich werden- ja nach Berechnungsart- nur zwischen 3 % und 10 % von den ohnedies geringen Mitteln filr "Grundbedürfnisstrategien" ausgegeben. Nach wie vor folgt die Mehrheit der EZA-Projekte den Interessen nationaler Politik und der "Logik der Märkte". Wider besseren Wissens findet ein Import von "westlichem" Know-How, "westlichen" Technologiekonzepten -die zumeist teuer, wartungsintensiv und exportabhängig sind- und ein Import "westlicher" Organisationsrationalität in den ärmsten Länder der Dritten Welt statt. Der - monetär gemessene - Anteil von Projekten, die lokale Fertigkeiten, soziale und handwerkliche Techniken fordern und auf ihnen wohlüberlegte partizipative Strategien zur Hebung des basalen Lebensstandards aufbauen, ist vergleichsweise gering. Dies ist nicht nur die Folge eines ökonomischen Eigennutzens, sondern auch die Folge des westlichen Paternalismus, der eurozentrischen Überheblichkeit und der damit verbundenen tendenziellen Abwertung außereuropäischer Kulturen. Klaus Zapotoczky hat immer wieder auf das Problem der Unvereinbarkeit zwischen Patemalismus und sinnvoller "Hilfe zur Selbsthilfe" verwiesen, und die Gründung des Interdisziplinären Forschungsinstitutes für Entwicklungszusammenarbeit (IEZ) entsprang wohl auch dem Anliegen, sozial und kulturell verträgliche Standards für partizipative entwicklungspolitische Interventionen zu erarbeiten. In der praktischen Forschungsarbeit sind wir ständig mit der kulturellen Bevormundung der "Armen" durch die "Reichen" konfrontiert, aber auch mit äußerst unterschiedlichen Rationalitäten, die oft schwer vereinbar scheinen und aus grundsätzlich verschiedenen Produktionsverhältnissen resultieren. Der technisch vermittelten Welt, wie sie uns in den reichen Industrienationen umgibt, steht in den ruralen Gebieten die agrarwirtschaftende, schwach monetarisierte Welt von "armen" Subsistenzbauern gegenüber, in der es so gut wie keine Konsumgüter gibt. Daraus ergeben sich grundsätzlich verschiedene Konzeptionen von "Wirklichkeit", die sich auch anband des Umgangs mit "Technik" selbst bestimmen lassen. Denn der Einsatz von technischen Geräten - auch wenn sie den Grundbedürfnisstrategien dienen sollen - kann nie unabhängig von dem sozialen, kulturellen und ökonomischen Umfeld gesehen werden und erfolgen. Technologiekonzeptionen, die zB in ruralen Gebieten des subsaharischen Afrika zum Einsatz gelangen sollen, müssen von grundsätzlich anderen Parametern ausgehen - Bedürfnisse, Funktionen, Handhabbarkeit, Finanzierbarkeit, ästhetische Standards etc. - als in jenen Ländern, in denen sie entwikkelt wurden. Zusätzlich müssen sie auf lokalen Materialien, lokalem Know How und lokalen Ressourcen aufbauen um nachhaltige Anwendung zu gewährleisten. Viele technikzentrierte EZA-Projekte scheitern aufgrundder mangelnden Integration kulturspezifischer Aspekte in den Prozess der Implementa-

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tion. Dieser ist stets ein umfassender und vollzieht sich auf verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen, denn ein Technikverständnis, das sich primär an westlichen Begriffen wie "Effizienz" oder "Machbarkeit" orientiert, ist in diesen Gebieten ebenso wenig anzutreffen wie das identitätsstiftende Bild einer technisch vermittelten, technisch organisierbaren und auch organisierten Alltagswirkl ichkeit. Moderne Mobilitätsgesellschaften, deren Reichtum sich auch in einem dramatisch hohen und stetig steigenden kollektiven Grundumsatz von Energie und Ressourcen äußert - im täglichen Pro/Kopf/Durchschnitt etwa 150 x mehr als bei Menschen in den ärmsten Ländern -, organisieren sich wesentlich nach technikgestützten funktionalen Kriterien zunehmender Komplexität und Beschleunigung. Der hohe Grad an Komplexität ist - systemisch gesehen - nur durch eine fortwährende Differenzierung zwar hochgradig interdependenter, aber zumeist anonymer, also nicht direkt ersichtlicher, nicht körperhaft einander gegenübertretender Teile organisierbar. In dieser "modernen" Welt der funktional aufeinander abgestimmten Teile, deren Summe - wie wir glauben jenes Ganze ergibt, in dessen Ordnung wir leben, richten sich auch die Handlungen selbst nach Kriterien des "Nutzens", des "Gebrauchs", der "Vermittlung". Zusehende "Rationalisierung" aller individueller und gesellschaftlicher Handlungsbereiche scheint die Folge. Zugleich mit dieser von der Soziologie schon seit gut einem Jahrhundert konstatierten "Rationalisierung" findet eine kulturgeschichtlich wohl einmalige "Entkörperlichung" statt. Denn im mechanistischen Zeitalter ist der Körper selbst zu einer - wohl besonders unzuverlässigen - Maschine geworden! Körper "von Angesicht zu Angesicht'' haben einander immer weniger zu sagen, sie berühren einander in einer Welt immer seltener, die aus gefertigten Objekten besteht, die als Verlängerung, Ergänzung oder als Ersatz der Körper selbst gesehen und gefertigt werden. Maschinen erweitern den Körper um ihn schließlich zu ersetzen. Aus dem "schwachen" Arm des Menschen wird der mächtige Kran. Die Vervollständigung des Körpers in der Maschinenwelt trägt solange anthropomorphe ZUge bis der Maschine Funktionen verliehen werden, die der Mensch "von Natur aus" nicht hat. Technische Welten beginnen als gigantische, funktional kohärente Symbolsysteme zu einer zweiten, oft auch zur "wirklicheren" Wirklichkeit zu werden: Wir fliegen mit kUnstliehen Vogelflügeln und tauchen mit zweiten Häuten aus Kunststoff bis zu den dunkelsten Tiefen der Meere! Wir simulieren die "ganze Welt" im Cyberspace: von den globalen "News" über virtuelle und "tatsächliche" Kriege bis hin zur ,,raum- und zeitunabhängigen" Kommunikation perpetuieren wir die Illusion von Omnipräsenz, Transparenz und egalisiertem Wissen! Zwischen der Vervollständigung und schließlich dem Ersatz des Körpers durch die Maschine und der Tatsache, dass z.B. Ärzte heute nicht mehr ihre Hände, ihren Tast-, ihren Geruchssinn nutzen um zu "behandeln", sondern

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Computeranalysen von Daten interpretieren, um "heilen" zu können, besteht ein ursächlicher Zusammenhang: Die imposanten Errungenschaften des mechanistischen Zeitalters, denen ab der Hälfte des 20. Jahrhunderts die digitale und kybernetische Revolution folgen sollte, haben das Vertrauen in den eigenen Körper massiv schwinden lassen! Je technisch vermittelter die Welt, durch die wir uns bewegen, geworden ist, desto schwächer, fragiler, unzuverlässiger, ineffizienter und letztlich sterblicher sind unsere eigenen Körper geworden. So erscheint es nur logisch, dass in den "reichen" Ländern dieser Welt das wichtigste Programm zur Vermittlung von Leben die Verlängerung der Lebenserwartung durch das zeitliche "Überlisten" des Todes selbst geworden ist. Auch der Fitness- und Wellnesskult gewinnt in diesem Zusammenhang eine interessante Kontur. Der eigenen Verletzbarkeit, dem individuellen Tod "von Angesicht zu Angesicht" gegenüberzustehen hat filr Menschen, deren Maschinen, Objekte, deren logistische und kybernetische Systeme "ewig" zu leben scheinen etwas zutiefst Erschreckendes. In "armen" agrarwirtschaftenden Gesellschaften, wie sie uns bei unseren Forschungen und Reisen in Ländern der Dritten Welt begegnen, gibt es keine technische Vermittlung von "Welt an sich". Mit dieser Feststellung befinden wir uns in der zuweilen atemberaubenden Diskrepanz kulturspezifisch unterschiedlicher Rationalitäten und Wirklichkeitskonstruktionen. Die "Objektivität" der Wahrnehmung ist in "armen" Gesellschaften wesentlich an den Körper und nicht an die Maschine gebunden. Ebenso gibt es in diesen Gesellschaften kein Leben, das sich durch "Konkurrenz zur Zeit" definiert: Maschinen, die Produktions- und Konsumationszyklen periodisch verkürzen, Geld, das investierte Zeit ist, systemisierte Arbeitskraft, deren Produktivität gemäß dem Wettlauf mit der Zeit erhöht werden muss, fehlen ebenso wie digitale Systeme, die per Mausklick die ,.ganze Welt" scheinbar verftlgbar halten. Mehr als eine Milliarde Menschen lebt auch heute noch in Realitäten, in denen technisch operative Symbolsysteme noch nicht zu einer "zweiten Wirklichkeit" geworden sind. Das Bezugssystem der Handlungen sind Körper und nicht künstliche Artefakte, die als Ersatz-Körper, mit denen wir kommunzieren, erlebt werden.

In einer technisch nicht vermittelten Welt stehen einander Körper und Seelen, Natur und Mensch, Mann und Frau "von Angesicht zu Angesicht" gegenüber und sind miteinander verbunden in dem Wechselspiel einer Ordnung, die keine Zuflllle kennt. Diese Unmittelbarkeit, die dem westlichen Besucher oft als "Vitalität" erscheint, hat zentrale Konsequenzen filr die Organisation des Lebens, aber auch die Bedeutung des Todes. Jede Handlung, jeder Gedanke, jeder Traum undjede Wahrnehmung bedingt etwas. Technisch nicht vermittelte Welten sind- kulturanthropologisch ausgedrückt- magische Welten. In diesen gibt es weder den Zufall noch die unbedingte Auslöschung des Lebens durch einen materialistisch interpretierten Tod. Zuflllle können sich nur in Welten

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ereignen, in denen die Dinge, Maschinen und Systeme voneinander getrennt gedacht werden, in denen zwischen Innen und Außen fein säuberlich unterschieden wird - in säkularisierten Welten also! In magischen Welten gibt es keine stellvertretende Ebene auf der sich Leben ereignet, wie dies in industrialisierten Gesellschaften die Ebene der technischen Produktion und Reproduktion, oder der digitalen Repräsentation von Bewegung ist. Die Unmittelbarkeit des menschlichen Aufeinander-Bezogen-Seins erfordert eine Vielzahl von menschlichen Beflihigungen, die in dem Kontext der "reichen" technoiden Welt anachronistisch erscheinen - denn in ihr :fiillen Körper die "Lücken" im technischen System aus, das vorgibt, Leben zu sichern, zu erhalten, zu gestalten. In einer nicht-technischen Gesellschaft beschreiben die Körper selbst das Netzwerk jenes Systems, durch das sich in großer wechselseitiger Abhängigkeit Leben vollzieht. Wird die Welt linear fortschreitend und funktional gedacht, so auch der Körper und die Seele. Interne und externe Mechanismen sollen so gesteuert werden, dass wünschenwerte Resultate erzielt werden können. "Rationalisierung" bedeutet Optimierung und Steuerung der Regelmechanismen - von den geheimsten Labyrinthen der Psyche bis hin zu globalen Öko-Systemen. In den industrialisierten Ländern wird die Maschinenwelt metaphorisch als Verlängerung und Ergänzung von Körperfunktionen, dann als Ersatz des Körpers und schließlich als eigenständiger, selbstreferentieller und selbstregulierender Körper begriffen. Die Objekte, die der Mensch produziert und die Bedeutung die er ihren Funktionen in Bezug auf die Gesamtheit seiner Erfahrung und Wahrnehmung von Welt zuschreibt, wirken auf die Art und Weise, wie sich der Mensch denkt, seinen Körper und seine Seele begreift und mit ihnen und damit mit sich selbst umgeht. Ein mechanistischer Umgang mit Welt sucht nach "optimalen Lösungen"! Die spezifisch okzidentale Rationalität, geht von einer Maximierung der Problemlösungskapazität aus und von einer Unumkehrbarkeit der jeweiligen Ergebnisse. Um "optimale Lösungen" zu finden, ist man ständig auf der Suche. Das Leben entspricht einer eindimensionalen Gleichung, deren Ergebnis - löst man sie nur "richtig" - umumkehrbar, determiniert durch die Logik der Gleichung, ihrer Verknüpfungs- bzw. Entknüpfungsregeln feststeht. Diese Eindimensionalität möglicher Lösungen hat nicht nur mit der Linearität unseres Begriffes von "Entwicklung" zu tun, sondern auch damit, dass in der "reichen" zeitknappen Welt "falsche" Lösungen viel Geld und eben auch viel Zeit kosten können. Dies gilt gleichermaßen :fiir den "beruflichen" wie :fiir den "privaten" Bereich: Optimierung der Handlungsoptionen, Nutzen- und Gewinnmaximierung da, Erftlllung von Bedürfnissen, Erhöhung der Lebensqualität, emotionale und intellektuelle Bereicherung dort. Wir müssen mehr lernen, mehr erfahren, tiefer genießen, umfassender erkennen um auf "unserem Weg" weiterzukommen. Verweilen ist unmöglich! Die- oder derselbe zu bleiben, die oder der man gerade ist, gilt in dynamischen Mobilitätsgesellschaften als un-

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schicklich: Kaum ein Gedanke, kaum eine Handlung und kaum eine emotionale Erfahrung sind von dieser linearen Vorstellung ausgespart. Diese lineare Verfahrensweise mit sich selbst und der Welt ist nur dann möglich, wenn man sich als Zentrum der Ordnung begreift, die außerhalb von einem selbst existiert. Das Ego als Weltenschöpfer und Weltenbeherrscher ist ein ziemlich abendländisches Unterfangen, und doch hat es in weiten Teilen der Welt Geltung und Dominanz erlangt. "Arme" Gesellschaften und Gesellschaften, deren religiöse und kulturelle Grundlagen diese Form der IdentitätsKonstruktion verunmöglichen, widersetzen sich - zuweilen sehr subtil - der tendenziellen "Verwestlichung", der "kulturellen Globalisierung". Eine Form des Widerstandes ist die Aufrechterhaltung magischer Weltbilder und Handlungen. Überall auf der Welt, auch in unserer eigenen europäischen Kultur, ging die universale Zentrierung des Ichs mit einer massiven Abwertung und teilweisen Vernichtung von magischen Weltbildern einher. Denn im magischen Denken sind die Wesen der Natur und auch die Menschen selbst keine Entitäten, die von der jeweils sie umgebenden Ordnung getrennt sind. Der Herrschaftsanspruch über "Natur" und "Mensch" wird schon dadurch gebrochen, dass es das eindimensionale "Ich" als Identitätskonstruktion in der magischen Welt gar nicht gibt! Das "Ich" ist im magischen Denken eine Vielgestalt und auch die Ordnung des Lebens selbst ist vieldimensionaL Auf unterschiedlichen "Ebenen" oder in unterschiedlichen Welten, die aber allesamt gleich "wirklich" sind, ist das magische "Ich" beheimatet. Und es ist ein Nomade! Es reist zwischen diesen Welten hin und her, macht darin die unterschiedlichsten Erfahrungen, die nicht unbedingt auf andere Wirklichkeitsebenen "anrechenbar" sind. Und es trägt dabei viele Gesichter! So schwierig es ist, außereuropäische Rationalitätskonzepte beschreiben zu wollen, so wichtig ist eine fundierte Auseinandersetzung mit "anderen" Wirklichkeitskonstruktionen gerade fiir die praktische Arbeit vor Ort. Denn da während der Monate langen Forschungen - stößt der Europäer schnell an die Grenzen seiner kulturellen Paradigmen und Überheblichkeiten. Wenn die "afrikanische Realität" fiir Menschen aus industrialisierten Ländern nicht verständlich und zugänglich ist, weil sie- gemäß ihrer Art über sich und die Welt zu denken - stets auf der Suche sind nach der einen "gültigen" Wirklichkeit, dem einen unverwechselbaren Gesicht, und der einen "optimalen Lösung" für das jeweils vorgefundene, weil selbst identifizierte Problem - dann ist die ambitionierteste "Entwicklungs-Bemühung" zum Scheitern verurteilt. Wir haben das in den verschiedensten Zusammenhängen - unzählige Male erlebt. Vielmehr geht es um ein kompromißloses Sich-Einlassen in mitunter sehr "fremd" ,erscheinende kulturelle Zusammenhänge, um ein Mit-Leben, Mit-Lachen und Mit-Arbeiten und um die Bereitschaft, das was von den Menschen vor Ort selbst als Problem erkannt wird, in die Sprache der "westlichen" Welt rückzu-

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übersetzen, um Hilfe anzubieten, die dann freilich durch die Betroffenen selbst realisiert wird! Mit dem europäischen Wunsch nach Eindimensionalität lässt Afrikas Vielgestalt den Besucher entweder frustriert zurück, oder es geschieht das Gegenteil: Dann ist der Besucher begeistert und infiziert von der Lebensfil11e und dem kultureBen Reichtum dieses Kontinents! Jene kehren niemals mehr zurück, diese freilich immer wieder. In diesem Fa11 wird sich die Vorstellung von "Armut" und "Reichtum", "Stillstand" und "Fortschritt", "Entwicklung" und "Unterentwicklung" stark relativieren. Wer nicht gelernt hat zwischen den unterschiedlichen Welten heiter und gelassen zu nomadisieren, den wird die "afrikanische Realität", die eher einem spielerischen Driften, denn einem kontrollierten, effizient geplanten Schritt gleicht, zuweilen erschrecken. Denn darin lässt sich nicht die lllusion einrichten oder gar aufrechterhalten, dass wir so sind, wie wir glauben zu sein: in der eigenen Festlegung von Identität sicher beheimatete Wesen, die Gegenwart durch Planung der Zukunft leben! Wer sich freilich nicht scheut, kulturspezifische Vorstellungen zu relativieren und sich selbst auf eine lange Wanderschaft zu schicken, der wird in dieser "Realität" unzählbar viele Dimensionen, Möglichkeiten, Gesichter und Erfahrungen seiner eigenen Existenz als Mensch unter Menschen gespiegelt finden. Im Zuge unserer Forschungen sind wir durch viele höchst unterschiedliche Welten gewandert und sind dabei mit der Relativität unseres eigenen "Seins", unserer "Analytik" und unseres "Zeitbewusstseins" konfrontiert worden. In dieser Relativität und in ihrer Sichtbarmachung erkennen wir heute den eigentlichen Sinn unseres entwicklungssoziologischen Unterfangens, der die Ergebnisse unserer Forschungen und Entwicklungsarbeit maßgeblich beeinflusst. Begriffe wie "Entwicklung", "Effizienz", "Einkommensgenerierung" etc. sind Metaphern aus einer Welt, deren Handlungsrationalität nicht universal verangemeinerbar ist. Da wo arme Gese11schaften verelenden, wo die materielle Reproduktion gefährdet ist oder der ökologische Ko11aps droht muss sinnvoll und behutsam - nach allen Regeln der erarbeiteten Nachhaltigkeilskriterien interveniert werden! Alles andere wäre unredlicher Zynismus. Aus der Perspektive der "Reichen" aber "Armut" generell als Manko zu verunglimpfen wäre ebenso falsch wie das "Aufzwingen" westlicher Lebensstile und Rationalitätskriterien. Denn noch können wir - insbesondere auch von "armen" Gesellschaften - lernen. Denn in diesen hat sich jenes lebenserhaltende, ja teilweise lebensrettende soziale Prinzip erhalten, das wir in unserer egomanischen Ökonomie und Kultur groBteils verlernt haben: Das Teilen! A11e Menschen, denen wir während unserer Forschungen begegnet sind, haben ihre Nahrung, ihre Häuser, ihre Vorstellungen, ihre Lieder und verwandtschaftlichen Beziehungen, ihre religiösen Bindungen, ihre Hoffnungen, Ängste, aber auch Freuden mit uns geteilt. Und Klaus Zapotoczky, dessen Jahrzehnte langes entwicklungspoliti-

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sches Engagement nicht zuletzt auf der tiefen Überzeugung fußt, dass das "Teilen von Angesicht zu Angesicht", dass das "Sein-Füreinander'' nicht nur das Leben lebenswerter, sondern die Zukunft überhaupt erst denkbar macht, hat uns bei all diesen Erfahrungen als Mentor begleitet. Dass Klaus Zapotoczky noch lange dieser wichtigen Aufgabe nachgehen möge, wünsche ich ihm und uns in meinem Namen und auch im Namen der vielen engagierten in- und ausländischen Mitarbeiter, die während der letzten Jahre maßgeblich zum Gelingen der Arbeit des Interdisziplinären Forschungsinstitutes fiir Entwicklungszusammenarbeit (IEZ) beigetragen haben.

Politische Konditionalität in der Entwicklungspolitik Erpressung oder Imperativ universeller Menschenrechte? Von Franz Nuscheler

I. Laudatio Der durch diese Festschrift Geehrte gehört zur aussterbenden Spezies von Universalgelehrten. Er hat in seinem langen akademischen Leben viele Themen aus dem weiten Bereich der Human- und Sozialwissenschaften bearbeitet und einen großen Kreis von Schülerinnen inspiriert. Seine persönliche Liebenswürdigkeit hat dauerhafte Freundschaften über Grenzen und Kontinente hinweg geschaffen. Was Klaus Zapotoczky im Besonderen mit dem Autor dieses Beitrags verbindet, ist sein Verständnis von Wissenschaft als "praktischer Wissenschaft", die nicht nur res gestae analysiert und interpretiert, sondern die res gerendae zu beeinflussen versucht. Entwicklungspolitik ist ein Politikbereich, der dringend wissenschaftliche Beratung braucht, um nicht in bürokratischer Routine zu erstarren. Der Laureat war immer ein kritischer, obgleich sanfter "Begleitforscher'' der Österreichischen und internationalen Entwicklungspolitik. Seine Kritik beruhte nicht auf subjektiver Beliebigkeit, sondern war der Humanität der Menschenrechte verpflichtet. Der folgende Beitrag verbindet zwei Themenfelder, die nicht nur ein Kerndilemma der entwicklungspolitischen Praxis behandeln, sondern auch Diskussionen aufgreift und vertieft, die Autor und Laureat bei erinnerungswürdigen Treffen in Linz, Wien und anderswo filhrten. Erinnerungswürdig waren und sind seine Weisheit, sein Humor und seine Liebenswürdigkeit: ein Universalgelehrter mit viel Verstand und Herz.

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II. Der Streit über die politische Konditionalität Der Gegenstand dieses Beitrags- die VerknUpfung von Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik oder genauer: der Entzug von Subsidien bei schweren Menschenrechtsverletzungen (negative linkage) oder ihr Einsatz zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte (positive linkage)- ist umstritten, seit es Entwicklungspolitik gibt. Die Gründe filr den Streit sind so vielfältig wie die Interessen, Positionen und Perzeptionen verschiedener politischer Akteure in der nationalen und internationalen Politik. Zur Illustration einige Beispiele: I.

Während Aung San Suu Kyi's Demokratiebewegung in Myanmar oder Oppositionsgruppen in China den Westen auffordern, durch die Verweigerung von Wirtschaftshilfe Druck auf die repressiven Regime hier und dort auszuüben, lehnen die Regierungen der ASEAN-Staaten solche Einmischung im Namen der Menschenrechte strikt ab. Sie stellen der Universalität der Menschenrechte die kulturelle Partikularität von "asiatischen Werten" entgegen. Weil ihr weltpolitisches und weltwirtschaftliches Gewicht zunimmt, können sie ihren Widerspruch zur politischen Konditionalität eher zu Gehör bringen als ökonomische Habenichtse, die auf externe Überlebenshilfe angewiesen sind. Hatten im Kalten Krieg geostrategische Interessen die Menschenrechtspolitik korrumpiert und auch solche "Freunde des Westens" von Sanktionen verschont, die sich als notorische Folterregime erwiesen, so begründen nun vor allem ökonomische Interessen "doppelte Standards" in der Anwendung der Konditionalität.

2.

Der erste von UNDP (UN Development Program) erstellte Human Development Report (HDR) von 1990 hatte "human development' als "enlarging people's choices" definiert. Diese Wahlfreiheiten schließen politische Freiheiten, Demokratie und die Achtung der Menschenrechte ein. Unter dem Druck autoritärer Regime wandte sich dieser Bericht dennoch gegen eine politische Konditionalität als Mittel zur Durchsetzung von Menschenrechten. Dies tat auch wieder der HDR 2000, obwohl er ein Junktin zwischen Entwicklung und Menschenrechten herstellte und vehement eine Steigerung der internationalen Entwicklungshilfe forderte. Seine Autoren stellten sich nicht die Frage, ob sich Entwicklungshilfe ohne politische Konditionalität Uberhaupt noch rechtfertigen lässt.

3.

Die Kontroversen Uber die Legitimität der politischen Konditionalität werden nicht nur zwischen den Geber- und Nehrnerländern, sondern auch zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb der letzteren ausgetragen. Während beispielsweise Wole Soyinka, der nigerianische Nobelpreisträger filr Literatur, unermüdlich den Westen aufgefordert hatte, die Diktaturen im eigenen Land und in anderen Ländern unter Druck zu setzen, ist die afrikanische Intelligenz gespalten: die einen unterstützen seine Position, fUr an-

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dere ist die politische Konditionalität nur ein anderes Wort fllr politische Erpressung und Neokolonialismus im Gewande der Humanität. Ähnliche Debatten werden überall gefllhrt, wo Menschenrechtsorganisationen der Repression autoritärer Regime ausgesetzt sind. 4.

Es gibt auch zwischen den Geberländern erhebliche Differenzen, nicht so sehr über das Prinzip der Konditionalität, sondern über seine sinnvolle Anwendung. Die japanische ODA-Charta von 1992 enthielt alles, was auch Erklärungen des DAC (Development Assistance Committee der OECD) und der EU-Entwicklungsminister enthielten: ODA (0./ficia/ Development Assistance) sollte darauf abzielen, die Demokratisierung zu ilirdern und die Menschenrechtsstandards zu verbessern. Aber Japan wendet die Konditionalität viel geschmeidiger an als der Westen und beruft sich dabei auf das in Art. 11.7 der UN-Charta verankerte Einmischungsverbot in innere Angelegenheiten. Aber es waren nicht so sehr Normen des Völkerrechts, sondern wirtschaftliche und regionalpolitische Interessen, die Japan dazu bewogen, die westliche Sanktionsfront gegenüber dem brutalen Militärregime in Myanmar zu durchbrechen und das Suharto-Regime in Indonesien von Ermahnungen zur Demokratisierung zu verschonen. 1 Die japanischen Außen- und Entwicklungspolitiker tun sich allerdings nicht allzu schwer, ihr Gesicht zu wahren und bei den anderen OECD-Ländem ähnliche "doppelte Standards" aufzudecken.

Nur Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International oder Human Rights Watch treten kompromisslos fllr eine politische Konditionalität ein. Sie lassen sich weder von diplomatischen oder wirtschaftlichen Interessen noch vom kulturellen Relativismus asiatischer oder islamischer Werte vom Prinzip der Universalität abbringen; sie klagen den Westen immer wieder an, in der Menschenrechtspolitik nach politischen und wirtschaftlichen apportunitäten "doppelte Standards" zu praktizieren. Sie haben ftlr diese Anklage genügend Beweismaterial.

m.

Hintergründe der politischen Konditionalität

Für die Mehrheit der Entwicklungsländer ist die politische Konditionierung von externer Hilfe keineswegs eine neue Erfahrung. Die Gebergemeinschaft hat mit ihrem Geld, ihren Projekten und Experten immer auch ihre Interessen und ihr sich häufig änderndes Konzept von Entwicklung transportiert. Die Empfängerländer konnten Anträge stellen, aber die Geberländer wählten aus und ent1 Vgl.

Nusche/er 1997.

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schieden, was fllr die "Partner" gut sein sollte. Es ist ein fast banale Tatsache: Hilfe wurde niemals ohne Bedingungen und Auflagen gegeben. Die Souveränität verkam unter den harten Strukturanpassungsauflagen, mit denen der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank tief in die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik eingriffen, zur Schimäre. Ihre ökonomische Konditionalität hatte auch politische Wirkungen, weil sie die politische Stabilität der Schuldnerländer gefllhrdete, die Legitimität von Regierungen unterhöhlte, die sich Diktaten unterwerfen mussten, und über die internationale Kreditwürdigkeit eines Landes entschied. Willy Brandt (1985) formulierte das Dilemma in klassischer Weise: "Wenn der IWF kommt, ist es schlimm; wenn er nicht oder zu spät kommt, ist es noch schlimmer." Unter den Bedingungen des Kalten Krieges praktizierten die westlichen Geberländer eine strategische Version der politischen Konditionalität, die mehr oder weniger kontraproduktiv fllr den Schutz der Menschenrechte war. Von Präsident John F. Kennedy ist der zynische Satz überliefert: "Somoza ist ein Schwein, das ist wahr, aber er ist unser Schwein." Dieser "doppelte Standard", der Diktatoren schonte, wenn sie sich nur hinreichend als "Freunde des Westens" gerierten, war mitverantwortlich filr das Überleben repressiver und korrupter "Dracula-Regime" und somit filr "bad governance", in der dann auch die Weltbank Ende der 80er Jahre ein Haupthindernis filr Entwicklung entdeckte. Es kann im historischen Rückblick kein Zweifel daran bestehen, dass Diktaturen in der Dritten Welt unter den Bedingungen des Kalten Krieges auch Kreaturen westlicher und östlicher Schützenhilfe waren. Es ist wichtig, an diese Vorgeschichte der politischen Konditionalität zu erinnern, weil ihre Glaubwürdigkeitslücke zumindest teilweise ihr geschuldet ist. Die "lehrende und belehrende Kultur" des Westens hat gelegentlich ein kurzes Gedächtnis. Dagegen ist diese Erinnerung im SUden sehr wach, vor allem bei Menschenrechtsgruppen, die Opfer der Komplizenschaft von Diktatoren und ihrer Patrone waren. Erst nach dem Ende des Kalten Krieges forderten westliche Außen- und Entwicklungspolitiker zunehmend entschiedener politische Reformen als Voraussetzung fUr Hilfszusagen. Der Zusammenbruch des Kommunismus machte die strategische Version der politischen Konditionalität überflüssig. Von noch größerer Bedeutung war der Zusammenbruch vieler Diktaturen im SUden, die durch zwei miteinander verbundene Schubkräfte bewirkt wurde: durch den Druck von zivilgesellschaftlichen Oppositionsgruppen und durch äußeren Druck, d. h. durch die Androhung des Subsidienentzuges. Ihr Zusammenwirken bewirkte die "dritte Welle der Demokratisierung" (Samuel Huntington). Manche Diktatoren hätten sich durch Repression der inneren Opposition erwehren können, aber ihre Abhängigkeit von externer Überlebenshilfe zwang sie

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dazu, sich auf mehr oder weniger demokratische Reformen einzulassen. Die Entwicklungspolitik hatte also Chancen, den Demokratisierungsprozess zu befi>rdern, auch wenn die Veranstaltung von Wahlen vielfach nur den Beginn eines von Repression bedrohten Strukturwandels darstellen konnte. Mit der "Demokratisierung der Machtlosigkeit" konnten die tieferliegenden Syndrome der politischen Unterentwicklung nicht so schnell überwunden werden. 2

IV. Was bedeutet politische Konditionalität? Im Jahr 1990, dem Stichjahr der weltpolitischen Zeitenwende, erschienen zwei internationale Dokumente, die dem Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher, sozialer und politischer Entwicklung besondere Beachtung schenkten. Sie sind auch deshalb besonders erinnerungswürdig, weil politische und akademische Eliten aus dem Süden maßgeblich an ihrer Erarbeitung beteiligt waren: •

Der Bericht der von Julius Nyerere geleiteten Süd-Kommission (1990) stellte kategorisch fest, dass Demokratie und die Achtung der Menschenrechte ein "Muss ftlr Entwicklung" darstellen.



Der schon erwähnte erste Human Development Report von 1990 definierte Entwicklung als "enlarging people's choices", die politische Freiheiten einschließen müssen.

Es fiel nun den Geberländern nicht mehr allzu schwer, ihre neue Doktrin der politischen Konditionalität zu rechtfertigen. Der Europäische Ministerrat erklärte im November 1991, dass ftlrderhin die Förderung demokratischer Reformen und der Schutz der Menschenrechte die vorrangigen Aufgaben und Ziele der europäischen Entwicklungspolitik werden sollen. Deshalb bestanden die europäischen Entwicklungsministerinnen auch darauf, dass in das LomeVertragswerk und später in den Cotonou-Vertrag vom Juni 2000 zwischen der EU und den (inzwischen 71) AKP-Staaten - gegen deren Widerstand - eine Menschenrechtsklausel eingeftlgt wurde. Die nationalen Entwicklungsministerien oder -behörden (die in der Regel den Außenministerien unterstellt sind) legten in der Folgezeit entwicklungspolitische Richtlinien vor, zu deren Kernbestand gehörte, was multilateral von der OECD und EU beschlossen wurde:

2

Vgl. Hippier 1994.

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Achtung der Menschenrechte, im besonderen die Abschaffung aller Formen von Folter, die Gewährleistung rechtsstaatlicher Gerichtsverfahren und der Schutz von Minderheiten;



Partizipation der Menschen durch freie Wahlen, Organisationsfreiheit für Parteien, Gewerkschaften und andere Interessengruppen, Meinungs- und Pressefreiheit;



Rechtssicherheit durch Herstellung von Rechtstaatlichkeit und good governance (d. h. Verantwortlichkeit der Regierenden und Transparenz des Regierungs- und Verwaltungshandelns, Bekämpfung der Korruption).

Die Resolution des Europäischen Ministerrates von 1991 machte eine wichtige Unterscheidung: Sie gab einem positive approach Vorrang, d. h. der Unterstützung von Demokratisierungsprozessen. Gleichzeitig schloss sie für den Fall, dass sich Regime politischen Reformen verweigern und weiterhin die Menschenrechte gröblich verletzen, einen negative approach durch Kürzung oder gar völlige Verweigerung von Entwicklungshilfe nicht aus. Ihre Vergabe ohne Auflagen, wie sie UNDP, die "Gruppe der 77" als Interessenverband der EntwicklungsHinder oder die AKP-Staaten fordern, könnte dazu führen, dass das Geld von Steuerzahlern zur Stabilisierung von repressiven Kleptokratien (der "Herrschaft von Dieben") missbraucht würde. Die Folge wäre eine weitere Diskreditierung des Unternehmens Entwicklungshilfe, das ohnehin in einer schweren Sinn- und Rechtfertigungskrise steckt.

V. Juristische Argumente gegen und rür die politische Konditionalität Es gibt in der Debatte über die politische Konditionalität ein Kernproblem: Je abhängiger ein Land von Entwicklungshilfe ist, desto mehr ist es dem Interventionsdruck von außen ausgesetzt und gerät die politische Konditionalität in Konflikt mit dem völkerrechtlichen Prinzip der Souveränität, das ein Interventionsverbot einschließt. Die UN-Charta, das Grundgesetz der Staatengemeinschaft liefert umstrittene Antworten. Junji Nakagawa (1993), ein Völkerrechtler der Tokyo Universität, stellte grundsätzlich die Vereinbarkeit der in der japanischen ODA -Charta von 1992 verankerten politischen Konditionalität mit dem völkerrechtlichen Einmischungsverbot in Angelegenheiten, die "ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören", in Frage. Für ihn stellt ein "negative linkage", d. h. die Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen durch den Entzug von Entwicklungshilfe, in den folgenden Fällen eine illegale Intervention oder gar eine "dictatorial interference" dar:

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wenn sie einen Sachverhalt berührt, der zum Kernbestand der Souveränität gehört- und dies sind zuvörderst Verfassungsfragen;



wenn sie darauf abzielt, einen politischen Wandel herbeizufilhren.

Die Zielsetzung der politischen Konditionalität ist aber, einen solchen politischen Wandel zu bewirken. Wenn diese Zielsetzung eine "illegale Intervention" darstellen sollte, müssten nicht nur die Staaten und internationalen Organisationen, die ausdrücklich eine politische Konditionalität proklamieren und anwenden, sondern auch der IWF und die Weltbank vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gebracht werden, weil ihre Strukturanpassungspolitik tief in die Souveränität von Schuldnerländern eingreift. Die Überbetonung des Art. 11.7 der UN-Charta, der ein Überbleibsel des Westtalischen Staatensystems bildet, gegenüber Rechtsnormen des sich herausbildenden Multilateralismus mit "geteilten Souveränitäten" repräsentiert nicht die "herrschende Lehre" im Völkerrecht. Andere Denkschulen betonen den Art. 1.3 der UN-Charta, der alle Mitglieder der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrechte verpflichtet, sowie Art. 55 (c), der die Vereinten Nationen dazu auffordert, die "allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten filr alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache und der Religion zu fördern". Der folgende Art. 56 verpflichtet alle Mitgliedstaaten, "gemeinsam und jeder filr sich mit der Organisation zusammenzuarbeiten, um die in Art. 55 dargelegten Ziele zu erreichen". Diese völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung, die mit einem universellen Geltungsanspruch ausgestatteten Menschenrechte zu fi>rdern, kann nicht durch den unpräzisen Vorbehalt in Art. Il.7 der Charta ausgehebell werden. Was durch einen völkerrechtlichen Vertrag zur universell gültigen Rechtsnorm erklärt wurde, kann nicht nach Bedarf und Belieben von herrschenden Gruppen zur "inneren Angelegenheit" umgedeutet werden. Dann wären die beiden Art. 55 und 56 der UN-Charta bedeutungslos. Im traditionellen Völkerrecht waren nur Staaten Rechtssubjekte und Menschen nur durch sie mediatisierte Objekte. Nun wurden auch Menschen zu Rechtssubjekten mit Rechtsansprüchen gegenüber ihren eigenen Staaten und der Staatengemeinschaft. Das Völkerrecht ist nicht mehr reines Staatenrecht, das neben den Staaten keine anderen Rechtssubjekte anerkannte und neben ihrer Souveränität kein höheres Rechtsgut duldete. Die Universalität der Menschenrechte setzte neue Maßstäbe. Nakagawa löste das Spannungsverhältnis zwischen nationalstaatliehen Souveränitätsansprüchen und dieser Universalität in einer Weise, die der japanischen Außen- und Entwicklungspolitik einen Freibrief zur Kollaboration mit Diktaturen verschaffte, aber auch juristisch nicht mehr überzeugen konnte.

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VI. Der Nord-Süd-Disput über die politische Konditionalität Obwohl die Schlusserklärung der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 mit der Zustimmung von 171 anwesenden Regierungsdelegationen aus aller Welt nicht nur das Prinzip der Universalität, sondern auch die Legitimität von internationalen Bemühungen um den Menschenrechtsschutz betonte, blieb die politische Konditionalität ein zentraler Streitpunkt in den Nord-Süd-Beziehungen. Art. 5 der von Parlamentariern der ASEAN-Staatengruppe verabschiedeten Bangkok-Erklärung von 1993 brachte zu Papier, dass "der Respekt fiir Menschenrechte nicht zur Voraussetzung fiir wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe" gemacht werden dürfe. Mit einer ähnlichen Erklärung versuchte die AKP-Staatengruppe, die EU von einer Verankerung der politischen Konditionalität im Lome-Vertragswerk und im Cotonou-Vertrag vom Juni 2000, der fiir 20 Jahren die EU-AKP-Beziehungen regeln soll, abzuhalten. Die Erfahrung des Kolonialismus und Neokolonialismus macht den Widerstand der Entwicklungsländer gegen die Durchlöcherung des Interventionsverbotes verständlich. Seit dem Ende des Kalten Krieges, der ihnen einen kleinen Manövrierspielraum zwischen den Blöcken verschafft hatte, wuchs ihre Besorgnis, dass der Norden nun die Menschenrechte als Disziplinierungsinstrument gebrauchen und missbrauchen könnte. Sie verurteilen die politische Konditionalität als Versuch der politischen Bevormundung oder gar als Erpressung und beklagen nun eine "doppelte Konditionalität" neben der Auflagenpolitik von IWF und Weltbank, aber auch eine machtpolitische Praxis der doppelten Standards. Die Konditionalität wird gegenüber politischen Winzlingen, aber nicht gegenüber Schwergewichten wie China oder Russland angewandt. Die Begründung lautet, dass sie sicherheits- oder wirtschaftspolitischen Interessen nicht schaden dürfe. Diese interessenpolitische Begründung mag einsichtig sein, aber sie erschwert die Rechtfertigung der politischen Konditionalität. Das Legitimationsproblem von äußerer Einmischung zum Schutz der Menschenrechte hat sowohl eine juristische und politische als auch eine kulturelle Dimension. Die Menschenrechtsidee ist eng verbunden mit der Kulturrevolution der Aufklärung und mit der Entwicklung des westlichen Verfassungsstaates (die allerdings Rückfälle in die Barbarei des Faschismus nicht verhindem konnten). Der normative Katalog der Menschenrechte, der nun einen integralen Teil des Völkerrechts bildet, wurde jedoch im Rahmen der Vereinten Nationen unter Beteiligung und mit dem Konsens der Staatenmehrheit aus der Dritten Welt entwickelt. Die Ratifikation der Menschenrechtspakte schließt eine Verpflichtung gegenüber der Staatengemeinschaft zum Schutz der Menschenrechte ein. Ihre Verletzung bedeutet also auch eine Verletzung des Völkerrechts, das die Staatengemeinschaft nicht tatenlos hinnehmen k8nn- trotz Art. 11.7 der

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UN-Charta mit seinem missverständlichen Verbot der Einmischung in interne Angelegenheiten. Es ist offensichtlich, dass viele autoritäre und repressive Regime dieses lnterventionsverbot dazu missbrauchen, internationale Kritik an schweren Menschenrechtsverletzungen abzuwehren, die nichts mit besonderen politischen, kulturellen oder religiösen Traditionen zu tun haben. Keine Religion toleriert Folter. Auf einer 1989 von der UNESCO veranstalteten Konferenz über "Weltregionen, Menschenrechten und Weltfrieden" betonten die Vertreter der Weltregionen die grundlegende Bedeutung der Menschenrechte ftir eine Globalethik, die alle Gesellschaften verpflichtet. Man könnte hinzuftigen: Wer behauptet, dass die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verankert wurden, nicht zu nicht-westlichen Gesellschaften passen, macht sich des Rassismus verdächtig, weil er das Verlangen von zwei Dritteln der Menschheit nach Freiheit und Befreiung von Not und Unterdrückung unter den Vorbehalt irgendwelcher Traditionen stellt.

VII. Ownership und Konditionalität Ende der 90er Jahre tauchte in der entwicklungspolitischen Diskussion mit Ownership ein Schlagwort auf, das einen prinzipiellen Widerspruch zu jeder Form von Konditionalität in sich birgt. Ownership bedeutet das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, aus der Sicht der Entwicklungsländer vor allem mehr entwicklungspolitische Gestaltungsfreiheit, aus Sicht der Geberländer allerdings auch mehr Eigenverantwortung. Das zu Beginn des 21. Jahrhunderts von der Weltbank propagierte Comprehensive Deve/opment Framework versprach, mehr als bisher diese Eigenverantwortung nicht nur zu respektieren, sondern auch einzufordern, z. B. bei der lmplementation der PRSP (Poverty Reduction Strategy Papers). Die neue Maxime lautete: Die Empfiinger von externer Hilfe sollten auf dem Fahrersitz sitzen und die Richtung der Entwicklungspolitik bestimmen. Diese Forderung steht in vielen Resolutionen der Blockfreienbewegung und der Gruppe der 77, die sich als Interessenvertretung der Entwicklungsländer versteht. Auch ein langjähriger "Cheilikonom" der Weltbank ftir die Region Afrika forderte den Verzicht auf alle Konditionalitäten und die Vergabe von unkonditionierter Budgethilfe, die es den Regierungen erlauben sollte, die externe Hilfe nach eigenen Prioritäten einzusetzen.3

3

Vgl. Kanbur u. a. 1999.

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Franz Nuscheler

Dieser Ratschlag, der auf der Erfahrung beruht, dass alle Konditionalitäten wenig bewirkt haben, mag sympatisch erscheinen, aber er ist sehr risikoreich. Erstens wird die Erfahrung der Korruption und Geldverschwendung filr Prestigeobjekte die bi- und multilateralen Geldgeber davon abhalten, dem Ratschlag zu folgen, weil sie gegenüber den Steuerzahlern in große Argumentations- und Legitimationsnöte gerieten. Zweitens könnte ihnen ownership auch als eleganter Vorwand dienen, sich aus der Verantwortung filr das Geschehen im Süden zu stehlen. Sinnvolle Zusammenarbeit beruht auf dem Prinzip der geteilten Verantwortung, der Geber- und Nehmerländer in die Pflicht nimmt. 4 Das Recht auf ownership schafft hier und dort Rechte und Pflichten, auf keinen Fall einen Freibrief, mit Menschenrechten nach Belieben umzugehen.

VIII. Menschenrechte und Entwicklung Es gibt auch eine entwicklungspolitische Rechtfertigung der politischen Konditionalität, sofern sie auf den Schutz der Menschenrechte abzielt. Das von UNDP entwickelte Konzept der "menschlichen Sicherheit" (human security) meint, was die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kurz und bündig als Freiheit von "Furcht und Not" umschrieb. Der Human Deve/opment Report 2000 begründete lang und breit, warum Entwicklung ohne Verwirklichung der politischen und sozialen Menschenrechte nicht möglich ist- und lehnte dennoch eine politische Konditionalität ab. Diese Rücksichtnahme auf die Staatenmehrheit aus der Dritten Welt ist diplomatisch verständlich, aber inkonsequent. Wenn es das Ziel der internationalen Entwicklungspolitik sein soll, "menschliche Sicherheit" zu ilirdem, dann kann sie schwere Menschenrechtsverletzungen nicht einfach ignorieren oder gar honorieren. Der unauflösbare Zusammenhang von Entwicklung und Menschenrechten macht eine aktive Menschenrechtspolitik, die sich zwangsläufig in innere Angelegenheiten einmischen muss, gebieterisch. 5 Die Frage bleibt, welche Instrumente sie einsetzen kann und soll, um die Menschenrechtslage zu verbessern.

4

5

Vgl. Biallas 200 I. Vgl. Tetzlaffl995.

Politische Konditionalität in der Entwicklungspolitik

657

IX. Anwendungsprobleme der politischen Konditionalität Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass sich die Kontroversen über die politische Konditionalität nicht so sehr um die Frage drehen, ob sie Legitimität beanspruchen kann, sondern eher um die Fragen, wann und wie sie angewandt werden soll und ob sie überhaupt ein kluges Instrument der Entwicklungspolitik sein kann. 6 Sollen Sanktionen auf aktuelle Indikatoren (wie die nachgewiesene Häufigkeit von Folter) oder auf Trendindikatoren (wie die Vermehrung von Folterpraktiken) reagieren? Ist die japanische Präferenz ftlr einen "positiven Ansatz" nicht nur leichter mit Art. 11.7 der UN-Charta vereinbar, sondern möglicherweise auch wirkungsvoller? Wer sind die Opfer von Sanktionen? Besteht nicht die Gefahr, dass unterdrückte Gruppen den Preis bezahlen müssen? Diese Fragen müssen auch deshalb gestellt werden, weil verschiedene Untersuchungen erhebliche Zweifel an den Erfolgschancen, durch internationalen Druck innenpolitische Struktur- und Verhaltensänderungen zu erzwingen, angemeldet haben. 7 Die Androhung des Entzuges von Entwicklungshilfe verfehlte freilich auch deshalb vielfach ihre Wirkung, weil sich die Geberländer nicht zu einer gemeinsamen Menschenrechtskonditionalität durchringen konnten. Dies gilt auch filr die Europäische Entwicklungspolitik, der es an Koordination und Kohärenz sowohl zwischen Brüssel und den 15 Hauptstädten als auch innerhalb der EU-Kommission mangelt. Auch die transnationale Menschenrechtsbewegung ist nicht stark genug, um eine heile Welt zu schaffen. Aber sie hat es geschafft, die Staaten in der Menschenrechtspolitik unter Handlungsdruck zu setzen. Ohne ihre Informationskampagnen und ohne ihr Lobbying auf verschiedenen Handlungsebenen würde es den Staaten noch leichter fallen, die Menschenrechte auf dem Altar von kommerziellen und geostrategischen Interessen zu opfern. Die transnational vernetzten Menschenrechtsorganisationen wurden zum Sauerteig der internationalen Menschenrechtspolitik.8 Der Autor präferiert auch aufgrund solcher Erfahrungen den "positiven Ansatz". Bevor Sanktionen verhängt werden, sollte ein intensiver politischer Dialog gesucht werden. Wenn aber Regime fortfahren, grundlegende Menschenrechte auf gröbliche Weise zu verletzen, muss der "negative Ansatz" in Gestalt von Sanktionen angewandt werden. Andernfalls wäre die politische Konditionalität zahnlos und wirkungslos. Die Entscheidung, Sanktionen zu verhängen, 6

Vgl. Waller 1993.

7

V gl. Erdmann 1996.

8

Vgl. Gränzer u. a. 1998.

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Franz Nuscheler

muss allerdings auch berücksichtigen, wer ihre Opfer sein werden. Wenn zu befilrchten ist, dass unterdrückte Gruppen unter einem Entzug von Entwicklungshilfe noch mehr zu leiden haben, müssen andere Wege gesucht werden, z. B. durch gezielte Unterstützung von NGOs an den Staatsapparaten vorbei, falls Repression nicht auch diesen Umweg blockiert. Bisher hatte sich die Debatte über die politische Konditionalität auf Strafsanktionen bei schweren Menschenrechtsverletzungen konzentriert. Es ist wichtig, dass der negative oder positive Ansatz der Versuchung widersteht, die Einfilhrung eines bestimmten lnstitutionssystems, wie beispielsweise eines Vielparteiensystems, erzwingen zu wollen. Ein solcher Versuch ist mit einem fundamentalen Problem konfrontiert: Demokratie kann nicht von oben und außen verordnet werden. Ein nigerianischer Politologe9 stellte filr das subsaharische Afrika fest: "Die Anwendung der politischen Konditionalität kann die Transition zur Demokratie nur erleichtern." Sie kann nicht mehr erreichen, aber auch schon diese Nachhilfe sollte nicht unterschätzt werden. Die westliche Gebergemeinschaft kann die Voraussetzungen fiir den Demokratisierungsprozess durch verschiedene Maßnahmen verbessern: •

erstens durch eine demonstrative Belohnung von Regimen, die zu politischen Reformen und zur Verbesserung der Menschenrechtslage bereit sind;



zweitens durch die Erleichterung des wirtschaftlichen und sozialen Problemdrucks, der das Überleben von Demokratien erheblich erschwert, vor allem durch die Verminderung der Schuldenbelastung;



drittens durch die Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen, durch Rechtshilfe beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen und durch Organisationshilfe bei der Vorbereitung und Durchfilhrung von Wahlen.

Der Vorteil dieses "positiven Ansatzes" ist, dass er bestehende Bewegungen und Bemühungen um Demokratisierung unterstützt. 10 Er setzt auf eine aktive Zivilgesellschaft. Ein Musterbeispiel ist der Stabilitätspakt filr den Balkan, der das Wohlverhalten mit Zuckerbrot zu belohnen verspricht, aber auch mit der Peitsche droht, falls die potentiellen Zuwendungsempflinger die Bedingungen des Paktes nicht erfilllen sollten.

9

Nwokedi 1993.

10

Vgl. Waller 1993,66 ff.

Politische Konditionalität in der Entwicklungspolitik

659

X. Schlussfolgerungen Weil Menschenrechte eine universelle Geltung beanspruchen, ist es nicht nur legitim, sondern sogar geboten, Diktaturen in jeder Form bei der Vergabe von Subsidien einer politischen Konditionalität zu unterwerfen. Sie können sich nicht auf irgendwelche politischen Traditionen oder religiösen Werte berufen, weil keine Tradition oder Religion Folter oder willkürliche Verhaftungen gutheißt. Aber diese Verteidigung der politischen Konditionalität ist nicht bedingungslos: Sie muss sich auf den Schutz der grundlegenden Habeas CorpusRechte oder nach der Begrifflichkeit von Michael Walzer (1996) auf eine "dünne Moral" beschränken, die keine Maximalforderungen stellt oder Menschenrechte als Vehikel des politischen Modellexports missbraucht. Die zentrale Maxime der politischen Konditionalität muss lauten: No torture! Konditionalität bedeutet Intervention- und Intervention konfligiert mit Souveränität und ownership, die auch kleine und arme Staaten beanspruchen. Sie beargwöhnen die politische Konditionalität als Freibrief für einen mit Geld ausgestatteten Interventionismus. Wenn jedoch grundlegende Menschenrechte gröblich verletzt werden, dann zählen die Rechte von Menschen mehr als die Rechte von Staaten - oder genauer: von herrschenden Klassen. Die Verteidigung der politischen Konditionalität folgt aus der Verteidigung der Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte- aber sie erfolgt nicht ohne Vorbehalte und Bedingungen, die ihren Missbrauch als Lizenz zum beliebigen Intervenieren verhindem sollen. Dann würde sie in der Tat die schmale Grenze von der legitimen Einmischung zur "illegalen Intervention" überschreiten. Einmischung zum Schutz der grundlegenden Menschenrechte ist jedoch nicht nur legal und legitim, sondern auch ein Imperativ der universellen Menschenrechte. Die Begründung kann in den Art. 55 und 56 der UN-Charta gefunden werden, die durch Art. 11.7 nicht aufgehoben werden. Die "neue Weltordnung" beruht auf der Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte, nicht auf dem anachronistischen Prinzip der Souveränität, das sie zur "inneren Angelegenheit" abwertet.

Literatur Bia/las, D.: Ein Modell der geteilten Verantwortung in der EZ, in: E+Z, Jg. 2001 (Heft 3), s. 68-69. Bericht über die menschliche Entwicklung: Human Rights and Human Development, Bonn2000.

Brandt, Willy: Der organisierte Wahnsinn. Wettrüsten und Welthunger, Köln 1985.

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Franz Nuscheler

Erdmann, Gero: Demokratie und Demokratieförderung in der Dritten Welt, Bonn 1996. Gränzer, Sieglinde/Jetschke, Anja/Risse, Thomas/Schmitz, Hans Peter: Internationale Menschenrechtsnormen, transnationale Netzwerke und politischer Wandel in den Ländern des Südens, in: Zeitschrift fiir Internationale Beziehungen, Jg. 5/1998, Heft I, s. 5-41. Hippler, Jochen (Hrsg.): Demokratisierung der Machtlosigkeit, Harnburg 1994. Kanbur, R./Sandler, T. with Morrisson K. M.: The Future of Development Assistance: Common Poolsand International Public Goods, Washington, D.C. 1999. Nakagawa, Junji: Legal Problems of Japan's ODA Guidelines. Aid and Democracy, Human Rights and Peace, in: The Japanese Annual of International Law, No. 36/1993, S. 76-99. Nuscheler, Franz: Menschenrechtliche Doppelstandards in der Entwicklungspolitik, in : Rainer Tetzlaff 1995, S. 79-96. -

Entwicklungspolitik und Menschenrechte. Theorie und Praxis der politischen Konditionalität in der japanischen Entwicklungspolitik. INEF-Report 24/1997, Duisburg.

Nuscheler, Franz/Brigitte Hamm: Die Rolle von NGOs in der internationalen Menschenrechtspolitik, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1998. Nwokedi, Emeka: Politische Konditionalitäten: Motor oder Bremse der Entwicklung südlich der Sahara?, in: Rainer Tetzlaff 1995, S. 159-186. Rösel, Jakob: Die Entwicklungshilfe als Druckmittel zur Einhaltung von Menschenrechten. Teil JII: Sri Lanka, in: epd-Dokumentation, Nr. 36/1993. South Commission: The Challenge to the South, Oxford 1990. Tetzlaff, Rainer (Hrsg.): Menschenrechte und Entwicklung, Bonn (Stiftung Entwicklung und Frieden) 1995. Waller, Peter P.: Die Menschenrechtsorientierung in der Entwicklungszusammenarbeit, in: Rainer Tetzlaff 1995, S. 53-78. Walzer, S. Michael: Lokale Kritik- globale Standards, Berlin 1996.

Demographie und Konflikt im 21. Jahrhundert Von JosefSchmid Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sagte Napoleon: "Die Politik ist unser Schicksal". Gewiss eine treffende Einschätzung :filr den Erben der Französischen Revolution. Die sozialen Kämpfe dieses 19. Jahrhunderts haben uns ein Paket fanatisierbarer Sozialtheorien hinterlassen, aus dem dann ein ideologisches 20. Jahrhundert wurde. Staunenswerte Leistungen und abgrundtiefe Schrecken hat eben dieses vergangene Jahrhundert hervorgebracht und Rätsel aufgegeben, denen wir noch fassungslos gegenüberstehen. Eines davon ist die Gleichzeitigkeit von Komfort und Krieg, Wohlstand und Massenmord, stacheldrahtbewehrter Minenfelder und Verdoppelung der Lebenserwartung. Mit dem Ende der Sowjetunion haben wir das ideologische Jahrhundert begraben, und bald schon stand uns ein Charakteristikum ins Haus, das dem neuen Jahrhundert seinen Namen geben wird: es kündigt sich ein demographisches Jahrhundert an, weil die Bevölkerungsbewegung in allen Weltregionen Sorgen bereitet und Patenlösungen in weiter Feme liegen: im Westen oder "Norden" der Halbkugel Bevölkerungsschrumpfung und Alterung, im "Süden" anhaltendes Bevölkerungswachstum. Es lastet auf Entwicklungskontinenten. Die Menschheit wird von derzeit 6,2 Milliarden Menschen auf9,5 Milliarden im Jahre 2050 ansteigen. Eigenartig ist, dass beide Welten ein Bevölkerungsproblem haben, wenn auch von entgegengesetzter Natur, und seine Lösung ist hier wie dort unklar. Im Westen sind es die Kosten der Schrumpfung und Alterung, in den Entwicklungsländern die schier unlösbaren Beschäftigungsprobleme :filr hunderte von Millionen heranwachsender junger Menschen. Das wirft Fragen der folgenden Art auf: Wie lange können moderne wissenschaftliche Zivilisationen mit Jugendschwund leben? Können sich vorindustrielle Gesellschaften - mitten im Stadium der "Bevölkerungsexplosion" - in eine postindustrielle Wissensgesellschaft verwandeln? - Offenbar müssten sie da ein Stadium des Hochindustrialismus überspringen, das Europa bis heute charakterisiert! Solche Fragen hängen mit dem demographischen Problem unmittelbar zusammen. Da es auf Jahrzehnte hinaus in allen Räumen und Kulturkreisen im Zentrum des politischen Handlungsbedarfs stehen wird, wird dieses Jahrhundert wohl ein demographisches werden.

662

Josef Schmid

Die ideologische Starre ist 1989 einer weltumspannenden Konfliktsituation gewichen, und Demographie und Konflikt drohen sich gegenseitig aufzuheizen.

I. Zweierlei Formen eines demographischen Dilemmas Die Welt ist geteilt durch zwei unterschiedliche Formen eines demographischen Dilemmas. Dilemma deshalb, weil das Bestreben, ein gedeihliches Gleichgewicht zwischen Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum herzustellen, Maßnahmen erfordert, die gleich wieder zu vereiteln drohen. Das demographische Dilemma des Westens entstand in seinen Sozial- und Wohlfahrtsstaaten. Der Nachwuchsproduzent ist nach wie vor Familie. Doch sie ist Konsumeinheit, ihre Mitglieder arbeiten und produzieren außerhalb. Die Kinderzahl richtet sich da nicht mehr nach der wirtschaftlichen Sicherheit altgewordener Eltern, sondern nach dem Wohlstandsoptimum des einzelnen Familienmitglieds. Der Nachwuchs wird zum untergeordneten Thema der Lebensplanung, denn Wohlstand erreicht man am besten ohne familiäre Bindungen und Verpflichtungen. Das Wohlstandsoptimum enthält Standards materiellen Daseins vor, die in einer ganz aufs Diesseits gerichteten Gesellschaft nicht unterschritten werden wollen. Das Bündel von Einstellungen, das sich da herauskristallisiert, fuhrt in Mitteleuropa nun schon seit dreißig Jahren zu einem anhaltend niedrigen Geburtenniveau, das zu einem Drittel unter der Stärke der Elterngenerationen liegt. Jugendschwund bedeutet einen anteilsmäßigen Anstieg der Altenjahrgänge. Zur "Alterung", die man am langsamen Anstieg des Durchschnittsalters (inzwischen bei 40 Jahren in Deutschland) erkennen kann, trägt außerdem die steigende Lebenserwartung in denselben Altenjahrgängen bei. Die ausnehmend rasch wachsende Zahl der 80- bis I 00-jährigen - so ein bitterer Scherz der Demographen - ist die einzige "Bevölkerungsexplosion", die auf die modernen Gesellschaften zukommt. Es ist eine bange Frage, ob Geriatrie und Gehirnforschung mit dieser Tatsache Schritt halten können, um den weit ausgedehnten Lebensabend auch lebenswert zu machen. Schrumpfende Jugendjahrgänge und steigende Altenanteile bringen einen "Generationenvertrag" unter Druck, denn zur demographischen Schietlage kommt noch eine ökonomische hinzu: weniger Beitragszahler der Sozialversicherung in einer recht dauerhaften Beschäftigungskrise, steigende Schattenwirtschaft im Hochsteuerstaat und steigende Abgabenlast der jüngeren Erwerbsbevölkerung, der zusätzlich die Familienbildung obliegt. Die demographische Bürde der Dritten Welt ist von entgegengesetzter Art. Die Entwicklungsländer stehen unter dem Zwang, ihre "Modemisierung" rascher als die Europäer zu vollziehen, sich rascher aus der demographischen Klemme der hohen GeburtenüberschUsse zu befreien, wozu Europa sich drei

Demographie und Konflikt im 21. Jahrhundert

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Generationen Zeit lassen konnte. Sie werden nicht wie die Europäer erst einen Hochkapitalismus mit Massenkonsum einrichten können, der eine industriellstädtische Alternative zum bäuerlichen Großfamiliendasein bietet und erst über diesen langen und teuren Umweg allmählich die Geburtenzahl senkt. Es ist unvorstellbar, dass bis zum Jahre 2050 die auf 8 Milliarden Menschen anwachsenden Bevölkerungen der Dritten Welt diesen "luxuriösen" Entwicklungsweg beschreiten. Die Entwicklungsländer haben nur eine Chance, wenn sie I. einen anderen Weg zur Modernisierung einschlagen wie die Europäer, und 2. die räumlich gegebenen und kulturell gewachsenen Potentiale nutzen und nicht unter dem Einfluss der modernen Welt über Bord werfen.

Tabelle 1

Die Weltbevölkerung 2002

Welt Industrienationen Europa Nordamerika Entwicklungsländer Lateinamerika Afrika Asien VRChina Indien Ozeanien (mit AustraIien und Neuseeland)

Bevölkerung in Mio. 6137 1193 727 316 4944 525 818 3720 1273 1033 31

Geborenenziffer in %o 22 II

10 14 25 24 38 22 I5 26 18

Sterbeziffer in %o 9 10 II

9 8 6 14 8 7 9 7

jährlicher Zuwachs in% 1,3 0,1 -0,1 0,5 1,6 1,7 2,4 1,4 0,8 1,7 1,1

Durchschnittliehe Kinderzahl pro Frau 2,8 1,6 1,4 2,0 3,2 2,8 5,2 2,7 I,8 3,2 2,5

Quelle: 2002 World Population Data Sheet (Ed. Population Reference Bureau, Inc.), Washington D.C. Seit Jahren liegen Berichte über den Geburtenrückgang in der Dritten Welt vor. Schlagzeilen wie "Bevölkerungsbombe vor der Explosion entschärft" beinhalten aber eine Halbwahrheit. Denn dieser Geburtenrückgang reitet auf dem Tiger der starken Wachstumsphase des demographischen Übergangs, d.h. der Phase der hohen Geborenenüberschüsse, die u.a. aus rasch sinkenden Sterbeziffern resultieren. Sie machen in den Entwicklungsländern zur Zeit einen jährlichen Zuwachs von 70 Millionen aus, der sich bei weitergehenden Geburtenrückgän-

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genverringern wird, am weitergehenden Anwachsen der Weltbevölkerung auf besagte 9,5 Milliarden bis 2050 aber nichts mehr ändert. Das Wachstum wird sich bis zum Ende des 21. Jahrhunderts stark verringern, in einigen Räumen auch zu Ende gehen. Für Schwarzafrika wird ein Umschwung aber auch bis dahin nicht vermutet. ~

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Phase1

Phase2

prätransformativ

frühtransformativ

Phase 3

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Phase 4

mittelspättransformativ. transformativ

Phase 5 posttransformativ

Abbildung I: Stand des demographischen Übergangs in verschiedenen Weltregionen 2000

Wenn man die wichtigsten Weltregionen in ein idealtypisches Verlaufsmodell des demographischen Übergangs überträgt (vgl. Abb. 1), dann befmden sich an seinem Ausgang Europa mit einem Überhang der Sterbeflille und einem defizitären Generationenersatz von nur 1,4 Kindem pro Frau. Nur etwas über 2 Kinder würden den Generationenersatz garantieren. Dann folgt Ostasien, das zum einen sein Bevölkerungsproblem löst wie die Europäer, nämlich mit wirtschaftlichen Fortschritten. Singapur, der "Kleine Drache" und Musterstaat, will nach Jahrzehnten strengster Geburtenkontrolle ("Two are enough") jetzt ein Geburtenförderungsprogramm auflegen, weil sich ähnliche Defizite zeigen wie in Europa und vor allem gebildete und berufstätige Frauen kinderlos bleiben. Dem steht der "Große Drache" China gegenüber mit seiner Ein-Kind-Politik.

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Das westliche Asien, der indische Subkontinent, lndonesien, und das tropische Lateinamerika befinden sich dagegen in der starken Wachstumsphase mit niedrigen Sterbeziffern und nur zögernd fallenden hohen Geburtenwerten. Afrika befindet sich in der weltweit stärksten Wachstumsphase, weil sich Geburtenniveau und Sterblichkeit am weitesten spreizen und damit die größten Geborenenüberschüsse hervorbringen. Sie wären noch größer, wenn nicht die hohe Kindersterblichkeit sie verringern würde. Mit durchschnittlich 6 Kindem pro Frau wird sich dort die Elterngeneration verdreifachen und mit einem jährlichen Zuwachs von nahezu 3 % die schwarzafrikanischen Bevölkerungen in nur 24 Jahren verdoppeln. Sie dürften vor Ende des 21. Jahrhunderts nicht die Stagnationsphase erreichen. Die AIDS-Epidemie erschwert allerdings jede Vorausberechung: die entscheidende Frage ist, ob AIDS umso mehr Ersatzgeburten hervorbringt oder die Demographie tangiert, d.h. das Bevölkerungsvolumen bis zu einem gewissen Punkt einbrechen lässt, weil junge Menschen im gebärflihigen Alter und Eltern überdurchschnittlich stark der Seuche zum Opfer fallen. Aus dem Verlaufsmodell des demographischen Übergangs geht hervor, dass alle Bevölkerungen während der Entwicklung eine Stress-Phase absolvieren, denn es müssen für wachsende Menschenzahlen neue Wege der Nahrungsbeschaffung beschritten, neue Technologien, Ressourcen und industrielle Organisationsformen eingeführt werden. Diese Aufgabe wird in ihrer ganzen Schwere deutlich, wenn man das unumstößliche Wachstumsgesetz junger Bevölkerungen in Betracht zieht: starke Geburtsjahrgänge werden in zwei Jahrzehnten starke Heirats- und Elternjahrgänge, die entsprechend stark Nachwuchs hervorbringen. Dieser Struktureffekt vollzieht sich analog der Zinseszinsformel, so dass man hier von einem "Kindeskindereffekt'' sprechen kann. "Demographisches Momentum" lautet der internationale Fachbegriff. In dem Bestreben, demographisches und ökonomisches Wachstum aufeinander abzustimmen, müssen die Völker also laufen, nur um auf der Stelle zu bleiben.

II. Revision des demographischen Übergangs? In Europa ist die ökonomische Modernisierung der demographischen vorausgegangen. Die Lage in den heutigen Entwicklungsländern zwingt zur Überlegung, ob die europäische Erfahrung auch fllr die Dritte Welt gültig sein kann, oder ob die demographische Modernisierung der ökonomischen nicht wird vorangehen müssen. Das heißt, ob Geburtenzahlen nicht sinken mUssen, weil fllr kleinere Jahrgänge eher Versorgung, Gesundheit und Bildung beschafft werden und Entwicklung Oberhaupt beginnen kann.

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Der demographische Übergang hat in Europa drei Generationen gebraucht, und am Ende doch Wohlstand, Langlebigkeit und auch Wohlstandsdenken hervorgebracht, worin zahlreicher Nachwuchs keinen Platz mehr hat. Das lässt sich nicht weltweit organisieren. Diese europäische Theorie der Bevölkerungsentwicklung, ein Pendant zur Theorie der Modemisierung, ist bis heute eines der wenigen anerkannten Entwicklungsgesetze. Doch sie lässt sich nicht auf außereuropäische Räume übertragen, ohne auf die dortigen sozialen und kulturellen Gegebenheiten zu achten. Aber jede Disziplin wird von Nervosität ergriffen, wenn sie eine vertraute Konzeption verabschieden oder bis zur Unkenntlichkeit erweitern muss, um der Weltlage Rechnung zu tragen. Zwei Erfordernisse werden einen Paradigmenwechsel erzwingen: Erstens muss das Geburtenniveau der Dritten Welt von derzeit 3,6 Kindem pro Frau absinken, ohne dass die soziale Umwelt und die wirtschaftliche Situation einem solchen niedrigen Geburtenniveau - nach europäischer Lehre schon entsprechen würden. Das ist ein notwendiger Anpassungsvorgang an eine bereits gesunkene Sterblichkeit, deren niedriges Niveau - gemessen am übrigen Entwicklungsstand noch gar nicht erreicht worden wäre. Es ist Technologie und Medizintransfer aus der modernen Welt, der dies ermöglicht hat. Doch allein die Anpassung von Geburten- an Sterbewerte auf niedrigem Niveau bedeuten ein Ende der Geborenenüberschüsse, die dann als nachwachsende Generation trübe Lebensperspektiven haben. China und Bangladesch könnten diesen ftlr Europäer ungewöhnlichen Fall exemplarisch vorfUhren. Zweitens werden aus einem ganz anderen Grunde die Entwicklungsländer ihren demographischen Übergang auf eine andere Weise, nämlich ohne die Konsumalternative der heutigen Industrienationen schaffen müssen. Das erklärt Nathan Keyfitz, mehrjähriger Direktor des IIASA, Laxenburg: "Wenn zwischen Energieverbrauch und Volkseinkommen eine enge Beziehung besteht und wenn diese hohe Korrelation auch in der Gegenwart gilt, dann haben die Entwicklungsländer keine Möglichkeit, jemals das Einkommensniveau der Industrienationen zu erreichen." 1

Die Dritte Welt wird ihren demographischen Übergang weder in dem gemächlichen Tempo Nord- und Westeuropas vollziehen, noch dessen Marschrichtung einhalten können. Wenn in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts das demographische Wachstumbeendet und die Weltentwicklung absehbar sein soll, drängen sich der Dritten Welt gravierende Änderungen auf: l.

Der demographische Übergang hat in Entwicklungsländern nicht hundert Jahre Zeit. Hier stehen ungleich größere Bevölkerungen zur Modernisie-

1 Übers.

d. Verf.

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rung an als im alten Europa, und mit jährlichen Wachstumsraten von 2 bis 4 %, wie sie Europa nie gekannt hatte. 2.

Die von außen eingeleitete Senkung der Sterblichkeit muss eine rasche Geburtensenkung nach sich ziehen, weil ein üblicher Netto-Zuwachs von 2 %jährlich, der eine Verdoppelung in 35 Jahren bedeutet, nicht lange ertragen werden kann.

3.

Das heißt, dass diesen Ländern, unter denen sich die Ärmsten befinden, zur Geburtensenkung genauso von außen geholfen werden muss, wie schon lange zur Senkung der Sterblichkeit. Die Geburtensenkung kann man nicht mehr dem allgemeinen Entwicklungsprozess überlassen. Es wird wie eine Umkehrung des europäischen Weges aussehen: die demographische Modernisierung muss zuerst eingeleitet werden, damit eine ökonomische überhaupt beginnen und stattfinden kann. Der Entwicklungsprozess ist hier getragen von einer besseren Perspektive ftlr Eltern und Kinder und nicht wie in Europa - von einer Konsumsteigerung, die eine bereits entwickelte Industrialisierung bietet.

4.

Die Dritte Welt wird ihre Entwicklung nicht mit einer Naturausbeutung und Energieverschwendung betreiben können wie die nördliche Hemisphäre, obwohl sich in vielen Fällen Ähnliches ankündigt. Hier müsste ebenfalls eine Umkehrung der Evolutionsschritte stattfinden. Die ökologischen und klimatischen Zustände erfordern die Einftlhrung von intelligenten, teilweise auch dezentralen Niedrig-Energie-Systemen, die einer höheren, späteren Entwicklungsstufe angehören. Es ist praktisch ein Vorziehen, ein "Diskontieren" von Fortschritt. Ansätze hierftlr finden sich erstaunlicherweise in den Traditionen der Völker, die sie unter dem Eindruck moderner Praktiken des Nordens nur allzu gerne vergessen und verachten. Anders ist im "Süden" eine leidliche Existenz ftlr mindestens 8 Milliarden Menschen nicht vorstellbar. Zusammenfassend gilt, dass der Globus nur dann eine Chance hat, wenn sich die Dritte Welt nach einem anderen Prioritätenschema entwickelt: sie wird die Geburten rascher der niedrigen Sterblichkeit folgen lassen, die Geborenenüberschüsse rascher verringern und kleinere Jahrgangsstärken so weit qualifizieren, dass sie mit Niedrig-EnergieSystemen und mit umwelterneuernder Technologie umgehen können. Dies erfordert Investitionen und Erziehungskosten, wie sie ftlr Bevölkerungen, die zur Hälfte aus Kindern und Jugendlichen bestehen, alleine nicht aufzubringen sind.

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111. Modernisierung- Anomie- Ethnizität Der ehemalige amerikanische Präsidentenberater und Historiker, John Schlesinger Jr. , sieht in der Globalisierung den Anlass dafür, dass Menschen wieder Zuflucht nehmen zu Religion, dörflicher Umgebung, Stammeszugehörigkeit (Ethnizität oder Tribalismus) und kultureller Identität. Was die moderne Welt und die vom Westen beherrschte Massenkultur glaubte zersetzt zu haben, erlebt schlicht eine Auferstehung. Wir haben es hier mit einem Paradox der Globalisierung zu tun: sie stärkt ihr Gegenteil! Die Träume von Weltläufigkeit und Weltregierung zerschellen vorerst am Sicherheitsbedilrfnis, an Sehnsucht nach vertrauter Welt, nach Vertrauenskapital, das sich nie erschöpft und das nur zu finden ist im Geist der Volksgruppe, der Ethnie mit ihrer ein- und ausschließenden Wirkung. Doch es gibt noch andere Momente. Die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges und des Sowjetkommunismus wartet mit einer neuen "Blockbildung" auf. Samuel P. Huntington schreckte alle Kosmopoliten mit folgender Äußerung: "The very notion that there could be a 'universal civilization' is a wesfern idea ... the values that are important in the West are least important worldwide. " Damit sind neue und diffuse Frontlinien gezogen, die sich bei Huntington anhören wie" The West against the rest". Sowie Migranten und Minderheiten sich in ihre jeweilige Stammeszugehörigkeit zurÜckziehen, entsteht eine Ordnung unterhalb der staatlichen Gebilde, ein Vakuum zwischen den lokalen Loyalitäten und den staatlichen Erfordernissen. Sowie die Menschen ihre Identitätsbedürfnisse nicht mehr auf die Leitkultur und die Nation richten, sondern auf die Herkunftsgruppe und das vertraute Wohnviertel, wo dann eigene Gesetze, Loyalitäten und Autoritäten gelten, ist der Tatbestand steigender Anomie gegeben. Sie bedeutet Gesetz- und Regellosigkeit, das Fehlen allgemein-verbindlicher Symbole und erhöhtes Risiko enttäuschter Erwartungen. Ein gewisses Quantum Anomie ist mit jedem Entwicklungsschritt gegeben: das Alte gilt nicht mehr, das Neue hat sich noch nicht gebildet. Wenn jedoch Anomie in einem Ausmaß steigt, dass Investitionen unterbleiben und eine Mittelschicht sich nicht ansiedeln will oder gar flüchtet, wird sie zum Entwicklungshemmnis. Die Räume zwischen den ethnischen Defensiv- und Aggressiv-Ordnungen werden zum Schauplatz von Territorialkämpfen und Spannungen um Rang und Geltung von Gruppen. Europa und Nordamerika kennen diesen Vorgang, und erst recht die Dritte Welt. Dort stellt sich das Anomie-Problem noch gravierender: die vom Kolonialherren geschaffenen willkürlichen Territorien, die aufgepfropfte nationale Staatsspitze, die sich nun über die Stammesordnung und die regionalen Fürstentümer erhebt, erzwingen eine ungeübte Loyalität gegenüber dem Unüberschaubaren und Unbekannten. Das Bevölkerungswachstum stärkt nun die Ethnien und Ethnisierungstendenzen.

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Damit ersteht den instabilen Nationalstaaten auf den Entwicklungskontinenten ein natürlicher Widersacher, der allzu häufig präventive Unterdrückungsmaßnahmen gegen Stämme und Minderheiten einleitet. Auch der Westen bleibt von der Konfliktlage, die aus Ballung und Segration von Minderheiten und Immigrantenkolonien ausgehen, nicht verschont. Sie werden zum aktuellen Feld sozialwissenschaftlicher Forschung.

IV. Neue Konflikte Die neuen Konflikte kommen aus Distanzverlust zwischen Milieus, die durch eigenständige kulturelle Identität gebunden sind und um sie bangen. Für Distanzverlust sorgen zum einen die neuen Informations- und Kommunikationsmedien, zum andernfal/ende oder durchlässig werdende Grenzen. Konflikte entstehen, (a) wenn sich der Nord-Süd-Konflikt in den Städten des Nordens bemerkbar macht und Zuwanderung bei den Autochtonen keine Akzeptanz findet; oder (b) wenn Billiglohn-Länderzur Auslagerung von Produktionsstätten anregen und - im Gegenzug - eingeschleuste billige Arbeitskraft die Arbeitsmärkte moderner Nationalstaaten tangieren und deren Standards unterlaufen. Kultur- und Identitätskonflikte können durch staatliches Handeln ausgelöst werden, welche Minderheiten beschränken oder benachteiligen. Am häufigsten werden sie aufgewühlt durch internationale Migration. Migrantenströme sind konfliktträchtig, wenn sie (c) zu einer ethnischen Geschlossenheit der Migranten im Aufnahmeland führen, die bewusst zum Selbsthilfenetz ausgebaut werden und (d) dadurch den Aufnahmeländern symbolhaft als NichtIntegration, als Überfremdung, bzw. fremde Landnahme erscheinen. Migranten, die in der Herkunftskultur verharren, führen ein Aufnahmeland in eine Ethnifizierung. Ethnische Zugehörigkeit ist das nicht hintergehbare Attribut jedes Menschen und praktisch unzerstörbar. Versuche seitens progressiver Intellektueller, es abzuwerten oder zu transformieren, haben etwas von einem Menschenversuch und Experiment mit der Menschennatur. Dazu zählen auch das Propagieren und selbst das Für-möglich-halten einer multikulturellen Gesellschaft oder einer Republik der offenen Grenzen. Die folgende Übersicht über Kulturkreisdifferenzen zeigt, dass selbst vom Westen ausgehende "Universalien" (Menschenrechte, Individuum, Besitz, Demokratie) in Fremdkulturen kaum Boden unter die Füße bekommen.

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Josef Schmid

Tabelle 2 Differenzen dreier Kulturkreise in analytischer Darstellung2

Wurzeln

Inhalt

Okzidentaler Kontext Religiöser, humanistischer, soziohistorischer und ökonomischer Individualismus

Islamische.r Kontext Gleichheit vor Gott, Göttliches Gesetz

Negroafrikanischer Kontext Stammessolidarität, animistisches Weltbild, koloniales Erbe

Gegensatz~

Einheit~

Einhei( IndividuumGemeinschaft Religion Dialektisches Verhältnis Gemeinschaft Individuum- Kosmos Gemeinschaft Individuum- Natur Traditionelle Werte Stammessolidarität

Individuum- Staat (säkularisiert)

Individuum- Staat - Religion

Menschenbild

Individualismus

Verhältnis Gott- Individuum

im Zentrum

Mensch

Orientierung Daraus resultierende gesellschaftliehe Prinzipien Betonung von

Vernunft Liberalismus

Gott- Gemeinschaft - Mensch Glaube Religiöses Gesetz

Rechtsform Identitätsbezug Menschenrechtsprioritäten

Individuelle Freiheit Gleichwertigkeit (=Gleichheit) Konkurrenz soziale Gerechtigkeit Demokratie Theokratie Autonomie Gehorsam Auf sich selbst Auf Gott und die verwiesen Gemeinschaft der Gläubigen verwiesen Individuelles Wohl- Gottgefälligkeit ergehen

Solidarität soziale Gerechtigkeit

DemokratieDialog Auf die Gemeinschaft verweisen Soziale Gerechtigkeit (vor allem auch international)

2 Erstellt von Richard Fried/i, Ethnologe und Entwicklungssoziologe der Universität Freiburg!Fribourg (Schweiz), Sept. 1994.

Demographie und Konflikt im 21. Jahrhundert

671

Wir sind Zeugen, wie alte Stammes- und Religionsgrenzen nach dem Zusammenbruch von Zwangsunionen (Jugoslawien, Sowjetunion) wiedererrichtet wurden. Das ftlhrt auch zum Wiederaufflackern von Feindseligkeiten. Die meisten verzeichnet gegenwärtig der Islam mit seinen nachbarlichen Kulturen und Religionen. Der "islamischen Gürtel" der Erde, von Marokko bis Indonesien, zeigt eine anti-westliche Geisteshaltung und ostasiatische Kulturen erteilen westlichen politischen Prinzipien (Menschenrechte, Parteiendemokratie, offene Märkte, freier Informationsfluss) eine Absage. In seiner religiösen Starre und durch sichtbare Anfechtungen seitens des Westens wird der Islam zur gefahrliehen und unberechenbaren Größe, und nicht nur ftlr den Westen, auch filr Staaten mit islamischer Mehrheit und deren Nachbarn.

V. Eine fragmentierte Welt Was sich großspurig "globale Wirtschaft" nennt, spielt sich bis jetzt nur zwischen drei Blöcken ab: den USA, der Europäischen Union und Japan mit einigen Wohlstandsinseln im Femen Osten. Die multilaterale Struktur der amerikanischen Außenpolitik (eine Umschreibung ftlr ,alleinige Weltmacht') wird das Land in eine Erschöpfung ftlhren. Möglicherweise dauert die amerikanische Vormachtstellung nicht mehr länger als zwanzig Jahre. Die Demographie wird Völker ins Zentrum des Weltgeschehens spülen, die vom Westen, etwa der ehemaligen Kolonalmacht, davon ferngehalten wurden. Die demographisch bedingte Verschiebung der Weltgewichte in den "Süden", voran Indien, China, Pakistan, Indonesien, Nigeria, Brasilien und Mexiko, wird Großstaaten zwischen I 00 Millionen und über einer Milliarde Einwohner zu Akteuren machen, die mächtig und zugleich arm sind- eine Kombination, die der Westen noch nicht begreift. Es ist anzunehmen, dass diese Staaten, ähnlich dem Europa um 1900 starken Nationalismus entwickeln werden und in Rangkämpfe mit Nachbarn eintreten werden. Die Migranten in europäischen Staaten könnten sich wieder mehr mit dem Herkunftsland identifizieren, sowie sie es als aufsteigende Macht erleben. Das könnte ihre Integration in westlichen Aufnahmeländern abschwächen. Die Kulturdifferenzen, gepaart mit Geftlhlen der "Deprivation", der vergleichsweisen Zurückgesetztheit, und mit religiöser Bindung, werden immer wieder fanatische "Erweckungen" zur Folge haben und damit terroristische Aktivität. Die nationalen und ethnischen Spaltprodukte vermehren sich und beginnen je einzeln zu wachsen. Die westliche "Fruchtfolge" der Entwicklung: Freie Wirtschaft ~ Wohlstand ~ Demokratie ~ Frieden, die mit ähnlich fundamentalistischer Gloriole umgeben wird, ist ftlr die Dritte Welt bisher nicht imitierbar. Das Lebensmodell des Westens mag schmecken, doch nicht der Weg dorthin. Doch die Asienkri-

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Josef Schmid

se, die Krise großer lateinamerikanischer Länder und auch die des gegenwärtigen Russland zeigen, dass es das westeuropäische Vorbild offenbar doch braucht. Es sind dies die verlässlichen Institutionen, die Europa hervorgebracht hat und die heute in allen Krisenherden der Erde fehlen. Im Grunde sind es die in der Reformationszeit entstandenen bürgerlichen Tugenden, samt Recht, Persönlichkeit und Schutz des Eigentums, stabile demokratische Verhältnisse. Alfred Müller-Armack, der Mitstreiter Ludwig Erhards, hat sogar die funktionierende soziale Marktwirtschaft auf die Entwicklungen im Christentum zurückgefilhrt - und nicht auf Aufklärung. Denn die bürgerliche Wirtschaftsgesinnung braucht keinen Ego-Nihilismus, sondern eine Liebe zum Werk. Hier trennen sich auch die Wege zwischen Erfolgs- und Leistungsgesellschaft. Die Erfolgsgesellschaft sieht nur auf das Ergebnis, die Mittel, mit denen es erzielt wird, werden nicht filr sozial bedeutsam gehalten und dürfen aller Prinzipien entbehren. Es sind dies die Zocker-Gesellschaften mit Kurzzeitgedächtnis, wie wir sie vielfach in Lateinamerika finden und wie sie auch die westliche Wirtschaftethik über "E-commerce"-Praktiken bedrohen. Dagegen achtet die Leistungsgesellschaft auf die Mittel. In ihnen soll zumindest ein Hauch von protestantischer Ethik durchschimmern. Man kann es scherzhaft wie folgt ausdrükken: Erfolgsgesellschaften haben es mit "shareholder-values", während die Leistungsgesellschaften auf "shared values", ein Synonym filr Kultur, achten. Erstere werden anfangs gewinnen und später scheitern; die letzteren werden nicht so viel gewinnen, aber solide überleben. Die Hofthung auf einen wechselseitigen Bildungsprozess ist die einzige Hofthung in einer fragmentierten Welt.

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Entwicklungspolitik der Europäischen Union nach Cotonou Von Anselm Skuhra Die EGIEU ist entwicklungspolitisch im OECD-Vergleich (1997: 12 %) eine der größten Geber-Institutionen, die mit einer großen Anzahl von Entwicklungsländern Sonderbeziehungen aufgebaut hat. Die Beziehungen beginnen mit den Römischen Gründungsverträgen 1957, erfahren einen Aufschwung im Zuge der Dekolonisierung der 60er Jahre und ihren Höhepunkt während der Debatte um die Neue Internationale Wirtschaftsordnung (NIWO) Mitte der 70er Jahre. Seither ist eine stete Erosion zusammen mit wachsender Kritik an ihrer Durchftlhrung festzustellen. Dies mündete in Reformbemühungen seit den 80er Jahren und schließlich einer grundlegend neuen Entwicklungskonzeption mit dem Abkommen von Cotonou 2000, das sich auf 77 Entwicklungsländer mit einer Bevölkerung von 638 Mio. Menschen erstreckt.

I. Die Abkommen von Yaounde und Lome Während der Verhandlungen um die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 wurden auf Drängen Frankreichs gegen den Widerstand der Niederlande und der BRD (die aber daftlr die Einbeziehung des innerdeutschen Handels in den EG-Raum erhielt) besondere AssoziierungsBeziehungen zu seinen Kolonien und Überseegebieten vereinbart, eine Regelung, die auch auf jene Belgiens und Italiens Anwendung fand. Nachdem viele dieser Gebiete um 1960 ihre Unabhängigkeit erlangten, wurde 1963 mit dem ersten Abkommen von Yaounde (ein zweites folgte 1969) ein neuer Rahmen ftlr die Zusammenarbeit beschlossen. Die damals sechs EWG-Mitgliedsstaaten vereinbarten mit zunächst 18 unabhängigen Assoziierten Afrikanischen Staaten und Madagaskar (AASM) einen Kollektivvertrag über Handel und Entwicklungszusammenarbeit, der in der Grundstruktur schon die Elemente späterer Lome-Verträge enthält wie Sonderstellung dieser Länder, technische und finanzielle Hilfe, nichtrückzahlbare Zuschüsse und partnerschaftliehe Institutionen auf Minister- und parlamentarischer Ebene. Die Handelserleichterungen be-

Anselm Skuhra

676

ruhten auf Reziprozität. Damit kam es zu einer gewissen Multilateralisierung der vormals einseitigen Kolonialbeziehungen, jedoch weiterhin als Sonderbeziehungen mit und im EG-Bereich, wie besonders am Beispiel Frankreichs zu den frankophonen Ländern dieser Gruppe erkennbar war. Nach dem Beitritt Großbritanniens zur EG 1973 wurde 1975 das erste LomeAbkomrnen (dem weitere im Fünf-Jahres-Rhythmus folgten) mit damals 46 Ulndern in Afrika sowie einigen Inselstaaten in der Karibik und im Paziflk, den so genannten AKP-Ländern, unterzeichnet. Die Zunahme der Anzahl der AKPLänder ist auf frühere britische Kolonien in diesen Regionen zurückzufilhren, allerdings ohne die asiatischen Mitglieder des Commonwealth, die als schon weiter entwickelt eingestuft bzw. nicht geeignet filr diese Form der Assoziierung angesehen wurden. Das erste Lome-Abkommen 1975 enthielt folgende zentrale Elemente: Erstens sollte die Kooperation im Sinne einer gleichberechtigten Partnerschaft durchgefilhrt werden, wozu den gemeinsamen Institutionen sogar Entscheidungsbefugnisse eingeräumt wurden. Zweitens wurde im Handel mit den assoziierten Ländern bei einer Reihe von Produkten ein einseitiges Präferenzsystem, also Zollnachlässe oder -befreiungen zu ihren Gunsten gewährt. Drittens wurde ein Fonds zur Stabilisierung von Exporterlösen (STABEX) agrarischer und einiger mineralischer Rohstoffe (Sondertopf SYSMIN) bei stark sinkenden Weltmarktpreisen oder Ernteausfällen eingefilhrt. Er umfasste zum Schluß 51 Rohstoffe, wobei auch Rohstoffsicherung in Zeiten von Rohstoffkartellen wie der OPEC eine Rolle spielte. Schließlich wurde eine industrielle und landwirtschaftliche Zusammenarbeit vereinbart. Damit stellte das Lome-Abkommen die Antwort der EG auf die damalige Diskussion um die NIWO, ein asymmetrisches Weltwirtschaftssystem und eine sich vertiefende Unterentwicklung der Dritten Welt dar. Dem sollte zwar nicht mit einer Preis-Garantie, aber doch mit einer relativen Stabilisierung der Rohstoffpreise durch ein über filnf Jahre abpufferndes Verfahren, weitgehend (zuletzt zu 92 %) nicht rückzahlbaren Darlehen, nicht reziproken Handelserleichterungen sowie partnerschaftlichem Umgang begegnet werden. Politik wurde dabei als Dialog verstanden, verbindliche Werte waren Akzeptanz der Gungen) Souveränität, Nichteinmischung und die ökonomische Ebene. Erste Reaktionen bezeichneten das Lome-System als eine der großen Errungenschaften der Kommission und als Meilenstein einer kooperativen Entwicklungspolitik. 1 Im "spirit of Lome" ist bis heute - auch nach Cotonou2 - kein AKP-Land aus der Partnerschaft ausgetreten.

1 2

Brown 2000, 380. Weiland 2000, 56.

Entwicklungspolitik der Europäischen Union nach Cotonou

677

II. Kritik am Lome-Abkommen und Reformbemühungen Im Laufe der 80er Jahre wurde zunehmend Kritik geäußert, die sich im Laufe der 90er Jahre noch verstärkte und um folgende Punkte zentriert war: Das STAB EX-System begünstigte nur wenige Länder. STAB EX-Zahlungen gingen vor allem an Regierungen, nicht an Produzenten. Das System fiihrte nicht zur dringend benötigten Diversifizierung, sondern trug eher noch zur Verfestigung oft monokultureHer Rohstoff-Strukturen bei. In Zeiten des Niedergangs des Ost-West-Konflikt wurde eine explizite Rohstoffpolitik nicht mehr erforderlich. Das Zugeständnis "präferentiellen" Zugangs filr industrielle Produkte hatte hauptsächlich symbolischen Charakter, weil nur wenige AKP-Länder überhaupt Industrieprodukte exportieren konnten. Falls jedoch echte Konkurrenz entstand, reagierte die EG schnell restriktiv wie etwa bei den Agrarprodukten Bananen, Rindfleisch, Reis und Zucker. Durch das System der Fünf-JahresPläne und Länderprogramme (mit Budgethilfen) entstanden von AKP-Seite Erwartungshaltungen, die weniger durch Leistung als durch eine "Kultur der Abhängigkeit" und des Klientelismus charakterisiert waren. Die Verwaltung der Projekte durch die Kommission war bürokratisch, Gelder wurden mitunter mit großer Verspätung ausbezahlt (so sind Teile des Entwicklungsfonds [EEF] von 1975 noch nicht abgerechnet). Die anfangs mangelhafte Verwendungskontrolle fiihrte zu einer erheblichen Zweckentfremdung und Bereicherung von Eliten der AKP-Staatsklassen, die wenig oder kein Interesse an der Entwicklung ihres Landes zeigten. Für industrielle Kooperation gab es immer weniger Mittel. Eine nachhaltige Förderung der Entwicklung der großen Mehrzahl der AKP-Länder ist nicht feststellbar, nur wenig zeigten Erfolge wie Mauritius, Botswana, Ghana, Senegal und Elfenbeinküste. 3 Auch Diktaturen mit massiven Menschenrechtsverletzungen erhielten Mittel. Die EG-Überschußproduktion im Agrarbereich entfaltete als "Nahrungsmittelhilfe" kontraproduktive Wirkungen. Um einen größeren Finanzspielraum zu erhalten, wurde das vierte LomeAbkommen 1990 mit einer Laufzeit von zehn Jahren sowie einer Evaluation zur Halbzeit, dem Lome IVb-Abkommen, beschlossen. Entsprechend der entwicklungspolitischen Diskussion um mehr "politische" Kondizionalisierung von Entwicklungshilfe (ODA) wurde hier die Beachtung der Menschenrechte als Klausel eingefilhrt. 1995 wurde dies ergänzt durch das Prinzip der "good govemance" und eine tatsächliche Verknüpfung mit Leistungen. Demzufolge wurden 1990-1995 gegen 22 Länder Hilfssanktionen verhängt, davon 15 in Afrika südlich der Sahara. Entscheidungen wurden wegen ihres klientelistischen Immobilismus zunehmend von der "partnerschaftlichen" Ebene weg zur

3

Kappe/1999, 248.

Anselm Skuhra

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Kommission hin verlagert. 4 Das Präferenzabkommen geriet in Widerspruch mit den Statuten der 1993 gegründeten WTO, die keine Sonderbeziehungen vorsehen. Ausnahmeregelungen wie zu Zeiten des noch schwächeren GATT waren nur mehr befristet zu erhalten. Das 1996 von der Kommission veröffentlichte "Grünbuch" signalisierte, dass ein neues Abkommen sich erheblich von den bisherigen unterscheiden würde.

111. Das Abkommen von Cotonou Nach langen kontroversen Verhandlungen wurde das Cotonou-Abkommen am 23. Juni 2000 (ACP-EU Partnership Agreement) beschlossen. Sein geografischer Schwerpunkt liegt im subsaharischen Afrika: Neben 15 karibischen und 14 pazifischen zumeist kleineren Inselstaaten gehören alle 48 Staaten Subsahara-Afrikas der AKP-Gruppe an (Südafrika allerdings nur mit einem Freihandelsabkommen), was 95 % der Gesamtbevölkerung und 80 % der Leistungen der AKP-Länder insgesamt entspricht. Die Laufzeit des Abkommens beträgt 20 Jahre, Finanzplan und Evaluation sind alle filnf Jahre geplant. Die finanzielle Ausstattung beträgt filr den ersten Zeitraum 2000-2007 13,5 Mrd. Euro und damit gegenüber Lome IV geringfilgig mehr Gedoch bereits filr einen etwas längeren Zeitraum; nach bisheriger Erfahrung wird aber längst nicht alles ausgegeben). Hinzu kommen noch das Kreditvolumen der Europäischen Entwicklungsbank (EIB) mit 1,7 Mrd. und Restbeträge aus früheren EEF von 9,9 Mrd. Euro. Die Beträge sind jetzt nicht mehr durch Länder- und Programmschlüssel zum Teil fixierte Beträge, sondern nur Plafonds, bis zu denen je nach Antrag und nach Maßgabe der Kriterien vergeben werden kann, was de facto zu einer Reduzierung fUhren kann. 5 Die neue Zusammenarbeit des Cotonou-Abkommens besteht aus filnf Bereichen: Erstens soll nicht nur die Beachtung von >Menschenrechten und "good govemance", sondern nunmehr auch die Höhe der Militärausgaben, Drogenhandel, organisiertes Verbrechen, ethnische und religiöse Diskriminierung, Kooperation in Migrationsfragen sowie auch Korruption 6 zum Maßstab genommen werden. Die Bedeutung von Konfliktprävention stieg wie auch im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) erheblich. Damit ist die politische Dimension der EU-Entwicklungspolitik um einiges expliziter und stärker geworden.

5

Raffer 2002, 179 f. Raffir 2002, 183.

6

Brown 2000, 377.

4

Entwicklungspolitik der Europäischen Union nach Cotonou

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Zweitens ist auch die Einbeziehung von nichtstaatlichen Akteuren wie Zivilgesellschaft, privatwirtschaftliche Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) viel expliziter geworden. Sie sollen - filr Finanzierungen antragsberechtigt- insbesondere beim Aufbau demokratischer Strukturen bzw. in Form von Public-Private-Partnerships (PPP) der Stärkung der Marktwirtschaft dienen. Neben der staatlichen Ebene kann auch direkt mit regionalen und lokalen Institutionen kooperiert werden, sofern die AKP-Länder tatsächlich bereit sind, anderen Ebenen als der staatlichen eine gewisse Autonomie einzuräumen. Drittens wird Armutsbekämpfung mit dem Ziel einer "echten Überwindung von Armut" zu einem "vorrangigen Kooperationsziel" 7 erklärt. Von den 49 am wenigsten entwickelten Ländern (LLDC) gehören allein 39 Staaten der AKPGruppe an, deren Anteil an der EU-Entwicklungshilfe während des letzten Jahrzehnts von 50 % auf 32 % gesunken ist. In der Generaldirektion (DG) Entwicklung ist nur eine Person mit der Konzeption und Evaluation von Armutsbekämpfung befasst. 8 Damit gehört dieser Bereich eher zur symbolischen Politik und Legitimationsbeschaffung. Allerdings hat nach dem Scheitern der Seattle-Welthandelsrunde Anfang 2001 der EG-Kommissar filr Handelspolitik Lamy der LLDC-Ländergruppe (insgesamt) einen bis 2004 befristeten zollfreien Export aller Waren außer Waffen (die "Everything-but-arms-lnitiative") in die EU eingeräumt9, deren Wirkung jedoch nicht überschätzt werden sollte. 10 Viertens wurde die bisherige wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit verändert: Das Allgemeine Präferenzabkommen wird ebenso wie jenes zu STABEX (und SYSMIN) nach einer Übergangszeit bis Ende 2007 aufgelöst. Dies gilt auch fUr einzelne Rohstoffprotokolle, bei Bananen wurde es bereits vollzogen. Vereinbart wurden Investitionsgarantien in den AKP-Ländern. Vorrangiges Ziel ist jetzt eine stärkere Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft. Als erste Stufe sollen hierfilr (bislang noch nicht bekanntgegebene) Regionen gebildet werden, mit denen dann die EU Freihandelsabkommen abschließt. Fünftens wurde eine Reform der schwerfälligen Entwicklungsbürokratie und ProjektdurchfUhrung vorgenommen. 11 Der gesamte Projektzyklus wurde im EuropeAid Cooperation Office zusammengefilhrt, weshalb nun den zwei Programmierungseinheiten (DG Entwicklung fUr AKP-Staaten, DG Außenbeziehungen fUr andere Staaten außer Beitrittskandidaten) nur mehr eine Implementierungs-

7

European Commission/Council ofthe EU 2000, s. summary.

8

Benedikt 2002, 127 f.

9

Schmidt 2002, 35.

10

Schilder 2001.

11

Claasen 2000, II.

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einheit (EuropeAid) gegenübersteht. 12 Analog zu vielen EU-Mitgliedsstaaten, die die Entwicklungszusammenarbeit nur mehr im Rahmen des Außenministeriums, nicht mehr als eigenes Ministerium filhren, wurde im Juni 2002 beschlossen, den EU-Ministerrat filr Entwicklung aufzulösen und in den Rat filr Auswärtige Beziehungen zu integrieren. Ebenso ist auch die Auflösung der DG Entwicklung und ihre Integration in die DG Außenbeziehungen in nächster Zeit möglich. 13 Die komplexe Mischung aus integrierten (Kommission) und koordinierten (Rat) Bestandteilen dieses Politikbereichs erschwert jedoch weiterhin einfache Verfahrensregeln.14

IV. Schluss: Allgemeine Bewertung von Cotonou Mit dem Abkommen von Cotonou wurden einerseits eine Reihe von Schwachstellen der bisherigen Lome-Abkommen ernsthaft angegangen und Verbesserungen vorgenommen. Die steigende Tendenz der finanziellen Höhe des Abkommens ist in Zeiten zum Teil drastisch sinkender Entwicklungszusammenarbeits-Budgets15 bemerkenswert. Sie gleicht allerdings das gleichzeitige Sinken oder Stagnieren dieser Budgets bei den EU-Mitgliedsstaaten (1998 43,6 % der OECD) nicht aus. Der gemeinschaftliche Anteil an der gesamten ODA im Bereich der EU wuchs von 10% 1980 auf20% 1997, der Anteil an Beiträgen zu multilateralen Organisationen stieg im seihen Zeitraum von 38 % auf 55 % an. 16 Bei der Bevölkerung verfilgt die EU-Entwicklungszusammenarbeit über einen starken Rückhalt von 75,8 %, die sie filr "sehr wichtig" oder "wichtig" halten. 17 Andererseits zeigt das Abkommen in seinem Verzicht auf die Fortftlhrung der Sonderbeziehungen 18 die sinkende Bedeutung dieser Ländergruppe, die (von vormals dem Doppelten) jetzt nur mehr 3,5 % der Importe der EU ausmacht. Seit den 80er Jahren wurden systematisch Beziehungen zu allen strategischen Regionen wie etwa Asien oder Lateinamerika durch die GASP aufgebaut. Insbesondere rückten Regionen wie der Mittelmeerraum, Zentral- und Osteuropa sowie der Balkan aus Gründen der geopolitischen Nähe, der Beitrittsländer, des Migrationsdruckes und als Krisenherde (Bosnien, Kosovo) in den Vordergrund. Die 12 Benedikt 2002, 130. 13

Elliesen 2002, 233.

14 Brüne 2001, 341. 15 INEF 2001,404. 16

Benedikt 2002, 120.

17

Eurobarometer 50.1 1998,2. Menck2001, 231.

11

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offizielle EU-Rhetorik geht zwar davon aus, dass die Ausweitung des EUEngagement nicht zu Lasten der AKP-Gruppe ginge. De facto verschoben sich aber seit Ende der 80er Jahre die Schwerpunkte bei den Fördertändern vor allem auf jene in diesen angrenzenden Regionen, die Anteile der UnterstützungsProgramme fiir Osteuropa (Phare: 29,1 %, Tacis: 8,3 %) und das Mittelmeerraum (14,1 %) lassen sich durchaus mitjenem Cotonous (29,1 %; dagegen 1986: 63,4 %!) vergleichen. 19 Den anhaltenden Widerständen der AKP-Gruppe gegen die Aufgabe früherer Lome-Vereinbarungen wurde allerdings zumindest dahingehend Rechnung getragen, dass durch Kompromisse und Übergangszeiten allzu gravierendeVeränderungende facto vorläufig vermieden wurden. 20 Schließlich ist eine bemerkenswerte Verschiebung im Diskurs der EU festzustellen: Zunehmend soll in der Entwicklungspolitik, wie in der GASP, die Präsenz und Identität Europas in der Welt gestärkt werden. Integrationspolitik und die Idee eines demokratischen, geeinten Europas werden als neues Modell angeboten. Durch Kolonialgeschichte belastete EU-Mitgliedsstaaten finden sich in einer neuen positiven Identität wieder und die europäische Integration kann als eine Art Friedens-Modell ftir die Welt dienen.

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20

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Strukturreform in der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit Von Gerhard Bittner Wenn filr die Entwicklungszusammenarbeit eine Strukturreform eingemahnt wird, bedarf es einer kurzen Vorklärung. Es geht nicht sosehr darum, Abläufe zu verbessern, sondern Inhalte zielorientierter steuern zu können. Hier hat es in der öffentlichen EZA in den vergangen Legislaturperioden Versäumnisse gegeben. Aber auch die private EZA zeigt deutliche Strukturschwächen. Ein Diskurs ist wiederum zu eröffnen.

I. Der Mut zur Gestaltung - Handlungsfeld Politik Die Strukturschwäche der Österreichischen Entwicklungspolitik ist seit Jahrzehnten bekannt: Es fehlt dem ressortzuständigen Miniterium an Handlungskompetenz. Das aktuell zuständige Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten ist gerade filr etwa 15 bis 20 Prozent der konkreten ODA-Leistung verantwortlich. Entwicklungspolitisch relevante Maßnahmen anderer Ministerien konterkarieren mitunter eine kohärente Politik. Die Entscheidung in Sachen Studiengebühren filr ausländische Hörer an Österreichischen Universitäten und Hochschulen zeigt dies. Das zuständige Bildungsministerium verwarf alle entwicklungspolitschen Hinweise des BMaA. Die Folgen: Ein dramatischer Rückgang von Studierenden aus Entwicklungsländern ab dem Studienjahr 2001/2002, unsichere Rückzahlungsregelungen mit einem exorbitanten Verwaltungsaufwand, notwendige "Reparationszahlungen" aus privaten Spendenmittel und ein entwicklungs-wie außenpolitsches Desaster. Eine Strukturreform im Handlungsfeld Politik muss daher eine Richtlinienkompetenz des ressortzuständige Ministeriums bedeuten. Die erzwingt nicht unbedingt interministerielle Veränderungen. Es reicht aus, für alle ODArelevanten Maßnahmen dem politisch verantwortlichen Ministerium Vetorecht einzuräumen.

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Dies würde auch die entwicklungspolitische Debatte dort bewegen, wo sie seit Jahren stillsteht, im Parlament. Nur wo Politik aktiv gestaltet, also tatsächlich regiert werden kann, ist sie im öffentlichen Interesse. Die Marginalisierung von Entwicklungspolitik war zuletzt in der Diskussion um das durchaus gelungene neue EZA-Gesetz zu sehen. Aus kaum einsichtigen Gründen gelang es den entwicklungspolitisch Engagierten in den Parteien nicht, einen gemeinsamen Parlamentsbeschluss herbeizufiihren. So ist es nicht verwunderlich, dass ein zentrales Anliegen der Entwicklungspolitik, die Anhebung der Leistungen über den Bundeshaushalt nicht gelingt. Da geht es auch um strukturelle Neugestaltung. Auch da ist ODA-Relevanz gefordert. Ein kohärentes EZA-Budget wäre mit Kreativität und einer spannenden parlamentarischen Debatte neu zu gestalten. Das im engeren Sinn "EZAInvestitionsbudget" des BmaA ist ein Relikt aus längst vergangen EZAPionierzeiten und hat weder mit der Realität noch mit Transparenz etwas zu tun. Es ist völlig unverständlich und nicht nachvollziehbar. Dabei bleibt unbestritten die Aufgabe, die dringend notwendige Anhebung in Form eines Stufenplanes vorzubereiten. Die Reduktion des Budgetansatzes von 1994 € 72 Mio. auf€ 55 Mio. 2002 istangesichtsunseres Wohlstandes beschämend. Die Erhöhung gebieten bekanntlich nicht nur internationale Vereinbarungen, auch unser Nachbarland, die Tschechische Republik zeigt da mit ihrem neuen EZAProgramm 2002-2007 einiges vor. Ärgerlich ist in diesem Zusammenhang die vom BMaA in den vergangeneo Jahren forcierte "Eventpolitik". Anstelle von Fakten wird Medienpräsenz gefördert. Es wäre unrealistisch, in der heutigen Mediengesellschaft die ausreichende Präsentation politischer Inhalte einer objektiven Berichterstattung anzuvertrauen. Auch Entwicklungspolitik muss sich heute ein- und verkaufen. Aber was fehlt ist ein kritischer und subtiler Unterton. So stehen wir auch in der EZA oft mehr vor Medienevents als vollbrachten Taten. Und muss man sich angesichts des beschämenden EZA-Budgets nicht auch fragen, wozu das Ganze betrieben wird? Rückenwind durch einen immer beschworenen "public support" ist da jedenfalls nicht zu spüren. Diese Medienpräsenz wird auch in der privaten EZA eingefordert. Da tut man willig mit. Wie sehr mitunter dadurch Wertmaßstäbe verändert werden zeigt die aktuelle Kooperation der katholischen Kirche mit der "Kronenzeitung". Gibt sich die "Krone" an Werktagen dem Sozialabbau, der Überfremdung, Frauenfeindlichkeit oder Sexismus hin, mutiert sie mit höchster Billigung an Sonntagen zum "Kirchenblatt". Entwicklungspolitik ist keine Sonntagsfrage. Aber ohne Nachdenklichkeit und politische Überzeugung verkommt sie dazu. Glaubwürdigkeit bleibt auf der Strecke. Eine Seitenblickegesellschaft verändert nichts außer Kontoständen von Werbeagenturen.

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II. Politik kann man nicht auslagern Handlungsfeld öffentliche Verwaltung Die noch sehr junge Österreichische Entwicklungspolitik ist kaum aus ihren Kinderschuhen herausgetreten. Auch in der öffentlichen EZA liegen erst zwei Jahrzehnte strukturierter Verwaltung hinter uns. Am Ende der "Pionierphase" zeigen sich mehrere Probleme: die EZA-Sektion im BMaA hat zuwenig Kapazitäten zur Unterstützung einer kohärenten Entwicklungspolitik, die Dimension "Europa" wurde nicht ausreichend beachtet, die Kooperation öffentliche und private EZA ist weiterhin ungeklärt. Eine Strukturreform in der öffentlichen EZA muss daher vor allem auf die Verstärkung der "Politikberatung- und koordination" ausgelegt werden. Zudem ist die Mitwirkung in der EU-Entwicklungspolitik höher zu gewichten, als dies heute wahrgenommen werden kann. Von besonderem Interesse ist hier der Kontakt zu unseren Nachbarländern im Osten, wo schon in kurzer Zeit neue EU-Partner zu finden sein werden. Aus den Kinderschuhen heraustreten heißt aber auch Abschiednehmen von konkreter Projektverantwortung. Die Schaffung einer EZA-Agentur ist daher zwingend. Oe facto besteht sie längst. Durch Einzelauslagerungen kann die EZA-Sektion bereits heute auf eine Vielzahl von privaten Durchfilhrungstrukturen zurückgreifen. Dies bedeutet aber auch zugleich wenig Steuerungsmöglichkeit und Transparenz. Eine EZA-Agentur soll zwischen Auslands- und Inlandsbereich trennen. Zu unterschiedlich sind die Anforderungen, zu eingelebt die fiir die Bildungsarbeit in Österreich tätige Agentur "KommEnt". Gerade aber die "KommEnt"Erfahrung weisen den Weg fiir die Zukunft. Es geht um tatsächliche Überantwortung, nicht um verwalten Jassen. Da gibt es unklare Grenzziehungen und Einflussnahmen. Und so manche Interventionen erinnern an unselige Zeiten in der Verstaatlichen Industrie. Hinzu kommt eine ausreichende Dotierung. Auch da mahnt das "KommEnt"-Beispiel. Der Finanzrahmen lag vor der Auslagerung in der EZA-Sektion höher als dies 2002 der Fall war. Eine solche Entwicklung bringt jedes Agenturmodell in Argumentationsnotstand, bedeutet es doch ein krasses Mißverhätnis in der Kosten-Nutzen-Relation. Und in der Tat bedeutet Strukturreform auch in der öffentlichen EZAVerwaltung, zu den bescheidenen und einfachen Abwicklungsvorgängen früherer Zeiten zurückzukehren. Die heute mit der "Projektitis" verbundenen Maßnahmen sind unnötig, arbeitshemmend fiir alle Vertragspartner und teuer. Verwaltungsvereinfachung in Finanzkooperationen hätten etwa das Ziel einer "Globalbudgetierung" anzustreben,- wie dies auch fiir den Bundeshaushalt angerlacht ist.

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Die Probleme treffen nicht allein auf Verwaltungsprozesse in Österreich zu. Noch schlechter ist es um die EU-Verwaltung bestellt. Hier kommt noch eine politische Komponente hinzu. Wenn die Bürgerinnen dies in "ihrer" Europaerfahrung weiterhin zu leben haben, wird sich das europafeindliche Klima weiterentwickeln. Zur Strukturreform auf EU-Ebene gehört daher eine Re-Nationalisierung von EZA-Förderprogrammen. Auch da liegt eine wichtige Aufgabe ftir eine neue EZA-Agentur. Sie wird kommen müssen, auch wenn dies vorerst zusätzlichen Verwaltungs- und Personalaufwand bedeuten wird. Sie wird auch in der Personalentwicklung neue Akzente setzen. In der öffentlichen Verwaltung Politik- und Programmorientierung, Kompetenz in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen, In den EZA-Agenturen Projektmanagment, Partnerkoordination und Sensibilität fiir kreative Entwicklungen im Süden wie in Österreich. Hier ist ein Exkurs einzufUgen. Die Österreichische EZA ist noch durch ihre Gründergeneration geprägt. Viele ehemalige Entwicklungshelfer und Experten sowie auffällig viele Personen aus Lehrberufen prägen EZA-Entscheidungen. Diesen Entscheidungen fehlt oft Großzügigkeit, ein Wert der dem Begriff "Entwicklung" immanent ist. Das darf nicht verwundern. Die angesprochenen Berufserfahrungen zeigen viele Parallelen: Eine große Autonomie im konkreten Alltag, ein "AIIeinunternehmertum" sowie Mehrwissen mit Sanktionsmöglichkeiten außerhalb einer Kontrollinstanz. Zudem werden Strukturfragen nicht wahrgenommen. Lehrerinnen wissen kaum um die Heiz- oder Investitionskosten ihrer Schule, EZA-Experten nichts von Finanzierungsproblemen zentraler EDV-Maßnahmen. Dieser Befund darfnichts an der Leistung der Gründergeneration schmälern. Aber die EZA muss einen Generationswechsel vorbereiten, wo junge Menschen politisch wach, kreativ aber auch mit Großzügigkeit an ihre Aufgaben herangehen.

111. Die private EZA als notwendiges Chaos mit neuen Strukturstilen Sieht man in der Gemeinwesenarbeit die öffentliche Verwaltung als Ordnungsfaktor so beleben private Entwicklungsorganisationen als "Widerpart" gesellschaftliches Wirken. Unstrukturierte Bürgerinitiativen, neue und kurzlebige Trendsetter, Basisinitiativen ohne Legitimitätsnachweis finden sich in der Szene. Wenngleich die "Dritte-Welt-Bewegung" als wahrnehmbarer Ausdruck einer Zivilgesellschaft kaum mehr existiert, prägt doch privates Engagement die EZA wesentlich. · Strukturreform ist in er privaten EZA daher nur als organisationsinterner Prozess, als Forderung von Strukturstilen denkbar. Aber auch da ist einiges

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anzuregen. Da ist zuerst einmal das Überdenken demokratiepolitischer Rahmenbedingungen. Dazu gehört die Reflexion gegebener Rechtsformen. Vereine sind grundsätzlich auf Bürgerbeteiligung orientiert. So manche EZA-Organisationen versperren aber gerade dies und agieren als wären sie kaufmännische Unternehmen. Mitsprache wird durch Fördermitgliedschaften beschnitten, um unter sich bleiben zu können. Funktionärsvorstände sind keine Ausnahme. Organisationsverflechtungen erreichen schon manchmal jenes Ausmaß, das diese Organisationen dann zu Recht bei internationalen Konzernen kritisieren. Da fehlen transparente Organisationsstandards und auch die Veröffentlichung von Bilanzen gehört noch zu den Seltenheiten. Die Nachrangigkeit fiir Ethik und Ideologie in Organisationsentwicklungen darf nicht überraschen. Jahrelang wurde Professionalität gefordert. Nun zeigen viele Organisationen Wirkung: Es wird kalkuliert, betriebswirtschaftlich abgewogen, Personal bewirtschaftet und spendenmaximierendes Fundraising betrieben. Die neuerdings in der öffentlichen EZA überlegten Ausschreibungen würden eine weitere Verstärkung dieses Trends bedeuten. Gegengewichte, vor allem durch ehrenamtlich besetzte Vorstände sind in den Hintergrund gedrängt. Private Entwicklungsorganisationen sind primär nicht Dienstleister fiir öffentlich beauftragte Projekte. Sie haben eine politische Funktion, haben gleich einem Radar die Zukunft zu erspüren und die politisch Verantwortlichen zu bewegen. Ohne internen Strukturwandel, ohne überzeugte Menschen wird die private EZA aber kaum das notwendige politische Gewicht dazu erhalten. Dabei gibt es gute Ansätze. Die Arbeitsgemeinschaft Entwicklungszusammenarbeit- AGEZ konnte sich in den vergangenen Jahren gut entwickeln. Aus einem Kriseninterventionszentrum mit dogmatischen Grundsätzen ist eine breite und anerkannte Vertretung privater Organisationen gewachsen. Es wäre zu wünschen, diesen Dachverband mit mehr Ressourcen durch die Mitglieder zu stärken. Ein vorrangiges Ziel wäre es auch, die Initiative "Entwicklungskonferenz" stärker in die AGEZ einzubinden. Der federfUhrende "Matterburger Kreis" ist dafilr zu schwach. Ebensolches gilt filr die katholische Kirche und ihre Koordinierungstelle. Auch da zeigen sich große Fortschritte in der Wahrnehmung politischer Themen. Aber auch da fehlt es noch an wirklicher Förderung und Beauftragung durch die Mitgliedsorganisationen. Zudem sind hier in einigen Bereichen Strukturreformen vonnöten. Zwar konnte mit der Fusion von ÖED, IIZ und KFS ein jahrelanges Tabuthema gebrochen werden. Doch ist Größe allein noch kein Profil. Horizont 3000 benötigt nochmals eine Reflexion auf Kernbereiche. So etwa könnten universitäre Bildungsprogramme in den Ländern des Südens sinnvoller in die Afro-Asiatischen Institute passen und dadurch deren

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entwicklungspolitisches Profil ergänzen. Insgesamt zeigt die Strukturreform bei Horizont 3000 auch die Marginalisierung des ehemals bedeutsamen Entwicklungshelferprogrammes. So wurde die Fusion organisatorisch zwar durch den ehemaligen ÖED geprägt, die neue Organisation verweist aber heute mehr auf das Unternehmensprofil des ehemaligen IIZ. Veränderte Strukturen sind insbesondere in der kirchlichen Bildungsarbeit notwendig. Der Ansatz der frühen 80er-Jahre, in allen Organisationen auch Bildungsmaßnahmen zu entwickeln, hat bei Nutzern wie Akteuren zu Unübersichtlichkeit gefiihrt. Da ist der kirchliche Dachverband besonders gefordert. Strukturelles Chaos in der privaten EZA ist aber auch durch die große Zahl von Klein- und Kleinstinitativen bedingt. So manche Einrichtung besteht aus der Gründungsperson samt "likeminded" Vereinsvorstand allein. Und inhaltliche Interessen sind zugleich auch Interessen um den eigenen, gut gestaltbaren Arbeitsplatz. Die private EZA besteht daher in einem hohen Ausmaß aus "Einzelunternehmen". Dies mag eine Buntheit bedeuteten, Kooperationen erschwert dies allemal. Deutlich sieht man dies in der entwicklungspolitischen Bibliothekslandschaft. Die Unterschiedlichkeit in Größenordnungen, Unternehmensstilen, politischer Zuordnung und Identitäten läßt den nun jahrelangen Prozeß eines Zusammenwachsens immer wieder scheitern. Dennoch sind die künftigen Rahmenbedingungen filr eine Fusion klar erkennbar. Aber das Gelingen wird von der Geduld und der Klugheit der Geldgeber abhängen. Die bisher gezeigte Kleinlichkeit und Sanktionsmaßnahmen statt Friedensstiftung haben Strukturreformen eher verhindert. Großzügigkeit und Mut zu neuen Lösungen sind angesagt. Eigenschaften, die dem Jubilar und Kuratoriumsvorsitzenden der Österreichischen Forschungsstiftung ftlr Entwicklungshilfe Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky zu eigen sind. Seit 1983 steht er, unterstützt von seinem Stellvertreter, Univ. Prof. Dr. J. Hanns Piehier dem Kuratorium zur Verftlgung. Die ÖFSE ist in dieser Zeit zu einer maßgeblichen EZA-Wissenschaftseinrichtung gewachsen. Das Verständnis ftlr ein solches Erfordernis hält sich nicht nur in Österreich in Grenzen. Aber ftlr einen Soziologen, einen neugierigen wie Zapotoczky allemal, ist so mancher gesellschaftlicher Befund mehr Herausforderung als Anlaß zur Resignation. Und so ist zu hoffen, dass sein Engagement und Dienst in der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit auch einer neu strukturierten Bibliothekslösung gerecht wird.

Nachhaltige Entwicklun gen und Globalisieru ngen Von Petra C. Gruber Dieser Beitrag skizziert die glokalen Herausforderungen einer zunehmend interdependenten, gegenwärtig alles andere als zukunftsfllhigen Welt. Es liegt an uns, ob Sustainable Development zum wishful thinking verkommt oder ob wir das Leitbild nachhaltiger Entwicklungen mit Herz und Hirn beleben.

I. Persönliche Rückblende von Rio nach Jo'burg Die herrschende ökonomische Lehre, die dem Menschen und der Umwelt keinen Wert bzw. nur als Ressourcen beimisst, wurde mir rasch zu einseitig. Folglich wählte ich mit dem Studium der Sozialwirtschaft einen vernetzten Denkansatz, der meiner sich herausbildenden ganzheitlichen Weltanschauung besser entsprach. Mein Hauptinteresse galt und gilt sozial gerechten, umweltverträglichen und friedlichen, also nachhaltigen oder zukunftsfllhigen Entwicklungen. Eine Seminararbeit zur ON-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro, die sich zum Jubilar und späterem Doktorvater durchsprach, war der Beginn unserer fortwährenden Zusammenarbeit, zunächst projektweise, dann als seine Forschungsassistentin am Interdisziplinären Forschungsinstitut ftlr Entwicklungszusammenarbeit (IEZ). Den zunehmenden Vernetzungen im Zuge der Globalisierungsprozesse Rechnung tragend, erweiterte ich meinen Themen- und Aufgabenbereich und leite heute das Institut ftlr Umwelt - Friede - Entwicklung in Wien. I 0 Jahre nach Rio nehme ich als österreichisches Delegationsmitglied an der Nachfolgekonferenz in Johannesburg teil. Im Zuge des Weltgipfels über Nachhaltige Entwicklung (WSSD) erfllhrt der Begriff erneut Konjunktur. Die Welt hat sich seit Rio oder gar der ONKonferenz über menschliche Umwelt in Stockholm 1972 verändert. Der globale Wandel ist nicht auf nationalstaatlicher Ebene bewältigbar, sondern erfordert Kooperation und Koordination auf allen Ebenen. Doch die Bestrebungen, zukunftsfllhige Entwicklungen weltweit zu fbrdem, waren bislang wenig er-

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folgreich. Johannesburg zielt daher auf die Wiederbelebung des politischen Bekenntnisses zur Grundsatzkonzeption hin zur Umsetzung nachhaltiger Entwicklungen.

II. Vom Wissen der Notwendigkeiten und aufgeklärtem Eigeninteresse Die Bedeutung der Nationalstaaten relativiert sich, neue Machtverhältnisse entstehen. Die an ihre Bevölkerung und ihr Territorium gebundenen Nationalstaaten sind den transnationalen Akteuren wie den Konzernen, Finanzmärkten und internationalen Regimen unterlegen, die Macht ohne Verantwortlichkeit ausüben können. Unter den Dogmen neoliberaler Deregulierung und Privatisierung hat sich die Wirtschaft zunehmend aus der Gesellschaft herausgelöst, "entbettet". Nahezu alle Lebensbereiche werden durchökonomisiert, kurzsichtiges Eigeninteresse und vermeintliche individuelle Freiheit verdrängen grundlegende humanistische Werte und soziale Errungenschaften. Globalisierung mit der Internationalisierung des Wirtschattens gleichzusetzen, greift zu kurz, das Loswerden von Grenzen alltäglichen Lebens und Handeins ist in den verschiedensten Dimensionen der Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Technologie und Ökologie erfahrbar ("Globalisierungen" im Plural). Mit den Globalisierungen geht auch eine Relokalisierung, eine Rückbesinnung auf lokale Besonderheiten und regional-kulturelle Stärken einher ("Gloka/isierung" als Wortsynthese aus global und lokal). Entgegen mancher BefUrchtungen entsteht nicht eine weltweit homogenisierte Lebensform, eine globale "Monokultur". Vielmehr geht der jahrhundertlange kulturelle Austausch in eine "globale Melange" über und die westlichen Kulturen sind ein Teil dieser durch Vielfalt und Nicht-Integriertheit gekennzeichneten Welt(en)Gesellschaft. Dies soll aber nicht über die Asymmetrien und Gefahren neuer Fundamentalismen und Abschottungstendenzen hinwegtäuschen. Nicht eine globale Gemeinschaft entsteht, vielmehr ist eine "globale Apartheid" auszumachen. So partizipieren an der globalen Welt nur jene Menschen, die auch Zugang zu Kommunikation und Transport haben - das bedeutet Exklusion fUr jene, die keine bzw. eine zu geringe Kaufkraft haben. Die ärmsten Länder der Welt werden zusehends an den Rand gedrängt - ökonomisch, sozial und politisch. Von einer erfolgreichen Weltmarktintegration kann also nicht die Rede sein. Die herrschende Triadenkonkurrenz zwischen Nordamerika, Westeuropa und JapaO!Südostasien wickelt drei Viertel des "Welt"handels ab, der Anteil Afrikas beträgt 2, I Prozent (2000, 1990 waren es 2, 7 %; Zahlenquellen: UNDokumente). Mit Globalisierung korrespondieren demnach auch Marginalisierung und Fragmentierung.

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Dass die Mehrheit der Weltbevölkerung von Globalisierung an sich keinen Nutzen gehabt hat, bestätigt auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen. Das Einkommen der ärmsten I 0 Prozent beträgt I ,6 % des Einkommens der reichsten zehn Prozent, die soviel verdienen, wie die ärmsten 57 % der Menschheit zusammen. Die immer weiter auseinanderklaffende Kluft zwischen arm und reich zwischen und innerhalb der Nationen provoziert soziale Spannungen, untergräbt die politische Legitimation und geflihrdet den Frieden. Die größten Bedrohungen der menschlichen Sicherheit fußen in ökologischen, sozioökonomischen und politischen Missständen. Armut, knappe Ressourcen und deren ungerechte Verteilung filhren häufig zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die heute zumeist innerhalb der Grenzen stattfinden. Konfliktursachen sind weniger die so genannten ethnischen Gründe, als vielmehr die Kontrolle über wertvolle Ressourcen wie Wasser, Holz, Diamanten oder Drogen. Abgesehen von der humanitären Katastrophe zerstören bewaffnete Konflikte die Lebensgrundlagen der Menschen, ziehen Unsicherheit und Instabilität nach sich, werfen die betroffenen Gebiete in ihrer Entwicklung um Jahr(zehnt)e zurück und treiben Millionen Menschen in die Flucht. So treffen die Auswirkungen in der Regel nicht nur die Nachbarländer, sondern haben globale Bumerangeffekte. Demnach besteht ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen nachhaltiger Entwicklung und gesichertem Frieden. Die langfristige Sicherheit der Erde und ihrer Bevölkerung ist vor allem auch durch das Ungleichgewicht zwischen dem Menschen und seinen natürlichen Lebensgrundlagen geflihrdet. Unserer Konsumtions- und Produktionsvolumen liegt bereits um ein Viertel höher, als die Umwelt verKraften kann. Die Hälfte der Fischbestände der Welt ist gänzlich ausgefischt, rund ein Viertel überfischt Mehr als 11.000 Arten sind vom Aussterben bedroht, weitere 5.000 potenziell. Im Zuge der Ausweitung der Landwirtschaft hat sich die Bodenqualität weiter verschlechtert, Süßwasser wird in vielen Ländern knapper. Das Ausmaß der globalen Abholzung im letzten Jahrzehnt wird auf einen Nettoverlust von vier Prozent des weltweiten Waldbestandes geschätzt, hauptsächlich in Afrika und Südamerika. Der globale Verbrauch fossiler Brennstoffe ist in der Zeit von 1992 bis 1999 um zehn Prozent gestiegen, der Pro-KopfVerbrauch der modernen Industrieländern beträgt das Zehnfache des Verbrauchs in den Ländern der südlichen Hemisphäre. Die zumeist aus unserem nicht nachhaltigen Lebensstil resultierenden Umweltzerstörungen machen nicht an nationalen Grenzen halt. Wirbelstürme, Überschwemmungen und Dürreperioden verschärfen den täglichen Lebensbzw. Überlebenskampf in den ärmsten Länder der Welt. Die Zerstörung der Umwelt ist in diesen Ländern Ursache und Folge von Armut zugleich.

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Globale Umweltveränderungen führen auch zur Verbreitung von Infektionskrankheiten, bspw. steigt die Anzahl von Malariaerkrankungen. Der enge Zusammenhang zwischen Umweltqualität, Armut und Gesundheit ist evident. Mehr als I, I Mrd. Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, 2,4 Milliarden keinen Zugang zu angemessenen Sanitäranlagen. Malaria, Tuberkulose und HIV/AIDS rafften im Vorjahr sechs Millionen Menschenleben dahin. Rund 815 Millionen Menschen sind unterernährt. In den ärmsten Ländern der Welt stirbt jedes fünfte Kind vor seinem ersten Geburtstag, unzählige an leicht vermeidbaren Krankheiten wie Durchfall oder Masern. Trotz einiger Verbesserungen im letzten Jahrzehnt hat nach wie vor ein Fünftel der Weltbevölkerung keinen Zugang zu Basisgesundheitsdiensten, fehlt es der Hälfte an oft überlebensnotwendigen Medikamenten. Es mangelt vor allem auch an Information und Bewusstseinsbildung hinsichtlich der Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten sowie der Förderung adäquaten Gesundheitsverhaltens. Gesundheit ist nicht nur unabdingbar für ein menschenwürdiges Leben, sondern auch insgesamt für eine nachhaltige, soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Die internationale Staatengemeinschaft hat sich gemäß den UNMillenniumszie/en u.a. dazu bekannt, die Armut bis 2015 zu halbieren. Nun ist Armut nicht einfach das Gegenstück zu materiellem Reichtum. Die Definition von Armut als Mangelzustand, gemessen an existentiellen Grundbedürfnissen (Nahrung, Wasser, Kleidung, Wohnen samt adäquater Sanitäreinrichtungen) greift zu kurz, Armut bedeutet auch kulturelle und soziale Ausgrenzung. Armut heißt fehlende politische Partizipation und Beteiligung der Menschen an den Entscheidungen, die sie betreffen. Und das mit einem Leben in Armut einhergehende wiederholte Erleben von Demütigung, Ausbeutung und Ohnmacht bewirkt oftmals mangelnde Selbstachtung und geringes Selbstvertrauen. Eine selbstbestimmte und dauerhafte Entwicklung kann nicht durch externe Inputs von Geld, Expertise und Personal herbeigeführt, sondern allenfalls geilirdert werden. Die letzten fünf Jahrzehnt Entwicklungspolitik haben gezeigt, dass Entwicklung nicht importier- oder exportierbar ist. Entwicklung kann "nicht Entwickelt-Werden, sondern nur Sich-Entwickeln" bedeuten. Jeder Mensch hat seine eigenen schöpferischen und produktiven Fähigkeiten und Methoden, um seine Probleme zu lösen. Reines "Anrecht auf Hilfeleistung" entmündigt die Menschen, treibt sie in (weitere) Abhängigkeit und erstickt ihre eigene Antriebskraft. Es geht folglich darum, Freiräume, Anreize und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, damit der Mensch Selbstbewusstsein, Eigeninitiative und Verantwortung entfalten kann. Bei den Forderungen nach (Hilfe zur) Selbsthilfe ist allerdings genau zu betrachten, ob dies als bequemes Alibi dient, Solidarität, Zusammenarbeit und Verantwortung abzuschieben.

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Entwicklungspolitisches Patentrezept gibt es keines. So unterschiedlich und verwoben die Ursachen der Annut und mangelnden Möglichkeiten einer eigenständigen Entfaltung sind, so holistisch müssen auch die Lösungsansätze sein, und sowohl den "subjektiven Faktor", die internen Sozial- und Herrschaftsstrukturen (wie Missmanagement, Korruption, geringe Transparenz und Verantwortlichkeit der Regierungen sowie fehlende Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung, insbesondere von Frauen) als auch die weltwirtschaftliehen und weltpolitischen Rahmenbedingungen berücksichtigen. Entwicklungszusammenarbeit im umfassenden Sinne als Zusammenarbeit fiir Weltprobleme und Zukunftsfragen geht weit über Projektarbeit hinaus. Nachhaltige Entwicklungen als weltumspannende Herausforderung verstanden bedürfen allerdings auch einer entsprechenden Aufstockung der finanziellen Ressourcen. Die offizielle Entwicklungshilfe (ODA) ist von 58,3 Mrd. USDollar (oder 0,35% Anteil des Bruttosozialprodukts) im Jahr 1992 auf 53,1 Milliarden (0,22 %) 2000 gefallen. In sieben afrikanischen Ländern sank sie um mehr als 50 Prozent. Nur Dänemark, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen und Schweden erfiillten das Ziel von 0,7% des BSP, auf das sich die OECD-Länder mit Verabschiedung der UN-Resolution 2626 bereits 1970 verpflichtet haben. Zudem mangelt es noch immer an der Bereitschaft, die Menschen der südlichen Hemisphäre als gleichberechtigte Partner in globale Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen.

111. Von einer Entwicklung des Habens zu ganzheitlichem Bewusst-Sein Das Ziel von Entwicklung war und ist in vielen Köpfen noch immer die zum Idealbild verklärte moderne Industriegesellschaft als höchste Stufe in der Gesellschaftsentwicklung. Mit der lnauguralrede des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman (1945) galten über Nacht vier Fünftel der Weltbevölkerung als "unterentwickelt". Erstmals in der Geschichte wurden ganze Länder als ann angesehen bzw. begannen sich selbst als ann zu begreifen, weil sie nicht alles kaufen konnten, was sie zum "Menschsein" brauchten. Das Sein und Handeln der Menschen wurde von der Obsession "mehr zu haben" überrollt. Diese reduktionistische Sichtweise einer globalen Entwicklung ignoriert die Vielfalt aller möglichen kulturspezifischen Lebensweisen und Ausdrucksfonnen. Zudem stößt die weltweite Ausdehnung unseres rücksichtslosen Konsumtionsund Produktionsstils auf ökologische Grenzen: Würden alle Menschen der Welt wie ein Durchschnittsbürger eines reichen Landes leben, bräuchten wir mehr als zweieinhalb zusätzliche Planeten um unseren Ressourcenbedarf zu decken. Schon ist mancherorts ein "Wohlstandschauvinismus" auszumachen, der von

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anderen ein Umdenken verlangt, aber nicht am eigenen Lebensstil rührt, sich diesen vielmehr zu reservieren versucht. Die Formulierung von Kernelementen menschenwürdiger Lebensbedingungen, von Kriterien zukunftsfähiger Entwicklungen soll auch verdeutlichen, dass nachhaltige Entwicklungen eine weltumspannende Herausforderung sind: •

Abdeckung der elementaren Grundbedürfnisse,



Zugang zu Basisgesundheitsdiensten und Bildung im umfassenden Sinne,



Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Freiheit,



Eigenverantwortung, Selbstvertrauen und -wertgefiihl,



Soziokulturelle und politische Partizipation,



Demokratie, Gewaltlosigkeit und menschliche Sicherheit,



Nachhaltige Wirtschaft,



Intaktes Ökosystem.

Eine gesunde Umwelt, Freiheit und Gerechtigkeit, Partizipation, Eigenverantwortung und Selbstachtung sind "Werte ohne Grenzen". Eine Kultur des Friedens kennzeichnet sich auch durch Solidarität und Gastlichkeit aus. Wir neigen dazu, unser eigenes Wertesystem zu verabsolutieren. Dabei ist die Wertordnung des anderen der eigenen gleichwertig. Auch macht die Vielgestaltigkeit der jeweiligen Lebensweisen die Einzigartigkeit und den Reichtum dieser Welt aus. Dialog, tieferes interkulturelles Verständnis, Empathie und gegenseitiger Respekt bilden den Nährboden filr einen friedlichen (internationalen) Interessenausgleich und ein sicheres Zusammenleben der unterschiedlichen Kulturen. Es kann also nicht um Gleichheit, Gleichmacherei gehen, sehr wohl aber um Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit als auch um ein ganzheitliches Menschenbild.

IV. Vom Wissen plus Werten zu freiem Handeln und den erforderlichen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen Entwicklung meint in ihrem ursprünglichen Sinne die Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Zentrale Bedeutung kommt dabei einer holistischen Bildung zu. Eine durch Demokratie und Humanität charakterisierte Bildungspolitik ist Mitvoraussetzung filr die individuelle Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und Emanzipation, filr die Herausbildung eines Selbstwertgefilhls und fiir ökosoziales und politisches Engagement. Wenn der Mensch Einsicht in die Vemetzung von Allem mit Allem erlangt, richtet er

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sein Handeln freiwillig im Sinne des erkannten Ganzen aus. Die Übernahme von Verantwortung für das Gemeinwohl inklusive der Natur entspricht dann wahrer Freiheit - jenseits dem gegenwärtig auszumachenden pervertierten Individualismus, der in der eigenen Beschränktheit stecken bleibt. Wir stehen heute vor der großen Herausforderung, Markt und Menschlichkeit zu vereinen und in Einklang mit der Natur zu bringen. Dafür bedarf es der Reorientierung, Reorganisation und Stärkung politischer Gestaltungskräfte. Das ganzheitliche Ordnungsmodell der Ökosozialen Marktwirtschaft, in dessem Zentrum die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und sozialen Lebensqualität steht, ist dafilr beispielgebend. Zur Gestaltung des globalen Wandels ist Global Governance (without government) erforderlich, das auf die Wahrung des Gemeinwohlinteresses zielt und den neu entstandenen Politikfeldern als auch Akteuren Rechnung trägt. Ein reformiertes UN-System bildet das institutionelle Rückgrad, die Stärkung der globalen Rechtsstaatlichkeit den zentralen Baustein. Der Aufbau von Weltfinanz- und Handelsordnungen, Weltsozial-und Umweltordnung wird allerdings scheitern, wenn er nicht in eine Weltfriedensordnung eingebunden ist. Eine internationale Kooperationskultur, ein "neuer Geist der globalen Nachbarschaft" soll die alten Vorstellungen gegnerischer Staaten ersetzen. Der Marginalisierung der Vereinten Nationen, dem Unilateralistischen Hegemonieanspruch der einzigen Supermacht und von Partikulärinteressen geleiteten Engstirnigkeit gilt es politische Allianzen aus "like-minded-countries" und der Gesellschaft entgegenzusetzen. Umfassende menschliche Sicherheit kann nicht gegen-, sondern nur miteinander erreicht werden. Ausgehend von einer "Ethik des universellen Bewusstseins", einem ganzheitlichen Weltbild abgeleitet von der Weisheit der Natur ("Ökosophie"), braucht es zur Belebung des globalen Verantwortungsbewusstsein den politischen Willen, ambitionierte, ganzheitliche Visionen und Orientierungsrahmen wie die Agenda 21 sowie getroffene Übereinkommen durch entsprechende Maßnahmen auch zu implementieren und die dafilr erforderlichen finanziellen Mittel bereit zu stellen.

The Emergence of Subjectivity as Colture and Globalization Von George F. McLean We are in the midst of a great change. If one reflects on the world as it was in the 1930s one finds a Europe desperately divided between Fascism, communism and liberalism; an America reeling under capitalist economic depression; a China under attack from Japan; and an Africa under colonial dominion. Today, all that- all of it- has changed. Moreover, the change consists not simply in the external failure to realize high hopes, but in the change - even the rejection- ofthose hopes themselves as being entirely undesirable, to the point even of being unimaginable. This suggests the path to be investigated here, namely, not merely the objective transformation of external circumstances, but the internal revolution of heart and mind which is underway as we move into the new millennium.

I. From Objectivity to Subjectivity 1. Objectivity

The etymology of the term, "objectivity", ''thrown Gect) against (ob)" suggests an external other, contrasted and opposed. This objectivity is not to be forgotten or minimized. We live in complex surroundings and to be able to move therein any animal must be sensitive to the existence of others. Indeed, the greater the kinetic capacity the more rapid must be the process of registering the existence of others and adjusting one's motion accordingly. We sense this in observing the flight of birds or more unimmediately when crossing a busy street with buses and trucks bearing down upon us - only the quick and nimble survive in city traffic. Further, we perfect our sense of the "ob-ject" by using scales in the market to determine, equally for the seller and the buyer, the exact weight of the goods in the transaction. There, we insist on objectivity; subjectivity simply will not do.

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More philosophically, one can say that the great Greek p~ilosophical tradition 1 got underway with the recognition by Plato that it was necessary for society to be guided by an objective dimension of virtues if society was not to kill off those - like Socrates - whom it needed the most. The two main lines of Western philosophy, Plato's ideas as objects of contemplation and the critical realism of the Aristotelian heritage, both witness to the essential character of objectivity; it must be protected and promoted. As happens in human affairs, however, objectivity may have been most compromised by those who were so enamored of it that they attempted to push it beyond its Iimits. In retrospect, today we are newly able to appreciate in these terms the limitations inherent in the initiation of modern philosophy. It was the first time that philosophers ceased to build on the wisdom of their predecessors, which they pushed aside in order to begin all afresh. Francis Bacon2 would smash all "idols"; John Locke 3 would wipe clean the human consciousness in order to begin from a blank tablet or "tabula raza"; Rene Descartes4 would put all under doubt and admit progressively only those select items known indubitably and in a manner both clear and distinct. In each case, only that knowledge would be accepted which was constructed on the basis of reducing all to its minimal components and then reassembling them mechanically in a manner clear to the capabilities of the limited human mind. But what humans construct are robots not humans, as was too clear ofthe situation ofthe 1930s cited above marked by the ideologies of fascism, Marxism and capitalist-colonialism. None were truly humane, yet all were forcibly imposed on humankind. As a result the 20th century has been characterized as the bloodest of them all. Today at the beginning of the 21st century we speak of a new post-modern period marked by a critical spirit rejecting the objectivities of the past. But its real contribution may lie rather in opening other dimensions of the human spirit which had long been left to atrophy. In this light ifsubjectivity now emerges to take a central roJe in human awareness, it need not be a rejection of objectivity, except in its reductionist sense; in reality subjectivity should enrich, humanize and enliven objectivity.

1 G. F. McLean and P. Aspe/1: Ancient Western Philosophy - The Hellenie Emergence, NewYork 1971, chs. 7-8. 2

Froncis Bacon: Novum Organon, Oe Sapientia Veterum, New York 1960.

John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, London 1960. 4 Rene Descartes: Meditations on First Phi1osophy, Cambridge 1911,1. 3

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2. Subjectivity lt may seem at first - and indeed for the four centuries of the modern period it seemed to be exclusively so - that objectivity is sufficient for knowledge. What more, after all, could there be than what we know to exist as objective being? But during the last century in a series of steps more has emerged into human consciousness. First, in the field of the physical sciences, when Heisenberg established that observations of the physical world was not even possible without the presence therein of traces of the subject-observer, the myth of pure objectivity - to which for over the four modern centuries since Descartes all eise was sacrificed- began to crumble. Second, in the humanities Gabriel Marcel set out in pursuit of the subject. He noted that to turn this into an object of knowledge was precisely to be incapable of its recognition. To make the knower into an object of knowledge was to miss its reality as subject. Any subsequent attempt to recuperate this lost subject by once again turning it into an object had to be equally self defeating. There can be no other approach than to recognize a reflexive self-awareness, that is, an awareness by the subject, ofthe subject, and precisely as subject, that is, subjectivity in the very act of knowing. Similar insight emerged from within both the British and the German branches of modern philosophy. L. Wirtgenstein began his Tractatus Logicopilosophicus5 considering knowledge to be the reproduction in the mind of an exact replica of the external object. There was, however, a reality which could not be thus replicated, namely, the subject who carried out the work of replication. But as all was focused on the object, the subject had to be relegated to the margin of the picture and designated as unutterable. After World War I his common experience of teaching children showed him how utterly his above analysis of knowing missed the point, for children did not leam about their world one dot at a time, but leaped ahead with all manner of rich and subtle schemata. Through the Blue and Brown6 notebooks he prepared to integrate the subject into his later Philosophical Investigations. 7 There, the subject, which bad been at the margin and not even utterable, became the key to the elaboration ofthe multiple language games.

5 Tr. C. K. Ogden, London 1981; Wi/liam James: Pragmatism- A New Name for Some Old Ways ofThinking, New York 1907; John Dewey: Reconstruction in Philosophy, New York 1920. 6 New York, 1958. 7 Tr. G. E. M Anscombe, New York, 1958.

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A somewhat convergent itinerary is to be found in the philosophical experience ofEdmund Husserl. He had the advantage ofbeing sent by T.G. Mazaryk, the Founder of Czechslovakia to study with F. Brentano in Vienna. Through him, E. Husserl was able to appreciate the centrat importance ofhuman subjectivity as the intentionality of the human consciousness which had been elaborated in the Brentano' s Catholic Aristotelian-Thomistic tradition. Later when Husserl set out to establish an adequate foundation for mathematics he came inexorably torediscover the foundational character ofthe work ofintentionality for human consciousness. As in Wittgenstein it was not that consciousness of the object was dispensed with, but this was now redoubled in a reflexive manner; human consciousness, in cantrast to that of the animal, is not only conscious of an object, but self aware in, and of, this very act. Correlatively, the will is concemed not only with an object, but with one's own ethical responsibility as the subject doing the willing. In consequence, such self-awareness and self-responsibility entail the creative ability to initiate and shape being. Martin Heidegger8 would reflect the centrat importance of this engagement of subjectivity by shifting the focus of philosophy from beings (Seiende) to Being (Sein) as erupting into time precisely through the dassein or conscious human being.

II. Cultural Identity This ernerging appreciation of subjectivity has opened a whole new dimension - perhaps a fourth dimension - to human consciousness. Beyond the three objective dimensions of length, width and depth, there is now intensive attention to the subject who encounters the object. There a whole new world opens up. The human being, like all other beings, is and holds to its being. A rock may be smashed and pulverized; but it can never be simply annihilated so as simply no Ionger to be. For a plant with its increasingly active powers this being becomes active adjustment to nutrients and moisture; for the animal it is the ability to move in search of food and water and to defend their life, even fiercely, when threatened. For the human being, with the self-awareness described above, this search for self-realization becomes intricate and creative. For, while there are some

8 Martin Heidegger, trans. by John Macquarrie and Edward Robinson: Being and Time, New York 1962.

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basic human needs, there are almost limitless ways in which these can be pursued and achieved, not to mention the endless modes and degrees of a sense of satisfaction. This is the vast domain of human initiative and creativity in which human freedom, understood as the ability to pursue one's good, has the broadest range. It is imperative then to take decisions and to set orders of preference which reflect the experience and choices of a people. Some, as with the Chinese, may come to consider harmony between people, as weil as with heaven and nature, as of central importance. They order accordingly such other human capabilities as courage and fortitude. Others may consider initiative to be of central importance and reconfigure courage and fortitude in its terms. The result for each is an order of preferences called "values", after the Latin "valere" meaning "to weigh more" as in a scale, andin terms ofwhich life has its moral meaning. 9

To such a scale of values there corresponds a pattern of virtues, for if certain modes of the human exercise of freedom are especially valued than one needs to be practiced and hence capable in it realization. These capabilities are true human strengths for Iife in that community. Theseare called virtues, again after the Latin term "virtus" for strength. Such a combination of values and virtues, in turn, constitutes the way in which a child can be raised so that he or she can live weil with others in that community. lt is their way of cultivating the spirit and hence has come naturally tobe termed "culture". 10 The positivist would try vainly to describe this by Iisting the whole limitless complex of human artificts, the endless Iist of things a people produces. This, however, is precisely objectivist thinking which ignores the subject or source from which all this flows. Samuel Huntington is closer to the mark when he describes culture as: in subjective terms as "the values, attitudes, beliefs, orientations and underlying assumptions prevalent among people in a society." 11 All this can be Iooked at from two perspectives: retrospective or prospective. Looking back to the cumulative complex of Jeaming and commitment consti-

9 /vor Ledere: "The Metaphysics ofthe Good", Review ofMetaphysics, 35 (1981), 3-5. Laches, 198-201. 10 V. Mathieu: "Cultura", in Enddopedia Filosofica, Firenze 1967, II, 207-210; and Raymond Wi/liams, "Culture and Civilization", Encyclopedia ofPhilosophy, New York 1967, II, 273-276, and Culture and Society, London 1958. Tonne/at: "Kultur" in Civilization, le mot et l'idee, Paris, II. V.; Mathieu: "Civilta", loc. cit., I, 1437-1439. 11 Samuel Huntington and Laurence Harrison: Culture Matters - How Values Shape Human Progress, New York 2000, p. 15.

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tuted by the development of a culture over time, it is the precious heritage or inheritance of a people. lt is what they know - all that they know about being human or existing in a humane manner. Beyond the bare possibilities of action had from their natural faculties, it is their developed capability of living in a truly humane, rather than brute animal, manner. Nothing could be more precious, and hence more easily offended and more passionately defended. If, as noted above, an animal defends its life fiercely when it perceives it to be endangered, humans can be expected to defend their cultural heritage with no less passion, and much greater tenacity and ingenuity. But culture is not only heritage or inheritance from the past; even more it is tradition or something to be "passed on" (tradere). For what a parent is most concemed about from the time of the birth of a child is how that child can grow into an adult who is capable of living a humane life. Its life must be not only physically able, but meaningful and fulfilling in the sense of being fully humane. To this end each generation must review and reevaluate its cultural heritage, its inherited complex of values and virtues, in view of their ability to contribute to human perfection or fulfillment in present circumstances. This is the heart of "raising" a child. What promises to be ineffectual or destructive from the past is pruned away and forgotten. The task is rather to assure proper nutrition and exercise, proper social graces and culturally acceptable manners, proper skills for productive action and political participation, proper leaming and, above all, moral character. Undemeath all this is the deeper attitude on life as basically good or threatening, as hopeful or destructive, both in its details and as a whole. This is the realm of religion which responds to the issues of good vs evil, of hope vs despair, of Iove vs hatred. These are the bases upon which cultures are constructed in their search for meaning and fulfillment. The great religions concur in this, but with different accents and emphases which create different cultures: Islam by emphasizing faith in the one God, Judaism by emphasizing the hope ofthe coming ofthe Messiah, Christianity by emphasizing charity or the Iove operative in the work of salvation. All unite in contemplation in Buddhism and metaphyically in the Hindu sense of all as grounded in the absolute Self which Jives as Existence (sat), Consciousness (cit) and Bliss (ananda). It will be noted that all of these religions are positive affmnations of life, which give the basic flavor to their various cultures - or, if we attend especially to the public life of a people, their civilizations.

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111. Globalization To refer to civilization as the public incamation of cultures and in Huntington's term "the largest we", 12 directs our attention beyond the particular experience of specific peoples and their resulting cultures. These were developed through vast expanses of time but when communication between peoples was virtually impossible. Now the situation is being reversed. Economically, the exchange of goods and services is truly global, with apples from New Zealand being sold in Vermont and China effectively dressing the whole world. Finally, the bi-polar ideological competition appears to have collapsed into a single global arena. In order to guage the depth of this change it is necessary to appreciate the two paradigm shifts it has entailed, namely, from matter to spirit and from part to whole.

1. From Matter to Spirit

In view of what has been said above about subjectivity, the first of these shifts is from matter to self-conscious spirit. Where objectivity directed attention to the empirically available bodily make-up of the human person, psychoIogical consistency suggested with Aristotle that all knowledge arises via the senses. In modern rationalism, Locks and Hume reduced all to sensation and its intemal mental manipulation, while correlatively Marx reduced all to matter or, as Descartes had said early and weil to extension and motion. The paradigm shift to subjectivity as self-conscious, responsible and creative freedom takes an opposite direction. Self possession means the ability to transcend oneself and relate oneself to others; to engage the world and others creatively; to change, reorder and reconstruct all physically, socially and artistically. The center of attention is enlarged so that it is no Ionger restricted to profit, the heart of economics, or to power, the central concem ofpolitics. Both of these are characteristically exclusive so that the money or goods one possesses are not possessed by others. Indeed the heart of the economic order is exchange based on a transfer of some good from the exclusive possession of one to the exclusive possession of another. Similarly politics is a matter of power which is possessed and exercised by one vis a vis others.

12 Samue/ Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996.

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In contrast, cultural or spiritual goods are shareable. The leaming or good news one possesses can and indeed must be shared with others. In the process it is not lost, but reinforced in the one rrom which it came initially. The dynamic here is essentially one of the transcendence, of breaking beyond a miserly concentration upon self, to see one's fulfillment in cooperation with others in which one' s good is multiplied and brought to even greater ffuition. This is the dynamic of the Christian, as weil as the Hindu and other, religions - a breaking beyond egoism, in which the power of being is trapped and killed, to a sense of self which is truly open, without Iimit and inclusive.

2. From Part to Whole This suggests, not accidentally, a parallel paradigm shift of our times, namely, rrom part to whole. Modem thought and education are characterized by a focus upon the parts, the idea being that the parts or basic natures are clear in themselves. Hence, the process of leaming and understanding should be to divide all analytically into these basic elements of experience (Locke) or understanding (Descartes) and then to assemble them as units extemal one to the other. Children are trained to investigate and think in these terms; the social sciences, in imitation of the physical sciences, are constructed in this manner; modern philosophy especially in the Anglo-Saxon areas has been carried out by such procedures. We have all been educated since the early grades to think in this analytic manner according to which all is a construction rrom an unlimited number of atoms each of which falls into one of a limited number of basic natures. lt is then a true paradigm shift when this procedure is inverted in what now is- called a process of "globalization" so that all facets of life, including even that of thinking, is carried out in terms not of the parts, but of the whole. The manner here must be synthetic rather than analytic, and the aesthetic surpasses the scientific. Hence, the new interest in Kant's third Critique of Aesthetic Judgement. Previously, this had been largely ignored as it was considered that all that needed to be said or thought had been delineated in the first Critique of Pure Reason, and the second Critique of Practical Reason or ethics. To think in term of the whole is truly different, however, and much closer to religious thinking. It begins, as say the first two ofthe Vedanta Sutras, with the inquiry after Brahman as ''that from which, in which and into which all is." Hence all else is understood as a "participation" (Plato) in the One.

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Due to the paucity of examples of such thinking in modern times we need perhaps to retum to the example ofNicholas ofCusa 13 - who generally is considered not only the first ofthe modems, but the last ofthe ancients. Proceeding in global tenns which recognize the primacy of the whole, being is most properly one. Hence, the parts are more precisely not only participations (Plato) in the whole, but more properly contractions thereof. Understood in this manner, others are also contractions of the same whole. Hence, being, as the whole of which I am a contraction, is especially available to me through others, who are then part of my very definition. Just as the son is part of the definition of the father as father, so the other is part ofmy definition; it is the missing part ofthe whole in tenns of which my reality is defined. In this light rather than by contrast and opposition, thought and reality are characterized by relationship, complementarity and convergence. Understandably, we Iack the philosophical understanding for these new globalizing paradigm shifts. The first shift from object-matter to subjectivityspirit makes possible new interior dimension of awareness. The second shift, from part to whole, challenges us to develop: •

new modes of awareness thusfar quite lacking - a new epistemology whose outlines we can barely discem;



new modes of being and believing - a new metaphysics enlivened and enabled by awareness of cultures, civilizations and religions; and



. new modes of acting - a new ethics which recognizes human dignity and constructs thereupon a recognition and implementation of human rights through a social and religious dialogue of cultures and civilizations.

IV. Conclusion: Globalization and Religion In all of this religion can be seen to be a necessary component. S. Huntington observes that in fact each major civilization is based upon a religion and conversely that all the major religions (with the exception of Buddhism) is the basis of a civilization. Unfortunately, in the past these religious commitments have based conflict as weil as peace. One reason may be a confusion between, on the one hand, religion as thinking in tenns of the absolute itself, i.e., religion as revealed through the prophets and, on the other hand, religion as

13 David De Leonardis: Ethical lmplications of Unity and Divine in Nicholas of Cusa, Washington, D.C. 1998, pp. 47-50; OfLeamed lgnorance, G. Heron, trans., London 1954.

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the action of those who think the absolute and respond in gratitude for its munificence in our regard as creator, provider and savior. This latter is a human virtue, it is the human response to the Absolute and as such reflects one's geographical, historical and cultural perspective. When the two have been confused the latter, which must be relative or perspectival, is endowed with the absoluteness of the One to whom the prophets point. As a result religions which should be seen to be related and complementary come to interact conflictually. Historically, this process is confused and then stimulated and implemented by economic and especially political rivalries. Indeed as we Iook back now to some divisions in their purely doctrinal content we fail to perceive the difference and attribute them to mutual terminological misinterpretations. Seen instead in the combined new paradigms of spirit and globality what emerges is a sensus plenior of the imagery of Isaias in which all peoples of the earth flow in pilgrimage to the holy mountain where the one, infinite and allmerciful is to be found. Moreover, this reflects the imaginary of Abraham the common "faith in faith" for Judaism, Christianity and Islam, whose sacrifice is relived each year all lslamic families and daily in the Christian Mass. The shift, englobing all, gives new life as reflected in the days of prayer in Assisi convoqued by John Paul II. Such convocations of faiths must find their philosophy- epistemology, metaphysics and ethics- in order to enable a global practice adequate for the new millennium upon which we are now embarked.

Literature Bacon, Francis: Novum Organon, De Sapientia Veterum, New York 1960. De Leonardis, David: Ethical Implications of Unity and Divine in Niebolas of Cusa, Washington, D.C. 1998. Descartes, Rene: Meditations on First Philosophy, Cambridge 1911. Dewey John: Reconstruction in Philosophy, New York 1920. Heron, G.: OfLearned lgnorance, London 1954. Huntington, Samuel: The Clash ofCivilizations and the Remaking ofWorld Order, New York 1996. Huntington, Samue!!Harrison, Laurence: Culture Matters-How Values Shape Human Progress, New York 2000. James, William: Pragmatism - A New Name for Some Old Ways of Thinking, New York 1907.

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Lec/erc, lvor: "The Metaphysics ofthe Good," Review ofMetaphysics, 35 (1981), 3-5. Laches, 198-20 I. Locke, John: An Essay Conceming Human Understanding, London 1960. Macquarrie, John!Robinson, Edward: Being and Time, New York 1962. Mathieu: "Civilta", loc. cit., I, 1437-1439. Mathieu, V.: "Cultura" in Enciclopedia Filosofica, Firenze 1967, II, 207-210. McLean, G. F./Aspel/, P.: Ancient Western Philosophy- The Hellenie Emergence, New York 1971. Tonne/at: "Kultur" in Civilization, Je mot et l'idee, Paris, II. V. Williams, Raymond: "Culture and Civilization", Encyclopedia ofPhilosophy, New York 1967, II, 273-276.

Elfter Teil

Familie und Freunde als Basis jeder Gesellschaft

Zum Wesen der Brüderlichkeit Von Hans Georg Zapotoczky "Fraternite" wurde in der Französischen Revolution gerufen - und manchmal war es bloß eine Einladung aufs Schafott. Es verbirgt sich soviel hinter einem Schlagwort wie diesem. Mein Bruder kam zur Welt, noch bevor die Hebamme zugegen war. Etwas von dieser verschärften Eiligkeit scheint ihm bis heute eigen zu sein. Allerdings ertönte sein erster Schrei 10 Tage, nachdem Hitler in Österreich einmarschiert war. Die ganze Familie hörte nur auf meinen Bruder, der uns alle verzauberte und im Nu filr sich gewann. Mit einer Ausnahme: Zu allen Gelegenheiten erhielt ich Soldaten. Über ganze Kompanien verfUgte ich. Das lag damals im Zug der Zeit. Doch mein Bruder biss den Soldaten immer die Köpfe ab. Ich weiß bis heute nicht, was seine Beweggründe waren - pazifistische, feindselige gegen mich, Zahnschmerzen, die er lindern wollte - jedenfalls verdarb er mir das Spielen mit Militär und dafilr sollte ich ihm im Grunde bis heute dankbar sein. Wenn ich heute die Welt betrachte: Es gibt zu viele Generäle und zu wenig Brüder. Das hat mir mein Bruder vermittelt. Als ich gezeugt wurde, ich wurde doch gar nicht gezeugt, wurde nicht hergestellt wie ein Werk von einer Maschine, meine Eltern haben sich geliebt - bin ich überzeugt, auf alle Fälle haben sie sich gemocht. Es war ein guter Affekt dabei - und ich flihle mich als Frucht dieses Affekts, als einen Beweis flir die Gewogenheit meiner Eltern, als ein Zeugnis ihrer Liebe. Und ich denke, es könnten sich viele, sehr viele Menschen so flihlen - als lebendige Zeugen dieser Zuwendung zweier Menschen, als Denkmäler einer liebevollen Umarmung. Sind wir nicht alle Denkmäler einer menschlichen Begegnung? Sind es nicht meine Brüder, die ihr Dasein ähnlicher Freude, ähnlicher Lust zweier Menschen zuschreiben können? Brüder, weil sie, weil wir unser Leben dem einigenden Beisammensein zweier Menschen verdanken? Wenn ich heute einem anderen Menschen begegne, eint mich nicht das Geflihl mit ihm, er sei aus der gleichen Emotionalität zweier sich Liebender hervorgegangen, er sei ein ähnliches Denkmal der Freude, der Zuwendung, des

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Glückgefilhls, wie ich selbst? Bruder. Und wenn ich ihm Weh antun, ihn aggressiv behandeln, ihn töten sollte - zerstöre ich dann nicht seine Einzigartigkeit als lebendiges Mahnmal von Gefilhlen, zerstöre ich dann nicht auch meine Selbstverständlichkeit, meine Existenz? Bin ich dann nicht Kain, der mit seinem Bruder Abel seine eigene Abstammung hingemetzelt hat? Un-Brüderlichkeit - wir vergessen unseren Ursprung, wir verleugnen das Gefilhl, das zu unserer Existenz gefilhrt hat. Und sind deshalb oft verloren, oft verzweifelt und ohnmächtig. Doch Kain hat seine Abstammung nicht hingemetzelt Kain hat uns gezeigt, was alles in uns stecken kann- welche Brutalität auch gegen den Bruder. Wir sollten Kain dankbar sein: Er hat uns auf die Gefahr hingewiesen, die in vertrackten, unausgereiften Gellihlen stecken kann. Kain hat nicht ausgehalten, dass seine Gabe, sein Opfer von Gott nicht angenommen wurde, das von Abel jedoch schon. Eifersucht hat ihn blind gemacht. Er hat in die Beziehung zum Bruder hineingetragen, was in ihm nicht ausgegoren, nicht geklärt war. Setzt Brüderlichkeit ein gereiftes Selbstverständnis voraus? Wenigstens ansatzweise? Oder genügt ein Maß von Offenheit gegenüber den Anliegen des Anderen und auch gegenüber den eigenen Gefilhlen? Hätte Kain nicht mit Abel reden können? Heute wird meine Gabe angenommen, morgen deine - und demnächst vielleicht weder deine noch meine? Sie hätten sich zu einer gemeinsamen Opfergabe durchringen können - einfach um zu schauen, was dann passiert. Sie hätten damit auch Gott in ihre Brüderlichkeit einbinden können - anstatt ihn zu fUrchten, anstatt in ihm einen allmächtigen Vater, der straft und Recht spricht, zu sehen. Hätte Ironie, zu der sie sich aufraffen hätten können, den Brudermord verhindert? Ironie? Mein Bruder ist nicht ich, wiewohl er mir in einigen Facetten nahe steht. Doch wir sind wir, mehr als ich und ich. Wir. Brüderlichkeit- mehr Gemeinsames als Trennendes. Insofern hat Kain mit dem Brudermord seine Abstammung hingemetzelt Brüderlichkeit - ein Schlagwort, das auch gefährlich werden kann - etwa in dem Sinne, du kommst mir zu nahe, du machst mich nach, du bist mehr ich als ich zur Zeit ich bin, du lebst mir etwas vor, was ich noch nicht in Erwägung gezogen habe, was ich noch nicht erreicht habe. Slowenen und Kärntner, Österreicher und Preußen, Semiten und Hamiten, die Liste ließe sich fortsetzen, angefangen von Kain und Abel - Bruderzwist, Brudermord, steckt das alles in der Brüderlichkeit drin?

Zum Wesen der Brüderlichkeit

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Mein Vater hat mein Alter nicht erreicht. Als er so alt gewesen wäre wie ich heute, war er bereits Monate tot. Ich überlebe ihn - was überlebe ich? Seine Zuversicht, seine Trostlosigkeit, sein Leiden, seine Liebe? Kann ich seine Liebe überleben? Wie könnte ich das? Ich spüre noch heute seine Zuneigung, die mir Stärke gibt und unterwerfe mich ihr. Ich ftlhle mich jeden Tag meinem Vater näher und gebe das weiter: Es erftlllt mich mit Hoffnung und Zuversicht und ich verteile mein Gefilhl; ich liebe die um mich leben, ich möchte ihnen - trotz meiner und ihrer Schwächen - täglich mehr vertrauen, möchte sie erftlllen mit dem, was mich bewegt und weiterhilft zu ihnen hin. Brüderlichkeit- Fraternite: Ein toter Vater verschafft mir einen guten Zugang zu anderen, indem ich seine Liebe zu mir weitergebe. Er macht uns zu Brüdern, über seinen Tod hinaus. Welchen Sinn macht der Tod? Welches Geftlhl breitet er aus? Der Tod rückt uns einander näher, macht uns lebendiger. Facht das Leben an. Das Brüderliche ... macht der Tod den Bruder! Hätte ich nicht Brüder, hätte ich Schwestern, wie wäre es dann mit meiner Brüderlichkeit? Von Schwesterlichkeit oder Geschwisterlichkeit wurde nie gesprochen. Ist die männliche Form so wichtig? Ist "Brüderlichkeit" unter Mädchen und Frauen so selbstverständlich, dass sie gar nicht besonders betont werden muss, da das Soziale, das Kommunikative unter ihnen viel stärker vorherrscht als unter Männern? Hat Brüderlichkeit doch mit Bruderschaften, mit MännerbUndnissen und damit doch wieder mit Entmächtigung und neuer Machtkonzentration unter Männern zu tun? Wie könnte jedoch das herübergebracht werden in Gesten und Worten, was mich mit meinen Bruder verbindet - über vieles Trennendes hinweg, von einem letztlich unergründlichen Gleichklang getragen, der sich auch ausdehnen ließe auf Begegnungsmöglichkeiten mit vielen Menschen, mit allen Menschen? Mit allen doch wohl nicht, es gibt einige, die ich nicht mag. Doch gründet "Brüderlichkeit" nicht gerade in einer Begegnungsweise, die über Sympathie und Antipathie hinwegsieht, die Geftlhlsmomente transzendiert und sich in einer Einstellung zum anderen manifestiert, die ohne Arg offen und wohlwollend bleibt? Ein neues Wort ftlr Brüderlichkeit? Den Begriff neu einfUhren? Ihn loslösen von ideologischen, weltanschaulichen Verbrämungen? Ihn entmaskulinisieren? Humanitas? All das verstehen wir unter Menschlichkeit? Begriffe müssen gelebt werden. Wird Brüderlichkeit noch gelebt - außer wenn ich mit meinem Bruder an einem Familienfest beisammensitze bei einem Glas Wein und wir lachen herzlich? "Fraternite" war als Schlagwort der französischen Revolution gegen unerträgliche, unmenschliche Machtverhältnisse gerichtet. Brüderlichkeit sollte ein neues Zeitalter einläuten, dieses dauerte allerdings kaum einige Monate. Es kam über Ansätze nicht hinaus. Fraternite und Guillotine schließen einander aus_!_ Brüderlichkeit und Todesstrafe sind nicht miteinander vereinbar. Egal, ob

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man an die lnquisitation der katholischen Kirche oder an die so genannte Rechtssprechung in den USA heute denkt. Wie Macht brüderlich aufteilen, brüderlich verwalten, brüderlich kontrollieren? Kann es brüderliche Machtverhältnisse, brüderliche Machtkontrolle geben und wenn ja, wie sollte diese beschaffen sein? Egalite, die Gleichheit vor dem Gesetz- wird im Falle einer brüderlichen Verwandtschaft, im Falle eines leiblichen Bruders noch verschärft. Man ist einander in vielen Belangen, Wünschen, Neigungen, Vorlieben, Fehlern, Schwächen ähnlich, oft gleich. Man kann sich berechtigt vergleichen. Es ist oft schwerer, sich von einander abzugrenzen, man fühlt sich gemeinsam stärker oder schwächer als andere. Wer einen Bruder hat, ist weniger allein, weniger ausgeliefert, ist anderen überlegen. Fühlt sich geborgener. Ich habe es erlebt, ich als einziger mit Brüdern unter den Kollegen am Seziertisch während des Medizinstudiums. Eine Überlegenheit in anderen Bereichen als sichDurchsetzen, eine andere Form des Sich-Behauptens, nämlich das ln-sich-sein, Bei-sich-sein. Eine Form der Intimität mit sich selbst. Eine Überlegenheit an Wärme. Ein Bruder ist ein Bruder, ein Bruder mag andere zu Nicht-Brüdern machen. Ein Bruder kann auch das Brüderliche emporheben, mit Leben erftillen, auszeichnen. In China wird die I-Kind-Familie propagiert. Keine Geschwister mehr. Das Brüderliche verkommt. Oder kann es einen anderen Ursprung finden? Einen Ursprung in einer neuen Form der Gleichheit? Gleichheit vor dem Gesetzauch Gleichheit vor dem biologischen Gesetz? Und resultiert daraus eine Generalisierung der Brüderlichkeit? Oder ist nur gesteigerter Egoismus die Folge? Beibehaltung einer Sonderstellung, die ich ungeteilt von meinen Eltern erwarten, erfahren durfte? Brüderliche Machtverhältnisse - gibt es ein Programm daftir? Ein Rezept? Oder bleibt es beim ewigen Suchen? Wo ist dein Bruder Abel? Abel ist überall. Jeder ist Abel und jeder kann auch Kain sein. Kain erhielt ein Zeichen und keiner durfte ihm etwas antun. Man muss Kain die Hand geben und hoffen, dass er dadurch zu Abel wird. Brüderlichkeit ist etwas, das Kain zu Abel machen kann. Und die Macht dazu hätten wir alle! Das anthropozentrische Monopol - der tüchtige Mensch im Mittelpunkt steht noch immer im Vordergrund vieler Überlegungen heute. Es darf nur an den Umweltschutz erinnert werden, an international vereinbarte Abschusszahlen der Wale; im Rahmen von Globalisierung steht das ökonomische Prinzip weit über dem menschlichen, man braucht nur an einzelne Länder der so genannten Dritten Welt- etwa an San Salvador- zu denken. Für viele steht das anthropozentrische Monopol (Jonas) noch immer im Zentrum religiöser wie säkularer ethischer Systeme. Wird dadurch Brüderlichkeit eingeengt, beschnit-

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ten, in Frage gestellt? Anthroprozentrik ist Ausdruck eines Machtstrebens. Das wird in technischen Entwicklungen (etwa der Atomphysik) deutlich, im Konsumzwang, in medizinischen Praktiken, wie den Organtransplantationen. Und Machtkontrolle ist Voraussetzung ftlr Brüderlichkeit. Diejenigen, die über Macht verftlgen geben sie ungern auf. Meist haben sie ganze Systeme entwickelt, die undurchsichtig genug sind, um klare Machtstrukturen nachzuweisen. Man bedient sich einer geschickten larierten Anonymität, man schließt ein und grenzt aus. Und das ist nicht Brüderlichkeit! Vielleicht könnte es eine starke internationale Institution, wie die UNO, schaffen, eine Globalisierung der Machtkontrolle zu erreichen; jenseits von einzelnen Interessensgruppierungen eine Möglichkeit aufbauen, in der Rechte und Freiheiten aller im Sinne der Gleichberechtigung vor dem Gesetz geschützt und garantiert sind. Euphemistisch gesprochen und halb blind sind wir auf einem nur bedingt friedfertig demokratischen Weg dazu. Die Machtkontrolle müsste auch über soziale Missstände, soziale Benachteiligungen, soziale Ungerechtigkeiten ausgedehnt werden. Wäre den Verfassungsgerichtshöfen und Verwaltungsgerichtshöfen nicht ein Schwerpunkt in sozialer Ordnungskompetenz zu wünschen? Sind wir zu neidisch, zu habgierig, zu egoistisch und narzistisch- mit einem Wort zu wenig brüderlich, um der Frage nach dem sozialen Wohlergehen der anderen, des nächsten- egal ob er visaviswohnt oder sonst wo auf der Welt- nachzugehen? Mit Verstand allein lässt sich diese Frage nicht lösen. Dazu braucht es Herz und Emotion. Und nicht nur ftlr den Mitmenschen. Wenn wir uns als Teil einer Schöpfung verstehen- und nicht nur die von Mutter und Vater-, wenn wir uns erleben können als Teil eines Schöpfungsaufbruchs, indem sich die ganze Welt befindet (vom Urknall an bis heute), dann muss auf dieser Reise zum Punkt Omega (Teilhard de Chardin) auch Brüderlichkeit neu durchdacht formuliert werden. Der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung. Die Krone der Schöpfung trägt die Schöpfung selbst und dazu tragen auch Mitleid, Mitliebe mit anderen Geschöpfen bei. Die Emotionen des Menschen weiten sich nicht nur auf Eltern, Geschwister, Kinder aus, sie werden nicht nur von diesen gesteigert, gemildert und variiert; unsere Emotionen werden auch von Pflanzen und Tieren angeregt und mitgestaltet. Das Füttern eines Vogels gehört genauso dazu, wie das Streicheln eines Hundes, das Sprechen mit einer Pflanze ebenso, wie das Giessen eines Blumenbeetes. Brüderlichkeit- wir sind mit viel mehr Wesen verwandt, als wir glauben. Die wachsen, die leben mit uns, wir sind nicht allein, sie sind nicht allein. Brüderlichkeit ist eine besondere Form des Miteinanders. Brüderlichkeit ist die Sprache der Schöpfung. Wir brauchen uns nur ihren Worten zu beugen.

Familie und Freundschaft Von Peter Koits Familie, Freundschaft und auch Gesellschaft sind im Alltagsleben viel strapazierte Begriffe. Wir kennen alle Behauptungen wie "die Familie ist im Aussterben, kommt aus der Mode", "die Gesellschaft ist an allem schuld" oder "wahre Freundschaft darfnicht wanken." Dabei wird die unterschiedliche Vorstellung, was eigentlich mit dem verwendeten Begriff gemeint ist, zur Quelle vieler Missverständnisse und Vorurteile. Meine Aufgabe sehe ich ohnehin nicht darin, diese Begriffe neu zu definieren oder zum Thema eine wissenschaftliche Arbeit zu produzieren. Ich möchte lediglich, aus der Sicht eines langjährigen Kommunalpolitikers, der nun seit vielen Jahren die Geschicke der Stadt Wels mitgestaltet, ein paar Gedanken und sicherlich "subjektive" Meinungen wiedergeben. Praktisch in jedem Programm von politischen Parteien, welcher Richtung auch immer, finden sich Aussagen zur Familie und wird ihre Wichtigkeit für das Fortleben und Wohlergehen einer Gesellschaft betont. Die Familie sei das "Fundament" und die Kinder aus diesem Fundament, die Jugend - ist die "Zukunft". Damit bin auch ich grundsätzlich einverstanden und fordere selbst immer wieder entsprechende unterstützende Maßnahmen. Als (Familien)Politiker muß man sich jedoch die Frage gefallen lassen, ob die tatsächlich durchgeführten Maßnahmen ausreichend und bedürfnisgerecht sind, wenn einerseits die Geburtenrate ständig sinkt und andererseits zwar die Familie als Lebensform noch immer gewünscht wird, die Scheidungs- und Trennungsrate aber ständig steigt 1•

1 Familienbericht

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I. Was versteht man unter ... ? Die drei Begriffe Gesellschaft, Familie und Freundschaft möchte ich zum besseren Verständnis filr die weiteren Ausführungen- sehr kursorisch- erläutern und abgrenzen. Unter Gesellschaft (die letztlich wir Menschen bilden) möchte ich ein System von Individuen verstehen, die im staatlichen, wirtschaftlichen und geistigen Leben zusammenwirken. Familie und Freundschaft als Teilbereiche der Gesellschaft werden, so meine ich, tatsächlich gelebt und erlebt in überschaubaren Gemeinschaften und regionalen Zusammenschlüssen, auf der Ebenen der Kommune, der Gemeinde, einer Gruppe. Laut Lexikon zur Soziologie (1995) "bezeichnet Familie in der Soziologie (wie im Alltag) unterschiedliche Aspekte und Konstellationen einer sozialen Lebensfonn, die mindestens Kinder und Eltern (bzw. ein Elternteil) umfaßt (also auf Verwandtschaft beruht) und einen dauerhaften und im Inneren durch Solidarität und persönliche Verbundenheit (nicht durch Vertrag, nicht dominant durch rollenhafte Beziehungen) charakterisierten Zusammenhang aufweist." Unter Freundschaft versteht man eine enge persönliche Beziehung, vorzugsweise zwischen zwei Menschen, die auf Achtung, Verständnis, Vertrauen und gemeinsamen Interessen beruht und die eine starke Gefilhlsbindung aufweist. Sie beruht nicht aufBlutsbanden oder aufsexueller Anziehungskraft.

II. Freundschaft als "quasi-familiäres" System Zur Familie (in welcher Fonn auch immer), zu deren Funktion und Wichtigkeit in Ge)der Gesellschaft gibt es eine riesige Vielfalt an wissenschaftlichen Traktaten und Studien. Hinsichtlich dem Thema Freundschaft bleiben solche Erkenntnisse eher spärlich gesät, obwohl Freundschaft in den letzten Jahren einen immer höheren Stellenwert im Zusammenleben der Menschen erhalten hat. Freundschaften werden schon als "neue Familien", als "quasi-familiäre" Systeme bezeichnet.2 Damit soll ausgedrückt werden, dass Freundschaften Aufgaben und Funktionen übernehmen, die früher hauptsächlich den Familien vorbehalten waren. Beiden Lebensfonneo war und ist grundsätzlich gemeinsam, dass sie sehr intime Beziehungssysteme3 darstellen, die im Inneren durch Solidarität, persönliche Verbundenheit und eine starke Gefilhlsbindung gekennzeichnet sind. 2 3

Valtin 1997. Schneewind 1991.

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Der Vorteil dieses psychologischen Familien- und Freundschaftsbegriffs, der sich am Prinzip des gemeinschaftlichen Lebensvollzugs in intimen Beziehungssystemen orientiert, liegt darin, dass eine größere Erscheinungsvielfalt von Formen gemeinschaftlichen Lebens Platz findet: nicht-eheliche Familien, Alleinerziehende, Pflegefamilien sowie "Familien" nach dem Konzept des SOSKinderdorf und andere.

111. Funktionen und Leistungen von Familie und Freundschaft Familien und Freundschaften als Teile der Gesamtgesellschaft erbringen somit filr das einzelne Individuum Leistungen und haben Funktionen. Dies trifft natürlich auch aus der Sicht der Gesamtgesellschaft zu, wenn man Familie und Freundschaft im Sinne einer Institution (sie regelt wesentliche Verhaltensweisen des Zusammenlebens) betrachtet. Familie ist der Ort von Handlungen und sozialen Begegnungen, die anderswo im Leben nicht oder nicht in solch einer Weise möglich wären. In der Freundschaft, im Kontakt mit Freunden erlebt man sich als Mensch, der angenommen, gebraucht und geschätzt wird, man erfiihrt auch viel über sich selbst. Die Reaktionen und Einschätzungen der anderen helfen, sich ein Bild über seine eigene "Außenwirkung" (Fremdeinschätzung) zu machen. Wer sie mit seiner Selbsteinschätzung vergleicht, kann seine Persönlichkeit besser erkennen. Am konstituierenden Merkmal von Familie (hier im Unterschied zur Freundschaft), dem Vorhandensein von Kindern, wird eine zentrale Aufgabe von Familie deutlich: die gesellschaftliche Reproduktion.4 Eine weitere, wichtige Leistung der Familie stellt die Sozialisation dar, die das Erlernen der grundlegenden sozialen Handlungsflihigkeit eines Menschen während der Frühphase (Kindheit, Jl.Jgend) der Entwicklung (primäre Sozialisation) bzw. das Erlernen neuer sozialer Handlungsmuster im Erwachsenenalter (sekundäre Sozialisation) bezeichnet. Der wichtigste Vorgang der Sozialisation ist die Internalisation (Verinnerlichung) sozialer Werte und Normen im Zuge des Modeii-Lernens. Sozialisation umfaßt die kognitive, emotionale, motivationale und moralische Komponente sozialen Handelns. 5 Die Sekundärsozialisation wird hauptsächlich durch die Schule, die berufliche Ausbildung und die Berufsausübung, aber auch durch Mitgliedschaften

4

Familienbericht 1999.

5

Siegrist 1995.

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verschiedenster Art und Freundschaften geprägt. In jüngerer Zeit wird jedoch auch der Erwachsenensozialisation vermehrt Bedeutung geschenkt. 6 Womit dann natürlich auch der Wichtigkeit von Freundschaften vermehrt Aufmerksamkeit zuteil wird. Gruppierungen Gleichaltriger, "altershomogene" Beziehungen (wie auch "Freundschaften") gewinnen mehr oder minder an Gewicht, die den nach Unabhängigkeit von den Eltern strebenden Heranwachsenden gleichwohl Schutz und Nestwärme vermitteln und so der Sozialisierung der Individuen wie dem Zusammenhalt der Gesellschaft dienen. Im Vergleich zu den anderen großen Sozialisationsinstanzen scheinen bei Jugendlichen die Gleichaltrigen vor allem Einfluss auf das Freizeit- und Konsumverhalten auszuüben, während die Eltern entscheidenden Einfluss bei der Bildungs- und Berufsorientierung haben. Eltern sind in der Regel "Karriereberater'', Gleichaltrige "Freizeitpartner". 7 Natürlich erweitern sich diese "Freundschaftsdienste" mit zunehmenden Alter. Zu den weiteren Aufgaben und Leistungen speziell der Familie und z.T. der Freundschaft gehören natUrlieh auch: Kohäsion und emotionale Stabilisierung der Familienmitglieder bzw. der Freunde. Pflege der Kinder, Haushaltsführung, Gesundheit und Erholung sowie wechselseitige Hilfe. Durch die Weitergabe menschlichen Lebens und die Versorgung und Erziehung der Kinder legen Familien die Basis zur Sicherstellung des humanen Vermögens einer Gesellschaft. Geistige, psycho-soziale und physische Kompetenzen wie auch Verantwortungsbereitschaft werden grundgelegt. Familie trägt aus Sicht der Gesellschaft somit idealerweise zur Fundierung der körperlichen, psychischen und geistigen Gesundheit der nachwachsenden Generationen bei und vermittelt soziale Verhaltensweisen und Voraussetzungen ftlr die personale Entfaltung der heranwachsenden Generation. Im familiären Zusammenleben wird aber auch die Bedeutung der Selbstbeschränkung der Individuellen Freiheit sowie eines Minimalkonsenses über Verhaltensnormen vermittelt, die ftlr das Zusammenleben innerhalb wie außerhalb der Familie zentral ist. Idealerweise werden in Familien die Grundlagen fUr die Ausprägung von "Gemeinsinn" geschaffen, der sich ftlr das gesellschaftliche Zusammenleben (und die Fähigkeit Freunde zu finden) als bedeutsam erweist; ist doch gerade ftlr eine wettbewerbsorientierte Gesellschaft die Stärkung der Solidarität gegenüber der alten Generation bzw. zwischen den Geschlechtern besonders wichtig.

6

Zapotoczky/Grausgruber/Holley 2000.

7

Hurrelmann 1997.

Familie und Freundschaft

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IV. Gesellschaftliche Veränderungsprozesse und Funktionswandel bei den Familien Durch sozio-strukturelle und sozio-demographische Veränderungen, wie z.B. die vermehrte Erwerbstätigkeit von Frauen, längere Lebenserwartung, Pluralisierung von Lebensformen, haben sich die Bedingungen unter denen Familien die Leistungen erbringen können und müssen, geändert. Aufgrund gesellschaftlicher Wandlungs- und Entwicklungsprozesse müssen Familien vermehrt auch neuen Aufgaben gerecht werden. Gleichzeitig eröffuen sich ihnen aber auch alternative Gestaltungsspielräume, die sie zu nutzen versuchen.8 Zu den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen bzw. veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die neue Gestaltungsleistungen der Familie zur Folge haben, gehören u.a. folgende: •

der gesamtgesellschaftliche Individualisierungsprozeß, der die Herauslösung und Freisetzung aus traditionellen Werten, Normen und Biographiemustern beinhaltet und neue Handlungsspielräume filr Männer und Frauen mit sich bringt,



Die zunehmende Pluralisierung von Normen und Werten gekoppelt mit einer Abnahme der Verbindlichkeit kulturell festgelegter Normen und Werte in Bezug aufEhe und Familie, ihrem zeitlichen Ablaufund ihre Beziehungsgestaltung,



Die Auflösung der Uniformität und Standardisierung der Lebensftlhrung,



Das neue Selbstverständnis der Frau infolge der durch die Bildungsexpansion gefbrderten Doppelorientierung an Beruf und Familie,



Die Aufweichung des Normalarbeitsverhältnisses, die mit einer Flexibilisierung und einem höherem Ausmaß an frei disponibler Zeit einher geht,



Die rasante Verbreitung der Massenmedien und Telekommunikation. 9

Die familiale Alltagsgestaltung wurde aber auch aufgrund dieser Entwicklungen immer komplexer. So setzen Individualisierung und funktionale Differenzierung beispielsweise voraus, dass die Familienmitglieder an einer Vielzahl gesellschaftlicher Teilbereiche Anteil haben. Diese stellen unterschiedlichste Anforderungen und lassen verschiedene Rhythmen erkennen. Meistens sind diese Teilbereiche weder aufeinander noch auf die Familie abgestimmt. 10 Beck8

Familienbericht 1999.

9

Wilk 1991.

°Familienbericht 1999.

1

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Peter Koits

Gemsheim (1994) spricht in diesem Zusammenhang auch von "Zusammenknüpfen, was auseinanderstrebt". Stets aufs Neue müssen die einzelnen Bestandteile, die zeitlichen und örtlichen Arrangements gesammelt, verglichen, abgestimmt werden. Denn die Lebensbereiche der einzelnen Familienmitglieder mit ihren unterschiedlichen Rhythmen, Aufenthaltsorten und Anforderungsstrukturen passen nur selten von sich aus zusammen. In den meisten Fällen ergeben sich Unstimmigkeiten und in der Folge viele Versuche des Ausgleichens und Ausbalancierens. Normalerweise sind es die Frauen, die diese Leistung des Ausbalancierens erbringen, unter erheblichem physischen und psychischen Aufwand, oft unter Einsatz ganzer Netze von Mithelferinnen (Oma, Au-pair-Mädchen, Tagesmutter usw.). Damit wird in wachsendem Maß Planen, Organisieren, Delegieren gefordert, Familie wird zum Kleinuntemehmen.

V. Befindet sich die Institution Familie in Auflösung? Die Tatsache, dass sich die herkömmliche Familie in Auflösung, sei es durch Scheidung oder alternative Lebensformen, befindet, ist keine neue Botschaft 11 • Die alte Form der Familie scheint zu brechen, sie reduziert sich jedenfalls auf ein Minderheitenprogramm. Zwar wächst heute noch eine große Zahl der Kinder in diesen alten Verhältnissen (sich auf Mutter und Vater verlassen sowie sie als Verhaltensvorbilder nehmen) auf, doch wird diese Normalität auf allen Seiten angeknabbert. Aber der Meinung, dass die Institution Familie ihre Bedeutung verliert oder sich gar auflöst, steht die Beobachtung gegenüber, dass Familie noch immer die zumeist gewünschte und gelebte Form des Zusammenlebens von Geschlechtern und Generationen ist, wenn man Kinder als konstitutiv fUr Familie ansieht 12• Dass dieser Trend nicht nur von älteren Generationen getragen wird, bestätigt die Studie zur Wertewelt österreichischer Jugendlicher von Fries) (2001). Denn auch die jüngeren Mitbürger suchen wieder verstärkt emotionale Nähe. So hat zum einen die Wichtigkeit von Freundschaften signifikant zugenommen, zum anderen ist auch die Bedeutung der Familie ungebrochen hoch ("Meine Familie bedeutet mir alles": 48% stimmen sehr, 37% eher zu).

11

12

Prischnig 1998. Familienbericht 1999.

Familie und Freundschaft

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VI. Familie ohne Kinder? Auch von einem mangelnden Kinderwunsch unter den Jugendlichen kann nicht die Rede sein, denn nahezu jede(r) will Nachwuchs. 95 % der 20 bis 24jährigen wünschen sich Kinder. Jedoch die Mehrheit, vor allem der weiblichen Jugendlichen, stellt den Wunsch nach Kinder aber hinten an. Das kann die Verlängerung der Jugendzeit ebenso widerspiegeln wie ein hohes Verantwortungsbewußtsein und den Wunsch, den eigenen Kindem einmal materielle Sicherheit und Wohlstand zu bieten. 13 Und- es bleibt die Frage, warum ein viel höherer Anteil als die 5 % letztlich kinderlos bleibt. Sozioökonomisch betrachtet gibt es zwei Gruppen von Frauen (letztlich Familien), in denen die Kinderlosigkeit besonders verbreitet ist: zum einen sind dies gut ausgebildet, berufstätige Frauen, zum anderen Frauen mit geringem Einkommen (das aber noch oberhalb des Existenzminimums liegt). Es ist keineswegs so, dass es auf der Ebene der Lebensziele eine allgemeine Konkurrenz zwischen Kinderwunsch und anderen Zielen (materielle und berufliche Ziele, Selbstverwirklichung) gibt. Im Wesentlichen gibt es drei Gründe fiir Kinderlosigkeit: I. Die Partnersituation. 2. Das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. 3. Die materiellen und ausserfamiliären Orientierungen, die mit dem Alleinleben verknüpft sind. Unter den gegebenen Umständen - nämlich der nur schwer realisierbaren Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf, ergänzt durch finanzielle Einbußen und die Kosten, die mit Kindem verbunden sind - ist das Verhalten Kinderloser gut nachvollziehbar. Damit eine Gesellschaft aber Bestand hat, ist eine Geburtenrate von durchschnittlich 2,1 Kindem pro Frau nötig. In Österreich liegt dieser Wert mit 1,35 etwas unter dem Schnitt der EU-Länder. Von einem wirklichen Bevölkerungswachstum kann daher schon gar nicht mehr die Rede sein. Was nützen also die immer wieder zitierte Behauptungen, die Familie sei das Fundament einer jeden Gesellschaft oder die Jugend sei unsere Zukunft, wenn sie einer ihrer wesentlichen Funktion immer weniger nachkommen kann oder will?

VII. Familie als Fundament- Wunsch und Wirklichkeit Die Art und Weise, wie Familien ihren Beitrag zur Ausgestaltung der geistigen, kulturellen und sozialen Dimension des Humanvermögens leisten bzw.

13

Fries/2001.

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aufgrund äußerer Rahmenbedingungen - wie dem verfilgbaren Einkommen, der Unterstützung durch die öffentliche Bildungs- und Beratungseinrichtungen etc. leisten können - ist ftlr die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Qualität einer Gesellschaft ohne Frage von essentieller Bedeutung. Der vollen Entfaltung des Leistungspotentials von Familien stehen jedoch zum Teil vielflUtige Behinderungen wirtschaftlicher und sozialer Art entgegen (z. B. durch belastende Lebensverhältnisse infolge von Arbeitslosigkeit, beengten Wohnverhältnissen, ökonomischen Engpässen oder aber auch in Form unzureichend ausgebauter familienbezogener sozialer Infrastruktur).

Vlll. Was kann der Politiker, was kann die Familienpolitik bewirken? Die Familienpolitik kann nicht daftlr sorgen, dass mehr Kinder geboren werden. Dazu fehlen ihr die Mittel. Die "strukturelle Rücksichtslosigkeit" unserer Gesellschaft gegenüber Familien kann von der Politik nicht wettgemacht werden. Dennoch sind die Erwartungen der Familien an die Familienpolitik hoch und beziehen sich vor allem auf drei Bereiche: I.

Die Verbesserung der Wohnsituation von Familien.

2.

Die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie.

3.

Die finanzielle Besserstellung von Familien (insbesondere durch Steuererleichterungen).

Familienpolitik muß mehr Gerechtigkeit in der Lastenverteilung zwischen Familien und Nichtfamilien schaffen. Will sie darüber hinaus auch einen (noch so bescheidenen demographischen Effekt erzielen, muss sie bei der Altersgruppe der 20- bis 30jährigen ansetzen.

IX. Familienpolitik in der Gemeinde Familienpolitische Maßnahmenschwerpunkte im Hinblick auf eine Kommune können beispielsweise sein: •

Entlastung bei Entgelten ft1r öffentliche Einrichtungen und öffentliche Abgaben ft1r Familien mit mehreren Kindern.



Jungen Familien mit Kindem ist individuelles Bauen und Wohnen zu günstigen Rahmenbedingungen zu ermöglichen.

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Familienentlastende Dienste insbesondere bei Familien mit behinderten oder pflegebedürftigen Mitgliedern.



Unterstützung der Solidarität zwischen den Geschlechtern und Generationen.



Die Gleichstellung der Frau auch im kommunalen Bereich Wirklichkeit werden Jassen.



Mit einem ausreichenden Betreuungsangebot fiir Kinder und Jugendliche muß eine Gemeinde dazu beitragen, dass die Erziehung von Kindern mit gleichzeitiger Berufstätigkeit vereinbar wird.



Bereitstellung und Betreuung verschiedener Freizeiteinrichtungen fiir Jugendliche, wo sie auch selbst Verantwortung übernehmen können.



Virtueller Familienatlas im Internet, der alle Angebote, Programme und Dienstleistungen fiir Familien zusammenfUhrt (auch als CD-ROM bzw. in gedruckter Form).



Gemeinwesenprojekte, die verschiedenste Maßnahmen unter Motivierung, Beteiligung und Mitbestimmung der betroffenen Einwohnerinnen zusammenfUhrt und nachhaltige, nachvollziehbare Entwicklungsschritte setzt.



Die gesetzlichen Möglichkeiten, den Bürger (die Familien) bei Entscheidungsprozessen filr die Entwicklung der Gemeinde einzubeziehen, müssen genutzt werden.

Familienpolitik darf sich also nicht nur im Lippenbekenntnis zu den Familien als tragendem Fundament der Gesellschaft äußern, sondern muss den Bedürfuissen und Interessen der Familien mehr Gewicht in zahlreichen politischen Bereichen geben. Familienpolitik ist als eine Querschnittsaufgabe zu sehen, die zu einem selbstverständlichen Bestandteil politischer Entscheidungen werden sollte.

X. Schlussbemerkung Damit Familien die von ihr erwarteten Aufgaben auch in Zukunft erbringen (können), bedarf es somit gesellschaftlicher (kommunaler) Strukturen, die Familien bei der Erfilllung der ihr zugewiesenen Aufgaben wenig(er) behindern. 14 Mehr Familienfreundlichkeit ist also gefragt. Familien brauchen intensivere Unterstützung und besseren Schutz sowie nachhaltigen und verlässlichen

14

Familienbericht 1999.

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Rückhalt - auch damit mehr junge Menschen diese - von ihnen ja gewünschte - Lebensform in die Tat umsetzen. Denn, wie gesagt: Familien, gemeinsam mit Freunden sind die Basis unserer Gesellschaft. Ohne diese schwindet auch die Gesellschaft. Oder wie es die hondurenische Joumalistin und Präsidentin von Pro-Life Honduras, Martha de Casco pointiert ausgedrückt hat: "Wer Familien und Freundschaften unterminiert, zerstört die Zukunft eines Landes".

Literatur Beck, U.!Beck-Gernsheim, E.: Individualisierung in modernen Gesellschaften - Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: Beck, U.!BeckGernsheim, E. (Hrsg.): Riskante Freiheiten, Frankfurt!M. 1994. Beck-Gernsheim, E.: Auf dem Weg in die postfamiliale Familie- Von der Notgemeinschaft zur Wahlverwandtschaft, in: Beck, U.!Beck-Gernsheim, E. (Hrsg.): Riskante Freiheiten, Frankfurt/M. 1994. Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie (Hrsg.): 4. Österreichischer Familienbericht Familie- zwischen Anspruch und Alltag. Zur Situation von Familie und Familienpolitik in Österreich, Wien 1999.

Friedeburg, L. v.: Jugend in der modernen Gesellschaft, Köln!Berlin 1968. Fries/, C.: Experiment Jung-Sein, die Wertewelt österreichischer Jugendlicher, Wien 2001. Fuchs-Heinritz, W. et al. : Lexikon zur Soziologie, Opladen 1995. Hurrelmann, K.: Lebensphase Jugend- Eine Einfiihrung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung, Weinheim!München 1997. Prisching, M.: Die McGesellschaft: In der Gesellschaft der Individuen, Styria, GrazJWien/Köln 1998. Rauschenbach, T.: Inszenierte Solidarität: Soziale Arbeit in der Risikogesellschaft, in: Beck, U., Beck-Gernsheim, E. (Hrsg.): Riskante Freiheiten, Suhrkamp, Frankfurt!M. 1994. Schneewind K.A.: Familienpsychologie, Stuttgart 1991 . Siegrist, J.: Medizinische Soziologie, München/Wien!Baltimore 1995. Suchetzki, 8.: Freundschaft im Erwachsenenalter, Köln 1999. Va/tin, R.!Fatke, R.: Freundschaft und Liebe, Donauwörth 1997.

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Wilk, L.: Koordination von Zeit, Organisation von Alltag und Verknüpfung individueller Biographien als familiale Gestaltungsaufgaben, in: Vaskovics, L. A. (Hrsg.), Familienleitbilder und Familienrealitäten, Opladen 1997.

Zapotoczky, K./Grausgruber, A./Holley, H.: Strukturen und Probleme der Gegenwartsgesellschaft, Linz 2000.

Emotionale Geborgenheit im Freundeskreis Energiequelle des Lebens Von Alois Füreder Das Zusammenleben der Menschen basiert auf der Bildung von kleinen und größeren Gemeinschaften. Die Familie- als Gemeinschaft von Mann, Frau und Kindem - ist der naturgegebene Zusammenhalt; erweitert um Großeltern und Verwandte entsteht das erste Netz von sozialen Bindungen, in die ein Mensch durch die Geburt hineinwächst. Die folgenden Überlegungen lassen die Geschlechter-Beziehung von Mann und Frau ausgeklammert und versuchen, die Bedeutung der Sympathie von Menschen füreinander allgemein ins Blickfeld zu stellen.

I. Der Mensch- ein soziales Wesen Der Mensch benötigt und durchlebt Bindungen - vorgegebene und frei gewählte. Diese bilden den Motor seiner Existenz.

1. Bindungen durch die Geburt

Die Lebensflihigkeit und die Lebensentwicklung eines Menschen hängt von den ersten Beziehungen zu den Personen ab, die ihm den Eintritt ins Leben ermöglichen- Mutter, Vater und andere in seiner Umgebung. Die Kontaktflihigkeit zu Mitmenschen wird wesentlich in der Kindheit grundgelegt. Vererbung und Erziehung bewirken, ob ein Mensch mehr extrovertiert oder introvertiert ist, eher ein Optimist oder ein Pessimist, ob als Grundstimmung die Freude oder die Schwermut vorherrscht.

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Alois Füreder

2. Bindungen durch Schule und Beruf Der Eintritt in Kindergarten und Schule ist der erste Einstieg in eine soziale Gemeinschaft. Dabei treffen die gleichaltrigen Mitglieder zuflillig aufeinander und müssen viele Stunden eines Tages miteinander verbringen. In der Berufswelt und ebenso in gesellschaftlichen Vereinigungen ist eine Zusammenarbeit mit anderen Menschen notwendig, auch wenn die persönlichen Interessen gegensätzlich sind. Das gemeinsame Arbeiten kann harmonische Bindungen schaffen, aber auch unüberbrückbare Gegensätze zu Tage bringen.

3. Selbstgewählte Bindungen Das Eingehen von Freundschaften ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Das Empfinden von Sympathie fiir einzelne Mitmenschen verleiht Energie fiir das Handeln und Tun. Die freie Wahl beim Eingehen einer Bindung ist allein noch kein Garant fiir die lange Dauer einer Freundschaft. Denn jede Freundschaft schafft Verpflichtungen, erfordert gegenseitige Rücksichtnahme. Die Bereitschaft dies zu leisten gelingt bei frei gewählten Bindungen leichter. Der Spruch "Du bist zeitlebens fiir das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast" ist eine Gewissensfrage bei frei gewählten Bindungen.

II. Grundlagen einer Freundschaft Sympathie ist ein Gefiihl zwischen Menschen, das von Wohlwollen getragen wird, das von Freude beim Wiedersehen erfiillt wird, das auf längere Dauer ausgerichtet ist und das eine positive Einstellung zum Leben erzeugt. Daher bilden Freundschaften eine tragflihige Basis der Gesellschaft. Im Folgenden soll ein Aufspüren von Gemeinsamkeiten als Grundlage fiir das Entstehen von Freundschaften versucht werden.

1. Gemeinsamkeiten in der Lebensentwicklung

Familienbeziehungen wie Eltern-Kind, Beziehungen zwischen Geschwistern, Verwandten und Nachbarn basieren auf dem Erleben in den ersten Le-

Emotionale Geborgenheit im Freundeskreis- Energiequelle des Lebens

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bensjahren. Je besser sich ein Kind angenommen ftlhlt, desto eher werden solche Bindungen im Leben Bestand haben und bedeutsam bleiben. Menschen, die ihre Wurzeln in der gleichen Heimat haben, finden und passen oft gut zueinander. Unter Heimat verstehe ich die vielfliltige Bedeutung als gemeinsamer Natur-, Kultur- und Sprachraum. Sehr prägend wirkt der Zusammenhalt einer gemeinsamen Schulzeit, im Besonderen einer Intematszeit, das Zusammensein in Gemeinschaften und Vereinen, in denen Erleben und Tun Beziehungen grundgelegt hat.

2. Gedankenaustausch in Gesprächen Der Kontakt zwischen zwei Personen wird durch das Reden über alle Themen des Lebens und Seins vertieft. Die Kunst des aktiven Zuhörens, bei dem durch Fragen die Klarheit der Gedankenfilhrung des Erzählenden verstärkt wird und neue Sichtweisen in ihm geweckt werden, bezeugt Interesse und Bereitschaft zum Mitdenken. Die unmittelbare Möglichkeit im Rede-Antwort-Dialog die Gedankengänge des Gesprächspartners zu erkennen, ist in einem Zweiergespräch besser gegeben als in einer größeren Runde. Beglückend ist es, ein Verstandenwerden zu spüren und das Mitdenken zu vermitteln. Der Wert von Gesprächen liegt im Anhören von Gedanken, im Mitdenken, im Formulieren eigener Ideen und Entwickeln von Zukunftsplänen mit einer Kontrolle der Realisierbarkeit.

3. Eigenschaften einer guten Freundschaft Ein Grundpfeiler ist das Vertrauen. Denn wer sich öffuet und in sein Inneres blicken lässt, will ernst genommen werden. Er will sich darauf verlassen können, dass das, was er von sich preisgibt, mit Respekt behandelt wird. Je näher sich zwei Menschen kennen, desto mehr stoßen sie auch auf ihre Schwächen. Ein Zeichen von guter Freundschaft ist eine hohe Frustationstoleranz. Denn jeder Mensch ist eine unverwechselbare Persönlichkeit mit eigenen Lebensvorstellungen. Je mehr dies in einer Beziehung gegenseitig anerkannt wird, desto eher besteht die Chance auf lange Dauer. Die Dauerhaftigkeit ist ein Ziel jeder Freundschaft, denn das gemeinsame Planen schafft eine Sinngebung des Lebens, die innere Zufriedenheit bringt. Eine Freundschaft wird vertieft durch gemeinsames Erleben von Freude und Leid.

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4. Beispiel: Katholische Hochschuljugend Wien Bereits 1957 habe ich Klaus Zapotoczky als engagiertes Mitglied dieser Studentengemeinschaft kennengelernt Unter Leitung des Hochschulseelsorgers Prälat Dr. Karl Strobl hatten sich Studentinnen und Studenten zusammengefunden, die in Fachkreisen -wie Juristen, Naturwissenschaftler- und in Diözesenkreisen organisiert waren. Als Oberösterreicher haben Klaus als Jusstudent und ich als Student fllr das Lehramt Mathematik-Physik in der Katholischen Hochschulgemeinde eine zweite Heimat gefunden. Damals war es üblich, auch die Wochenenden in Wien zu verbringen. Die Studienjahre brachten somit fllr uns beide das Engagement in dieser Studentenorganisation der katholischen Kirche - damit verbunden die intensive Beschäftigung mit den Fragen nach dem Sinn des Lebens und das Leben in geselliger Gemeinschaft. Dabei wurde die Integrationsfunktion des Christentums spürbar. Somit war fllr uns beide eine Basis filr eine lose Freundschaft gelegt. Seit Klaus Zapotoczky an der Universität Linz tätig ist, ist er gelegentlich bei uns zu Gast. Bei diesen Besuchen wurden viele aktuelle Fragen des Lebens -von Schulsorgen der Kinder bis zu Problemen in Kirche und Staat diskutiert.

111. Personale Bindungen als Basis der Gesellschaft In allen Staatsformen und auch in den politischen Parteien haben vielfach kleine Gruppen das Sagen. Für die Wirksamkeit nach außen ist ihr innerer Zusammenhalt bedeutsam, sie bilden eine Energiequelle des politischen Handelns.

1. Vereine

Viele Menschen sind Mitglieder von Vereinen zur Förderung gemeinsamer Ziele ....: humanitäre Aufgaben, kulturelle Interessen, sportliche Betätigung und vieles mehr. Politische Parteien, Vereine und Kirchen gestalten das öffentliche Leben und beeinflussen die staatliche Gesetzgebung über die Medien. Die Teamflihigkeit der agierenden Personen prägt die Strategien und erhöht ihre Akzeptanz.

2. Motive für den Einsatz in der Gesellschaft Für die Absicherung der eigenen Existenz besteht die Notwendigkeit, sich in einem Beruf einzusetzen. Der Aufbau einer Familie und die Erfolge im Beruf geben dem Leben Sinn und Freude.

Emotionale Geborgenheit im Freundeskreis- Energiequelle des Lebens

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Das meist unentgeltliche Engagement in Vereinen und politischen Organisationen kann innere Zufriedenheit vermitteln. Jeder erreichte Erfolg filr andere und filr sich selbst bringt eine Selbstbestätigung der eigenen Person. Das gemeinsame Arbeiten mit anderen Menschen verstärkt die eigene Integration in der Gesellschaft.

3. Bedeutung von Gruppen in der Gesellschaft Die Geschichte vor allem der letzten Jahrhunderte zeigt, dass Revolutionen von kleinen Gruppen ausgegangen sind. Die Bereitschaft zu radikalem Handeln wächst in Zirkeln, die durch eine enge Freundschaft miteinander verbunden sind. Aber auch die Regierenden bzw. die politischen Parteien stützen sich auf kleine Gemeinschaften, meist den engeren Freundeskreis eines Parteivorsitzenden. Gerade in der heutigen Zeit, in der Politiker fast ununterbrochen im Rampenlicht der Medien stehen, ist das Vertrauen zum persönlichen Mitarbeiterkreis besonders notwendig. Auch im beruflichen Alltag erfordert die Abhängigkeit von der Arbeitsleistung eines anderen konstruktive Zusammenarbeit. Diese wird unterstützt durch eine Mitarbeitermotivation, die auch eine Förderung von Gemeinsamkeiten über den Beruf hinaus aufweist.

IV. Freundschaften- Energiequellen des Lebens Schon in den ersten Lebensmonaten eines Menschen ist die Zuwendung der Mutter und anderer Bezugspersonen ftir die Fortschritte der geistigen Entwicklung und der Energie filr eigenes Tun notwendig und fördernd. Im weiteren Leben zeigt sich, dass der stärkste Motor des Menschen, Leistungen zu erbringen, emotionale Bindungen sind. Freundschaften bilden daher ein wesentliches Fundament der Gesellschaft.

1. Bedeutung für die Sinngebung des Lebens Im Laufe des Reifens eines Menschen - das nie beendet ist - stellt dieser sich die Sinnfrage seiner Existenz. Philosophie und Theologie geben Antworten -das Annehmen dieser Ideen erfolgt in den verschiedensten Nuancen zwischen Ja und Nein, und das im Laufe des Lebens nicht immer gleichartig.

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Die Antwort auf die Sinnfrage wird beeinflusst von den Personen, mit denen ein Mensch in naher Verbindung steht. Im Dasein filr andere, fiir Freunde, den Sinn der eigenen Existenz zu sehen, ist eine Basis des Lebens.

2. Ansporn für Leistungen Wem das Wohl von Freunden ein Anliegen ist, wird sein Können und Wissen einsetzen, um ihnen zu helfen und sie zu fördern. Dies geschieht besonders in einer auf Dauer angelegten Partnerschaft durch umfassende Lebensgestaltung mit Zukunftsvisionen. Die Arbeit im Beruf, wo ein Team zukunftsorientiert denkt und plant, bringt dann mehr Erfolge, wenn ein freundschaftliches Klima vorhanden ist. Der Einsatz fiir langfristige Projekte auf der Basis gemeinsamer Interessen fiirdert Energien zutage, die auch nicht fiir möglich gehaltene Leistungen entstehen lässt.

3. Basis für psychische Gesundheit Wer weiß, warum und woftlr er seine Kräfte einsetzt, empflingt daraus die innere Sicherheit, das Geruh! der Geborgenheit und die Energie, mit dem Stress des Alltags zurecht zu kommen. Verständnisvolle Gesprächspartner sind in allen Lebenslagen die wertvollsten Förderer der psychischen Gesundheit - sie wirken wie Psychotherapeuten filr den einzelnen. Je mehr Menschen in emotionaler Zufriedenheit leben, desto höher ist die Chance, dass auch die Gesellschaft im größeren Rahmen harmonisch lebt. Die emotionale Geborgenheit im Freundeskreis ist eine Energiequelle des Lebens. Wenn auch eine dauerhafte Lebensgemeinschaft die beste Energiequelle sein kann, so können doch die aus dem Alltag des Zusammenlebens entstehenden Reibungsverluste im erweiterten Freundeskreis ausgeglichen werden.

Familie und Verwandtschaft als Solidargemeinschaft Untersucht am Beispiel der Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien des 2. Weltkrieges 1 Von Laszlo A. Vaskovics

I. Problemstellung, Zielsetzung und theoretischer Bezug der Untersuchung Aus der funktionalistischen Perspektive in der Soziologie wird von der Annahme ausgegangen, dass die Gesellschaft aus verschiedenen voneinander abhängigen Teilsystemen besteht, die jeweils unterschiedliche Beiträge fiir den Bestand und die Arbeitsweise des gesellschaftlichen Gesamtystems leisten. Spezifische kulturelle Muster oder Handlungsmuster werden im Hinblick auf ihre Funktionen bzw. objektiven Konsequenzen fiir die Herstellung oder Wiederherstellung des Systemgleichgewichts betrachtet. Von zentraler Bedeutung hierfiir ist die Erfiillung bestimmter "funktionaler Erfordernisse". Nach Parsons muss jedes soziale System vier Aufgaben zur Bestandserhaltung erfiillen: Anpassung an die externe Umwelt (adaptation), Zielbestimmung und -erreichung (goal attainment), Integration der verschiedenen Systemelemente (integration) und die fortgesetzte Reproduktion und Kontrolle der kulturellen Muster sowie die Reduktion von systemischen Spannungen (latent pattern maintenance tension reduction). 2 Die Familie lässt sich aus der Sicht dieser theoretischen Perspektive als ein soziales Subsystem (Teilsystem) der Gesellschaft begreifen, das durch zwei

1 Dieser Beitrag enthält Vorergebnisse einer Untersuchung, die der Autor im Auftrage des Bayer. Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen durchgeführt hat. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden in Kürze veröffentlicht. (L. A. Vaskovics: Gesellschaftliche Desorganisation und Familienschicksale. Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien des Zweiten Weltkriegs. 2002 [derzeit unveröffentlichter Forschungsbericht]).

2

Parsons!Bales/Shils 1951.

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Laszlo A. V askovics

strukturgebende Merkmale organisiert wird, nämlich Geschlecht und Generation. In diesem System entwickeln sich generations- und geschlechtsspezifische Rollen, die in einer engen wechselseitigen Beziehung zueinander stehen. Auf der "Generationsachse" entstehen die Eltern- und Kinderrollen, in der Geschlechtsdimension die männliche (Vater bzw. Sohn) und die weibliche Rolle (Mutter bzw. Tochter). Diese geschlechts- und generationsspezifischen Rollen stehen innerhalb des Subsystems in einer hierarchisch strukturierten Wechselbeziehung. Hierarchisch in dem Sinn, dass die Erwachsenenrollen mit mehr Macht, Einflussmöglichkeiten und Autorität ausgestattet sind. Bei diesen Wechselbeziehungen kann man unterscheiden zwischen Paarbeziehungen (Mann und Frau untereinander), Vater-Tochter-, Vater-Sohn-, Mutter-Sohn-, Mutter-Tochter- und Geschwisterbeziehungen. Dies ist nach T. Parsons das Modell der sog. "Kemfamilie". Diese relativ einfache Struktur ermöglicht die Begegnung von Generationen und Geschlechtem in einer "face to face Beziehung". Durch diese einfache Struktur unterscheidet sich die Familie nicht nur von anderen gesellschaftlichen Subsystemen als ein eigenständiges soziales Subsystem, sondern sie erbringt gleichzeitig auch verschiedene sehr wichtige Leistungen sowohl fiir ihre Mitglieder wie auch fiir die Gesellschaft als Ganzes. Es wird auf diese Weise nicht nur garantiert, dass für das neugeborene Kind bestimmte Erwachsene die Existenzsicherung und Sozialisation übernehmen, sondern auch, dass gesellschaftliche Werte und Normen durch die Elterngeneration an die heranwachsende Generation weitervermittelt und fiir diese verbindlich gemacht werden. In diesem Zusammenhang vollzieht sich eine grundsätzliche soziokulturelle Prägung der Persönlichkeit des Kindes. Die Familie bildet zugleich den wichtigsten primären sozialen Raum fiir die Kinder, sie ist gewissermaßen der "erste Trainingsraum" fllr die Kinder. Hier können sie nicht nur ihre Fähigkeiten entwickeln und erproben, sie lernen zugleich, zwischen sozialen Rollen zu unterscheiden und sich diese anzueignen. Zugleich entwickeln sie ein Selbstbild, eine IchIdentität. Sowohl die biologische Reproduktion als auch die Versorgung und die Sozialisation der Kinder sind sehr wichtige Funktionen fiir die Gesellschaft, da sie ihre Bestandserhaltung sichern. Die Familie als Subsystem steht mit den sie umgebenden anderen sozialen Subsystemen in der Gesellschaft in einem sich wechselseitig beeinflussenden Verhältnis, so z.B. mit dem wirtschaftlichen Produktionssystem, Bildungssystem, Erwerbssystem usw. Es wird angenommen, dass eine strukturelle und funktionale Veränderung eines der die Familie umgebenden Subsysteme direkte Konsequenzen auf das familiale System hat. Die Familie muss mit einer strukturellen oder funktionalen Anpassung reagieren und umgekehrt: Veränderungen im Familiensystem in struktureller oder

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funktionaler Hinsicht haben Konsequenzen fiir jene Subsysteme, mit welchen die Familie in einem interdependenten Verhältnis steht. Diese strukturellen und funktionalen Zusammenhänge sind in der Forschungsliteratur hinreichend belegt und nachgewiesen. 3 Beispielhaft soll hier der Zusammenhang zwischen Veränderungen des wirtschaftlichen Produktionssystems durch die einsetzende Industrialisierung und strukturellen und funktionalen Veränderungen der Familie angeführt werden. So lange der bäuerliche Hof oder der gewerbliche Betrieb die wirtschaftliche Grundlage einer Familie bildete, war es erforderlich, dass möglichst viele Arbeitskräfte sich an der wirtschaftlichen Produktion des Hofes oder Betriebes beteiligten - neben den Eltern und möglichst vielen Kindem auch Mitglieder der älteren Generation und auch das Hauspersonal und Gesinde. Die so entstandenen Familienstrukturen der sog. "erweiterten Mehrgenerationsfamilie" wurden primär mit der gemeinsamen wirtschaftlichen Produktion des "ganzen Hauses" (wie die Familie in der vorindustriellen Zeit hieß) begründet. Die Entstehung neuartiger industrieller Produktionsstätten, die ihre Standorte nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten wählten, boten fiir immer mehr Menschen eine neue und bessere Existenzgrundlage als die in der vorindustriellen Gesellschaft dominierenden bäuerlichen Betriebe. Die Konsequenz war, dass immer mehr Familienmitglieder ihre Existenzgrundlage durch eine unselbständige Erwerbstätigkeit sicherstellen konnten und zunehmende Anteile der nachwachsenden Generation auf dieser Grundlage eine eigene Familie gründen konnte. In diesen Familien war die Mithilfe von unverheirateten Onkeln, Tanten, Gesinde und auch der eigenen Eltern nicht mehr (funktional) notwendig. Selbst die Kinder, die früher Arbeitskräfte waren, wurden schließlich zum Kostenfaktor. Die Folge war die Verbreitung der nur mehr aus Eltern und wenigen Kindem bestehenden sog. "Kemfamilie". Dieses Beispiel illustriert in leicht nachvollziehbarer Weise, wie die Veränderungen in der Makrostruktur der Gesellschaft (hier Produktionssystem und Erwerbsstruktur) auf die Familienstruktur und -funktionen zurückwirkten bzw. wie die Familie auf solche makrostrukturellen Veränderungen mit strukturellen, aber auch mit funktionalen Anpassungen reagierte. Für die vorliegende Untersuchung war primär nicht die Frage von Bedeutung, wie die Familie auf evolutionäre Entwicklungen der Gesamtgesellschaft reagiert, sondern wie sie sich auf gesellschaftliche Umbruchsituationen, auf gesellschaftliche Zustände einstellt, die in der sozialwissenschaftliehen Literatur mit dem Begriff der gesellschaftlichen Desorganisation bezeichnet werden. 4

3

Vgl. M. Rupp, 2002.

4

Vgl. L. A. Vaskovics, 2002.

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Laszlo A. Vaskovics SOZIALE DESORGANISATION

DESINTEGRATION DERFAMILIE

INDIVIDUELLE HANDLUNGSORIENTIERUNG •

Zunahme von familialen und verwandtschaftlichen Solidarleistungen



Stärkere Inanspruchnahme familialer und verwandtschaftlicher Solidarleistungen durch die Mitglieder der Familie und Verwandtschaft

STRUKTUR UND FUNKTION DERFAMILIE •

Erweiterung des Personeninventars



Veränderung der geschlechts-und generationenspezifischen Rollenstruktur



Veränderung der Familienfunktionen



Stärkung des Familienzusammenhalts Abbildung: Untersuchungsmodell

Hintergrund des Konzeptes der sozialen Desorganisation ist die Vorstellung von Gesellschaft als einem sozialen System, dessen Teile in einer interdependenten Beziehung, einem Koordinationsverhältnis stehen. Soziale Desorganisation bedeutet demnach das Auseinanderfallen der einzelnen Teilsysteme und Elemente dieses Systems bzw. die mangelnde Integration durch eine zusammenhaltende Kultur. Sie beinhaltet den Zusammenbruch des Wertesystems und zugleich die fehlende Abstimmung zwischen dem Wertesystem und der Sozialstruktur. Ähnliche Zusammenhänge beschreibt das Anomiekonzept von E. Durkheim. Anomie als soziale Desorganisation wird hier als Zusammenbruch sozialer Normen oder als Verlust allgemein geltender handlungsleitender Prinzipien und Kontrollen verstanden. Im Zustand der sozialen Desorganisation einer Gesellschaft kommt es im Regelfall zu einer Desintegration der Familie, also zu einer Herauslösung aus dem Gesamtzusammenhang der Gesellschaft und zu einer weitgehenden Verselbständigung. Dies hat wiederum Konsequenzen ftlr die individuelle Handlungsorientierung. Im Rahmen unserer Fragestellung interessiert vor allem die Zunahme von familialen und verwandtschaftlichen Solidarleistungen und die

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stärkere gegenseitige Inanspruchnahme solcher Solidarleistungen durch die Mitglieder der Familie und Verwandtschaft. Als Folge der sozialen Desorganisation der Gesellschaft, der Desintegration der Familie und der veränderten Handlungsorientierungen der Mitglieder treten Veränderungen in der Familienstruktur und den Familienfunktionen ein. Insbesondere suchen immer mehr Menschen Hilfe und Solidarität innerhalb der Familie und Verwandtschaft. Dies ftihrt zu einer Erweiterung des Personeninventars der Familie. Es folgen zudem strukturelle Anpassungsleitungen, insbesondere Veränderungen der geschlechts- und generationsspezifischen Rollenstruktur und der Familienfunktionen sowie eine Stärkung des Familienzusammenhalts. Wir gehen davon aus, dass die Kriegsjahre und die Jahre danach zu einem Zustand gefilhrt haben, der als gesellschaftliche Desorganisation bezeichnet werden kann. Somit stellt sich die Frage: Wie reagiert das familiale Subsystem strukturell und funktional auf solche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen? Wir wollen in diesem Zusammenhang die strukturellen Veränderungen von Familien während der letzten Kriegsjahre und danach untersuchen, und die Entwicklungen der funktionalen Leistungen des familialen Subsystem ftir ihre Mitglieder und filr die Gesamtgesellschaft beschreiben. Dies geschieht am Beispiel der Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien.

II. Familie und Verwandtschaft als Solidargemeinschaft während der Kriegs- und Nachkriegszeit- ausgewählte Ergebnisse Bevor ich auf verschiedene Phasen bezogen über die Leistungen der Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien ftir ihre Mitglieder und auch ftir die Gesellschaft der Nachkriegszeit berichte, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass etwas mehr als die Hälfte dieser Familien zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Westdeutschland bzw. in Bayern Mutter-Kind Familien waren. Es handelte sich also um situativ unvollständige Familien in dem Sinn, dass die Väter zu dieser Zeit (noch) nicht zu ihren Familien zurückgekehrt waren. Während der Flucht bzw. Vertreibung war der Anteil solcher "unvollständiger" Familien noch höher, doch gelang es einigen Familien zwischenzeitlich wieder zusammenzufinden - trotz der chaotischen Verhältnisse. So stießen auch einige Väter bereits in dieser Phase wieder zu ihren Familien. Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien waren demnach in hohem Maße zerrissene Familien: Die Mütter waren in der Regel mit ihren Kindem allein, in einigen Fällen waren auch die Großeltern mit dabei, in anderen Fällen andere erwachsene Verwandte - meist Geschwister darunter teilweise wieder Frauen mit ihren Kindern. In diesen zerrissenen Familien mussten sich die Mütter alleine um ihre Kinder kümmern, waren alleine filr ihre Familien verantwortlich, mussten alle Entscheidungen im sehr be-

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schwerliehen und problematischen Alltag treffen und trugen dafllr die volle Verantwortung. Nur bei etwas weniger als der Hälfte dieser Familien waren die Väter kurz nach der Ankunft der Familien in Westdeutschland anwesend, wobei die Mehrzahl dieser Väter kriegsbedingt gesundheitlich sehr beeinträchtigt waren (krank, kriegsversehrt, antriebslos, psychisch geschädigt). Nur bei einer Minderheit dieser Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien gab es zu dieser Zeit eine "strukturelle und funktionale Normalität" in dem Sinn, dass die Väter anwesend und voll einsatzfiihig waren. Rund 80 % der von uns befragten Frauen flüchteten gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern. Im Durchschnitt umfassten diese Familien drei bis vier Personen, bei einem Fünftel waren es weitaus mehr, nicht selten fllnf oder sechs Personen. In drei Viertel der flüchtenden Familien befanden sich Kinder, in 60 % mehr als zwei, in 10 % vier und mehr Kinder. In fast einem Drittel der Familien waren Kinder unter zwei Jahren auf der Flucht dabei. Dies bedeutet, dass es sich bei den Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien in der Mehrzahl um Familien mit mehreren Kindern, sehr häufig mit Kleinkindem handelte. Dasselbe gilt im Wesentlichen auch fllr die Mütterfamilien: Die meisten Mütter, die sich ohne Männer auf der Flucht befanden, hatten Kinder unter sechs Jahren, ein Drittel Kinder, die jünger als zwei Jahre waren. Etwa die Hälfte der allein flüchtenden Mütter hatte zum Zeitpunkt der Ankunft in Bayern mindestens ein Kind unter drei Jahren. Bei den alleine flüchtenden Müttern handelte es sich also in der Mehrzahl der Fälle um Mütter, die mit mehreren kleinen Kindem unterwegs waren. Bei vielen Familien normalisierten sich die Familienverhältnisse im Laufe der Jahre nach ihrer Ankunft in Bayern. Familien, die bei ihrer Ankunft noch unvollständig waren, d.h. denen in der Regel der Vater fehlte, erlebten von 1945 bis 1955 in fast der Hälfte der Fälle die Rückkehr der Väter. (In 14% der Fälle heirateten die Mütter wieder.) Rund die Hälfte der Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien blieben weiterhin "unvollständige" Mutter-Familien. Erst einige Jahre nach der Ankunft in Bayern ging der Anteil der Alleinerziehenden deutlich zurück. Dieser Rückgang kann als Akt der "Normalisierung" der Familienstruktur angesehen werden. Betrachtet man die Familien, die bereits vollständig in Westdeutschland ankamen, so ändert sich bei diesen im Laufe der nächsten Jahre hier wenig. In einigen Familien verstarb der Vater, in anderen kam es zu einer Ehescheidung. In einigen wenigen Familien starb in diesem Zeitraum die Mutter (oft auf Grund der während des Krieges und der Flucht und Vertreibung erlittenen Strapazen). In der Folge kam es vereinzelt auch zur Wiederverheiratung des verwitweten oder geschiedenen Elternteils. Aber bei mehr als 80 % der Famili-

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en, die als vollständige Familien in Bayern angekommen waren, änderte sich die Familienkonstellation zumindest auf der Elternebene nicht. Neben den MUttern wurden auch die Töchter in die Stichprobe mit einbezogen, und zwar diejenigen, die zum Zeitpunkt der Ankunft in Westdeutschland noch nicht verheiratet bzw. selbst Mutter waren. Diese Frauen wurden über ihre Herkunftsfamilie und über ihren eigenen Lebenslauf nach ihrer Ankunft in Westdeutschland befragt, unter besonderer Berücksichtigung von Partnerschaft und Familiengründung in Bayern. Wir haben angenommen, dass die Eheschließung hier eine ganz wichtige Zäsur im Integrationsprozess darstellt, insbesondere dann, wenn diese Frauen einheimische Männer heirateten. Durch die Eheschließung werden zwei Verwandtschaftssysteme integriert - in diesem Falle die Familie und Verwandtschaft des (einheimischen) Mannes und die der Flüchtlingsfrau. Bei 56% der Eheschließungen heirateten Flüchtlinge und Vertriebene untereinander. Doch auch in diesen Fällen ist die Heirat ein wichtiger Integrationsfaktor, weil auf diese Weise der Familienzusammenhalt eines größeren Verwandtschaftsverbandes entstehen konnte und weil sich in der Regel auch die materielle Lage der Familien verbesserte. Von den rund 200 befragten Töchtern verließen in den Jahren nach der Ankunft in Westdeutschland fast alle den elterlichen Haushalt: Entweder sie heirateten und gründeten eigene Familien oder sie begannen eine Ausbildung oder Berufstätigkeit Die Heirat der Kinder hatte direkte Konsequenzen fUr die wirtschaftliche Situation der Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien, wenn auch in unterschiedlicher Form und Ausmaß, je nachdem, ob die Kinder Einheimische oder Nichteinheimische geheiratet hatten. Durch die Eheschließung wurden zwei bisher getrennte Verwandtschaftssysteme verknüpft und die Solidargemeinschaft personell erweitert. Bei Bedarf konnten die neuverheirateten Kinder Unterstützung von den eigenen oder den angeheirateten Verwandten erwarten. Durch die neu entstandenen verwandtschaftlichen Linien wurde, wie bereits gesagt, die soziale Integration erleichtert und geilirdert. Insbesondere die Eheschließung mit Einheimischen war in diesem Zusammenhang sehr bedeutsam, denn die Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien, die bis dahin als Fremde galten, waren plötzlich Verwandte, denen gegenüber man Pflichten und Rechte nach den Normen der einheimischen Kultur wahnunehme n hatte. Die Eheschließung fUhrte darüber hinaus auch zur wirtschaftlichen Verselbständigung der jungen Generation und damit zur Entlastung der Älteren, denn die Eltern mussten ftlr ihre verheirateten Kinder meist nicht mehr oder nicht mehr im gleichen Ausmaß sorgen wie bisher. An die Stelle der direkten materiellen Versorgung der Kinder trat immer häufiger eine arbeitsmäßige Unterstützung, z.B. in Form von Beaufsichtigung der Enkel. Diese war eine Voraussetzung fUr

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die Berufstätigkeit der jungen Mütter und damit filr die wirtschaftliche Konsolidierung ihrer Familien. Dass immer mehr Männer in das eigene Verwandtschaftssystem - sowohl über die Herkunftsfamilie wie auch über neugegründete Zeugungsfamilien eingebunden wurden, filhrte auch zu einer Veränderung der bis dahin wahrgenommenen weiblichen Rolle: Zunehmend galten die Männer wieder als die Ernährer der Familie. Es fand auf diesem Wege eine langsame Umstrukturierung der Geschlechtsrollen in Richtung der traditionellen geschlechtsspezifischen Rollenverteilung in der Familie statt. Es ist z.B. erkennbar, dass in der Konsolidierungsphase auch in dem Sinne eine Rückkehr zur traditionellen Aufgabenteilung stattfand, dass die Männer einer außerhäuslichen Berufstätigkeit nachgingen, während die Frauen eher Heimarbeit übernahmen. Sie trugen zwar zum Familienbudget bei, aber ihr tägliches Aktionsfeld beschränkte sich wieder immer mehr auf den Relevanzbereich der Familie. Ob und in welcher Form daraus filr die Familie belastende Konflikte entstanden, ob und wie diese gelöst wurden, geht aus unseren Daten nicht direkt hervor. Wir wissen nur, dass auch in der Konsolidierungsphase der Familienzusammenhalt noch sehr hoch war, wenngleich ein leichter Trend zur Lockerung und eine Tendenz zur Verkleinerung der Familie als Solidargemeinschaft zu beobachten sind, so dass sich diese wieder stärker auf direkt miteinander verbundene Familienmitglieder, oft nur die Mitglieder der Kernfamilie konzentriert. Der Zusammenhalt der Familie und Verwandtschaft wird von den Befragten als äußerst wichtig und hilfreich bezeichnet, wenn es darum ging, die erste schwere Zeit zu bewältigen. Dieser Zusammenhalt machte das Flüchtlings- und Vertriebenendasein erträglicher, durch den festen Familienzusammenhalt konnte vieles erreicht werden, was ansonsten nicht zu bewältigen gewesen wäre. Auch bewirkte das "etwas miteinander Erarbeiten" einen noch engeren Zusammenhalt der einzelnen Familienmitglieder. Viele Familien empfinden sich in dieser Zeit rückblickend als "Clan", als "eingeschweißtes Team", als "Netz, das uns zusammenhielt''. Eine Befragte drückt es so aus: "Wir waren wie eine Burg". Von einigen Befragten wurde berichtet, dass der Zusammenhalt in der Familie zunächst, in der Notsituation, sehr groß gewesen sie, doch als sich die Verhältnisse besserten, seien die einzelnen Familienmitglieder wieder ihre eigenen Wege gegangen. Wer auf ein familiales und verwandtschaftliches Netz zurückgreifen konnte, nutzte diese Möglichkeit an erster Stelle. Familie und Verwandtschaft waren filr die Familienmitglieder, die sich einzeln durchschlagen mussten, die allerwichtigste Anlaufstelle - egal wo sie sich befanden. Es wurden enorme An-

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strengungen unternommen, um zu den Angehörigen zu gelangen. Dies galt ftlr Väter, Söhne und Töchter gleichermaßen. Andererseits ließen aber auch die bereits zusammenlebenden Familienmitglieder und Angehörigen der Verwandtschaft nichts unversucht, um fehlende Familienmitglieder zu finden. Viele Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien wurden durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse zeitweise oder dauerhaft getrennt, verstreut oder ganz zerstört. Nicht immer fanden alle Familienmitglieder wieder zueinander. Besonders in den Wirren des Krieges und unmittelbar danach wurden die Familien auseinandergerissen, sie verloren sich auf der Flucht, sie wurden in verschiedene Flüchtlingslager geschickt oder landeten oft aus reinem Zufall in den unterschiedlichsten Gebieten. Bei vielen Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien blieben Familienmitglieder (zunächst) in der alten Heimat, teils weil sie krank, zu alt oder zu schwach waren, um die Strapazen einer Flucht auf sich zu nehmen, teils weil sie - zunächst noch auf Anordnung der deutschen Behörden, später auf Befehl der neuen Regierungen in diesen Gebieten - nicht ausreisen durften, da sie auf Grund ihrer beruflichen Position, ihrer Tätigkeit gebraucht wurden. Einige waren auch nicht bereit, ihr Hab und Gut im Stich zu lassen. Sie glaubten nicht an eine endgültige Vertreibung, schickten aber vor allem ihre Frauen und Kinder zu deren Schutz weg. Viele dieser Zurückgebliebenen und Zurückgelassenen erlebten ein schlimmes Schicksal; das Schicksal einiger ist bis heute unbekannt. Familienmitglieder, die im Osten geblieben waren, wurden von ihren Familien, die nach Bayern gegangen waren, bedingt durch die politische Entwicklung in diesen Ländern, dauerhaft getrennt. Erst nach der Wende bestand die Möglichkeit sich wiederzutreffen; dies war aber in der Regel nur mehr ftlr die jüngere Generation möglich. Aber auch Familien, deren Mitglieder alle in den Westen gelangt waren, blieben oft weit verstreut, viele gingen auch ins Ausland. In den Wirren der Nachkriegszeit, als die Kommunikations- und Reisemöglichkeiten sehr eingeschränkt waren, dauerte es oft mehrere Jahre, bis man wieder zueinander fand . Bedingt durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse, wurden Familien auch endgültig zerstört: "Eltern erkrankten und starben durch langjährige Strapazen früh, die Geschwister fanden sich nicht wieder", "Leider wurde unsere Familie zerstört: Mutter tot, Vater ein Wrack, Geschwister im Osten", "es bestanden kaum Kontakte, da alle weit verstreut waren, vieles hat sich einfach verloren". Trotz der teilweise chaotischen Zustände und der mangelnden Kommunikations- und Reisemöglichkeiten ist es aus heutiger Sicht erstaunlich, wie viele Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien doch nach relativ kurzer Zeit wieder zusammen gefunden haben. Es gab informelle Netze und Nachrichtenbörsen und in späterer Zeit half der Rot-Kreuz-Suchdienst, Familienmitglieder zu

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finden, deren Aufenthaltsort unbekannt war. Oft spielte auch der Zufall eine wichtige Rolle, und man traf sich unverhofft auf Bahnhöfen oder im Flüchtlingslager. Familienzusammenführung gab es aber auch in der Form, dass Väter nach ihrer Entlassung aus dem Militärdienst und/oder der Gefangenschaft nicht mehr in die alte Heimat zurückkehrten oder dies auch gar nicht mehr konnten, sondern zunächst allein in Bayern blieben. Von hier aus bemühten sie sich, ihre Familienmitglieder wiederzufinden, sodann eine Zuzugsgenehmigung für sie zu erhalten, um sie dann nach Bayern holen zu können. Teilweise befanden sich die Familienmitglieder in der damaligen sowjetisch besetzten Zone, über deren Grenzen zu gelangen auch unmittelbar nach dem Krieg bereits sehr schwierig war. Auch auf offiziellem Wege erfolgten in den nächsten Jahren Familienzusammenführungen aus den deutschen Ostgebieten und Tschechien. So gelang es, zunächst im Osten verbliebene Familienmitglieder nach Bayern zu holen. Auch in den folgenden Jahren bestand immer wieder die Möglichkeit, Familienmitglieder - teils mit erheblichem Kostenaufwand - nachkommen zu lassen (z.B. verschiedene Ausreisewellen aus Rumänien) und so lange getrennte Familien wieder zusammen zu führen. Aus Expertengesprächen wissen wir, wie wichtig es umgekehrt für die Spätaussiedler war, im Westen ihre Familien zu finden, die sie zunächst aufnahmen und ihnen halfen, sich hier zu integrieren. Schließlich soll auch darauf hingewiesen werden, dass die Zeit der Wendealso 45 Jahre nach dem Krieg- filr viele Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien nochmals ein wichtiges Ereignis in dem Sinn darstellte, dass sich in der Kriegsund Nachkriegszeit verstreute Familien erst jetzt wieder treffen konnten, wenngleich dies in der Regel nach so langer Zeit nur noch die mittlere und junge Generation betraf. Unsere Ergebnisse belegen in eindrucksvoller Weise, wie die kriegsbedingte gesellschaftliche Desorganisation, welche die Familien als eine Notsituation erlebten, den Familienzusammenhalt und darüber hinaus den Zusammenhalt zwischen den Mitgliedern der erweiterten Verwandtschaft in außergewöhnlicher Weise stärkte. Diese Notsituation hat viele befragte Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien regelrecht "zusammengeschweißt". In einer gesellschaftlichen Situation, die in vielfacher Weise durch die Merkmale der Anomie, also der gesellschaftlichen Regellosigkeit, gekennzeichnet war, erwies sich dieser Familienzusammenhalt als einzige stabile, verlässliche Institution, und dies nicht nur während der Flucht und Vertreibung, sondern auch noch viele Jahre danach. Auch in den Jahren nach der Ankunft in Westdeutschland war jedes einzelne Familienmitglied auf das andere angewiesen. Selbst die Kinder trugen - z.B. dadurch, dass sie Heizmaterial sammelten, bettelten, kleine Hilfstätig-

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keiten wie Aufpassen auf noch kleinere Kinder ausübten - zur Existenzbewältigung der Familie bei. Diese Beiträge jedes einzelnen kamen direkt oder indirekt auch allen anderen Familienmitgliedern zugute. Es war letztlich nicht wichtig, wer das Geld verdiente, wer Lebensmittel herbeischaffte, sondern die Tatsache, dass Geld verdient wurde und die Familie zu essen hatte. Alle Leistungen wurden in vollem Umfang der ganzen Familie zur VerfUgung gestellt. Dieser Familienzusammenhalt war aber nicht nur im Kontext der Alltagsbewältigung in materieller Hinsicht wichtig. Die Familienmitglieder fanden in der Familie Trost, Ermutigung und Unterstützung, die sie dazu beflihigte, Leistungen zu erbringen, die sie aus heutiger Sicht als kaum mehr vorstellbar bezeichnen. Zugleich war fiir die Familienmitglieder in dieser Situation die Gewissheit sehr wichtig, dass sie sich in dieser außergewöhnlichen Situation auf den Familienzusammenhalt verlassen konnten. Dies galt auch fiir die nähere, häufig auch fiir die weitere Verwandtschaft. Zugleich erwuchs aus dieser Gewissheit, dass die Familie den letzten Halt darstellte, filr die in der Familie lebenden Erwachsenen eine besondere Verantwortung, der sie sich unausweichlich stellen mussten. Hierbei spielten insbesondere die Mütter eine herausragende Rolle - wie ich im anschließenden Kapitel resümierend beschreiben werde. Im Folgenden sollen einige Antworten auf die Frage, wer während und nach Flucht und Vertreibung die Hauptverantwortung trug und die wichtigsten Leistungen erbrachte, diese Zusammenhänge verdeutlichen. Die Situation der Väter in den Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien war in vielfacher Weise prekär. Soweit sie durch die Kriegsereignisse nicht aus dem Kreis der Familie herausgerissen wurden und gemeinsam mit der Familie flüchteten oder vertrieben wurden, waren die Väter mit ihrem traditionellen Rollenverständnis als Ernährer und Versorger der Familie konfrontiert. Diesen Erwartungen konnten sie am ehesten dann entsprechen, wenn sie nach einer relativ kurzen Zeit der Flucht und Vertreibung bei ihrer Ankunft in Bayern in einem ähnlichen Umfeld den gleichen Beruf ausüben konnten wie in ihrer alten Heimat. Ein ehemaliger Bauer konnte z.B. auch in Bayern in einem bäuerlichen Betrieb arbeiten. Viel schwieriger gestaltete sich die Wahrnehmung der Ernährer- und Versorgerrolle z.B. filr einen Richter, der nach der Ankunft in Bayern ebenfalls landwirtschaftliche Hilfsdienste oder körperliche schwere Hilfsarbeit in einer Fabrik oder auf dem Bau leisten musste. Es gab Väter, die sich auch dieser Situation stellten, aber viele Befragte berichten darüber, dass die Väter diese Situation sehr schwer verkrafteten. Sie schämten sich, fiihlten sich erniedrigt, sie zogen sich zurück. Die Integration dieser Männer konnte erst durch eine ihrer Ausbildung oder ihrem bisherigen Beruf entsprechende Beschäftigung in Bayern erfolgen, und dies dauerte nicht selten mehrere Jahre. Die Sicherstellung einer zumindest minimalen Existenzgrundlage filr die Familie auf Grund irgendeiner Hilfs- oder Erwerbstätigkeit war eine wichtige

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Aufgabe, aber. nicht unbedingt das vordringlichste. Zunächst ging es um sehr grundlegende Alltagsprobleme, die von Tag zu Tag neu gelöst werden mussten: Wie besorgt man Nahrungsmittel, Wasser, Kleidung oder Heizmaterial, wie besorgt man den unbedingt nötigen Hausrat? Dies waren Aufgaben, die situativ bewältigt werden mussten. Viele Befragte berichten darüber, dass die Väter solchen Aufgaben entweder nicht gewachsen waren oder sich ihnen nicht stellten, weil sie sich schämten oder weil sie sich nicht "zuständig" fllhlten. In diesen Fällen mussten die Mütter zupacken. Sie entwickelten eher Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Lösung dieser unmittelbar anstehenden Alltagsprobleme. Und da waren die Väter, die gesundheitlich stark angeschlagen zu ihren Familien gestoßen und auf die Hilfe der Familienangehörigen angewiesen waren. Es gab viele traumatisierte Väter, die im Krieg schlimme Erlebnisse gehabt hatten, die sie nicht verarbeiten konnten, die zwar körperlich gesund, doch psychisch schwer belastet waren. Auch diese Männer konnten ihrer Vaterrolle nicht gerecht werden, sondern bedurften selbst des Beistandes. Diese Hilfen kamen meistens von den Müttern. Die Mütter übernahmen auch dann sukzessive die Rolle der Väter, wenn diese schon vor der Flucht und Vertreibung aus der Familie gerissen wurden. Sie wuchsen - wenngleich gezwungenermaßen - in die Rolle der Alleinverantwortlichen hinein und lernten, ihre zwischenzeitlich erworbenen Fähigkeiten ftir die Familie voll einzusetzen. Die Väter sahen sich dann, wenn sie zu ihren Familien zurückkamen, plötzlich mit einer ganz neuen Situation konfrontiert. Auch wenn sie gesundheitlich nicht beeinträchtigt waren, taten sie sich bei der Bewältigung unmittelbar anstehender Probleme schwerer als die Mütter, die solche Situationen schon vorher, z.B. vor der Flucht und Vertreibung oder während dieser Zeit, meistem mussten. Diese Situation stärkte die Frauen und schwächte die Männer. Die Wahrnehmung der Vaterrolle war vielfach auch aus einem anderen Grund ein Problem. Ab dem Zeitpunkt der ersten Einberufung bis zum Wiederfinden--der Familie vergingen in der Mehrzahl der Fälle viele Jahre. Die Väter hatten ihre Kinder oft noch gar nicht oder aber lange Zeit nicht gesehen. Es kam unweigerlich zu einer Entfremdung, mit der die Väter nach ihrer Rückkehr konfrontiert wurden. Eine Situation, die sie zusätzlich bewältigen mussten, und ein Problem, das Mütter in dieser Form nicht hatten. Dazu kam in manchen Familien die belastete politische Vergangenheit der Väter. Dabei ging es oft nicht nur um deren individuelle Bewältigung: Viele Väter wurden deswegen auch zur Verantwortung gezogen; es kam zu Verhaftungen, zu Prozessen und Gefltngnisaufenthalten. Solche Ereignisse wirkten natürlich auf die Familien zurück, die sich dann auch nach der Rückkehr der Väter wieder alleine durchschlagen mussten.

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111. Vorläufiges Resümee In der vorhandenen Forschungsliteratur werden Flüchtlings- und Vertriebenenschicksale vorwiegend als Einzelschicksale beschrieben, analysiert und interpretiert. Doch Flüchtlings- und Vertriebenenschicksale waren während und nach dem 2. Weltkrieg- so unsere These - Familienschicksale und dies auch dann, wenn Familienmitglieder allein auf der Flucht waren. Das Hauptbestreben dieser Menschen, die auf sich allen gestellt fliehen mussten, bestand darin, irgendwo ihre Familienmitglieder wiederzufinden. Ein Großteil ihrer Bemühungen während der Flucht und Vertreibung war darauf gerichtet. Unsere Ergebnisse belegen, dass in der Situation der kriegsbedingten gesellschaftlichen Desintegration und Desorganisation der Familienzusammenhalt eher gestärkt wurde und damals kaum Individualisierungsbestrebungen seitens der Familienmitglieder bestanden. Die Familie und Verwandtschaft erweist sich somit gerade in gesellschaftlichen Notsituationen als eine ganz wichtige Solidargemeinschaft, die unverzichtbare Leistungen ftlr ihre Mitglieder erbringt. So haben die Familien - Herkunfts- wie Zeugungsfamilien - bei der Bewältigung des Flüchtlings- und Vertriebenendaseins als eine verwandtschaftlich "vernetzte" Solidargemeinschaft eine herausragende Rolle gespielt. Dies galt auch ftlr den Neubeginn nach dem 2. Weltkrieg und insbesondere ftir die wirtschaftliche und soziale Integration in Westdeutschland. Die Familie nahm direkt oder indirekt in dieser Zeit Aufgaben und Funktionen wahr, die vor der eingetretenen Notsituation andere gesellschaftliche Systeme geleistet hatten, so das Erwerbssystem, Distributionssystem, Bürokratie, Polizei oder Schule. Anders ausgedrückt: Es fand in diesem Ausnahmezustand eine engere Verzahnung von Aufgabenbereichen statt, die sich in Phasen höherer gesellschaftlicher Integration auseinander entwickelt und eigene Kompetenzbereiche und Zuständigkeiten ausgebildet hatten. In gewisser Weise bewirkt somit die gesellschaftliche Desorganisation eine Entdifferenzierung der Strukturen und zugleich eine Verlagerung von bis dahin nichtfamilialen Funktionen auf die Familie. Bemerkenswert ist, wie flexibel und anpassungsflihig sich das familiale System dabei erweist. Diese hohe Flexibilität kann allerdings gleichermaßen in der Konsolidierungsphase beobachtet werden: Die Rückkehr der Väter und Söhne zumindest dann, wenn sie nicht kriegsbedingt selbst pflegebedürftig waren ftlhrte innerhalb kürzester Zeit zur Wiederherstellung der früheren Familienstruktur, zur traditionellen geschlechtsspezifischen Rollenteilung und zugleich zum Rückzug auf die Mitglieder der Kernfamilie im engeren Sinn. Auch hier fand nicht nur eine strukturelle, sondern auch eine rasche funktionale Anpassung statt. Familiale Aufgaben grenzten sich gegenüber Aufgaben anderer Sub-

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systeme ab, es entstand wieder die vor der gesellschaftlichen Desorganisation vorhandene Wechselwirkung zwischen den einzelnen sozialen Systemen. In dieser Anpassungsfiihigkeit des familialen Systems liegt das Geheimnis dafür, dass der im Laufe der vergangeneo Jahrhunderte wiederholt prognostizierte Tod der Familie nicht eingetreten ist- auch nicht während und nach dem Krieg. Die Familie als Subsystem erweist sich im Kanon anderer ausdifferenzierter Subsysteme als ein äußerst anpassungsflihiges soziales Gebilde. Interessant ist, dass sich unter außerordentlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen diese Veränderungen relativ rasch vollziehen, so dass sich die gleichen Akteure sehr unterschiedlich verhalten. Die Betroffenen sind in der Lage, innerhalb ihres Lebenslaufes unterschiedliche Rollen einzunehmen, so dass Veränderungen nicht auf dem Wege des Generationswechsels stattfinden müssen. Diese gravierenden Anpassungsleistungen werden jedoch von einer Basis der Kontinuität getragen, die hauptsächlich aus zwei Faktoren gebildet wird. Dies ist zum einen die Mutter-Kind-Dyade und zum anderen die Familie als Solidargemeinschaft, die sich unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen bewähren muss.

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-

Wie wir das geschafft haben - Alleinstehende Frauen berichten über ihr Leben nach 1945, München 1985b.

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Jugend im Spannungsfeld zwischen Familie und einer sich globalisierenden Kultur Von Meinrad Ziegler Die Globalisierung ist ein Prozess, der nicht nur in entfernten Sphären unserer Welt, in den Regionen der "großen" Politik oder in den Regionen der Wirtschaft und der Aktienbörsen stattfindet. Die Auswirkungen dieses Prozesses spüren Frauen und Männer täglich am ihrem Arbeitsplatz, die Kinder in den Schulen und die Familien in den privaten Räumen des Haushalts. Insbesondere fllr Jugendliche haben sich durch die mit den neuen Technologien geschrumpften Raum-Zeit-Distanzen neue Erfahrungsräume eröffnet, die eine magische Anziehungskraft ausüben. Sie finden problemlos Zugänge zu Informationen quer über Kontinente und Grenzen hinweg. Sie können mit den fremden Kulturen und Subkulturen auch in kommunikativen Austausch treten und sich mit den Wertvorstellungen dieser weit entfernten Lebensformen aktiv auseinandersetzen. Die meisten Jugendlichen erleben diese Entwicklung als eine Erweiterung ihrer Lebenswelt Die Erwachsenen neigen dazu, in dieser Entwicklung eher die Gefahren zu sehen. Müssen wir wirklich annehmen, dass die neuen Einflüsse, Informationen und Botschaften, denen sich die jungen Menschen vor den Schirmen ihrer PCs aussetzen, fllr diese einen konkreten Schaden bedeuten könnten? Oder geht das Gefllhl der Bedrohung nicht eher von dem Umstand aus, dass die Erwachsenen über die Einflüsse, die hier auf die Jugendlichen einströmen, wenig Kontrolle haben? Klaus Zapotoczky 1 hat in vielen Arbeiten auf die Spannungsfelder hingewiesen, die sich vor dem Hintergrund der modernen gesellschaftlichen und globalen Entwicklung fllr die Situation der Familien, fllr die Beziehungen zwischen Eltern und Kindem und fllr den Prozess des Hineinwachsens der Jugendlichen in die Welt der Erwachsenen ergeben. In letzter Zeit hat er vor allem die beträchtliche Kluft zwischen den normativen Idealen auf der einen Seite und den 1 Klaus

Zapotoczky 1980, 1984.

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realen Lebensvollzügen in unserer Gesellschaft auf der anderen Seite betont. 2 Auf der einen Seite sei die Schaffung einer kind- und jugendgerechten Umwelt ein allgemein anerkanntes Leitbild und genieße der Wert einer sorgfältigen Bildung und Ausbildung fiir Jugendliche einen hohen Stellenwert. Auf der anderen Seite lassen aber die realen sozialen und wirtschaftlichen Situationen die tatsächliche Einlösung dieser Erwartungen vielfach unerreichbar erscheinen. In seinen Arbeiten thematisiert Zapotoczky diese Spannungsfelder vor allem aus der soziologischen Makro-Perspektive. Ausgehend von den strukturellen Problemzonen des gesellschaftlichen Wandels im Kontext der Globalisierung verweist er auf deren Auswirkungen in familiären Lebensräumen und Beziehungen. In meinem Beitrag greife ich seine Fragestellung auf und versuche, das Spannungsfeld sozialer Wandel - Familie - Jugend aus einer MikroPerspektive beleuchten: Wie stellt sich dieses Feld aus dem Blickwinkel der Erfahrungs- und Lebenswelt von Jugendlichen dar? Wie können wir uns vorstellen, was die Jungen bewegt, wenn sie sich aufmachen, die Welt der Familie -den Lebensraum des Kindes- zu verlassen und in die Welt der sozialen Institutionen und der Kultur- den Lebensraum der Erwachsenen - einzutreten? Der soziologische Blick auf Jugend betont vor allem den Übergangsprozess von jungen Menschen zwischen zwei unterschiedlichen sozialen Positionen, der Position des Kindes und der Position des Erwachsenen. Wenn wir jedoch diesen Übergang nicht nur von seinen äußeren sozialen Merkmalen, sondern auch von seinen innerpsychischen und körperlichen Erfahrungen her erfassen wollen, dann ist es hilfreich, die soziologische Perspektive durch theoretische Konzepte aus der Ethnologie und der Psychoanalyse zu ergänzen. In diesen Konzepten ist der Begriff der Adoleszenz gebräuchlich. Dieser Begriff bezieht sich auf das umfassende psychosoziale Geschehen des Übergangs und bringt in besonderer Weise die neue Formen des Objekt- und Weltbezuges zum Ausdruck, die durch die körperliche Reifung ausgelöst werden. Der Schweizer Ethnologe und Psychoanalytiker Mario Erdheim 3 hat in seinen Arbeiten auf die spezifische Bedeutung hingewiesen, die der psychosoziale Prozess der Adoleszenz ftlr die kulturelle Dynamik einer Gesellschaft bekommen kann. Aus der Psychoanalyse wissen wir, dass die sexuelle Entwicklung des Menschen in zwei Stufen verläuft: Die erste Stufe findet bereits im Alter von drei bis ftlnf Jahren statt. Sie endet damit, dass sich die Kinder vorwiegend passiv an die herrschenden Gegebenheiten in der Familie anpassen. Der zweite Triebschub beginnt in der Adoleszenz. Auf dieser Stufe lockert sich die Bin2

Vgl. Zapotoczky 2001.

3

Mario Erdheim 1984, 1988.

Jugend im Spannungsfeld

753

dung der Jugendlichen an die biologische Familie, und sie werden empfänglich für neue Erfahrungen im sozialen Raum außerhalb der Familie. Statt sich an der Familie zu orientieren, passen sich Jugendliche jetzt eher den sich anbietenden kulturellen Bildern und Strukturen ihres größeren sozialen Umfeldes an. Die Reichweite dieses Umfeldes wächst mit dem alltäglichen Gebrauch neuer Technologien im Kontext der Globalisierung enorm an. Es wäre ein Fehler, Jugendliche nur als passive und gefährdete Opfer dieser neuen Einflüsse einer globalisierten Umwelt wahrzunehmen. Zwischen den Prozessen der kindlichen Sozialisation in der Familie und der jugendlichen Sozialisation in der Auseinandersetzung mit der Kultur gibt es einen gewichtigen Unterschied. Im ersten Fall der Familie geht es um die kindliche Aneignung vorgegebener Verhältnisse. Der psychosoziale Grad von Entwicklung erzwingt hier vielfach noch eine passive Rolle. Im zweiten Fall, dem Prozess der Aneignung kultureller Normen und Werte durch Jugendliche, kommt ein aktives und innovatives Moment ins Spiel. Die Jugendlichen unterwerfen sich nicht passiv der Vielfalt von kulturellen Formen, sondern suchen in einem aktiven Prozess der Selbstformung nach sinnhaften Bildern und Systemen, mit denen sie sich identifizieren können. Psychisch können sie sich bereits auf eine relativ entwickelte Ich-Organisation stützen und in der sozialen Realität stehen ihnen - im Vergleich zu den Kindem - erweiterte Lebens- und Handlungsräume offen. Das Wort vom rebellischen und innovativen Potential der Jugend ist bekannt. Seinen tieferen Grund hat es in der Fähigkeit, nachträglich zu den im Rahmen der Sozialisation überlieferten Wertvorstellungen und Lebensorientierungen in eine kritisch prüfende Distanz zu treten und ihnen eine neue Bedeutung zu geben. Hilfreich sind in diesem Entwicklungsgeschehen die neu aufbrechenden Größen- und Allmachtsphantasien von Jugendlichen. In der Welt des Kindes besteht eine große Kluft zwischen den Wünschen und den Möglichkeiten ihrer Realisierung. Für das adoleszente Individuum rücken beide Bereiche näher zusammen. In gewisser Weise sind der Narzismus und die mit ihm verbundenen Größenphantasien eine Voraussetzung dafür, dass sich die Adoleszenten auf die soziale Welt jenseits der Grenzen der Familie einlassen können. Andererseits können sie aber auch dazu beitragen, dass Formen der reflexiven und kommunikativen Erschließung der sozialen Welt durch einen spontanen Aktionsdrang ersetzt werden. 4 Hinter dem Impuls zur Aktion und Handlung von Jugendlichen kann das Bedürfnis stehen, eine innere Hilflosigkeit durch äußere Aktivität zu verneinen oder die erstrebte Unabhängigkeit von den Eltern durch Übertreibungen zu bestärken. Ebenso kommt in dem häufig ge-

4

Vgl. Blos 1964165.

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Meinrad Ziegler

brauchten Wort: "Keiner kann mir etwas erzählen" immer auch ein Anteil an SelbstOberschätzung zum Ausdruck. Wenn Jugendliche mit dieser Überzeugung die Grenzenlosigkeit der eigenen Kräfte beschwören, dann verbirgt sich dahinter nicht zuletzt auch der Versuch, die reale Abhängigkeit von der Realität zu verneinen. Die scheinbare Überwindung von zeitlichen und räumlichen Grenzen, wie wir sie in den Kommunikationstechnologien der globalisierten Welt erleben, ist dazu geeignet, dieses Moment der Selbstüberschätzung noch zu steigern. Diese Hinweise auf die problematischen Aspekte des adoleszenten Potentials machen deutlich, dass wir uns den Prozess des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen nicht als bruchlosen und automatisch gleitenden Vorgang vorstellen dürfen. Die Erschütterung der Bindungen an die Familie ist von Gefühlen der Verunsicherung und Ambivalenz begleitet. In diesem Sinn wird die Adoleszenz immer auch als krisenhaftesGeschehen der Veränderung erfahren. Sie ist vielfach jener biographische Ort, an dem sich Störerfahrungen, die für die individuelle Entwicklung bedeutsam werden, konzentrieren. Die Problematik liegt vor allem darin, dass die Familie auf der einen Seite und die gesellschaftlichen Verhältnisse auf der anderen Seite strukturierende Momente der Erfahrung sind, die von grundsätzlich unterschiedlichen Vorstellungen beherrscht sind. 5 Die Familie wird mit Intimität, Zuwendung, Sicherheit und Überlieferung in Zusammenhang gebracht. Hier dominiert die Geborgenheit des Gewohnten. Die gesellschaftlichen Strukturen zentrieren sich dagegen um die Bereiche Arbeit und Politik. Diese sind von Wandel, Herrschaft und Macht, Leistung und nackter Rationalität geprägt. Erdheim6 bezeichnet die Erfahrung von der Gegensätzlichkeit zwischen familiärer und gesellschaftlicher Lebenswelt als den zentralen Konflikt in der Adoleszenz. Gegenüber beiden Bereichen und ihren Vorstellungsbildern sind die Jugendlichen im Zwiespalt und verhalten sich ambivalent: Geborgenheit und Intimität können sich in bedrückende Enge verwandeln, Tradition in Zwang; ebenso kann der Wandel als Verunsicherung erscheinen, Innovation als Zerstörung und Vernunft als Berechnung. Diese Ambivalenzen bringen die Neigung hervor, einen der beiden Bereiche in negativem Licht zu sehen und zu entwerten. Beispielsweise heißt das, aus der Familie zu flüchten und im kulturellen Umfeld alternative Bezugspunkte und neue Formen des Glücks zu suchen. Es kann aber auch das Umgekehrte geschehen: Wer im gesellschaftlichen Bereich keinen Erfolg findet, zieht sich in die Familie und in die dort gegebenen vertrauten Beziehungen zurück. Es sind diese Ambivalenzen, die Jugendliche dazu bringen, im jeweils anderen Bereich Er-

5

Vgl. Erdheim 1993.

6

Vgl. ebd., S. 945.

Jugend im Spannungsfeld

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fahrungen zu machen. Nur wenn es gelingt, den Konflikt produktiv zu verarbeiten, kann sich das innovative Potential der Adoleszenz entfalten. Eine produktive Verarbeitung würde bedeuten, die strukturelle Unterschiedlichkeit beider Bereiche anzuerkennen, und gegenüber den spezifischen Widersprüchen und Herrschaftsformen in jedem Bereich einen entsprechenden Realitätssinn und eine reflexive Handlungsfähigkeit zu bewahren. Problematisch dagegen wäre es, die Differenz zwischen den beiden Bereichen zu missachten, etwa indem wir den Strukturen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit mit familiär gefllrbten Phantasien und Erwartungen gegenübertreten und versuchen würden, gesellschaftliche Prozesse nach idealisierten Vorstellungen über Familienbeziehungen begreifen oder modellieren zu wollen. Um in einem Bild zu sprechen: Jugendliche sind Reisende zwischen zwei sozialen Orten. 7 Von der Position des Kindes müssen sie sich lösen. Das bedeutet einen Verlust an Sicherheit, denn diese Position ist im Rahmen der Familie einfach und klar bestimmt. Das bedeutet aber zugleich auch einen Gewinn an Freiheit und Selbständigkeit. Die Position des Erwachsenen, den zukünftige Zustand, haben Jugendliche noch nicht erreicht. Von der Art und Weise, wie diese Phase der Wiedereingliederung in die gesellschaftlichen Strukturen gelingt, hängt es ab, ob der Gewinn an Freiheit und Selbständigkeit als Last oder als Segen erlebt wird. Zwischen dem Ausgangspunkt der Reise, der Ablösung von der Familie, und dem Endpunkt, der Angliederung an die Strukturen der Gesellschaft und Kultur, gibt es einen Ort des Dazwischen. Der französische Ethnologe Amold van Gennep 8 hat diesen Zustand als "Schwellenphase" bezeichnet. Es handelt sich um eine Phase der Umwandlung, in der sich die Reisenden gleichsam zwischen zwei Welten befinden. Während sich der Anfangs- und Endpunkt der Reise als deutlich strukturierte Situationen darstellen, ist die Schwellenphase unbestimmt und unstrukturiert. In diesem Dazwischen sind die üblichen Regeln des sozialen Lebens ein Stück weit aufgehoben. Die reisenden Jugendlichen gehören weder der einen noch der anderen Struktur zu. In gewisser Weise sind sie sozial desintegriert. In den Augen der Gesellschaft erscheinen sie deshalb oft als schwach und minderwertig, manchmal aber auch als bedroht und gefllhrdet. Das Leben in diesem Zustand des Dazwischen vermittelt aber andererseits auch das Potential einer spezifischen Stärke - nämlich die Möglichkeit, einen neuen und innovativen Blick auf die strukturierten Bereiche der Gesellschaft zu entwickeln. Jugendliche sind in die herrschenden Zwängen der Gesellschaft noch nicht eingebunden. Das versetzt sie in die Lage, auf Konflikte und Widersprüche in

7

V gl. Ziegler 2000, S. 62 ff.

8 Arnold van

Gennep 1909.

Meinrad Ziegler

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Politik und Wirtschaft sensibel zu reagieren. Als sozial desintegrierte Gruppe stehen sie den Verhältnissen von Macht, von Besitz und von Traditionen, die die Erwachsenen fraglos akzeptieren, skeptisch und kritisch gegenüber. Die "anti-strukturelle" Schwellenphase der Jugend9 kann als Erfahrungsbereich verstanden werden, der sich in besonderer Weise dazu eignet, radikale Gegenentwürfe zu den herrschenden Strukturen in der Gesellschaft entstehen zu lassen. Damit ist noch nichts darüber gesagt, auf welchen politischen Grundwerten diese Entwürfe aufbauen und ob sie - im Sinne einer politischen Perspektive- nach vorwärts oder nach rückwärts weisen. Wenn wir Jugend als einen mehrphasigen Übergangsprozess betrachten, dann zeigt sich deutlich, wo die größten Probleme von Jugendlichen in der aktuellen gesellschaftlichen Situation liegen: Sie sind in erster Linie mit der Phase der Angliederung verbunden. Es geht dabei keineswegs nur um das Problem der Eingliederung in die gegebenen Strukturen des Wirtschaftssystems und des Arbeitsmarktes. Den Übergang vom Kind zum Erwachsenen müssen Jugendliche in unseren westlichen Gesellschaften unter den Bedingungen eines ungemein raschen politischen, sozialen und kulturellen Wandels bewältigen. Sie wissen, oder ahnen zumindest, dass das in der Familie und Schule erworbene kulturelle und berufliche Wissen bestenfalls partiell auf ihre späteren Rollen vorbereiten kann. Denn die Welt, in der sie als Erwachsene leben werden, wird eine andere Gestalt haben als sie die gegenwärtige Welt hat, die ihren Eltern, ihren Lehrerinnen und Lehrern als Modell dient. Der Prozess der Globalisierung bringt fUr die Jugendlichen ein grundlegendes Problem der Ungewissheit in die Phase der Angliederung. Wir müssen damit rechnen, dass diese Ungewissheit auf die anderen beiden Phasen im Prozess des Übergangs zurück wirkt. Sie kann beispielsweise den Prozess der Ablösung von der Familie erschweren. In einer gesellschaftlichen Situation, die wenig deutliche Konturen zeigt, wie Jugendliche sich als eigenständige Personen im sozialen Raum positionieren können, sind diese auf den familiären Raum der Vertrautheit und Sicherheit zurückgeworfen, auch wenn dieser einschränkend und repressiv erlebt wird. Der globale Prozess des Wandels kann aber auch die Entfaltung des innovativen Potentials in der Schwellenphase behindern. Das Glitzern der virtuellen Welten mit ihren scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten unterläuft die Entwicklung des Realitätssinnes von Jugendlichen. Soziale Ideale und Utopien, die kaum in praktische Handlungsstrategien ftlr konkrete gesellschaftliche Räume eingebunden sind, verwandeln sich vielfach in sektenhaft erstarrte Rituale und Fundamentalismen.

9

Vgl. Turner 1989.

Jugend im Spannungsfeld

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Ich habe im Rahmen jenes Konzepts, das Jugend als Übergang vom Kind zum Erwachsenen betrachtet, besonders die Bedeutung einer Schwellenphase betont. In dieser Phase erleben sich die Jugendlichen befreit von der Beengtheit der Kindheit und noch nicht gefangen in den Zwängen der Erwachsenenwelt. Diese Schwelle stellt ein konfliktreiches und ambivalentes Spannungsfeld dar. In diesem gibt es grundsätzlich günstige Bedingungen dafiir, dass sich selbständige und kritische Werte und Maßstäbe entwickeln. Als Erwachsene könnten wir uns fragen, welche Verantwortung wir wahrzunehmen hätten, damit dieses Potential auch unter den Bedingungen der Globalisierung lebendig bleibt und von den Jugendlichen in produktiver Weise genutzt werden kann.

Literatur Blos, Peter: Die Funktion des Agierens im Adoleszenzprozeß, in: Psyche, 1964/65, S. 120-138. Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit- Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess, Frankfurt/M. 1984.

- Adoleszenz zwischen Familie und Kultur, in: Erdheim, Mario: Die Psychoanalyse und das Unbewusste in der Kultur, Aufsätze 1980-1987, Frankfurt/M. 1988, S. 191214. - Psychoanalyse, Adoleszenz und Nachträglichkeit, in: Psyche, 1993, S. 934-950. Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt/M./New York 1989. Van Gennep, Amold: Übergangsriten, Frankfurt/M./New York 1909 (1986). Zapotoczky, Klaus: Gesellschaftliche Ursprünge des gegenwärtigen Generationenkonflikts, in: Asperger, H./Rothbucher, H. (Hrsg.): Mit Konflikten umgehen, Salzburg (Selbstverlag der Internationalen Pädagogischen Werktagung), 1980.

- Jugend ohne Vorbilder? Überlegungen zur Situation der Jugend heute, in: Mitteilungen, hrgg. vom Oberösterreichischen Volksbildungswerk, 2/1984, S. 3-14. - Der Weg der Kindheit vom Mittelalter ins Dritte Jahrtausend, Vortrag im Rahmen des Symposions "Kinder ohne Kindheit? Gesundheitliche und soziale Aspekte" in Wels2001. Ziegler, Meinrad: Das soziale Erbe - Eine soziologische Fallstudie über drei Generationen einer Familie", Wien/Köln/Weimar 2000.

Das Leben eines Vielseitigen Von Wemer Schöny Es ist schon einige Jahre her, als Klaus Zapotoczky der Einladung zur Mitwirkung im Vorstand der Gesellschaft Pro mente Oberösterreich zugesagt hat. Diese Aufgabe übernahm er trotz seiner vielen Funktionen und Tätigkeiten, die er im Rahmen seines universellen Berufsbildes einging und - zumindestens fiir uns ersichtlich- war er schnell entschlossen, dieser Einladung zu folgen, da es ihm wichtig war, im Bereich der psychosozialen Gesundheit tätig zu sein. Tätig zu sein heißt fiir Klaus verschiedenes: Einerseits haben wir schon seit langem Beziehungen im wissenschaftlichen Bereich. Gemeinsame Untersuchungen besonders zur Erreichung der Einstellungsforschung gegenüber verschiedenen Gruppen zum Thema psychische Erkrankungen, Kooperationen im Bereich der Versorgungsforschung hinsichtlich Enthospitalisierung psychisch Kranker aber auch gesundheitsökonomische Fragestellungen in diesem Bereich werden mit ihm und Mitarbeitern seines Institutes bearbeitet. Die Überschneidungen in diesem Arbeitsbereich waren mannigfaltig. Nachdem die Arbeiten zum Projekt Einstellungsuntersuchungen im ersten Teil abgeschlossen waren, kamen Kooperationen im Bereich der Qualitätssicherung, die vorwiegend über das Institut fiir Pflege- und Gesundheitssystemforschung abgewickelt wurden. Seine Mitarbeiter, Alfred Grausgruber und Reli Mechtler, waren maßgeblich an diesen Projekten beteiligt, wobei Klaus Zapotoczky bei der Planung und als Ideenlieferant immer äußerst geschätzt war. Neben der engeren wissenschaftlichen Kooperation ist Klaus Zapotoczky aber auch ein aktives Vorstandsmitglied. Er besucht die Sitzungen regelmäßig und versucht auch bei vielen Veranstaltungen, diese im Sinne der Öffentlichkeitsarbeit mit seiner Anwesenheit zu beehren. Dabei zeigt er viel Verständnis ftlr die Sorgen der Betroffenen aber auch der Mitarbeiter und versteht es, in seiner launigen Art Kontakte zu pflegen und sich

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Werner Schöny

selbst ausruhrlieh über die Problematik der psychosozialen Beeinträchtigung zu informieren. Als Medizinsoziologe ist ihm das Spannungsfeld der verschiedenen Berufsgruppen, die im psychosozialen Bereich tätig sind, bekannt und die Aufarbeitung desselben ein großes Anliegen. Mit großem Geschick gleicht er aus, wo es auszugleichen gilt, scheut es aber nicht, zu polarisieren und die AllmachtsansprUche mancher Gruppierungen so aufzuzeigen, dass Veränderungsbewusstsein entsteht. So gesehen ist Klaus Zapotoczky ein gern gesehener Referent, Mitarbeiter, Berater, aber auch Teilnehmer bei den verschiedensten Aktivitäten im psychiatrischen Umfeld und speziell von Pro mente Oberösterreich. Als anerkannter Medizinsoziologe ist es auch eine Ehre, ihn dabei zu haben, und seine Diskussionsbemerkungen und Einwände werden in einer Weise ernstgenommen, wie es nur selten Personen zuteil wird. In seiner Vielseitigkeit ist es allerdings manchmal schwer, ihn ganz dabei zu haben und ganz filr die Sache zu gewinnen. Zu rege ist sein Geist und zu groß sind seine Interessen; zu vielschichtig ist sein fachliches Temperament, als dass er sich ganz alleine einer Sache widmen würde. Er ist überall gefragt, er will überall dabei sein und er schafft es auch mit hohem persönlichen Einsatz. Klaus Zapotoczky als Redner ist unübertroffen. Es gelingt ihm auch, trockene Materie so fesselnd darzustellen, dass Zuhörer begeistert sind. Launig und abwechslungsreich gelingt es ihm, ernste und schwierige Themen darzustellen und Zuhörer in den Bann zu ziehen. Seine Kunst ist es, sowohl hoch qualifizierte wissenschaftliche Kolleginnen und Kollegen als auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch Laien zu fesseln und zu begeistern. Das gelegentliche Überziehen der Zeit wird ihm dabei gerne verziehen, denn Zeit ist etwas, was Klaus Zapotoczky im Überfluss zu haben scheint und damit sind wir bei der Person. Er, der wie schon sein Bruder, bei einer Feier verkündet hat, sogar schon zu spät auf die Welt gekommen zu sein, schafft es nur selten, seine Vielseitigkeit und sein sprudelndes Wissen und Temperament in ein Zeitkorsett zu stecken. Zu sehr lässt er sich ablenken und zu sehr hängt er am Augenblick, als dass er durch so banale Dinge wie Zeitzwänge sich wirklich bestimmen lässt. Er kommt zu spät, er geht zu früh, aber er ist immer mit dem Herzen und mit dem Geist dabei, damit verzeiht man ihm nur zu gern. Als Person ist er bescheiden, sehr liebenswürdig und ein charmanter Unterhalter. Wo immer er auftaucht, ist er umzingelt von Zuhörern, und seine Diskussionsbereitschaft wird insofern sehr gerne aufgenommen, als er - ohne andere zu verletzen - sehr treffend die

Das Leben eines Vielseitigen

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Stärken und Schwächen des Einzelnen der Gruppierung, aber auch der gesellschaftlichen Situation definiert. Und so passiert es schon, dass nicht nur er, sondern auch alle anderen die Zeit übersehen und die abendlichen Diskussionen bis in die späte Nacht hineingehen, denn Zeit vergeht und der "Zapo" fiillt sie mit Leben, Geist und Witz. Es ist aber nicht nur seine wissenschaftliche und fachliche Kompetenz, es sind nicht nur sein Charme und sein Witz, die einem fesseln, nein es sind auch die Erzählungen von seiner aktiven Zeit als Fußballer, der dem Gegner nichts geschenkt hat und ob seiner Konsequenz und Härte gefiirchtet war. Nur zu gerne erzählt er von der mangelnden Standhaftigkeit seiner Gegner, nur zu gerne erzählt er von seiner Brillanz als Mann im Tor, der gleichsam die Kastanien aus dem Feuer holt. Hier ist ihm wohl die große Karriere deshalb versagt geblieben, weil seine Körpergröße fiir einen Torhüter doch nicht ausgereicht hat. Die Wissenschaft dankt der Natur ob dieser weisen Voraussicht. Wir von Pro mente schätzen es jedenfalls, den Wissenschafter Zapotoczky im Vorstand zu haben, der von seiner "versäumten Fußballkarriere" spricht, als umgekehrt.

Die beiden Kleinen Von Werner Peter Zapotoczky Da der Altersunterschied zu unserem Bruder doch einige Jahre beträgt, war er in der Familie immer der "Große" und Du und ich, die nur wenig altersmäßig auseinander liegen, die "beiden Kleinen". Das bedeutete, daß wir in Kindheit und Jugend sehr viel Zeit miteinander verbrachten, viel gemeinsam erlebten und viele gemeinsame Erfahrungen haben, die uns auch heute noch prägen. Durch die Wirmisse des Krieges, wegen der sich zunehmend verstärkenden Bombenangriffe auf Linz hatten die Eltern beschlossen uns zu evakuieren. So sind wir zusammen mit unserer Mutter zu einem Bauern nach Grieskirchen gekommen. Um in diesem Bauernhaus zu unseren Zimmern zu gelangen, mußten wir durch jene Räume, in denen die zugeteilten Zwangsarbeiter, vor allem Polen, hausen mußten, denn von Wohnen war keine Rede. Und wir haben hier zum ersten Male miterlebt, was es heißt, geknechtet zu werden - denn die Behandlung dieser Arbeiter durch den Bauern war schlecht. Wir hörten, wie sie mit dem Riemen geschlagen wurden, wir erlebten mit, wie spät abends an unserer TUr geklopft wurde und Stanislaw fragte: "Du Frau haben Brot, Zigarette?" Auch wenn dies streng verboten war und auch wir nicht Überfluß hatten unsere Mutter hat immer gegeben und uns so gezeigt, daß Teilen wichtig und selbstverständlich ist. Von den großen Sorgen und seelischen Ängsten unserer Mutter, die mit den beiden Kleinen fernab von Linz, wo unser Vater und der "Große" waren, haben wir nur wenig mitbekommen. So gut es eben ging, wurden wir abgeschirmt, Dennoch erahnten wir manches; so als wir zur "Agnes", einer Bäuerin mit ihrem Hof an der Anhöhe eines HUgels gingen und die Rauchschwaden des in 70 km Entfernung brennenden Linz sahen. Wir spUrten die Sorgen unserer Mutter, bekamen die unzähligen Versuche mit, in Verbindung mit Linz zu kommen, um zu erfahren, was mit unserem Vater, dem "Großen", Oma und

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Wemer Peter Zapotoczky

Tante sei und ob diese wohlbehalten sind. Über das noch funktionierende Bahntelefon kam dann die erleichternde Meldung, daß alle wohlbehalten sind. Auch wir bekamen die Unmittelbarkeit des Krieges zu spüren, als der Nachbarhofvon Bomben getroffen wurde und die Verletzten mit Hilfe unserer Mutter versorgt wurden; als einmal auf der Zugfahrt nach Linz diese durch mehrfache Tieffliegerangriffe unterbrochen wurde. In Linz, wo unser Papa die Rettungsstation 5 mit Tiefbunker zu leiten hatte, sahen wir, wie viele Verletzte nach einem Angriff dorthin zur Erstversorgung gebracht wurden - prägende Erlebnisse einer frühen Kindheit. In Grieskirchen waren wir von der Liebe unserer Mutter umsorgt. Du mußtest schon die Schule besuchen, während ich auf dem Feld beim Distelstechen mithelfen "durfte". Einmal waren wir zusammen unterwegs, kamen zurück und mußten erfahren, daß unsere Mutter in der Zwischenzeit wegen einer Lungenentzündung ins Lazarett nach Schallerbach gebracht worden war. Du hast Dir eine Decke über den Kopf gestülpt und warst nicht mehr ansprechbar, was ich machte, weiß ich nicht mehr. Wie waren alleine, wurden dann sicherlich abgeholt, aber haben erstmals mitsammen das Gefilhl von Alleinsein, Trennung und Verlust erlebt. Die Zeit dann in Linz war nicht einfach. Wir waren räumlich sehr beengt, denn Großmutter und Tante, die ausgebombt waren, waren bei uns. Die meisten Fensterscheiben waren durch die in der Nähe eingeschlagenen Bomben zerstört, in fast allen Räumen waren riesige Löcher im Verputz, der heruntergefallen war. Dazu der tägliche Kampf, Eßbares aufzutreiben - schließlich wurde ein Stück Acker vom Pfarrer angemietet, um Kartoffeln anzubauen, und die Hauptaufgabe der beiden "Kleinen" bestand in der sehr verhaßten Tätigkeit, dort ständig Steine klauben zu müssen. Die Angst unseres Vaters um das Auto, das ohnehin durch Bomben ramponiert, mit Holzgasflaschen am Dach betrieben lief, war sehr groß. Dazu kam noch eine Visitentätigkeit, die das gesamte Gebiet von Linz Süd (Kieinmünchen, Neue Heimat, Neue Welt, Ebelsberg, Bindermichl, Spallerhot), aber auch Traun, Keferfeld, Ansfelden und teilweise die Randgebiete von Enns umfaßte, dazu. Auch die vielen Lager mit Zwangsarbeiter, mit neuen Flüchtlingen, vor allem aus dem Banat, mußten mit betreut werden. Da Hansjörg, der "Große", schon viel filr die Schule zu tun hatte, fiel die Begleitung unseres Vaters bei den Visiten und auf das Auto aufzupassen den beiden "Kleinen" zu. Es war entsetzlich langweilig und die Visitentätigkeit zog sich dahin; manchmal durften wir auch in das Haus oder die Baracke mitgehen und erfuhren so - fast spielend - soziale Unterschiede und Gegebenheiten. Vor allem die vorbildliche menschliche Haltung unseres Vaters, bei der Behandlung hilfesuchender Menschen keine Unterschiede zu machen, sondern

Die beiden Kleinen

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Menschen als Menschen anzunehmen, haben wir miterlebt, erfahren und als Selbstverständlichkeit übernommen. Noch gut erinnere ich mich Deiner liebenden Brüderlichkeit: es war die Zeit, da du schon lesen konntest, während ich darin noch unmächtig war. Da hast Du mir vorgelesen, einträglich sind wir nebeneinander in der "Bauemstube" gesessen, und Du hast mir aus dem Karl May vorgelesen. Nur, wenn es besonders spannend wurde, hast Du einfach vergessen, laut zu lesen, was ich wohl eine kurze Zeit akzeptierte, doch dann natürlich an dem Spannenden auch teilhaben wollte und mich entsprechend bemerkbar machte, was Anlaß heftiger Streitereien und Balgereien war, die auch zum brüderlichen Leben gehören. Wir waren schon größer, aber intrafamiliär immer noch die Kleinen. Es nahte Silvester und die Eltern waren eingeladen, auch der "Große" durfte schon mitgehen, die beiden "Kleinen" blieben zu Hause. Wir hatten auch so großen Spaß, haben Mittemacht erlebt und plötzlich den Plan geboren, allen, die Dienst versehen hatten, ein gutes "Neues Jahr" zu wünschen. Gemacht, getan Du spieltest am Klavier ein bißeben Donauwalzer, während ich am Telefon unsere Wünsche übermittelte. So kamen das Telefonfräulein, der Krankenhausportier, Bahnbedienstete, Polizei und Straßenbahner zu unseren unerwarteten Wünschen. Glücklich im Geftlhl, anderen eine Freude bereitet zu haben, selbst freundlich angenommen worden zu sein und großen Spaß gehabt zu haben, verlebten wir eine ftlr uns einmalige Silvesternacht Unschätzbaren Dank müssen wir aber unseren Eltern zollen. Unsere Wohnung war ein offenes Haus. Alle waren willkommen, wurden bewirtet, versorgt, konnten schlafen, und ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Ablehnung von seiten unserer Eltern erfahren zu haben - im Gegenteil, als Du schon in der Jugendarbeit fUhrend warst, wurde jede Hilfestellung durch sie gegeben. Es begann oft bei ganz einfachen Sachen: so wollten wir einen Radausflug in der Gruppe machen - nur gab es keine Räder fllr alle. In gemeinsamer Anstrengung wurde dann die Zahl der Räder aufgetrieben und wir zogen los. Mit von der Partie war auch ein Junge, der früher an Kinderlähmung erkrankt und dessen Bein atroph war. Er fuhr als erster, gab das Tempo an und war voll integriert, ohne das jemals einer von uns über den Sinn des Wortes Bescheid wußte, ohne daß jemals darüber diskutiert worden war - es war eine Selbstverständlichkeit. Ebenso auch beim Fußballspielen - und wir spielten immer viel und heftig Fußball -, die körperlichen Gegebenheiten dieses Jungen wurden respektiert, und bei aller Wildheit unseres SpieJens wurde darauf Rücksicht genommen, ohne daß irgendwelche Hinweise erfolgt wären oder nötig waren. Unser ältester Bruder, der "Große", hat die Jugendarbeit aufgebaut. Du hast diese weitergefllhrt und in vielem durfte, konnte und habe ich Dir geholfen. Wir haben so einfach gelernt, das Mitsammensein in der Gruppe, das Akzeptie-

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Werner Peter Zapotoczky

renanderer Meinungen und Wünsche, Planung und Vorbereitung, Gemeinsamkeit im Respekt persönlicher Gegebenheit. Lieber Klaus, gerade wir beiden, die "Kleinen", haben viele Erfahrungen zusammen gemacht. Wir haben früh erfahren, was Angst, Trennung, menschliche Grausamkeit und Not sind. Wir haben auch von klein auf miterlebt, keine Unterschiede unter den Menschen zu machen. Wir mußten teilen und freuen uns am Gemeinsamen. Auch, wenn jeder von uns seinen eigenen persönlichen Weg gegangen ist, sind wir doch alle - auch der "Große" - von großer brüderlicher Liebe umgeben, die, je weiter wir an Lebensjahren weiterschreiten, wieder stärker wird. Das große Bedürfnis unserer Eltern wurde im Satz "Buam, halt's z'samm" artikuliert. Ich glaube, wir haben es gut geschafft und hoffe, daß uns dies noch lange so erhalten bleibt. Herzlichst, Dein Peter

o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotozcky

Lebenslauf o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky 22.03.1938

geboren in Linz; Vater: Dr. Hans, Stadtarzt; Mutter: Gertrude

1945-1948

Volksschule in Linz

1948- 1956

Humanistisches Gymnasium in Linz

1956 - 1961

Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien; März 1961: Promotion

April - Oktober 1961

Rechtspraktikant am Bezirksgericht Wien-Innere Stadt und am Jugendgerichtshof

1961-1964

Studium der Sozialwissenschaften in Löwen, Belgien Juli 1964: Lizentiat aus Sozial- und Wirtschaftswissenschaften

Sept. 1964 - Juli 1966

Dozent filr Soziologie und Entwicklungspolitik an der Deutschen Landjugendakademie Klausenhof (Projekt-Begutachtungsreisen nach Afrika und in den Vorderen Orient)

März 1966 - Juli 1971

Assistent am Soziologischen Institut der Hochschule ftlr Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Linz bei Prof. Dr. Erich Bodzenta

1971 - 1976

Assistent am Soziologischen Institut der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, Lehrbeauftragter für Soziologie

30.08.1974

Erteilung der Lehrbefugnis ftlr Soziologie mit besonderer Berilcksichtigung der Soziologie der Entwicklungsländer

01.09.1976

Berufung an die Johannes Kepler Universität Linz als Vorstand des Instituts ftlr Politik- und Entwicklungsforschung

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o. Univ. Pro( Dr. Klaus Zapozoczky

seit 1966

Vorstandsmitglied des Österreichischen Studienförderungswerkes Pro Sciencia

1966-1995

Vorstandsmitglied des Österreichischen College; 1977-1994 zudem Hauptberater ftlr die DialogKongresse; seit 1995 Mitglied des wissenschaftlichen Kuratoriums

seit 1985

Vorsitzender des Kuratoriums der Österreichischen Forschungsstiftung ftlr Entwicklungshilfe in Wien (ÖFSE)

1988- 1998

Vorstand des Interdisziplinären Forschungsinstituts ftlr Entwicklungszusammenarbeit (IEZ) der Johannes Kepler Universität Linz

1992- 1998

Vorstand des Instituts ftlr Pflege- und Gesundheitssystemforschung (IPG) der Johannes Kepler Universität Linz

1992-2002

Vorsitzender der Wissenschaftskommission beim Bundesministerium ftlr Landesverteidigung

derzeit

Vorstand des Instituts ftlr Soziologie und Leiter der Abteilung filr Politik- und Entwicklungsforschung

Bibliographie der wissenschaftlichen Publikationen o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky 1. Bücher

I.

Abbau sozio-kultureller Distanzen - Beiträge zu einer Theorie optimaler Entwicklungsschritte bei Stammesgesellschaften (Feldstudie beim Stamme der Wobs, Elfenbeinküste), Springer, Wien!New York 1974.

2.

Neue Wege im Gesundheitswesen, Veritas, Linz 1984 (als Hrsg. mit P. Bemer).

3.

Sozialer Wandel und Ländlicher Raum- Gesellschaftliche, ökonomische und demographische Aspekte (mit D. Kanatschnig und W. Pevetz), Stokker, Graz 1985 (Schriftenreihe fiir Agrarpolitik und Agrarsoziologie, hrsgg. von H. Bach).

4.

Zivilisatorische Ursachen von Konflikten, Veritas, Linz 1986 (als Hrsg.).

5.

Religion und sozialer Wandel, Veritas, Linz 1986 (als Hrsg. mit H. Bogensberger und T. M. Gannon).

6.

Die europäische Herausforderung Österreichs - Festschrift filr Erich Bodzenta,·Oberösterreichischer Landesverlag, Linz 1987 (als Hrsg. mit R. Richter).

7.

Gesellschaft und Gesundheit- Zur Diskussion neuer Wege im Gesundheitswesen, Veritas, Linz 1988 (als Hrsg. mit P. Bemer).

8.

Einstellung zu psychisch Kranken und zur psychosozialen Versorgung, Stuttgart/New York 1989 (mit A. Grausgruber, G. Hofmann und W. Schöny).

9.

Gesundheit im Brennpunkt- Von der Betreuung zur Selbsthilfe?, Band I, Veritas, Linz 1989 (als Hrsg. mit P. Bemer).

10. Neue Leistungsinhalte und internationale Entwicklung der Untemehmensberatung, Kohlhammer, Stuttgart!Berlin!Köln 1989 (als Hrsg. mit W. Sertl).

772

o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky

11.

Gesundheit im Brennpunkt- Von der Gesundheitsberatung bis zur Kooperation im Krankenhaus, Band 2, Veritas, Linz 1990 (als Hrsg. mit P. Berner).

12.

Die sozio-kulturellen Rahmenbedingungen tur Unternehmensberater, Kohlhammer, Stuttgart!Berlin/Köln 1991 (als Hrsg. mit M. Hofmann und L. v. Rosenstiel).

13.

Gesundheit im Brennpunkt- Zwischen Professionalisierung, Laiensystem und Bürokratie, Band 3, Veritas, Linz 1992 (als Hrsg. mit P. Bemer).

14.

Gestaltung öffentlicher Verwaltungen, Physica, Heidelberg 1993 (als Hrsg. mit M. Hofmann und H. Strunz).

15.

Die Entdeckung der Eroberung- Reflexionen zum Bedenkjahr 500 Jahre Lateinamerika, Band 1 der Linzer Schriftenreihe tur Entwicklungszusammenarbeit, hrsgg. von H. Holley und K. Zapotoczky, Trauner, Linz 1994 (als Hrsg. mit H. Holley).

16.

Gesundheit im Brennpunkt - Anforderungen und Leistungen, Band 4, Veritas, Linz 1994 (als Hrsg. mit A. Grausgrober und R. Mechtler).

17.

Pflegewissenschaft - Eine universitäre Aufgabe, Band 1 der Schriftenreihe Gesundheit- Mensch - Gesellschaft, Trauner, Linz 1994 (als Hrsg. mit E. Seid!).

18.

Nord-Süd-Beziehungen - Entwicklungspolitische Aspekte in Wirtschaft, Ökologie und Kultur, wissen & praxis 46, Brandes & Apsel, Frankfurt a. M. 1994 (als Hrsg.).

19.

Die Welt im Umbruch - Fremde Wirklichkeiten als gesellschaftliche Herausforderung, wissen & praxis 47, Brandes & Apsel, Frankfurt a. M. 1994 (als Hrsg. mit H. Griebl).

20.

Augenoptik als Gesundheitsberuf- Die Aufgabenstellung und Verantwortung in einem handwerklichen Gesundheitsberuf, dargestellt am Beispiel des Augenoptikers, Band 2 der Schriftenreihe Gesundheit - Mensch -Gesellschaft, hrsg. v. K. Zapotoczky, Trauner, Linz 1994 (als Hrsg. mit T. F. Gumpelmayer).

21.

Kulturverständnis als Entwicklungschance, Brandes & Apsel/Südwind, Frankfurt a. M./Wien 1995 (als Hrsg. mit H. Griebl).

22.

Hoffnung am Kap - Chancen und Gefahren des Transformationsprozesses in Südafrika, Band 2 der Linzer Schriftenreihe fUr Entwicklungszusammenarbeit, hrsgg. von H. Holley und K. Zapotoczky, Trauner, Linz 1995 (als Hrsg. mit H. Holley).

Bibliographie der wissenschaftlichen Publikationen

773

23 .

Primärprävention - Ein ursachen- und ressourcenorientierter Ansatz in der Gesundheitsf6rderung, Band 3 der Schriftenreihe Gesundheit Mensch- Gesellschaft, hrsgg. v. K. Zapotoczky, Trauner, Linz 1995 (als Hrsg. mit R. Mechtler).

24.

Auf dem Weg ins Neue Südafrika- Brückenbau zwischen verschiedenen Kulturen, Band 3 der Linzer Schriftenreihe filr Entwicklungszusammenarbeit, hrsgg. von H. Holley und K. Zapotoczky, Trauner, Linz 1995 (als Hrsg. mit H. Holley).

25.

Weltwirtschaft und Entwicklungspolitik- Wege zu einer entwicklungsgerechten Wirtschaftspolitik, Brandes & Apsel/Südwind Frankfurt a. M./Wien 1996 (als Hrsg. mit H. Griebl-Shehata).

26.

Menschengerechte Arbeitswelt- Empirische Ergebnisse und Reflexionen, Duncker & Humblot, Berlin 1996 (als Hrsg. mit H. Bogensberger).

27.

Forschungsmanagement, Österreichische Staatsdruckerei, Wien 1996 (als Hrsg. mit H. Strunz).

28.

Gesundheit im Brennpunkt- Initiativen zur Sicherung der Lebensqualität, Band 5, Maudrich, Wien/München!Bem 1996 (als Hrsg. mit A. Grausgrober und R. Mechtler).

29.

Entwicklungstheorien im Widerspruch- Plädoyer filr eine Streitkultur in der Entwicklungspolitik, Brandes & Apsei!Südwind, Frankfurt a. M./Wien 1997 (als Hrsg. mit P. C. Grober).

30.

Festkultur im Wandel - Ein interkultureller Vergleich zwischen Polen und Österreich, Band I der Schriftenreihe Analysen zur Gesellschaft und Politik, hrsgg. von A. Grausgrober und K. Zapotoczky, Trauner, Linz 1998 (als Hrsg. mit A. Grausgrober und L. Dyczewski).

31 .

Gesundheit im Brennpunkt - Zwischen Wirtschaftlichkeit und ethischer Verantwortung, Band 6/1 und 6/2, Trauner, Linz 1999 (als Hrsg. mit A. Grausgrober und R. Mechtler).

32.

European Health Forum Gastein 1999- Health & Social Security. Creating a better Future for Health in Europe, Gastein 2000 (als Hrsg. mit G. Leiner, G. Bematzky und M. Schuppe).

33.

Gesundheit im Brennpunkt - Eigeninitiative und gesellschaftliche Verantwortung, Band 7/1 und 7/2, Trauner, Linz 2000 (als Hrsg. mit A. Grausgrober und R. Mechtler).

34.

Vemetzung von Krankenhäusern und extramuralen Bereichen - Ergebnisse eines Experten-Gespräches an der Johannes Kepler Universität Linz,

774

o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky

Band 5 der Schriftenreihe Gesundheit- Mensch- Gesellschaft, hrsgg. v. K. Zapotoczky, Trauner, Linz 2000 (als Hrsg. mit I. Schöppl). 35.

Zahngesundheit in Oberösterreich, Band 6 der Schriftenreihe Gesundheit - Mensch - Gesellschaft, hrsgg. v. K. Zapotoczky, Trauner, Linz 2000 (als Hrsg. mit A. Bachmaier).

36.

Paranoia und Diktatur, Band 7 der Schriftenreihe Gesundheit - Mensch Gesellschaft, hrsgg. v. K. Zapotoczky, Trauner, Linz 2000 (als Hrsg. mit K. Fabisch).

37.

Soziale und ökonomische Bedeutung von Sozialprojekten in Oberösterreich, Band 8 der Schriftenreihe Gesundheit - Mensch - Gesellschaft, hrsgg. v. K. Zapotoczky, Trauner, Linz 2001 (als Hrsg. mit C. Pass und C. Pracher).

38.

Medizinische Kommunikation auf dem Prüfstand- Wie sag' ich's meinem Patienten?, Band 10 der Schriftenreihe Gesundheit- Mensch- Gesellschaft, hrsgg. v. K. Zapotoczky, Trauner, Linz 2002 (als Hrsg. mit I. Samhaber und P. Watzka).

39.

Gesundheit im Brennpunkt- Der Patient zwischen Vernetzung und Isolation, Band 8, Trauner, Linz 2002 (mit A. Grausgruber und R. Mechtler).

2. Beiträge in Zeitschriften und Büchern, Forschungsberichte

40.

Die Frage nach dem Sinn der Arbeit, Löwen 1964, I 18 S.

41.

"Draußen" ist es immer anders - Über die Vorbereitung von landwirtschaftlichen Helfern fiir Entwicklungsländer. In: Confrontation, Afrika Asien- Europa (Wien), 1/1966,3 S.

42.

Pfarrerwahl in Syrien - Demokratisierung in der Kirche. In: Seelsorger (Wien), 6/1966.

43.

Hochschule in der Provinz- provinzielle Hochschule? Neue Hochschulprobleme am Linzer Beispiel. In: Blätter, Zeitschrift fiir Studierende (Wien), Dez. 1966, 4 S.

44.

Im Spannungsfeld von Familienleben und Arbeitswelt. In: Das große Familienbuch, Bd. II., Wien/Linz/Passau 1967,28 S.

45.

Reform der Hochschule. In: Aktuell, Beiträge des politischen Arbeitskreises des Sozialreferates der Diözese Linz, Nr. 22, Linz 1967,25 S.

46.

Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien. In: Interesse, Soziale Information (Linz) 4/1967

Bibliographie der wissenschaftlichen Publikationen

775

47.

Friede statt Reichtum - Soziologische Überlegungen zur Entwicklungshilfe, Wien/Linz/Passau 1968, 132 S.

48.

Effekte der Hochschulgründung in Linz, I-IV, Linz 1968 (mit E. Bodzenta, I. Speiserund L. Vaskovics).

49.

Zusammenarbeit von Priestern und Laien. In: Theologisch-praktische Quartalschrift (Linz), 411968, 12 S.

50.

Die Wirksamkeit österreichischer kirchlicher Entwicklungshilfemaßnahmen (Ergebnisse einer Umfrage), Linz 1968, 74 S.

51.

Strukturen einer Kirche der Zukunft. In: Una sancta, Zeitschrift fiir ökumenische Begegnung, (Freising) 1968, 12 S.

52.

Der "Mittelstand" im Gesellschaftsautbau, Linz 1969, 69 S. (mit E. Bodzenta, I. Speiserund L. Vaskovics).

53.

"Österreich". In: Kernig, D. (Hrsg.): Die Kommunistischen Parteien der Welt, Sonderband der Enzyklopädie "Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft", Freiburg/Basel/Wien 1969, 14 S.

54.

Die sozialen Grundrechte. In: Aktuell, Beiträge des politischen Arbeitskreises des Sozialreferates der Diözese Linz, Nr. 26, Linz 1969, 37 S. (mit J. Broinger, J. Gugerbauer, 0. Hanke, G. Lentner, A. Renoldner u. a.).

55.

Christliches Strafrecht- Strafrechtsreform. In: Aktuell, Beiträge des politischen Arbeitskreises des Sozialreferates der Diözese Linz, Nr. 27, Linz 1969, 85 S. (mit J. Broinger, J. Gugerbauer, 0. Hanke, G. Lentner, A. Renolder u. a.).

56.

Österreichische Weltpriester und Amtszölibat, Ergebnisse einer Umfrage der SOG/Österreich, Linz 1970, 29 S.

57.

Ansätze zu einer zeitgemäßen Seelsorge. In: Theologisch-praktische Quartalsschrift (Linz) 111970, 3 S.

58.

Empirische Sozialforschung bei Stammesgesellschaften in Westafrika. In: Bodzenta, E./Kaufmann, A. (Hrsg.): Österreichisches Jahrbuch fiir Soziologie 1970, Wien/New York 1970, 12 S.

59.

Österreich - II. Gesellschaftliche Entwicklung. In: Görresgesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, Recht - Wirtschaft - Gesellschaft, Ergänzungsband, Freiburg 1970, 4 S.

60.

Grundfragen der modernen Gesellschaft - Soziologische Einfiihrung ins Studium der Gesellschaft. In: Das neue Land, Zukunft und Gestalt der ländlichen Gesellschaft (Dingden), 24/1970, 27 S.

776

o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky

61 .

Demokratisierung der Kirche. In: Aktuell, Beiträge des politischen Arbeitskreises des Sozialreferates der Diözese Linz, Nr. 28, Linz 1970, 48 S. (mit J. Broinger, J. Gugerbauer, 0. Hanke, G. Lentner, A. Renoldner u. a.).

62.

Entideologisierung des Strafrechtes. In: Aktuell, Beiträge des politischen Arbeitskreises des Sozialreferates der Diözese Linz, Nr. 29, Linz 1971, 87 S. (mit J. Broinger, J. Gugerbauer, 0. Hanke, G. Lentner, A. Renoldner

u. a.).

63.

Soziale Faktoren des Medikamentenmißbrauches. In: Kryspin-Exner, K. (Hrsg.): Die modernen Formen des Suchtmittelmißb rauches- Klinik und Therapie der Drogenabhängigkeit bei Jugendlichen, Wien/Stuttgart 1971, S. 85-103.

64.

Religion als Grundwert? In: Bodzenta, E. (Hrsg.): Die Österreichische Gesellschaft, Entwicklung - Struktur - Probleme, Wien!New York 1972, s. 162-175.

65.

Probleme der Anwendung soziologischer Erkenntnisse in der Entwicklungspolitik. In: IBE-Bulletin - Bildungsforschung, Entwicklungshilfe (Wien) 9/1972, S. 27-35.

66.

Buchbesprechung von K. Marko: Dogmatismus und Emanzipation in der Sowjetunion - Philosophie, Reformdenken, Opposition. In: Österreichische Osthefte (Wien) 1411972, S. 228 f.

67.

Mitbestimmung, Einftlhrung- Kleine Bestandsaufuahme, Vorschläge. In: Aktuell, Beiträge des politischen Arbeitskreises des Sozialreferates der Diözese Linz, Nr. 31, Linz 1972, 127 S. (mit J. Broinger u. a.).

68.

Voraussetzungen und Möglichkeiten einer Soziotherapie an Suchtkranken. In: Sozialarbeit in Österreich (Wien) 18/1972, S. 5-20.

69.

Contribution a l'etude des problemes psychiques poses par les personnes agees en Autriche. In: Revue pratique de Psychologie de Ia vie sociale et d'hygiene mentale (Clermont-Ferrand) 3/1972, S. 235-248 (mit P. Bemer, R. Naske und H. G. Zapotoczky).

70.

Der ÖGB. In: Aktuell, Beiträge des politischen Arbeitskreises des Sozialreferates der Diözese Linz, Nr. 33, Linz 1973 (mit J. Broinger u. a.).

71.

Gesellschaftliche Funktionen des Drogenkonsums (Zur Soziologie jugendlicher Drogenkonsumenten). In: Die Jugend (Wien) 4/1973, S. 1-22.

72.

Zum Problem alter Menschen in Heimen - Eine Untersuchung in zwei Österreichischen Altersheimen. In: Actuelle Gerontologie (Stuttgart) 9/1973, S. 549-558 (mit R. Naske und H. G. Zapotoczky).

Bibliographie der wissenschaftlichen Publikationen

777

73.

Sozialisationsprobleme Jugendlicher in lndustriegesellschaften. In: Report - Jugend, Jugendarbeit und Jugendforschung in Österreich (Wien) 16/1973, s. 3-13.

74.

Die Religion im Leben der Oberösterreichischen Katholiken. In: Kirche und Priester zwischen dem Auftrag Jesu und den Erwartungen der Menschen, Linz 1973, S. 273-299 (mit M. Bauer, E. Buchberger, J. Gruber, B. Mayr, J. Schicho, W. Suk und W. Zauner).

75.

Wandlungstendenzen in den Familienbeziehungen (Soziologische Überlegungen zum Wandel von familieninternen und -externen Interaktionen). In: Sozialarbeit in Österreich (Wien) 24/1974, S. I 0-19.

76.

Humane Lebensbedingungen fiir alte Menschen als gesellschaftliche Verpflichtung. In: Präsidium der Wiener Katholischen Akademie (Hrsg.): Religion, Wissenschaft, Kultur- Jahrbuch der Wiener Katholischen Akademie 1974/75.

77.

Zur Situation im Altersheim aus soziologischer Sicht. In: Fellinger, K. (Hrsg.): Altenhilfe- ein kooperatives Problem, Wien 1975, S. 43-53.

78.

Kirche, Gesellschaft, Politik- Thesen, Texte (hrsgg. vom Sozialreferat im Pastoralamt der Diözese Linz), Linz 1977 (mit E. Buchberger, 0. Hanke, G. Lentner, W. Suk und G. Wildmann).

79.

Auf dem Weg zur Weltgesellschaft? Soziologische Überlegungen zu internationalen Problemen. In: IBE-Bulletin - Bildungsforschung, Entwicklungshilfe (Wien) 25-26/1977.

80.

Einfluß der Sozialisation auf das Unfallgeschehen. In: Hefte zur Unfallheilkunde, Heft 120 (12. Tagung der Österreichischen Gesellschaft ftlr Unfallchirurgie 1976, zusammengestellt von H. Kuderna), Berlin/Heidelberg 1978.

81.

Die Demokratie an der Universität? In: Factum - Zeitschrift der AustroDanubia 4/1978.

82.

Werte und Gesellschaft im Wandel Österreichischen Kolloquium), Linz 1978.

83.

Die Integrationsflihigkeit des Militärs in der Gesellschaft - Probleme einer modernen Militärsoziologie (hrsgg. von der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Landesverteidigung), Wien 1978.

84.

Situation der alten Menschen in Österreich (soziologische Analyse). Referat bei der 26. Tiroler Dorftagung am 31 .8.1978, als Manuskript vervielfliltigt.

(hrsgg.

vom

Polnisch-

778

o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky

85.

Ist die Kunst heute gesellschaftsflihig? Soziologische Reflexionen über die Funktionen der Kunst filr die Gesellschaften. In: Universitas- Gesellschaft, Kunst und Religion. Gemeinsame Ringvorlesungen der Linzer Hochschulen, Linz 1979.

86.

Indikatoren filr die Qualität des Arbeitslebens, Forschungsbericht über ein Projekt des Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, Linz 1979 (mit A. Grausgruberund F. Plasser).

87.

Wissenschaft als Wegbereiter eines Dialogs zwischen Kulturen? In: Molden, 0. (Hrsg.): Dialog Westeuropa Schwarzafrika-Inventar und Analyse der gegenseitigen Beziehungen, Wien/München/ZUrichllnnsbruck 1979, S. 180 tf.

88.

Herausforderung an ein demokratisches Staatswesen - Soziologische Überlegungen zur Verwirklichung des Demokratischen in der Politik. In: Das Anbot, Brief aus Magdalena 4/1979.

89.

Familie und Gesellschaft - Strukturelle Probleme aus soziologischer Sicht. In: Katholischer Familienverband Österreichs (Hrsg.): Familie, Hoffnung filr die Zukunft Europas (Europäischer Familienkongreß, 26.29.10.1978, Wien, Baden), Wien 1980.

90.

Le strutture democratiche nello stato e nei parititi. In: Laboratorio di sociology 2/1980.

91.

Erziehung durch Familie und Schule- eine kritische Bestandsaufuahme. In: Das Kind in der Verantwortung von Familie und Schule. Ergebnisse einer Enquete, die im Auftrag der Österreichischen Bischofskonferenz als Beitrag zur aktuellen Schuldiskussion am 03.03.1980 in Wien-Döbling durchgefilhrt wurde, Wien 1980.

92.

Gesellschaftliche Ursprünge des gegenwärtigen Generationenkonflikts. In: Asperger, H./ Rothbucher, H. (Hrsg.): Mit Konflikten umgehen (Selbstverlag der Internationalen Pädagogischen Werktagung), Salzburg 1980.

93.

Durch Dialoge zur Weltgesellschaft? In: Molden, 0. (Hrsg.): Dialog Westeuropa Lateinamerika - Inventar und Analyse der gegenseitigen Beziehungen, Wien!München/Zürichllnnsbruck 1981, S. 131 ff.

94.

Zur Familienordnung. In: Klose, A./Merk, G. (Hrsg.): Bleibendes und Veränderliches in der Katholischen Soziallehre - Anton Burghardt zum Gedächtnis, Berlin 1982.

95.

Berufsspezifische Einstellungen gegenüber psychisch Kranken als Ernflußdeterminanten des Krankheitsverlaufs, Forschungsbericht 1 an den

Bibliographie der wissenschaftlichen Publikationen

779

Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Linz 1982 (mit A. Grausgruber, G. Hofmann und W. Schöny). 96.

Berufsspezifische Einstellungen gegenüber psychisch Kranken, Forschungsbericht 2 an den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Linz 1983/84 (mit G. Hofmann, W. Schöny und A. Grausgruber).

97.

Berufliche Einstellungen gegenüber psychisch Kranken. In: Österreichische Krankenpflege Zeitschrift 3/1984, S. 69-79 (mit G. Hofmann, A. Grausgrober und W. Schöny).

98.

Zur Einstellung von Richtern und Staatsanwälten zum Problem psychischer Erkrankungen. In: Österreichische Richterzeitung 6/1984, S. 142I46 (mit A. Grausgruber, G. Hofmann und W. Schöny).

99.

Die Einstellung von praktischen Ärzten zum Problem psychischer Erkrankungen. In: Österreichische Ärztezeitung 1811984 (mit W. Schöny, A. Grausgrober und G. Hofmann).

100. Österreich als Entwicklungsmodell? In: Koren, S./Pisa, K./Waldheim, K. (Hrsg.): Politik für die Zukunft, Festschrift ftlr Alois Mock, Wien!Köln/Graz 1984, S. 367-398. I 0 I. Die Politischen Parteien zwischen ideologischem Anspruch und Politischer Realität. In: Tatsache, Argumente. Landespolitischer Informationsdienst ftlr ÖVP-Funktionäre, 12. Februar 1934- 50 Jahre danach, Linz I984. 102. Jugend ohne Vorbilder? Überlegungen zur Situation der Jugend heute. In: Mitteilungen des Oberösterreichischen Volksbildungswerkes (Linz) 211984, s. 3-14. 103. Revolutionen in Entwicklungsländern. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde 3/1984, S. I 05-110. 104. Die 35jährigen in Österreich im Jahre 2019. In: Bruckmann, G. (Hrsg.): Die Zukunft Österreichs- Das Leben im Jahr2019, Wien 1984, S. 177-195. 105. Darstellung von: Acham Kar!, Bach Hans, Beer Franz, Blaukopf Kurt, Bodzenta Erich, Cserjan Karoly, Denz Hermann, Falk Gunter, Freisitzer Kurt, Girtler Roland, Holm Kurt, Kapner Gerhardt, Kaufmann Albert, Klose Alfred, Knorr Karin D., Kurzreiter Josef, Marin Bernd, Mayer Klaus, Mokre Johann, More! Julius, Morgenstern Oskar, Ornauer Helmut G., Paul Siegrid, Rassem Mohammed H., Richter Rudolf, Schulz Wolfgang, Sirnon Walter B., Speiser Irmfried, Sperling Jan Bodo, Stagl Justin, Titscher Stefan, Topitsch Ernst, Vaskovics Laszlo, Wieser Georg. In:

780

o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky

Bernsdorf, W.!Knospe, H. (Hrsg.): Internationales Soziologenlexikon, Stuttgart 1984. 106. Der internationale Dialog als Aufgabe. In: Molden. 0. (Hrsg.): Dialog Westeuropa Nord- und Südwestpazifik -Inventar und Analyse der gegenseitigen Beziehungen, Wien!München/Zürich!Innsbruck 1985. 107. Gemeindeintegration als permanente Kulturaufgabe, in: Rack Reinhard (Hrsg.): Gemeinde der Zukunft. Ein Gespräch zwischen Wissenschaft und Politik, Wien 1985. 108. Was Pfarrer von psychisch Kranken halten- Eine soziologisch psychiatrische Untersuchung. In: Theologisch praktische Quartalschrift (Linz) 2/1986, S. 170-178 (mit A. Grausgruber, G. Hofinann und W. Schöny). 109. Zur Unabhängigkeit der Richter aus soziologischer Sicht. In: Vereinigung der Österreichischen Richter (Hrsg.): Der Richter in der pluralistischen Gesellschaft, Linz 1986, S. I 07-117. II 0. Antinomien zwischen divergierenden Lebensvollzugsbereichen. In: Zapotoczky, K. (Hrsg.): Zivilisatorische Ursachen von Konflikten, Linz 1986. I II. Vermittlung von Lebenssinn durch Religion. In: Bogensberger, H., Gannon, T. M., Zapotoczky K. (Hrsg.): Religion und sozialer Wandel, Linz 1986. 112. Die Bildungs- und Erziehungseinrichtungen "Kindergarten" aus sozialwissenschaftlicher Sicht. In: Zwink, E. (Hrsg.): Kindergarten-Enquete der Salzburger Landesregierung am 12.12.1986, Nr. 92 der Serie "Salzburg Dokumentationen", Salzburg 1987. I 13. Herausforderungen einer staatstragenden Partei heute. In: Österreichische Monatshefte (Wien) 211987. 114. Die europäische Herausforderung Österreichs: Auf dem Weg zur Solidarität mit (Mittel-) Europa, In: Zapotoczky, K./Richter, R. (Hrsg.): Die europäische Herausforderung Österreichs, Festschrift fiir Erich Bodzenta, Linz 1987, S. 240 ff. 115. Das soziale Netz in Österreich. In: Zeitschrift filr Arbeitsrecht und Sozialrecht (Wien) 6/1987, S. 194-195. 116. Probleme weltweiter Solidarität aus soziologischer Sicht. In: Meleghy, T./Niedenzu, H. J.!Preglau, M./Staubmann, H. (Hrsg.): Normen und soziologische Erklärung, Innsbruck/Wien 1987. 117. Soziologie der Gewerkschaft im Wandel der Arbeitswelt. In: Gesellschaft und Politik (Wien), 27/1987, S. 9-26.

Bibliographie der wissenschaftlichen Publikationen

781

118. Über das Verhältnis der Menschen zum Raum aus anthropologischer und soziologischer Sicht. In: Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft (Hrsg.): Wiederentdeckung der Land- und Forstwirtschaft als Lebensgrundlage der postindustriellen Gesellschaft (Europäisches Forum Alpbach 1987), Wien 1988. 119. Permanente lokale Partizipation. In: Pelinka, A.!Piasser, F. (Hrsg.): Das Österreichische Parteiensystem, Wien/Köln/Graz 1988. 120. Soziale Konsequenzen aus der Bevölkerungsentwicklung. In: Startbahn, Aktion Zukunft, Magazin Nr. I: Bevölkerungsentwicklung - aus der Krise eine Chance machen, Linz 1988. 121. Neue Wege im Gesundheitswesen - ein Auftrag? In: Bemer, P./Zapotoczky, K. (Hrsg.): Gesellschaft und Gesundheit- Zur Diskussion neuer Wege im Gesundheitswesen, Linz 1988. 122. Bewahrung des ländlichen Raumes. In: Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft (Hrsg.): Zukunft der Österreichischen Agrarforschung angesichts ökologischer und ökonomischer Grenzen (Agrarforschungsenquete 1988), Wien 1988. 123. Familie- eine Herausforderung für die Landespolitik In: Österreichische Monatshefte (Wien) 6/1988. 124. Beitrag zum Thema "Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik- Rolle, Aufgaben und Möglichkeiten Österreichs". In: Stenographisches Protokoll, Parlamentarische Enquete 28. 6. 1988 (XVII. Gesetzgebungsperiode des Nationalrates), Wien 1988, S. 68-70. 125. Religion als Grundwert für Gemeinde und Gesellschaft. In: Dyczewski, L. (Hrsg.): Integrationsprozesse in der modernen Gesellschaft, Lublin 1988. 126. Zum Verhältnis von Heer und Gesellschaft. In: Berger, J.!Rumerskirch, U. (Hrsg.): Militär und Staat- Landesverteidigung als res publica, Wien 1988, S. 21-67. 127. Arbeitswelt und soziale Ungleichheit in Österreich - An den Grenzen traditioneller Arbeitnehmerpolitik In: Khol, A./Ofner, G./Stimemann, A. (Hrsg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik 1988, Wien 1989, S. 205-22 (mit A. Grausgrober und R. Grausgruber-Bemer). 128. Gesundheitspolitik der Zukunft: Von der persönlichen Verantwortung bis zur weltweiten Verpflichtung. In: Bemer, P./Zapotoczky, K. (Hrsg.): Gesundheit im Brennpunkt- Von der Betreuung zur Selbsthilfe, Band I, Linz 1989, S. 349-364.

782

o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky

129. Freiheitsdefizite und Freiheitsbedürfnis im Bewußtsein der Österreicher, Forschungsbericht an den Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank, St. Pötten 1989 (mit G. Bonelli, A. Grausgruberund H. Holley). 130. Der alte Mensch in der Gruppe- Eigenständigkeil durch Gruppenbildung, Forschungsbericht, Linz 1989 (mit Eva Barth). 131. Die Miesmacher und die Gauner- Soziologische Überlegungen zu einem "Sittenbild der Politik" in Österreich. In: Österreichische Monatshefte (Wien) 2/1990. 132. Freiheit: (K)ein Thema in Österreich? - Freiheitsdefizite und Freiheitsbedürfnis im Bewußtsein der Bevölkerung. In: Khol, A./Ofner, G./Stirnemann, A. (Hrsg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik 1989, Wien 1990, S. 405-427 (mit G. Bonelli, A. Grausgruberund H. Holley). 133. Das Österreichische Krankenhaus- nicht mehr "zentrale Reparaturwerkstätte", sondern subsidiäre Notwendigkeit in der Gesundheitsversorgungskette. In: Berner, P./Zapotoczky, K. (Hrsg.): Gesundheit im Brennpunkt - Von der Gesundheitsberatung bis zur Kooperation im Krankenhaus, Band 2, Linz 1990. 134. Sozio-kulturelles BeziehungsgefUge - Grundlage eines Weltgemeinwohls. In: Bundesministerium ftlr Land- und Forstwirtschaft (Hrsg.): Ökologisch-soziale Marktwirtschaft auf dem Prüfstand. Landwirtschaft und Weltwirtschaft (Europäisches Forum Alpbach 1990), Wien 1990. 135. Soziologie und Beratung. In: Rickenbacher, U. M. (Hrsg.): Zukunftsorientierte Ausbildung von Unternehmensberatern, Stuttgart!Berlin!Köln 1991. 136. Soziologische Mehrebenenanalyse des Verhältnisses von Heer und Gesellschaft. In: Rumerskirch, U. (Hrsg.): Sicherheitspolitisches Umfeld und Streitkräfte-Entwicklung, Wien 1991. 137. Die sozio-kulturellen Determinanten der Beratung. In: Hofmann, M./v. Rosenstiel, L./Zapotoczky, K. (Hrsg.): Die sozio-kulturellen Rahmenbedingungen ftlr Unternehmensberater, Stuttgart/Berlin!Köln 1991. 138. Massenuniversität - Berufsausbildung versus wissenschaftliche Ausbildung. In: Peterlik M./Waldhäusl, W. (Hrsg.): Universitätsreform. Ziele, Prioritäten und Vorschläge. Eine Dokumentation des Österreichischen Wissenschaftstages 1991, Wien 1991. 139. Umfassende Entwicklungsstrategie als globale Herausforderung. In: Jahresbericht der Österreichischen Forschungsstiftung ftlr Entwicklungshilfe 1991 - 25 Jahre ÖFSE, Wien 1992.

Bibliographie der wissenschaftlichen Publikationen

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140. Voraussetzungen und mentale Widerstände bei der Einfiihrung von Controlling im Krankenhaus. In: Hauke, E. (Hrsg.): Controlling im Krankenhaus - Ein Handbuch fiir alle Führungskräfte im Krankenhaus, Wien 1992 (mit B. Arnoldner und I. Stroblmair). 141. Mehrebenenanalyse modernen Verwaltungsmanagements. In: Hofmann, M./Zapotoczky, K./Strunz, H. (Hrsg.): Gestaltung öffentlicher Verwaltungen, Heidelberg 1993. 142. Zur Entwicklungspolitik von Kleinstaaten. In: Atteslander Peter (Hrsg.): Kulturelle Eigenentwicklung - Perspektiven einer neuen Entwicklungspolitik, Frankfurt a. M./New York 1993. 143. Soziologische Analysen der Kreativität. In: Brix, E., Janik, A. (Hrsg.): Kreatives Milieu Wien um 1900. Ergebnisse eines Forschungsgespräches der Arbeitsgemeinschaft Wien um 1900, Wien 1993, S. 33-45. 144. Die "Entdeckung" der Eroberung. Nachlese zum Gedenkjahr 1992. In: Holley, H./Zapotoczky, K. (Hrsg.): Die Entwicklung der Eroberung- Reflexionen zum Bedenkjahr 500 Jahre Lateinamerika, Linz 1994. 145. Mitarbeiterbeteiligung - Eine europäische Herausforderung. In: WdF, Magazin und Veranstaltungsmailing Wien/NÖ, 6/1994, S. 21 f. 146. Gesundheitspolitik der Zukunft - Zwischen Eigenvorsorge und weltweiten Zusammenhängen. In: Irnhof, A. E./Weinknecht, R. (Hrsg.): Erfiillt lebenin Gelassenheit sterben (Geschichte und Gegenwart, Berliner Historische Studien, Band I9), Berlin I994. 147. Zur Rolle des Arbeitsplatzes in einer sich ändernden Arbeitswelt. In: Zeitschrift des Karl v. Vogelsang-Institutes, Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte, Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte (Wien) 2/1994, S. 35-47. 148. Zur Spannung zwischen Prinzip und Wirklichkeit in Südafrika. In: HolIey, H./Zapotoczky, K. (Hrsg.): Hoffnung am Kap- Chancen und Gefahren des Transformationsprozesses in Südafrika, Linz 1995. 149. Die multikulturelle Gesellschaft- Ein theoretisches Modell ohne praktische Verwirklichungsmöglichkeit? In: Holley, H./Zapotoczky K. (Hrsg.): Auf dem Weg ins Neue Südafrika- Brückenbau zwischen verschiedenen Kulturen, Linz 1995. 150. Menschengerechte Arbeitswelt - Herausforderungen eines permanenten Projektes. In: Bogensberger, H./Zapotoczky, K. (Hrsg.): Menschengerechte Arbeitswelt - Empirische Ergebnisse und Reflexionen, Berlin 1996, s. Il-41.

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o. Univ. Prof. Dr. Klaus Zapotoczky

151. Grundvorsorge ohne Erwerbsarbeit. In: Bogensberger, H./Zapotoczky, K. (Hrsg.): Menschengerechte Arbeitswelt- Empirische Ergebnisse und Reflexionen, Berlin 1996, S. ll9-125. 152. Interdependenzen zwischen Wissenschaft, Forschung und Gesellschaft. In: Zapotoczky K./Strunz, H. (Hrsg.): Forschungsmanagement, Wien 1996. 153. Sicherheitspolitisches Umfeld und Streitkräfteentwicklung li, Schriftenreihe der Landesverteidigungsakademie 3/1996, Wien 1996 (als Hrsg. mit E. König). 154. Gesellschaftliche Probleme des Alterns. In: Zapotoczky, H. G./Fischhof, P. K. (Hrsg.): Handbuch der Gerontopsychiatrie, Wien!New York 1996, S. 74-120 (mit P. Bauer). 155. Zur Entwicklungspolitik von Kleinstaaten. In: Tichy, G. E./Matis, H./Scheuch, F. (Hrsg.): Wege zur Ganzheit - Festschrift fUr J. Hanns Piehier zum 60. Geburtstag, Berlin 1996, S. 261-279. 156. Gesellschaftliche Bedeutung von Ehrenamtlichkeit. Forschungbericht des Instituts für Pflege- und Gesundheitssystemforschung, Linz 1996 (mit B. Pirklbauer und C. Pass). 157. Armut in Österreich. Endbericht des Projektes Nr. 5541 des Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank, Linz 1996 (mit C. Pass). 158. Die Freien Wohlfahrtsverbände im Rahmen des Dritten Sektors. In: Schauer, R./Anheier, H. K./Blümle, E.-8. (Hrsg.): Der Nonprofit Sektor im Aufwind - Zur wachsenden Bedeutung von Nonprofit-Organisationen aufnationaler und internationaler Ebene. Eine Dokumentation, Linz 1997, s. 141-156. 159. Anomie-Phänomene in der Entwicklungszus ammenarbeit In: Zapotoczky, K./Gruber, P. C. (Hrsg.): Entwicklungstheorien im Widerspruch Plädoyer ftir eine Streitkultur in der Entwicklungspolitik, Verlag Brandes & ApseVSüdwind, Frankfurt a. M./Wien 1997, S. 9-19. 160. Lebensqualität der Seniorenstudentinnen an der Johannes Kepler Universität Linz. Forschungsbericht, Linz 1997 (mit K. Popp). 161. Jugendliche und Ehrenamt in Oberösterreich - Eine empirische Untersuchung. Forschungsbericht, Linz 1997 (mit B. Pirklbauer). 162. Die Familie zwischen privaten Ansprüchen und öffentlicher Vernachlässigung. In: Pjotr Kryczka, P. (Hrsg.): Rodzina - w zmieniaja cym sie spoleczenstwie, Lublin 1997. 163. Sinn des Leidens? Krankheit, Schmerz, Tod. In: Fast, F. (Hrsg.): In Würde leben - In Würde akem - In Würde sterben?, Wien 1997.

Bibliographie der wissenschaftlichen Publikationen

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164. Ehrenamtlichkeit im Land Salzburg. Forschungsbericht, Salzburg 1998 (mit R. Kranewitter und B. Wagneder). 165. Multimorbidität und Multimedikation. Forschungsbericht, Linz 1998 (mit F. Floss und B. Hofer). 166. Zur Situation obdachloser Personen in Linz. Forschungsbericht, Linz 1998 (mit C. Pass). 167. Arbeitsüberlastung im bäuerlichen Bereich. Forschungsbericht zur Empirischen Studie, Linz 1998 (mit P. Litzlbauer Petra). 168. Tausend Krankheiten - eine Gesundheit? Multimorbidität als Aufgabe (Aipbacher Gesundheitsgespräche). In: Pfusterschmid-Hardtenstein, H. (Hrsg.): Wissen wozu? Erbe und Zukunft der Erziehung, Europäisches Forum Alpbach 1997, Wien 1998. 169. Zur Bedeutung von Festen in der Gesellschaft und im familiären Lebensvollzug. In: Grausgruber, A./Zapotoczky, K./Dyczewski, L. (Hrsg.): Festkultur im Wandel - Ein interkultureller Vergleich zwischen Polen und Österreich, Linz 199~. 170. Znaczeniu swiat dla Zycia Modzinnego. In: Dyczewski, L., Wadowski, D. (Hrsg.): Kultura dnia codziennego i swiatecznego w rodzinie, Lublin 1998. 171. Mindestpensionen bedingen bescheidene Lebensftlhrung. In: Sozial- und Gesundheitspolitik- Ab-, Um- oder Ausbau?, 24. Internationales Symposion, Wien 1999, S. 60-66. 172. Prävention und Gesundheitsforderung. In: Balneologische-Bioklimatologische Mitteilungen 1999, ÖHKV, Wien 1999, S. 15-22. 173. Motivierte Mitarbeiterinnen sind die besseren Mitarbeiterlnnen. In: Kaiserseder, W. (Hrsg.): Zufriedene Mitarbeiterinnen im Gesundheits- und Sozialbereich, Linz 1999. 174. Vereine als Spiegelbilder der (Zivii-)Gesellschaft? In: Brix, E./Richter, R. (Hrsg.): Organisierte Privatinteressen- Vereine in Österreich, Wien 2000. 175. Zur Multidimensionalität von Kommunikation/Information. In: Die Rolle der Streitkräfte in einer Informationsgesellschaft - Symposium 2000, Bericht der Wissenschaftskommission beim BMLV, Wien 2001, S. 3-9. 176. Weltsozialpolitik und Sicherheitspolitik. In: Die Rolle der Streitkräfte in einer Informationsgesellschaft - Symposium 2000, Bericht der Wissenschaftskommissionbeim BMLV, Wien 2001, S. 90-103. 177. Beschäftigungswelt im Wandel. In: Gesellschaft und Politik, Zeitschrift ftlr soziales und wirtschaftliches Engagement (Wien), April 2002, S. 4-15.

Verzeichnis der Autoren Atteslander, Peter, em. Univ. Prof. Dr. Dr. h. c., Universität Augsburg, Lehrstuhl ftlr Soziologie, Direktor des Schweizerischen Instituts ftlr Entwicklung, Biel. Bi/gin, Zeynep F., Univ. Prof. Dr., Mannara-Universität Istanbul, Lehrstuhl ftlr Marketing. Bischof, Hans-Peter, Dr., Landesrat, Gesundheitsreferent der Vorarlberger Landesregierung, Bregenz. Bittner, Gerhard, Geschäftsfilhrer Österreichische Forschungsstiftung ftlr Entwicklungshilfe (ÖFSE), Wien. Brandstätter, Hermann, em. o. Univ. Prof. Dr., Johannes Kepler Universität Linz, Abteilung filr Sozial- und Wirtschaftspsychologie. Busek, Erhard, Dr. Dr. h. c. mult., Vizekanzler und Bundesminister ftlr Wissenschaft und Forschung a. D., Sonderkoordinator des Stabilitätspaktes ftlr Osteuropa, Wien. Doppe/feld, Elmar, Univ. Prof. Dr., Leiter der Medizinisch-Wissenschaftlichen Redaktion des Deutschen Ärzteblattes, Vorsitzender des Arbeitskreises Medizinischer EthikKommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln. Dyk, Reinhard J., Dr., Vizebürgermeister der Stadt Linz. Füreder, Alois, Mag., Direktor des Gymnasiums und der Bildungsanstalt ftlr Kindergartenpädagogik der Kreuzschwestern Linz i. R. Girtler, Roland, Univ. Prof. Dr., Universität Wien, Institut ftlr Soziologie. Grausgruber, Alfred, Dr., Ass. Prof., Johannes Kepler Universität Linz, Abteilung ftlr Politik und Entwicklungsforschung. Greyer, Karl, Dr., Wirtschaftstreuhänder, Klagenfurt. Grossmann, Gerhard, Univ. Prof. Dr., Karl-Franzens-Universität Graz, Institut ftlr Soziologie. Gruber, Petra C., Dr., Geschäftsftlhrerin Institut ftlr Umwelt - Friede - Entwicklung (IUFE), Wien.

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Verzeichnis der Autoren

Gsöllpointner, Helmuth, em. o. Univ. Prof. Mag. art., Metallplastiker und Designer, Institut für Kunst und Gestaltung, Linz. Hauke, Eugen, Univ. Prof. Dkfm. Dr., Generaldirektor des Wiener Krankenanstaltenverbundes, Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Krankenhausorganisation, Wien. Hecht, Rudolf, Dr., Hofrat, Bundesministerium für Landesverteidigung, Landesverteidigungsakademie, Institut für Strategie und Sicherheitspolitik, Wien. Hesse/, Friedrich, Korpskommandant, Bundesministerium für Landesverteidigung, Leiter GstbGrpA und stvGTI, Wien. Holley, Heinz (t), Dr., Ass. Prof., Johannes Kepler Universität Linz, Abteilung für Politik und Entwicklungsforschung. Holm, Kurt, o. Univ. Prof. Dr., Johannes Kepler Universität Linz, Abteilung für Empirische Sozialforschung. Holzer-Möst/, Elke, Univ. Ass. MMag. Dr., Wirtschaftsuniversität Wien, Institut für Versicherungswirtschaft, wiss. Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann Institut für Krankenhausorganisation, Wien. Huber, Christian, Univ. Prof. Dr., Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Arbeitsrecht. Kalb, Herbert, o. Univ. Prof. DDr., Vizerektor für Lehre, Johannes Kepler Universität Linz, Institut für Kirchenrecht. Kern, Rudolf, Dr., Oberrat, Johannes Kepler Universität Linz, Abteilung für Wirtschaftssoziologie und Stadt- und Regionalforschung. Koits, Peter, Dr., Bürgermeister der Stadt Wels. Kürmayr, August, Dipl. lng., Architekt, Linz. Löffler, Heinz, em. o. Univ. Prof. Dr., Universität Wien, Institut für Ökologie und Naturschutz, Vorsitzender der Kommission für Entwicklungsfragen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Majcen, Karl, General i. R., Bisamberg. Mayer-Ma/y, Theo, em. o. Univ. Prof. Dr. Dr. h. c. mult., Universität Salzburg, Institut für Österreichisches und Europäisches Privatrecht. McLean, George F., em. Univ. Prof. Dr., The Catholic University of America, School of Philosophy, Washington, D. C. Mechtler, Reli, Dr., Johannes Kepler Universität Linz, Forschungsinstitut für Pflegeund Gesundheitssystemforschung.

Verzeichnis der Autoren

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Menner, Josef, Dr., Hofrat, Johannes Kepler Universität Linz, Institut für Römisches Recht. Missbauer, Huber, o. Univ. Prof. Dr., Universität lnnsbruck, Institut fiir Industrie und Fertigungswirtschaft. Mitterbauer, Peter, Dipl. lng., Präsident der Österreic~ischen lndustriellenvereinigung, Wien. Mittermayer, Helmut, Univ. Prof., Primarius, Ärztlicher Direktor des Krankenhauses Elisabethinen, Linz. Nuscheler, Franz, Univ. Prof. Dr., Gerhard-Mercator-Universität Gesamthochschule Duisburg, Direktor des Instituts fiir Entwicklung und Frieden. Oberndorfer, Peter, o. Univ. Prof. Dr., Johannes Kepler Universität Linz, Institut für Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre. Obrecht, Andreas J., Univ. Prof. Dr., Johannes Kepler Universität Linz, Interdisziplinäres Forschungsinstitut für Entwicklungszusammenarbeit Paschke, Fritz, em. o. Univ. Prof. Dr., Technische Universität Wien, Institut für Industrielle Elektronik und Materialwissenschaften. Peterlik, Meinrad, o. Univ. Prof. DDr., Universität Wien, Institut für Pathophysiologie. Petermandl, Monika, o. Univ. Prof. Dr., Wirtschaftsförderungsinstitut der Wirtschaftskammer Wien. Pfusterschmid-Hardtenstein, Heinrich, Dr., Botschafter i. R., Wien. Pichler, J. Hanns, o. Univ. Prof. Dr. Dr. h. c., Wirtschaftsuniversität Wien, Abteilung für Politische Ökonomie, Internationale Wirtschaft und Entwicklung. Pjeta, Otto, Dr., Präsident der Österreichischen und Oberösterreichischen Ärztekammer, Wien und Linz. Pleiner, Horst, General, Bundesministerium fiir Landesverteidigung, Generaltruppeninspektor, Wien. Pracher, Christian, Prof. Dr., Fachhochschule fiir Verwaltung und Rechtspflege Berlin, Fachbereich I, Public Management. Pree, Helmuth, Univ. Prof. DDr., Universität Passau, Katholisch-Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Kirchenrecht. Prisching, Manfred, Univ. Prof. Dr., Kari-Franzens-Universität Graz, Institut für Soziologie. Pühringer, Josef, Dr., Landeshauptmann von Oberösterreich, Linz.

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Verzeichnis der Autoren

Raberger, Walter, o. Univ. Prof. DDr., Katholisch-Theologische Privatuniversität Linz, Institut für Fundamentaltheologie und Dogmatik. Ratzenböck, Josef. Dr., Landeshauptmann von Oberösterreich a. D., Linz. Rauch, Wolf. o. Univ. Prof. Dr., Kari-Franzens-Universität-Graz, Institut für Informationswissenschaft, Vorsitzender der Wissenschaftskommission beim Sundesministerium für Landesverteidigung. Reiter, Erich, Hon. Prof. DDr., Sektionschef, Bundesministerium für Landesverteidigung, Beauftragter für Strategische Studien und Leiter der Direktion für Sicherheitspolitik, Wien. Renöckl, Helmut, Univ. Prof. Dr., Südböhmische Universität Budweis, Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Theologische Ethik, Sozialethik und Ethische Bildung. Richter, Rudolf, Univ. Prof. Dr., Universität Wien, Institut für Soziologie. Ried/, Johannes, Dr., Hofrat, Präsident des Landesschulrates für Oberösterreich i. R., Linz. Rohrhofer, Franz, Dr., Journalist, Linz. Schattovits, Helmuth, Prof. Dr., Geschäftsführer Österreichisches Institut für Familienforschung (ÖIF) i. R., Wien. Schaumayer, Maria, Dr., Präsidentin der Österreichischen Nationalbank i. R., Wien. Scheibner, Herbert, Bundesminister für Landesverteidigung, Wien. Schmid, Josef, Univ. Prof. Dr., Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Lehrstuhl Bevölkerungswissenschaft. Schneider, Friedrich, o. Univ. Prof. Dr., Johannes Kepler Universität Linz, Abteilung für Wirtschaftspolitik. Schöny, Werner, w. Hofrat, Univ. Doz., Primarius, Ärztlicher Direktor der O.Ö. LandesNervenklinik Wagner-Jauregg, Linz. Schurer, Bruno, o. Univ. Prof. Dr., Johannes Kepler Universität Linz, Abteilung flir Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Skuhra, Anselm, Univ. Prof. Dr., Universität Salzburg, Institut für Politikwissenschaft. Stix, Rüdiger, Dr., Ministerialrat im Kabinett des Bundesministers für Landesverteidigung, Vorstandsmitglied im Bundesinstitut für Internationalen Biidungstransfer, Wien. Strunz, Herbert, Prof. Dr., Westsächsische Hochschule Zwickau, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften.

Verzeichnis der Autoren

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Trübswasser, Gunther. Landtagsabgeordneter, Grüner Klub im Oberösterreichischen Landtag, Linz.

Vaskovics, Laszlo A.. Univ. Prof. Dr.. Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Staatsinstitut flir Familienforschung.

Vierlinger, Rupert, em. Univ. Prof. Dr., Universität Passau. Lehrstuhl flir Schulpädagogik.

Vogel, Alfred. Dipl. lng. Dr.. MBA (IMD). ObstdhmtD, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Kommission flir die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Dienststellen des Bundesministeriums flir Landesverteidigung, Wien .

Wagner, Manfred. o. Univ. Prof. Dr. , Universität flir Angewandte Kunst Wien, Lehrkanzel flir Kultur- und Geistesgeschichte.

Wallner, Hans, Dr., Brigadier, Bundesministerium flir Landesverteidigung, Abteilung flir militärische Gesamtplanung, Wien.

Waneck, Reinhart, Univ. Prof. Dr., Staatssekretär flir Gesundheit im Bundesministerium flir soziale Sicherheit und Generationen, Wien.

Wimmer, Kurt, Dr., Journalist, Graz. Wührer, Gerhard A.. o. Univ. Prof. Dr., Johannes Kepler Universität Linz, Institut flir Handel, Absatz und Marketing.

Zanon-zur Nedden, Elisabeth, Dr., Landesrätin, Gesundheitsreferentin der Tiroler Landesregierung, Innsbruck.

Zapotoczky, Hans Georg, em. o. Univ. Prof. Dr., Karl-Franzens-Universität-Graz, ehern. Vorstand der Universitätsklinik flir Psychiatrie.

Zapotoczky, Werner Peter, Dr., Praktischer Arzt, Wien. Ziegler, Meinrad, Univ. Prof Dr., Johannes Kepler Universität Linz, Abteilung flir Theoretische Soziologie und Sozialanalysen.